Ausgesetzte Zeiten: Nachdenken über den Lauf der Dinge 3806243069, 9783806243062

»Zeit« ist nicht nur für viele Menschen im Kontext eines möglichst effektiven »Zeitmanagements« ein großes Thema, sonder

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German Pages 144 [194] Year 2021

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Ausgesetzte Zeiten / Aleida Assmann und Andreas Dörpinghaus
Wie lange dauert die Gegenwart? / Aleida Assmann
Warum wir zögern. Über die Zeit der Bildung / Andreas Dörpinghaus
Dinge ändern sich – und uns / Käte Meyer-Drawe
Zeit der anderen / Bernhard Waldenfels
Aus der Zeit gefallen. Anachronistische Betrachtungen / Konrad Paul Liessmann
Störenfriede. Wofür sind Unterbrechungen gut? / Maren Schüll
Vom Glück der Zeit. Der Wert der Kontemplation / Andreas Speer
Sokrates und der kairos oder Wie packe ich die Gelegenheit beim Schopf? / Michael Erler
„Ruhe & Muße“. Vom Sonntag des Lebens / Ralf Konersmann
Muße (scholê) bei Platon und Aristoteles / Christoph Horn
Der Schlaf und die Partizipationspause / Lambert Wiesing
Der Wille zum Jetzt. Messianismus und Apokalyptik / Jan Assmann
Was ist Langeweile? / Ina Katharina Uphoff
Anhang
Anmerkungen
Autorinnen und Autoren
Rückcover
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Ausgesetzte Zeiten: Nachdenken über den Lauf der Dinge
 3806243069, 9783806243062

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ANDREAS DÖRPINGHAUS

ist Professor für Systematische Bildungswissenschaft an der Universität Würzburg.

Es ist Zeit, über die Zeit nachzudenken Dieses Lesebuch versammelt 13 prägnante Essays über Muße und Langeweile, das Zögern und den rechten Augenblick, über Unterbrechungen, Ruhe und Unruhe. Dabei entfalten die verschiedenen disziplinären Perspektiven auf die Zeit ein reichhaltiges Spektrum persönlicher Zeiterfahrungen. Mit Beiträgen von Aleida Assmann, Andreas Dörpinghaus, Käte Meyer-Drawe, Bernhard Waldenfels, Konrad Paul Liessmann, Maren Schüll, Andreas Speer, Michael Erler, Ralf Konersmann, Christoph Horn, Lambert Wiesing, Jan Assmann und Ina Katharina Uphoff

Ausgesetzte Zeiten

ist Professorin i. R. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Jan ist sie Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Aleida Assmann Andreas Dörpinghaus (Hrsg.)

ALEIDA ASSMANN

Aleida Assmann Andreas Dörpinghaus (Hrsg.)

Ausgesetzte Zeiten

Wir erleben gerade, dass unsere eingespielten Zeit-Routinen mehrfach unterbrochen sind. Die Pandemie hat die fortschreitende Beschleunigung der Rhythmen ausgesetzt, vieles wird verschoben, das Warten ist zurückgekehrt. Gleichzeitig verstärkt die Bedrohung des Planeten den Ausnahmezustand und wirkt unmittelbar auf unser Zeitgefühl: Wann wenn nicht jetzt ist es Zeit zu handeln? Wer sich vor diesem Hintergrund grundsätzlicher über die Vielfalt und persönliche Bedeutung menschlicher Zeiterfahrungen informieren will, findet in diesem Lesebuch reiche Anregungen.

Nachdenken über den Lauf der Dinge

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Umschlagabbildung: kyoshino / istockphotos Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

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wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4306-2

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Ausgesetzte Zeiten Nachdenken über den Lauf der Dinge Herausgegeben von Aleida Assmann und Andreas Dörpinghaus

Mit Beiträgen von Aleida Assmann, Jan Assmann, Andreas Dörpinghaus, Michael Erler, Christoph Horn, Ralf Konersmann, Konrad Paul Liessmann, Käte Meyer-Drawe, Maren Schüll, Andreas Speer, Ina Katharina Uphoff, Bernhard Waldenfels und Lambert Wiesing

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg. © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Maren Schüll, Würzburg / Dirk Michel, Mannheim Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg Umschlagmotiv: kyoshino / istockphotos Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4306-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4325-3 eBook (epub): 978-3-8062-4326-0

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I N H A LT Aleida Assmann und Andreas Dörpinghaus: Ausgesetzte Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Aleida Assmann: Wie lange dauert die Gegenwart? . . . . . . . . . . . 12 Andreas Dörpinghaus: Warum wir zögern. Über die Zeit der Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Käte Meyer-Drawe: Dinge ändern sich – und uns . . . . . . . . . . . . 48 Bernhard Waldenfels: Zeit der anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Konrad Paul Liessmann: Aus der Zeit gefallen. Anachronistische Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Maren Schüll: Störenfriede. Wofür sind Unterbrechungen gut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Andreas Speer: Vom Glück der Zeit. Der Wert der Kontemplation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Michael Erler: Sokrates und der kairos oder Wie packe ich die Gelegenheit beim Schopf? . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Ralf Konersmann: „Ruhe & Muße“. Vom Sonntag des Lebens . . 115 Christoph Horn: Muße (scholê) bei Platon und Aristoteles . . . . . 128 Lambert Wiesing: Der Schlaf und die Partizipationspause . . . . . 142 Jan Assmann: Der Wille zum Jetzt. Messianismus und Apokalyptik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Ina Katharina Uphoff: Was ist Langeweile? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Anhang Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

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AUSGESETZTE ZEITEN A L E I DA A S S M A N N U N D A N D R E A S D Ö R P I N G H AU S

Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit gekommen, um über Zeit nachzudenken? Oft schlagen Begriffe erst auf, wenn sie sich uns entziehen und nicht mehr selbstverständlich sind. Zeit ist einerseits untrennbar mit uns verbunden. Vielleicht wird sie gerade deshalb andererseits selbst immer dann thematisch, wenn sie eben ausgesetzt ist. Die Verbindung des Wortes ‚Zeit‘ mit dem Verb ‚aussetzen‘ ist dabei aufschlussreich und gibt Anhaltspunkte zum Verständnis der Zeit vor, die in verschiedene Richtungen gehen. Aussetzen kann im weitesten Sinne räumlich gemeint sein, wenn zum Beispiel Tiere oder Menschen ausgestoßen werden, indem sie an einen bestimmten Ort gebracht und sich selbst überlassen werden. Die Zeit kann also quasi ausgestoßen werden. Man kann sich ihr aber auch selbst ausliefern, so, wie wir uns zum Beispiel in Gefahr begeben, also sich ihr aussetzen. Meist geht es beim Aussetzen um eine zeitliche Dimension. Eine naheliegende Bedeutung ist hier die abrupte Unterbrechung einer regelmäßigen Tätigkeit. Wir setzen also etwas aus, was wir tun, gleichsam dem Ticken einer Uhr, das aussetzt, um gegebenenfalls fortgeführt zu werden. Die Unterbrechung der Zeit kann aber auch eine Pause sein wie eine Runde in einem Spiel, aus der man sich für eine Weile zurückzieht, zumeist unfreiwillig. Wir dürfen dann, um im Bild zu bleiben, nicht mehr mitspielen. Wenn dagegen Entscheidungen ausgesetzt werden, bedeutet das, dass man sich mehr Zeit nehmen kann, um über eine Sache nachzudenken. Kurzum: Aus-

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gesetzt sind Zeiten der Ruhe und Langsamkeit, der Verzögerung und Suspension, der Kontemplation und des Wartens. Mit anderen Worten: Ausgesetzte Zeiten sind temporale Ausnahmezustände und Grenzgänge. Der vorliegende Band spürt diesen ausgesetzten Zeiten nach. Zeiten, die nicht selbstverständlich sind, nicht stillschweigend fungieren, sondern uns aufmerken lassen. Im Coronajahr 2020 haben wir mit temporalen Ausnahmezuständen reichlich Erfahrungen sammeln können. Es gab dabei sprechende Signale. Eines davon war ein Plakat in Salzburg. Dort hatte man sich mit immensem Aufwand auf das 100-jährige Jubiläum der Salzburger Festspiele vorbereitet, das mit einer großen Ausstrahlung gefeiert werden sollte. Auf dem Plakat der Landesausstellung war der in Form eines Globus gerundete Schriftzug „Großes Welttheater“ zu lesen. Ein erster blauer Aufkleber verkündete: „verschoben“, ein zweiter blauer Aufkleber verkündete: „ab 26. Juli“ und ein dritter, roter Aufkleber verkündete: „fällt aus!“ So erging es allen auf der Weltbühne, wo überall dasselbe Stück gespielt wurde: das der ausgesetzten Zeit. Wie Hofmannsthals Jedermann jedes Jahr mit dem Teufel kämpft, so kämpften diesmal die Veranstalter mit der Pandemie und für alle galten dieselben Spielregeln: Abbruch, Stillhalten, Abstand wahren, Verzögerung und Distanz. Von Entschleunigung ist schon seit Längerem die Rede. Die Botschaft, dass die spätestens seit dem 18. Jahrhundert immer weiter gesteigerte Beschleunigung in der westlichen Zivilisation für Menschen zunehmend ungesund und für die Umwelt zerstörerisch ist, ist längst angekommen. Dennoch war es nicht leicht, den auf schneller!, weiter!, höher!, größer!, besser! eingestellten Antrieb des Fortschrittsmotors zu drosseln. Anstelle der empfohlenen und ersehnten Entschleunigung kam nun der Stillstand. Vor aller Augen lief ein globales Humanexperiment ab, das zum Zweck der Gesundheitsvorsorge menschliches Leben unter radikale Bedingungen der Einschränkung und des Verzichts stellte. Gesteuert war dieses Experiment nicht von Politik, Wissenschaft oder Kultur. Ein Virus übernahm hier ohne Ankündigung die Regie und diktierte weltumspannend und in Echtzeit die Vorgaben des (Über-)Lebens.

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Ausgesetzte Zeiten

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Aus der Perspektive des Notfalls und der Katastrophe fallen zunächst die negativen Seiten der Epidemie ins Auge: Stagnation, Stillstand und das fade out des öffentlichen Lebens. Gibt es vielleicht auch positive Seiten, die mit ausgesetzten Zeiten verbunden sind? James Joyce zum Beispiel unterschied zwischen ‚Paralyse‘ und ‚Stasis‘. Mit Paralyse bezeichnete er einen sowohl physischen als auch mentalen Zustand der Lähmung und des Zwangs. Unter Stasis verstand er dagegen eine positive Form des Stillstands, einen herausgehobenen Augenblick und hellen Moment des Bewusstseins, in dem sich das Verständnis der Welt weitet. Wenn wir uns auf die Suche nach positiven Begriffen von Stillstand machen, stoßen wir auf das Wort ‚Moratorium‘. Es kommt von lateinisch ‚mora‘ für Frist und Aufschub. Im ökonomischen Zusammenhang steht ein Moratorium für die Stundung der Tilgung von Schulden. In der aktuellen Krise kommt auch diese zeitliche Bedeutung des Anhaltens und der Verlangsamung zum Tragen. Das ‚Junge Politik-Lexikon‘ bietet eine erhellende Erläuterung für „Moratorium“ an: Das Wort bezeichnet „eine Vereinbarung darüber, dass eine bestimmte Sache für eine gewisse Zeit aufgeschoben wird. Es wird noch Bedenkzeit benötigt, um eine schwierige Aufgabe zu lösen oder einfach nur, um neue Kräfte zu sammeln. Ob im Schulalltag oder im Berufsleben – oft braucht man manchmal eine Frist, um wichtige Entscheidungen treffen zu können.“1 ‚Aufschub‘ heißt hier also gerade nicht: Das schieben wir weiter hinaus, sondern: Für dieses Problem brauchen wir neue Lösungsansätze und dafür nehmen wir uns jetzt Zeit. Ein Moratorium ermöglicht es Gesellschaften, jenseits ihrer Alltagsroutinen über sich selbst nachzudenken. Stillstand ist also nicht nur bedrohlich, sondern birgt auch gewisse Chancen, wenn man ihn als ein geistiges Moratorium versteht. Dann sind ausgesetzte Zeiten nicht nur Zeiten, in denen nichts weitergeht, sondern auch Zeiten, in denen man sich Zeit nimmt für die Frage, wie etwas weitergehen soll. Eine solche Zeit bietet die Chance, die eigenen Werte, Lebensformen, Konventionen und Prioritäten zu überdenken und neu zu justieren. „Du musst dein Leben ändern!“2 Diese letzte Zeile aus einem Rilke-Sonett ist zu einer Art Wahlspruch in der Coronazeit geworden.

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AUSGESETZTE ZEITEN

Immer wieder ist zu hören: ‚Corona hat unser Leben komplett verändert.‘ Nach zwei Jahren Umgang mit dem Virus haben wir alle Bedeutungen des Titels Ausgesetzte Zeiten zu schmecken bekommen: das Ausgestoßenwerden, das Sich-selbst-in-Gefahr-Bringen, die Unterbrechung, die Pause, den Abbruch und den Tod. Wie lange werden wir noch in dieser zeitlichen Unsicherheit hängenbleiben und was werden wir von diesen Erfahrungen und Einsichten in eine andere Zeit mitnehmen? Werden wir verändert aus der Krise hervorgehen? Worauf wollen wir aufbauen? Die politische Formel dafür lautet gerade: ‚Build back better!‘ Sie verspricht, dass das, was zerstört wurde, neu und besser wiederaufgebaut wird. Dafür braucht man eine neue Orientierung, die man nicht allein den Politikern überlassen kann. Dazu Thomas Oberender: Es geht hier „nicht um kurzfristige Konjunkturprogramme, sondern um die Frage, wie wir unsere Lebenspraxis in andere Zusammenhänge einbetten, indem wir uns auf das Nachhaltige, das weniger Zerstörerische, das Heilende konzentrieren – also etwas, das unsere Gesellschaft in der Art, wie sie mit dem Planeten und den Menschen umgeht, dringend entwickeln muss. Dafür müssen wir neue Strukturen schaffen, die der Daseinsfürsorge dienen, und nicht der Wettbewerbslogik folgen.“3 Corona wäre demnach eine zweite Chance und ein utopischer Moment, um „die Gesellschaft auf allen Ebenen neu zu denken“4. Diesmal nicht mehr entlang bestehender Ideologien, die in Konfrontation zueinander stehen. Vielmehr müssen gemeinsam Lösungen gefunden werden für drängende Weltprobleme wie die Klimakrise, soziale Ungleichheit und die weltweite Bedrohung der Demokratie. Das Coronamoratorium ist eine Auszeit. Aber diese Pause hat es in sich, denn das Moratorium wird unter dem Covid-19-Druck dringlicher und kühner gedacht und angesichts immer offensichtlicher gewordener Klimasignale wie Waldbrände und Flutkatastrophen wächst die Bereitschaft für einen sozialen und globalen Wandel. Was man also nicht übersehen sollte: Im Rahmen des Stillstands könnte gleichzeitig auch eine enorme Beschleunigung von Denk- und Bewusstseinsprozessen stattfinden, die sich bislang jedem Wandel erfolgreich widersetzten.

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Ausgesetzte Zeiten

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Zeit ist eben nicht nur eine Funktion des Ausnutzens in der Logik eines möglichst effektiven Zeitmanagements. Zeit ist nicht nur wie die Aufmerksamkeit eine knappe Ressource, sondern eine, deren Wert erst im Entzug wirklich sichtbar wird, wenn sie ausgesetzt wird und ihre Endlichkeit offenbart. Dann lädt sie uns zu philosophischen Reflexionen über unsere Lebenszeit ein, über ihren Sinn und die Vielgestaltigkeit ihrer Erfahrungen. „Ausgesetzte Zeiten“ ist ein Lesebuch: Es handelt von unterschiedlichen Taktgebern und Rhythmen, die unseren Umgang mit Zeit lenken und unser Zeiterleben bestimmen. In 13 prägnanten Essays reflektiert der Band über qualitative Formen verkörperter Zeit: über die Muße, Kontemplation und den rechten Augenblick, über die Gegenwart, die Zeit der Dinge und der anderen, über Zögern, Langeweile und die Bedeutung der Pause, über Ruhe und Unruhe, Störenfriede und Anachronismus, über Enderwartung und Endlichkeit. Die Kulturgeschichte der Zeit ist reicher an Zeitgestalten als erwartet; man muss sich dafür nur die Zeit nehmen. Wir haben gegenwärtig viele Zeitgestalten und -praktiken vergessen. Formen der Zeit, die uns gerade in diesen Zeiten wertvoll sein sollten, Zeiten, die durch Zeitregime gescholten, ausgesetzt wurden, weil sie dem Nutzen widerstrebten. In diesem Sinne ist der Band eine Erinnerung an das Kostbarste, was Menschen besitzen: Zeit. Gemeinsame.

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WIE LANGE DAUERT DIE GEGENWART ? A L E I DA A S S M A N N

Wir können sie fühlen und dennoch bleibt Zeit etwas sehr Abstraktes. Während wir uns mit unserem Körper im Raum sehr gut orientieren können, haben wir keine wirkliche Anschauung von der Zeit. Es gibt keinen physikalischen Reiz für die Zeit. Deshalb helfen uns unsere Sinnesorgane auch nicht weiter. Wir können die Zeit weder sehen noch hören noch riechen, fühlen oder schmecken.1 Wir haben zwar keine Sinne für die Zeit, aber wir haben dennoch einen extra Sinn für die Zeit, nämlich das Gedächtnis, das uns dabei hilft, Veränderungen wahrzunehmen, uns rückwärts zu versichern und vorwärts zu projizieren. Rückwärts und vorwärts – das zeigt schon wieder, wie stark wir in unserer Vorstellung von Zeit auf räumliche Bilder angewiesen sind. So, wie wir mithilfe eines Kompasses durch den Raum navigieren, navigieren wir mithilfe unseres Gedächtnisses durch die Zeit. Unser Zeitbewusstsein ist aber auch in der Sprache verankert. Das, was nicht mehr ist, nennen wir Vergangenheit und das, was noch nicht ist, was wir erwarten oder was uns erwartet, nennen wir Zukunft. Leben und Erleben ist allerdings nur im Zwischenraum der Gegenwart möglich. Wie sich diese Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft entwickelt, behauptet, breitmacht oder schrumpft, ist das Thema dieses Kapitels. Die Frage ‚Wie lange dauert die Gegenwart?‘ ist eine offene Frage. Auf sie gibt es mehrere Antworten, die sich keineswegs ausschließen.

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Wie lange dauert die Gegenwart?

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Phasenzeit, Skriptzeit, lineare Zeit Wenn wir von ‚der Zeit‘ im Singular zu sprechen, steigern wir damit den Grad ihrer Abstraktion. Ein erster Schritt, um sich ihr konkreter anzunähern, könnte deshalb darin bestehen, sich unterschiedliche Zeiten vorzustellen. Dazu gehören gerade auch die Körperzeiten, denn auch der Körper hat sein Gedächtnis. Virginia Woolf zum Beispiel war der Ansicht, dass es nicht weniger als „76 Zeiten sind, die gleichzeitig in unserem Kopf ticken“.2 76 ist eine ganze Menge. Dieser Satz aus Woolfs Roman Orlando kann hier zum Ausgangspunkt für die Frage nach den verschiedenen Uhren dienen, mit denen wir leben. Die erste ist die biologische Uhr, mit der wir geboren werden und die wir auch mit den Tieren und Pflanzen teilen. Die Rhythmen des Organismus werden auch Phasenzeit genannt. Der Säugling weiß genau, wann er Hunger hat und wann Schlafen angesagt ist; ebenso wissen die Tiere genau, was sie wann zu tun haben. Eine Sommerwiese füllt sich ab sechs Uhr abends mit Schnecken, als wären sie alle zu einem großen Konvent zusammengerufen worden. Am nächsten Morgen nach Sonnenaufgang sind sie alle wieder verschwunden. Die Phasenzeit schreibt Menschen und Tieren vor, wann sie Nahrung zu suchen oder sich zu paaren haben. Der ‚circadiane Rhythmus‘ stellt darüber hinaus die biochemischen Strukturen unter dem Einfluss des Tageslichts um. Er ist der innere Wecker, der beim Menschen circa alle zehn Stunden den Wechsel von Schlafen und Wachen reguliert. Von den Chronobiologen wissen wir obendrein, dass die innere Uhr, die in jede Zelle unseres Organismus eingebaut ist, auch den Alterungsprozess reguliert. Solche körperlichen Programmierungen haben wir als Menschen mit anderen Organismen gemein, aber sie sind nicht der einzige Taktgeber, dem wir folgen. Von der Phasenzeit unterscheidet der Philosoph John Campbell die Skriptzeit, die ebenfalls eine verkörperte Form von Zeit ist. Sie ist nicht in den Organismus einprogrammiert, sondern wird durch ­Gewöhnung und Routinen angelernt.3 Zeit wird dabei in Form bestimmter ‚Skripts‘ oder ‚Schemata‘ verkörpert, die Handlungen in ­bestimmten Situationen in einer klaren und erwartbaren Abfolge fest-

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legen. Solche wiederkehrenden Zeitabläufe sind tief verinnerlicht. Ein Beispiel dafür ist das Wartezimmer eines Arztes, wo die Patienten der Reihe nach aufgerufen werden  – wie in diesem Gedicht von Ernst Jandl: „einer raus, einer rein, dritter sein, einer raus, einer rein, zweiter sein, einer raus, einer rein, nächster sein, einer raus, selber rein: Tag Herr Doktor!“4 Solche Skripte oder Ablaufschemata in stabilen Settings erlernen Kinder ab dem dritten Lebensjahr und sie können auch Tieren beigebracht werden. Von der Phasenzeit und Skriptzeit unterscheidet Campbell die ­lineare Zeit, die aus eingespielten Handlungsmustern hinausführt. Sie setzt einen kognitiven Durchbruch voraus, der in der Evolution jene Formen des verkörperten Zeiterlebens überschreitet, die die Menschen mit anderen Lebewesen teilen. Für Philosophen wie Martin Heidegger gehört ein Verständnis von linearer Zeit zur anthropologischen Grundausstattung. Für Heidegger ist das Sein des Daseins durch Geschichtlichkeit charakterisiert. Das erläutert er an der Bedeutung der ‚Sorge‘ und der besonderen menschlichen Fähigkeit, den eigenen Tod zu antizipieren.5 Lineares Zeitempfinden umfasst für ihn nicht nur Kontinuität und Kausalität, sondern auch Vorausschauen und die imaginative Vorwegnahme dessen, was noch nicht eingetroffen ist. Der Begriff ‚lineare Zeit‘ deckt sehr unterschiedliche Formen von Zeit ab, die genauer zu unterscheiden sind. Linearität ist das wichtigste Merkmal der physikalischen Zeit. Die Standardbeschreibung der line­ aren Zeit als Strom oder ‚Pfeil‘ betont, dass sie sich gleichmäßig und irreversibel in einer Richtung fortbewegt. In dieser Sicht reduziert sich das, was wir ‚Gegenwart‘ nennen, auf einen ausdehnungslosen Jetztpunkt. Diese Gegenwart ist nichts anderes als der stetige Umschlag von Zukunft in Vergangenheit. Sie ist also ausdehnungslos gar nicht sinnlich erfahrbar. Das Jetzt, das auf der Fingerkuppe des Augenblicks

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ruht, ist mit dem nächsten Wimpernschlag schon wieder zerronnen. An diesem Jetzt bleibt nichts hängen, auf ihm kann man nichts aufbauen. Für diese abstrakte Zeit, deren Linearität in lauter diskontinuierliche Jetztpunkte zerfällt, sind Menschen von ihrer Ausstattung her nicht gemacht. Eine solche Zeit kann man messen, aber nicht in ihr leben. Deshalb müssen wir als Menschen die Gegenwart ausdehnen durch rücklaufende Erinnerung und vorlaufende Erwartung, um auf diese Weise Platz zu schaffen fürs Erleben und Erzählen, Erinnern und Erwarten, Denken und Existieren.6 Die Frage, wie Menschen Gegenwart herstellen und ihrem subjektiven Erleben eine Art von Dauer verleihen, war ein zentrales Thema der 1920er-Jahre, das Philosophen wie Heidegger und Husserl, aber auch Autoren wie Marcel Proust, James Joyce und Virginia Woolf umgetrieben hat. Hierzu noch ein weiterer Gedanke von Virginia Woolf aus ihrem Roman Orlando (1928): „Wenn eine Stunde in dem seltsamen Element des menschlichen Bewusstseins ankommt, kann sie sich bis auf das 50- oder 100-fache ihrer Uhrzeit dehnen; sie kann auf dem Ziffernblatt des Bewusstseins aber auch genau eine Sekunde ausfüllen. Diese außerordentliche Diskrepanz zwischen der Zeit der Uhr und der Zeit des Bewusstseins ist noch nicht genug bekannt und bedarf einer genaueren Untersuchung.“7 Auch diesen Anstoß möchte ich hier aufnehmen und frage weiter: Da die Menschen Gegenwart nicht einfach vorfinden, müssen sie sie also erst einmal für sich erschaffen. Was ist das für eine Form von Dauer, die nicht von der Kultur bestimmt und der Uhr getaktet ist? Wie lange dauert die Gegenwart und wer oder was setzt das Maß für ihre Dauer?

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Gegenwart als Augenblick – die kleinste Einheit unserer Wahrnehmung Mit Baudelaire begann eine literarische Moderne, die ein neues Gefühl für die Beschleunigung der Zeit und die Flüchtigkeit aller Erscheinungen entwickelte und zum Ausdruck brachte. Die Gegenwart faszinierte den Dichter gerade wegen ihrer notorischen Unfassbarkeit. Er nannte sie „kontingent, flüchtig und übergänglich“.8 Virginia Woolf war Teil dieser augenblickssüchtigen Moderne. Auch sie untersuchte in ihren literarischen Texten das neue Zeitbewusstsein und zerlegte es  in seine kleinsten Einheiten. Sie rief dabei zu einem neuartigen Forschungsprojekt auf: Täglich, so analysierte sie, empfängt der menschliche Geist „unendlich viele Eindrücke – trivial oder phantastisch, oberflächlich oder eingraviert mit der Schärfe von Stahl. Von allen Seiten stürzt ein Strom unzähliger Atome auf ihn ein. […] Lasst uns diese Atome aufzeichnen in der Reihenfolge, in der sie den Geist berühren, lasst uns das Muster nachzeichnen, wie unverbunden und bizarr es auch aussehen mag, mit dem jeder Blick und jedes Ereignis auf das Bewusstsein trifft.“9 Virginia verschrieb sich wie andere KünstlerInnen ihrer Zeit dem Geheimnis menschlicher Zeiterfahrung. Siebzig Jahre später wurde dieses künstlerische Projekt von einem Münchner Neurowissenschaftler experimentell umgesetzt. Ernst Poeppel machte die Untersuchung des linearen Stroms der Wahrnehmungen und Empfindungen zu seiner Lebensaufgabe. Er konnte zeigen, dass das menschliche Gehirn diesen Strom nur deshalb verarbeiten kann, weil es ihn ständig kurzfristig anhält. Ohne diesen minimalen ‚Denkraum der Besonnenheit‘10 könnten Menschen im Fluss der Impulse weder zu Bewusstsein kommen noch existieren. Poeppel hat die Zeit genau gemessen, die der menschliche Geist braucht, um den auf ihn einstürzenden Datenstrom zu verarbeiten. Deshalb kann er auf die Frage ‚Wie lange dauert die Gegenwart?‘ eine klare Antwort geben. Die Ant-

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wort ist Poeppels ‚Dreisekundenfenster‘. So lange braucht nämlich das Gehirn, um den Informations-Input zu bearbeiten und zu entscheiden, was aufgenommen und weiterbearbeitet werden soll oder gleich wieder fallengelassen wird. Seine Entdeckung war, dass das menschliche Gehirn genetisch mit einer zeitlichen Plattform ausgerüstet ist, die es ermöglicht, den Strom externer Reize zu kanalisieren.11 Signale wie Geräusche, Bewegungen, Farben und andere Elemente strömen in der multisensorischen Wirklichkeit unentwegt auf das Gehirn ein und wollen verarbeitet werden. Das Gehirn schafft einen Filter, in dem das Chaos der Sinnesreize vorsortiert wird. Auf diese Weise wird Zeitlichkeit neuronal produziert als eine Abfolge distinkter Gegenwartsmomente. Poeppel hat einen wichtigen Beitrag zur Mikrophysik des menschlichen Zeitbewusstseins geleistet. Sein Dreisekundenfenster erfasst die Aufmerksamkeitsspanne als kleinste Bewusstseinseinheit, in der der menschliche Geist auch musikalische Kompositionen, Sprache und Texte sowie soziale Interaktion verarbeitet. Auf dieser operationalen Plattform rhythmisiert unser Gehirn den Strom der Wahrnehmung, des Denkens und der Kommunikation. Wie im Film sind auch in unserem Gehirn Schnitt und Montage die Grundoperationen unseres Zeitbewusstseins. Völlig unabhängig von Poeppel ist ein amerikanischer Psychoanalytiker zu ähnlichen Resultaten gelangt. In seinem Buch Der Gegenwartsmoment rekonstruierte Daniel Stern ebenfalls den Zeittakt sozialer Interaktion auf der vorbewussten Mikroebene der Informationsverarbeitung.12 Sein Motiv bestand darin, die grundsätzliche Offenheit des menschlichen Geistes für neue Erfahrungen und Bindungen zu betonen und sich dabei ein Stück weit von der determinierenden Last der Vergangenheit in der Therapie zu befreien. Er untersuchte dafür die Dynamik nicht bewusster Interaktionsprozesse zwischen Psychoanalytiker und Klienten, die den gegenseitigen Kontakt in der Therapiesitzung steuern. Zu diesem Zweck filmte Stern die Interaktion von Müttern mit ihren Babys und untersuchte anschließend anhand von Filmstills die Dramaturgie dieser emotionalen Begegnungen. Seine Entdeckung war, dass Mutter und

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Kind in ihrer Kommunikation das jeweilige Jetzt des Gegenwartmoments gemeinsam erschaffen. In der Zeitlupe zeigte sich die Dynamik des Gegenwartsmoments als eine Folge von ultrakurzen Szenen, die sich zu einem Minidrama zusammensetzen. Stern definierte den Gegenwartsmoment deshalb auch als eine ‚kurze, emotional gelebte Episode‘, in der er den kleinsten Baustein für gelebte Zeiterfahrung sah. Stern, der beobachtete, wie ein rascher Wechsel affektiver Zustände menschliche Interaktion und Zeiterfahrung rhythmisiert, sah im Gegenwartsmoment die zeitliche Plattform, auf der Gefühlsströme formatiert werden.13 Wie Poeppel war auch Stern auf der Suche nach der kleinsten Einheit, in der Gehirn und Psyche zeitliche Wirklichkeit verarbeiten und synthetisieren. Er wollte den Zeitstrahl ‚in Stücke schneiden‘ (‚chunking‘) und betonte, dass es eben diese Zeitspanne sei, in der Menschen ein Gefühl ihrer lebendigen Körperlichkeit erfahren.14 Bei Stern hat der Gegenwartsmoment eine zeitliche Ausdehnung von zwei bis fünf Sekunden und besitzt die Gestalt einer emotionalen Architektur, eines deutlichen Gefühls, eines vitalen Affekts. Was immer wir aufnehmen und verarbeiten, entsteht im Sekunden-Fenster auf dieser neuropsychischen Plattform des Gegenwartsmoments.

Gegenwart als Handlungszeit Gehen wir von diesen Mikroanalysen der Wahrnehmung zu handgreiflicheren Formen von Gegenwart über. Die ursprünglichste und bis heute bedeutsame Form der zeitlichen Strukturierung menschlichen Lebens ist die Handlungszeit. Unsere Anschauung von Zeit ist nicht mehr abstrakt und leer, sobald wir sie als Maß menschlichen Handelns verstehen und mit Handeln füllen. Dann durchdringen sich beide Kategorien: Die Zeit schreibt dem Handeln ihr Maß vor und das Handeln strukturiert bzw. ‚taktet‘ die Zeit. Auf diese Weise machen die Vielfalt und Verschiedenheit menschlicher Tätigkeiten das ‚Patchwork der Zeit‘ aus. Das hat keiner prägnanter zusammengefasst als der biblische Prediger Salomonis, auch Kohelet genannt:

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„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: […] abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit.“15 Diese archaischen Verse können wir leicht in unsere Zeit übersetzen, denn auch unsere Gegenwart strukturiert sich in der Regel als eine Kette von zeitgebundenen Handlungsabläufen: die Zeit des Duschens, des Morgenkaffees, der Busfahrt, der Zigarette, der Sitzung, des Gesprächs, des Abendessens, der Tagesschau, des Kartenspiels, der Weinflasche  – der Tag addiert sich zu einer Abfolge von Gegenwarten, deren Länge sich nach den in ihnen vollzogenen Handlungen bemisst und aus ihnen zusammensetzt. Zeit ist Handlung und Handlung ist Zeit – so kommen wir von einer Gegenwart zur anderen und durch den Tag und die Nacht. Die Gegenwart dauert, solange die Handlung währt; ist sie vorbei, rüstet man sich für die nächste Handlung. Wenn die ausbleibt, kommt Langeweile auf. „Noch sieben Stunden bis zum Tatort!“ oder: „fifty seven channels and nothing on!“ Im Alltag ist das Zeit-Handlungs-Korsett eine pragmatische und effektive Stütze des Zeitverbringens. Aber dieses Ablaufschema von Wiederholungen und Routinen sorgt auch dafür, dass grundsätzlicheres Nachdenken über Zeit kaum aufkommen kann. Genau dieser Weisheit des Predigers hat der israelische Dichter Jehuda Amichai in einem seiner Gedichte leidenschaftlich widersprochen. Für ihn ist der heutige Mensch dadurch bestimmt, dass er gerade keine Zeit hat, dass es keinen lebensdienlichen Rhythmus mehr gibt und das geordnete Patchwork von Zeit und Handeln einem Chaos der Zeiten, der Handlungen, der Gefühle gewichen ist, in dem alles gleichzeitig auf ihn einstürzt. „Ein Mensch in seiner Zeit hat keine Zeit, um Zeit für alles zu haben.

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Hat keine Zeit, um Zeit zu haben für jegliches Ding. Kohelet, der Prediger, irrt. Er muss hassen und lieben zur gleichen Zeit, mit den gleichen Augen weinen und lachen, Steine werfen mit gleichen Händen, mit den gleichen Händen sie sammeln. Er muss Liebe machen im Krieg und Kriege in der Liebe. Und hassen, vergeben, erinnern, vergessen, ordnen, verwirren, essen, verdauen. Das, wozu die Geschichte viele Jahrhunderte braucht.“16

Erlebte Gegenwart als erfüllte Zeit Von der Routine des Alltags und den Rhythmen der Handlungszeit hebt sich die Erfahrung von Gegenwart als einer kostbaren, erfüllten Zeit ab. Sie beruht auf der modernen Unterscheidung zwischen leerer und erfüllter Zeit, die keinem Geringeren als Leo Tolstoi bei der Tätigkeit des Staubwischens aufgegangen ist. Nachdem er eine Weile gewischt hatte, wusste er plötzlich nicht mehr, ob er einen bestimmten Teil des Zimmers schon gewischt hatte oder nicht. Weil er in Gedanken versunken war und seine Aufmerksamkeit von der trivialen Tätigkeit abgezogen hatte, konnte er sich an die soeben vollzogene Tätigkeit schon nicht mehr erinnern. Diese Entdeckung berührte ihn tief: Wenn keine Erinnerung die soeben gelebte Gegenwart mehr zurückholen kann, dann ist es ja, als wäre sie nie gewesen! Für Tolstoi war das nicht bewusst erlebte Leben deshalb gleichbedeutend mit dem vernichteten oder nicht gelebten Leben. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam Virginia Woolf, die zwischen ‚Augenblicken des Daseins‘ (moments of being) und ‚Augenblicken des Nichtdaseins‘ (moments of non-being) unterschied. Ihrer Ansicht nach vergeht die größte Zeit unseres Lebens im Leerlauf der Zeit und im damit verbundenen Zustand des Nichtdaseins. Die kostbaren Momente erlebter Gegenwart heben sich von diesem Hinter-

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grund umso leuchtender ab; sie sind, wie Woolf sich ausdrückt, „eingebettet in eine Art unbestimmter Watte“17. Wie Tolstoi beschäftigte auch Woolf die verfehlte, nicht gelebte Gegenwart: „Man geht, isst, sieht Dinge, kümmert sich um das, was zu tun ist: den kaputten Staubsauger, die Anweisungen fürs Dinner, schriftliche Anweisungen für Mabel, Waschen, Essen kochen, Buchbinden.“18 Auch bei Virginia Woolf setzt sich der Tag aus lauter Gegenwarten zusammen, die mit Handlungszeit gefüllt sind, aber daraus entsteht eben noch keine erfüllte Gegenwart. Im Gegenteil scheint das Patchwork dieser Gegenwarten erlebte Gegenwart geradezu auszuschließen. Ähnlich sah es auch der russische Kunsttheoretiker Viktor Sklovskij, der 1916 den negativen Einfluss der Automatisierung auf die Wahrnehmung untersuchte: „So geht das Leben dahin, wird zum Nichts. Die Automatisation verschlingt alles, die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und die Angst vor dem Krieg.“19 Durch eine Poetik der Entautomatisierung, das heißt durch künstlerische Verfremdungseffekte, wollte Sklovskij die Aufmerksamkeit neu stimulieren und durch Komplizierung der Form die Wahrnehmung steigern und verlängern. Denn genau das war für Sklovskij die Aufgabe der Kunst: erfüllte Gegenwart wiederherzustellen und zu verlängern. Auch Virginia Woolfs Augenblicke des Daseins entstehen aus der Offenheit und Rezeptivität für alles, was die Wiederholungsroutinen unterbricht: die Plötzlichkeit von Überraschungen, Zufällen, Begegnungen. James Joyce sprach von ‚Epiphanien‘, womit er intensive Augenblicke meinte, die überraschend Durchblicke auf einen unverhofften Sinn der Welt öffnen. Das Wort ‚Plötzlichkeit‘ betont den disruptiven Charakter einer Zeit, die sich eben nicht nur im wiederkehrenden Wechsel, sondern gerade auch in dramatischen Einbrüchen und Durchbrüchen zeigt. Walter Benjamin zum Beispiel hat in seinen ‚Geschichtsphilosophischen Thesen‘ den abrupten Augenblick der kontinuierlich fortschreitenden und Fortschritt bringenden Zeit des Historikers gegenübergestellt. Diesen Augenblick nannte er ‚Gegenwart‘. Darunter verstand Benjamin die revolutionäre Gegenvision einer Geschichte, in der die Zeit in einem komprimierten Erinnerungsbild stillgestellt

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wird, um mit seiner geladenen Energie eine unterdrückte Vergangenheit aus dem Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.20 In den 1980er-Jahren hat Karl Heinz Bohrer den Begriff der ‚Plötzlichkeit‘ wieder aufgenommen und zum Schlüsselbegriff einer Ästhetik der Moderne gemacht. Die Autonomie der Kunst besteht für Bohrer in der Schaffung eines unerklärlich Neuen, das sich jeder kalkulierenden Erwartbarkeit entzieht. Er spricht dabei von einer „Utopie des Ästhetischen“ und einem „Momentanismus“, in dem die Fiktionen von Subjekt und Identität zertrümmert werden und einem reinen Erleben von Augenblicksekstasen weichen, denen Bohrer auch den Namen ‚Glück‘ gibt.21

Gegenwart als künstlerisch geformte Zeit Ganz anders als die Plötzlichkeit des Erlebens einer einbrechenden Gegenwart ist die erfüllte Zeit des Kunstgenusses zeitlich festgelegt und klar dimensioniert. In diese Gegenwart der Kunst treten wir nicht durch Handeln ein, sondern durch das Umschalten und Unterbrechen von Handlungen. Im bürgerlichen Kunstsystem ist die Voraussetzung für diese Gegenwart die körperliche Ruhe und der Zustand angespannter mentaler und emotionaler Aufmerksamkeit, der das ungeteilte Zuschauen und Zuhören einer Aufführung ermöglicht. Ebenso wie die Kirche ist das Theater der Ort einer anderen Zeitlichkeit, ein Hetero-Chronotop. Während draußen die Zeit kontinuierlich weiterfließt, treten wir drinnen in eine andere Zeit und Welt ein in Gestalt von Aufführungen, die ihre eigene Zeit aus Anfang, Mitte und Ende formen. ‚Ästhetische Eigenzeit‘, wie wir diese Gegenwart auch nennen können, unterscheidet sich grundsätzlich von chronologischer oder physikalischer Zeit durch ihre klare Abgegrenztheit und Signale formaler Schließung, die künstlerischen und rituellen Zeitgestalten vorbehalten sind.22 Anders als im Leben rundet sich die miterlebte künstlerisch geformte Zeitstrecke im Rückblick zu einer Gesamtschau, die in der stets offen und diffus verlaufenden Lebenszeit niemals möglich ist.

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Für den Eintritt in die ästhetische Eigenzeit des Theaterstücks, des Films oder des Konzerts gibt es feste Übergangsriten. Das wichtigste Signal für den Zeitrahmen der Kunst war im Theater früher der Vorhang, der sich auf der Bühne öffnete und schloss. Heute ist an seine Stelle eine Ansage mit der Bitte getreten, die Mobiltelefone auszuschalten. (Im Kino dagegen hat sich der Vorhang erhalten und bleibt für die gelungene Performance ein unverzichtbares Requisit.) Mit der Eintrittskarte haben die Theaterbesucher ihren Platz bezahlt, aber das Eigentliche, was sie zu entrichten haben, ist unbezahlbar – und das ist ihre gespannte Erwartung in Form einer freiwillig gesteigerten Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist kostbar und immer prekär: Ablenkung, Unaufmerksamkeit und Müdigkeit können die Zuschauer jederzeit aus der Gegenwart des Theaters vertreiben. Wenn man als Leser, Zuhörer oder Zuschauer seinen Aufmerksamkeitsanteil nicht einbringt, bleibt alle Kunst der Illusion, des Hineinziehens und der ­Einfühlung in die andere Gegenwart vergeblich.23 Anders als vor der Filmleinwand im Kino wird im Theater die gemeinsame Gegenwart zwischen Schauspielern und Zuschauern überhaupt erst hergestellt. In einer öffentlichen Unterrichtsstunde erklärte der Sänger Thomas Hampson einmal einer Schülerin, dass sie sich nicht nur auf ihr eigenes Können verlassen könne, sondern auch auf die ZuhörerInnen angewiesen sei. „Der Energiestrom geht vom Publikum aus!“ Es ist genau diese Wechselseitigkeit der Wahrnehmungen, die synchrone Schwingung, die Herausgehobenheit der gemeinsam erlebten Situation, die die live performance vom Konsum gespeicherter Konserven, Medienpräsentationen und Streamingdiensten unterscheidet. Deshalb ist die live performance auch viel prekärer. Ich werde nie vergessen, wie im Akademietheater in Wien die Aufführung von Fräulein Else von Schnitzler durch ein Handyklingeln aus einer Zuschauerloge gestört wurde. Die Schauspielerin, die den langen Monolog sprach, musste sich mit aller Kraft neu sammeln und warnte die Zuschauer, dass sie beim nächsten Klingelton das Theater sofort verlassen werde. Ebenso wie der Theater-, Kino- oder Konzertbesuch lädt auch der Besuch eines Sportereignisses im Stadion in ein Hetero-Chronotop

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ein. Sobald die Veranstaltung beginnt, schließen sich die Pforten zur Vergangenheit und Zukunft, sodass sich im Hier und Jetzt ein Kollektiverlebnis ereignen kann. Massenkulturelle Events des Zuschauersports in der Arena, so der Präsenztheoretiker Hans Ulrich Gumbrecht, ermöglichen eine genussvolle ganzheitliche Empfindung, bei der die Grenze zwischen Körper und Bewusstsein verschwimmt. Der Begriff ‚Präsenz‘ steht bei ihm für den rauschhaften Zustand einer vollständigen sinnlichen Auslieferung an die Gegenwart, die nicht nur mit einer geschärften Aufmerksamkeit einhergeht, sondern auch eine Verwandlung hervorbringt, nämlich die in den mystischen Kollektivkörper der Masse.24 Ob Film, Theaterinszenierung oder Sportereignis, das Umsteigen in eine andere Zeitordnung ist immersiv: Die Zuschauer tauchen in eine andere Zeit ein und aus ihr nach der Veranstaltung wieder auf. Der Sporttheoretiker und Aficionado Hans Ulrich Gumbrecht hat in einem Interview erwähnt, dass er mit Absicht immer möglichst weit vom Stadion entfernt parkt, damit er Zeit zur Rückverwandlung hat und sozusagen wieder nüchtern in sein Auto und den Verkehr einsteigen kann. In einer Performance dagegen, die keinem vorgegebenen Drehbuch und keiner Partitur folgt, entsteht eine ganz andere Form herausgehobener und ausgesetzter Zeit. Sie schafft den künstlerischen Rahmen für eine kalkulierbare ‚Auszeit‘, in dem sie ausnahmsweise die Zeit selbst sinnlich zur Erscheinung und Erfahrung bringen kann. Das tun zum Beispiel die Auftritte von Marina Abramovic. In ihrer Performance The Artist is Present im MOMA in New York hat sie auf die Frage ‚Wie lange dauert die Gegenwart?‘ eine neue Antwort gegeben. Sie dauert bei ihr so lange, wie die Besucherin es im Museum am Tisch als schweigendes Gegenüber der Künstlerin aushält, während diese ihr tief in die Augen schaut. Diese beiden Personen konstruieren vor einer Zuschauergruppe auf diese Weise miteinander einen emphatischen ‚Gegenwartsmoment‘, der die dreifache Qualität eines Experiments, einer Erfahrung und einer Demonstration erfüllter gelebter Zeit hat. In einer anderen Abramovic-Performance in London entledigten sich die Besucher all ihrer Handys, Kameras und Uhren, um dann in einem

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gänzlich leeren Raum mit sich allein zu sein – und der Künstlerin. Das Einzige, was in diesem Raum zu erfahren war, war die nackte und bloße Gegenwart, der man sich hier stellen musste und der man durch keine Ablenkung mehr entkommen konnte. Für manche war das eine befreiende Erfahrung; sie hatten nur 15 Minuten bleiben wollen, aus denen dann vier Stunden wurden. So lange kann Gegenwart also dauern!

Gegenwart als fokussierte und zerstreute Zeit Gegenwart entsteht auch außerhalb der künstlerisch geformten oder gerahmten Zeit durch fokussierte Aufmerksamkeit. Das war schon die Botschaft der Hirnforschung und der Psychologie. Diese Aufmerksamkeit kann sich im Prinzip auf alles richten, was unseren Sinnen begegnet und unser Interesse anstößt. Das Grundprinzip einer weltzugewandten Aufmerksamkeit hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein in einem Satz zusammengefasst: „Wo Andere weitergehen, dort bleibe ich stehen.“25 Bloßes Stehenbleiben und Hinschauen können überall und jederzeit den Eintritt in eine gelebte Gegenwart bedeuten. Die Verlängerung der Aufmerksamkeitsspanne und das ruhige, kontinuierliche Betrachten sind keine naturwüchsigen Fähigkeiten, sondern müssen kulturell eingeübt werden. Ein klassischer Ort dafür ist das Museum. 17 Sekunden, so hat man errechnet, verweilt der Durchschnittsbesucher vor einem Bild, weshalb der Harvarder Kunsttheoretiker Philip Fisher diese Form der Kontemplation auch ironisch als ein ‚Weglaufen von Bildern‘ beschrieben hat. Um die Besucher zu ‚fesseln‘, werden sie mit Audioguides ausgerüstet, was ihre Gegenwart – und das heißt in diesem Fall die Verweildauer vor Bildern und Objekten – deutlich verlängert. Die Institutionen der Kunst und Kultur können in diesem Sinne auch als eine Einladung zur Dehnung von Gegenwart mithilfe eines Aufmerksamkeitsengagements und -trainings verstanden werden. Anfang des 20. Jahrhunderts konstatierte man angesichts der neuen Medien einen sprunghaften Anstieg visueller und akustischer Reize und sprach von einer neuen Krankheit, der Neurasthenie.

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Diese medizinische Diagnose gibt es heute nicht mehr, aber die nervöse Überreizung durch immer mehr Signale ist inzwischen zu einem festen Teil unserer Kultur geworden. Diese Entwicklung nimmt durch die digitalen Angebote und die sozialen Medien ständig zu und in der Konsumgesellschaft führt das immer aggressivere Buhlen um die knappe Ressource Aufmerksamkeit zu einer sich weiter steigernden Informationsverdichtung. Jeder, der über die technische Ausrüstung verfügt, lebt heute im Einzugsbereich einer Flut von Nachrichten in immer schnelleren Rhythmen und kennt diesen Konkurrenz- und Selektionsdruck. Videos auf YouTube zum Beispiel sind nicht nur mit einem Titel, sondern auch mit einem time code versehen. Was länger als fünf Minuten dauert, hat eine geringere Chance, angeklickt zu werden. Die Kapitalisierung der Aufmerksamkeit geschieht durch die Menge der Klicks. Im Internet heißt es nämlich nicht: „Wo andre weitergehen, dort bleibe ich stehen“, sondern umgekehrt: „Wo andere hingegangen sind, da will ich auch hin.“ Die Aufmerksamkeitsspanne der Gegenwart ist im Internet im Fünfminutenrhythmus getaktet. Diese Zeitspanne ist allerdings nicht zu verwechseln mit der Verweildauer im Internet, die sich leicht auf fünf und mehr Stunden ausdehnen kann. Doch diese Zeit ist das genaue Gegenteil einer fokussierten Gegenwart, weil sie durchschossen ist mit Suchaktionen und Wartezeiten, Unterbrechungen, Abstürzen, vergeblicher Suche und endlosen zerstreuten Klicks.

Gegenwart als Orientierungs- und Geltungsraum Die bislang beschriebenen Gegenwarten beziehen sich ausschließlich auf kürzere oder längere Zeitintervalle und Aufmerksamkeitsspannen, die Menschen in Kunst und Alltag erleben. Gegenwart kann aber auch sehr viel länger dauern als die erfüllte Zeit im Hier und Heute und sich über Jahre, Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte erstrecken. Um zu verstehen, wie das möglich ist, brauchen wir das Wort ‚Gegenwart‘ nur durch ‚Gegenwärtigkeit‘ zu ersetzen. Dazu ein Beispiel aus dem Jahre 1967. In diesem Jahr erhielt Heinrich Böll den Büchner-Preis. Seine

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Dankesrede trug den Titel „Büchners Gegenwärtigkeit“. Böll erklärte dazu: „Die Unruhe, die Büchner stiftet, ist von überraschender Gegenwärtigkeit, sie ist da, anwesend hier im Saal. Über fünf Geschlechter hinweg springt sie einem entgegen […].“26 Böll entdeckte und beschwor in seiner Rede die Zeitgenossenschaft zwischen dem ‚Revolutionär‘ Büchner und der damaligen Jugendprotestbewegung der später so genannten 68er-Generation. Auch Walter Benjamin hatte viel übrig für diese Art der Wahlverwandtschaft zwischen entfernten Epochen und Generationen. Er beschrieb sie als ein dialogisches Selbsterkennungs- und Anerkennungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart: „Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“27 Diese Art von Gegenwart entsteht durch ein geistiges Bündnis, das eine historische Epoche mit einer anderen schließt. Durch das Herbeizitieren des zeitlich Fernen, zu dem eine innere Wert- und Geistesverwandtschaft entdeckt und bestätigt werden, wird eine Form von Zeitgenossenschaft reklamiert und proklamiert, die wir als ‚transhistorische Gegenwart‘ bezeichnen können. Das Bindeglied, das die Zeitgenossenschaft zwischen Büchner und der Protestbewegung der 68er herstellte, hieß für Böll Karl Marx: „Es wäre da eine von der Geschichte versäumte Begegnung zweier Deutscher zu beklagen. Die Begegnung zwischen Büchner und dem wenige Jahre jüngeren Marx. Die kraftvolle, so volkstümliche wie materialgerechte Sprache des ‚Hessischen Landboten‘ ist zweifellos eine ebenso wirkungsvolle politische Schrift wie das ‚Kommunistische Manifest‘ […].“28 Was in der historisch linearen Zeit in eine immer größere Distanz gerät, kann jederzeit in die Aktualität der Gegenwart zurückgeholt werden. Ereignisse der Vergangenheit sind und bleiben zwar unumkehrbar vergangen, aber Erinnerung und eine neue Deutung können sie jederzeit wieder gegenwärtig machen. Während Böll einerseits seine Gleichzeitigkeit mit Büchner und Marx unterstrich, kündigte er andererseits seine gemeinsame Gegenwart mit der Adenauer-Ära auf, in der er ja lebte. In seiner Rede sprach er von einer „großen Beerdigung“ und bezog sich damit auf

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den A ­ bschied von dem Kanzler im April desselben Jahres. So entschieden Böll die Zeitgenossenschaft mit Büchner reklamierte, so deutlich betonte er seine Distanz zu Konrad Adenauer. ‚Vergangenheit‘ und ‚Gegenwart‘ sind hier keine Sache der Chronologie, sondern entstehen durch den Anspruch und Abspruch von Norm, Geltung und Orientierung. Auf solchen Akten der Entscheidung entsteht das kulturelle Gedächtnis, in dem Gegenwärtiges verabschiedet und Vergangenes gegenwärtig gehalten werden kann. Durch Kanonisierung vergangener Künstler, Werke und geistiger Autoritäten wird eine Werte-und-Gedächtnis-Gemeinschaft hergestellt, die performativ über Generationen und Jahrhunderte hinweg beschworen wird und zur Selbstverständigung und Selbstlegitimierung aktueller Überzeugungen und Zielsetzungen in der Gegenwart dient.

Unverzügliche Gegenwart und uferlose Gleichzeitigkeit Zum Abschluss möchte ich auf aktuelle Zeittheoretiker eingehen, die die Gegenwart sehr unterschiedlich beschreiben. John Tomlinson und Hartmut Rosa betonen in ihren Schriften durchgängig die Verkürzung bzw. die Beschleunigung unserer Zeiterfahrung. Während für die beiden Ersten die Gegenwart praktisch keine Ausdehnung mehr hat, ist Hans-Ulrich Gumbrecht der Ansicht, dass die Ausdehnung der Gegenwart schrankenlos geworden sei. Im Grunde sind sich aber alle einig über den Verlust von Gegenwart. In seinem Buch The Culture of Speed – The Coming of Immediacy (2007) setzt Tomlinson sich mit der überstürzt schrumpfenden Zeitspanne der Gegenwart auseinander. Was früher einmal Fortschritt hieß, so seine These, sei durch einen entschränkten Kapitalismus und neue Technologien in einen anderen Modus mutiert. Diesen beschreibt er als eine stetige und nicht mehr zu kontrollierende Beschleunigung von kulturellem und politischem Handeln. Mit dem 21. Jahrhundert, so Tomlinson, seien wir in ein neues ‚Zeitalter der Unmittelbarkeit‘ eingetreten.29 Ein anderer Ausdruck für dieses neue Zeitgefühl ist die ‚Sofort-Kultur‘, die keinen Denkraum der Besonnenheit mehr gestattet, weil alles so direkt und

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unverzüglich wie möglich vonstattengehen muss. Gefragt sind in einem solchen Zeitregime „prompte Treffer, allseitige Verfügbarkeit und die umgehende Befriedigung von Wünschen“. Das bedeutet für Tomlinson, dass sich im Jetzt dieser Gegenwart „die Lücke [schließt] zwischen Jetzt und Nachher“ 30, zwischen Impuls und Reaktion. Diese Perspektive hat Hartmut Rosa weiter vertieft und die Logik einer unkontrollierbar gewordenen Beschleunigung in vielen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens in der Spätmoderne anschaulich dokumentiert. Während Tomlinson das Jetzt unserer Gegenwart auf den unverzüglichen Augenblick reduziert sieht und Rosa mithilfe des Resonanzbegriffs auch nach möglichen Formen einer Therapie und Reparatur sucht, spricht Hans Ulrich Gumbrecht in einer kulturkritischen Perspektive von ,unserer breiten Gegenwart‘31. Dazu muss man wissen, dass Gumbrecht in seinen Schriften eine klare Opposition zwischen ‚Präsenz‘ und ‚Gegenwart‘ aufbaut. Während er Präsenz, wie wir gesehen haben, mit herausgehobener, erfüllter Zeit gleichsetzt, benutzt er das Wort Gegenwart gleichbedeutend mit leerer Zeit. Gumbrecht sieht ein wichtiges Merkmal der aktuellen Zeiterfahrung in dem Problem, dass uns der Weg in die Zukunft aufgrund verschiedener Krisen versperrt sei, während dagegen die Schleuse zur Vergangenheit weit offen stehe. So strömen alle möglichen Vergangenheiten in unsere Gegenwart hinein, die sich damit, wie er sich ausdrückt, beständig erweitert und verbreitert. Gumbrechts Bild dieser breiten Gegenwart ist der stagnierende Teich, in den vieles hineinfließt und aus dem nichts mehr abfließen kann. Grund dafür sind für ihn die neuen Medien, die all diese Vergangenheit abgespeichert haben und im Hier und Jetzt abrufbar machen. Für seine These von der Totalpräsenz der Vergangenheit in unserer breiten Gegenwart führt er aber auch das neue Interesse an Museen, Denkmälern und Gedenkstätten an, die in der Gegenwart Platz schaffen für immer mehr Vergangenheiten. Diese medial und museal hergestellte Gleichzeitigkeit zerstöre jedoch echte spirituelle Zeitgenossenschaften, weil solche besonderen Allianzen weniger auf Erinnerung als auf Vergessen und Wiederentdeckung gründen. In Gumbrechts melancho­ lischem Begriff der ‚breiten Gegenwart‘ kommt also beides zusammen:

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permanente Verfügbarkeit und das Einerlei eines unzusammenhängenden Nebeneinanders, das deutlich an Nietzsches Historismuskritik erinnert.

Zusammenfassung in sechs Punkten Über solchen Spekulationen sollten wir ein paar Grundlagen und Einsichten nicht ganz vergessen. Erstens: Das Hier und Heute ist der einzige Zeit-Ort, an dem überhaupt gelebt und erlebt wird. Die Gegenwart als bewegliche und spannungsvolle Positionierung in der Zeit zwischen dem, was war, und dem, was noch nicht ist, bleibt deshalb die grundlegende, kostbare und spezifische Existenzform der Lebenden. Zweitens: Die von Menschen geschaffenen und erlebten Gegenwarten ersetzen auf die eine oder andere Weise den ausdehnungslosen Jetztpunkt, an dem Zukunft in Vergangenheit umkippt. Dieser Jetztpunkt war die normative Grundlage des Zeitregimes der Moderne. Seinen prägnantesten Ausdruck fand sie in Reinhard Kosellecks berühmter Gegenüberstellung von Erwartungshorizont (= Zukunft im Sinne von dem, was noch kommt) und Erfahrungsraum (=  Vergangenheit im Sinne von dem, was vergangen und somit erledigt und vorbei ist). Dass die Gegenwart aus dieser Gegenüberstellung kategorisch ausgeschlossen war, hat überraschenderweise niemanden gestört. Wer weiterhin modernisierungstheoretisch argumentiert und sich, wie es lange geschehen ist, ganz auf Zukunft und Fortschritt einstellt, hat Probleme mit Formen des Gebrauchs der Vergangenheit, wie wir sie in vielen Dimensionen der Kultur gerade erleben. Drittens: Im Anschluss an die hier vorgestellten Beispiele können wir die Gegenwart neurologisch mit Poeppel und Stern als eine Plattform der Informationsverarbeitung, psychologisch mit Herder und Warburg als einen ‚Denkraum der Besonnenheit‘, philosophisch mit Husserl als Verschränkung von Retention und Protention sowie kulturell als die Relaystation eines kollektiv geformten Gedächtnisses beschreiben, in der die Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart

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und Zukunft immer neu ausgehandelt werden müssen. Die treibende Dynamik dieses Denkmodells liegt dabei in einer engen Verschränkung von Erinnern und Vergessen. Viertens: In der Sondierung der hier zusammengestellten Beispiele erscheint Gegenwart als eine Erfahrungsdimension, deren Intensität steigerbar ist. Dazu bedarf es der Akte des Heraushebens aus der nivellierenden Watte des Gewohnten und Alltäglichen. Erst ein solch herausgehobener Zustand verdient das emphatische Prädikat der ‚Präsenz‘. Präsenz entsteht, wenn es gelingt, dass wir uns in konzentriertem Mitschwingen ganz dem Vollzug eines künstlerischen oder auch sportlichen Ereignisses überlassen. Dieses dauert genauso lange wie die Spannungskurve einer künstlerisch geformten Gegenwart, die uns in Atem und Erregung hält. Jenseits dieser vorgegebenen Erlebniszeit medialer oder realer Inszenierungen wird die Dauer der Gegenwart durch die selbstbestimmte Kraft fokussierter Aufmerksamkeit bestimmt. Gegenwart ereignet sich nie im Takt des Metronoms, sondern entsteht erst in Wechselwirkung mit Menschen, Gegenständen oder Themen. Fünftens: Zeitliche Ausdehnung von Gegenwart kann aber auch durch historische Verknüpfungen geschehen, durch reklamierte Zeitgenossenschaft, die eine Brücke aus der Vergangenheit in die Jetztzeit schlägt. Für diesen Geltungsraum, der durch die Anerkennung kultureller Wertbeständigkeit und die Erklärung geistiger Zeitgenossenschaft hergestellt wird, gibt es keine zeitlichen oder chronologischen Beschränkungen. Über die kurzatmigen Konjunkturzyklen des Kommens und Gehens, des Werdens und Vergehens sowie des Erinnerns und Vergessens hinweg holen Akte der Auswahl und Wertschätzung Vergangenheit in die Gegenwart. Als ‚Kanon‘ bezeichnen wir eine Liste von Kunstwerken ohne Ablaufdatum, aber auch das uferlose Archiv schafft die Möglichkeit zu immer wieder neuen Aneignungen von Vergangenheit und Reinszenierungen in der Gegenwart. Sechstens: Eine breite Gegenwart, die die Vergangenheit vollständig in sich aufgenommen hätte, ist dagegen eine reine Schimäre. Die Tatsache, dass immer mehr gespeichert, gesammelt und abgerufen werden kann, als je zu verarbeiten ist, hat fraglos zu einer enormen Vermehrung der Zugänge zu abrufbarer Information geführt, aber

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s­icher nicht zu einer totalen Überflutung der Gegenwart durch die Vergangenheit. Eine solche These übersieht zum einen die unscheinbare Macht des permanenten Vergessens und Entsorgens, die unser Leben in der Überflussgesellschaft begleitet, und unterschätzt zum anderen die Selektionsmechanismen des individuellen und kulturellen Gedächtnisses. Denn um überhaupt etwas gegenwärtig zu halten, bedarf es beträchtlicher Energien von Aufmerksamkeit und koordinierter institutioneller Anstrengungen. Denn was nicht von Menschen in gemeinsamer kultureller Arbeit ausgewählt, bewertet, hervorgehoben, inszeniert, reklamiert und wiederholt repräsentiert wird, fällt von selbst immer wieder zurück in den Zustand des Vergessens und der uns reichlich umgebenden Watte. Zum Schluss sollen drei Dichter das letzte Wort behalten. Das erste Zitat stammt von Goethe. Es sind die Worte des Paktes, den Faust mit dem Teufel eingeht. „Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!“32 Der Teufel verkörpert hier ein Zeitregime, das auf rastlose Bewegung und beständigen Fortschritt ausgerichtet ist. Faust muss versprechen, wozu im Grunde kein Mensch imstande ist: niemals einen Augenblick als Gegenwart zu erleben und ausdehnen zu wollen. Diese Situation eines permanenten In-Bewegung-Haltens ist auch als ‚Radfahren‘ bekannt: Wer nicht fährt, fällt um. In eine politische Losung übersetzt, lautet dies: ‚vorwärts immer, rückwärts nimmer‘. Das zweite Beispiel ist ein kurzes Gedicht von Bert Brecht, das ebenfalls dem Wunsch nach Ausdehnung von Gegenwart etwas entgegensetzt. Die Stimme in diesem Gedicht versagt sich die Ruhepause und sehnt sich nach Bewegung. Deshalb wird der aufgezwungene Radwechsel nicht als Gegenwart erlebt, sondern als Verzögerung. Die Verse erfassen damit die konstitutionelle Ungeduld, die uns Menschen antreibt und damit auch immer wieder aus der Gegenwart vertreibt. Das

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Gedicht selbst ist jedoch ein Moment des Innehaltens, denn es hat die Form einer Reflexion und stellt die Frage nach dem ‚Warum?‘. DER RADWECHSEL Ich sitze am Straßenhang. Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. Warum sehe ich den Radwechsel Mit Ungeduld?33 Zum Schluss noch eine weibliche Stimme. Es ist die Stimme der Dichterin Sylvia Plath, die einen leidenschaftlichen Aufruf an sich selbst richtet.34 „Denk daran, denk daran: Das ist Jetzt, und Jetzt, und Jetzt. Lebe es, fühle es und halt es fest. Ich möchte all das mit Klarheit erleben, was ich als selbstverständlich hingenommen habe.“ Gegenwart – wie lange auch immer sie dauern mag – ist eine menschliche und kulturelle Aufgabe. Es geht dabei um nichts mehr und nichts weniger als um die Verknüpfung von Zeit und Sinn für bewusstes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben.

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WARUM WIR ZÖGERN. ÜBER DIE ZEIT DER BILDUNG A N D R E A S D Ö R P I N G H AU S

Die Verzögerung, dieser harmlose Augenaufschlag des scheinbaren Nichtstuns, jenes Zaudern, trägt unsere reflexiven Selbstverhältnisse. Nur durch sie machen wir Erfahrungen im Leben, die Folgen für uns haben. Diese Folgen bezeichnen wir als Bildung. Verzögerungen sind  – so betrachtet  – Erfahrungen unserer selbst im Raum der Möglichkeiten. Im unmittelbaren Prozess der Erfahrung befreien sich Sinn und Bedeutung aus dem Dickicht der Selbstverständlichkeit. Wir finden uns unmerklich infrage gestellt, überdenken Hinsichten oder wägen Urteile ab. Etwas, über das wir nicht einfach hinwegsehen können, wird in seiner Bedeutung hinterfragt. Es zögert in uns. Das Subjekt als scheinbarer Akteur ist lediglich eine Projektion. Wir stolpern im Denken und Wahrnehmen; irgendetwas fällt uns auf und fordert unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und Neugier. In genau dieser Situation wird unsere Wahrnehmung ansprechbar. Was ehemals als Wirklichkeit unumstößlich feststand, wird fragil und zu einem Raum von Möglichkeiten. Während wir zögern, gerät der Fortgang der Zeit ins Stocken. Ein ansonsten selbstverständlicher Übergang von einer Gegenwart in die andere wird unterbrochen und lässt ein temporales Zwischenreich des Vakanten entstehen, das weder mit einem leichten Satz zu überspringen noch zu ignorieren ist. In dieser Verzögerung nehmen wir unsere Welt, uns selbst und andere Menschen verändert wahr. Genau das macht die für uns so wichtigen Bildungsprozesse aus:

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Warum wir zögern

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Wir kommen anders aus einer Erfahrung heraus, als wir hineingegangen sind. Eben folgenreich.

Zeitregime. Vom Selbstverlust Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, dass Gesellschaften und mit ihnen Kulturen ohne Prozesse des reflexiven Zögerns, ohne widerständige Prozesse, die sich selbst den kürzesten Wegen im Denken und Handeln in den Weg stellen, nicht existieren können. Bildung und Kultur sind Folgen solcher Verzögerungen. Auch das Politische – für jede freiheitliche Gesellschaft konstitutiv – ist nur denkbar, wenn gesellschaftliche Ordnungen immer wieder unterbrochen und neu bedacht werden. Menschen brauchen die Umwege der Nachdenklichkeit, brauchen also Erfahrungsräume, die Bildung überhaupt erst ermöglichen. Dazu gehört unweigerlich die Stille der Zeit, das Atemholen, verbunden mit der Möglichkeit, Dinge anders wahrzunehmen, als es unter Zeitdruck und der Hetze einer permanenten Beschleunigung möglich wäre. Die Gewohnheit, der temporale Habitus, will oft fortschreiten, die Verzögerung hingegen erscheint uns mitunter leidvoll, beinhaltet sie doch eine Langsamkeit, ein Warten, das es auszuhalten gilt. Halten wir zu Beginn fest: Die Verzögerung ist eine veränderte reflexive Wahrnehmung, die es erlaubt, Erfahrungen zu machen, die mich bilden. Umso überraschender mutet es an, dass wir durch die durchaus machtvolle Normierung des Gebrauchs unserer Lebenszeit dazu angehalten werden, nicht nur dem Zögern wenig abzugewinnen, sondern es geradezu zu verhindern. In Eile zu sein, gilt schon als Wert an sich, sodass Fortschritt, der unaufhaltsame Gang der Zeit, das permanente ökonomische Wachstum und vor allem aber der Druck, sich stets zu verbessern – diese neue, stillschweigend hingenommene Erbsünde –, per se heilige Kühe sind. Wer zögert, gilt als unentschlossen, streut Sand in das Getriebe rationalisierter Kohorten. Allein die Zumutung der Umständlichkeiten, die durch Prozesse der Nachdenklichkeit entstehen, ist hinderlich für die effektive, reibungslose Aus-

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nutzung der Zeit. Daher sucht das Dispositiv des Lebenszeitregimes Verzögerungen, Unterbrechungen oder Stillstände zu verhindern. Dieses Lebenszeitregime nimmt seinen Ausgang im Zeitalter der Aufklärung; seitdem gilt nicht nur die freiheitliche Lebensführung als Teil der Selbstbeschreibung, mit ihr zugleich erfunden wurden die Werkzeuge, diese Freiheit auch disziplinarisch als effektives Instrument zu nutzen. Die normierte Selbstkontrolle der eigenen Zeit ist weitaus effektiver als jede lückenhafte Fremdkontrolle. Die Subjekte sollen ihre Zeit selbst so nutzen, wie das Dispositiv der Gesellschaft es will. Freiheit und Macht gehören im tiefsten Verständnis zusammen. So führen wir unser Leben, indem wir unsere Lebenszeit so effektiv wie möglich nutzen. Die Anpassung an mitunter fremde Zeitdiktate bedeutet für den Menschen, seine individuelle Zeit des Verstehens permanent zu hintergehen und so am Ende das Selbstverhältnis zu destruieren. Damit wird der Lebenssinn unterlaufen, denn ein lebenszeitlicher Eigensinn kann temporal eingeforderten Sinnansprüchen nicht standhalten. Als Folge klaffen Lebenszeit und Weltzeit, die schier unendlich offen scheinende Zukunft sowie ihre unbegrenzten Möglichkeiten, weit auseinander. Dann aber wird die eigene Lebenszeit nur noch als eine Frist und als geringfügiger Teil eines unaufhaltsamen zeitlichen Flusses erlebt. In diesem Fluss sickert die eigene Lebenszeit dahin. Jeder Zeitpunkt ist immer schon vergangen und der Sinn des Lebens gerät unter Zeitdruck. Man fragt sich, was dieses eine Leben soll, was sein Sinn ist, wenn es doch nur befristet auf die eigene Lebenszeit ist? Die neuzeitliche Vorstellung von Lebenszeit und das ihr innewohnende Zeitregime bekunden bis heute ein Sinndefizit, das nach Kompensation trachtet. Wie aber lässt sich Sinn kompensieren, wenn nur noch die radikal endliche Lebenszeit zur Verfügung steht? Und weil das Mittel, nämlich die Zeit zum Leben, zum Lebens-Zweck an sich mutiert, werden der Zeitgewinn und die Ausnutzung der Zeit zum Sinnsurrogat; sie sind die menschliche Sinndefizitkompensation. Jedoch führen sie nicht zu einer erfüllten Zeit, sondern – im Gegenteil – zum Selbstverlust. Im Zeitregime der Eile und Hetze, des Immerbesser-Werdens und der vorwiegend ökonomisch ausgelegten

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Wachstumslogik verlieren wir uns als Funktion leerer, ungelebter Zeit. Die erfüllten Zeiten des Augenblicks und des Gegenwärtigen werden nicht mehr in den Blick genommen. Und da wir nicht wissen, wohin wir gehen sollen, in welche Richtung unser Weg führt, laufen wir – sinnneurotisch, wie wir sind – stattdessen schneller, jedoch ohne Ziel. Anders formuliert: Die schier quantitative Zeit kennt weder bedeutungsgetränkte Ziele noch die Fülle zweckfreier Betrachtung. Lediglich Beschleunigung wird zum Lebenssinn. Vor allem die Bedeutungssteigerung einer endlichen Lebenszeit als quasi alleinige Sinngebungsquelle fordert eine lückenlose Lebensführung und diffamiert damit nicht genutzte, mitunter sogar erfüllte Zeiten als Verschwendung. In einer rein ökonomischen Entzifferung unserer selbst müssen wir auf das Gegenwärtige der Verzögerung, auf die Qualität erfüllter Zeit, verzichten – und damit letztlich auch auf uns. Erfahrungen werden zu kostspieligen ‚Zeiträubern‘. Erst durch den Verzicht auf gegenwärtiges Erleben können Prozesse beschleunigt werden. Und doch: Wir fühlen uns nicht mehr wohl in unserer Haut, sind uns in unserer Erwartung voraus, die das Gegenwärtige als defizitär herausstellt. Wir befinden uns in einem Teufelskreis aus Lebensfrist, Zeitdruck und Sinnentzug mit dem gleichzeitigen Sinnersatz durch den Mythos vom Zeitgewinn und der Beschleunigung. All das wird von der Kontrollgesellschaft des Zeitregimes in Gang gehalten. Dabei aber sind wir im Grunde ‚allzu menschlich‘, also weder auf Eile noch auf Effektivität ausgerichtet. Im Gegenteil: Menschen sind gemacht für Spielräume und Zustände des erfinderisch Unsicheren. Während die Disziplinargesellschaft ihre Macht vorwiegend über den Raum ausübt, sodass feststeht, wer sich wo aus welchem Grund aufhält, strukturiert und organisiert die Kontrollgesellschaft ihre Bevormundung über die Zeit. Ihr sind unsere Lebensführung und unser Umgang mit Zeit wichtig. Dabei geht es in einer Kontrollgesellschaft vor allem darum, dass keiner mit etwas fertig wird und auch nicht fertig werden soll.1 Der Habitus des lebenslangen Lernens, der permanenten Weiterbildung, des Nichtfertigwerdens schlechthin, wird zum Lebenszeitregime. Unsere Unfertigkeit, begründet im Fortschrittsglauben des 18. Jahrhunderts, wird damit zum Dauerzustand. Dass

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wir mit nichts abschließen, gehört zur Kontrolle. Es geht immer noch besser. Dadurch treiben wir uns stetig neu an und funktionieren in dieser Motivation perfekt. Geschürt wird der Drang durch die vielleicht seit jeher effektivste Form der Machtausübung – vom Fegefeuer bis zur Arbeitslosigkeit: durch suggerierte Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit.2 Zeitdispositive, ein Bündel von Zeitsteuerungsformen, leben gerade von diesen Ungewissheiten. Mit ihnen wird eine Machtstruktur etabliert, die das gegenwärtige Leben permanent verschiebt. Wir verlieren an Orientierung und verlernen, zu entscheiden. Wir werden nicht mehr in Räume, sondern in Zeiten gesperrt und geben uns der Illusion hin, in unserer Zeitgestaltung frei zu sein. Diesem Gedanken unterwirft sich die kleine Freiheit des großen Zwangs, seine Zeit gewinnbringend zu managen. Die Investition von Zeit muss sich lohnen. Die Ökonomie der Zeit, von der Karl Marx erkannt hat, dass die Ökonomie selbst in ihr ihren Höhepunkt findet, ist allumfassend. Die Ökonomie der Zeit zielt innerhalb der Kontrollgesellschaft auf die Verteilung von Leben in der Zeit ab.3 In dieser Maschinerie der Kontrollgesellschaft spielt Bildung eine besondere Rolle. Vermeintliche Bildungsziele sind die permanente Anpassung an vorgegebene Ordnungsmuster und die Ausbildung von Kompetenzen für solche Anpassungsleistungen. In der Tat verbinden wir mit Bildung auch eine Verbesserung, jedoch nicht die der Effizienz, sondern die des Menschseins. Gemeint ist jene Bildung, die auf eine Haltung zur Welt abzielt und die die in uns ruhenden Möglichkeiten zu verwirklichen trachtet. Zeitökonomie dagegen suggeriert Sinn und spiegelt uns vor, alles sei möglich: unendliches Wachstum sowie grenzenlose Selbstoptimierung. Ziel der Bildung ist, Bescheid zu wissen, kluge und begründete Entscheidungen zu treffen und in der Lage zu sein, unser Leben nach vernünftigen Gesichtspunkten zu führen. Aber auch die Unmöglichkeiten müssen bedacht sein. Mit der Kontrollgesellschaft allerdings hat sich die Halbbildung zur Verdummung perfektioniert. Sie ist die Fortsetzung der Halbbildung mit anderen Mitteln. Bildung entfernt sich endgültig vom Selbstanspruch von Freiheit und Gleichheit und enthält nicht einmal mehr das Potenzial der Kritik der Halbbildung. So wird die Ver-

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dummung allgegenwärtig. Friedrich Nietzsche hat prophezeit, dass eine Zeit kommen wird, in der nicht mehr verstanden werden kann, was Bildung für den Menschen und sein Menschsein bedeutet.4 Wir sind angekommen.

Verzögerung als perceptio. Von der Freiheit des Wartens Das leiblich fundierte Zögern macht uns zu reflexiven Wesen, die in einer symbolischen Welt voller Sinn und Bedeutung nicht nur reagieren, sondern antworten. Dieser Unterschied ist nicht gering. Während die Reaktion gleich einem Naturgesetz unmittelbar auf den Reiz folgt, ist das Zögern von ganz anderer Art. Es geschieht nicht ungebrochen, ist schwankend, oft hin- und hergerissen. Etwas bleibt in der Schwebe, der Fortgang des Denkens und Handelns wird ausgesetzt. Bildungsprozesse haben etwas mit Fragen zu tun, deren Antworten nicht schon bereitliegen. Die Antwort umgreift  – anders als die Reaktion  – die Frage nach dem Sinn. Im Zögern versuchen wir, die Frage zu verstehen, auf die wir antworten. Wir werden ansprechbar für die Welt. Immanuel Kant bestimmt die Freiheit des Menschen und im Übrigen auch seine Würde als die ihm ureigene Möglichkeit, aus kausalen Verfasstheiten von Reiz und Reaktion auszubrechen. Er markiert so den Spielraum, in dessen Grenzen der Mensch mündig werden kann. Mündigkeit nimmt ihren Ausgang in der Freiheit, die, wie Michel Foucault weiterführt, darin besteht, „nicht dermaßen regiert zu werden“5. Die Freiheit besteht dann darin, sich zu sich selbst durch die Verzögerung in der Zeit verhalten zu können. Vielleicht besteht die Freiheit des Menschen einzig und allein darin, nicht mechanisch reagieren zu müssen. Das heißt nicht, dass wir tun können, was wir wollen. Es heißt aber, dass wir nicht Opfer unserer Reize sind. Jede Zurechnung und Zuschreibung von Handlung wäre ohne diese Freiheit undenkbar. Dank ihrer können wir unser Handeln aufschieben, nachdenken, den Willen hemmen und einen Spalt des Spielraumes eröffnen. Darin liegt die Einübung in das Leben und seiner Fülle begründet.

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Es stellt vor diesem Hintergrund eine letztlich überflüssige Bestandsaufnahme dar, beispielsweise neurophysiologisch feststellen zu wollen, ob etwa unser Gehirn unseren Willen und damit unser Handeln bestimme. Unser Gehirn, wenn wir bei diesem Beispiel bleiben, kann keineswegs zögern. Es reagiert. Es passt sich biologisch an. Erst im Zögern wird unser Handeln zu einer reflexiven Möglichkeit, die wir durchspielen, erwägen oder vorstellen. Das Zögern geht somit unserem eigentlichen Handeln voraus. Selbst wenn wir einen Entschluss fassen, zögern wir oft und räumen damit der Zeit ihr Recht ein. In der Verzögerung verändert sich folglich die Handlung, und zwar in einem Zwischenreich der Möglichkeiten, die immer mehr sind als wir. Eine Handlung ist also kein Akt, sondern ein komplexer Prozess. Das Zögern ist nicht so sehr eine Aktivität, zu der wir uns bewusst entschließen, Zögern ist aber auch keine Passivität, die uns ohne unser Dazutun widerfährt. Zögern ist am Ende ein rätselhaftes Phänomen: eine Rücknahme der Erwartung, ein Zwischenreich, ein Zustand der Offenheit, in dem alles oder zumindest vieles möglich ist. Wir zögern unsere Antwort hinaus. Damit verschieben wir sie nicht einfach. Vielmehr verändert sie sich gerade in und durch die Zeit, und zwar dadurch, dass eine Entscheidung offengehalten wird. Auf diese Weise öffnet sich unser Blick für die Welt. Doch was ist dies für ein Blick? Wie können wir Möglichkeiten wahrnehmen? Am Ende ist das Zögern eine Art der Wahrnehmung, und zwar die Wahrnehmung eines fehlgeschlagenen Abschlusses des Selbstverständlichen. Zögern rückt nicht den Wirklichkeits-, sondern den Möglichkeitsstatus meiner Wahrnehmung in den Mittelpunkt. Wir leben damit unser Leben stets hypothetisch, ständig ansprechbar und offen für unsere Wahrnehmung. Einen Hinweis auf die besondere Zeitstruktur von Verzögerungen als Bildungsprozesse liefert uns Theodor W. Adorno. In seinem unveröffentlichten Nachlass bemerkt er, dass Bildung ein Wartenkönnen sei.6 Das wirkt mitunter befremdlich. Wie kann Warten etwas Positives und gar Sinnvolles sein? Wenn wir heutzutage über das Warten nachdenken, fallen uns vermutlich als erstes unsäglich lange Wartezeiten ein. Wir warten im Stau, in der Arztpraxis, an der Kasse, am

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Telefon in eigens geschaffenen Warteschleifen, auf dem Bahnhof und so weiter. Was gibt es Nutzloseres als das Warten? Ist es nicht sogar vermessen, zu behaupten, dass ein solches Warten wünschenswert sei und gar mit der Bildung des Menschen zu tun habe? Gerade im Kontext der permanenten Geschäftigkeit und einer beschleunigten Lebenswelt kann und soll vor allem das Warten nur noch Ärgernis sein – nutzlos, überflüssig, quasi ein Defekt im Lebensorganisationssystem. Daher gilt es als besonders erfreulich, wenn Wartezeiten durch ausgeklügelte Logistik und Umstrukturierungen verkürzt werden. Der Ansporn: Beschleunigung und Zeitgewinn, denn auf uns wartet das Leben – und es bestraft uns, wenn wir nicht pünktlich sind. Dazu kommt: Das Warten ist auch Ausdruck der Stellung im sozialen Raum. Nicht jeder muss gleichermaßen warten. Wir kennen heute nur noch die negativ konnotierte Bedeutung von ,Warten‘, die Gleichsetzung mit Zeitverschwendung. Warten ist offensichtlich verzichtbar, überflüssig und nervend. Aber eröffnet uns das Warten nicht auch Möglichkeiten? Anzuhalten, der Zeit ausgesetzt zu sein, vielleicht auf andere Gedanken zu kommen oder mit Menschen ins Gespräch zu geraten? Wir lernen, nichts zu tun oder nichts tun zu können. Betrachten wir das Warten doch als eine Art ästhetische Praxis: Der Wille hat nichts zu wollen, er ist kaltgestellt, selbst er muss warten lernen. Es hat eine Nähe, wie Arthur Schopenhauer herausstellt, zur Kontemplation.7 Das Warten ist darin schlichtweg eine Entlastung vom permanenten Tun, Dasein und Wollen. Wenn Adorno einen Zusammenhang von Warten und Bildung herstellt, erinnert er uns vor allem an diese Möglichkeiten des Wartens und mit ihnen an eine reichere Wortbedeutung. So leitet sich der Begriff des Wartens ursprünglich vom Verb videre ab und meint ein Schauen, ein Tun des Nichtstuns und darin ein Aufmerksamsein. Stellen wir uns Warten also nicht zu einfach vor. Gerade weil das Warten gegen den Druck der Zeit gerichtet ist, widerstrebt es uns mehr als auf den ersten Blick angenommen und ist womöglich auch deshalb so wenig erwünscht. Mit ihm wird die Macht des Lebenszeitregimes, von dem bereits die Rede war, deutlich. Die zielgerichteten Prozesse unseres Tuns verlieren sich.

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Warten, das ist Zeit ohne Ziel, ein Spiel der Zeit, wie es Friedrich Nietzsche nennt.8 Es eröffnet einen Spielraum, einen Spalt, durch den die Zeit uns berührt. Warten heißt wahrnehmen, sehen und zuhören, es heißt, Aufmerksamkeit zu schenken und sich so einzulassen, dass neue Horizonte des Sinns entstehen und alte Deutungsmuster verwehen. Warten, dass sich etwas zeigt, was wir vorher so nicht gesehen haben, und dass sich Fragen öffnen, deren Antworten nicht schon bereitliegen. Der Mensch lernt, indem er die Dinge anders betrachtet. Denken wird zum Durchdenken und das wiederum braucht Zeit, erstreckt sich in Zeit – ohne vorgegebene Lösungen. Wo Fragen gestellt werden, wird Offenheit eingerichtet. Wenn Wilhelm von Humboldt Bildung als eine Wechselwirkung von Ich und Welt beschreibt, bringt er eine Verzögerung von Reiz und Reaktion in linearen Prozessen in Anschlag. 9 Für ihn vollzieht sich der Bildungsprozess als eine Verzögerung von Zeit in einer zirkelhaften Wechselwirkung und führt zu jenem Verstehensprozess, ohne den Bildung schlichtweg nicht auskommt. Eine Reaktion auf einen Reiz wäre die bloße Anpassung an die Umwelt: Die ‚Wirklichkeit‘ bleibt, wie sie ist, es finden nur nahezu biologistische Anpassungsreaktionen statt. Die Wechselwirkung von Ich und Welt hingegen lässt die Wahrnehmung der ‚Wirklichkeit‘ nicht unverändert. Welt verändert sich und wird im und durch den Bildungsprozess gestaltet. Somit hat sie in der Wechselwirkung auch Folgen für mich, denn meine Wahrnehmung ist eine andere, die Welt wird mit anderen Augen gesehen, sie ist eine andere. Doch worin besteht nun diese besondere Weise, gerade im Zögern einen anderen, öffnenden Blick zu haben? Das Zögern ist selbst eine spezifische Sicht, eine besondere Weise der Wahrnehmung, und zwar eine perceptio per distans10. Eine Wahrnehmung durch Distanzierung ist aber keine distanzierte Wahrnehmung, wie ein erstes Verständnis vielleicht nahelegt, sondern eine distanzierende. Eine distanzierte Wahrnehmung wäre eine aus der Distanz, scheinbar unbeteiligt und folgenlos für uns. Die distanzierende Wahrnehmung hingegen steht im Nahverhältnis dessen, was uns fesselt und unsere Aufmerksamkeit erheischt. Ihr Ringen um Distanzierung sucht eine Veränderung der

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Sicht, eine Öffnung der Wahrnehmung, und zwar folgenreich für mich. Bildung als folgenreicher Prozess der Verzögerung betrifft also nicht unser Zur-Welt-Sein in Distanz (also aus einer unbeteiligten, gesicherten Position heraus), sondern durch Distanzierung, durch zirkuläre Verstehensprozesse oder, wie Humboldt es nennt, durch Wechselwirkung. Eine distanzierende Wahrnehmung verändert die Wirklichkeiten und Verhältnisse in und mit denen wir leben, indem sie Zwischenräume als sichtbare Möglichkeitsräume schafft. Bildung wird so zum Möglichkeitssinn, zum Sinn für Sinn. Sie ist eine Selbstthematisierung der Wahrnehmung: Die Wahrnehmung selbst wird fraglich. In der Verzögerung distanzieren wir uns von den implizit fungierenden Selbstverständlichkeiten unseres Deutungshorizonts und unserer Auffassungen und wechseln von einer scheinbaren Unmittelbarkeit der Wahrnehmung hin zu Fragen nach Sinn und Bedeutung ihrer Möglichkeiten. Es ist der Weg vom So-denken-Müssen hin zum Anders-wahrnehmen-Können. Ganz in diesem Sinne wohnt der Bildung konstitutiv und nicht randständig die Kritik inne. Sie suspendiert ein überkommenes, stillschweigend fungierendes Urteil. Wir nehmen immer dann distanzierend wahr, wenn die Selbstverständlichkeiten brechen, wir irritiert sind, staunend vor etwas stehen, vergleichen oder neu justieren müssen, wenn Sichtweisen obsolet werden und auf einen fremden Anspruch antworten. Die Verzögerung setzt die Zeit aus. Sie geriert abschweifende Distanzierungen, ohne festgelegte Orientierungen und Ziele, dafür aber mit jenen Umständlichkeiten und Umwegen, die die Nachdenklichkeit mit sich bringt. Bildung als Verzögerung lebt gerade auch vom scheinbar Unnützen. Verzögerungen und Distanzierungen brechen mit der naiven Illusion eines unmittelbaren Weltverhältnisses. Uns wird klar, dass die Dinge der Welt alles sind, nur nicht eindeutig. Die Verdummung kennt weder eine solche ansprechbare Wahrnehmung als Empfänglichkeit für Welt noch die Folgen dieser Wahrnehmung für mich. Im Grunde gibt es mit ihr keine Wechselwirkung; ihr fehlt das Moment des Reflexiven. Bildung ist sodann keine Leistung eines Subjektes, das sich bildet, sondern Genese und Resultat eines reflexiven

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Prozesses auf dem Feld der Verzögerung und der Distanzierungen, der mich bildet. Diese ungewöhnliche Wende vom Ich zum Mich geht nicht davon aus, dass es erst Transformationen eines Subjekts gibt, die dann zu veränderten Wahrnehmungen, Auffassungen und Hinsichten führen, sondern umgekehrt, dass es unsere Wahrnehmung in der verzögernden Auseinandersetzung mit Welt ist, die mich bildet. Es ist nicht so, dass sich der Bildungsprozess eines Subjekts vorgängig ereignet, sodass es anschließend die Welt anders sieht. Es ist genau umgekehrt: Die Welt wird – perceptio per distans – anders wahrgenommen, sie ist in ihren Möglichkeiten eine andere.11

Das Leben wiederholen. Von den Praktiken der Verzögerung Beschleunigungsprozesse ersetzen das fehlende Ziel, sie sind Ausdruck eines Verlustes von Selbsterfahrungen und gelebter Zeit. Zeitgewinn, die gnadenlose Ausnutzung der Zeit, wird zum Lebenszweck und zum unumstrittenen Kern des Lebenszeitregimes. Unser Leben ist nur noch linear zusammengesetzt: ein Lebenslauf. Wäre es nicht wichtiger, aus dem Leben insgesamt ein Werk zu machen – kein großes, aber wenigstens hier und da ein kleines? Wenn möglich, eine Art Dichterin oder Dichter des eigenen Lebens zu werden? Sich somit um die eigene Zeit zu sorgen, ihr Aufmerksamkeit zu schenken? Seneca wusste schon um jene Mechanismen, die uns Lebenszeit rauben: „Sei überzeugt, es ist so, wie ich schreibe: manche Zeit wird uns entrissen, manche gestohlen, manche verrinnt einfach. Am schimpflichsten dennoch ist ein Verlust, der aus Lässigkeit entsteht. Und, wenn du darauf achten wolltest: der größte Teil des Lebens entgleitet unvermerkt, während man Schlechtes tut, ein großer Teil, während man nichts tut, das ganze Leben, während man Belangloses tut.“ 12 Zum Wagnis des Lebens gehören stets Umwege, Irrtümer und Irrwege. Die Verzögerung der Zeit ist die Zeit des Nichtidentischen und sie ist darin schöpferisch, weil sie im Spiel der Differenz die Welt der Möglichkeiten erahnt. Zugleich wird deutlich, dass der Mensch in seiner Reflexion zu spät kommt, weil er sich unmerklich stets voraus ist.

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Die Praktiken der Verzögerung als Lebensführung sind daher immer auch Arbeiten an Freiheit und Mündigkeit. Seit jeher ist mit der Bildung des Menschen verbunden, dass er seine Lebenszeit gestalten und ihr in Kunst und Kultur Ausdruck verleihen kann. Das Leben ist eine Hypothese, die Zeit ihr Wahrheitsgehalt, Kunst und Kultur sind ihr Ausdruck. Verzögerungen sind in der Struktur ihrer Lebens- und Gesellschaftsgestaltung rekursive Wiederholungen geraubter, unerfüllter Zeiten. Diese Wiederholungen verändern etwas allein durch sie selbst, unmerklich, still und doch beredt. Sie stellen sich dem Fortgang der Zeit entgegen, sie sind kein Stillstand, keine Restauration oder Redundanz. Was sind Reflexionen, Nachdenklichkeit, Selbstverhältnisse anderes als rekursive Wiederholungen des ansprechenden Verstehens? Platon, der die abendländische Bildungstradition wie kein Zweiter geprägt hat, versteht unter Bildung eine Umwendung des Blicks. Durch diese Umwendung erkennt der Mensch die Welt in einem anderen Licht, begreift er das Sein und bleibt somit nicht dem bloß Scheinenden verhaftet.13 Der Prozess der Bildung ist dabei mit der Erkenntnis der Ideen verbunden, die allein Wahrheit verbürgen. Wie kommt man zu dieser Erkenntnis? Nach Platon hat unsere Seele die Ideen präexistenziell geschaut, wir wissen also implizit, wonach wir suchen müssen. Das Erkennen der Ideen erfolgt durch die anamnesis, eine Wiederholung. Damit wohnt der Verzögerung im Grunde das Moment einer veränderten Sicht inne. Kierkegaard unterscheidet die Wiederholung von der bloßen Erinnerung, sofern sich die Wiederholung nicht ‚rücklings‘, sondern ‚vorlings‘ erinnert. Er erläutert die Unterscheidung folgendermaßen: „Wenn die Griechen sagten, alles Erkennen sei Erinnerung, so sagten sie, das ganze Dasein, das da ist, ist dagewesen; wenn man sagt, daß das Leben eine Wiederholung ist, so sagt man: das Dasein, das dagewesen ist, entsteht jetzt.“14 Mit anderen Worten: Die Wiederholung verdeutlicht die Entstehung des Gegenwärtigen, des Jetzt im Zögern. Augustinus – in anderer Orientierung – nutzt die treffende Metapher der distentio animi, wenn er eine Ausdehnung der erfüllten Zeit in der Seele als Gegenwart15 erkennt.

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Dem Gedanken der Askese, also der reflexiven Lebensführung, ist dies im Übrigen nicht fremd. Askese im eigentlich griechischen Sinne ist eine Praxis der Verzögerung: die Übung seiner selbst als eine Wiederholung. Gemeint ist eine positive Selbstpraxis der unter anderem geistigen Übung, in welcher der Mensch sich zunehmend seiner selbst bewusst wird. Wir gehen zurück auf einen Gedanken und denken ihn ‚nach‘, wir wiederholen uns, nehmen ein kritisches Ethos ein, wenn wir über unsere Gewordenheit reflektieren, unser Denken denken, unser Sehen sehen, unser Hören hören und so weiter. Wir erhalten ein anderes Verhältnis zu uns. Darin ist Wiederholung eben keine „Einerleiheit“16, sondern ein ungleiches Gleiches. Die Praxis der Verzögerung der Wahrnehmung per se ist die Kunst. Sie ist die Übung des Innehaltens in der eigenen Zeit, die Anerkennung des temporalen Eigensinns der Wahrnehmung. Ihr Wesen ist die stete Wiederholung, der nicht abschließbare Zirkel der Auseinandersetzung. Sie zwingt die Wahrnehmung in die Abgründe sinndriftender Wiederholungen. Die Kunst unterbricht, stellt infrage, unterläuft das Selbstverständliche. Die Wahrnehmung wird nicht losgelassen, aber zum Verweilen verführt. Kunst ist ein Spiel der Wahrnehmung, die von ihr angesprochen wird und sich für sie – befreit von den Zwängen der Pragmatik – öffnet. Mit Kunst entstehen neue Horizonte und Deutungsmuster von Sinn und Bedeutung, veränderte Hinsichten auf Welt sowie Eigenzeiten der Selbstwahrnehmung in der Hinwendung. Aber auch Kultur wäre nicht denkbar ohne Verzögerung. Der Umgang mit sogenannten Kulturgütern ist nichts anderes als eine Praktik der Verzögerung. Die Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Musik, aber auch mit Sprache, Religion, Wissenschaft, Recht, Ökonomie und Geschichte, Natur und Technik ist immer die wiederholende Beschäftigung des Menschen mit sich selbst, seinem Denken, seinen Gefühlen und seinen Ausdrucksformen. Es geht also bei der Bildung des Menschen nicht um die Anhäufung historischen Wissens, sondern um ein vielseitiges Interesse für diejenigen Fragen, die zur Orientierung wichtig sind und auf die wir Menschen gemeinsame Antworten als Sinnentwürfe suchen. Die alleinige Auseinander-

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setzung mit kulturellen Inhalten ist nicht zweckdienlich, weil sie in diesem Moment ihre kostbare und überlebenswichtige Funktion der Verzögerung nicht mehr erfüllt. Es ist naiv, zu glauben, eine Gesellschaft wäre ohne Kultur überlebensfähig. Bildung als Verzögerung lebt gerade auch vom scheinbar Unnützen. Gesellschaft und Kultur haben weder zeitliche Effizienz noch bedingungslosen Nutzen oder gar zweckgerichtete Willensakte zum Ziel, sie leben nicht von reibungslosen Abläufen und trainierten, lediglich reagierenden Subjekten. Fehlen die Verzögerung und die damit verbundenen Umständlichkeiten, so werden immer weniger Menschen wissen, so Hans Blumenberg, „was sie tun, indem sie lernen, weshalb sie so tun. Die Handlung verkümmert zur Reaktion, je direkter der Weg von der Theorie zur Praxis ist, der gesucht wird. Der Schrei nach der Eliminierung ‚unnützen‘ Lernstoffes ist immer der nach ‚Erleichterung‘ der funktionellen Umsetzungen.“ 17

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DINGE ÄNDERN SICH – UND UNS K ÄT E M E Y E R- D R AW E

„Jedes Werkzeug schlägt auf die Erfahrung durch, hinterläßt seine Spuren nicht nur am Produkt, sondern auch am Menschen.“1 Im Unterschied zu zahlreichen Texten, die für sich in Anspruch nehmen (können), Übersehenes ins Licht zu rücken, Vergessenes in Erinnerung zu rufen oder Unbeachtetes gar erstmals zu würdigen, können sich die folgenden Überlegungen nicht mit Desideraten rechtfertigen. Auch Entdeckergebärden stehen ihnen nicht zu. Denn über Dinge ist nicht nur in den letzten, sondern aus unterschiedlichen Anlässen bereits in vorausgehenden Jahren viel, sehr viel geschrieben worden. Sie werden in soziologischer, psychologischer, kunsttheoretischer, kulturwissenschaftlicher, historischer, wissenschaftstheoretischer, in technischer, technologischer oder technikgeschichtlicher, erziehungswissenschaftlicher und nicht zuletzt philosophischer Perspektive thematisiert. Ihre Rolle in der Gestaltung von Welt-, Selbst- und Fremdverhältnissen ist oft bedacht worden. Sie begegnen uns in unserer Erfahrung, in dem unthematischen Umgang mit unserer gelebten Welt, in der sie nicht nur vorkommen, sondern an der sie in vollem Wortsinn teilhaben. Sie dienen als Statussymbole, Vertreter unerfüllter Wünsche. Sie werden gesammelt, gebraucht, versteckt, verwertet, repariert, recycelt, präsentiert, verstaut, reklamiert, weggeworfen, künstlerisch gestaltet, hergestellt und vieles mehr. Sie ver-

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ändern nicht nur sich, sondern auch uns. Sie fungieren nicht nur als interaktive, sondern auch als interpassive Medien. Diese Facette im Verhältnis des Menschen vor allem zu technischen Objekten soll im Folgenden beleuchtet werden. Das Ding, das ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt werden soll, ist das Telefon.

Dinge als Partizipanden In unserer konkreten Lebenswelt haben wir uns längst an technische Objekte gewöhnt. Wir unterhalten vielfältige Beziehungen zu ihnen. Wir delegieren Praktiken, aber auch Genuss an sie. Artefakte prägen umgekehrt unsere Verhaltensweisen. Wir ersetzen etwa das Treppensteigen durch den Fahrstuhl. Dieser konditioniert seinerseits unsere Interaktionen, indem er zwingende Bewegungs- und Blickmuster gestaltet. Es entsteht ein sogenannter „Kabinenblick“2, der die unterdrückte selbsttätige Zwischenleiblichkeit überspielt. Vor allem die Weitergabe interaktiver Vollzüge an digitale Systeme haben uns verändert. Soziale Prinzipien und Strukturen verlieren zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig expandieren die Objektwelten „innerhalb der Welt der Konsumgüter, der technologischen Apparaturen und der wissenschaftlichen Gegenstände“.3 Es setzen sich Formen der Sozialität durch, welche „die Kernkonzepte der menschlichen Interaktion und Solidarität infrage stellen, aber dennoch Formen der Relationalität zwischen dem Selbst und dem Anderen konstituieren“.4 Indizien für diese Veränderungen sind im Politischen der Abbau des Wohlfahrtssystems und in den Wissenschaften die Vorliebe, menschliches Verhalten statt soziologisch psychologisch oder biologisch zu erklären. Begleitet werden diese Deutungsverschiebungen von der Substitution zahlreicher interpersoneller Begegnungen durch elektronische Systeme, etwa in der Verwaltung, im Handel und im Verkehr. Elektronisch vermittelte Konversationen verändern den konkreten sozialen Umgang. Unter anderem wird die tatsächliche, auch konflikthafte Begegnung nicht mehr geübt. Der Ton wird rauer, die Botschaft knapper.

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Aber eines der wichtigsten Elemente der Veränderungen von Sozialität ist in „der langsamen Erosion des Glaubens an die Erlösung durch die Gesellschaft“5 zu sehen. Diese Ansprechbarkeit einer Gesellschaft im Hinblick auf eine säkulare Rettung nimmt ab. Soziale Imaginationen verblassen. Das Spiegelbildselbst löst sich vom konkreten anderen und organisiert sich in digitalen Bildern, welche die Dynamik von Mängeln und dem Begehren nach deren Beseitigung in Bewegung halten. Sie werden unterstützt durch Objekte, die nur noch als Versionen existieren. Das Gegenteil solcher Objekte sind beispielsweise kleine japanische Holz- oder Elfenbeinschnitzereien, Netsuke, die in Vitrinen überdauern und von Zeit zu Zeit in die Hand genommen, oft von Kinderhänden liebkost werden.6 Auch Kintsugi steht für Dauerhaftigkeit in Absetzung vom Modischen, vom potenziellen Schrott. Gemeint ist ein japanisches Reparaturverfahren, das zerbrochene Keramiken zusammenklebt und die Bruchlinien vergoldet, um das Wertvolle gerade in der Erhaltung und dem Alter zu unterstreichen. In unserer Zeit stehen technische Objekte vor allem für die nächste Optimierung bereit. Selbst, wenn sie längst noch nicht ihren Dienst versagen, werden sie durch das jeweils neueste Produkt, etwa das letzte Smartphone, ersetzt. Perfektion ist nicht erreichbar. Perfektionierung hält die Wunschökonomie lebendig. „Heute lässt die Kürze des Zeitraums, innerhalb dessen ein High-Tech-Produkt buchstäblich zu Schrott wird, zwei gegensätzliche Haltungen nebeneinander bestehen: einerseits das ursprüngliche Bedürfnis oder Verlangen nach dem Produkt, andererseits die affirmative Identifizierung mit dem unvermeidlichen Prozess des Ausrangierens und Ersetzens.“7 Diese Beschleunigung entmachtet die Vergangenheit. Dass wir heute mit und unter Maschinen leben, wird keiner bestreiten. Wir lassen uns etwa vom Smartphone wecken. Die Kaffeemaschine ist aufgrund einer Zeitschaltung schon in Betrieb. Der Kühlschrank hält unsere Nahrungsmittel frisch, und wenn er im Internet der Dinge vernetzt ist, speichert er das, was zu besorgen ist. Ein Blick auf die Instrumente unseres Selftrackings versichert uns unserer Gesundheit. Die implantierte Apotheke sorgt für notwendige pharmazeutische Hilfe. Nebenbei diktieren wir unserer Sprachassistentin das

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anstehende Referat, um dann mit dem Auto zur nächsten Station unseres Lebens zu fahren. Das Auto führt sich auf wie eine Gouvernante: Es nötigt uns, den Gurt anzulegen, erinnert uns an die nächste Inspektion, drangsaliert uns mit seinem Navigator, die Geschwindigkeit zu beachten, und ist intensiv dabei, Daten über uns zu sammeln und unsere ohnehin schon beachtliche Datenschleppe zu vervollständigen. Man muss damit rechnen, dass es demnächst relevant für den Zeugenstand werden wird. Technische Objekte erweisen die konfrontative Stellung von Subjekt und Objekt als überholt. Zu Beginn der Neuzeit wurde dieses ­Modell mit dem Anspruch absolut sicherer Erkenntnis maßgebend. Es führte zwar zu der rasanten Entwicklung von Naturwissenschaften und Technik, verrätselte aber gleichzeitig unsere Beziehungen zur sinnlichen Welt. Spätestens unter dem Einfluss digitaler Umgebungen richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Partizipationskraft von ­Dingen. Sie sind mitunter gleichgültig, aber auch ansprechend oder abstoßend. Sie beeindrucken uns, aber sie meinen uns nicht. Sie intervenieren, aber sie intendieren nicht. Das Verhältnis bleibt asymmetrisch. Dinge werden dabei in erster Hinsicht nicht erkannt, sondern erfahren. Wir sind mit ihnen durch unsere Handfertigkeiten vertraut oder scheitern an ihnen aufgrund unserer Unerfahrenheit. Darin bekundet sich ein heimliches Einverständnis mit der Welt, „die […] eine bemerkenswerte Geschicklichkeit verleihen wird, welche sich nur im Werk und nicht im Bewusstsein oder der Rede zum Vorschein bringen lässt; […]; sie wird mehr eine Fähigkeit [capacité] als ein Wissen sein; von Natur aus wird sie für die anderen geheim bleiben, denn sie wird für ihn selbst [scil. den Techniker], für sein eigenes Bewusstsein ein Geheimnis bleiben“.8 Insbesondere Kinder unterhalten „eine Art natürlicher Verwandtschaft“9 mit den Dingen. So wird etwa der Ball zu einem Quasiobjekt und Quasisubjekt. „Der Ball ist kein gewöhnliches Objekt, denn er ist, was er ist, nur, wenn ein Subjekt ihn in Händen hält. Irgendwo niedergelegt, ist er nichts, ist er albern, hat er keinen Sinn noch eine Funktion noch Wert.“10 Ich bin dem Ball unterworfen, sein subiectum im Wortsinn. „Als rollende Kugel spricht er die unmittel-

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bare Sprache der pathischen Herausforderung zum Handeln: das Rollende fordert das Stoßen heraus.“11 In diesem Sinne fungieren Dinge als Erzieher. Das wusste JeanJacques Rousseau und das hat vor allem Maria Montessori berücksichtigt. Mit psychotechnischer Raffinesse ließ sie die Erzieherinnen und Erzieher zurücktreten und ihr Handeln an die Dinge delegieren. „Nicht Gegenstände zur Sinneserziehung und zur Bildung, sondern alles in der Umgebung ist so vorbereitet, daß die Fehlerkontrolle leicht gemacht wird. Von den Möbeln bis zu dem Entwicklungsmaterial sind alle Gegenstände Verräter, vor deren warnender Stimme man nicht fliehen kann. […] So wird die gesamte Umgebung zu einem strengen Erzieher, zu einem aufmerksamen Wachtposten. Jedes Kind empfindet die Warnungen, als stünde es ganz allein vor diesem unbeseelten Lehrer.“12 Ihre berühmten Steckkästen funktionierten wie die zeitgenössischen Haltesysteme in den Werkstätten, bei denen unpassende Werkzeuge sofort auffielen oder eben durchfielen.13 Sie zwangen zur Ordnung. Während für Langeveld der Appell der Dinge ein Anruf an unsere Freiheit ist, bedeutet er für Maria Montessori einen strengen Ordnungsruf, wie er zur damaligen Zeit in der Anthropotechnik der Arbeitswelt exerziert wurde, der es um die natürliche Ökonomie und Effizienz der Bewegungen ging.14 Griffig musste das Werkzeug sein, sinnfällig sollten die Techniken zu gebrauchen sein wie etwa die Handbremse, die im Unterschied zur Fußbremse gezogen wird und damit die leibliche Erinnerung des Zügelns eines Pferdes anspricht.15 Im Hinblick auf die gelebte Erfahrung gab es, lange bevor die Namen erfunden wurden, die damit bezeichnete Sache. „BeinaheKameraden“ (Maurice Merleau-Ponty), „Mediateure“ (Gilbert Simondon), „Quasi-Objekte“ (Michel Serres), „Hybride, Aktanten, Faitiche“ (Bruno Latour) fungieren der Sache nach als Mittler und längst nicht nur als Mittel.16 Insbesondere technische Artefakte erinnern uns heute an diese mediale Struktur, die sowohl unser Verständnis vom Subjekt als auch unsere Bestimmungen des Objekts zur Revision aufgibt. Dinge sind nicht von uns und wir nicht von ihnen zu isolieren. Sie haben eine Vor- und eine Nachgeschichte. Sie ändern sich – und uns. Dabei lässt sich eine säuberliche Trennung von zeitlichen und räum-

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lichen Veränderungen nicht aufrechterhalten. Ein technisches Artefakt, das unsere Lebenswelt und damit auch uns erheblich verwandelte, ist das Telefon.

Das Telefon Philip Roth, ein amerikanischer Schriftsteller, der wie kaum ein Zweiter die Schattenseiten menschlichen Lebens in den Blick nimmt, schildert eine Erfahrung, die jemand macht, der aus seiner selbst gesuchten Einsamkeit auf dem Lande in die Großstadt zurückkehrt. Er schreibt: „Was überraschte mich in den ersten Tagen am meisten, wenn ich durch die Stadt spazierte? Das Offensichtlichste: die Mobiltelefone. Auf dem Berg, wo ich gelebt hatte, gab es noch keinen Empfang, und unten in Athena, das mit Antennen versorgt war, hatte ich auf den Straßen nur selten Menschen gesehen, die ungehemmt in ihr Handy sprachen. Ich erinnerte mich an New York, in dem die einzigen, die den Broadway entlanggingen und dabei scheinbar Selbstgespräche führten, verrückt waren. Was war in diesen zehn Jahren passiert, dass es plötzlich so viel zu sagen gab, dass so vieles derart dringend war und sogleich gesagt werden musste? Wo ich auch ging und stand, kam mir jemand entgegen, der in ein Telefon sprach, und hinter mir war ebenfalls jemand, der telefonierte. In den Wagen telefonierten die Fahrer. Wenn ich mir ein Taxi nahm, hing der Chauffeur am Telefon.“17 Das Telefon fungiert als eine Art „Heimtrainer“ für gesellschaftlich erwünschtes Handeln.18 Seine Appelle scheinen zwingend zu sein: sofort, schnell, prompt, ganz aufs Hören verdichtet. Der alte Fernsprecher, der an der Wand hing und angekurbelt werden musste, fand seinen Platz eher versteckt im dunklen Flur und nicht griffbereit im hellen Wohnzimmer. Er fungierte als ein ungebetener Gast, wenn er die Mittagsruhe störte. Walter Benjamin erinnert sich: „Wenn ich dann, meiner Sinne kaum mehr mächtig, nach

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langem Tasten durch den finstern Schlauch, anlangte, um den Aufruhr abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach.“19 Der Kurbelinduktor sorgte für die Verbindung zum „Fräulein vom Amt“, das nun per Hand für die Weiterleitung sorgte. Nach und nach wanderte das Telefon nicht nur aus dem dunklen Korridor in die hellen Räume, sondern auch aus dem privaten Haushalt in die Öffentlichkeit. Der erste „Fernsprechkiosk“ ging 1881 in Berlin dem „Münzfernsprecher“ voraus. 1906 existierten bereits fast 6000 deutsche Telefonhäuschen, die sich alle voneinander unterschieden und ästhetisch aufwendig gestaltet waren. „1913 wurde in Deutschland ein erstes typisiertes Telefonhäuschen entwickelt: mit auffälligem Walmdach, leidlich großzügiger Verglasung und der Aufschrift Fernsprecher-Automat.“20 Aus heutiger Sicht ist die Sitzgelegenheit bemerkenswert, die bald entfernt und durch die Mahnung „Fasse Dich kurz“ ersetzt wurde. Berühmt wurde die Londoner Serie von Kiosken. Die rote Zelle ist bis heute berühmt. Beim privaten Fernsprecher machte die Kurbel der Drehscheibe Platz, und das Kabelnetz ermöglichte das Selbstwählen. Das frühere Telefonieren hat sich dabei tief in unsere Gestik eingeschrieben. Wenn wir heute von fern einem anderen einen Anruf signalisieren wollen, dann heben wir die rechte Hand mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger an unser Ohr, als hätten wir einen altmodischen Hörer in der Hand. Auch dass wir heute immer noch ein Gespräch mit den Worten „Ich muss jetzt auflegen“ beenden und tatsächlich auf ein Display drücken, steht für die Erinnerung des Leibes. Das aktuelle Telefonieren ist jedoch kaum noch mit seinen Ahnen zu vergleichen. Es hat sich vom kolossalen Störenfried im dunklen Flur zu einem handschmeichelnden ständigen Begleiter und verlässlichen Stellvertreter gewandelt. Statt etwa selbst zu antworten, lassen wir unsere Mobilgeräte Anrufe beantworten. Ist die Rufnummer nicht unterdrückt, wissen wir, wer anruft, und können entsprechend reagieren. Wir delegieren unsere Lust und Unlust an Telefone, nutzen sie als interpassive Medien. Wir hören die Mailbox ab, obwohl wir den Anruf direkt entgegennehmen könnten. Es sieht ganz so aus, als ob ein Vergnügen „delegiert [würde], damit es nicht ganz

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verlorengeht“.21 Telefone und wir sind längst nicht mehr an einen gemeinsamen Ort gebunden. Wir leiten den Ruf um. Erst das mobile Gerät erfand das Festnetz, das aber ausgetrickst werden kann. Das Fernsprechgerät verschwindet im Nirgendwo, kann aber gleichzeitig geortet werden. Das Mobilfunkgerät hat sich nicht nur in seiner Technik und seinem modischen Design verändert. Es hat uns verändert. So machen unsere Mobiltelefone uns zu jemandem, der prinzipiell unbegrenzt erreichbar ist. Menschen werden mit ihrem Bedürfnis nach Schlaf zu Engstellen und Störfällen moderner Systemanforderungen. Medikamente unterstützen sie dabei, wie Maschinen funktionieren zu können. Das Mobiltelefon sorgt dafür, dass wir unentwegt ansprechbar sind und nach Jonathan Crary „schlaflos im Spätkapitalismus“22 existieren. Wir können pausenlos arbeiten, konsumieren und kommunizieren und sind dabei erkennungsdienstlich höchst kooperativ. Unsere Daumen huschen über das Display. Wir senden Bilder und Filme, sind in ständigem Kontakt. „Die Entwicklung und das Verschwinden der öffentlichen Telefonzellen zeichnet eine anthropologische Revolution der Fernkommunikation nach, die in nur einem knappen Jahrhundert stattgefunden hat und kaum radikaler hätte ausfallen können. Die ersten Telefonkabinen waren Orte der Diskretion und des Komforts, witterungs-, blick- und vor allem schallgeschützt. Nicht von ungefähr charakterisierte sie die Pariser Presse als moderne Beichtstühle“.23 Das Mobiltelefon ist nicht diskret. Es bietet aber auch keinen Zufluchtsort mehr wie das „Telefonhäuschen“. Es wird schwierig, Privates von Öffentlichem zu scheiden. Die Selbstdeutung des Menschen als Subjekt gründet nicht länger in einer entschlossenen Geste der Selbstermächtigung, sondern darin, dass wir angerufen, aufgerufen und adressiert werden. Selten wurde beispielsweise im pädagogischen Diskurs so viel angerufen wie heute. Interaktion ist das Zauberwort, überhaupt Aktion. Robert Pfaller setzt dagegen die „Interpassivität“ und damit die Möglichkeit, durch Delegation der Anrufung zu entgehen. Statt interaktiv zu arbeiten, können wir interpassiv genießen lassen. Der Anstrengung der Subjektwerdung wird dabei der Genuss der Selbstvergessenheit entgegengestellt. Neo-

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liberale Appelle an den Schmied seines Glücks gehen daneben. „Wenn die Interpassiven dabei [scil. etwa im Einsatz der Mailbox] einen Genuss aufgeben, so gewinnen sie die weitaus größere Lust: die diebische Freude, sich einer Anrufung entzogen zu haben und kein Subjekt sein zu müssen.“24 Technische Artefakte sind vorzügliche interpassive Medien, an die Lust und Unlust delegiert werden können. In diesem Licht gleichen sich der Videorekorder, der an meiner statt fernsieht, und der Fotokopierer, der Lesen spielt, indem er Seite um Seite ins Licht der Aufmerksamkeit rückt und mir am Ende das Gefühl gibt, beinahe schon den Text gelesen zu haben. Wie viele Bilder und Videos nehmen wir mit unseren Smartphones auf, das für uns in Urlaubserinnerungen schwelgt wie eine tibetanische Gebetsmühle, an die das Beten abkommandiert wird, während den Gedanken und Fantasien freier Lauf gelassen wird. Selbst das Lachen wird in amerikanischen Komödien delegiert.25 Sicherlich ist im Vorausgegangenen manches dramatisiert und übertrieben. Deutlich sollte jedoch werden, dass technische Objekte Selbst-, Fremd- und Weltbilder mitbestimmen und damit Handlungsfolgen haben. Sie als bloßes Instrument und dazu noch für neutral zu halten, geht an ihrer Bedeutung vorbei. Dinge vervielfältigen sich unentwegt und bevölkern unsere Räume, machen sich darin den Platz streitig und müssen an unsichtbare Orte verbannt, weggeworfen oder präsentiert werden. In Berlin gibt es ein „Museum der Dinge“, das in der Tradition des Werkbunds steht. Der Name „Museum der Dinge“ ist merkwürdig. Ist nicht jedes Museum ein Museum der Dinge? Wir finden hier außer Gemälden und Skulpturen archäologische Fundstücke in Vitrinen, können Schmuck und Kleidung bewundern, Kutschen und Waffen betrachten. Dinge werden exponiert und damit aus einem Zusammenhang in einen anderen gestellt. Der Deutsche Werkbund stellt unter anderem „stumme Diener“ aus, die das Leben der Menschen erleichtern, oder auch „blasse Dinge“, bei denen ein „dilettierender Formwille“ am Werk war.26 Die Sammlungen werden vor der allzu schnellen Ordnung bewahrt und behalten eine Treue zum Ding, dem die Gebrauchsspuren anzusehen sind oder die sie gerade verbrämt. Designerarbeiten finden sich unter Alltagsgegenständen

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wieder. Aus dem Luftfilter einer Gasmaske als Zeichen der Bedrohung wird ein Kerzenständer, Sinnbild einer behaglichen Atmosphäre. Aber auch skurrile Gegenstände haben ihren Ort. So ist ein beleuchtetes Stopfei (ein Stopfpilz?) der Firma AEG laut Werkbundarchiv das Ding des Monats September 2011. Es stammt aus dem Jahre 1936 und verdichtet die damalige Faszination von der Macht der Elektrizität. Aber ein weiterer Zug der Technik wird sichtbar, der uns heute fremd zu werden droht. Der Stopfpilz symbolisierte das Reparieren, die Dauer der Dinge, die sich nicht modisch wetterwendig ablösen. Ferner war die Glühlampe damals, wenn sie kaputt ging, in mehrfacher Weise wieder zu verwerten: ihr Messingsockel, ihr Glühfaden und schließlich die Glassplitter.27Als einer seiner Erfinder wird Konrad Adenauer genannt. Der AEG war kein wirtschaftlicher Erfolg mit diesem Produkt beschieden. Heute mutet das Stopfen selbst bizarr an. Am Beispiel der Klingel veranschaulicht Blumenberg den Einfluss der Technisierung durch Verbergungsprozesse der Bedingungen sowie der Komplexität des Technischen. Heute sprechen wir von dem „Blackboxing“ der Technik, auf die wir uns verlassen, die wir aber als solche nicht verstehen. Die mechanische Klingel ermöglichte uns beispielsweise noch die Erfahrung des Zusammenhangs von eigener Handlung, etwa im Ziehen der Schnur oder dem Drehen des Schalters. Die elektrische Klingel lässt unser Tun unspezifisch werden (man kann mit dem Finger, bei vollen Händen aber auch mit dem Ellenbogen oder sogar der Nase zudrücken) und verbirgt den menschlichen Funktionsanteil. Einsicht wird im wortwörtlichen Sinne unmöglich. Die Funktion dominiert.28 Auf dem Wiener Flughafen checkt man am Automaten ein, zieht seine Sitzkarte und die Banderole mit dem Strichcode für das Gepäck, die man selbst bei der Aufgabe auf dem Transportband scannt. Das erste Wort, das man vielleicht wechselt, gilt dem oder der Sicherheitsangestellten, der oder die nach Flüssigkeiten und elektronischen Geräten fragt und lediglich als Scharnier zum Durchleuchten fungiert. Routinierte Praktiken bieten sich geradezu zur Automatisierung an. Zahlreiche früher interpersonelle Begegnungen werden durch elektronische Systeme ersetzt, etwa in der Beratung, beim Erwerben

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von Waren, aber auch an der Börse und in Sportreportagen. Man kann nicht sicher sein, ob man seine Botschaften von Maschinen oder Menschen erhalten hat. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, dass man über Geld nur noch elektronisch verfügen kann, dass es überhaupt keinen Bargeldverkehr mehr gibt, dass alles in Form von Datenströmen funktioniert. „Amazon Go ist eine amerikanische Supermarktkette des US-Konzerns Amazon, deren Geschäfte ohne Registrierkassen oder SB-Kassen auskommen. Die Kunden verlassen das Geschäft nach Auswahl der Waren ohne einen Kassiervorgang, die eingekauften Artikel werden durch Sensoren und Kameras erfasst und nach dem Verlassen des Ladens automatisch berechnet. Aktuell sind 16 Filialen in Betrieb.“29 Die Delegationen seiner Praktiken an Artefakte, die für den Menschen handeln sowie Lust und Unlust für ihn empfinden, ist wohl Zeichen seiner Fantasie und seiner kreativen Macht, aber auch potenzielles Schicksal seiner Exkommunikation, seiner Unterwerfung. Dinge ändern sich – und uns: Harmlos ist das nicht.

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ZEIT DER ANDEREN B E R N H A R D WA L D E N F E L S

Wir sind gewohnt, vom Kommen und Gehen der Zeit zu sprechen, Zukünftiges und Vergangenes in einen Zeitfluss zu betten. Ob wir dabei mehr das Bewahren von Vergangenem oder das Schaffen von Zukünftigem im Auge haben, scheint eine Sache individueller und kollektiver Präferenzen. Der Verdacht, dass daran einiges nicht stimmt, ist nicht neu, doch alles kommt darauf an, wie man möglichen Unstimmigkeiten begegnet. In meiner phänomenologischen Betrachtung werde ich die Rolle der Zeit primär von der Zukunft und von der Alterität her aufrollen.1

Was auf uns zukommt In ihrer Mischung aus Ungewissheit und Unausweichlichkeit gleicht die Zukunft dem Tod, in ihrer ständigen Wiederkehr gleicht sie einer stetigen Geburt. Sie lässt sich so wenig aneignen, wie dies für Geburt und Tod gilt. Zukunft, der nichts Fremdes beigemischt wäre, wäre nicht mehr als eine erweiterte Gegenwart. Die Fremdheit, die hierbei zutage tritt, betrifft mich selbst ebenso wie die anderen. Gibt es ein Ethos der Zeit, so zeigt es sich darin, wie wir sie vereint gestalten, wie wir unter ihr leiden. Die Unfasslichkeit der Zukunft hat jedoch etwas Anstößiges, das zu Notlösungen einlädt. Man kann sie einem bleibenden Menschheitsziel zuordnen; man kann sich in gekünstelter Apathie von ihr

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a­ bwenden; man kann sie technisch berechnen und ökonomisch nutzen; man kann Folgen eigenen Tuns auf spätere Generationen abschieben nach dem bekannten Motto: „Nach uns die Sintflut“. Behält die individuelle Selbsterhaltung das erste und letzte Wort wie in der politischen Anthropologie von Thomas Hobbes, so wird die Frage „Wie hast du’s mit dem anderen“ zur modernen Gretchenfrage. „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ Emmanuel Levinas stellt diese alte Frage unter das Doppelthema: Die Zeit und der Andere (1984). Darin erklingt wie ein fernes Echo Zarathustras Rede „Von der Nächstenliebe“, in der es heißt: „Die Zukunft und das Fernste sei dir die Ursache deines Heute: in deinem Freunde sollst du den Übermenschen als deine Ursache lieben.“2 Entscheidend ist hierbei die Bewegung des Über-hinaus, die im Heute entspringt, sich aber nicht um das Heute dreht. In den folgenden Überlegungen, die sich von den Impulsen einer responsiven Phänomenologie leiten lassen, liegt der Ton auf dem, was sich zwischen fremdem Anspruch und eigener Antwort abspielt und was immer wieder an die Schwelle der Zukunft führt.

Antworten auf das, was uns widerfährt Unter dem Antworten, das sich als Leitmotiv in den verschiedenen Registern der Erfahrung entfaltet, verstehe ich ein Verhalten, das anderswo beginnt, nämlich bei dem, was uns angeht und anrührt, was uns affiziert und an uns appelliert, kurz: was uns widerfährt. All unser Tun erwächst einem Untergrund des Pathischen. Das Pathische tritt offen zutage in starken Formen des Erstaunens oder Erschreckens, die unsere Erfahrung aus der Fassung bringen. Ich denke dabei an das griechische Wort ‚Pathos‘, das sowohl die Passivität, das Leiden wie die Leidenschaft bezeichnet und sich nicht auf den pathetischen Ausdruck beschränkt. Speziell geht es uns um die Zeitlichkeit, die dem Doppelereignis von Pathos und Response, von Anspruch und Antwort innewohnt. Die beiden Glieder dieses Doppelereignisses verhalten sich nicht kausal zueinander wie Stimulus und Response oder teleologisch wie Ziel und

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Streben, vielmehr unterliegen sie einer originären Zeitverschiebung, die ich mit einem alten Ausdruck als Diastase bezeichne. Wörtlich bedeutet dies ein Auseinandertreten, das zugleich verbindet und trennt. Sehen wir ab von normalen Abläufen der Erfahrung, in denen sich bruchlos eines aus dem anderen ergibt, so stoßen wir einerseits auf Widerfahrnisse, die gemessen an unseren Erwartungen und Vorkehrungen zu früh kommen, andererseits auf Antworten, die gemessen an dem, was uns beunruhigt und aufschreckt, zu spät kommen. Daran ändert keine Echtzeit etwas. Erinnerungen, mit denen wir Vergangenes dem Vergessen entreißen, rühren an Unvordenkliches, das gleich unserer Geburt nie Gegenwart war; Erwartungen, mit denen wir Künftiges vorwegnehmen, rühren an Unerwartbares, das gleich dem eigenen Tod nie Gegenwart sein wird. Der Urvergangenheit, in der Phänomenologie und Psychoanalyse sich berühren3, entspricht eine ursprüngliche Zukunft, die sich vom anderen her erschließt. Wörter wie ‚Zu-kunft‘ oder ‚a-venir‘ besagen, dass etwas auf uns zukommt, bevor wir selbst darauf zugehen. Kommen und Gehen geraten aus dem Gleichgewicht, wenn Neues einbricht. So heißt es in Jenseits von Gut und Böse4: „Ein Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, nicht wenn ‚ich‘ will.“ In dem, was wir im Deutschen mit einem glücklichen Ausdruck als Einfall bezeichnen, meldet sich eine Zukunft, die das Nächste fernrückt, indem sie den Kern der Gegenwart sprengt. Selbst in der Gegenwart sind wir nicht völlig bei uns zu Hause. „Im Leben ist’s bald hin-, bald widerfällig“ wie in Goethes Tyche. Was uns einfällt, auffällt oder zufällt, lässt sich durch keine Arbeit erzwingen und durch keine Technik steuern.

Verzögerte Antworten Neues kann plötzlich hervorbrechen wie aus heiterem Himmel, aber es kann sich auch unmerklich einschleichen. Technologisch gesprochen, hat das Kommen einen analogischen, keinen digitalen Charakter; Zukünftiges lässt sich errechnen, nicht aber das Kommen der Zukunft. Die erwähnte Zeitverschiebung hat zur Folge, dass unsere

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Antworten immer mit einer gewissen Verzögerung auftreten. Zukünftiges kündigt sich an in Vorahnungen und Vorzeichen, die auf ihre Deutung warten wie das warnende Menetekel, das in Heines Belsazar als „Flammenschrift an der Wand“5 auftaucht. Hier hat schon die traditionelle Mantik ihren Ort, die Freud zur Vorgeschichte der psychoanalytischen Traumdeutung zählt6. Außerdem gehören zur Verzögerung Übergangsphänomene wie Anhalten, Abwarten oder Abtasten, die allesamt an den Bruchstellen der Erfahrung auftreten, zugehörig einer Inkubationsphase, in der sich Kommendes anbahnt. Was die grammatische Form angeht, so bietet sich das Gerundium an: I am going to do oder sto facendo. Der gelebten Zukunft, die tiefer reicht als alle vorgestellte Zukunft, nähern wir uns nur über „Fremdheitsschwellen“, die zu überqueren, aber nicht zu überwinden sind7. Daher rührt eine Unruhe, die zwischen Angst und Hoffnung oszilliert. Als Schwellenangst ruft die Zukunftsangst nach Ritualen, mit denen man die Zukunft beschwört, ihr gut zuredet. Vergebens bildet man sich ein, man könne diesseits oder jenseits der Schwelle Fuß fassen, sodass entweder die Zukunft von der Vergangenheit überschattet  wird oder die Vergangenheit von der Zukunft. Futurismus und Passeis­mus sind feindliche Brüder. Zeitverschiebung besagt dagegen, dass Vergangenes und Zukünftiges sich ineinanderschieben. Dies geschieht in einer Form, die man mit Lacan und Merleau-Ponty als besondere Art von zweitem Futur verstehen kann8. Das zweite Futur greift tiefer als das erste Futur, das sich auf etwas bezieht, was noch nicht ist, von dem aber zu hoffen oder zu befürchten ist, es werde eintreten, und das wir uns aktiv zurechtlegen. Das zweite Futur deckt sich aber auch nicht mit dem ­futurum exactum, worin Künftiges als schon geschehen angesetzt wird. Vielmehr erlebe ich, wie eine fremde Affektion oder ein fremder Appell meiner eigenen Antwort zuvorkommt. Das Selbst ist, wie Nietzsche feststellt, kein schlichtes individuum, sondern ein dividuum9. Es zerteilt sich in einen Patienten, dem etwas widerfährt, und einen Respondenten, der darauf antwortet; es geht sich selbst voraus und bleibt hinter sich selbst zurück; mit Platon zu sprechen, ist es sowohl älter wie auch jünger als es selbst10.

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Gleichzeitig gilt es, zu beachten, dass zwischen Pathos und Response keine vorgängige Konsonanz herrscht. Pathos und Response suchen einander. Dabei können sie sich weit voneinander entfernen, indem sie sich einem Pathos ohne Response annähern oder aber einer Response ohne Pathos. Im ersten Fall kommt es zu einem Schock, der den Schockierten in Sprachlosigkeit versetzt und jeden Antrieb lähmt. Im zweiten Fall kommt es zu einem Leerlauf, bei dem ein eingerostetes Antworten sich automatisch wiederholt. Dies sind Vorboten einer Pathologie, die darin besteht, dass Traumatisierung oder Wiederholungszwang das Zusammenspiel von Pathos und Response dauerhaft beeinträchtigen. Für das Zeiterleben besagt dies, dass der Patient auf vergangene Verletzungen fixiert bleibt, als geschähen sie jetzt, oder aber unansprechbar wird, indem er nur noch zukunftsleere Antworten reproduziert. Hyperpathie wie Apathie erzeugen jeweils ein extremes Ungleichgewicht.

Unausweichlichkeit des Antwortens An dieser Stelle meldet sich erneut die eingangs erwähnte Gretchenfrage. Was verpflichtet uns dazu, auf fremde Ansprüche zu antworten? Die moderne Unterscheidung von Sein und Sollen schiebt sich wie ein Sperrriegel vor alles, was uns aus dem Schlummer des Eigenen wecken könnte. Nehmen wir an, ein Durstiger bittet mich um ein Glas Wasser, ein Umherirrender fragt dich nach dem Weg oder ein Flüchtling begehrt Einlass in unser Haus, in unsere Stadt, in unser Land. Aus dem bloßen Faktum, dass jemand etwas von uns verlangt, folgt nicht, dass wir auf die Aufforderung eingehen müssen. Doch handelt es sich um ein bloßes Faktum? Levinas, der die Menschenvernichtung am Leib seiner eigenen Familie erfahren musste, rechnet mit dem Schlimmsten, wenn er den Gefährdeten nicht bitten lässt, sondern ihm geradezu apotropäisch den Satz in den Mund legt: „Du wirst keinen Mord ­begehen“ oder einfacher: „Du wirst nicht töten“11. Er versteht darunter nicht den Appell an ein Wohlwollen, das von günstigen Umständen abhängt, und auch nicht die Verkündigung eines allgemeinen Geset-

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zes, dessen Geltung angezweifelt werden kann, sondern einen leibhaftigen Anspruch, der aus dem Antlitz des anderen erwächst und dem wir uns nicht entziehen können. Das Antworten auf den fremden Anspruch liegt nicht in unserem Belieben; es unterliegt einer Unausweichlichkeit (ne-cessitudo), einer praktischen Notwendigkeit. Wir können nicht nicht antworten, keine Antwort wäre auch eine Antwort. Eine Antwortverweigerung wie Bartlebys I would prefer not to macht den gehörten Anspruch nicht zunichte. Es liegt in unserer Hand, wie wir antworten, nicht aber, ob wir antworten.

Einstehen für Ansprüche künftiger Generationen Das Antworten auf künftige Ansprüche stellt uns jedoch vor zusätzliche Probleme. Wie sollen wir auf Ansprüche derer antworten, die noch nicht in der Lage sind, Ansprüche zu erheben? Haben künftige Ansprüche nicht etwas von einer Flaschenpost, die ohne Absender und ohne Adresse herumirrt? Oder sind Ansprüche künftiger Mitmenschen streng genommen gar keine künftigen Ansprüche, sondern gegenwärtige? Die fremde Zukunft gehört in verstärktem Maße zu den Orten, an denen wir nicht in eigener Person sein können, auch wenn wir uns dies einbilden. Wir können nur stellvertretend für den anderen sprechen, für ihn eintreten. Doch dabei ist zu unterscheiden zwischen einer sekundären, normalen und einer primären, originären Form der Stellvertretung12. Erstere besteht darin, dass jemand provisorisch für Unmündige eintritt wie der Vormund, definitiv für Verstorbene wie der Testamentsvollstrecker oder auftragsgemäß wie der Volksvertreter. Sie hat einen sekundären Charakter, da sie vorweg an den Verfügungswillen der Vertretenen gebunden ist, selbst wenn Erbschleicherei oder Paternalismus nicht auszuschließen sind. Im Gegensatz dazu besteht die originäre Stellvertretung darin, dass jemand zwar von sich aus spricht, zugleich aber vom anderen her. Der Stellvertreter ist eine Figur des Dritten, der wie der Richter in das Verhältnis zwischen mir und dem anderen eingreift, indem er uns einander gleichsetzt13. Doch führt

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dies weit genug? Ist der andere Mensch als Mensch der Zukunft mehr als eine Projektion meiner Gegenwart?

Generative Zukunft Die bloße Behauptung, Künftiges existiere noch nicht, macht sich die Sache zu einfach. Gibt es nicht einen Zukunftssinn, der sich wie der Farbsinn auf verschiedene Weise kultivieren lässt? Ist es nicht so, dass Spuren der Zukunft bereits in der Gegenwart zutage treten? Wie Merleau-Ponty in der Zeitanalyse seiner Phänomenologie der Wahrnehmung14 hervorhebt, besteht lebendige Zeit darin, dass das Leben immerzu sich selbst vorausgeht und sich selbst überlebt. Fremdes, das der Zukunft innewohnt, erhält ein eigenes Gewicht, wenn wir die Generativität in Betracht ziehen. Für Husserl gehört sie in eins mit der Geschichtlichkeit zu den Grundbestimmungen des menschlichen und mitmenschlichen Daseins. So schreibt er in der Krisis: „Ich bin faktisch in einer mitmenschlichen Gegenwart und einem menschheitlichen offenen Horizont, ich weiß mich faktisch in einem generativen Zusammenhang, im Einheitsstrom einer Geschichtlichkeit“ und „diese Form der Generativität und Geschichtlichkeit ist unzerbrechlich“15. Die Zukunft erhält einen Platz inmitten unserer Erfahrung. Dabei sind zwei Aspekte von besonderem Gewicht, die Zeugung (generatio), die eine Verbindung zwischen Erzeuger und Erzeugtem herstellt, und die Altersdifferenz, die Erzeuger und Erzeugte zwar voneinander trennt, aber eine Verbindung herstellt zwischen den Gliedern einer Altersgruppe, die als Generation bezeichnet wird. Die Erzeugung von fremdem Leben beschränkt sich nicht auf die leibliche Fortpflanzung. Schon Platon verwendet im Symposion dort, wo er die Werke des Eros preist, einen weiten und geschlechtsneutralen Begriff von Zeugung. Die „Zeugung (τόκος) im Schönen“16. betrifft nicht nur Leib und Seele des Zöglings, sondern auch die Sitten und Werke der Kultur. Der generative Konnex stellt sich nicht nur in direktem Kontakt her, sondern auch über Prozesse der Vernetzung und Verkettung,

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da jeder andere wiederum seine anderen hat, sodass jede Verwandtschaft oder Bekanntschaft weitere Kontakte nach sich zieht in Form einer endlosen Iteration17. Bei Nietzsche nimmt der geistesverwandte Freund eine besondere Stelle ein. „Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe? Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte; der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zwei in die Tiefe sinkt.“18 Narziss, der in seiner eigenen Spiegelung versinkt, erscheint als ein Freundloser, ein ἄφιλος. Was den Aspekt der Altersdifferenz angeht, so unterscheiden Alt und Jung sich nicht bloß nach der Zahl stetig anwachsender Lebensjahre, vielmehr bilden Zeugung und Geburt eine Zäsur, die den „Einheitsstrom“ der Lebensgeschichte unterbricht. Wer neu ankommt, führt nicht nur fort, was vorausging. Dies liegt nicht nur daran, dass Kinder sich als Erzeugnisse vom Akt des Machens ablösen, wie es laut Aristoteles auf jede Art von Poiesis zutrifft19, vielmehr erklärt es sich damit, dass das Kind als eigenständiges Wesen kein bloßes Machwerk (ποίημα) ist, kein „Gemächsel“, wie es in § 28 der kantischen Rechtslehre heißt. Wie aber lässt sich ein Akt der Zeugung denken, der das Wunder vollbringt, etwas zu schaffen, das als jemand aus sich heraus lebt? Levinas spricht in diesem Zusammenhang von einer „totalen Transzendenz“; so „ist das Ich im Kind ein anderer“. In ausdrücklichem Anschluss an die Tradition der jüdischen Bibel stellt er fest: „Mein Sohn […] gehört mir nicht nur, sondern er ist ich. Der Sohn, das bin ich, der ich mir selbst fremd bin (c’est moi étranger à soi).“20 Von einer Dialektik à la Hegel distanziert der jüdische Philosoph sich ausdrücklich, und erst recht nimmt er Abstand von Pygmalion, dem im eigenen Werk ein künstliches Alter Ego entgegentritt. Das hereinbrechende Ereignis einer Ankunft des anderen besagt mehr als eine Möglichkeit, über die ich selbst verfüge. Manches ließe sich auch einfacher sagen. Was bedeutet es, dass ein Kind erwartet wird? Liegt schon im Verborgenen bereit, was lediglich ans Licht tritt? Unterliegt die Genese einer halb natürlichen, halb kulturellen Präformation? Nötigen uns nicht auch Kinder ein Warten ab, das –„wartend, wartend, doch auf nichts“ – nicht völlig leer ist und

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dennoch nicht auf Bestimmtes wartet, als könne man das Erwartete vorwegnehmen, um es am Ende demographisch einzuplanen und künstlich zu erzeugen? Würde eine Fortpflanzungsmedizin, die sich als reine Biotechnik versteht, nicht letzten Endes nur Totgeburten produzieren?21 Gehen wir einen Schritt weiter. Wie steht es mit der Gemeinsamkeit der Zukunft, ohne die es keine Generationen gäbe? Aufschluss darüber geben elementare Erfahrungen. Hebt Erfahrung mit dem an, was mir widerfährt, so bestimmt sich dies a limine als etwas, das nicht mir allein widerfährt, sondern uns allen, die wir eine Situation teilen. Es blitzt und tönt nicht in meiner einsamen Seele, wie die Lehre von individuellen Empfindungs- oder Sinnesdaten postuliert. Jede Affektion bedeutet eine originäre „Koaffektion“, ein Mitleiden im ursprünglichen Sinne des Wortes22. Dem entspricht ein gemeinsames Antworten; wir antworten gemeinsam, selbst wenn jeder von uns auf seine Weise antwortet. Dies gilt für lokale Ereignisse wie eine Hitzewelle oder eine Detonation, aber auch für Großereignisse wie Erdbeben oder Epidemie, von denen eine ganze Stadt, ein ganzes Land und am Ende die gesamte Menschheit betroffen ist. Eine Nachkriegsgeneration besteht aus der Gemeinschaft derer, die etwas gemeinsam durchgemacht haben und miteinander davongekommen sind. Aus solchen Umbrüchen erwächst eine Zukunft im Sinne des erwähnten zweiten Futurs, aber eben als gemeinsame Zukunft. Die Altersdifferenz zwischen den Generationen bringt es mit sich, dass Zeitfelder sich ineinanderschieben in Form von Verschränkungen und Überschneidungen. Die Erfahrungen der Älteren prägen, stützen, belasten und entlasten die der Jüngeren, die relative Sorglosigkeit der Jüngeren animiert die Älteren. Jüngere und Ältere leben in einer gemeinsamen Zeit, aber sie durchleben sie nicht pari passu. Die Kinder von Emigranten erleben indirekt mit, was ihren Eltern direkt widerfährt. Traumatisierungen wirken stufenweise fort. Die Zeitverschiebung zwischen Jugend und Alter folgt Zeitrechnungen, die nicht aufeinanderfolgen wie Zeitalter, sondern „verschiedenzeitig“ auftreten23. Generationskonflikte entwickeln sich daraus, dass Erwartungen divergieren und das, was Jüngere tun oder unterlassen, die

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Erwartungen Älterer enttäuscht oder dass umgekehrt das, was Ältere getan oder unterlassen haben, den Erwartungen Jüngerer zuwiderläuft. Es ist so, als würde man in verschiedener Währung zahlen. Wenn es einen Generationenvertrag gibt, so zunächst in der stillschweigenden, gestischen Form eines impliziten Gebens und Nehmens, das nicht nur einer tacit sociality unterliegt24, sondern auch die Form eines tacit future annimmt.

Nahe und ferne Zukunft Eine letzte Frage richtet sich auf die Differenz von naher und ferner Zukunft. Nah nennen wir die Zukunft jener, mit denen wir als Zeitgenossen zusammenleben, fern dagegen die Zukunft später Geborener und Ungeborener, mit denen wir niemals persönlich zusammentreffen werden. Die relative Anonymität der Mitwelt scheint sich somit in die absolute Anonymität einer Nachwelt zu verdunkeln. Doch dies kann nicht bedeuten, dass die Nachkommen lediglich weiße Blätter der Geschichte füllen. Persönliche wie kollektive Zukunftsentwürfe, gleich ob technisch, ökonomisch, politisch oder ­ästhetisch, graben in die Lebenswelt ihre Spuren ein, die weit über die Lebensränder der Verantwortlichen hinausreichen. Werke überleben uns. Sie hinterlassen leere Plätze, die nicht völlig unbestimmt sind, sondern in ihrer typischen und strukturellen Beschaffenheit Nachfolgenden als Vorlage dienen. Hinzu kommen individuelle und kollektive Erbschaften. Der Satz „Was du ererbt hast von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ betont die Zukunftsträchtigkeit eines Besitzes, der buchstäblich praegnans futuri, schwanger mit Zukünftigem, ist. Im Übergeben und Übernehmen des Tradierten kehrt die Zäsur wieder, die das Widerfahrnis von der Antwort trennt. Der Imperativ „Erwirb!“ erfordert eine Antwort, die zu geben ist und die verweigert werden kann. Doch inwiefern kann ein Erbe verpflichten? Wer verpflichtet wen wozu? Manches taucht in mythischer Verkleidung auf, so die Beschwörung der Sintflut inmitten der Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts im Kapital: „Après moi le déluge! ist der Wahlruf jedes Kapi-

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talisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“25 Geld, das nur noch eigenen Gesetzen folgt, geht nicht nur über Leichen, es „wirft lebendige Junge“, indem es sich selbst verwertet26. Marx spielt hier mit dem Doppelsinn des Wortes τόκος, das nicht nur Junge bedeutet, sondern auch Zinsen. Symptome einer „industriellen Pathologie“27 zeigen sich auch im Umgang mit der Zukunft. Die Kapitalisierung der Zeit droht die Zukunft ihres Eigengewichts zu berauben. Dies setzt sich fort in dem martialischen Gehabe des 20. Jahrhunderts. In München-Schwabing erhebt sich von der Außenwand einer Kirche ein Kriegerdenkmal, das gleich nach Ende des Ersten Weltkriegs angebracht wurde und in elegantem Latein den Siegesreigen fortsetzt: „Invictis victi victuri – den Unbesiegten die Besiegten, die siegen werden.“ Zwei kritische Aspekte seien eigens hervorgehoben. Die Umsetzung des ethischen Appells erfordert eine responsive Politik, die mit Antwortkonflikten zu rechnen hat. Rechte, Pflichten und Lebenschancen werden auf bestimmte Weise verteilt, so und nicht anders. Zarathustra warnt vor einer Euphorie der Nächstenliebe und beteuert: „Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen mit einander seid, muß immer ein sechster sterben.“28 Politische Antworten, die in die Zukunft weisen, erfordern eine „Tele-Moral“29. Der zweite Aspekt betrifft Adressanten und Adressaten einer ferneren Zukunft. Wiederum stellt sich die Frage, ob Ansprüche künftiger Generationen sich als verbindlich ausweisen können. Sind sie wirklich so namenlos und gesichtslos, wie man vermutet? Wenn die Zukunft ein Gesicht hat, so nicht nur in der Person des anderen, doch ebenso wenig geht es ohne andere, in denen die Zukunft leibhaftige Gestalt annimmt. Hochrechnungen zeigen, wo ferne Gefahrenherde liegen, welche Klimaänderungen zu erwarten sind, wie diese auf die leibliche Existenz der Erdbewohner durchschlagen. Doch was kümmert uns dies alles, wenn niemand da ist, dem all dies schaden könnte, und wenn wir selbst das Schlimmste nicht mehr erleben werden? Gibt es eine Brücke in die Zukunft, die nicht bloß phantastisch ist?

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Antwortgeben und Zeitgeben Zitieren wir ein letztes Mal Nietzsches Zarathustra. Dieses Buch wendet sich mit der rätselhaften Widmung „Ein Buch für Alle und Keinen“ an die Leser, indem sie alle zulässt und niemanden beim Namen nennt. Diese Zurückhaltung erweist ihren guten Sinn, wenn wir nochmals auf das Antworten zurückblicken und dieses strikt als Antwortgeben betrachten, als ein „Geben und Nehmen im Übermaß“, ein „Geben à fonds perdu“30. Ein Antworten, das anderswo beginnt, hat nicht vorweg schon seinen Adressaten wie in einem abgesteckten Dialog, es findet oder verfehlt seinen Adressaten nirgendwo anders als in der Antwort selbst. Ähnliches gilt für alles radikale Geben, das wie die Liebe gibt, was es nicht schon hat31. Es gilt auch für eine responsive Politik, die auf fremde Ansprüche eingeht, indem sie sich in einem antwortenden Wir inkorporiert und organisiert. Das Antwortgeben richtet sich auf Zukünftiges derart, dass es Fremdes und Fremde ankommen und auf sich zukommen lässt. Im Zarathustra findet sich eine Abschiedsrede, die von der „schenkenden Tugend“ handelt. Sie erinnert an eine alte ethische Tradition, deren Tugendkanon über Rechte und Pflichten hinausgeht. Die Generosität, die als generositas auf das genus als Geschlecht und Abstammung zurückgeht, ist sprachlich verwandt mit der Generativität als einem zukunftsgerichteten Zeugungsgeschehen. Sie wird traditionell umstrahlt von einer Aura des Grandiosen, so die aristotelische Tugend der Großgesinntheit (μεγαλοψυχία) im Verbund mit der Großartigkeit (μεγαλοπρέπεια)32. Nehmen wir das deutsche Wort ‚Freigebigkeit‘, dem im Griechischen die ἐλευθηρία entspricht, so gelangen wir zu einem Freigeben und Freilassen, das eine fremde Zukunft eröffnet, zu einem Zeitgeben, wie es in Derridas gleichlautendem Essay heißt. Das Antworten bildet den Kern einer Antwortethik, die weiter ausgreift als die Verantwortungsethik, da sie nicht nur für die Folgen dessen einsteht, was gesagt und getan wurde, sondern von dem ausgeht, was hier und jetzt zu sagen und zu tun ist, von der „Forderung des Tages“, mit der Max Webers Vortrag Wissenschaft als Beruf schließt.

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AU S D E R Z E I T G E FA L L E N . ANACHRONISTISCHE BETRACHTUNGEN KO N R A D PAU L L I ES S M A N N

Der Leser von Christoph Ransmayrs Roman Die letzte Welt stutzt schon nach wenigen Seiten. Die im antiken Rom angesiedelte Geschichte eines Mannes namens Cotta, der sich auf die Spuren des in der Verbannung verschwundenen Dichters Publius Ovidius Naso macht, erzählt plötzlich von „entrückten Salons und Cafés der europäischen Metropolen“1. Solch eine Formulierung würde man doch eher in einem Text vermuten, der im 19. Jahrhundert angesiedelt ist, zumal es zur Zeit des Kaisers Augustus neben Rom keine europäischen Metropolen gab. Oder weiß der Erzähler mehr als wir? Nach einigen Passagen bestätigt sich der Verdacht, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht: Cotta stößt in Tomi, dem Kaff am Schwarzen Meer, in dem er Ovid vermutet, auf einen Liliputaner, der „in einem Planwagen in die Stadt kam und nach Einbruch der Dunkelheit über die weiße Rückwand des Schlachthauses Liebesfilme dröhnen ließ“2. Großes Kino, Lichtspieltheater in einer öden Provinz des Imperium Romanum, wenige Jahre nach Christi Geburt? Der krasse Fall eines Anachronismus: Das beschriebene Gerät stand in der erzählten Zeit noch nicht zur Verfügung. Kino im alten Rom kommt 2000 Jahre zu früh. Nur Puristen störten sich an Ransmayrs stimmigem Umgang mit Anachronismen. In der fiktiven Welt des Romans war und ist es durchaus zulässig, die Chronologie der technischen Innovation ein wenig

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aufzubrechen, um daraus einen ästhetischen Mehrwert zu generieren. Ransmayrs Kollege Michael Köhlmeier hat bei seinen poetischen Adaptionen antiker Mythen, etwa der Odyssee, ebenfalls keine Angst vor dem Anachronismus. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Titelfigur in dem Roman Kalypso mit dem Bus in die Stadt fährt, um sich im berüchtigten Wiener Hotel Orient am Tiefen Graben mit einer Zufallsbekanntschaft zu vergnügen, die Leichtigkeit, mit der sich Pallas Athene und Hermes in Comicstripfiguren verwandeln, um unbemerkt das leidenschaftliche Treiben im Hause der Nymphe zu beobachten, die Beiläufigkeit, mit der sich in die Erinnerungen des Odysseus an die Gräuel des Trojanischen Krieges Gegenwärtiges schiebt, gehorchen einer poetischen Notwendigkeit, die den Anachronismus als Moment der Verfremdung, der Ironie, als Strategie zur Erzeugung von Zeitlosigkeit, selten aber als deplatziert erscheinen lässt.3 Im Bereich der Künste, vor allem der Literatur, der Oper und des Theaters, wäre es mittlerweile anachronistisch, nicht anachronistisch zu verfahren. Das Unzeitgemäße ist auf den Brettern, die die Welt bedeuten, große Mode. Der Regisseur, der Aida im Ambiente des alten Ägypten, Parsifal in einer mittelalterlichen Burg leiden lässt, respektiert nicht die Zeitangaben der Autoren, sondern inszeniert reaktionär. Zeitebenen zu verschieben, mit Anachronismen zu provozieren, gehört in dieser Branche zum guten Ton. Richard Wagners Siegfried schmiedet sich kein Schwert mehr, er baut sich in Frank Castorfs RingInszenierung eine Kalaschnikow zusammen, deren ohrenbetäubendes, die Musik übertönendes Geknatter das betagte Publikum in Bayreuth erschreckte. Die Freiheit der Kunst erstreckt sich auch auf den Umgang mit der Zeit. Da es sich ohnehin um Fiktionen handelt, können problemlos Gestalten aus früheren Zeiten in die Gegenwart transferiert und die in den Textvorlagen beschriebenen Accessoires den modernen Verhältnissen angepasst werden. Dass Mozarts Don Giovanni keinen Wein trinkt, sondern sich Heroin spritzt, ist das, was man sich unter einem unzeitgemäßen Einfall erwarten darf, der nichts sein will als zeitgemäß. Solche Verfahren wollen wir einem ästhetischen Anachronismus zurechnen, über seine Sinnhaftigkeit und Legitimität entscheidet keine Chronologie, sondern der gute Geschmack.

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Die Lockerheit im Umgang mit Anachronismen ist schnell zu Ende, wenn nicht poetische Beliebigkeit erlaubt, sondern wissenschaftliche oder journalistische Seriosität gefragt ist. Als Fritz J. Raddatz, der geachtete Feuilletonchef der Zeit, Goethe einmal einen Satz über den Frankfurter Hauptbahnhof in den Mund legte, musste er sein Büro räumen: Zwar war Stephensons erste Eisenbahn schon 1825 gebaut worden, aber in Deutschland begann das Eisenbahnzeitalter ein Jahrzehnt später – und damit drei Jahre nach Goethes Tod. In diesem Zusammenhang war der Anachronismus für die gestrenge Öffentlichkeit und die Chefetage weder amüsant noch verzeihlich, sondern entzauberte den gefürchteten Literaturkritiker, der offenbar in Fragen der Technikgeschichte eine beachtliche Bildungslücke aufwies. In den Geschichtswissenschaften selbst wären Anachronismen dieser Art handwerkliche Fehlgriffe, die den Urheber derselben sofort disqualifizierten. Dieser chronologische Anachronismus scheint deshalb keine größeren Fragen aufzuwerfen. Eingespannt zwischen Irrtum und Unwissenheit, gilt es einfach, ihn dort zu vermeiden, wo man sich einer historischen Faktentreue verpflichtet fühlt. Begriff und Idee des Anachronismus sind neuzeitlichen Ursprungs. Das Wort taucht erst Ende des 16. Jahrhunderts auf,4 der Sache nach liegt ein Anachronismus dann vor, „wenn sich innerhalb eines historischen Zusammenhangs Elemente finden, die für einen zeitlich früheren oder einen zeitlich späteren geschichtlichen Kontext charakteristisch sind, und zwar in der Weise, dass sie für den eigentlich im Zentrum stehenden historischen Zusammenhang nicht mehr oder noch nicht angenommen werden können“5. Diese etwas umständliche Bestimmung setzt schon einen strengen Begriff von Geschichte voraus, eine klare Idee davon, dass nicht alles zu jeder Zeit möglich ist. Für den mittelalterlichen Künstler war es kein Anachronismus, die biblischen Figuren eines Altarbildes in die Gewänder seiner eigenen Zeit zu kleiden, nicht zuletzt die Gültigkeit einer göttlichen Offenbarung musste die geschichtlichen Zeiten zusammenfallen lassen. Das Aufbrechen einer simplen Chronologie gilt aber nicht nur für die Religion: „So giebt es zwischen Kant und den Eleaten, zwischen Schopenhauer und Empedokles, zwischen Aeschylus

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und Richard Wagner solche Nähen und Verwandtschaften, dass man fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe gemahnt wird: beinahe scheint es, als ob manche Dinge zusammen gehören und die Zeit nur eine Wolke sei, welche es unseren Augen schwer macht, diese Zusammengehörigkeit zu sehen.“6 Ist es wirklich so einfach mit der Frage, was in eine Zeit passt, ihr angemessen ist? Im Bereich der Artefakte und vor allem der modernen technischen Innovationen, von denen die Daten ihrer Erfindung oder Konstruktion bekannt sind, scheint dies kein Problem. Die verblüffende Wirkung ästhetischer Anachronismen resultiert aus dem sicheren Wissen, dass es etwa in der Antike keine Filmprojektoren gegeben haben kann. Blickt man genauer hin, kommt auch die Geschichtswissenschaft nicht ohne Verletzungen einer als historisch verstandenen Zeit aus. Geschichte selbst könnte prinzipiell als ein anachronistisches Unternehmen verstanden werden: Immer geht es darum, eine Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart zu rekonstruieren und zu erzählen. Solange es keine Zeitreisen in einem physikalischen Sinn gibt, lässt sich die Vergangenheit nie in ihrer Eigenzeitlichkeit erfahren. Das große Ideal, dass der Historiker berichten soll, wie es gewesen ist, scheitert stets daran, dass wir den vergangenen Ereignissen mit dem Wissen, den Haltungen, den Erfahrungen und Überzeugungen der Gegenwart begegnen. Einem sanften Anachronismus verfallen wir schon allein dadurch, dass wir über Entwicklungen Bescheid wissen, die sich den Zeitgenossen gar nicht erschließen konnten. Viele Ereignisse der Vergangenheit würden anders wahrgenommen, beurteilt und erzählt werden, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Ein drastisches Beispiel: Weil wir wissen, welche Rolle Richard Wagner im Selbstverständnis Adolf Hitlers gespielt hat, weil wir wissen, zu welchen massenmörderischen Exzessen der Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland geführt hat, müssen uns Wagner und seine musikdramatischen Werke zu einem fundamentalen Problem werden, das in jeder zeitgemäßen Inszenierung sichtbar werden wird. Wäre die Geschichte anders verlaufen, hätte es die Vernichtung des europäischen Judentums nicht gegeben, wäre von Wagners Antisemitismus

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vielleicht nicht mehr geblieben als eine unsympathische Marotte, eine weitere dunkle Facette eines ohnehin zwielichtigen Charakters. Diesen ganz und nur aus dem Geiste seiner Zeit nachzuzeichnen, also nicht anachronistisch zu verfahren, will uns aber nicht mehr gelingen. Der Vorwurf der Verharmlosung wäre das Mindeste, mit dem solch ein Rekonstruktionsversuch zu rechnen hätte. Dem Anachronismus ist nicht zu entgehen: „Mit Geschichte zu leben, bedeutet, mit mehr als nur einer Zeit zu leben. Wenn wir uns auf historische Zustände beziehen, das heißt in einem sehr wörtlichen Sinn Bezüge herstellen zwischen uns und der Vergangenheit, ist der Anachronismus kein Problem und kein Hindernis, sondern ein notwendiges Medium.“7 Die These, dass wir uns überhaupt nur anachronistisch der Vergangenheit annähern können, ließe sich auch an den Begriffen demonstrieren, mit denen wir über das, was vorzeiten geschehen ist, sprechen. Man könnte durchaus darüber nachdenken, ob die Deutung von mittelalterlichen Konflikten, Handelsbeziehungen und Tauschgeschäften als Beginn der Globalisierung8 wirklich korrekt sein kann, ist der Begriff der Globalisierung doch zu sehr mit ökonomischen und politischen Prozessen verbunden, die das späte 20. Jahrhundert charakterisieren. Eher kann vermutet werden, dass mit solchen Projektionen aktuelle Weltdeutungskonzepte legitimiert und nobilitiert werden sollen. Korrekt wäre dieses Verfahren nur unter einer hegelianisch gewendeten Geschichtsphilosophie, die in der Gegenwart das Resultat von Entwicklungen sieht, die mit Notwendigkeit erfolgen. Dann dürften weder Zufälle noch individuelle Besonderheiten im Prozess der Geschichte eine Rolle spielen, dann müsste auch die Zukunft aus den Bedingungen der Gegenwart eindeutig ableitbar sein. Dass alle diesbezüglichen Spekulationen bislang scheiterten, muss zur Vorsicht gegenüber einer Haltung mahnen, die die Vergangenheit dem Selbstverständnis der Gegenwart unterwirft, ohne sich der damit verbundenen Schwierigkeiten bewusst zu sein. Erinnerungsarbeit, so könnte man pointiert formulieren, verwechselt immer die Zeiten. Deutlich wird dies, wenn die Vergangenheit an den Werten und moralischen Maßstäben der Gegenwart gemessen wird. Wir wollen dieses Verfahren den moralischen

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Anachronismus nennen. Historische Figuren, gleich ob Luther oder Kolumbus, danach zu beurteilen, ob sie den menschenrechtlichen, identitätspolitischen und gendergerechten Standards der Gegenwart genügen, erscheint dermaßen willkürlich, dass im Sinne einer geschichtswissenschaftlichen Hypothese kaum damit gearbeitet werden kann. Dennoch spielt dieser moralische Anachronismus eine zentrale Rolle in den politischen Debatten der Gegenwart. Dabei geht es weniger darum, zu behaupten, dass unsere Maßstäbe schon in der Vergangenheit Gültigkeit gehabt hätten, als vielmehr um die Ansicht, dass einem unkritischen Gedenken an Personen oder Ideen, die sich überholt haben, in der Gegenwart kein Platz eingeräumt werden darf. Die Grenze zwischen einem moralisierenden Rigorismus, der bis zur Sabotage historischer Forschung reichen kann, und einer differenzierten Beurteilung der Vergangenheit mit Rücksicht auf die Erfordernisse der Gegenwart ist freilich fließend und mitunter alles andere als leicht zu ziehen. Ideologische Präferenzen, die nicht von allen geteilt werden müssen, spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Bewertung von Marx’ antijüdischen Tiraden oder seine Glorifizierung des britischen Imperialismus wird letztlich von der Bedeutung abhängen, die man diesem Denker für die Analyse und Kritik der Gegenwart noch einräumen möchte. Die Kritik der reinen Vernunft als nicht mehr zeitgemäß zu verdammen, weil sich in Immanuel Kants vorkritischen Schriften Formulierungen finden, die heute den Tatbestand der rassistischen Äußerung erfüllten, mag ein Beispiel dafür sein, wie sehr ein moralischer Anachronismus blind machen kann gegenüber jenen Erkenntnissen und Einsichten aus vergangenen Tagen, die sich alles andere als überlebt haben. Die Bestimmung des Anachronismus als Unzeitgemäßes ist durch eine spannungsreiche Ambivalenz gekennzeichnet. Zugespitzt wird diese, wenn es dabei nicht um eine chronologisch falsche oder geistesgeschichtlich fragwürdige Zuordnung und Bewertung von Artefakten, Gedanken und Verhaltensweisen in der Vergangenheit geht, sondern um einen gelebten Anachronismus in der Gegenwart. In Hinblick auf die Historie ist der Anachronismus immer entweder ein schlichter historischer Irrtum oder eine mehr oder weniger zulässige Projektion:

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Das Dunkel der Vergangenheit erhellen wir mit einem Scheinwerfer, der in der Gegenwart gebaut wurde. Der Anachronismus als Erscheinung im Heute ist demgegenüber schlicht eine Facette der Wirklichkeit: Es gibt Menschen, Verbände, Einrichtungen, Organisationen, Ideen, Lebensformen und Technologien, die direkt aus der Vergangenheit in die Gegenwart reichen, offenbar unberührt von dem, was an der Zeit, was modern, was zukunftsträchtig ist. Ob wir solche gelebten Anachronismen  – etwa die Versuche, nur mit Papier und Tinte zu kommunizieren – als Relikte der Vergangenheit respektvoll bestaunen oder im Fall bestimmter politischer Ideologien als gestrige, gar ewiggestrige Haltung verdammen, ändert wenig an der irritierenden Erfahrung, dass es das Unzeitgemäße gibt: im Denken, im Handeln, im Leben. Die vermeintlich nüchterne Feststellung, dass etwas nicht mehr zeitgemäß sei, enthält schon den Ärger darüber, dass diese Dinge trotzdem noch immer existieren. Aus dieser Perspektive stellt die Klassifikation von Lebensformen, Ideen und Wertsystemen als unzeitgemäß nicht nur ein vernichtendes Urteil dar, sondern impliziert auch einen Aufruf zur Vernichtung: Denn was, wenn nicht das Unzeitgemäße, das Anachronistische, darf mit Fug und Recht zum Verschwinden gebracht werden? Das Unzeitgemäße: Seit Friedrich Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen ist dieser Begriff aus dem kulturkritischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Damit gewinnt diese Bestimmung eine ganz andere Bedeutung. Denn nun geht es nicht um die Denunziation von bestimmten Erscheinungen als unzeitgemäß, sondern um die stolze Aneignung des Unzeitgemäßen als eine Haltung, die der Gegenwart nicht unter-, sondern überlegen ist. Man könnte geradezu von einem kritischen Anachronismus sprechen. Dieser ist von einer eigentümlichen inneren Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Vorab handelt es sich um eine raffinierte Form intellektueller Koketterie. Schon Nietzsches Abhandlungen deuteten an, dass sich im vermeintlich Unzeitgemäßen das ausdrückt, was die Zeit sehr wohl kennzeichnet, ohne dass ihr dies bewusst wäre. Unzeitgemäß ist eine Betrachtung, die das, worauf eine Zeit mit Recht stolz ist, als „Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit“9 begreift. Diese Idee des Unzeitgemäßen liegt dem Sinn zugrunde, den

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Nietzsche der klassischen Philologie unterstellte: in der Zeit „unzeitgemäss  – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit  – zu wirken“10. Das vermeintliche Festhalten an etwas, das sich überlebt hat, ausgestorben ist wie Latein und Altgriechisch, ist keine Marotte versponnener Verehrer des Altertums, denen die modernen Zeiten Angst einjagen, sondern ein kritisches Korrektiv, das der Zeit einen Weg in die Zukunft weist. Die Unzeitgemäßen in Nietzsches Sinne sind keine Nostalgiker, die vergangenen Zeiten nachtrauern, sondern Zeitgenossen, die ihrer Zeitgenossenschaft misstrauen. Das Unzeitgemäße gewinnt aus der Vergangenheit die Instrumentarien, um auf eine Zukunft vorzubereiten, die der Gegenwart selbst noch verschlossen bleiben muss. Der Unzeitgemäße will kein Reaktionär sein, auch wenn er mit dem Konservativismus sein augenzwinkerndes Spiel treibt. Dass etwas nicht mehr zeitgemäß sei, besagt vorerst einmal gar nichts. Zu einem Vorwurf und Verdikt wird dieser Begriff nur unter der starken geschichtsphilosophischen These, dass sich feststellen ließe, was einer Zeit angemessen sei, und dieses allen davon abweichenden Vorstellungen überlegen sei. Wer seinem eigenen Denken das Attribut des Unzeitgemäßen verleiht, setzt diese These voraus und möchte sie dennoch dementieren. Das Unzeitgemäße verweigert sich demonstrativ dem Zeitgeist, dessen Herrschaft es anerkennen muss. Es schwankt deshalb zwischen einer rebellischen Attitüde und einem resignativen Gestus. Wer sich zu dem Unzeitgemäßen als Unzeitgemäßem bekennt, hofft, dass dieses ja doch das eigentlich Zeitgemäße wäre. Die Scheu davor, sich auf ein Unzeitgemäßes einzulassen, das diesem Begriff wirklich gerecht würde und seine Vertreter aus der Zeitgenossenschaft verbannte, ist bei jeder vermeintlichen Verteidigung des Unzeitgemäßen zu spüren: „Was man für unzeitgemäß halten könnte, ist so zeitgemäß wie das Zeitgemäße selbst.“11 Dem Unzeitgemäßen seinen Stachel zu nehmen, indem man es zu einer Variante des Zeitgemäßen erklärt, wirkt zwar plausibel angesichts der Überlegung, dass es nichts gibt, was außerhalb einer Zeit stehen könnte, unterläuft aber die provozierende Kraft einer Binnendifferenz, die ein beim Wort genommenes Unzeitgemäßes entfalten könnte.

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Es gibt vieles, das nicht in eine Zeit passt. Manches hat sich überlebt, anderes hat überlebt, einiges lässt sich als Idiosynkrasie deuten, etliches wirkt auf sympathische Art exzentrisch. Am Beispiel des vergessenen Romantikers Karl August Varnhagen von Ense über ‚Pünktlichkeit als geistige Lebensform‘ nachzudenken und die ‚Bürde der Akribie‘ zu beschreiben, darf mit Recht als eine ‚mäßig unzeitgemäße Betrachtung‘ gelten: etwas entlegen, überraschend, brillant formuliert, Erinnerungen an vergessene Kleinigkeiten, die dennoch einiges von einer Epoche, einem Lebensstil, einer Kunstidee verraten.12 Solchen Funden mangelt es vorab an Gegenwärtigkeit, mit ihnen ist nichts für eine gerade in den sozialen Medien laufende Debatte gewonnen. Souverän auf die Konstruktion sogenannter aktueller Bezüge zu verzichten, offenbart das Unzeitgemäße in seiner sanften Form. Sich mit Dokumenten der Vergangenheit zu beschäftigen, an ihnen ein ästhetisches oder wissenschaftliches Vergnügen zu finden, ohne deren gesellschaftliche Relevanz und forschungsstrategische Nützlichkeit im Auge zu haben, stört wohl nicht weiter den Betrieb, passt aber auch nicht in die von ökonomischen Effizienzgeboten und ideologischen Kontextualisierungsansprüchen geprägte Kultur unserer Tage. Das Beharren auf einem Unzeitgemäßen gewinnt an Schärfe, wenn damit insinuiert wird, dass die Welt besser wäre, wäre das Unzeitgemäße das Zeitgemäße. Der Verdacht konservativer Kulturkritik liegt nahe, wenn eine kenntnisreiche und reflektierte Reaktivierung klassischer antiker und christlicher Tugenden als „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“ 13 angepriesen wird. Auch diese Geste, die sich bis Nietzsche zurückverfolgen lässt, hat eine geschichtsphilosophische These zur Voraussetzung: dass die Zeiten schlechter werden. Diese Annahme muss nicht in der Beschwörung eines apokalyptischen Endes der Zivilisation münden, aber der schleichende Niedergang einer Gesellschaft lässt das Vergangene als einen Nährboden berechtigter und notwendiger Kritik erscheinen. Gesellschaftskritik schlechthin ist von der Kategorie des Unzeitgemäßen nicht zu trennen. Denn sie bezieht ihr Potenzial entweder aus einer Vergangenheit, an der gemessen das Urteil über die Gegenwart vernichtend ausfällt, oder aus einer Vorstellung von Zukunft, die der erlebten Zeit noch

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nicht gemäß ist. Allerdings, und dies sollte uns zu denken geben, unterliegt auch das als Kritik verstandene Unzeitgemäße den herrschenden Moden des Zeitgemäßen. Es kommt schon darauf an, welche Vergangenheit man reaktiviert, um der Gegenwart beizukommen. Wer die Diagnose der gespaltenen Gesellschaft teilt und als Therapeutikum den Begriff der Nation anbietet, hat mit dieser Variante des Unzeitgemäßen eher schlechte Karten; wer zur selben Diagnose als Ausweg auf das tolerante Kalifat von Cordoba verweist, hat schon wesentlich bessere Chancen, aus dem Unzeitgemäßen neue, zeitgemäße Hoffnung schöpfen zu dürfen. Das Zeitgemäße bezieht seine Kraft, die es ihm erlaubt, das Unzeitgemäße im Hier und Jetzt zu verurteilen, allein aus der Logik einer Zeitvorstellung, die das Davor prinzipiell in ein Unrecht setzt. Wer heute unzeitgemäß denkt, handelt, lebt und spricht, macht keine Fehler in einem empirischen Sinn, er begeht auch keine Irrtümer in der Chronologie. Sein Leben ist nicht falsch, sondern eben unzeitgemäß. Es passt nicht mehr in unsere Zeit. Wer einen Rechenschieber korrekt benutzt und auf digitale Assistenten verzichtet, rechnet ja richtig; doch das Instrument ist veraltet, langsam, vielleicht unbequem. Wer an einem traditionellen Konzept von Familie, Staat oder Sexualität festhalten will, verlangt nichts Unmögliches, aber zeitgemäß wären doch Plädoyers für Patchworkfamilien, lockere Gemeinschaften ohne Grenzen und nichtbinäre Konzepte selbst gewählter Sexualität. Der Unzeitgemäße kann dem Vorwurf, dass er die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, nur starrsinnig entgegenhalten, dass das nun Unzeitgemäße doch einmal zeitgemäß war und vielleicht nicht jede Daseinsberechtigung verloren hat. Dass das Vernunftprinzip der Aufklärung im Zeitalter der emotionalisierten Identitätspolitiken nicht mehr als zeitgemäß empfunden wird, widerlegt dieses nicht, sondern stellt nur fest, dass wir heute lieber wieder anders denken. Überlegen ist der neue Tribalismus dem alten Universalismus deshalb noch nicht. Das, was an der Zeit zu sein scheint, wird immer ein wenig unter dem Verdacht stehen, dass es sich nur um eine Mode handle, die rasch wieder vorbei sein könnte. Das verleiht dem Unzeitgemäßen eine Aura der Beständigkeit. Es widersteht nicht nur dem raschen Wechsel

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der Farben und Formen, sondern wird sich nach dem Abflauen oberflächlicher Regungen als das Hellsichtigere, Radikalere, Wahrere und Bessere behaupten. In seiner unzeitgemäßen Betrachtung über Richard Wagner in Bayreuth hatte Nietzsche seinen Zeitgenossen vorgeworfen, gerade in ihrer Zeitgemäßheit borniert zu sein und dem „neuen Lichtbringer“ auszuweichen: „Sie wollen ja nicht Licht, sondern Blendung, sie hassen ja das Licht  – über sich selbst.“14 Dem geradezu luziferischen Unzeitgemäßen entspricht der Gestus einer Vornehmheit, der sich von denjenigen, die in der Zeit gefangen und deshalb blind gegenüber deren tatsächlicher Verfasstheit sind, mitunter müde und herablassend distanziert. Keine Frage, dass solch ein Habitus höchst unzeitgemäß ist. Doch Vorsicht: Nicht alles, was alt ist und die Zeiten überdauert hat, ist unzeitgemäß. Antiquitäten, Oldtimer, Schallplatten und gute Manieren mögen verschroben wirken, manchmal liebenswürdig, manchmal alte Schule, manchmal nur übrig geblieben – um zu einem Unzeitgemäßen zu werden, bedürfte es eines dadurch pointierten Unbehagens der eigenen Zeit gegenüber. Das Unzeitgemäße kennt nicht das tolerante Nebeneinander von Stilen, Accessoires, Gebrauchsgegenständen und ästhetischen Präferenzen, es kennt nicht jene „kulturelle Promiskuität“, die Günther Anders, ein großer Unzeitgemäßer, gegeißelt hatte.15 Das Unzeitgemäße stellt sich dem Verdikt, das der Zeitgeist über es verhängt, und provoziert diesen mit einem ohnmächtigen Dennoch. Die Devise des Unzeitgemäßen lautet: nicht mitmachen. Zumindest nicht bei allem und zu jedem Preis. Die Distanz gegenüber dem, was an der Zeit ist, speist sich übrigens mitunter auch aus einer nietzscheanischen Vermutung: dass alles wiederkehrt. Im Neuen zeigt sich lediglich das, was schon einmal war. Nur der geschichtsvergessene Zeitgenosse glaubt an das moralische und politische Privileg seiner Zeitgenossenschaft. Das Unzeitgemäße, radikal verstanden, fällt aus der Zeit. Es ist in einem klassischen Sinn ein Anachronismus, gehört nicht mehr oder noch nicht in eine Zeit, und es verzichtet darauf, dieses Missver­hältnis zu kaschieren. Es lässt seine anachronistischen Befunde und Modelle nicht im ideologisch wohlfeilen Gewand des Zeitgemäßen ­erscheinen.

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Erst solch ein radikal verstandenes Unzeitgemäßes, das die Idee des Zeitgemäßen prinzipiell ablehnt, könnte sein kritisches Potenzial entfalten, jene Produktivität, die aus dem „Kontakt zwischen unterschiedlichen Zeitschichten“ erwächst und „immer etwas Neues, Drittes, nie Dagewesenes hervorbringt“16. Das Unzeitgemäße pocht darauf, dass, wenn auch nicht alles, so doch vieles zu einer Zeit möglich ist. Das Unzeitgemäße nimmt dem Zeitgemäßen das gute Gewissen, das im Glauben besteht, den Fortschritt für sich gepachtet zu haben und damit auf der Höhe der Zeit zu sein. Das Unzeitgemäße, der ästhetisch und politisch gewendete kritische Anachronismus, demaskiert den Geist jener Herren17, die sich der staunenden Öffentlichkeit gerne als Inkarnationen des Zeitgeists präsentieren.

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STÖRENFRIEDE. WOFÜR SIND UNTERBRECHUNGEN GUT? MAREN SCHÜLL

Sie stehen im Weg. Sie sind zeitweilig unbequem und durchkreuzen reibungslose Abläufe. Sie ecken an, schießen quer, werfen Konventionen über den Haufen oder brechen Tabus. Im Verwaltungs- und Polizeirecht heißt es, sie beeinträchtigen die öffentliche Ordnung, eine Ordnung, in der Abweichungen und Störungen mindestens ärgerlich sind. Sie bringen Verwirrung und Chaos. Das meint: Sie stören den Frieden. Querulantinnen, Quertreiber, Außenseiter und Aktivistinnen, Protestierende, Revolutionäre, Freiheitskämpfer und Provokateurinnen, ebenso Narren und Künstlerinnen, störrische Kinder oder als verhaltensauffällig titulierte Schüler und Schülerinnen, sie alle gelten auf die eine oder andere Weise als Störenfriede. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Regeln verletzen oder biegen. Jedenfalls übertreten sie eine Grenze des Sozialen oder halten sich an der Grenze des sozial Gängigen und Erwartbaren auf. Die Formen und Modi der Störung, welche Störenfriede per definitionem verursachen, sind vielfach. Nicht ausschließlich deshalb kann ihre Geschichte ein Lob wie Abgesang sein. In einem Fall sind Friedenstörer und Unruhestifterinnen zerstörerisch, in einem anderen Fall öffnen sie Türen und nehmen Neuordnungen von Welt und Gesellschaft vorweg, manchmal beides zugleich. Mal sind sie nur auf das eigene Wohl bedacht, mal wagen sie exzentrisch den Sprung ins Ungewisse, ein anderes Mal sind sie die Vorboten und Fürsprecherinnen einer

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a­ nderen, mutmaßlich besseren Ordnung.1 Ganz wesentlich können sie auch heldenhafte Schlüsselfiguren sein, die erschüttern und zur Debatte stellen, was womöglich viel zu lang unhinterfragt oder geduldet war. Wer kennt nicht die Bilder vom Tank Man? Er stellte sich während des Massakers am Tian’anmen-Platz 1989 mit seinen zwei Einkaufstüten vor einen Panzer und zwang diejenigen, die es sich bequem gemacht haben, hinzusehen und in die eigenen Abgründe zu blicken. Auf gewisse Weise den alltäglichen Betriebsablauf und damit Normalität stören, um gehört zu werden, dies ist auch die Sache der Schülerin und Klimaaktivistin Greta Thunberg. Mit ihren Schulstreiks entfachte sie die Klimadebatte neu. Wir können die Welt nicht retten, indem wir nach den Regeln spielen, so die Schülerin.2 Störenfriede sind Störenfriede, weil sie den Frieden, das heißt die Ruhe und die Eintracht der Mitmenschen, stören oder, allgemeiner gesprochen, überhaupt eine Störung erzeugen. Sie bringen Unordnung und lösen Zusammenhänge auf – auch höllische Attribute und eine Verbindung zum Teuflischen hängen dem Begriff darum an.3 Die Zeit der Friedenstörerinnen und Unruhestifter ist die gestörte Zeit, die Unterbrechung. Stets verhindern ihre Störungen bis dahin problemlos funktionierende Routinen und Vollzüge oder geregelte Fortgänge. Dieses ihres unter-, zer- und gleichsam aufbrechenden Charakters wegen ist die Beschäftigung mit Störenfrieden ergiebig für die Auseinandersetzung mit Zeitstrukturen jenseits linearer Sukzession, teleologischer Abfolge oder der Beschleunigungsrationalität, welcher unsere Alltagspraktiken unterliegen. Störenfriede grätschen dazwischen und initiieren einen Aufstand der Gegenwart.

Von Trickstern als Archetyp und Sozialfigur In den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wird allein der Begriff der Störung erstmals 1949 in der Kommunikations- und Informationstheorie Claude E. Shannons und prominent modifiziert in Michel Serres’ Der Parasit.4 Spielten Störungen als willkürliches Hindernis eines

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Informationsaustausches darin vornehmlich die Rolle des Unglücksboten, bekommen sie derweilen auch eine systemstabilisierende oder produktive Bedeutung: Sie veranlassen zur Erneuerung gesellschaftlicher Selbstverständigung oder Aushandlung sprachlicher Sinnkonstitution.5 Wenn es eine eigene Theoriegeschichte zu Störenfrieden geben sollte, dann allenfalls in Form von Trickstergeschichten. Tricks­ ter sind hybride Figuren des Dritten, die mittels trickreicher Umwege und Formen des Regelbrechens Ordnungen gleich welcher Art durcheinanderbringen und dadurch auch der erfindungsreichen Neudeutung zugänglich machen.6 Solche ambivalenten Charaktere gibt es zahlreich in Literatur und Mythologie beinahe aller Kulturen. Prometheus agiert – weder wie ein Mensch noch wie ein Gott – als liminaler Außenseiter und Störenfried innerweltlicher wie kosmologischer Verhältnisse, wenn er Zeus bei einem Tieropfer listig hintergeht und zu guter Letzt den Menschen das Feuer vom Himmel stiehlt. In China, Japan oder Indien gleicht der Affenkönig einem heiteren Rebellen, der die Himmelherrschaft frech herausfordert. Till Eulenspiegel gilt wie vergleichbare Narrenfiguren als Person der Unangepasstheit, die mit ihren Streichen die Unzulänglichkeiten der Mitmenschen bloßstellt. Loki in der nordischen Mythologie, der Berggeist und launische Riese Rübezahl, der Fuchs als trickreicher Gestaltwandler zum Beispiel bei den Toba in Südamerika, sie alle sind Feinde des Status quo und verunklaren die Wirklichkeit. Eine einheitliche Kategorie oder Definition lässt sich angesichts der Vielfalt an Tricksterphänomenen kaum ausmachen, soll vielmehr auch gar nicht gefunden werden, widersetzen sich Trickster doch selbst derlei Grenzziehungen.7 Als Figuren, die imstande sind, die Dinge anders zu betrachten und anzugehen, sind Trickster nicht nur unheimliche Gestalten des Übergangs. In gleicher Weise sind sie Repräsentanten der Vieldeutigkeit des Lebens und Medium kultureller Veränderung. Carl G. Jung zufolge sei die Tricksterfigur entsprechend nicht nur eine „kollektive Schattenfigur“, sondern zugleich „ein Vorläufer des Heilbringers“8. Er deklariert sie als Abbild einer archetypischen, psychischen Struktur, in der auch das Element von Aufruhr nicht fehlt. Am Ende wird Prometheus als unheiliger

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Chaosbringer betrachtet und als Schöpfer der menschlichen Kultur sowie als Genie des Industriezeitalters. Der Affenkönig Sun Wukong wird selbst Buddha, Rübezahl lehrt Heilmittel und Till Eulenspiegel demaskiert die Missstände seiner Zeit. Doch warum beunruhigen und reizen uns Störenfriede nur allzu leicht? Warum bezahlen Trickster ihre Tabubrüche mit sozialer Isolation, Grenzverletzerinnen ihre Überschreitungen ausgesprochen oft mit Bestrafung? Die Tricksterfiguren explizieren Störenfriede als notorische Grenzgänger und per se Unzugehörige, qua die sie Neues antizipieren, Differenzen und Missverhältnisse behaupten oder Distanz halten. Sie lassen sich selbst nicht recht fassen oder festlegen, changieren zwischen Kategorien und spielen mit Leerstellen. Allem voran sind sie demzufolge Ausdruck des ,Anderen‘. Sie sind die Anderen der Ordnung, ob sie nun Aufmerksamkeit erregen, tiefgreifend irritieren oder irreversibel umwälzen. Genauso gut ließe sich darum nach dem hintergründigen, als sicher geglaubten Ordnungsgefüge fragen, das die Unruhestifterinnen und Friedenstörer gewissermaßen erst auf den Plan ruft und dessen Negation und Unterschied sie verkörpern.

Der Auftritt des Politischen Bis in das Verständnis des Politischen hinein reicht folglich die gestörte Zeit und Unterbrechung durch Friedenstörende. Wie gewissermaßen parasitäre Dritte stellen sie die Grenzziehung relativ geschlossener Sozialformen zur Disposition. Zweifelsohne ist nicht jede Grenzverletzung mit einer Subversion des Politischen verbunden. Auch gänzlich unpolitisch motivierte Grenzüberschreitungen können jedoch Akte politischer Subversion sein. Sie erweisen sich dann als Testfälle einer Ordnung, deren partielles Scheitern die Regeln und Mechanismen, nach denen diese funktioniert, offenbart.9 Das Poltische als Infragestellung und (Neu-)Aushandlung sozialpolitischer Grenzen und Zugehörigkeiten in situ fußt – jedenfalls in dieser Hinsicht – auf dem Aufbegehren von Unzugehörigen, die als ‚die

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Anderen‘ von der Ordnung verworfen sind. Das so verstandene Politische ist kein staatlich-parteilicher Regelzusammenhang, wie Jacques Rancière zeigt. Es setzt also ein, wenn randständige, marginalisierte oder ausgeschlossene Akteure und Akteurinnen die vorgegebenen Grenzziehungen und Unterscheidungen der gemeinsam (un)geteilten Welt nicht akzeptieren und soziale oder politische Teilhabe beanspruchen.10 Darin erweisen sie sich als Störenfriede, die sich den gesellschaftlichen Zu- und Einordnungen entziehen und die bestehende soziale Eintracht untergraben. Der Anspruch auf Abweichung ist gleichzeitig ein Streit um Gleichheit und das Gemeinsame. Sie wohnen an den Rissen und Rändern der Ordnung. Sie gehören nicht dazu und sind im vorherrschenden sozialen Erfahrungsraum nicht vorgesehen, haben dort nichts zu sagen. Im gegebenen Mächtefeld wird ihrer Rede kein Sinn beigemessen. Deswegen führen die Friedenstörerinnen und -störer, die sich diesem Gefüge nicht unterordnen, das Unberechenbare und die Revolte ein, wenn sie sich ins symbolische Register des Sozialen einschreiben. Dennoch: Allein die Tatsache, dass sie so tun, als ob sie genauso Gehör finden wie die Mehrheit oder eine Gruppe, welche die etablierte Ordnung vertritt, verweist auf eine Gleichheit, die man ihnen vorenthält. Soziale Grenzen und mit ihnen verbundene Denk- und Handlungsmuster können sich dadurch verschieben. Da Störenfriede lediglich als nicht von der Ordnung Einbezogene und Einberechnete, das heißt als verdrängtes Supplement zum Bestehenden und Gängigen, erscheinen können, lässt sich das Politische selbst nur als Unterbrechung denken. Das Politische ist eine Unterbrechung und Verdrehung der herrschenden sozialen Ordnung, die immer schon den gemeinsamen Sinn- und Erfahrungshorizont bestimmt.11 Vermittels dieserlei Interventionen in das (gesellschaftlich) überhaupt Mögliche und Unmögliche, in die herrschende Konstellation des vielleicht auch Wichtigen und Unwichtigen können sich Störenfriede und mit ihnen eine bisher nicht vernehmbare Erfahrungsweise artikulieren. Sie zerschlagen das Kontinuum der Zeit nicht über eine Gegenkraft. Schon ihre bloße Anwesenheit schreibt der gegebenen Welt eine unerklärliche Welt als Möglichkeit ein. E ­ inzig

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durch solch ein Außerkraftsetzen der etablierten, ein- wie ausschließenden Ordnungsverhältnisse wird deren Evidenz problematisch. Das Aussetzen von Zeit und Raum sowie deren Dispositiven als Konstituens gemeinsamer Erfahrungsschemata, das Ausbrechen aus linearer Kausalität und Kontinuität herkömmlicher Sinnzusammenhänge vermögen soziale Hierarchien und gesellschaftliche Klassifizierungen  – wenigstens für Momente  – aufzubrechen. Durch die Unterbrechung, die Stilllegung der schlicht funktionierenden Gesellschaftsmaschinerie und Effizienzrationalität, wird sagbar, was nicht verstanden, sichtbar, was nicht gesehen werden sollte. Als illegitime, verunordnende und gleichsam eröffnende Bewegung entfachen die Unterbrechungen der Friedenstörenden auf diese Weise den grundsätzlichen Dissens zwischen bestehendem und möglichem Anderen. Sie konfrontieren die gegebene Ordnung mit ihren Grenzen und Ausschlüssen – dies ist zentrale Bedingung einer jeden Demokratie.

Zur hintergründigen Ordnung Friedenstörer und Unruhestifterinnen sind erst in Äquivalenz zu jenem Regime des Gewohnten und Verbreiteten zu verstehen, das jeweils absteckt, was als normal und nützlich, ferner was nicht als vernehmbar und irrelevant betrachtet wird. Auf dem Wege werden die Ungeeigneten von den Übrigen getrennt. Die Durchkreuzung einer solchen Ordnungsmacht der Norm und deren gleichermaßen disziplinierenden wie regulierenden Effekts12 entzieht unserer Kontroll- und Normalisierungsgesellschaft die vielleicht wichtigste Arbeitsgrundlage. Die Ordnungsmacht der Norm hat konform regelrechtes und funktional regelmäßiges Verhalten im Sinn. Sie gehorcht einer polizeilichen Logik, welche einer jeden etablierten Ordnung innewohnt, indem sie bestimmte Zeiten und Räume zu- sowie Menschen einteilt, an- wie einordnet und darüber deren Zugehörigkeiten und soziale Hierarchien festschreibt.13 Dieser Zugriff auf eine gemeinsam (un)geteilte Welt und deren Grenzen benennt und identifiziert alles, was vermeintlich ‚gegeben ist‘, und alle, die ‚es gibt‘, übergeht aber die Exis-

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tenz des Nichtexistenten. In der Weise wird eine Gesellschaft mit einem „statistischen Querschnitt“14 gleichgesetzt, der auch das Abweichende etwa in Umfragen verrechnet und damit das Widersinnige oder Strittige tilgt. Zu dieser Logik der Zählung und Berechnung, die einer Gesellschaft die Möglichkeit zur Selbstdifferenz nimmt, bildet die Unterbrechung durch Störenfriede die Ausnahme. Was die Formen der (Selbst-)Positionierung angeht, wird eine Norm demnach nicht nur in ihrer vorschreibenden Eigenschaft wirksam. Statistisch gesehen, ist sie ein „optimal angesehener Mittelwert“, in dem das ge- und erfundene Faktische die „Grenzen des Akzeptablen“15 festlegt. Ergo ist Normalität, was nicht Minderheit ist. Das als üblich Erlebte, die durchschnittliche Mehrheit, wird zur Richtschnur dessen, wer und wie jemand zu sein hat. Zwar werden in dem bekannten Werbespot Think different Rebellinnen und Unruhestifter dafür gefeiert, dass sie die Welt verändern. Gewöhnlich werden Friedenstörer und -störerinnen, die keinerlei Respekt vor dem Status quo haben, vor diesem Hintergrund aber vornehmlich kritisch beäugt, ausgeschlossen, vorgeblich geheilt oder gezähmt. Nicht nur in Gefängnissen oder Psychiatrien, auch in der Familie und Schule mit ihren Belohnungs- und Prüfungssystemen werden Individuen genormt, standardisiert, klassifiziert, Störenfriede und Dissidente als Ausdruck des Abnormen und Anormalen reguliert oder disprivilegiert.16 Gerade die Erziehung pocht auf störungsfreie Abläufe und Gehorsam. Dieser normalisierende Umgang mit Friedenstörerinnen und Unruhestiftern zeichnet die biopolitische Ökonomie liberaler, vor allem moderner westlicher Gesellschaften aus. Sie ist letzten Endes Treiber des Kapitalismus und beabsichtigt auf der Grundlage von rationalen (Selbst-)Steuerungspraktiken, den Nutzen der Bevölkerung zu steigern.17 Der Ruf nach Kalkulierbarkeit, in eins nach Beseitigung von Unterbrechungen, untersteht dem Gebot der Gefügigkeit wie Nützlichkeit und fordert insgeheim, funktionelle Umsetzungen zu erleichtern. In der Folge kommen als unaufmerksam oder verhaltensauffällig geltende Schüler und Schülerinnen, die einen geregelten Unterrichtsbetrieb behindern, kaum als Grenzgänger und Grenzgängerinnen in

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den Blick, welche die schulische (Leistungs-)Ordnung infrage stellen. Darin läge ihre produktive Bedeutung für das Unterrichtsgeschehen. Vielmehr ist die Auseinandersetzung mit Störenfrieden im schulischen Unterricht von jenem Normalisierungsbestreben geprägt, das Störungen und Auffälligkeiten als Abweichung vom Normalfall der Leistungserbringung sozusagen ordentlicher Lernender pathologisiert. Verhaltensauffälligkeiten sind demzufolge nicht einfach gegeben. Sie sind das Ergebnis einer vorherrschenden Auffassung von Unterricht, innerhalb derer Schülerinnen und Schüler als defizitär beurteilt werden und sich dieses Defizit selbst zuschreiben. Das Ordnungsgeschehen selbst wird aber nicht thematisiert. Ebendarum können Schülerinnen und Schüler nicht gegen ihre Benotung protestieren: Nicht das Prinzip der Kontrolle und Prüfung, sondern ihre Leistung steht zur Debatte. Eine selbstkritische Neuauflage von Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845), ein Klassiker der Verunglimpfung widerspenstiger Kinder, fragt deshalb nach den Gründen, „warum sich Peter gar so plagt? Die Eltern ihn gern anders hätten, zwei streng konforme Marionetten. […] Der Peter hat sein’ eignen Kopf, zum Ausdruck trägt er diesen Schopf!“18

Ein Aufstand der Gegenwart Die Verhinderung von störungsindizierten Time-out-Phasen durch Effizienzrationalität und Beschleunigung trachtet nicht nur nach effektiver Anpassung der Menschen an die soziale Ordnung. Zugleich sucht sie darüber das Politische aus der gesellschaftlichen Praxis auszulöschen.19 Das Wesen des Politischen als Unterbrechung und mit ihm die politische Dimension von Bildung, die auf Kritik und Neugestaltung gemeinsamer Verhältnisse zielt, lassen eine andere Zeit verstehen, ja vielleicht sogar Zeit haben. Gegenüber etablierten Praktiken gesellschaftlicher Rationalisierung bringen Unterbrechungen die „Ordnung der Zeit, die allen gleichermaßen fehlt, aber manchen nicht fehlen könnte“20, als Ausdruck der Überwachung der allgemeinen sozialen Ordnung durcheinander. Als ereignishafte und nicht vorher-

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sehbare Brüche erwecken sie den Sinn für die Gegenwart bzw. deren Offenheit und schaffen so eine Zeitlichkeit, die nicht mehr abhängt von der Agenda der Macht. Herkömmliche Ordnungsmuster geraten ins Wanken und andere Erfahrungen werden möglich, weil der ‚normale Gang der Dinge‘, der ‚gewohnte Gang der Geschichte‘ und die gesellschaftlichen Betriebsabläufe nicht mehr funktionieren. Gerade weil Unterbrechungen im Grunde nicht zu fassen sind, machen sie die Zeit ihres Geschehens auf besondere Weise erfahrbar. Erfahrbar wird eine Gegenwart, „die nicht Übergang ist, sondern in der Zeit einsteht“21 als „paradoxe Anwesenheit in der Abwesenheit, Vollzug im Entzug“22. Kein Wunder also, dass insbesondere die Kunst, welche Wirklichkeitsvorstellungen zu problematisieren und zu vervielfachen vermag, Störenfrieden, Unterbrechungen und Brüchen einen willkommenen Auftritt bereitet. Ihr wird ein subversives Potenzial zugesprochen, weil sie in ihrem Doppelcharakter „als autonom und fait social“23 ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft dadurch anzeigt, dass sie ihr opponiert. Das Auseinanderbrechen der Gegenwart, wie Jacques Derrida im Hinblick auf die Repolitisierung des Theaters beschreibt, bringt eine „gleichermaßen bestimmte wie ihrer Bestimmung entzogene Gegenwart“24 zum Vorschein. Eine widersinnige Diskrepanz, welche das Politische als Streit um Wahrnehmungs- und Beurteilungsweisen einer sozialen Wirklichkeit zutage bringen will. Am Ende ist es genau diese Ambivalenz von Leere und Fülle, welche auch die beunruhigende Wirkung von Friedenstörenden ausmacht. Sie bildet das Moment der Unwägbarkeit, in dem ein der Norm angemessenes Verhalten vorübergehend nicht eindeutig identifiziert werden kann. Unterbrechungen, die Ordnung irritieren, bereiten in dieser Hinsicht den Weg zur überschießenden Erfahrung einer „Sinn-Pause“, eines „,abwesenden Sinn[s]‘“25, welcher mit den Konventionen und Erwartungen der bisherigen Gesellschaft (noch) nicht abgestimmt ist. Sie gemahnen so an die Ausnahmen der Regel, an die Lücken und Risse in dem, was uns bisher als gewiss oder wirklich galt, worin bis dahin Einigkeit bestand. Diese Leerstellen sind Unbestimmtheitsstellen: Sie bringen die Unvollständigkeit wie letztliche Unbestimmbarkeit von Erfahrung zum Ausdruck und richten damit einen

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S­ pielraum des Andershandelns und -werdens ein. In gleicher Weise bewegen sich Störenfriede als gewissermaßen prekäre Entitäten in der Schwebe, die sich der Erwartung verweigern und ungefragt selbstverständlicher Vorgänge bemächtigen, stets in Szenen zwischen Faktizität und Fiktionalität. Sie verkörpern „ein Nichts, das Alles ist“26  – das ist der politische und gleichermaßen produktive Sinn eines jeden Störenfrieds. In dieser Form findet die formale Gleichheit von Beliebigem wie Beliebigen und somit die Grundlosigkeit jeder Ordnung einen Ausdruck: Es ist das, was stets mitgerechnet werden muss, aber nicht berechnet werden kann. Die Unterbrechungen des Regelhaften stehen auch für Vielheit und Kontingenz ein, die sich dem, was für die unverrückbare Wirklichkeit gehalten wird, als Andersmöglichkeit einschreiben und dessen Offensichtlichkeit brüchig werden lassen. Es mag daher einsichtig sein, dass den Modus einer ästhetischen Erfahrung profiliert, was die Unterbrechung als liminale Zwischenzeit ausmacht, die nicht im Dienst steht für etwas und das tertium datur in der Orientierung an Bildung darstellt: Es ist das Spiel der Differenzen, das die Unverfügbarkeit einer potenziell unermesslichen Fülle an Möglichkeiten vergegenwärtigt oder zumindest anzeigt, dass der Zeit mehr Möglichkeiten innewohnen, als ersichtlich ist. Das, ‚was ist‘, so zeichnet sich ab, ist nicht alles. Die Regelverstöße und Unterbrechungen von Friedenstörer und Unruhestifterinnen eröffnen dahingehend einen „Aufstand der Gegenwart“27, in dem sich deren volle Potenzialität meldet. Undenkbares wandelt sich in Denkbares, am Bestimmten lässt sich das Unbestimmte sehen. Was unbefragt und selbstverständlich war, wird plötzlich undurchsichtig und auf latente Alternativen hin getestet. Die jeweiligen Sinn- und Toleranzgrenzen von Gemeinschaften werden als soziale Arrangements des Aus- und Einschließens allererst befragbar. Kein Grund, alle als verhaltensauffällig titulierten Schülerinnen und Schüler zu politischen Antihelden zu erklären, geschweige denn alle Unruhestiftenden in uns und um uns herum zu romantisieren. Die Auseisandersetzung mit ihnen führt allerdings zur Einsicht, dass keine Ordnung sakrosankt oder notwendig ist, wie sie ist. Sie darf, ja

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muss sogar gestört werden, sollen die hintergründigen diskursiven Regeln, nach denen Gemeinschaften und Gesellschaft angeblich reibungslos funktionieren, sichtbar und selbstreflexiv werden. Ob nun Störenfriede ihre eigene Lage, womöglich auch die Zukunft aller zu verbessern suchen, sie von einer konformistischen Welt gelangweilt sind oder schlichtweg nicht hineinpassen, ihre Störungen können epistemische Ereignisse zweiter Ordnung sein28: Sie erlauben einen kritisch-reflexiven Blick auf die Konstitutionsbedingungen von Normalität als soziale Fiktion und geben zu verstehen auf, wie das Verhältnis von Normerwartungshorizont und Erfahrungsraum ausgehandelt werden kann. Dadurch, dass Unterbrechungen und Abweichungen das Augenmerk auf jenes richten, was an den Rändern beiseitegelassen ist, was nicht aufgeht und deshalb einen Anspruch darstellt, verschwinden Normen und Ordnungsmuster nicht länger hinter der fortdauernden Pragmatik ihrer Anwendung und Zuhan­ denheit. Sie werden stattdessen als Weisen der Welterzeugung selbst auffällig, gar aufdringlich und schließlich wieder fragwürdig.29 Die temporalen Brüche und strukturellen Differenzen geben überdies möglicherweise Anlass zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen sowie zur erneuernden Selbstverständigung, wer ‚wir‘ sind, wen wir ausschließen, was unsere Normen und Regeln sind und ob wir diese auch haben wollen und sollen. Zur Debatte steht eine Welt, in der nicht ‚man‘, sondern alle leben möchten und in erster Linie auch leben können.

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Dass das Glück eine, ja die vollkommenste Tätigkeit des Menschen sein müsse und zudem das Glück des Menschen davon abhänge, wie lange diese vollkommenste Tätigkeit andauere – dieser Zusammenhang von Glück, Zeit und Kontemplation findet sich in dieser prägnanten Form in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, eines der griechischen Ahnväter der Philosophie. Denn die vollkommenste Tätigkeit, von der Aristoteles im zehnten Buch seiner Ethik spricht, ist die Theoria. Diese nämlich ist die vollkommenste Betätigung unserer vollkommensten Arete. Mit Arete ist eine Disposition oder ein Vermögen gemeint, das aber schon im Sinne einer Tüchtigkeit oder einer Tugend verwirklicht sein muss. Darüber müssen wir gleich noch weiter nachdenken. Doch zuvor ein kurzes Wort dazu, was diese vollkommenste Tüchtigkeit ist. Für Aristoteles ist das  – wie bereits gesagt  – die Theoria. Die lateinische Übersetzung von Theoria ist Contemplatio. Daher kommt unser Begriff der Kontemplation. Die Kontemplation ist also die vollkommenste Tätigkeit des Menschen, in der dieser die höchste Form des Glückes, die Eudaimonia, findet – solange diese Tätigkeit andauert. Damit ist zugleich die Frage nach dem Wert der Kontemplation beantwortet: Dieser liegt in der Tätigkeit, im Vollzug der Kontemplation selbst, nicht in einem Zweck außerhalb. Zweckfreie Tätigkeit als höchstes Glück des Menschen: Ist dieses Ideal heute noch plausibel oder gar realistisch? Ja, war es das jemals?

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Und wie sähe eine Lebensform aus, die diesem Glücksideal entspräche? Diese Fragen möchte ich zu beantworten versuchen und dabei ein Verständnis von Kontemplation schärfen, das wir heute weitgehend verloren haben. Die kontemplative Lebensform wird mehr oder weniger exklusiv mit einer religiösen Lebensform, etwa dem kontemplativen Klosterleben, in Verbindung gebracht. Der oder die kontemplativ Lebende ist in dieser Vorstellung von der Alltagswelt weitgehend abgeschieden (was durchaus nicht der Lebenswirklichkeit entspricht). Auch die reine Theorie scheint sich abseits der normalen Betriebsamkeit – im Leben, aber auch in der Wissenschaft – einen Nischenplatz suchen zu müssen. Wer sich ihr verschreibt, steht unter Rechtfertigungsdruck.

Glück und Kontemplation Für Aristoteles, der auch im Folgenden unser Gesprächspartner sein soll, stellt sich die Sache anders dar. Der Mensch ist Teil einer Wirklichkeit, die auf die Aktualisierung und Verwirklichung ihrer Potenziale und Möglichkeiten angelegt ist. Das macht die Dynamik unserer Wirklichkeit aus. Eine zentrale Bedeutung kommt daher dem Tätigsein zu, das mit dem Ziel geschieht, die vorhandenen Potenziale zu realisieren und wenn möglich auszuschöpfen. Je mehr wir trainieren, desto schneller und ausdauernder können wir laufen. Je besser wir eine Sprache beherrschen, desto mehr können wir in dieser Sprache ausdrücken. Und wer sein Musikinstrument durch hinreichendes Üben und Spielen beherrscht, vermag darauf zu improvisieren, gar Neues zu erfinden. Gleiches gilt für die Vernunfttätigkeit, der Aristoteles als Alleinstellungsmerkmal des Menschen eine besondere Bedeutung beimisst. Die Vernunft definiert uns und bestimmt auch die Art und Weise, wie wir unsere Potenziale realisieren. Die Vernunft eröffnet Handlungs- und Entscheidungsspielräume, die sich von naturkausalen Verhaltensmustern grundlegend unterscheiden. Das sieht die moderne Anthropologie ganz ähnlich.

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Doch was hat das alles mit Glück und mit Kontemplation zu tun? Wie wir eingangs gesehen haben, bestimmt Aristoteles das Glück, die Eudaimonia, als Tätigkeit, nicht als Besitz etwa aller wünschbaren Güter und auch nicht als situatives Glück. Im Gegenteil: Das Leben unter der Maßgabe der Eudaimonia zu betrachten, bedeutet, es nicht nur situativ, sondern als Ganzes in den Blick zu nehmen. Ein Leben ist dann glücklich, wenn es als Ganzes geglückt ist. Zu einem gelingenden Leben gehört jedoch, dass sich der Mensch als Mensch, das heißt entsprechend seiner eigentümlichen Potenziale, entfalten kann. Und hier kommt die Vernunft als das wesentliche Merkmal des ­Menschen ins Spiel. Ohne dass wir von unserer Vernunft Gebrauch ­machen, kann unser Leben nicht gelingen. Aristoteles geht noch einen Schritt weiter: Je mehr Raum wir einem Leben nach der Vernunft geben, desto mehr nähern wir uns dem besten Leben an, das dem Menschen möglich ist: ein Leben nach dem Besten in uns, der Vernunft. Es wäre seltsam, wenn der Mensch dieses Leben nicht wählte, das ihm doch von Natur aus eigentümlich und zugleich am befriedigendsten und lustvollsten sein muss, das ferner Unabhängigkeit, Muße und Freisein von Mühe, soweit dies dem Menschen ­möglich ist, verheißt und alles Übrige, was wir einem glücklichen Menschen zuschreiben. Diese Glückseuphorie ist ursächlich mit der Tätigkeit der Vernunft verbunden, deren vollkommenste Realisierung die Theoria, die Kontemplation, ist.

Kontemplation und Weisheit Doch was soll man sich unter dieser höchsten Vernunfttätigkeit vorstellen? Was ist Kontemplation? Und was ist Gegenstand der Theoria? Etwa das Göttliche? Aristoteles ist hinsichtlich des möglichen Gegenstandes sehr zurückhaltend. Es geht ihm bei der Bestimmung der Kontemplation weniger um einen bestimmten Inhalt, schon gar nicht um einen exklusiven oder ausgezeichneten Gegenstand, sondern um die Bestimmung der Vernunfttätigkeit selbst. Diese formale Bestimmung der Kontemplation können wir im Vergleich mit der Weis-

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heit finden. Denn die Weisheit ist die der Kontemplation entsprechende intellektuelle Tugend. Doch was ist Weisheit? Folgen wir den Bestimmungen im ersten Buch seiner Metaphysik. Weise ist, wer – soweit dies möglich ist – alles weiß, ohne dabei ein Wissen im Einzelnen von allen Dingen zu haben, das heißt, es geht nicht um ein materielles Vielwissen, sondern um die Gewinnung eines epistemischen Standpunktes, von dem aus man prinzipiell alles in den Blick nehmen kann, auch das, was man nicht leicht zu begreifen vermag. Weise ist ferner der, der genauer in der Sache und in einer Wissenschaft zum Lehren befähigter ist. Dies gilt vor allem mit Bezug auf das Wissen, das um seiner selbst und allein um des Wissens willen gewählt wird. Ein solches Wissen ist zwar am schwersten zu gewinnen, es befähigt jedoch am meisten zum Lehren, sofern es uns in die Lage versetzt, von jedem Ding die Ursachen anzugeben. Damit bildet es mehr als alles übrige Wissen die Voraussetzung dafür, zu erkennen, worum willen ein jegliches ist. In diesem Sinne ist Weisheit ein Wissen im höchsten Sinne, das gegenüber allem übrigen Wissen und den übrigen Wissenschaften eine ordnungsstiftende Funktion besitzt. Darin liegt die eigentliche Orientierungsleistung, dass es um die Ursache und das Ziel des übrigen Wissens weiß und zugleich selbst als zweckfrei und ein Verstehen um seiner selbst willen ist – nicht im Sinne eines L’art pour l’art, sondern als Reflexion auf jene Bedingungen und Prinzipien, durch die und aus denen die übrigen Dinge erkannt werden. Ein solches Wissen aber, das der Mensch nicht um eines Nutzens willen sucht, ist von gleichsam göttlichem Rang und besitzt nicht nur die größte Würde, sondern ist auch im höchsten Maße frei.

Kontemplation als Distanznahme Das klingt ein wenig nach Aufklärungspathos. In der Tat, der Mensch, der sich seiner Vernunft vollumfänglich bedient und diese einsetzt zur kritischen Reflexion auf die Bedingungen und die Reichweite unserer Erkenntnis und unseres Wissens und der dies ohne einen äußeren

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Zweck tut, der verschafft sich Klarheit über die Gründe für das, was er für wahr hält. Eine theoretische Einstellung einzunehmen, heißt, sich die Zeit zu nehmen, einen Freiraum zu schaffen für diese Form der Selbstvergewisserung. Das gelingt nur dem, der sich nicht von Nützlichkeitserwägungen oder äußerlichen Motiven leiten lässt. Darum ist dieses Wissen frei und schafft Freiheit. Das ist – folgen wir Aristoteles – der Sinn und der Kern von Kontemplation, wie ich sie in diesem kleinen Beitrag verstehen möchte. Es geht um die Tätigkeit selbst, nicht um einen bestimmten Gegenstand. Diese Tätigkeit geht auf Distanz zu den konkreten Problemen und Dingen, ohne den Kontakt zu ihnen zu verlieren. Denn es geht nicht um die Schau eines außerweltlichen Gegenstandes, sondern um das genauere Verstehen der Gründe, die unserem Wissen von der Welt zugrunde liegen. Ein solches Verstehen erfordert – eine zumindest methodische – Distanz zu allen Fragen, die eine unmittelbare Antwort erfordern, und somit auch zu allem problemlösenden Denken. Wir treten gleichsam einen weiteren Schritt zurück. Wir fragen nicht nur nach den unserer Pragmatik zugrunde liegenden Methoden, Techniken und Regeln, wie dies die Wissenschaften tun, sondern fragen weiter bis zu jenen Grundlagen unseres Denkens und Handelns, die wir nicht weiter begründen oder gar beweisen können. Es ist ein abstrakter Blick auf die Welt. Die Kontemplation löst keine Probleme – zumindest nicht unmittelbar und im Einzelfall. Diese Distanznahme, die eine andere, tiefere Form des Verstehens ermöglicht, braucht Zeit. Kontemplation als Theorie ist keine intuitive Schau eines großen Ganzen. Sie ist Tätigkeit in der Zeit. In diesem Sinne spricht Aristoteles von der Dauer und misst das Glück des Menschen daran, wie lange diese vollkommenste Tätigkeit andauert, um sich sogleich einzugestehen, dass diese Dauer für den Menschen stets begrenzt ist – und damit auch das Glück, das in der Ausübung der vorzüglichsten aller Tätigkeiten liegt.

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Aus der Zeit fallen Obgleich wir die Kontemplation als eine Tätigkeit in der Zeit bestimmt haben, die eine Dauer hat, so ist sie doch zugleich eine besondere Zeit. Wir nehmen uns Zeit, zweckfreie Zeit. Das macht diese Zeit besonders, zugleich kostbar und fragil. Denn man kann leicht aus dieser Zeit herausfallen. Ein flüchtiger Gedanke an einen Termin, die Sorge um einen anderen Menschen, ein Problem, das sich unvermittelt in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit drängt  – alles dies reißt uns heraus aus der Kontemplation, hindert uns an der bestmöglichen Ausübung unserer vorzüglichsten Tätigkeit. Obwohl auch die Kontemplation eine Tätigkeit in der Zeit ist, so fällt sie doch aus der Zeit, genauer aus der alltäglichen Zeit. Das liegt nicht zuletzt in der Distanznahme von der Alltagswirklichkeit begründet, von der ich soeben gesprochen habe. Kontemplation braucht Zeit für einen anderen Umgang mit der Zeit. Damit einher geht eine andere Einstellung zu den Fragen, die wir uns stellen. Vergegenwärtigen wir uns dies an der ursprünglichen Bedeutung von Theorie. Theorie heißt, etwas so genau wie möglich zu beobachten. Es ist die Beobachtung allein, aus der wir unser theoretisches Wissen über die Welt generieren, nicht das Experiment. Es geht um Beobachtung und Betrachtung, nicht um aktive Befragung im Experiment. Dies gilt auch für die ursprüngliche Idee der Physik oder Naturphilosophie. Doch diese Form der Theorie bleibt gebunden an die materiellen Bedingungen ihrer Gegenstände. Sie k­ önnen nicht abgetrennt von ihren materiellen Bedingungen, das heißt vor allem in ihrer Veränderlichkeit, betrachtet und verstanden w ­ erden. Doch die Theorie führt uns noch weiter über das hinaus, was wir aus der Erfahrung generieren. Es geht um das Ausloten jener Bedingungen, die unserer Vernunfttätigkeit zugrunde liegen, um die apriorischen Annahmen, die wir voraussetzen müssen, wenn wir denken. Hier ist für Aristoteles die höchste Tätigkeit des Menschen, die Vernunft, bei sich selbst angekommen: Sie betrachtet sich selbst und die Bedingungen, unter denen sie ihre Vernunfttätigkeit ausübt. Um dies tun zu können, tritt sie heraus aus dem diskursiven Nacheinander.

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Diese Voraussetzungen unseres Denkens und unserer Vernunft können nurmehr intuitiv erfasst werden. Bei Aristoteles ist es die Einsicht, dass etwas nicht zugleich in ein und derselben Hinsicht wahr und falsch sein, zugleich sein und nicht sein kann; dass demselben in der derselben Hinsicht unmöglich dasselbe zugleich zukomme und nicht zukomme. Eine solche Einsicht wird für uns zum Knotenpunkt unseres Denkens und Wissens. Wir erfassen ihn in einem Augenblick; ein Augenblick, der uns aus dem diskursiven Nacheinander heraustreten lässt; ein Augenblick, der uns aus der Zeit hinaustreten lässt; ein Augenblick, der uns aber auch unsere Endlichkeit bewusst macht.

Endlichkeit Wir stoßen an eine doppelte Grenze: zum einen an eine Reflexionsgrenze, sofern unser Denken gebunden bleibt an die Bilder, Begriffe und Vorstellungen, mit deren Hilfe wir die Wirklichkeit erfassen; zum anderen an das bereits erwähnte Dilemma der begrenzten Dauer. Denn ein solches Leben der bei sich seienden Kontemplation ist offensichtlich keines, das dem Menschen entspricht. So leben wir nicht, sofern wir Menschen sind. So zu leben, heißt vielmehr, etwas Göttliches zu besitzen. Dies ist die Vernunft, die die menschliche Natur übersteigt. In diesem Sinne müssen wir hier „göttlich“ verstehen. Folglich ist die Betätigung der Vernunft im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich, selbst wenn sie nur eine kurze Zeit dauerte. In diesen Momenten erhalten wir eine Idee davon, worauf wir unser Leben ausrichten sollten. Und so fordert uns Aristoteles in einer der persönlichsten Passagen seiner Ethik auf, alles zu tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben, und auf diese Weise zu versuchen, uns so weit wie möglich unsterblich zu machen. Denn dieses Leben ist zugleich das glücklichste. Und doch scheint es für die meisten unerreichbar. Es ist diese Spannung zwischen dem Anspruch des Ideals und der (Un-)Möglichkeit seiner Einlösung, die durch die Möglichkeiten einer an die Körperlichkeit gebundenen Vernunft begrenzt bleibt. Sollte

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man sich daher nicht eingestehen, dass das Glück gemäß seinem vollkommenen Begriff dem Menschen nicht möglich ist? Das wäre nach Thomas von Aquin, der einer der größten Aristoteles-Leser war, eine inadäquate Antwort, die zudem mit der Grundüberzeugung des Aristoteles kollidierte, dass die Natur nichts vergeblich tut. Ist nicht Wissen ein solches Naturverlangen, dessen Dynamik nicht eher zur Ruhe kommt, bis dass die Vernunft sich in der Weise der vollkommensten Tätigkeit ihrer selbst vergewissert und das Prinzip ihrer Vernunfttätigkeit geschaut hat? Eröffnet nicht gerade der Augenblick, der uns aus der Zeit heraustreten lässt, einen Blick über die Bedingungen der Zeitlichkeit hinaus in die Ewigkeit, die Vergangenheit und Zukunft in einem Gegenwartsmoment anschaulich werden lässt? Auch so ist das Proprium der Kontemplation bestimmt worden, etwa von Augustinus. Für Thomas von Aquin kommt noch ein wichtiges Element hinzu. Er möchte ein solches Glück nicht nur wenigen vorbehalten, etwa den Philosophen, den Liebhabern der Weisheit und Lieblingen der Götter. Thomas argumentiert mit Aristoteles gegen das doppelte aristotelische Dilemma, dass das Glück eigentlich nicht für den Menschen, sondern allein für die Götter bestimmt ist und – wenn überhaupt – nur für wenige reserviert bleibt. Thomas geht es in voller Konsequenz um die Erreichbarkeit des im Begriff des Glücks formulierten Ideals für jeden Menschen; denn jeder Mensch strebt von Natur aus nach der höchsten Verwirklichung dessen, was er seinem Wesen nach ist. Darin unterscheidet sich der Mensch durchaus nicht von den übrigen Lebewesen. Dabei nimmt er eine doppelte Grenzüberschreitung in Kauf: Denn dieses natürliche Strebeziel kann nicht in diesem Leben, sondern nur in einem ewigen Leben auf übernatürliche Weise erfüllt werden. Diese Annahme aber erfordert einen Übergang von der philosophischen zur theologischen Ordnung. Die Konsequenz ist eine Philosophie der Endlichkeit, die sich dessen bewusst ist, nicht Weisheit im vollkommenen Sinn zu sein, sondern lediglich wie alles menschliche Wissen endliche Weisheit.

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Theorie als Lebensform Unsere Überlegungen nahmen ihren Ausgang von dem Zusammenhang von Glück, Zeit und Kontemplation, den Aristoteles im zehnten Buch seiner Nikomachischen formuliert hat. Darin zeigt sich, was der französische Philosophiehistoriker Pierre Hadot als den ursprünglichen, wahren Geist antiker Philosophie bezeichnet hat. Diese sei nicht so sehr ein theoretischer Diskurs, sondern müsse vor allem und zunächst als eine Methode der Menschenformung verstanden werden, die auf eine neue Lebensweise und ein neues Weltverständnis abzielt. Die Theoria erscheint als geistliche Übung, die Kontemplation als Teil einer Praxis, die das gelingende Leben zum Ziel hat. Noch in anderer Hinsicht ist die theoretische Einstellung bedeutsam. Sie dient der kritischen Selbstvergewisserung hinsichtlich der Gründe für die Gewissheit meiner Erkenntnis, und zwar auf allen Ebenen. Das ist auch die Motivation René Descartes’ zu Beginn seiner ersten Meditation. Einmal im Leben müsse man von Grund auf alles umstürzen und von den ersten Grundlagen an ganz neu anfangen, um später etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften errichten zu können. Meditation nennt Descartes dieses Innehalten. Dafür braucht es Zeit und die Umwendung des Blicks auf die Bedingungen der Möglichkeit unserer Gewissheitsannahmen. Zugleich ist die Zielrichtung klar. Es geht nicht darum, in kontemplativer Distanz zu verharren, sondern die Grundlagen zu sichern für festes und bleibendes Wissen sowie für eine Orientierung im Denken und im Handeln. Nur wer sich von Zeit zu Zeit in kontemplative Distanz zum alltäglichen Entscheidungsdruck begibt, kann diesen Wissenskompass bewahren. Den Wert kontemplativer Distanz sieht man gerade in Krisen- und Konfliktsituationen. Oftmals lohnt es, sich Zeit zu nehmen, anstatt impulsiv zu entscheiden. So verstanden, steht die theoretische, die kontemplative Lebensform nicht im Gegensatz zur aktiven, tätigen Lebensform. Vielmehr gilt, was Eckhart in einem ihm zugeschriebenen Spruch sagt: Solange ein Mensch sich dem kontemplativen Leben hingibt, soll er sich von allen äußerlichen Tätigkeiten frei machen, anschließend aber soll er

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sich äußeren Werken widmen, denn niemand kann sich allezeit und fortwährend dem kontemplativen Leben hingeben. Vielmehr wird das tätige Leben ein Aufenthalt des kontemplativen Lebens. Ein kontemplativer Mensch zu werden, heißt daher, leben zu lernen, aber auf die richtige Weise. Es geht um eine geistige Einstellung zur Welt und zu sich selbst. Beides gehört untrennbar zusammen. Wer sich an die Mannigfaltigkeit der Welt verliert, verliert sich selbst. Wer aber bei sich selbst ist, der vermag auch die Vielfalt der Welt in rechter Weise zu begreifen.

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S O K R AT E S U N D D E R K A I R O S S O K R AT E S U N D D E R K A I R O S O D E R W I E PA C K E I C H D I E GELEGENHEIT BEIM SCHOPF? MICHAEL ERLER

Die Griechen bezeichnen einen Zeitpunkt, der als günstige Gelegenheit für eine Handlung innerhalb des generellen Zeitablaufes (chronos) empfunden wird, als ‚kairos‘.1 Da ein solcher Augenblick zumeist unerwartet und plötzlich auftritt, wird er oft mit der göttlichen Sphäre in Verbindung gebracht, gleichsam als Einbruch göttlicher Zeitlosigkeit in die menschliche Lebenswelt. Anders freilich als eine ‚plötzliche‘, den Menschen geradezu überwältigende göttliche Epiphanie (exaiphnes)2 wird der kairos als Angebot angesehen, selbst tätig zu werden und Entscheidungen (krisis) zu treffen. Der kairos steht also für ein ‚jetzt oder nie‘, eine gute Gelegenheit, die man ergreifen sollte und nicht verstreichen lassen darf, wenn man erfolgreich handeln will. Der Bildhauer Lysippos hat dieser Vorstellung bildlichen Ausdruck verliehen, indem er den vergöttlichten kairos mit einer Haarlocke an der Stirn und mit kahlem Hinterkopf dargestellt hat. Wie der Dichter Poseidippos erklärt, will Lysippos auf diese Weise daran erinnern, dass man günstige Gelegenheiten ergreifen muss und dass man verpasste Gelegenheiten nicht zurückholen kann.3 Der kairos als besonderer Aspekt des Zeitablaufes war in der Antike Gegenstand literarischer und künstlerischer Darstellung, aber auch von Reflexionen, sei es implizit wie etwa in den Gedichten Pindars4, sei es explizit in der Philosophie.5 Das kann nicht verwundern.

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Denn die Aufforderung, man solle eine Gelegenheit ‚beim Schopf packen‘ und nicht vorbeiziehen lassen, setzt ja nicht nur einen Freiraum für eigene Entscheidungen und eigenes Handeln voraus, sondern verlangt, dass man einen Augenblick als ‚günstig‘ identifizieren kann. Es stellt sich also die Frage, was einen ‚günstigen Zeitpunkt‘ eigentlich ausmacht und welche Rolle bestimmte Umstände dabei spielen. Wichtig ist auch, zu fragen, ob man sich bei Handlungen wirklich nur von jedem Augenblick, der günstig scheint, leiten lassen soll oder ob es übergeordnete Gesichtspunkte oder Normen gibt, die ausschlaggebend sein sollen und den ‚günstigen Augenblick‘ zu einem Mittel werden lassen. Ist also ein ‚Augenblick‘ deshalb günstig, weil er dem Durchsetzen eigener Interessen dient, wie es traditionelle antike Rhetorik oder Politik oft sieht, oder ist ein Augenblick günstig, weil er dem nützen kann, auf den sich die Handlung richtet, wie es zum Beispiel in der Medizin der Fall ist? Kann ein Misserfolg automatisch als Beleg dafür dienen, dass man einen kairos verpasst und einen ungünstigen Zeitpunkt, also einen ‚nichtkairos‘ (akairos), gewählt hat? Derartige Fragen wurden im 5. und 4. Jahrhundert in Athen diskutiert und in literarischen Werken oder philosophischen Abhandlungen reflektiert.6 Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die platonischen Dialoge. Denn in ihnen werden theoretische und moralische Grundlagen eines pragmatischen oder normbezogenen Umganges mit ‚günstigen Gelegenheiten‘ nicht nur diskutiert, sondern entsprechende Haltungen und Verhaltensweisen des literarischen Personals zugleich auch illustriert. Die performative Ebene der Dialoge ergänzt, ja kommentiert bisweilen geradezu, was in den dargestellten Gesprächen reflektiert wird. Dabei wird deutlich, dass Platon neue Aspekte zur Bewertung des kairos beizutragen hat. Einige dieser Aspekte seien im Folgenden angesprochen und vorgeführt.

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Gelegenheit macht Diebe „Der kairos ruft“, ist ein von Rednern oder Philosophen7 gern gebrauchter Ausdruck. Er erinnert daran, dass kairos als Chance, als Angebot und als Aufforderung zu eigenem Handeln verstanden wurde. Deshalb spielte bei Diskussionen über Kunstfertigkeiten wie Rhetorik, Medizin, Kunst, aber auch Philosophie die Frage eine besondere Rolle, wie man sich ‚günstige Gelegenheiten‘ für eine erfolgreiche Anwendung zunutze machen kann. In der Medizin8 ist der kairos von Bedeutung, weil der Arzt sich bei der Analyse von Krankheiten auf die Varianz der Umstände und auf individuelle Konstitutionen der Patienten einstellen und den ‚richtigen Augenblick‘ (kairos) für die Behandlung abpassen muss. Schon Hippokrates9 betont, dass das Heilen eines Patienten die Sache der Zeit (chronos), aber bisweilen auch der ‚günstigen Gelegenheit‘ (kairos) ist. Die Gesundung des Patienten war dann der Beleg dafür, dass man den ‚günstigen Augenblick‘ getroffen und erfolgreich ergriffen hatte. Kontext und Disposition sind natürlich auch und insbesondere in der Rhetorik von Bedeutung.10 Denn ein Redner muss Umstände und Disposition seiner Adressaten beachten, um beurteilen zu können, ob ein Augenblick für ein Argument oder eine persuasive Strategie wirklich ‚günstig‘ ist. Die Redekunst als solche ist nach Ansicht der Sophisten wertneutral. Sie erhält ihre besondere Qualität erst durch den Erfolg, den sie dem Redner bringt. Eben das gilt nach Ansicht der Sophisten auch für andere menschlichen Handlungen. Erst die jeweiligen Umstände (kairos) und ein Erfolg der Handlungen entscheiden demnach darüber, ob eine Handlung gut und gerecht oder ungerecht ist. Es kann nach Ansicht der Sophisten in einer Situation durchaus gut, weil effizient sein, zu stehlen, zum Beispiel, wenn man einem Freund etwas fortnimmt, womit er sich selbst schaden könnte. Unter anderen Umständen aber ist es verwerflich.11 Gleiches gilt für das Lügen in Krieg und in der Liebe mag es als opportun gelten, zu lügen, im Frieden nicht. In den ‚Rittern‘ parodiert der Komödiendichter Aristophanes diese Auffassung, wenn er einen Politiker vor dem Volk zugeben lässt, er habe das Volk bestohlen, dies aber damit rechtfertigt,

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dass die Gelegenheit eben günstig gewesen und es zudem zum Vorteil des Volkes geschehen sei. Man sieht, Umstände und Erfolg rechtfertigen Handlungen, die eigentlich als unmoralisch gelten sollten, und machen sie zu einer guten Sache.12 Nicht eine objektive Norm, sondern wechselhafte, ‚günstige Gelegenheiten‘ und erfolgreiches Durchsetzen eigener Interessen qualifizieren nach Ansicht der Sophisten Haltungen oder Kompetenzen als gut und erstrebenswert, eine Auffassung, welche in intellektuellen Kreisen Athens im 5. Jahrhundert lebendig diskutiert wurde.13

Kairos und Norm Freilich gab es auch Widerspruch. Die Sokratiker und insbesondere Platons Sokrates bestritten, dass menschliches Handeln wertfrei und nur infolge von Umständen und Situationen gerecht oder ungerecht sei. Eine solche ‚kairosorientierte‘ Lebensauffassung gründet auf einer Relativierung der Werte. Sie veranlasst Platon zu der ironischen Bemerkung, wenn nur günstige Gelegenheit und Effizienz zählten und ungerechtes Handeln rechtfertigten, werde Gerechtigkeit zu einer Art von Diebeskunst.14 Am nachdrücklichsten und nachhaltigsten formuliert Platon seine Kritik im Dialog ‚Gorgias‘ mit Blick auf die traditionelle Rhetorik und deren Hochschätzung des kairos als gleichsam moralische Instanz. Denn der Sophist und große Redner Gorgias hatte die Bedeutung des kairos für die Rhetorik besonders betont.15 Im Dialog ‚Gorgias‘ protestiert Sokrates dagegen, dass Kunstfertigkeiten wie Rhetorik wertneutral seien und sie ihre moralische Qualität allein aus den Umständen (kairos) und ihrem Erfolg gewännen. Sokrates argumentiert, dass eine Rhetorik, die Wert und Erfolg allein aus der Beachtung ‚günstiger Umstände‘ (kairos) bezieht, gerade nicht jene Durchsetzungskraft für die eigenen Interessen entfaltet, die traditionelle Redner und Sophisten von ihr erwarten. Wenn man sich nämlich beständig nur an ‚günstigen Umständen‘ (kairos) orientiert, liefert man sich – so Sokrates – den ständig schwankenden Stimmungen oder Auffassungen des jeweiligen Publikums aus.16 Wer dies tut, mag sich punktuell durch-

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aus stark und als ein ‚Meister der Situation‘ fühlen. Doch auf die Dauer wird sich ein solcher Redner und Politiker als schwach erweisen, weil er sich ständig ‚günstigen Situationen‘ ausliefert und sich wie ein Sklave des kairos verhalten müsse, um erfolgreich zu sein. Ganz anders verhält sich nach Sokrates ein Philosoph. Wahre Philosophen erweisen sich nicht als Sklaven, sondern als Meister der ‚günstigen Gelegenheit‘. Philosophen nämlich seien nicht wie die Sophisten in das Volk oder die jeweiligen Adressaten geradezu verliebt. Ihre Liebe gelte vielmehr ‚Frau Philosophia‘, wie Platons Sokrates es ausdrückt.17 Deshalb möchte der Philosoph ‚Frau Philosophia‘ alles recht machen und werden wie sie. Weil ‚Frau Philosophia‘ aber keineswegs wechselhaft sei, sondern immer bei ihrer Meinung bleibe, nicht kasuistisch vorgehe, sondern für unveränderliche Prinzipien stehe und wisse, was wirklich wichtig, richtig und passend sei, werde auch der Philosoph entsprechend handeln und sich nicht von Situationen beeindrucken oder gar leiten lassen, nur weil sie günstig (kairos) scheinen. Natürlich sucht auch ein Philosoph wie zum Beispiel Sokrates nach ‚günstigen Augenblicken‘, um Überzeugungsarbeit für die Wahrheitssuche leisten zu können. Doch orientiert er sich dabei nicht an Adressaten und deren wechselnde Dispositionen und Auffassungen allein, sondern vor allem an Normen, für die ‚Frau Philosophia‘ steht. Da es ihr aber eben nicht um das Durchsetzen eigener Interessen, sondern allein um das Wohl des Adressaten geht, bemüht sich auch der wahre Philosoph darum, seine Adressaten an ihrer Seele besser zu machen.18 Dabei mag ein ‚günstiger Augenblick‘ zum Beispiel für ein Argument oder den Einsatz einer rhetorischen Strategie eine Rolle spielen.19 Doch wird ein Philosoph sich nicht vom kairos bestimmen lassen, sondern in ihm immer nur ein Mittel zum Zweck sehen, dem Partner zu helfen. Nicht zufällig beschreibt Sokrates dieses philosophische Verhalten gerne mit Metaphern, die aus dem Bereich der Medizin stammen. Dem Arzt geht es nämlich ebenfalls nicht um Eigennutz, sondern allein um die Gesundung des Patienten. Dabei sucht auch er Gelegenheiten für den Einsatz seiner Kunst. Auch ein wahrer Philosoph wie Sokrates setzt seine Argumente und rhetorischen Mittel nicht ein, um seine Überlegenheit zu be-

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weisen und einen Sieg über die Partner davonzutragen, sondern um diesen an der Seele besser zu machen. Dabei nimmt er in Kauf, zu irritieren, zu verärgern, bisweilen sogar zu täuschen. Doch sind dies Mittel zum Zweck. Sokrates will auf diese Weise aufrütteln, auf Fehlbeurteilungen seiner Gegenüber aufmerksam machen und helfen, ein besserer Mensch zu werden. Wie ein Seelenarzt, der von Irrtümern heilen will, sucht Platons Sokrates ‚günstige Augenblicke‘, um seine Methoden als ein gleichsam pädagogisches Mittel einzusetzen. Er orientiert sich dabei an Frau ‚Philosophia‘ und den Normen, für die sie steht. Aus einer prinzipienfreien, nur von ‚günstigen Gelegenheiten‘ (kairos) und Umständen geleiteten Form der Kommunikation bei den Sophisten wird ein Suchen nach Wahrheit, das sich bemüht, allgemeine Normen in konkreten Spezialfällen des alltäglichen Lebens anzuwenden und für die Partner nutzbar zu machen, also philosophische Theorie und rhetorische Praxis zu verbinden. Die ‚günstige Gelegenheit‘ steht bei Platon also für das Spannungsverhältnis von ewigen, gleichsam göttlichen Normen und deren Applikation in realen Situationen des zeitlichen Lebensablaufes.20 Platons Sokrates als Protophilosoph praktiziert also eine Art philosophische ‚Kairotik‘, die Element seiner philosophischen Pädagogik ist.

Kairos und Standhaftigkeit: Platons ‚Apologie des Sokrates‘ Ein besonders eindrucksvolles Dokument für die Neubewertung dessen, was ‚günstige Gelegenheit‘ (kairos) bedeuten kann, ist Platons vielleicht berühmteste Schrift, die ‚Apologie‘. Sokrates’ Verteidigungsrede illustriert, was Sokrates im Unterschied zur traditionellen Auffassung unter ‚günstiger Augenblick‘ versteht. Ein Prozess bietet dem Angeklagten die ‚günstige‘ Gelegenheit, gegen ihn gerichteten Anklagepunkte argumentativ und mit rhetorischen Mitteln abzuweisen. Eben dies erwarteten Richter und Leser von Sokrates‘ Verteidigungsrede. Doch wird diese Erwartung in gewisser Weise enttäuscht. Schon in der Antike hat man mit Verwunderung und Irritation konstatiert, dass Sokrates keineswegs als Anwalt seiner selbst aufritt und die

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­ nschuldigungen, er habe die Jugend verdorben und glaube nicht an A die traditionellen Götter, zurückweist. Zwar bestreitet er die Anklagepunkte. Doch entscheidet er sich dafür, sich zu verteidigen, indem er seinen Anklägern und seinen Richtern mithilfe philosophischer Argumente ins Gewissen redet. Bei einer Verurteilung – so argumentiert er deutlich  – werde weniger er als die Richter gleichsam an der Seele Schaden nehmen, weil sie eine Fehlentscheidung fällen würden. Ganz offen erklärt Sokrates, dass es ihm weniger um ihn selbst als vielmehr um das Wohl seiner Richter gehe und er nicht für sich, sondern im Interesse der Richter spreche.21 In der Tat wird dann aus Sokrates’ Verteidigungsrede eine Art Anklage der Richter, mit der Sokrates sie vor falschem Verhalten warnen und vor einem Fehler bewahren will. Denn Sokrates argumentiert vor seinen Anklägern weniger rhetorisch, wie man es erwarten würde, als philosophisch. Sein Verhalten und sich selbst bezeichnet er als ein Geschenk Gottes und seine philosophische Lebensweise als eine Wohltat für die Menschen, weshalb er keine Verurteilung, sondern vielmehr Ehrenspeisung und Belohnung durch die Polis verdiene.22 Auf den ersten Blick scheint seine Verteidigungsrede ein Musterbeispiel dafür zu sein, dass und wie man eine ‚günstige Gelegenheit‘ verpasst. Sokrates hat offenbar den falschen Zeitpunkt für philosophisch therapeutische Ansprache an die Richter gewählt. Kein Wunder also, so viele Interpreten, dass Sokrates verurteilt wird. Aus Sokrates’ Perspektive jedoch hat er die Gelegenheit durchaus ‚beim Schopf gepackt‘, seinen Mitmenschen zu helfen, seine pädagogischphilosophische Redekunst zum Besten der Adressaten einzusetzen und also Frau ‚Philosophia‘ zu folgen. Die ‚Apologie‘ ist nicht nur ein großer Text der Weltliteratur. Sie dokumentiert, was ein Philosoph unter ‚günstiger Gelegenheit‘ (kairos) verstehen sollte: Eigene Vorteile hintanstellen, Mitmenschen philosophisch-pädagogische Hilfe zukommen lassen, Adressaten an der Seele besser machen, also sich von Normen leiten lassen, die außerhalb der jeweiligen Situation angesiedelt sind. Kurz, die ‚Apologie‘ illustriert, was es bedeutet, eine ‚Gelegenheit beim Schopf ‘ zu packen und gleichzeitig in die Philosophie verliebt zu sein.

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Sokrates als Meister des kairos Auch in anderen Dialogen inszeniert Platon seinen Sokrates als Repräsentanten einer besonderen Auffassung von dem, was ‚günstige Gelegenheit‘ (kairos) bedeutet. Besonders eindrücklich geschieht dies im Dialog ‚Kriton‘. Dort sitzt Sokrates im Gefängnis und erhält Gelegenheit zur Flucht, weil Freunde die Wächter bestochen haben. Seine Freunde glauben, auf diese Weise eine ‚günstige Gelegenheit‘ geschaffen zu haben, für Sokrates Gerechtigkeit walten zu lassen.23 Doch wieder sieht Sokrates die Situation anders. Auch er hält die Gelegenheit für ‚günstig‘, aber nicht, weil sie ihm die Flucht ermöglicht, sondern weil sie eine Diskussion über die Frage darüber anregt, ob es denn überhaupt richtig ist, Regeln einer Gemeinschaft zu brechen, nur weil man sich falsch behandelt fühlt. Erneut wird deutlich, dass für Sokrates feste Prinzipien und nicht eigener Vorteil maßgeblich für die Beurteilung sind, ob eine Gelegenheit ‚günstig‘ (kairos) ist. Was in ‚Apologie‘ und ‚Kriton‘ zu beobachten ist, gilt auch für andere Dialoge. Die Einschätzung einer vermeintlich ‚guten Gelegenheit‘ ist ein wichtiges Motiv, auch wenn nicht immer das Wort kairos fällt. Platon inszeniert Treffen mit Sokrates, die mehr oder weniger zufällig wirken und aus denen sich Gespräche entwickeln. Man passt Sokrates ab, läuft ihm hinterher, hält ihn wie eine ‚gute Gelegenheit‘ fest, um ein Problem zu diskutieren. Denn man verspricht sich von ihm Trost in schwieriger Lebenskrise oder Erkenntnisse über Tugenden wie Tapferkeit, Frömmigkeit oder Gerechtigkeit oder Rat in einer besonderen Lebenslage. Sokrates ist sich freilich nicht immer sicher, ob auch er ein solches Treffen als ‚günstige Gelegenheit‘ ansieht. Nicht selten wirkt er skeptisch, bisweilen scheint er sich sogar entziehen zu wollen. Kommt es zu einem Gespräch, sucht Sokrates nicht nur Lösungen für Probleme oder Fragen, sondern analysiert zugleich die Persönlichkeit der Partner und entscheidet, ob der Partner für philosophische Untersuchungen disponiert und ob er bereit scheint, sich helfen zu lassen, an der Seele besser zu werden. Erst in diesem Fall hält Sokrates ein Treffen ebenfalls für eine ‚gute Gelegenheit‘. Ist jedoch das Gegenteil der Fall, sagt Sokrates dies bisweilen frei heraus oder

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deutet es an und verhält sich dann entsprechend. In hoffnungslosen Fällen schickt er den Partner zu den Sophisten, weil sie die angeblich besseren Pädagogen seien. Sokrates repräsentiert und praktiziert in den Dialogen also jene pädagogische, am Partner orientierte Rhetorik, die sich von günstigen Gelegenheiten (kairos), aber darüber hinaus von unabhängigen Normen leiten lässt und deshalb die ‚Gelegenheiten‘ nutzen kann, die ‚günstig‘ sind, nicht um einen Sieg über den Partner zu erringen, sondern um diesem hilfreich zu sein.

Kairos und zeitliche Entschleunigung Die Dialoge verdeutlichen zudem, wie sich Sokrates’ Suche nach ‚günstigen Gelegenheiten‘ im philosophischen Gespräch auf Zeitabläufe und Zeitaufwand auswirkt. Wer sich auf seinen Partner einstellen will, um diesem zu helfen, an der Seele besser zu werden, muss bereit sein, dessen Einwürfe oder Vorschläge auch dann aufzugreifen, wenn sie zunächst nicht sachdienlich scheinen. Er muss dem Partner oder der Partnerin auf Umwegen folgen und Gelegenheiten abpassen, um hilfreich und unterstützend einzugreifen. Er muss Zeit finden, um Hinweise geben zu können, wo man sich irrt, oder um andeuten zu können, wie man zur Einsicht gelangen kann.24 Ein solches Gesprächsverhalten führt freilich zwangsläufig zu einer Entschleunigung des Gesprächsverlaufes und steht in starkem Kontrast zum Gesprächsverhalten der Sophisten, denen es im Gespräch eher um Beschleunigung geht, darum, Pointen zu setzen, sich zu präsentieren und den Partner schlecht aussehen zu lassen. Die Dialoge illustrieren deshalb auch, wie Sophisten im Gespräch auf ‚günstigen Gelegenheiten‘ warten, um schnelle Punkte machen und die Partner verbal überwältigen und schlecht aussehen lassen zu können. Der Philosoph hingegen möchte seinen Partnern immer wieder ‚aufhelfen‘.25 Die Gespräche mit Sokrates drehen sich dabei durchaus auch einmal im Kreis, geraten in eine Sackgasse. Manchmal lässt Sokrates ‚für den Augenblick‘ gelten, was eigentlich problematisch scheint oder noch unbewiesen ist, oder do-

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siert Informationen, um den Partner nicht zu überfordern. Alles dies steht für ein Abwarten, weil der Augenblick für Belehrung ‚noch nicht‘ günstig erscheint. Diese Gesprächsstrategie ist zeitaufwendig. Aber Sokrates erweist sich dabei als ein Meister im Umgang mit der Zeit und im Aufspüren der ‚günstigen Gelegenheiten‘. Denn er weiß, wann er welche Information ins Gespräch einfließen lässt und wann ein ‚günstiger Augenblick‘ für den Einsatz bestimmter Gesprächsstrategien gegeben ist. Voraussetzung für den philosophischen Diskurs ist also, dass der Philosoph von zeitlichem Druck frei ist. Und genau diese Freiheit nimmt sich Sokrates in den Dialogen immer wieder, oftmals sehr zum Unwillen seiner Partner. Er diskutiert sogar darüber im Dialog ‚Theaitetos‘. Auf die Frage des Mathematikers Theodoros, ob man denn noch Zeit für weitere Diskussionen habe, erläutert Sokrates in diesem Dialog den richtigen Umgang mit der Zeit als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Philosophen und Rednern oder Politikern. Letztere seien nämlich stets zeitlich gehetzt und geprägt von Vielgeschäftigkeit (Polypragmosyne) und Zwang zu Neuerung und Erfolg, wie sie ihn verstehen. Sie machen sich dabei freilich gleichsam zu Sklaven der Wasseruhr und dies nicht nur vor Gericht.26 Der Philosoph jedoch verfügt selbstbestimmt über Verlauf, Länge und Ziel seiner Ausführungen und kann im Gespräch günstige Gelegenheiten erkennen, um sich mit dem Partner der Wahrheit nähern zu können. Anders als Sophisten wehrt sich Sokrates gegen jeden Zeitdruck und besteht darauf, seine Argumentationen in Ruhe zu Ende führen zu können. Er erweist sich als Meister des Zeitmanagements, der Entschleunigung, des Aufschiebens und des Wiederaufgreifens von Themen bei ‚passender Gelegenheit‘ und führt damit vor, dass und wie Entschleunigung ein wesentliches Merkmal des philosophisch-pädagogischen Argumentierens ist.

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Sokrates als ‚kairotischer‘ Pädagoge ‚Entschleunigung‘ und ein an Normen gebundener Umgang mit dem kairos zeichnen also den platonischen Protophilosophen Sokrates aus. Zu Beginn des Dialoges ‚Symposium‘ lässt Sokrates eine ganze Festgemeinschaft warten, nur um eine philosophische Überlegung zu Ende zu führen.27 Mit diesem Verhalten seines Protophilosophen macht Platon sinnfällig, dass ein Philosoph sich Zeit nehmen und bereit sein muss, aus dem normalen Zeitfluss auszubrechen, um mit seinen Partnern oder auch mit sich selbst Probleme diskutieren und Lösungen finden zu können. In den Dialogen inszeniert Platon ‚günstige Gelegenheiten‘ und reflektiert dabei ethische, rhetorische und pädagogische Implikationen von dem, was er unter kairos im Kontext philosophischer Wissensvermittlung versteht. Dabei zeigt sich, dass der kairos ein wesentliches Element jener ‚pädagogischen‘ Rhetorik und Bildungsvermittlung ist, der es nicht um eigene Bedeutsamkeit, sondern um das Wohl des Gesprächspartners oder der -partnerin geht. Platons Sokrates prägt damit eine Tradition und eine Auffassung von kairos und eines zeitlich entschleunigten Umganges mit Partnern, die sich dann bis in die Spätantike verfolgen lässt. Sokrates’ Kunst des Zeitmanagements oder des Aussetzens des Zeitdrucks und sein Bestreben, ‚günstige Gelegenheiten‘ zu suchen, um anderen geistig unter die Arme zu greifen, sind nicht zuletzt als eine Reaktion auf das Selbstverständnis der Polypragmosyne-Gesellschaft28 Athens im 5. Jahrhundert zu sehen, in der übertriebene Vielgeschäftigkeit und rastlose Suche nach Innovation als Ideal galten und deshalb zeitliche Beschleunigung akzeptiert, ja gefordert wurde, eine Lebenshaltung, die uns heute nicht fremd sein dürfte. Platons Forderung nach Entschleunigung und seine Wertschätzung des in seinem Sinne wohlverstandenen ‚günstigen Augenblickes‘ für einen Diskurs, dem am Wohlergehen der Partner liegt, sollten uns deshalb zu denken geben.

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„ R U H E & M U ß E “. V O M   S O N N TA G D E S L E B E N S R A L F KO N E RS M A N N

„Wo sind wir hier eigentlich?“ fragte Hatch. „Im Lande Nod“, sagte ich, und da lachten sie ungläubig und verstummten gleich wieder. John Banville, Geister Entscheidend ist der Singular. Wenn Hegel vom „Sonntag des Lebens“ spricht, dann meint er nicht freie Tage, nicht Auszeiten oder Erholungspausen, in denen wir aufatmen und uns fit machen für den Arbeitsalltag. Hegel hat den Sonntag des Lebens in den Szenen entdecken wollen, die uns aus den Gemälden der holländischen Maler entgegenblicken. Offensichtlich hatte er eine Schwäche für diese Monumente selbstbewusster Bürgerlichkeit, in denen er auf bildsprachlich überzeugende Weise „alle Schlechtigkeit“ aus dem Alltagsleben „entfernt“ sah. In diesen Kunstwerken, schreibt Hegel1, könne man den Menschen und seine Natur kennenlernen. Was Hegel in den Genrestücken der Barockzeit gesehen hat, denen er bei seinem Besuch in der Kasseler Gemäldegalerie im September 1822 und dann auf der anschließenden Reise durch die Niederlande gegenüberstand, ist die Vergegenwärtigung einer Ruhe, die sich weder ausweisen noch empfehlen muss. Der Sonntag des Lebens hat seinen Zweck in sich selbst. Es ist diese Selbstgenügsamkeit, diese tiefe Verwurzelung in einer ungefährdeten, mit sich selbst im Einklang be-

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findlichen Normalität, die es der Ruhe gestattet, sinnlich-sichtbar hervorzutreten: in den Allegorien des Friedens, der Fülle und – so der Titel einer um 1625 entstandenen Bilderfolge von Jordaens  – der Fruchtbarkeit. Offensichtlich ist es die, wie Hegel betont, von wahrer Könnerschaft getragene Einheit von Bild und Gegenstand, von Kunst und Leben, vielleicht darf an dieser Stelle gesagt werden: von Vernunft und Wirklichkeit, die den philosophischen Kunstbetrachter für sich eingenommen hat. In den Proben dieser Malerei sah er Thema und Darstellung auf überzeugende Weise zur Deckung gebracht. Nun ist Hegel alles andere als ein Idylliker gewesen, und nur selten hat er sich derart freimütig zu einer Passion bekannt. An anderer Stelle, namentlich in den Vorlesungen über Philosophiegeschichte, zeigt der Sonntag des Lebens ein anderes Gesicht. Hier, wo es um Ansprüche des philosophischen Wissens geht, ist der Sonntag des Lebens mit dem Makel der Einseitigkeit behaftet – der Einseitigkeit der religiösen Geisteshaltung, „wo der Mensch demütig auf sich selbst verzichtet“. Dieser Beschränktheit des sonntäglichen, dem Gottesdienst geweihten Daseins stellt Hegel die komplementäre Einseitigkeit der Werktage gegenüber, „wo der Mensch auf seinen Beinen steht, Herr ist und nach seinen Interessen handelt“.2 So sind also beide Daseinsentwürfe defizitär. Hier das ausschließliche und entsprechend beschränkte Hinsehen auf die nächstliegenden Gegenstände und Herausforderungen, dort, nicht weniger eng und beengend, eine Weise der Weltabgewandtheit, die das Absehen von den irdischen Bedürfnissen und Interessen verlangt. Hegel umreißt eine Situation der Zerrissenheit zwischen Vita activa und Vita contemplativa, die Konturen einer starren Doppelmoral. Der Philosophie weist er in dieser Situation die Aufgabe zu, solche von der Gewohnheit getragenen Daseinsumstände zu erschließen und ihnen allein durch dieses Kenntlichmachen den falschen Schein der Naturwüchsigkeit zu nehmen. Wie immer bei Hegel ist dieses Lösen und Befreien der Dynamik des geschichtlichen Werdens anvertraut, das all die Einseitigkeiten des menschlichen Wähnens aufnimmt und über die Bewusstlosigkeit des bloßen Dahinlebens hinausführt: über den Sonntag des Lebens, der bloß Untätigkeit

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und Langeweile ist, und ebenso über den Werktag des Lebens, der uns in den ‚Taumel‘ zielloser Veränderungen hineinreißt und – sind wir einmal in die Unruhe hineingeraten – anschließend nicht mehr loslässt.

Die Auskunft der Geschichte Dass, wie Hegel erwartet und erläutert hat, die Geschichte die Kraft ist, die den Wandel der Zeiten in der Spur des Gelingens hält, ist angesichts der seither gemachten Erfahrungen vielfach bezweifelt worden. Zum einen, hieß es, habe das Veränderungspotenzial der Geschichte mit Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft ihr Ziel erreicht und sich damit erschöpft;3 andere verwiesen auf das Geschichtszeichen ‚Auschwitz‘, mit dem ein zu Lebzeiten Hegels undenkbares „Unmaß des Geschehens“ hervorgetreten sei, das jede Art von Fortschrittsoptimismus, und so auch das Geschichtsverständnis Hegels, ein für alle Mal desavouiert habe.4 ‚Geschichte‘ ist jedoch nicht nur Heils- und Fortschrittsgeschichte – auch bei Hegel nicht. Sie ist ein verwirrendes Nebeneinander von jähen Abbrüchen und teils bewussten, teils unbewussten Weiterführungen und Wiederaufnahmen. Und in genau dieser Position  – als Vorgeschichte  – kann sie für uns, die wir auf sie zurückblicken, aufschlussreich sein: als unersetzliche Auskunft über das Zustandekommen jener Normalitäten, in denen wir leben und mit denen wir uns stillschweigend arrangiert haben. Die Vergangenheit ist der Ort, an dem einmal die Erfahrungen gemacht und die Erwartungen geweckt worden sind, aus denen das System der aktuellen Werthaltungen hervorgegangen ist. Indem wir im Raum des realen Geschehens zurückgehen in die Zeiten der Herkunft und der Entstehung, fällt der Blick von dort wieder zurück auf uns selbst, die wir, wie Hegel betont: ‚unbewusst‘ in der Konsequenz all dieser Wegscheiden, Festlegungen und Entschlüsse leben. Auch ohne den Anspruch der Vernünftigkeit des Geschehens überziehen zu wollen, ist es doch eben dieser Umweg über die Geschichte,

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der Aufschluss gewährt über die merkwürdige und auch auf den zweiten Blick noch erstaunliche Einstellung, die wir den Phänomenwelten der Ruhe und Unruhe entgegenbringen: einer Unruhe und werktäglichen Umtriebigkeit, auf die all unsere politischen und privaten Erwartungen gerichtet sind, obwohl sie uns leiden lässt und ordentlich auf die Nerven geht; und auf der anderen Seite einer Ruhe, mit der unsere Vorstellungen von Glück und Zufriedenheit von jeher verbunden sind und die uns doch, sobald wir sie ungestört genießen könnten, nach kurzer Zeit unerträglich vorkommt. „Wohl will ich die Ruhe & Muße“, schreibt Edgar Allan Poe in seinem großen Landschafts-Essay von 1847, „aber nicht das Deprimierende der Einsamkeit.“5

Das erlösende Wort Poe spricht von der Angst vor der Isolation, vor der Totenstille und dem Alleingelassensein, einer Angst, die uns aufschreckt und die am Ende dafür sorgt, dass uns die Unruhe als das kleinere Übel erscheint: als das Mittel, das uns den Schrecken des Stillstandes und der Ereignislosigkeit erspart. Bestätigt sehen wir uns dabei durch das erlösende Wort, das uns die Unruhe als Ausdruck der Lebensklugheit vor Augen stellt und alle Bedenken wirksam zerstreut: durch Versicherungen wie die, dass noch nicht aller Tage Abend ist und jeder es schaffen kann; dass wir nicht zurückbleiben und aus jeder Krise gestärkt hervorgehen; dass es so nicht bleiben kann und dass das Bessere der Feind des Guten ist; dass wir den Mut nicht sinken lassen, dass wir nichts versäumen, nicht trödeln und nicht zögern dürfen; dass wir mithalten müssen und den Anschluss nicht verlieren dürfen; dass man etwas aus sich machen, dass man vorankommen, durchstarten und öfter mal etwas Neues anfangen muss; dass wir uns immer wieder neu erfinden; dass wir die Hände nicht in den Schoß legen; dass wir mit der Zeit gehen und am Ball bleiben; dass wir immer wieder aufstehen und niemals aufgeben; dass wir Schritt halten, dass wir uns nicht festlegen dürfen, nicht einrosten, kein Moos ansetzen und nicht schlappmachen …

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Gemeinsam mit den Refrains aus den Charts („I’m So Excited“), den Filmtiteln („Run All Night“) und den Werbejingles („Always In Motion“) verdichten sich die Gemeinplätze der alltäglichen Mobilmachung, ohne sonderlich tiefschürfend zu sein, zu einem globalen Konsens des permanenten Aufbruchs, in dem für Langeweile und Monotonie, eben: für das Schrecknis der leeren Ruhe, zu unser aller Erleichterung kein Raum bleibt. Die Unruhe ist ganz wesentlich Zerstreuung, ist die garantierte Ablenkung von Leere und Ratlosigkeit. Hinzu kommt, dass wir uns bei dieser Hinnahme der Unruhe mit unserer Umgebung einig wissen dürfen. Mal um Mal erneuern die Glaubenssätze der Alltagsmoral das Bekenntnis zu dem, was durch das vorherrschende Meinungssystem, durch seine Regeln und Spruchweisheiten als normal bestätigt ist. Wie aber sind wir zu dieser Einstellung gekommen? Woher die verbreitete Sorge, nicht voranzukommen und auf der Stelle zu treten? Was ist das für eine Gedankenordnung, in der Stillstand als Rückschritt gilt, Abwarten als Lähmung und Einsamkeit als Ausgeschlossen­ sein? Wie konnte es geschehen, dass wir die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden, die einmal die Namen des Glücks gewesen sind, gegen die Verheißungen der Unruhe eingetauscht haben? Die offene Liste der einschlägigen Faustregeln und Ermun­ terungen lässt vermuten, dass wir es weniger mit einer natürlichen Veranlagung zu tun haben, mit dem arttypischen Verhalten des Homo sapiens s­ apiens, als mit einer jener Konventionen der Kultur, die darüber entscheiden, was für uns das Normale und, im nächsten Schritt, die Norm ist. Basis dieser Grundeinstellung ist die verbreitete, tief in der Geschichte der westlichen Kulturen wurzelnde Gewissheit, dass die Welt nicht ist, wie sie sein soll, und hinter der Idealvorstellung, die sie von sich selbst hat, in unerträglicher Weise zurückbleibt. Dieser Ausgangsbefund und damit verbunden die Überzeugung, dass ein richtiges Leben im falschen undenkbar sei, scheint nur einen Schluss zuzulassen: dass die Welt so, wie sie ist, nicht bleiben kann und unter allen Umständen zurechtgerückt werden muss. Die Welt muss verändert werden, und zwar so, dass diese Veränderungsbewegung bei Strafe des Untergangs nicht und niemals zum Stillstand kommt.6

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Die Ruhe verlieren Entscheidend für das Verständnis des Geschehens ist die Einsicht, dass es nicht auf wohlbegründete Überlegungen zurückgeht oder auf ausformulierte Programme. Niemand hat jemals für die Unruhe geworben, niemand hat Aufrufe und Kampagnen zur Verbreitung der Unruhe gestartet, sie verlangt, gepredigt oder gar erzwungen. Es gibt nicht den einen Ort oder Zeitpunkt, an dem wir die Unruhe gewählt und in sie eingewilligt hätten. Um das Glücksversprechen der Ruhe aufzugeben und in die Normalität der Unruhe zu finden, hat es vollkommen ausgereicht, sich nicht zu widersetzen. Die Anerkennung der Unruhe vollzog sich ohne unser Dazutun und mit charakteristischer Beiläufigkeit. Entsprechend aufwendig ist die Rekonstruktion dessen, was da geschehen ist und wie es möglich war – eine Rekonstruktion, die unweigerlich aus einer Lage heraus erfolgt, in der die Unruhe bereits Normalität geworden ist und weit über die Abläufe des Alltags hinaus Sprache und Gedankenwelt beherrscht. Um den Verlauf des Geschehens nachzuvollziehen – die Entstehung, die Duldung und Billigung der Unruhe auf Kosten der Ruhe ‒, sind deshalb Umwege unerlässlich. Wir müssen in jene Quellgebiete der westlichen Kultur zurückgehen, in denen die Vorverständnisse und Denkmuster aufgekommen sind, die sich im Halbdunkel unseres Denkens eingenistet haben und noch vor jedem förmlichen Entschluss über unsere Vorlieben und Wichtigkeiten entscheiden. Durchaus zu Recht hat man vom ‚Nachleben des Mythos‘ gesprochen. Es sind diese Restbestände, diese von den großen Erzählungen gebliebenen Urszenen und Einzelbilder, die sich erhalten haben und in unsere Entscheidungen und Entschlüsse hineindrängen. Eine solche Selbstbefragung zeigt zunächst, dass der Mythos nicht die Unruhe an den Anfang stellt, sondern die Ruhe: die Sorglosigkeit und das ungetrübte Behagen des Paradieses, in dem, wie Hegel angesichts der Nachbilder dieser Ruhe sagt, die Schlechtigkeit keinen Ort hat. Zu diesem Zustand des Ursprungs gehört allerdings auch, dass er nicht dauern kann. So machte der Sündenfall, von dem der religiöse Mythos erzählt, dem Zauber des Anfangs ein Ende. Indem das mensch-

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liche Urpaar gegen das göttliche Gebot verstieß, sagt diese Erzählung, musste die Ruhe des Ursprungs der Unruhe weichen – einer Unruhe, die eine leidvolle Erfahrung und als solche ein Zeichen war. Der religiöse Mythos versteht sich als Gleichnis, das denen, die das Elend der Unruhe erfahren, eine Erklärung anbietet, die sie nicht nur über das Geschehene aufklärt, sondern auch über sie selbst. Der Mensch soll sich als das Wesen erkennen, dem einst die Ruhe geschenkt war und das sie leichtfertig vertat. Die auf die Sündentat folgende Vertreibung – im Rahmen der biblischen Erzählung: die Geschichte Kains – erwies sich demnach als ein Wechsel der Welten: als der unwiderrufliche Übertritt aus der Normalität der Ruhe in die in diesem schicksalhaften Moment noch gänzlich unbekannte und zutiefst fremde Normalität der Unruhe. „Ruhelos und rastlos“, so das gegen Kain gerichtete Fluchwort des Schöpfers, „wirst du auf Erden sein“ (Gen 4,12)7. Der Satz ist an den Erben der elterlichen Sünde gerichtet, an ihn und all diejenigen, die ihm folgen sollten. Uns, die wir durch die Erzählung von dieser Weisung erfahren, geht auf, dass wir direkt angesprochen und, wie viele Jahrhunderte auch vergangen sein mögen, in das mit der Vertreibung ausgelöste Geschehen unentrinnbar verstrickt sind. Luther, in seinem Genesis-Kommentar, formuliert mit Bedacht im Präsens: „Denn das Kain widerfahren ist, das widerfährt allen.“8 So hat ein mythisches, literarisch hochverdichtetes Erzählstück genügt, um das Schicksal der Menschheit in den Horizont des uranfänglichen Verstoßenseins und der Unruhe zu stellen. Dass wir die Ruhe entbehren müssen – die wahre, die ursprüngliche Ruhe, die ein Gnadengeschenk war –, soll uns ein Zeichen sein, das uns sagt, wer wir sind und warum es uns nicht gelingen will, für länger als einen flüchtigen Augenblick mit uns selbst und der Welt im Reinen zu sein.

Die Ruhe finden Das ist die eine Erzählung, die jüdisch-christliche Meistererzählung vom Entzug der Ruhe. In Konkurrenz dazu steht eine andere, die philosophische Erzählung von der Ruhe, die prekär ist und leicht ver-

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lorengehen, aber auch, unter Anleitung einer auf Lebensnähe bedachten Philosophie, zurückgewonnen und gehalten werden kann. Der prominente Verfasser dieser Erzählung heißt Seneca, und um sie zu würdigen, muss man wissen, dass seine Gedanken einmal in ganz Europa und so auch in den flandrischen, von Hegel angesprochenen Künstlerkreisen derart geläufig war, derart prominent 9, dass, ähnlich wie im Fall des Aristoteles, die Nennung dieses Namens entbehrlich schien. Den Ausgangspunkt dieser Erzählung, die sich im Übrigen kaum jemals als förmliche Gegenerzählung präsentiert hat, bildet die Überzeugung, dass die Ruhe nicht erst, wie der religiöse Mythos verkündet, nach dem Tod zu erlangen ist, an der Seite Jesu Christi, sondern hier und jetzt, unmittelbar im Vollzug des gelebten Lebens selbst. Den Kunstbetrachter Hegel, der ansonsten aus seinen protestantischen Wurzeln kein Hehl macht, scheint die frühneuzeitliche Modifikation der christlichen Botschaft durch stoisches Gedankengut überzeugt zu haben. Die Ausgangsfrage Senecas lautet, wie das Leben der Menschen aussehen müsste, wenn es nicht nur hingebracht und in einer unruhigen Wirklichkeit mit Mühe ertragen, sondern im nachdrücklichen Sinn dieses Wortes geführt würde. Die Antwort lautet, dass die wahre, die gefestigte und haltbietende Ruhe sich als Selbstbestimmung verwirklicht, als das Ergebnis einer vernunftgeleiteten und konsequent gewahrten Disziplin. Seneca selbst konnte so sprechen, weil er seine Verhaltenslehre nicht lediglich als eine förmliche Ethik präsentierte, die über Normen und Werte befindet und das Verhalten durch Vorschriften und Anreizsysteme zu lenken versucht, sondern als eine Moral, die entschieden naturnah und wie mit den Sachen, so auch mit den Lebensbedürfnissen der Menschen im Bunde ist. So ergeben sich die Regeln der stoischen Therapeutik und Lebenskunst dem Anspruch nach aus sich selbst. Diese Schlüssigkeit zu erläutern, ist Sache der Philosophie. Während Platon das Prinzipienwissen vorangetrieben hatte, um zur Wahrheit der Ideen zu finden, hält die Stoa die menschlichen Bedürfnisse in Reichweite, die sie als bildbar beschreibt.

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Dem Leben Form geben Die auf die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte zurückgehende Trennung von Werktag und Sonntag entfällt. Aus stoischer Sicht ist der Mensch nicht das Unruhewesen, dem der arbeitsfreie Sonntag als Vorschein einer in diesem Leben unerreichbaren Glückseligkeit gegeben ist, sondern das Wesen, das von sich aus in einen selbstbestimmten Alltag finden kann: in den einen, durchlaufenden Sonntag des Lebens. Allerdings stellt sich die erhoffte Sorgenfreiheit nur ein, wo es gelingt, Verbindung zur Natur zu halten. Senecas Natur, er sagt es selbst, ist „mütterlich“. Sie steht ein für die Geordnetheit, aber auch für die Fülle eines Daseins, in dem die Menschen, nachdem sie ihre wahren, ihre natürlichen Bedürfnisse nun endlich auch anerkannt haben, nichts entbehren müssen. Indem es ihnen gelingt, eine dementsprechende Lebensform auszubilden, schwenken sie in jene Wirklichkeit ein, die, ganz unabhängig von den Exzessen der Unruhe, zeitlos fortbesteht. Diese Wirklichkeit, von der die Stoiker sprechen, ist nicht das Nächste und Allernächste, der Lärm der Welt, sondern die als Kosmos, als zeitlos gültige Weltordnung angesprochene Stille und Stetigkeit der Natur. Während speziell das Christentum zur Weltlosigkeit neigt, weil nach seiner Überzeugung die wahre Ruhe auf Erden nicht zu haben ist, rät die Stoa zur Öffnung gegenüber dem, was an der Welt wirklich ist, und das heißt: gegenüber dem, was durch den Status der Kosmizität immer schon bestätigt und im Sinne seiner Natürlichkeit als wirklich beglaubigt ist. So leistet am Ende die Philosophie, im Einvernehmen mit den Betroffenen selbst, den entscheidenden Beitrag. Alle Einsicht und Erkenntnis, wenn sie nur wahr ist und Bestand hat, klärt uns auf, versöhnt uns mit der Ordnung der Dinge, vertreibt die Angst und lässt uns über den Tag hinaus ruhig sein. Seneca selbst hat aus der Ambitioniertheit dieses Programms nie ein Hehl gemacht. Wir alle, sagt er, sind und bleiben ein Leben lang proficientes – Lernende. Die Frage jedoch, was das glückliche Leben ausmacht, beantwortet Seneca klar und eindeutig: „Sorgenfreiheit

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und dauerhafte Gemütsruhe“.10 Im Rückblick liest sich diese Auskunft wie eine Erwiderung auf das alttestamentarische Fluchwort. Die Ruhe, um die sich in der stoischen Klugheitslehre alles dreht, meint weder ein Wohlfühlerlebnis noch ein in den Tiefen des Bewusstseins vermutetes, den Widrigkeiten der Unruhe trotzendes Ich-selbst. Ruhe ist das, was sich einstellt, sobald der Einklang von Vernünftigkeit und Natürlichkeit hergestellt ist. Während das moderne Glück rauschhaft und augenblicksbezogen ist, will das Glück des römischen Schriftstellers Seneca ein Zustand sein, bei dem es auf jene Beständigkeit wesentlich ankommt, die selbst schon Bestandteil des Glücks ist. Es gilt, dem Leben Form zu geben, genauer noch: die ihm inwohnende Form herauszuarbeiten, die, da in ihr die Ordnung der Dinge zutage tritt, stabil und dauerhaft genug ist, um uns gegen die Schläge des Schicksals zu wappnen und über krisenhafte Momente hinwegzutragen.

Die Inquietät Längst haben die großen Erzählungen, die Erzählungen vom strafenden Entzug und von der klug geführten Wiedererlangung der Ruhe, ihre Überzeugungskraft verloren. Aus der Unruhe, die einmal ein Übel und ein Zeichen des Verhängnisses war, wurde die Erwartung, mithilfe der Unruhe und speziell der Unruhe des Wissens etwas der Ruhe Ebenbürtiges vollkommen neu zu erschaffen. Entscheidend ist an dieser Stelle die Einsicht, dass im Zuge all dieser Übernahmen und Fortentwicklungen der zentrale Gedanke des Mythos, der Gedanke der nachparadiesischen und in diesem Sinn verbesserungsbedürftigen Welt, erhalten blieb. An die Stelle der Vorsehung trat der Mensch, der, in eigenwilliger Adaption der alttestamentarischen Erzählung, zu der Überzeugung kam, dass ihm mit der Unruhe das Werkzeug der Weltbemächtigung an die Hand gegeben sei. Die frühneuzeitlichen Philosophen  – namentlich Francis Bacon und René Descartes – haben den Mythos, der vom Verstoßensein in die Unruhe gesprochen hatte, neu gelesen und als die bereits in

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grauester Vorzeit ausgegebene Lizenz verstanden, die doch offenbar gottgewollte Situation der Unruhe als Quelle unbestimmter Möglichkeiten anzunehmen. Aus dem Lande Nod, der Welt der Entbehrungen, der Mühsal und der Unruhe, wurde ein Aktionsraum, den es Zug um Zug zu erweitern und nach Kräften zu nutzen galt. Angesichts dieser Vorgeschichte halte ich die verbreitete Vorstellung, die Unruhe sei ansatzlos und plötzlich – etwa in Gestalt einer historisch beispiellosen Beschleunigung – über die eben noch intakte Welt des Herkommens hereingebrochen, über die Welt des Ursprungs und der natürlichen Geborgenheit, für verfehlt. Solche Darstellungen bleiben in der Spur des Mythos und klammern sich an sein zentrales Motiv: den Verlust des Paradieses. Die Unruhe ist etwas anderes. Sie ist weder Ausdruck einer ruckartigen, von anonymen Mächten erzwungenen Beschleunigung noch das Zeichen der vollendeten Sündhaftigkeit. Sie ist, im Gegenteil, genau das, was die europäische Zivilisation und ihre Geschichte ausmacht und worauf diese Kultur, nachdem der einst als Verlust empfundene Entzug der Ruhe in eine Chance umgedeutet war, gesetzt hat und immer noch setzt. Nicht die Unruhe ist das Neue der Neuzeit, sondern ihre bedingungslose Anerkennung, ihre totale Freigabe und überwältigende Normalität.

Die List der Geschichte Die Atmosphäre, um nicht zu sagen: die Botschaft jener niederländischen Genreszenen, vor Augen, hat Hegel nach einer philosophischen Antwort auf das Getriebensein durch eine Unruhe gesucht, die, wie er sagt, bloß ‚ziellose Veränderung‘ ist, und er hat sie gefunden: in Gestalt der Geschichte. Hegels ‚Geschichte‘ bedient sich, wie auf andere Weise auch die Vernunft, einer List. Sie ist der Versuch, der Unruhe der Welt wirksam und auf lange Sicht auch erfolgreich zu begegnen – nicht, um die Unruhe zu brechen oder einfach ins Leere laufen zu lassen, sondern um sie zu zähmen und in geordnete Bahnen zu lenken. Insofern trifft jene

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eingangs zitierte Kritik weniger Hegels Geschichtsverständnis als diejenigen, die den Begriff der Geschichte verkürzten, indem sie ihm den Automatismus einer Entwicklung unterstellten, die wie von allein in eine bessere Zukunft führt. Hegel meint es jedoch anders. Die Gesamtveranstaltung der Geschichte, von der er spricht, kann nur gelingen, wenn sie es vermeidet, sich mit falschen Freunden einzulassen, allen voran: mit der als Fortschritt verklärten Unruhe. Hegel hat seinen Begriff der Geschichte gegen das Getriebensein durch die Unruhe gestellt. Während sich die „absolute Unruhe des Werdens“11, von der er spricht, in regellos aufschießenden Beliebigkeiten und Übereilungen verliert, ist die recht verstandene Geschichte, wie Hegel nicht müde wird zu betonen, mit der Vernunft im Bunde. Die Vernunft ist das Kriterium, um zwischen der ziellosen Unruhe des bloßen ‚Geschehens‘ und dem Fortschreiten der ‚Geschichte‘ zu unterscheiden. Allerdings muss auch die Geschichte eben jene List gebrauchen, um das, wofür sie einsteht, zur Geltung zu bringen. Sie lässt, um jene berühmten Sätze aus Hegels geschichtsphilosophischen Vorlesungen anklingen zu lassen12, die Unruhe „für sich wirken“ und sieht gelassen dabei zu, wie sich die Unruhe in den Wirrnissen des Geschehens aufreibt und selber schwächt. Die Unruhe ist auf das Niveau eines bloßen Mittels herabgesetzt, und niemals ist sie, wie die Ruhe, in den Augen Hegels ein Zweck. Hegel selbst spricht es aus: „Die Weltgeschichte ist die Erziehung von der Unbändigkeit des natürlichen Willens.“13 Sie ist der Ort, aber auch die Macht, der Hegel die Bändigung der einmal freigesetzten Unruhe zugetraut hat. Diese Geschichte, dieser bei allen Turbulenzen zuletzt vernunftgemäße Fortgang in der Zeit, tritt zu den Dingen des Lebens nicht von außen hinzu, indem er etwa in Bewegung setzt, was anderenfalls starr und unbeweglich liegenbliebe. Eine solche Vorstellung entspricht dem Verstandesdenken, sie ist rein mechanistisch und, aus Hegels Sicht, zum Scheitern verurteilt. Die Geschichte, von der er spricht, kann auf derlei Eingriffe und Steuerungsphantasien verzichten, weil unmittelbar sie selbst, sofern sie sich an die Vernunft hält, die absolute Ruhe des Werdens und in diesem Sinn die Überwindung der Unruhe ist.

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Keineswegs also sanktioniert diese Art der Geschichte, was immer auch geschieht, als vernünftig. Namentlich die Erscheinungen der Unruhenormalität gehören im Gegenteil zu dem, was, nachdem es seine Schuldigkeit getan hat, ‚aufgeopfert und preisgegeben‘ werden muss. Auf der Basis dieses Geschichtsverständnisses bestimmt Hegel das Pensum der Moderne. Aus der Unruhe, aus dem innersten, bewusstlosen Trieb sieht er einen Prozess der Bewusstwerdung, einen Prozess der Annäherung von Wirklichkeit und Vernunft hervorgehen, in dessen Vollzug die Dynamik der Geschichte mit dem Freiheitsverlangen des Geistes übereinkommt. So sind also, folgt man Hegel, Sache und Begriff der Ruhe auf dem Boden der Neuzeit verdrängt und verschüttet, aber doch keineswegs verloren. Die Geschichte, soweit es in ihr vernünftig zugeht, bringt sie erneut an den Tag. Hegel selbst muss diese Prognose als derart gewagt empfunden haben, dass er, um sie zu verdeutlichen, zu einer Metapher greift. „Du bist ein guter Maulwurf “, zitiert er aus Shakespeares Hamlet14 und fügt erläuternd hinzu: „So arbeitet der Geist unter der Erde in dieser Ruhe.“ Der Geist, sagt diese Adaption, leitet die Geschichte, und er leitet sie in Ruhe – mögen wir, die in unserer Werktäglichkeit gefangenen Akteure, einstweilen auch wenig davon bemerken. Im Maulwurf findet Hegels Sonntag des Lebens so etwas wie sein Wappentier – in diesem Wühler, der sich abseits vom Trubel der Werktage durch die verborgenen Schichten der Wirklichkeit gräbt, in diesem Abweichler, der im Dunkel des Erdreichs unermüdlich sein Werk tut, in diesem Einzelgänger, der, wie es gleich auf den ersten Seiten der Phänomenologie heißt, verlässlich dafür Sorge trägt, dass „der Geist“, wie eh und je, „langsam und stille der neuen Gestalt“ seiner selbst entgegenreift: dem endlich über seine Einseitigkeit hinausgewachsenen Sonntag des Lebens, wie er uns aus jenen Bildwerken entgegenblickt.

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M U ß E ( S C H O L Ê ) B E I P L ATO N UND ARISTOTELES C H R I STO P H H O R N

Gewöhnlich verbinden wir den Begriff der Muße mit der Idee eines kultivierten Ausruhens oder reflektierten Innehaltens. Wer Muße pflegt, ist zwar nicht zwingend dem Vorwurf des Nichtstuns (des bloßen ‚Müßiggangs‘) ausgesetzt, aber er darf auch nicht geradezu hyperaktiv sein. Denn der Begriff der Muße steht im zeitgenössischen Deutsch (sofern man ihn überhaupt noch gebraucht) in einem Gegensatz zu Begriffen wie Unruhe, Stress, Hektik oder Betriebsamkeit. Anders der Wortgebrauch in den alten Sprachen. Dort bezeichnen die Ausdrücke scholê und otium insbesondere diejenige Zeit, in der man vom Erwerb des Lebensunterhalts und von anderen zweckorientierten Tätigkeiten, etwa der politischen Arbeit oder dem Kriegsdienst, freigestellt ist. Man kann in dieser freien Zeitspanne hochgradig aktiv sein; aber die in dieser Zeit betriebene Aktivität ist nichts, was einem äußeren Zweck folgt.1 Die Logik von Mittel und Zweck ist es, die den Begriff der scholê und des otium für Platon und Aristoteles und überhaupt für die Philosophen der Antike interessant macht. Daher beginne ich mit Überlegungen zum eigentümlichen Zweckcharakter von Muße; dabei zeigt sich, dass scholê von Aristoteles (weniger explizit auch von Platon) mit dem Glück (eudaimonia) zusammengedacht wird. Dann gehe ich zum Verhältnis von Muße und Weisheit über; denn eine Praxis der Weisheit bildet die eigentlich wertvolle Tätigkeit im Zustand der Muße.

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MUßE (SCHOLÊ) BEI PLATON UND ARISTOTELES 129

Dieser Gedanke findet sich ebenfalls sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles. Abschließend wird es dann um die politische Bedeutung von Muße gehen: Braucht man Muße auch in der sozialen Realität der Polis? Und wie muss eine Polis organisiert sein, um Raum für Muße zu lassen? Auch hier scheinen Platon und Aristoteles konvergierende Antworten im Sinn zu haben.

Muße als intrinsisches Gut In der Ethik der Antike gibt es eine breite Diskussion über das, was ‚in sich wertvoll‘ ist und warum dies gegebenenfalls zutrifft. In der mit Sokrates beginnenden Hauptlinie dieser Diskussion erscheinen diejenigen Ziele, die wir seit G.  E. Moore ‚intrinsische Güter‘ nennen, zum einen als die Objekte, Zustände oder Tätigkeiten, die vernünftigerweise abschließend wählens- oder erstrebenswert sind, und zum anderen als das, was für ein gelingendes menschliches Leben konstitutiv ist. Das lässt sich sowohl für Platon als auch für Aristoteles belegen. Platon unterscheidet in Politeia II (357b‒d) zwischen drei Güterklassen: (i) zwischen Gutem, das man nicht um seiner Folgen willen, sondern allein um seinetwillen anstrebt, zum Beispiel Wohlbefinden oder unschädliche Arten von Vergnügen; (ii) Gutem, das man sowohl um seiner selbst willen als auch wegen seiner Folgen erreichen will, zum Beispiel Vernünftigsein, Sehen oder Gesundsein; und (iii) Gutem, das allein wegen der günstigen Folgen erstrebt wird, zum Beispiel Sportübungen, medizinische Behandlungen und gewinnträchtige Berufe. Nach Platon kann jemand ein Gut entweder um seinetwillen (auto hautou heneka) wollen oder um der sich aus ihm ergebenden oder zumindest zu erwartenden Konsequenzen (ta apobainonta) willen – oder wie bei der mittleren Gruppe in beiderlei Absicht. Im Gorgias (466d–467e) will Platon überdies zeigen, weshalb man den Ausdruck ‚Wollen‘ (boulesthai) für das rationale Streben nach solchen intrinsischen Gütern reservieren sollte. Denn es sei ja gerade oft nicht der Fall, dass jemand dasjenige will, was er gerade tut (ho an prattou-

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sin hekastote: 467c6), sondern das, um dessentwillen er tut, was er tut (hou heneka prattousin touth’ ho prattousin: 467c6 f.). Drei Beispiele sollen dies illustrieren: nämlich die Einnahme von Medizin (pharmaka pinontes: 467c7), das Zur-See-Fahren (pleontes: 467d1) und das Betreiben anderer Geschäfte (gemeint ist: andere als Seehandel: ton allon chrêmatismon chrêmatizomenoi: 467d1 f.). Alle drei Fälle zeigen die gleiche Struktur, nämlich dass die betreffenden Personen vorübergehend Lästiges, Unangenehmes oder Gefährliches tun, um damit auf längere Sicht etwas anderes, für sie Gutes oder Wertvolles, zu erreichen. Entscheidend ist also der jeweilige letzte Handlungszweck (hou heneka), das heißt in den vorliegenden Fällen Gesundheit und Reichtum. Es ist allein dieser Zweck, von dem man sagen kann, dass er gewollt wird. Zur Präzisierung des Gedankens nimmt der Gesprächsführer Sokrates eine Einteilung in drei Klassen vor: in Güter (agatha), Übel (kaka) und Weder-Gutes-noch-Schlechtes (mête agatha mête kaka: 467e1–3). Zu den Gütern gehören Weisheit, Gesundheit und Reichtum, zu den Übeln ‚das Gegenteil‘ (also offenbar Dummheit, Krankheit und Armut) und zum ‚Mittleren‘ (ta metaxy: 468a5) Sitzen, Gehen, Laufen und Zur-See-Fahren sowie Steine und Holz. Er behauptet nun, dass zwischen den genannten Klassen nur folgende Beziehung angemessen ist: nämlich das Mittlere um des Guten willen zu wählen. Aus Platons Politeia und Gorgias kann man Folgendes lernen: Wir handeln häufig (oder gar in der Mehrzahl der Fälle) in Zielketten, das heißt in kürzeren oder längeren Mittel-Zweck-Folgen. Diese Zielketten müssen vernünftigerweise endlich viele Kettenglieder haben; mehr noch, sie müssen überschaubar lang sein. Zudem müssen Zielketten so beschaffen sein, dass intrinsische Güter an ihrem Ende stehen. Die Wahl dessen, was als intrinsisches Gut in Betracht kommt, ist aufgrund seiner Zielstellung nicht beliebig. Die Zweck-Mittel-Relation muss somit nicht nur effizient, sondern auch axiologisch angemessen sein. Beispielsweise ist Geld zwar ein Allzweckmittel (weil es sich in jedem möglichen Lebensplan vorteilhaft auswirkt), aber kein intrinsisches Gut. Intrinsische Güter sind solche, die den Gütercharakter instrumenteller (extrinsischer) Güter konstituieren. Nicht

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alle intrinsischen Güter sind in allen Fällen abschließend wählenswert. Das lässt sich am Phänomen der Lust illustrieren: Sie ist zwar immer intrinsisch gut, aber nicht immer liegt ihre Wahl im wohlverstandenen Interesse des Akteurs. Aristoteles erweitert die Liste intrinsischer Güter gegenüber Platon ganz erheblich. Für ihn fallen in diese Kategorie: Lust, Ehre, das Sehen (Nikomachische Ethik I.4, 1096b16–19), Wohlstand, Gewinn, Sieg und Ehre (VII.6, 1147b23–31; 1148a25 f. mit b3), das Wissen (Metaphysik A.1, 980a21–27) und Gesundheit, Schönheit, Wohlstand, Reichtum, Freundschaft, gutes Ansehen sowie bestimmte natürliche oder erworbene Fähigkeiten (Rhetorik I.6, 1362b12–28). Die Theorie intrinsischer Güter ist nun entscheidend für die Glückskonzeption. Alles, was wir im Sinn intrinsischer Güter um seiner selbst willen tun, ist für Platon und Aristoteles zugleich glückskonstitutiv. Das menschliche Leben ist demnach genau dann gelungen oder wählenswert (‚blühend‘), wenn es von einer geeigneten Ansammlung und Mischung intrinsischer Güter bestimmt wird. Eine besondere Rolle dabei spielen die Tugenden – also die stabilen personalen Haltungen der Exzellenz; aber dazu mehr im nächsten Abschnitt. An dieser Stelle kommt nun die Muße ins Spiel. Denn Muße bezeichnet denjenigen äußeren Zustand des Menschen, in dem man die Zweckzusammenhänge hinter sich gelassen hat. Natürlich ist zu ergänzen, dass man die Zweckzusammenhänge erfolgreich hinter sich gelassen haben muss, damit von wahrer Muße die Rede sein kann. (Man darf also zum Beispiel nicht zur Untätigkeit gezwungen und dabei existenziell bedroht sein.) Unter dieser Voraussetzung handelt es sich bei Muße aber geradezu um den Zielzustand des Menschseins – zumindest in äußerer Hinsicht. Das ruhige, zweckfreie Innehalten bildet den Zweck, auf den wir in aller Geschäftigkeit letztlich abzielen. Aristoteles geht daher in der Nikomachischen Ethik so weit, die Muße geradezu als zentrales Begleitmoment des Glücks anzusehen, wenn er sagt (X.7, 1177b4–6; vgl. Politik VII.15, 1334a14–16): „Auch scheint das Glück (eudaimonia) in der Muße (scholê) zu bestehen. Denn wir sind geschäftig, um Muße zu erlangen, und ebenso führen wir Krieg nur, um Frieden zu erreichen.“

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Aristoteles’ Aussage entspricht hier den Überlegungen, die ich anhand von Platons Politeia und dem Gorgias erläutert habe: Niemand, der bei Vernunft ist, führt Krieg um des Krieges willen; die Anstrengungen, Herausforderungen und Gefahren eines Krieges geht man nur ein, wenn man sich vom Kriegführen einen für sich selbst günstigen Frieden (etwa die erfolgreiche Abwehr eines Aggressors) verspricht. Entsprechend nimmt niemand eine bittere Medizin ein, es sei denn um seiner Gesundheit willen; niemand unterzieht sich einer schwierigen Prüfung, es sei denn um der Erlangung eines Bildungsabschlusses willen und so weiter. Die allgemeine These (von den Stoikern später als das eklogê-Argument bezeichnet) lautet: Vernünftigerweise wählen wir stets intrinsische Güter als Abschlüsse von Zielketten, während wir instrumentelle Güter (den Krieg, das Heilmittel oder die Prüfung) als Mittel zur Erreichung der intrinsischen Güter wählen. Und so muss man auch vernünftigerweise Muße um ihretwillen, ja sogar als abschließend erstrebenswertes Gut wie das Glück, wählen. Natürlich hat Muße etwas mit Wohlstand zu tun. Damit man in den Zustand sorgenfreier Unabhängigkeit kommen kann, muss man so weit privilegiert sein, dass man die Zweckzusammenhänge hinter sich lassen kann. Dieses Privileg genießen nur freie Personen – wobei ‚frei‘ zunächst im Sinn des juridischen Personenstatus aufzufassen ist. ‚Sklaven haben keine Muße‘ (ou scholê doulois), lautet daher eine Formulierung des Aristoteles (Politik VII.15, 1334a20 f.). Das Ideal der nicht zweckgerichteten Tätigkeit der Freien (eleutheroi, eleutherioi) schließt auch eine Abgrenzung zu anderen sozialen Statusgruppen ein, etwa zu den Bauern und Arbeitern (vgl. Politik IV. 6, 1292b 25–30 und VIII.3, 1337b33–1338a30). Ein interessantes Detail ist daher, dass nach Aristoteles Tyrannen sogar ihre freien Bürger an der Muße hindern (V.11, 1313a40-b5). Die ‚Freien‘ sind für Aristoteles aber auch ­unabhängig vom Rechts- oder Sozialstatus solche, die sich aus Zweckzusammenhängen herauslösen, um sich ganz dem eigentlich Wertvollen zu widmen. Und dies ist nach gemeinsamer platonisch-aristotelischer Ansicht die theoretische Aktivität der Philosophie. Aristoteles bestimmt das Glück bekanntlich auf der Basis einer ‚theoretischen

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Lebensführung‘ (bios theôrêtikos), die die für Menschen wesentliche und wertvollste Tätigkeit sein soll. Die scholê macht den Menschen autark. An der instruktivsten Stelle für die aristotelische Auffassung von scholê – in Nikomachische Ethik X.7 – kommt Aristoteles auf den Zusammenhang zwischen Autarkie und Betrachtung (theôria) ausdrücklich zu sprechen (X.7, 1177a22‒b4): „Ferner glauben wir, dass die Glückseligkeit mit Lust verbunden sein muss. Nun ist aber unter allen tugendgemäßen Tätigkeiten die der Weisheit zugewandte eingestandenermaßen die genussreichste. Und in der Tat bietet die Philosophie Genüsse von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit; natürlich ist aber der Genuss noch größer, wenn man schon weiß, als wenn man erst sucht. Auch was man Autarkie nennt, findet sich am meisten bei der Betrachtung. Was zum Leben erforderlich ist, dessen bedarf auch der Weise und der Gerechte und die übrigen. Sind sie aber mit dergleichen ausreichend versehen, so bedarf der Gerechte noch solcher, gegen die und mit denen er gerecht handeln kann, und das gleiche gilt von dem Mäßigen, dem Tapferen und jedem anderen; der Weise dagegen kann, auch wenn er für sich ist, betrachten, und je weiser er ist, desto mehr. Vielleicht kann er es besser, wenn er Mitarbeiter hat, aber immerhin ist er sich selbst am meisten genug. Und von ihr allein lässt sich behaupten, dass sie ihrer selbst wegen geliebt wird. Sie bietet uns außer dem Betrachten nichts; vom praktischen Handeln dagegen haben wir noch einen größeren oder kleineren Gewinn außer der Handlung. Die Glückseligkeit scheint nun in der Muße zu bestehen.“ Aristoteles argumentiert hier zugunsten der Vorzugswürdigkeit eines theoretischen Lebens gegenüber einer der Politik gewidmeten Tätigkeit. Aus der Glücksperspektive betrachtet, ist es unter anderem die Lustkomponente, die das theoretische Leben besonders wählenswert macht. Denn die Objekte der theoretischen Aktivität sind, so Aristoteles, von herausragender Reinheit und Beständigkeit (thaumastas

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hêdonas echein kathareiotêti kai tô bebaiô). Darum lässt sich im Umgang mit ihnen das Glück besser realisieren als an der schwankenden politischen Realität. Die notwendige Voraussetzung des theoretischen Lebens ist aber die Muße; Glück scheint geradezu in der Muße zu bestehen: dokei te hê eudaimonia en tê scholê einai (1177b4). Für die These vom perfekten Glück einer theoretischen Lebensführung unter den Bedingungen der Muße existiert eine weitere schöne Belegstelle bei Aristoteles, nämlich im Protreptikos (B43 f.). Dort wird das Glück des Philosophen mithilfe der poetischen Utopie eines Lebens auf den ‚Inseln der Seligen‘ beschrieben: „Am besten würde man erkennen, dass ich die Wahrheit spreche, wenn jemand uns im Geiste auf die Inseln der Seligen versetzte. Dort hätten wir keine Bedürfnisse, und keines der übrigen Dinge würde uns irgendeinen Nutzen gewähren; als einziges bliebe das Denken und das Philosophieren übrig, also eben das, was wir auch jetzt das freie Leben nennen. Wenn dies wahr ist, wie sollte sich da einer von uns nicht mit Recht schämen, wenn er die Möglichkeit hätte, sich auf den Inseln der Seligen ansässig zu machen, durch eigenes Verschulden dazu unfähig wäre. Keineswegs zu verachten ist daher der Lohn, dem das Wissen dem Menschen schenkt, und das Gute, das sich aus ihm ergibt, ist nicht gering. Genau wie wir nämlich, wie die Weisen unter den Dichtern sagen, die Früchte der Gerechtigkeit im Hades ernten, so auch, dürfen wir annehmen, die Früchte der Philosophie auf den Inseln der Seligen.“2 Es existiert bereits bei Platon eine markante Textpassage, die das Motiv des Freiseins von äußeren Zwecksetzungen mit der Idee der Philosophie verknüpft. Platon lässt seinen Gesprächsführer Sokrates im Theaitetos einen Gegensatz formulieren zwischen solchen jungen Menschen, die ihre Prägung in Gerichtshöfen erhalten, und solchen, die ihre Ausbildung von der Philosophie bekommen. Die Ersteren, so der Text, verhalten sich zu Letzteren wie Knechte zu Freien. Sokrates begründet dies damit, dass man vor Gericht Untersuchungen stets unter Zeitdruck anstellt, während man in der Philosophie stets ge-

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nügend scholê besitzen muss, um eine nicht sachgerechte Themenbehandlung durch eine neue zu ersetzen und diese dann so lange wie nötig auszuführen (172d4–10): „Sokrates: Insofern jenen das, was du eben nanntest, die Muße (scholê) niemals fehlt, und sie ruhig mit Muße ihre Untersuchungen anstellen, so wie wir jetzt schon die dritte, wie sie eine aus der anderen gefolgt sind, anknüpfen; so auch sie, wenn ihnen sich die eben darbietende besser gefällt als die bereits vorliegende, und es kümmert sie nichts, ob sie lang oder kurz reden, wenn sie nur das Rechte treffen. Die anderen aber reden immer im Gedränge, denn es treibt sie das Wasser zur Eile […].“ Den Philosophen fehlt es nie an Muße, weswegen sie beliebig neue und beliebig lange Untersuchungsketten eröffnen können, während Juristen immer dem Zeitmaß der Wasseruhr folgen müssen und daher stets unter argumentativem Druck stehen. Theoretische Tätigkeit setzt einen offenen Zeithorizont voraus. Als das Wertvollste, was wir tun können, konstituiert sie das Glück – aber nicht wie die Muße in einem äußerlichen Sinn, als Bedingung, sondern als beglückende Aktivität.

Die Muße und ihre Verbindung zur Weisheit (sophia) Unter ‚Weisheit‘ verstehen wir etwas sehr anderes, als es das griechische Wort sophia ausdrückt. Für unseren modernen alltagssprachlichen Gebrauch des Weisheitsbegriffs ist wohl ein Zitat aus Hermann Hesses Erzählung Siddharta (1922) besonders einschlägig: „Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.“3

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Man kann der Stelle aus Hesses ‚indischer Dichtung‘ folgende charakteristische Punkte entnehmen: Da ist zunächst die Meinung, Weisheit sei eine Orientierungskompetenz, die nicht wie Wissen erworben (also daher auch nicht gelernt) werden könne, sondern irgendwie erlebt, erfahren oder ‚gefunden‘ werden müsse. Hinzu kommt die Ansicht, Weisheit sei vorprädikativ und könne daher nicht mitgeteilt oder gelehrt werden. Und schließlich ist da die Idee, dass Weisheit mehr eine Haltung als eine epistemische Einstellung impliziere, etwas, das „einen trägt“ oder womit „man Wunder tut“. Platon und Aristoteles meinen alles das nicht; für sie bezeichnet sophia eine epistemische Maximalkompetenz, habitualisiert als Tugend, nämlich das Wissen von (ersten) Prinzipien und von (allgemeinsten) Ursachen. Vergleichbar ist lediglich, dass ‚Weisheit‘ in beiden Fällen eine herausragende und glückskonstitutive Haltung eines Individuums zur Welt bedeutet. Aristoteles behandelt sophia in zwei verschiedenen, eng miteinander verbunden Kontexten: einer epistemologischen Stufentheorie und in der praktischen Konzeption dianoetischer Tugenden. In Metaphysik A.2, 982a4–19 heißt es: „Da wir diese Wissenschaft suchen, wäre nun zu prüfen: Welche Ursachen und welche Prinzipien sind es, deren Wissenschaft die Weisheit ist? Wenn man nun die Ansichten hernähme, die wir vom Weisen haben, so könnte es vielleicht daraus eher deutlich werden. (a) Wir nehmen also erstens an, dass der Weise alles weiß, soweit dies möglich ist, ohne Wissen im Einzelnen von allen Dingen zu haben. (b) Sodann halten wir den für weise, der das Schwere und für den Menschen nicht leicht zu Erkennende zu erkennen vermag; denn das Wahrnehmen ist allen gemeinsam, daher ist es leicht und nichts Weises. Ferner meinen wir, dass (c) der Genauere und (d) der zum Lehren der Ursachen besser Befähigte in jeder Wissenschaft der Weisere ist. (e) Und dass von den Wissenschaften diejenige, die ihrer selbst wegen und um des Wissens willen gewählt wird, und (f) die gebietende (‚herrscherlichere‘) in höherem Maß als die dienende; denn der Weise muss nicht Anordnungen

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empfangen, sondern geben, und nicht er soll einem anderen gehorchen, sondern ihm der weniger weise.“ Für Aristoteles’ Verständnis von sophia scheinen mir die folgenden Punkte von Bedeutung zu sein: (1) Aristoteles reflektiert den zeitgenössischen Sprachgebrauch von sophia und erläutert ihn im Sinn von „Bestheit in einer praktischen Tätigkeit“. Für ihn bezeichnet Weisheit dagegen höchstes Wissen (über aisthêsis, mnêmê, empeiria und technê hinaus). Aristoteles kann daher ‚weise‘ im Komparativ verwenden: Wer über empeiria verfügt, ist weiser als der, der bloße aisthêsis hat; noch weiser ist derjenige, der technê besitzt, sodass der Baumeister mehr Weisheit hat als der bloße Handwerker; zudem enthalten die theoretischen Wissenschaften nach Aristoteles mehr Weisheit als die hervorbringenden Wissenschaften. (2) Weisheit ist Prinzipien- und Ursachenwissen; Wissen des Allgemeinen, nicht des Besonderen. Weisheit fundiert eine besondere Wissenschaft, die Erste Philosophie. Das Wissen der sophia besitzt die im Text angeführten Merkmale (a)‒(f). (3) Ein besonderes Merkmal der sophia ist ihr abschließender Charakter. Die Disziplin, die auf ihr beruht, ist daher als einzige ‚frei‘ (vgl. die spätantike und mittelalterliche Konzeption der artes liberales). Die Brücke zur praktischen Beschäftigung mit der sophia liegt darin, dass diese die einzige kognitive Disposition ist, die eine im Vollsinn intrinsisch wertvolle Tätigkeit gestattet. Die soeben zitierte Textstelle findet folgende aufschlussreiche Fortsetzung (Metaphysik A.2, 982a32‒b6): „Das Wissen und Verstehen um ihrer selbst willen kommt in höchstem Maß der Wissenschaft des in höchstem Maß Wissbaren zu; denn wer das Wissen um des Wissens willen wählt, wird die Wissenschaft, die in höchstem Maß Wissenschaft ist, in höchstem Maß wählen, diese ist aber die von dem in höchstem Maß Wissbaren; in höchstem Maß wissbar sind aber die ersten Dinge und

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die Ursachen; denn durch diese und aus diesen werden die übrigen Dinge erkannt, nicht aber diese durch das, was unter sie fällt.“ Im Bereich des Praktischen ist zunächst festzuhalten, dass sophia die oberste von insgesamt acht dianoetischen Tugenden ist, nämlich neben phronêsis, epistêmê, technê, nous, euboulia, synesis und gnômê (nach der Nikomachischen Ethik Buch VI). Weisheit meint dabei den Bestzustand des oberen Seelenteils, so wie phronêsis die Bestheit des unteren Seelenteils bezeichnet. Die Betätigung oder Ausübung der sophia führt zur theôria und impliziert den bios theôrêtikos. Die sophia spielt inhaltlich gesehen eine gewisse, wenn auch indirekte Rolle bei der Bestimmung der menschlichen eudaimonia. Als Tätigkeit betrachtet, liefert sie dagegen das hauptsächliche Konstituens des Glücks. In der Nikomachischen Ethik (VI.7, 1141a9-b8) heißt es dazu: „Offensichtlich ist auch, dass die Weisheit und das politische Wissen (politikē) nicht dasselbe sein können. Denn wenn die Leute das Wissen über das jeweils ihnen selbst Zuträgliche Weisheit nennen, dann wird es viele Arten der Weisheit geben. Denn es gibt nicht eine Weisheit, die sich auf das Gut aller Arten von Tieren bezieht, sondern für jede Art eine andere, es sei denn, es gäbe auch nur ein medizinisches Wissen in Bezug auf alle Wesen. Sagt man aber, dass der Mensch das beste unter den Tieren ist, so ändert das nichts. Denn es gibt andere Wesen, die in ihrer Natur noch viel göttlicher sind als der Mensch, zum Beispiel am deutlichsten diejenigen, aus denen das Universum besteht. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Weisheit (sophia) sowohl wissenschaftliches (epistēmē) als auch intuitives Erkennen (nous) derjenigen Dinge ist, die ihrer Natur nach die am höchsten geschätzten sind. Daher nennen die Leute Anaxagoras, Thales und derartige Menschen zwar weise, aber nicht klug, wenn sie sehen, dass diese das ihnen Förderliche nicht kennen; und daher sagt man auch, dass sie Dinge wissen, die außergewöhnlich, wunderbar, schwierig und göttlich sind, aber unbrauchbar, weil sie nicht die Güter für den Menschen suchen.“

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In dieser Passage geht es erneut darum, den besonderen Wert des theoretischen Lebens gegenüber der politisch-praktischen Tätigkeit hervorzuheben. Anders als in der vorhin zitierten Textstelle aus Nikomachische Ethik X.7 liegt der Akzent hier aber auf der Tugend der sophia, die dafür realisiert werden muss.

Die politische Bedeutung der Muße Platon fomuliert das Ideal einer Freistellung der Bürger erstmals in Politeia II. Dort, im Rahmen der Entwicklung des Ideals einer elementaren Polis, ist davon die Rede, wie die Bürger alles „gemäß ihrer Natur und zum rechten Zeitpunkt, in Muße von allen anderen Tätigkeiten“ am besten ausführen (370c4–5). Auf das richtige Maß von Muße, das angemessenes politisches Handeln erst ermöglicht, kommt er in Buch VIII der Nomoi zurück, wo er sagt (828d7–10): „Unsere Stadt ist hinsichtlich der Muße und der Ausstattung mit allem Notwendigen so beschaffen, wie man unter den heutigen keine zweite finden kann; denn sie muss ja auch, wie ein einzelner Mensch, gut leben.“ Platon parallelisiert an dieser informativen Stelle das Glück des Individuums mit dem der Polis. Ebenso wie das individuelle Glück darauf beruht, freie Zeit zu haben und mit allem Notwendigen ausgestattet zu sein, muss auch die Polis zum guten Leben Freiräume lassen – was besonders mit Blick auf den inneren Frieden zwischen den Bürgern hin betont wird. Im Anschluss an die oben bereits zitierte Passage aus Nikomachische Ethik X.7 verteidigt Aristoteles seine Bevorzugung des bios theôrêtikos mit zusätzlichen Überlegungen gegen die Auffassung, auch das politische Leben sei in vergleichbarer Weise glückskonstitutiv (X.7, 1177b12–24): „Aber auch die Politik verträgt sich nicht mit der Muße und verfolgt neben den öffentlichen Angelegenheiten selbst den Besitz von Macht und Ehren oder die Glückseligkeit für die eigene Person

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und die Mitbürger als ein Ziel, das von der Politik verschieden ist und das wir auch als ein von der Politik verschiedenes zu erreichen suchen. Wenn also nun zwar unter allen tugendhaften Handlungen diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, an Schönheit und Größe oben anstehen und sie trotzdem mit der Muße unvereinbar und auf ein außer ihnen liegendes Ziel gerichtet sind und also nicht ihrer selbst wegen begehrt werden, und wenn dagegen die betrachtende Tätigkeit der Vernunft an Ernst hervorragt, und keinen andern Zweck hat als sich selbst, auch eine ebenso vollkommene wie eigentümliche Lust in sich schließt, die die Tätigkeit steigert, so sieht man klar, dass in dieser Tätigkeit, soweit es menschenmöglich ist, die Autarkie, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt, sich finden muss.“ Der Text setzt den Akzent eindeutig so, dass sich die politische Aktivität nicht mit der Muße verträgt. Vielmehr soll umgekehrt gelten, dass in der Polis Freiraum für die theoretische Lebensführung, die allein selbstzwecklich ist, bereitgestellt werden soll. Derselbe Gedanke wird genauer in der Politik ausgeführt. Buch VII dieser aristotelischen Schrift behandelt bekanntlich die ideale Polis. In ihr soll es genügend Muße für die Bürger geben (Politik VII.15, 1334a11–19): „Da nun das Ziel für die Gemeinschaft und den Einzelnen dasselbe ist und demnach dieselbe Bestimmung gelten muss für den vollkommenen Menschen und die vollkommene Verfassung, so müssen augenscheinlich in den Verfassungen die auf die Muße hinzielenden Tugenden vorhanden sein. Denn das Ziel ist, wie schon gesagt, im Kriege der Frieden und in der Arbeit die Muße. Für die Muße und das freie Leben sind unter den Tugenden jene nützlich, die in der Muße ihr Werk tun, aber auch jene der Arbeit. Denn es muss viel Notwendiges schon vorhanden sein, damit man in Muße leben kann.“

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Die ideale staatliche Verfassung muss sich am Glück des Individuums orientieren und daher alles Notwendige für die auf Muße abzielenden Aktivitäten bereitstellen. In der Fortsetzung des Textes erscheint dann aber auch der Gedanke, dass die Philosophie – verstanden als habitualisierte Praxis – auf die Polis positiv zurückwirkt. Sie sorgt gleichsam dafür, dass die Bürger die scholê bestmöglich nutzen und nicht in einen Zustand des Müßiggangs und der Disziplinlosigkeit geraten (Politik VII.15, 1334a19–25): „Man bedarf also der Tapferkeit und Ausdauer zur Arbeit, der Philosophie zur Muße, und der Disziplin und Gerechtigkeit in beiden Fällen, vor allem aber, wenn man Frieden hält und Muße übt. Denn der Krieg zwingt zu Gerechtigkeit und Selbstzucht, aber der Genuss des Glücks und die Muße im Frieden macht die Menschen eher übermütig. Also brauchen besonders viel Gerechtigkeit und Selbstzucht jene, denen es vollkommen gut zu gehen scheint und die alle die seliggepriesenen Güter genießen – jene Güter, so wie sie sich nach den Dichtern auf den Inseln der Seligen finden. Solche brauchen am allermeisten die Philosophie und die Disziplin und Gerechtigkeit, je mehr sie in der Fülle solcher Güter in Muße leben.“ Hier erscheint wie schon im Protreptikos die Vision von der ‚Insel der Seligen‘ im Sinn eines perfekten Glückszustands. Er ist nach Aristoteles durch die Philosophie und durch Muße in Verbindung mit einer Fülle von Gütern bestimmt.

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DER SCHLAF UND DIE PA R T I Z I PAT I O N S PA U S E * L A M B E RT W I ES I N G

Die Menge an Texten über Bilder und Kunst ist unüberschaubar. Trotzdem möchte ich einen Vorschlag machen, wie sich diese Menge – sicherlich nicht vollständig – einteilen lässt: nämlich in zwei Gruppen, eine sehr große Gruppe und eine sehr kleine Gruppe an Texten. Da stehen auf der einen Seite Theorien, Argumentationen und Beschreibungen, die ich unter dem Titel Freunde des Erwachens zusammenfassen möchte. Auf der anderen Seite finden sich Überlegungen über Kunst und Bilder, deren Autoren eher als die Freunde des Schlafens angesprochen werden können. Aus meiner Sicht dominiert die erste Gruppe die gegenwärtige Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Wo man auch hinschaut, stets findet man Theorien, die das Bild und die Kunst in irgendeiner Form als eine Steigerung oder Verbesserung von etwas interpretieren. Durch Kunstrezeption soll es zu einer Art Weckung von unbewussten Leistungen kommen; etwas Unbewusstes soll zu Bewusstsein gebracht werden. Bilder, so wird hier argumentiert, bewirken eine Intensivierung – sei es der Wahrnehmung, sei es des moralischen Urteils, sei es der Imagination oder der Selbstreflexion. In jedem Fall wird etwas gesteigert, verbessert und aufgeklärt, und dies mit der Folge, dass die Betrachtung der Kunst als ein Intensivierungserlebnis, wenn nicht gar Erweckungserlebnis beschrieben wird. Manchmal ist sogar von Epiphanie die Rede.

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Die zweite Gruppe scheint mir ungleich kleiner, um nicht zu sagen sehr überschaubar, zu sein. Neben Wolfgang Ullrich – besonders deutlich etwa in seinem Buch An die Kunst glauben von 2011 – dürfte insbesondere auch Bazon Brock zu dieser zweiten Gruppe gezählt werden. Beide Philosophen wenden sich jedenfalls  – zwar nicht in gleicher Weise, aber doch gleichermaßen – gegen Kunsttheorien und Positionen, die das Bild als eine quasireligiöse Erweckung aus einem Tiefschlaf interpretieren. Seit den 1970er-Jahren argumentiert Brock gegen die von ihm so genannte „Gottsucherbande“ an, welche uns alle aus einem Verblendungszusammenhang aufwecken und aufrütteln will. Brocks Ästhetik des Unterlassens ist der vielleicht erste detailliert ausgearbeitete Beitrag zu einer Ästhetik, die bei der Beschreibung von Kunst nicht auf ein Steigerungs-, Verbesserungs- oder Erweckungsmodell setzt. Ich selbst würde meine Beschreibungen des Bildes ebenfalls dieser zweiten Gruppe zuordnen und möchte dies hier darlegen, indem ich auf eine fundamentale Ähnlichkeit von Schlafen einerseits und Bildrezeption andererseits hinweise. Meine These lautet: Die Besonderheit einer Bildrezeption gegenüber einer normalen Wahrnehmung ist keine Intensivierung der Wahrnehmung, sondern lässt sich durch einen Vergleich mit dem Schlafen bestimmen. Das Betrachten von Bildern ist bewusstseinstheoretisch in gewisser Hinsicht ein schlafähnlicher Zustand – das heißt: Es passiert mit mir im Zustand der Bildrezeption weniger. Wie der Schlaf, so führt auch die Wahrnehmung von Bildern zu einer Partizipationspause. Diese These möchte ich jedenfalls versuchen, phänomenologisch zu begründen. Ich schließe mich insofern einem Grundgedanken an, der von allen Phänomenologen geteilt wird: nämlich der Ansicht, dass die Wahrnehmung eines Bildes eine Wahrnehmung sui generis ist. Dies scheint unter Phänomenologen unstrittig zu sein: Wenn ein Bild gesehen wird, dann hat man es bei der Betrachtung des Bildes mit einer Wahrnehmung zu tun, die sich kategorial von der Betrachtung eines normalen Gegenstandes unterscheidet. Dieser Unterschied betrifft – das ist mein Vorschlag – den Zwang zur Partizipation.

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Der Zustand der Wahrnehmung ist nicht nur ein Bewusstsein der Gegenwart von etwas, sondern immer auch ein Bewusstsein des Dabeiseins, des Involviertseins. Wer wahrnimmt, muss leiblich am wahrgenommenen Geschehen partizipieren. Weil es meine Wahrnehmungen gibt, muss es mich als denjenigen geben, der für diese Wahrnehmung das Subjekt ist: eben als denjenigen, dem wegen der Existenz seiner Wahrnehmungen zumute ist, in der Welt unter den anderen zu sein. Es lässt sich von einer anstrengenden Zumutung der dauernden Anwesenheit in der Welt sprechen. Weil ich wahrnehme, bin ich mit dabei. Man könnte auch das Reiterlied aus Friedrich Schillers Wallenstein zitieren: „Da tritt kein anderer für ihn ein, / Auf sich selber steht er da ganz allein.“1 Doch – und diese erfreuliche Perspektive darf nicht übersehen werden – diese Zumutungen muss das Subjekt einer Wahrnehmung keineswegs immer hinnehmen: Wahrnehmungen sind endlich und vergänglich; sie können auf verschiedene Weisen aufhören und verschwinden – und wenn sie enden, so hören auch die Zumutungen für das Subjekt auf. Hier kommt der Schlaf ins Spiel: Schon ein kleines Nickerchen befreit mich von meiner Pflicht, in der Welt das Subjekt meiner Wahrnehmungen sein zu müssen. Durch Schlafen werden die Zumutungen der Wahrnehmung minimiert, ohne dass man aufhört, wahrzunehmen. Denn das alles Entscheidende am Schlafen ist, bewusstseinstheoretisch betrachtet, dass der Wecker funktioniert. Was so viel bedeutet wie: Man ist im Schlaf nicht bewusstlos; man bleibt ein wahrnehmendes Subjekt, denn ein Wecker, dessen Klingeln nicht wahrgenommen würde, könnte kaum jemanden wecken. Aber dennoch kommt es im Zustand des Schlafens für den Schlafenden nicht zu einer Partizipationserfahrung oder einem Eintauchen in die Welt: Im Moment des Einschlafens endet ein Wahrnehmen und mit ihm die Erfahrung des In-der-Welt-sein-Müssens – und genau dieses Enden des Wahrnehmens geschieht beim Einschlafen in einer Weise, für deren genauere Beschreibung die Unterscheidung von „Unterbrechung“ und „Pause“ hilfreich ist. In beiden Fällen hat man es mit Vorgängen in der Zeit zu tun: Sowohl Unterbrechungen als auch Pausen sind Phasen, in denen für eine

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gewisse Zeit etwas nicht ist, um dann wieder zu beginnen. Doch im Gegensatz zu einer Pause wird bei einer Unterbrechung die Phase des Nichtseins nicht als ein Teil des ausgesetzten Vorgangs verstanden oder empfunden. Man denke an den Schulunterricht: Während der Schulzeit gibt es Pausen; sobald aber ein Schüler nach dem Unterricht nach Hause geht, unterbricht er den Unterricht bis zum erneuten Beginn am nächsten Morgen. Die Nachmittage und insbesondere die Ferien sind keine Pausen, weil sie nicht als integraler Bestandteil des Schulunterrichts gelten. Wer hingegen eine Pause macht, für den ist diese Phase weiterhin der Teil eines größeren Vorgangs; während einer Pause verbleibt man noch in dem Prozess, von dem man eine Pause macht. Wer eine Pause macht, muss überzeugt sein, dass er auch in der Pause seine derzeitige Tätigkeit fortsetzt. Gerät man auf einer Autofahrt in einen Stau, so wird man diese Unterbrechung aus diesem Grund nicht als Pause ansehen, denn man meint eben nicht – jedenfalls in der Regel –, dass der Stau ein integraler Bestandteil der Autofahrt ist. Das ist der Grund, warum der Schlaf keine Unterbrechung der Wahrnehmung, sondern eine Pause ist. Man verlässt im Schlaf für eine gewisse Zeit den Zustand des Wahrnehmens – ohne wahrnehmungsunfähig zu werden. Man ist in einer Pause, in einer Phase der Entlastung; im Schlaf mutet die Wahrnehmung ihrem Subjekt weniger zu. Und das ist genau der Punkt, an dem ich anfangen möchte, die bewusstseinstheoretische Strukturaffinität zwischen einem Schlafenden und einem Bildbetrachtenden zu beschreiben. Der Schlaf und die  Bildbetrachtung  – das ist die These  – führen beide zu einer Partizipationspause. Wer ein Bild sieht, wird durch seine Wahrnehmung zwangsläufig in einen Ausnahmezustand versetzt. Nur in der Betrachtung eines Bildes ist ein Wahrnehmungserlebnis für den Wahrnehmenden nicht mit dem Zwang verbunden, selbst ein Teil des wahrgenommenen Geschehens sein zu müssen: Er muss nicht mehr partizipieren! Ausschließlich für den Fall der Wahrnehmung eines Bildes gilt: Der Wahrnehmende taucht nicht in die wahrgenommene Welt ein; Bilder sind wesentlich nichtimmersiv. Der Betrachter eines Bildes merkt

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eben, dass er ein artifizielles Bildobjekt sieht. Würde ein Bild immersiv sein, ließe sich die Wahrnehmung des Bildes nicht mehr von der Wahrnehmung eines normalen Gegenstandes unterscheiden  – und genau damit ist man wieder bei einer der notwendigen Folgen der Bildbetrachtung. Käme es zu dieser Folge, würde dieses Subjekt nicht mehr meinen, sich im Zustand der Bildwahrnehmung zu befinden. Das heißt aber: Eine Bildwahrnehmung ist nur dann gegeben, wenn in diesem intentionalen Zustand die ansonsten zwingend gegebene Immersionsleistung der Wahrnehmung außer Kraft gesetzt ist. Das Prinzip der Wahrnehmung, mich als ihr Subjekt ein Teil der wahrgenommenen Welt sein zu lassen, wird inhibiert. In der Tat ist die genuine Wirkung des Bildes auf die Wahrnehmung eine Art Neutralisation ihrer Folgen für das Subjekt. Ausschließlich Bilder sind in der Lage, etwas sehen zu lassen, ohne von mir dafür den Preis einer persönlichen Anwesenheit in der wahrgenommenen Welt zu verlangen. Beim Bild ist dies sogar die Regel: Ich kann etwas sehen, ohne deshalb durch meinen Wahrnehmungszustand mit dem Wahrgenommenen kausal verstrickt zu werden. Betrachtet man die Bildwahrnehmung von ihren Folgen her, dann besteht ihre Einzigartigkeit darin, bestimmte Folgen zu verhindern. Im Fall der Wahrnehmung von Bildobjekten hat man es mit weniger Nebenwirkungen als im Fall der Wahrnehmung gewöhnlicher Objekte zu tun. Das heißt aber auch: Die immersionsfreie Bildwahrnehmung ist eine immersionsbefreite Gegenstandswahrnehmung. Oder, um in der Immersionsmetaphorik zu bleiben: Bilder lassen mich aus meinem In-der-Welt-sein auftauchen. Es kommt zu einer kurzfristigen, künstlichen Neutralisation oder Außerkraftsetzung einer vorgängig durch die Wahrnehmung gegebenen Partizipation. Der Betrachter wird von der Zumutung der immersiven Wahrnehmung, nämlich der anstrengenden Daueranwesenheit in der wahrgenommenen Welt, entlastet; das Bild ermöglicht den Ausnahmezustand eines Frei-vonPartizipation-Seins. Das heißt aber auch: Von den Folgen her betrachtet, ist die Bildwahrnehmung keine Verbesserung, keine Steigerung oder Ergänzung der Normalwahrnehmung, sondern eine entlastende Reduktion. Nur dieser intentionale Wahrnehmungs-

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zustand verlangt von mir keine persönliche Partizipation am wahrgenommenen Geschehen – und das muss nicht unbedingt, kann aber ausgesprochen angenehm sein. Die Folgen der Bildbetrachtung für das jeweils wahrnehmende Subjekt lassen sich besonders leicht negativ beschreiben: In der Bildbetrachtung ist man nicht dabei, man partizipiert nicht; der Rezipient ist kein Teil des Geschehens, er gehört nicht dazu. Doch so hilfreich diese Beschreibungen auch sind, eine Beschränkung auf negative Aussagen ist letztlich immer unbefriedigend. Für eine positive Charakterisierung der Folgen der Bildwahrnehmung liegt ein ausgesprochen treffender wie verbreiteter Begriff geradezu auf der Hand: Meine Bildwahrnehmung lässt mich ein Zuschauer sein. Es ist eine unvermeidbare Folge der Betrachtung eines Bildes, dass der Betrachter durch diesen intentionalen Zustand zum Zuschauer wird. So wie der Teilnehmer durch seine vorhandene, so ist der Zuschauer durch seine fehlende Partizipation am wahrgenommenen Geschehen definiert: Zwischen einem Zuschauer und dem von ihm wahrgenommenen Geschehen gibt es – entweder im wörtlichen oder im metaphorischen Sinne – eine Distanz, sodass er nicht bei dem betrachteten Geschehen mitmacht. Genau eine solche Distanzierung ist aber beim Betrachten eines Bildes a priori gegeben und unterscheidet insofern einen Bildbetrachter grundlegend von einem innerweltlichen Zuschauer wie zum Beispiel einem Theaterbesucher. Ein Theaterbesucher ist keineswegs eo ipso ein Zuschauer; er wird zu einem solchen, weil er im Theater gegenüber dem Geschehen auf der Bühne eine dort übliche Haltung einnimmt. Beim Bild ist es genau umgekehrt! Beim Bild wird der Betrachter durch die Art der Wahrnehmung zwangsläufig zu einem unbeteiligten Zuschauer – unabhängig davon, ob er dies sein will oder nicht. Denn im Gegensatz zum weltlichen Zuschauer ist das Zuschauersein beim Bild keine Frage der Herangehensweise, sondern eine Folge des Zustands, in den ein Subjekt durch diesen Sonderfall der Wahrnehmung hineingerät: Der Zuschauer geht aus der Betrachtung des Bildes hervor. Das betrachtende Subjekt muss überhaupt nicht eine ästhetische Einstellung einnehmen, um sich in eine Distanz zum gesehenen Geschehen zu bringen. Der Unterschied

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besteht darin, dass ein innerweltlicher Zuschauer sich stets auf einem wackelnden Posten befindet: Solange das beobachtete Geschehen ein reales Geschehen in der Welt ist, bleibt denkbar, dass sich dieses in einer Weise entwickelt, die dem Zuschauer seine Haltung als unbeteiligter Betrachter nimmt und ihn nolens volens ein Teil des Geschehens sein lässt. Man kennt dies in verschiedenen Abstufungen: Ein Theaterbesucher wird heute immer damit rechnen, mehr oder weniger peinlich in die Aufführung involviert zu werden; andere Zuschauer müssen noch mit ganz anderen Entwicklungen rechnen: Letztlich ist jeder Zuschauer in derselben Situation wie die Besucher des Formel1-Rennens vom 10. September 1961 im italienischen Monza: Der Ferrari von Wolfgang Graf Berghe von Trips kommt nach einer leichten Kollision mit Jim Clarks Lotus in der zweiten Runde bei der Anfahrt zur Parabolisch-Kurve von der geraden Strecke ab, wird durch einen kleinen seitlichen Wall in die Luft geschleudert und fliegt durch einen läppischen Drahtzaun mitten ins Publikum. Vierzehn Zuschauer sterben noch an der Rennstrecke. Zwischen einem Bildbetrachter und einem Bildobjekt liegt kein räumlicher Graben, kein Rahmen oder Maschendraht, sondern eine kategoriale Kluft: Der Betrachter des Bildes blickt in eine physikfreie Zone. Und das bedeutet: Was selbst kein physisches Dasein hat, lässt sich prinzipiell ohne jegliche Gefahr für den Körper beobachten. Keine ästhetische Einstellung und kein noch so exklusiver Sitzplatz rücken einen Betrachter außer Reichweite der Kausalität. Das kriegt selbst der Schlaf nicht hin, es sei denn, man denkt an die Träume, welche auch das Bewusstsein von etwas sind, das nicht der Physik unterliegt. Deshalb gibt es den innerweltlichen Zuschauer, der stets wegen seiner eigenen Wahrnehmung selbst in der Welt ist, nur in der Form des Sehen-als: Man kann sich Teile der Welt oder auch ein Geschehen in der Welt als Zuschauer ansehen, das heißt: so, als wäre man nicht ein Teil des gesehenen Geschehens. Anders gesagt: Die Welt lässt sich zwar als Bild anschauen, sie ist aber keines. Solange das Betrachtete kein Bildobjekt ist, bleibt der Betrachter ein Teil derselben physikalischen Welt – weshalb mit aller Deutlichkeit gesagt werden muss: Wenn eine

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Metapher das menschliche Dasein nicht trifft, dann ist dies die vom Schiffbruch mit Zuschauer. Die Zuschauer sitzen letztlich immer im selben Boot. Eine Entrückung aus dem Kausalverkehr der Dinge in eine wirklich unbedingte Position der Sicherheit und absoluten Distanz ist ausschließlich dem Betrachter eines Bildes vergönnt: Hier und nur hier sehe ich das ganz andere und ganz Fremde, nämlich das, was ich als Wahrnehmender in der Welt nicht sein kann: ein freies sichtbares Sein, das nicht unter dem Diktat der Physik steht. Zu den bekannten Hoffnungen klassischer Zuschauertheorien gehört der Gedanke, dass in der Zuschauereinstellung individuelle Unterschiede zwischen Menschen unerheblich oder gar überwunden sind: Wenn Menschen Zuschauer werden, so die Idee, dann gleichen sie sich an und können daher – sowohl in ästhetischen, theoretischen wie auch ethischen Fragen – objektiver urteilen. So sind zum Beispiel für Kant ästhetische Geschmacksurteile mit Anspruch auf überindividuelle Geltung nur möglich, weil der Urteilende zuvor von seinen individuellen Neigungen und Wünschen gänzlich absieht und die Einstellung eines interesselosen Zuschauers einnimmt. Bei Husserl ein ganz ähnlicher Gedanke: Die phänomenologische Deskription hat mit universeller Epoché zu geschehen, weil nur mit dieser radikalen Zuschauerhaltung sichergestellt ist, dass nicht etwa über das individuelle menschliche Bewusstsein, sondern das Bewusstsein überhaupt gesprochen wird. Und für John Rawls sind es ausschließlich die unbeteiligten Gesellschaftszuschauer hinter einem veil of ignorance, die mit berechtigtem Anspruch auf Objektivität erkennen, welches Verhalten sozial gerecht oder ungerecht ist. Vor dem Hintergrund derartiger Hoffnungen scheint es nicht verwunderlich zu sein, dass in der Tat zu den Folgen der Bildbetrachtung eine regelrechte optische Entindividualisierung des Wahrnehmungssubjekts gehört – schließlich ist der Betrachter eines Bildes ein so perfekter Zuschauer, wie er in der Welt durch keine künstliche Haltung möglich ist. Diese Entindividualisierung des Subjekts im Zustand der Bildwahrnehmung lässt sich an mindestens drei Aspekten beschreiben: an der eigenen individuellen Verortung, an der eigenen Zeitlichkeit und der eigenen Sichtbarwerdung.

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1. Wenn ich ein Bild sehe, so ist dieser Zustand für mich mit der Folge verbunden, dass ich mich von anderen Subjekten, welche dasselbe Bild betrachten, doch beträchtlich weniger unterscheide, als dies bei der Wahrnehmung eines normalen Gegenstands der Fall wäre. Es geht um folgendes Phänomen: Es gehört zu den unvermeidbaren Folgen der Wirklichkeit meiner Wahrnehmung, dass ich durch diesen Zustand derart in die Gegenwart einer Sache gebracht werde, wie dies in diesem Moment nur einer sein kann. Dieselbe Sache können zwei Menschen nicht gleichzeitig in derselben Weise sehen, weil sie nicht gleichzeitig an derselben Stelle sein können. Das bedeutet für mich, dass mein Wahrnehmen mit der Folge verbunden ist, in der Welt ein Subjekt sein zu müssen, das sich räumlich notwendig von einem anderen wahrnehmenden Subjekt unterscheiden muss  – und das ist genau der Punkt: Die Bildwahrnehmung mutet diese individuelle Verortung ihrem Subjekt nicht zu. Die individuelle Verortung bleibt im Zustand der Bildwahrnehmung schlicht aus. Es gibt keine individuelle Sichtweise auf ein Bildobjekt. Mehrere Menschen können gleichzeitig dasselbe Bildobjekt sehen, aber sie sehen es nicht von unterschiedlichen Standorten aus – sie können dies auch nicht. Man mag noch so viel vor dem Bild herumlaufen, man findet keinen individuellen Ort der Ansicht. Das Bild weist seinem Betrachter einen Standort der Ansicht zu – und zwar: jedem denselben, keinem seinen eigenen, jedem meinen. Jeder sieht von dem Ort aus, an dem auch ich mich befinde. Mein Sehen von diesem Ort schließt hier nicht mehr aus, dass auch andere gleichzeitig von diesem Ort sehen können. Diesbezüglich sind alle gleich, weshalb sich sagen lässt, dass man es mit einer Entindi­ vidualisierung des Subjekts zu tun hat. 2. Wenn jemand einen Gegenstand zweimal wahrnehmen möchte, so muss er dafür den Preis zahlen, selbst älter werden zu müssen. Will man sehen, wie etwas morgen aussieht, so hilft es nichts, man muss warten! Man muss selbst die gleiche Zeit wie das wahrzunehmende Objekt durchlaufen. Die Partizipation des Wahrnehmenden an der wahrgenommenen Welt ist auch eine synchronisierte Partizipation an ihrer Zeitlichkeit: Alles, was wahrgenommen wird, ist, weil es wahrgenommen wird, ein alterndes Objekt zu einem bestimmten Zeit-

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punkt – nur das Bildobjekt nicht! Wenn die Zeit in ihrer Alterungswirkung am Aussehen des physikfreien Bildobjekts vorbeigeht, lässt sich auf Bildern zu verschiedenen Zeiten dasselbe sehen und das sehende Subjekt wird durch den Eintritt in den Zustand der Bildwahrnehmung zu einem Subjekt, das das Bildobjekt zwar zu einem bestimmten Zeitpunkt sieht  – aber nicht zu seinem Zeitpunkt –, und genau das ist eine enorme Entlastung: Weder den rechten Moment der Betrachtung noch den rechten Standort für eine Betrachtung kann man bei einem Bild verpassen. 3. Zu den notwendigen Folgen des Sehenkönnens gehört das Gesehen-werden-Können. Um in der Welt ein wahrnehmendes Subjekt zu sein, muss ich die Zumutung ertragen, selbst in der Welt für andere sichtbar zu sein. Das heißt nicht, dass mich immer jemand anderes wirklich sieht. Das heißt eben nur: Wenn ich sehen kann, muss ich selbst sichtbar sein. Genau diese Zumutung bleibt mir im Fall der Betrachtung eines Bildobjekts erspart. Man hat es hier also nicht mit dem Phänomen der Blindheit, sondern mit einem kategorialen Nicht-sehen-Können zu tun. Was ich auf einem Bild sehe, mag mich noch so viel anblicken: Da ist keine Stelle, die mich sieht. Nur auf einem Bild lässt sich etwas betrachten, ohne sichtbar dabei zu sein, ohne für das Gesehene überhaupt sichtbar zu sein, vollkommen distanziert und gänzlich teilnahmslos, was aber nicht heißt, dass sich das nur sichtbare Bildobjekt nur so – eben nur als das, was es ist – betrachten ließe. Das alles heißt nicht, dass man bei einem Bild am sichtbaren Geschehen nicht partizipieren kann – was ja wohl der Fall ist, wenn man im Kino über den Tod des Helden weint. Doch dies geschieht auf einer Basis des Wissens, nicht dabei zu sein, dies geschieht auf einer Basis, sich zur künstlichen Partizipation zu entscheiden. Wie gegenüber realen Dingen und Geschehnissen in der Welt, so lässt sich auch einem Bildobjekt gegenüber eine künstliche Einstellung einnehmen – allerdings nicht die des Zuschauers, denn das Bildobjekt wird immer schon aus einer unbeteiligten Zuschauerposition heraus gesehen. Man schaut sich ein Bild nicht als Zuschauer an, sondern, wer ein Bild sieht, ist ein Zuschauer. Man hat die genaue Umkehrung zu der Wahrnehmung von Dingen in der Welt: Diese Dinge lassen sich

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nicht als etwas Reales betrachten, denn sie sind wirklich etwas Reales, wenn sie wahrgenommen werden. Es wäre absurd, jemanden mit der Aufforderung zu konfrontieren: Lasst uns doch die Welt mal so betrachten, als ob sie eine reale Welt wäre. Doch nicht weniger absurd wäre die Aufforderung: Lasst uns das Bildobjekt doch mal so anschauen, als wäre es nicht wirklich anwesend. Bildobjekte sind Bildobjekte, weil sie nicht wirklich anwesend sind. Es lässt sich nur durch Verstellung so anschauen, als wäre es real. Im Fall der Weltbetrachtung führt das so Tun, als ob ich nur sehen kann, dazu, dass das Subjekt zu einem Zuschauer in der Welt wird. Hingegen im Fall der Bildbetrachtung wird das Subjekt mit genau derselben Verstellung zum künstlichen Teilnehmer am Geschehen. Wie stark die künstliche Partizipation an einer fremd und physiklos gegenüberstehenden Wirklichkeit auch sein mag: Der Zustand der Bildbetrachtung bleibt eine innerweltliche Partizipationspause. Man mag noch so aufgeregt mitfiebern und künstlich noch so tief eintauchen, diese Art der Partizipation am bildlichen Geschehen unterscheidet sich dennoch qualitativ von der Art der Partizipation, zu der ein Subjekt durch seine nichtbildlichen Wahrnehmungen gezwungen wird: Die artifizielle Partizipation führt zu keiner realen, leiblichen Präsenz im Bild; man wird durch die Wahrnehmung von Bildern nicht zu einem Teil im Bild. So gegenwärtig das Bildobjekt auch ist, so bin doch ich nicht im Bild gegenwärtig. Die Wahrnehmung von Bildern ist eine Wahrnehmung sui generis. Was jedem Subjekt einer Wahrnehmung unvermeidlich widerfährt, bleibt dem Betrachter eines Bildes genauso wie einem Schlafenden erspart: die Partizipation am Wahrgenommenen. Deshalb sind es die Ausnahmemomente der Bildobjektwahrnehmung, welche einem wahrnehmenden Subjekt eine regelrechte Partizipationspause vom In-der-Welt-Sein ermöglichen, welche das Subjekt für eine gewisse Zeit entlasten, den gesamten Umfang der persönlichen Folgen seines Wahrnehmens hinnehmen zu müssen. In diesen Zuständen der Bildwahrnehmung und des Schlafens wird mir weniger abverlangt. Ich nehme wahr, ohne selbst ein Teil zu werden; mit mir passiert weniger als gewöhnlich. Ob man dieses Weniger als Verlust oder als Befreiung bewertet, das mag sich wohl

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kaum auf eine allgemeine Regel bringen lassen. Das Spektrum der denkbaren Bewertungen ist allerdings leicht bestimmt: Die Partizipationspause lässt sich als artifizielle Weltflucht verdammen, aber auch als einen ersten Schritt in Richtung auf ein metaphysisches Paradies begrüßen. Wie immer die Bewertung ausfällt, die Besonderheit der Bildwahrnehmung, die die Unersetzbarkeit der Bilder und vielleicht auch ihr anhaltendes Faszinosum ausmacht, zeigt sich im Kontrast zur normalen Wahrnehmung: Meine Wahrnehmung zwingt mich, als ein realer Teil in einer realen Welt zu sein – und genau das geschieht weder während des Schlafes noch während der Bildbetrachtung, weshalb von einer grundlegenden Verwandtschaft dieser mentalen Zustände gesprochen werden kann.

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D E R W I L L E Z U M J E T Z T. MESSIANISMUS UND A P O K A LY P T I K JA N A S S M A N N

„Es ist Zeit, daß es Zeit wird“1, schrieb Paul Celan in seinem Herbstgedicht „Corona“, vielleicht im Gedanken an den Anfang von Rilkes Herbst-Gedicht „Herr, es ist Zeit“2. Vielleicht ist das ein Herbst-, ein Spätzeitgefühl: dass es nun Zeit ist, nicht nur, dass das Jahr zu Ende geht, sondern dass die Welt zu Ende geht. Jedenfalls waren weite Teile der Alten Welt in den Jahrhunderten um Christi Geburt in einem viel größeren Maßstab von diesem Gefühl ergriffen. Die Schriften, in denen es sich ausdrückte, fassen wir unter dem Begriff Apokalyptik zusammen. Von einem Ende der Welt wissen viele Religionen. Das Besondere der jüdischen, christlichen, manichäischen, islamischen Apokalyptik aber ist die Verbindung von Weltende und Weltgericht. Die Welt geht nicht grundlos zugrunde, sondern an dem Übermaß an Unrecht, Lüge, Schuld und Gewalt, das in ihr herrscht. Im Jahre 2000 erschien bei Bollati Boringhieri in Turin das Buch Il tempo che resta. Un commento alla lettera ai Romani (dt. Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief  3) von Giorgio Agamben. Es ging hervor aus Vorlesungen, die Agamben in Paris, Evanston und Berkeley gehalten hatte, und ist Jacob Taubes in memoriam gewidmet, ohne dessen Politische Theologie des Paulus4 es gar nicht denkbar und dem es in der Tat vielfach verpflichtet ist  – mit einem Unterschied ­allerdings: Agambens Zentralbegriff ist ‚Zeit‘, ein Stichwort, das bei

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Taubes nicht einmal im Sachregister vorkommt, und Taubes’ Zentralbegriff ist das Theologisch-Politische, das in Agambens Buch etwas unterbelichtet bleibt. Paulus, wie Taubes ihn sieht, versteht sich als zweiter Mose, der vor derselben Aufgabe wie jener steht: der Gründung eines neuen Gottesvolks. Das ist eine in erster Linie politische Aufgabe; daher fühlt Taubes sich in ganz besonderer Weise mit Carl Schmitt verbunden, den er für „den größten Staatsrechtler dieser Epoche“5 hielt. Agamben dagegen geht es um Paulus als den Vertreter und Verkünder einer neuen Zeit, die Agamben als „messianische Zeit“6 bezeichnet. Aber auch in dieser anderen Perspektive erweist sich Carl Schmitt als die führende Autorität, denn diese neue Zeit entspricht in geradezu paradigmatischer Weise dem, was Schmitt unter Ausnahmezustand versteht. Agambens Buch nennt sich ‚Ein Kommentar zum Römerbrief ‘, aber kommentiert werden eigentlich nur die ersten zehn Worte des Präskripts, in dem der Absender sich vorstellt. Diese Worte aber, das ist die These, enthalten in nuce den ganzen Brief. Das hatte schon Taubes gesagt: „Wenn man sich in dieses Präscript – wie man sagt talmudisch – vertieft, es steht alles drin. Man muß es nur rausholen.“7 Genau das hat Agamben unternommen. Seine Methode besteht darin, die zehn Wörter des incipit im Entwicklerbad einer philosophischen, aber teilweise auch philologischen und historischen Hermeneutik so zu vergrößern, dass die Themen des Römerbriefs an ihnen zum Vorschein kommen. Agamben entwickelt den Begriff der „messianischen Zeit“ im Sinne einer Frist zwischen dem „messianischen Ereignis“, wie er das nennt, der Auferstehung, und der ‚Parousie‘, der Wiederkehr des Messias am Ende der Zeit mit Weltende und Weltgericht.8 Diese Zwischenzeit ist nach Agamben die Zeit, die die Zeit braucht, um zu Ende zu gehen. Die messianische Zeit ist zusammengedrängt (synestalménos), ho kairós synestalménos estin, wie es im 1. Korintherbrief 7, 29 heißt. Synestalménos ‚zusammengedrängt‘ kommt in dieser Form nur hier vor. Das Verb begegnet noch einmal in Apostelgeschichte 5,6, in der Geschichte von Hananias, der einen Acker verkauft, das Geld Petrus gibt, aber einen Teil zurückbehält, dafür von Petrus gescholten wird

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und entseelt zu Boden stürzt. Die jungen Leute, heißt es, synésteilan autón, was mit ‚deckten ihn zu‘ übersetzt wird, aber besser wäre ‚rafften ihn zusammen‘ oder ‚rollten ihn ein‘ und trugen ihn fort. Die Zeit ist zusammengerafft. Wunderbar kommentiert Christian Lehnert dieses Wort. „synestalmenos, ein Partizip des griechischen Verbs systellein. Es bezeichnet eine Bewegung, die sich nach innen wendet, die etwas auf sich selbst zurückführt: […] verdichten, einschrumpfen, eindampfen, zusammenfalten, zusammenziehen […] Ein Segel kann gemeint sein, das eingezogen wird, oder ein Raubtier, das sich duckt vor dem Sprung, die zitternde Spannung der zusammengezogenen Muskulatur. Das Vergangene ist eingeholt, und alle Aufmerksamkeit ist auf das gerichtet, was kommt. Die Zeit – implodiert: Jetzt. Eine Katze duckt sich  – gleich schnellt sie in die Nacht […] Eine Klarheit durchdringt alles, was besteht, die Klarheit der Zukunft im Augenblick.“9 Das ist die zusammengezogene Zeit. Von systellein kommt systole: der Herzmuskel in der Phase der Kontraktion. Damit ist klar, was Paulus mit synestalménos meint. Entscheidend aber ist das Wort für ‚Zeit‘, das hier gebraucht wird: nicht chronos, sondern kairos. Darauf wird noch einzugehen sein. Zunächst zum Kontext. Dieser Satz steht in einem Abschnitt über das Leben im Modus des ‚Als-ob‘ bzw. ‚Als-ob-nicht‘, gr. hôs mē. Voraus geht: „Jeder bleibe in dem Stand (klēsis), in dem er berufen worden ist. Bist du als Sklave berufen worden, so laß es dich nicht kümmern; wenn du aber auch frei werden kannst, mach umso lieber Gebrauch davon. Denn der als Sklave im Herrn Berufene ist ein Freigelassener des Herrn; ebenso ist der als Freier Berufene ein Sklave Christi. Ihr seid um einen Preis erkauft; werdet nicht Sklaven von Menschen. Worin jeder berufen worden ist, Brüder, darin soll er vor Gott bleiben.“10

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Dann folgt nach einigen Versen: „Dies aber sage ich, Brüder: Die Zeit ist zusammengedrängt: daß künftig die, die Frauen haben, seien, als hätten sie keine, und die Weinenden, als weinten sie nicht, und die sich Freuenden, als freuten sie sich nicht, und die Kaufenden, als behielten sie es nicht, und die die Welt Nutzenden, als benutzten sie sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht.“11 Max Weber hatte dieses Prinzip des hôs mē als „eschatologische Indifferenz“12 bezeichnet. Angesichts des nahen Weltendes macht es keinen Unterschied, ob man Sklave oder frei ist. Was man gerade macht, wo man gerade steht, was man gerade ist, wird zufällig in der zusammengedrängten Zeit. Agamben spricht von der Verwandlung „jedes einzelnen weltlichen Zustands“, „wenn er mit dem messianischen Ereignis in Verbindung tritt“13. Das Prinzip des „‚als ob nicht‘ […] ist die Formel des messianischen Lebens und der tiefste Sinn der klēsis“ 14. Die messianische klēsis ist keine Berufung wie andere auch, sondern Widerruf, Aufhebung, Vergleichgültigung jeder Berufung. Im Rahmen des messianischen Lebens ist die klēsis eine Sache der chrēsis, des „Gebrauch[s]“15. Die messianische klēsis „besitz[t]“ man nicht, man „gebrauch[t]“, praktiziert sie im Sinne des ‚Als-ob-nicht‘: „die Kaufenden [sollen sein] als ob Nicht-Besitzende“. 16 In nicht weniger als drei Kapiteln seines Römerbriefs, Kap. 9–11, entwickelt Paulus, was Agamben seine „Theorie des Rests“17 nennt. Der Begriff des Rests spielt auch bei Taubes eine zentrale Rolle. ­Vielleicht hilft hier die Unterscheidung zwischen dem messianischen und dem geschichtlich-prophetischen Konzept des ‚Rests‘ weiter. Das  geschichtlich-prophetische Konzept des Rests basiert auf dem B egriffspaar Katastrophe und Rettung. Die Geschichte ist, an­ gefangen mit der Sintflut, eine Serie von Katastrophen, bei denen immer nur ein ‚Rest‘ überlebt. Paulus zitiert Jesaja: „Wenn die Zahl der Söhne Israels sein wird wie Sand am Meer – nur ein Rest wird gerettet.“18 Das m ­ essianische Konzept des Rests basiert dagegen auf dem Begriffspaar von Ereignis und Glauben. Das Ereignis  – die Auf-

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erstehung des Jesus Messias – ist das Gegenteil einer Katastrophe und doch spaltet auch dies die Menschen in Nichtglaubende und Glaubende, Untergehende und Gerettete. Glauben heißt in diesem Zusammenhang: glauben an die Messianität Jesu, dass Jesus der Messias ist. Paulus gibt sich ja große Mühe, vetus Israel, die Judenheit, die das nicht glaubt, von der Idee des Untergangs fernzuhalten. Sie bleiben Israel, werden aber erst am Jüngsten Tag wieder in die Gesamtheit (pas Israel) hineingeholt.19 Paulus’ Begriff für das, was Agamben messianische Zeit nennt, ist ho nyn kairos: die Jetztzeit, der gegenwärtige Augenblick. Kairos steht in Gegensatz zu chronos. Chronos ist die Zeit als kontinuierlich strömende Ausdehnung, in der die Dinge sich entwickeln gemäß der ihnen innewohnenden Energie bzw. Entelechie, kairos ist der Augenblick der Gelegenheit, den man beim Schopf ergreifen muss. So wird er als geflügelter vorbeieilender Knabe dargestellt, dem vorn eine Locke in die Stirn fällt, während der Hinterkopf kahlköpfig ist. Kairos ist Zeit im Zustand extremer Kontraktion (synestalménos), Zeit als Frist zwischen Vergangenheit und Zukunft, von zwei Seiten begrenzt. Agamben identifiziert diese beiden Grenzen des kairos als ‚diese Zeit‘ und die ‚kommende Zeit‘, paulinisch-griechisch aiôn oder kosmos toutos und aiôn mellōn, hebräisch olam hazzeh und olam habba, eingezwängt also zwischen der weltlichen Zeit, lat. saeculum, und der kommenden Ewigkeit des saeculum venturum. Es handelt sich also um eine Zwischenzeit, aber nicht um eine Zeit stillen Abwartens, das wäre chronos, sondern eine Gelegenheit zum Handeln und Gestalten, Entscheiden und Wirken, die ergriffen werden muss. Hierfür leiht sich Agamben von der Linguistik den Begriff der „Operative[n] Zeit“.20 Paulus lebt und schreibt bekanntlich noch ganz im Horizont der Naherwartung, die davon ausgeht, dass die Generation der jetzt Lebenden noch die Ankunft des Herrn und damit das Ende der Zeit erleben wird. Drei Stellen sind hier wichtig. Im 1. Thessalonicher-Brief geht es um die Frage, was mit denen wird, die gleichwohl schon vor der Ankunft gestorben sind:

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„Denn dies sagen wir euch in einem Wort des Herrn, daß wir, die Lebenden, die übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn, den Entschlafenen keineswegs zuvorkommen werden. Denn der Herr selbst wird beim Befehlsruf, bei der Stimme eines Erzengels und bei [dem Schall] der Posaune Gottes herabkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir allezeit beim Herrn sein.“21 Das entscheidende Wörtchen ist ‚bis‘ – ‚Wir, die übrigbleiben bis zur Ankunft des Herrn‘: ἡμεῖς οἱ ζῶντες οἱ περιλειπόμενοι εἰς τὴν παρουσίαν τοῦ κυρίου – eis parousian ‚auf die Parusie hin‘. Die andere Stelle steht im 1. Korintherbrief: „Denn wie in Adam alle sterben, so werden auch in Christus alle lebendig gemacht werden. Jeder aber in seiner eigenen Ordnung: der Erstling, Christus; sodann die, welche Christus gehören bei seiner Ankunft; dann das Ende, wenn er das Reich dem Gott und Vater übergibt; wenn er alle Herrschaft und alle Gewalt und Macht weggetan hat. Denn er muß herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat. Als letzter Feind wird der Tod weggetan.“22 Auch hier kommt es auf das ‚bis‘ an. Hier wird deutlich auf den Sinn der Verzögerung Bezug genommen. Jesus muss herrschen ἄχρι οὗ θῇ πάντας τοὺς ἐχθροὺς ὑπὸ τοὺς πόδας αὐτοῦ. ‚bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat‘. ‚Bis‘ wird hier in eindeutig zeitlichem Sinne mit achri hou ausgedrückt. Aus diesen Stellen ergibt sich dreierlei: 1. Die jetzt Lebenden werden die Parousie erleben. 2. Sie kommt, wenn der Messias seine Feinde besiegt haben wird. 3. Bis dahin feiern wir die Eucharistie, das heißt, wir formieren uns als Kirche und halten Gottesdienst, wie Er uns gelehrt hat.

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Es geht also bei ho nyn kairos um eine absehbare Zeit, eine Zeit der Entscheidung und des Kampfes, in der wir uns als Kirche einrichten im feiernden Gedenken der Passion. Kirche und Gottesdienst sind interimistische Platzhalter der Parousie, die mit der Ankunft des Herrn ebenso verschwinden wie ‚diese Welt‘, ho kosmos toutos, ha-olam hazzeh. Messianische Zeit als Ausnahmezustand, das ‚messianische Ereignis‘ als Ernstfall. Für Taubes ist Paulus, wie eingangs hervorgehoben, ein Erfüller und Überbieter von Mose als Gründer eines neuen Gottesvolks. Beide, Mose und Paulus, sahen sich mit dem Zorn Gottes konfrontiert, der nach der Episode mit dem Goldenen Kalb sein sündiges, abtrünniges Volk vernichten will. Mit Mose wollte Gott ein neues Volk beginnen, aber Mose lehnt ab. Paulus dagegen ergreift diese Chance und gründet ein neues Volk. Mose gelingt es, Gott mit dem Volk zu versöhnen. Taubes rekapituliert diese Szene nicht nach der biblischen Darstellung im Buch Exodus, sondern nach ihrer talmudischen Exegese, der Liturgie des Versöhnungstags und deren Deutung in Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung23. Für Paulus, schreibt Taubes, steht „die Gründung und Legitimierung eines neuen Gottesvolkes an. Das ist der dramatischste Vorgang, den man sich vorstellen kann in einer jüdischen Seele. Die Basis einer solchen Vorstellung ist doch, daß die orgé theou, der Zorn Gottes, das Volk vertilgen will, weil es gesündigt hat, weil es abtrünnig geworden ist.“24 „Der Witz der Sache“, resümiert Taubes in dem typischen Stil dieser Vorlesungen, „bestand darin, dass Paulus vor demselben Problem stand wie Mose. Das Volk hat gesündigt. Es hat den Messias, der zu ihm gekommen ist, verworfen.“25 Im Interesse der Legitimierung seines neuen Gottesvolks führt Paulus die Unterscheidung von sarx und pneuma ein. An die Stelle des ‚fleischlichen‘ Prinzips der Zugehörigkeit, der biologischen Abstammung und der Beschneidung als körperlicher Einschreibung, setzt er das ­‚geistige‘ Prinzip des Glaubens. Geist und Fleisch (= Beschneidung), Geist und Buchstabe (= Gesetz), das ist die zentrale pau-

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linische Unterscheidung. Agamben, der pneuma als ‚Hauch‘ übersetzt, scheint mir den Sinn dieser bahnbrechenden Unterscheidung zu verunklären. Auf der Unterscheidung von Fleisch und Geist beruht das neue Kriterium der Zugehörigkeit zum neuen Gottesvolk, das Paulus einführt. Von Mose bis zu Jesus bildeten die Beschneidung als ‚Zeichen des Bundes‘ (’ōt berît, Genesis 17.11 = sēmeion tēs peritomēs, Römerbrief 4.11) und das Beachten und Bewahren der Gebote das ausschlaggebende Kriterium der Zugehörigkeit zu ‚Israel‘ als dem erwählten Gottesvolk. Seit dem messianischen Ereignis der Auferstehunzg Jesu tritt der Glaube als Kriterium der Zugehörigkeit an die Stelle des Gesetzes und ‚verus Israel‘ an die Stelle von ‚vetus Israel‘. Verus Israel ist der gerettete ‚Rest‘ des ‚alten‘ Israel. Nicht auf Beschneidung und Gesetz kommt es an, sondern auf den Glauben an den Messias Jesus. Dieser Glaube ist etwas völlig Neues, und Paulus benutzt dafür das Wort pisteuein ‚vertrauen, glauben‘ in einem neuen Sinn und einer neuen grammatischen Konstruktion. Gewöhnlich wird pisteuein mit Dativ konstruiert – ­‚jemandem glauben‘ – und mit hoti ‚dass‘. Paulus aber führt die Konstruktion mit eis ‚in Richtung auf ‘ ein: pisteuein eis Xriston ‚an den Messias glauben‘. Diese Form ist uns völlig selbstverständlich geworden, aber im klassischen Griechisch kommt sie nicht vor. Dasselbe gilt für credere in ‚an jemanden glauben‘, auch das ist eine neue Konstruktion. Es handelt sich um recht massive Eingriffe in die Sprache, die auf die Neuheit und Wichtigkeit dieses neuen Begriffs ‚Glauben an‘ verweisen.26 Die Frage nach dem Kriterium der Zugehörigkeit ist eine politische Frage, sie betrifft unmittelbar die Dynamik der Assoziation und Dissoziation, die das Thema von Carl Schmitt in seinem Begriff des Politischen27 (1928) ist. Daher beruft sich Taubes auf Carl Schmitt, den „größten Staatsrechtler dieser Epoche“28. Allerdings sehe ich nicht, dass er sich Schmitts Begriff des Politischen im engeren Sinne zu eigen macht. Schmitt konstruiert bekanntlich seinen Begriff des Politischen über die Unterscheidung von Freund und Feind: „Die eigentlich politische Unterscheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“29 Die Menschen gruppieren sich, das ist seine These, nach

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Freund und Feind als dem leitenden Motiv von Assoziation und Dissoziation. Das bleibt aber im normalen Leben verborgen. Da werden mit den anderen Verhandlungen geführt, Verträge geschlossen und in verschiedensten Formen kommuniziert und kooperiert. Erst im Ernstfall des Krieges als der Stunde der Wahrheit enthüllt sich der wahre Charakter des Prinzips, nach dem sich die Menschen assoziieren und dissoziieren. Mit dem Begriff des ‚Ernstfalls‘ kommt auch hier die Zeit ins Spiel. So wie Heidegger das Leben vom Ernstfall des Todes her als ein ‚Dasein zum Tode‘, so bestimmt Schmitt vom Ernstfall des Krieges her den Staat als Dasein zum Krieg. Die Wahrheit der Existenz enthüllt sich nicht im Alltag, im Normalen, sondern im Ausnahmezustand, wie Schmitt, oder in der Grenzsituation, wie Jaspers sagt. Auch der ­jasperssche Begriff der Grenzsituation würde auf die messianische Zeit, wie Taubes und Agamben sie verstehen, gut passen, aber Jaspers’ Name wird von ihnen nicht zitiert. Klar ist jedenfalls, dass wir uns bei Schmitt, Heidegger und Jaspers im Denkhorizont des Existenzialismus bewegen. Der Begriff des Ernstfalls gehört zu einer Logik der Eskalation, die das ‚Wesen‘ einer Sache von deren äußerster Steigerungsform oder Grenze her bestimmt.30 Die Dynamik von Assoziation und Dissoziation erreicht im Ernstfall ihren höchsten Intensitätsgrad. „Die Unterscheidung von Freund und Feind“, schreibt Schmitt, „hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen.“31 Der Kriegsfall, schreibt Schmitt, ist der paradigmatische Ernstfall: „Man kann sagen, daß hier, wie auch sonst, gerade der Ausnahmefall eine besonders entscheidende und den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung hat. Denn erst im wirklichen Kampf zeigt sich die äußerste Konsequenz der politischen Gruppierung von Freund und Feind. Von dieser extremsten Möglichkeit her gewinnt das Leben der Menschen seine politische Spannung.“32

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Diese Theorie lässt sich nicht ohne Weiteres mit dem Problem der Gründung eines Gottesvolks in Verbindung bringen. Wer könnte denn der Feind sein, im Fall Mose und im Fall Paulus, der existenzielle Feind im Sinne Carl Schmitts, „unsere eigene Frage als Gestalt“?33 Pharao? Rom? „Der Fürst dieser Welt“?34 Diese Form des Zusammenschlusses funktioniert nur in Situationen eines starken Gefährdungsbewusstseins. Davon ist weder bei Mose noch bei Paulus die Rede. Was aber voll und ganz an Schmitts Begriff des Politischen und vor allem seiner politischen Theologie auf die urchristliche Situation zutrifft, ist der Begriff des Ausnahmezustands, denn hier geht es um eine zeitliche Kategorie. Der Ausnahmezustand spielt bei Agamben die entscheidende Rolle. Er sieht in Paulus den Verkünder einer neuen Zeit und deutet diese im Rückgriff auf Carl Schmitt als Ausnahmezustand. Im ersten Satz von Schmitts Politischer Theologie (1922) ist die Theorie bereits enthalten: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“35 Souverän, Ausnahmezustand, Entscheidung – das sind für Agamben die zentralen Begriffe. Der Ausnahmezustand besteht in allererster Hinsicht in der Aufhebung des im Normalzustand geltenden Rechts. Das ist genau, worum es bei Paulus geht, wenn er den Messias als „Ende des Gesetzes“36 bezeichnet und das Gesetz als Bindekraft der Gemeinschaft durch den Glauben ersetzt. Paulus verwendet dafür das Wort katargein ‚deaktivieren‘, ein Wort, das Luther mit ‚aufheben‘ übersetzt. Von hier, das ist Agambens Entdeckung, hat Hegel seinen Begriff der Aufhebung. (Ganz so überraschend ist das freilich nicht. Die paulinische Theorie vom Ende des Gesetzes – im Doppelsinn von Vollendung und zu Ende bringen – ist seit eh und je das Urmodell für die Denkfigur der Aufhebung.) Mit der Verkündung des Evangeliums geht es Paulus, das ist Agambens These, nicht darum, ein neues Gottesvolk (ekklesia) oder eine neue Religion zu gründen, sondern den messianischen Ausnahmezustand auszurufen. Unter den Bedingungen des bevorstehenden Weltendes („die Gestalt dieser Welt vergeht“37) kommt es nicht darauf an, sich in dieser Welt einzurichten, sondern für die kommende bereit zu sein. Das ist bestechend und doch ist nicht zu verkennen, dass Paulus mit seinen Briefen etwas, das

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er ekklesia nennt, aufbauen will, eine Institution, die – wenn auch nur interimistisch, für ‚die Zeit, die bleibt‘  – an die Stelle des vorübergehend abwesenden Messias treten soll. Mit dem messianischen Ereignis der Auferstehung ist der Ernstfall eingetreten, der das Gesetz außer Kraft setzt. Damit gilt der Ausnahmezustand der messianischen Zeit bis zur Wiederkehr des Messias zum Weltgericht, das der Zeit überhaupt ein Ende macht. Aber wer kann hier als der Souverän gelten, der über den Ausnahmezustand entscheidet? Ganz gewiss nicht Paulus, der sich immer wieder als ‚Sklave‘ (doulos) des Messias bezeichnet, in deutlicher Übernahme der Rolle Moses als ebed JHWH, Gottesknecht. Das ist vielmehr ganz zweifellos Jesus, den er durchgehend ‚Herr‘ (kyrios) und ‚Messias‘ (christos) nennt. Jesus selbst hat sich aber ebenso durchgehend als Gesandter Gottes, des Vaters, bezeichnet und sich seinem Willen unterstellt. Allerdings tat er das in einer Form, die einen grundlegenden Wandel des Zeitverständnisses bedeutet. Er muss eine ungeheuer bezwingende persönliche Ausstrahlung gehabt haben. Ich führe das auf seine Art zurück, im Augenblick zu leben. Normale Menschen leben im Fluss der Zeit, in Erinnerung und Erwartung, Erfahrung und Imagination, und entsprechend verdünnt ist für sie der Augenblick, der immer schon von vorher und nachher überschattet ist. Ganz anders bei Jesus. Er ist immer ganz da, ganz fokussiert, und entsprechend intensiv ist seine Ausstrahlung. Jesus – das ist geballte Gegenwart, unmittelbare Präsenz. Ich stelle mir das so vor, dass er sich in jedem Augenblick in unmittelbarem Kontakt mit seinem Vater fühlte, von dem er sich gesandt wusste. Er hatte nicht ein Projekt, ein Programm zu erfüllen, so wie das die Evangelisten von ihm glaubten, die immer wieder schreiben, dass dies und das geschehen musste, damit die Schrift erfüllt würde, sondern was es für Jesus zu erfüllen galt, war der unmittelbar empfundene Wille Gottes. So wie sein Leben war seine Lehre. In der jüdischen Tradition galt (und gilt) man als Rabbi, wenn man die Schrift in- und auswendig kennt und jedes Problem, jede Frage im Licht der passenden Schriftstelle lösen und beantworten kann. Jesus beherrscht natürlich auch diese Methode. Gefragt, welches Gesetz unter den 613 Geboten und

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Verboten der Thora das Wichtigste sei, gibt er die berühmte Antwort, die zwei Schriftstellen 5 Mose 6,5 und 3 Mose 19,18 miteinander kombiniert, die Gottesliebe und die Nächstenliebe. Typisch für ihn ist aber, nicht aus der Schrift wie alle anderen Rabbis, sondern aus der Vollmacht zu lehren. „Ich aber sage Euch …“ Die Autorität, die die anderen Lehrer aus der Schrift bezogen, die bezog Jesus unmittelbar aus dem Mandat seiner Sendung. Matthäus sagt, dass sich das Volk „entsetzte über seine Lehre, denn er lehrte sie mit Vollmacht und nicht wie die Schriftgelehrten“38. ‚Mit Vollmacht‘: Das verweist auf diese unmittelbare, aus keiner Vergangenheit und keiner Zukunft ableitbare Autorität, Geltung und Wahrheit, in der jedes Wort gesprochen, jedes Werk getan ist. Was Jesus auf diese bezwingende Weise Gegenwart werden ließ, war, was er das Reich Gottes nannte (basileia tou theou). Auch wenn es im Vaterunser heißt ‚Dein Reich komme‘, so war es mit ihm doch schon da, und wer ihn hörte, ihm glaubte und nachfolgte, der trat bereits ein in dieses Reich, das in seiner Auslegung nicht erst am Ende der Zeiten kommen und aller irdischen Herrschaft ein Ende machen sollte, sondern bereits neben der irdischen, römischen Herrschaft in Gestalt von Jesus gekommen war. Genau dies, diesen unbedingten Willen zum Jetzt, hat Paulus geradezu überfallartig erfahren, als er auf dem Weg nach Damaskus vom Pferd stürzte und für drei Tage blind war. Das Reich Gottes, das in der Gestalt des Messias Jesus bereits angebrochen ist, und das Weltende, das mit der Wiederkehr des Auferstandenen als Weltenrichter bevorsteht, konstituieren eine Situation, auf die der Begriff des Ernstfalls im schmittschen Sinne anwendbar ist, auch wenn es hier nicht um Krieg und den Feind, „die eigene Frage als Gestalt“39, sondern um das Weltgericht geht. Was die „gedrängte Zeit“40 des Urchristentums und der Ausnahmezustand des Ernstfalls gemeinsam haben, ist der Zwang, Farbe zu bekennen und sich auf die richtige Seite zu stellen. Im Neuen Testament gibt es eine Reihe von Stellen, die einerseits das nahe Weltende in den schwärzesten Farben ausmalen und andererseits betonen, dass es für die Christusgläubigen die ersehnte Erlösung bedeutet. Dazu gehört der 2. Petrusbrief:

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„Es wird aber des HERRN Tag kommen wie ein Dieb in der Nacht, an welchem die Himmel zergehen werden mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden verbrennen. So nun das alles soll zergehen, wie sollt ihr denn geschickt sein mit heiligem Wandel und gottseligem Wesen, daß ihr wartet und eilet zu der Zukunft des Tages des HERRN, an welchem die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen werden! Wir aber warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.“41 Der 1. Brief des Paulus an die Thessalonicher: „Von den Zeiten aber und Stunden, liebe Brüder, ist nicht not euch zu schreiben; denn ihr selbst wisset gewiß, daß der Tag des HERRN wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Denn sie werden sagen: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, so wird sie das Verderben schnell überfallen, gleichwie der Schmerz ein schwangeres Weib, und werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife. Ihr seid allzumal Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasset uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasset uns wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da trunken sind, die sind des Nachts trunken; wir aber, die wir des Tages sind, sollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung zur Seligkeit. Denn Gott hat uns nicht gesetzt zum Zorn, sondern die Seligkeit zu besitzen durch unsern HERRN Jesus Christus, der für uns alle gestorben ist, auf daß, wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben sollen. Darum ermahnet euch untereinander und bauet einer den andern, wie ihr denn tut.“42 Die Ordnungen der ‚Jetztzeit‘, die Paulus trotz all ihrer Zusammengedrängtheit und ihres nahen Endes durchsetzen will, sie gelten ‚bis‘,

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auf Zeit. So heißt es in seiner berühmten Wiedergabe der Einsetzungsworte: „Denn sooft ihr dieses Brot eßt und den Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis dass er kommt.“43 Was dieses ‚bis‘ bestimmt und befristet, ist das oder der katechon/katechôn. Es ist dieser Punkt, bei dem Agamben am intensivsten auf Schmitt zurückgreift. In seinem Pariser Streitgespräch 1986 mit Berding und Sontheimer charakterisiert Taubes das schmittsche Geschichtsdenken in Worten, die ebenso auf ihn selbst wie auf die These von Agambens Buch passen: „Für mich ist entscheidend, dass Schmitt verstanden hat, dass Geschichte ein Fristdenken ist. Denken in Fristen, dass Zeit eine Frist ist.“44 Eine antike, bereits bei Tertullian belegbare Tradition setzt diese Macht, die das Ende der Zeiten verzögert oder zurückhält, mit dem Römischen Reich gleich, das in diesem Sinn eine positive historische Funktion hätte (daher kann Tertullian sagen, dass „wir für das Bleiben der Welt beten [pro statu saeculi], für den Frieden der Dinge, für die Verzögerung des Endes [pro mora finis]“45). Diese Tradition gipfelt in Schmitts Theorie, nach der der 2. Thessalonicher-Brief 2 die einzig mögliche Grundlage für eine christliche Doktrin der Staatsmacht darstellt: „Diesem christlichen Reich ist es wesentlich, daß es kein ewiges Reich ist, sondern sein eigenes Ende und das Ende des gegenwärtigen Äon im Auge behält und trotzdem einer geschichtlichen Macht fähig ist. Der entscheidende geschichtsmächtige Begriff seiner Kontinuität ist der des Aufhalters, des Kat-echon. ‚Reich‘ bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegenwärtigen Äon aufzuhalten vermag, eine Kraft, qui tenet, gemäß den Worten des Apostels Paulus im 2. Thessalonicherbrief, Kapitel 2. […] Ich glaube nicht, daß für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Kat-echon überhaupt möglich ist. Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt.“46

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Schmitt stand ganz auf der Seite dieses Katechon, so wie er ihn verstand. Für ihn war es die Aufgabe nicht nur des Römischen Reichs, sondern jeden Staats, das Ende der Welt aufzuhalten. Taubes dagegen stand auf der Gegenseite, er war ein Apokalyptiker reinsten Wassers. In seinen Heidelberger Paulus-Vorlesungen sagte er: „Der Aufhalter, der das Chaos, das von unten drängt, niederhält – das ist nicht meine Weltanschauung, das ist nicht meine Erfahrung. Ich kann mir vorstellen als Apokalyptiker: soll sie zugrundegehen. I have no spiritual investment in the world as it is.“47

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WAS IST L ANGEWEILE? I N A K AT H A R I N A U P H O F F

„Wir wollen am Ende nicht von ihr wissen, sondern suchen ihr ständig zu entgehen“1, schreibt Heidegger und konfrontiert uns mit einer schlichtweg verachteten Zeitgestalt. Jeder kennt sie und weiß um das klebrige Gefühl der „dumpfen Dauer“2, um das „lähmende Rendezvous mit dem reinen Zeitvergeben“3, die scheinbar sinnentleerte Erfahrung der Ödnis, der Apathie und des unnachgiebigen Stillstands. Langeweile ist der Gegenbegriff zur Faszination des Moments, zum Zauber des Besonderen und zum reichhaltigen Erleben. Sie kann uns als triviale und ermüdende Wiederholung des Immergleichen, als Antriebshemmung oder Mangelgefühl erscheinen; gepaart ist sie stets mit einer unerträglich scheinenden zeitlichen Dehnung. Mit ihr wird die wortwörtliche Streckung der Zeit als ‚lange Weile‘ unmittelbar erfahrbar – oder in Bollnows Worten: „Die Zeit wird lang im Zustand der ‚Langeweile‘. Die Minuten schleichen hier mit ungeheurer Langsamkeit dahin. Eine bestimmte Zeitspanne will gar kein Ende nehmen und tut dies umso weniger, je mehr man darauf wartet.“4 Will man das Wesen der Zeit an sich ergründen, so lohnt sich der Sturz in die Zeitlichkeit der Langeweile, denn in ihr spüren wir die Zeit als uns erschöpfende Abfolge von Sekunden, Minuten und Stunden in zäher Monotonie. Doch das Erleiden der Langeweile ist nicht etwa das Ergebnis eines Entschlusses – vielmehr umfängt uns die Langeweile ungefragt und unaufgefordert. Auch deswegen ist sie uns so verhasst, weil sie uns einfach überkommt. Wir werden zum wehrlosen Spielball

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der Langeweile, die uns gnadenlos auf uns selbst zurückwirft. Mit sich nichts anzufangen wissen, das ist ein Moment der zu ertragenden Zumutung. Eben selbst kein Anfang mehr von etwas sein zu können – darin gelangt die Langeweile zu ihrer ‚tiefen‘ Dimension. Diese hat philosophisches Potenzial und wird als Grundstimmung von Heidegger in seiner Vorlesung „Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit“ eingehend analysiert. In einer Steigerung unterscheidet er drei Formen der Langeweile – denn Langeweile ist nicht gleich Langeweile. Die erste Form beschreibt das ‚Gelangweiltwerden von etwas‘. Uns kann etwas langweilen, zum Beispiel ein Buch, eine Sendung, ein Gespräch, ein Mensch. „Das Langeweilende und Langweilige ist eindeutig, ist uns bekannt. Wir wissen: das und das langweilt uns.“5 Es ist eine situative Form der Langweile, die auf Konkretes bezogen ist. Anders die zweite Form der Langeweile, das ‚Sichlangweilen bei etwas‘. Wir sind lustlos, können aber nicht genau benennen, woran es liegt. Es ist ein „unbestimmtes Langweilendes“6, was die Situation gleichwohl schwieriger macht. Eine Leere breitet sich aus und „diese sich bildende Leere ist dieses ‚ich weiß nicht was‘ – das, was uns mehr oder minder bedrückt“7. Bei der ‚tiefen‘ Langeweile nun, als dritte Form, langweilt die Langeweile als solche: „Es ist einem langweilig.“8 Ein ihr Entgehen ist schlichtweg nicht möglich. In dieser letzten Variante wird die Langeweile erst wesentlich und umgreifend. Sie ist radikal und führt auf das rückhaltlose Sein und die Last der Existenz als solcher zurück. „Das Seiende versagt sich im Ganzen“9, betont Heidegger. Dabei ist die erste und zweite Form der Langeweile nicht etwa eine Vorstufe der dritten  – vielmehr haben beide Formen der Langeweile ihren Ursprung als Bedingung der Möglichkeit gerade hier: Im Grunde des Daseins „lauert“ beharrlich die Option der tiefen Langeweile und darin liegt zugleich der Grund für unser ständiges Bemühen, sie niederzuhalten.10 Die Langeweile ist quasi immer schon da – gleichwohl nicht stetig spürbar. In einer „verlogenen Selbstsicherheit“11 ist sie unbemerkt, solange es gelingt, sich langweiliger Dinge und Beschäftigungen möglichst schnell zu entledigen und die eigene Zeit sinnvoll und tätig auszufüllen. Das ist die Logik, die dem Bedürfnis nach rechter Nutzung

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der Zeit folgt und die vita activa umgreift. Mit dem Diktum der erfolgreichen Zeitgestaltung begegnet man jedoch lediglich der Langeweile als Krise der Zeit, nicht jedoch der krisenhaften Rückgeworfenheit auf sich selbst. Jenseits der quantitativen Zeitmessung liegt also eine qualitative Erfahrung. Langeweile ist eben beides –„eine Zeit- und Sinnkrise“12. Und sie verrät mitunter mehr über den Menschen, als über die Zeit an sich. Das mussten schon die mittelalterlichen Mönche schmerzhaft erfahren – noch ohne den Begriff der Langeweile zu kennen: Sie litten an Acedia, quasi die ‚Vorläuferin‘ der Langeweile. Der Acedia ist das Krisenhafte bereits inhärent, ebenso wie die Diffamierung. Sie zählt zum Sündhaften und ist vor allem im frühen Mönchtum ein schweres Laster, das das monastische Leben an sich bedroht. In den mittelalterlichen theologischen Schriften wird Acedia eigens aufgeführt und in ihrer Problematik nachdrücklich ­beschrieben.13 Die geistig-seelische Erfüllung bleibt aus und eine ­religiöse Resignation macht sich breit. Als Trägheit, Unlust und Überdruss führt sie zu einer Abwendung von Gott und damit zur Verfehlung christlichen Lebens schlechthin. Denn das Seelenheil hängt von der Identifikation mit und dem Streben nach Gott ab. Eine Erlösung der Seele ist mit verdrossener Gleichgültigkeit nicht denkbar. Acedia wird zur Todsünde. Der Verdruss als Langeweile kommt im 17. Jahrhundert in den Sprachgebrauch. Viel zitiert sind hier die Ausführungen Blaise Pascals, der die erlebte Langeweile zum Gegenstand seiner „Gedanken“ über die Welt und den Menschen macht.14 Was er früh beschreibt, ist der schier endlose Kreislauf fortwährend notwendiger Zerstreuung zur Verhinderung der Langeweile. „So verrinnt das ganze Leben; man sucht die Ruhe, indem man gegen einige Hindernisse kämpft, und wenn man sie überwunden hat, wird die Ruhe unerträglich wegen der Langeweile, die sie erzeugt. Man muß sie aufgeben und sich eifrig ins Getümmel stürzen.“15 Es ist die innere Leere des Menschen, die ihn zur Betriebsamkeit antreibt und zur dauernden Beschäftigung drängt, wobei Pascal noch den Ausweg durch eine Hinwendung zu Gott offenlässt. Diesen Trost hält die säkularisierte Welt kaum mehr bereit. Die Aufgabe der Sinnstiftung wird dem Menschen selbst überantwortet

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und das glückliche Leben im Diesseits eingefordert. Die eigene Zeit darf der Mensch nicht ungelebt verstreichen lassen. So wird, begleitet durch die Neubewertung der menschlichen Gefühle und den Aufstieg der Anthropologie im 18. Jahrhundert, die Langeweile zu einem eigenen Thema. Sie hält in moralischen Wochenschriften Einzug, erfährt eine literarische Bearbeitung und wird in philosophischen Abhandlungen gewürdigt.16 Der Blick auf die Zeitwahrnehmung wird um das seelische Unbehagen erweitert und eine Verpflichtung zur Ausgeglichenheit des Gemüts eingezogen. Kant schreibt in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ im Kapitel über Lust und Unlust von der „drückende[n], ja ängstliche[n] Beschwerlichkeit der Langeweile für alle, welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind“17. Die Zeit nicht aktiv zu gestalten, befördert das Leiden an ihr. „Die wahrgenommene Leere an Empfindungen erregt ein Grauen (horror vacui)“18 und so gelangt Kant zu der notwendigen Folgerung: „das Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben (vitam extendere factis), ist das einzige sichere Mittel, seines Lebens froh und dabei doch auch lebenssatt zu werden. ‚Je mehr du gedacht, je mehr zu getan hast, desto mehr hast du (selbst in deiner eigenen Einbildung) gelebt.‘ – Ein solcher Beschluss des Lebens geschieht nun mit Zufriedenheit.“19 Ist also die gelungene Vermeidung der Langeweile der Gradmesser für ein erfülltes Lebens? Dass die Langeweile gerade im 18. und fortgesetzt im 19. Jahrhundert ihre Kontur als Negativfolie für menschliche Zeit- und Gefühlsverhältnisse gewinnt, ist symptomatisch. Sie gelangt hier unmittelbar in den Strom des linearen Fortschrittsdenkens. Im aufklärerischen Tugendkatalog geht es um Fleiß, Affektkontrolle und Zeitökonomie, und die Arbeit an der individuellen und kollektiven Glückseligkeit.20 Fortschritts- und Zukunftsorientierung avancieren zu Antriebsfedern. Die menschliche Lebenszeit wird ein Streben  – vorwärtsgerichtet und zielorientiert, die Langeweile zur diskreditierten Unterbrechung. Langeweile bekommt Konjunktur, um sie als Defizit zu denunzieren. Als innerweltliche Sünde wird sie nunmehr im

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menschlichen Gewissen eingeschrieben. Das erfolgt schon früh und avanciert auch zur erzieherischen wie schulischen Aufgabe. Der Tabucharakter der Langeweile wird dem Menschen gleichsam anerzogen. Die Erziehung der heranwachsenden Generation zielt auf die tätige Entfaltung der Kräfte und Fähigkeiten. Der anthropologisch verortete Bildungstrieb und die Perfektibilité stellen hohe Ansprüche. Man lässt sich nicht zur Langeweile hinreißen, sondern sucht „soviel Welt, als möglich zu ergreifen“21 und arbeitet fortwährend an der Vervollkommnung seiner selbst. Müßiggang und Langeweile sind notwendigerweise zu vermeiden. Schon Rousseau war sich dessen bewusst und lässt uns, ebenso wie seinen Emile im gleichnamigen Erziehungsroman aus dem Jahre 1762, wissen, dass sich das Volk, anders als die Reichen, nicht langweilt, „weil es ein tätiges Leben führt“22 – und dass „die Langeweile […] mit allzu sitzender Lebensweise“23 beginnt. Der auf dem Lande asketisch erzogene Emile langweilt sich nicht. Im Einklang mit der Natur und den Dingen findet er unabhängig von den zivilisatorischen Einflüssen einer entfremdeten Gesellschaft Freude an der Beschäftigung mit den Gegenständen, die er vorgelegt bekommt; ganz im Gegensatz zu den anderen Heranwachsenden, so Rousseau.24 Auch der einflussreiche Pädagoge Herbart warnt vor der Langeweile, die er gar als „ärgste Sünde“25 des Unterrichts bezeichnet. In der zweiten Auflage des Werks „Umriss pädagogischer Vorlesungen“ von 1841 führt er eindringlich die Folgen vor Augen, wenn Kinder nicht adäquat beschäftigt werden und beginnen, sich zu langweilen  – „Unfug“26 kommt dabei heraus. Und nicht einmal selbst ausgewählte Beschäftigungsformen sind erwünscht, stattdessen bedarf es in der Erziehung „bestimmte[r] Aufgaben, dies oder jenes zu thun, bis es fertig ist“ – sie allein „sichern die Ordnung“ und verhindern „regelloses Spielen, welches in Langer­weile [sic] zu endigen pflegt“27. Tätigsein als Lebensaufgabe! „Freudvolle Produktivität“ ist der Leitwert der bürgerlichen Kultur des dynamischen 19. Jahrhunderts.28 In der Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts wird der Kampf gegen die Langeweile weitergeführt – gleichwohl subtiler. Nun sind es die Forderungen nach Selbsttätigkeit, praktischem Tun und ganzheit-

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licher Entwicklung, die gleich zweifach wirksam sein sollen: Man bewahrt die Kinder einerseits vor der Überforderung einer einseitig kog­ nitiven Beanspruchung und andererseits – vor Langeweile. Und was empfiehlt die empirische Bildungsforschung des 21. Jahrhunderts, die die Langeweile operationalisiert und methodisch erforscht? Sie schlägt für ihre Reduzierung und Vermeidung in Lern- und Leistungskontexten Folgendes vor: „die Erhöhung des wahrgenommenen Wertes von Aufgaben und Inhalten sowie des Interesses daran“29. Der Mensch muss eben beschäftigt werden und nun auch wissen, warum. – Nicht zuletzt scheint es ratsam, „Lernende über effektive Langeweile-Coping-Strategien zu informieren“30. Langeweile darf einfach nicht sein! Moderne Diskurse rücken die Langeweile vor allem in den Zusammenhang des Lebenszeitregimes. Wer die Zeit sinnlos verstreichen lässt, frevelt an sich selbst und wird schuldig. Effizienzorientierung und Langeweile gehen nicht zusammen, ein unproduktives Nichtstun ist tunlichst zu vermeiden. Deswegen wird die Langeweile geächtet, gebrandmarkt und ist uns ein Makel. In der rasanten und beschleunigten Welt neoliberaler Machtpolitik hat der Mensch die Langeweile zu scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Und im Kontext wirksamer Machtpraxen der Subjektkonstituierung braucht es längst auch keine pädagogischen Akteur:innen mehr, die unmittelbar erzieherisch wirksam sind und zum tätigen Handeln anregen. Eine ‚smarte‘ und unsichtbar agierende Macht hat sich im Feldzug gegen die Langeweile durchgesetzt. „Psychopolitik“ nennt Han es und macht deutlich, dass der Mensch im heutigen neoliberalen System nicht mehr von äußerlichen Zwängen bestimmt wird, sondern von inneren und Selbstzwängen als „Leistungs- und Optimierungszwang“31. Fremdausbeutung wird zur Selbstausbeutung32 – und zwar permanent! Ein Ausruhen und Nichtstun, geschweige denn das Verspüren von Langeweile verbieten wir uns einfach und empfinden Schuld, wenn es nicht gelingt, die Leistung weiterhin zu steigern. Die Effekte einer solchen Praxis sind bekannt und finden in Depressionen und Burn-out ihren Ausdruck. „Das Subjekt des neoliberalen Regimes geht am Imperativ der Selbstoptimierung zugrunde, nämlich am Zwang, immer mehr Leistung hervorzubringen.“33

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Eine „Unruhekultur“ ist entstanden, und obwohl wir an ihr leiden – mit allen negativen Folgen –, sind wir doch „zu Enthusiasten der Unruhe“ geworden und die Unruhe zu unserer „zweiten Natur“34. Die Langeweile mit ihrer Apathie ist da nur scheinbar ein Phänomen, das dieser Kultur widerspricht, vielmehr spielt gerade die Langeweile der „Normalisierung der Unruhe in die Hände“35. Denn die Ruhe ist als Monotonie schon das Schreckgespenst selbst und alles das, was sie verhindern kann, das Erstrebenswerte. Die permanent zu spürende Unruhe und das Getriebensein dürfen nicht zum Stocken kommen. Bloß keine Langeweile aufkommen lassen! Von der Vermeidung menschlicher Langeweile lebt insofern auch eine ganze Industrie. Nicht nur der Mensch und die Arbeit, sondern die Langeweile selbst ist eine Produktivkraft und Motor des Fortschritts. Die Vermeidung der Langeweile setzt Kräfte frei, die Profite abwerfen. Was wären wir ohne die kollektive Angst vor Langeweile? Schon in den 1990er-Jahren sprach Schulze von der „Erlebnisgesellschaft“36 mit ihrer dominanten wie unheilvollen Erlebnisorientierung. Je mehr die Erlebnisse zum Lebenssinn werden, „desto größer wird die Angst vor dem Ausbleiben von Erlebnissen. Zur Angst vor Langeweile gesellt sich die Angst, etwas zu versäumen.“37 Diese Angst setzt sich fort. Sie treibt auch die Nutzung digitaler Medien voran und macht die Langeweile zu einem Wirtschaftsfaktor schlechthin. Facebook und Instagram, die Freizeitindustrie und Tourismusbranche leben vom verhassten trüben Gefühl der Unlust und Erlebnisarmut und versprechen stetig neue (An-)Reize. Unterhaltung und Zerstreuung, Attraktionen und Amüsement ebenso wie Spiel und Sport speisen sich aus der Furcht der Menschen, auf sich und die innere Leere zurückgeworfen zu werden. Doch die global verfügbaren „Lange­weileverteibungsmedien und -maßnahmen“ sind letztlich nur eines: langeweileverstärkend38, da die Permanenz des Inputs zur Übersättigung führt und der Langeweile inmitten des Erregungsoptimums den Weg bereitet. Das weiß auch die Psychologie, die als eine Ursache für den „seelische[n] Zustand der Unzufriedenheit und der Abneigung zum Handeln“ gerade das „Überangebot an Informationen und Stimuli“39 benennt.

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In ihrer existenziellen Form nimmt die Langeweile hier geradezu pathologische Züge an und mündet in die Selbstentfremdung. Es ist die Diskrepanz zwischen erhofftem Wohlergehen und dem tatsächlichen Erleben einer trotzig-kühlen Realität, die die Lebenszufriedenheit und den Antrieb sinken lassen. Da helfen nur neue Impulse, die den Abzug von der negativen Selbstaufmerksamkeit vorantreiben. Mit anderen Worten: Wir entkommen dem Kreislauf, den schon Pascal beschreibt, einfach nicht. Oder müssen wir versuchen, die Langeweile anders zu bewerten? Mit den vielfältigen Zeitdiagnosen, die sich weitestgehend um den Trend der „Beschleunigung“40 versammeln, mehren sich die Stimmen, die nach einer Rehabilitierung der Langeweile rufen. Wir brauchen die Langeweile – um ihrer und unserer selbst willen. Verordnetes Nichtstun und „Förderung der Folgenlosigkeit“41. Wir müssen hinaus aus dem verhängnisvollen Kreislauf und uns einlassen auf die Langeweile als das uns innewohnende Fremde. Sonst büßen wir etwas ein – nichts weniger als das Verhältnis zu uns, den Dingen und der Welt. In dieser Lesart ist Langeweile eine sehr gesunde Reaktion. Sie ist eine Gestalt des Sichsammelns.42 Zudem entzieht sich die Zeit der Langeweile dem Nutzen und verdeutlicht uns, dass die Zeit eben doch keine Ressource ist. Wir müssen lernen, uns langweilen zu dürfen, ohne dass wir in den Bereich temporaler Illegalität abrutschen. Es gilt, sie als Entlastung zu begreifen und ihre Erfahrung zuzulassen. Spüren, dass es das permanent Neue nicht gibt, dafür den Alltag, das Alte und uns, dem wir uns neu zuwenden können. Wir können nicht ohne Langeweile! Sie ist überlebenswichtig – und sie schützt uns vor dem Reizterror. Im Alten das Neue zu entdecken, entlastet von der Innovationsflut, die ihren Sinn im Veralten hat. In der Langeweile begegnen wir uns in der Zeit, allein – sinnlos. Es ist die Erfahrung der gelösten Nichtigkeit unseres Seins. Die tiefe Wahrheit der Langeweile liegt darin, dass wir das Nichts, die Sinnlosigkeit aushalten lernen müssen, um Sinn aus unserer Zeit selbst zu schöpfen, ohne sie verschwinden zu lassen. In der Langeweile als Entlastung liegt schöpferische Kraft. Die Langeweile muss nur zu Ende gebracht werden. Nichtdomestizierte Zeit, freie Zeit, die sich offen-

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bart. Es ist schwer, Zeit zu haben. Auch die Muße muss die Langeweile aushalten können. Sie braucht sie als Radikalform, immerhin ist sie allein die Schule der Gelassenheit. Zudem dürstet sie nach Langsamkeit – auch eine Zeitform, die in unserer Ordnung unerwünscht ist. Die Langeweile ist eben verlangsamte Zeit. „Erst wenn Langeweile eine Suche initiiert, die dem Verweilen eine Chance gibt, kann eine Gegenwärtigkeit erfahren werden, die zeitlos scheint, weil die Zeit weder nach vorne drängt noch rückwärts zieht. Vielmehr öffnet sie sich dem Leben, wie es ist. Dieser Präsenzerfahrung beraubt sich, wer jedes Aufkommen von Langeweile abblockt. Er verstärkt, was er abwehrt: die Herrschaft der Zeit.“43 Die Erfahrungen, die Menschen machen, sind gemächlich, weil wir uns die Dinge genauer als gewöhnlich ansehen. In unserem Leben brauchen wir uns gegenüber diese Genauigkeit, denn wir wollen wissen, wer wir sind. Langeweile ist wie ein Bremsvorgang – eine Aufforderung zur Geduld mit uns. In der Langeweile ist keine Hektik. Losgelöst von der Projektion der Sünde ist sie nichts anderes als eine gesteigerte Form der zeitlichen Sammlung, die in der Gegenwart ohne Zukunft das Gewohnte konserviert und auf Dauer stellt. Es geht in der Langeweile nicht in erster Linie nur um den Gedanken der Beschleunigungskompensation, sondern vielmehr um die existenzielle Frage, was aus uns geworden ist und wer wir gegenwärtig sind. Wir sammeln unser Leben und die Lebenszeit ist eine Sammlung von Erfahrungen. Das Selbst ist ein genuiner Ausdruck dieser Erfahrungen. Die radikale Langeweile ist der Prozess, in dem unsere Wahrnehmung in der Verzögerung der Zeit einen Resonanzboden erhält. Die Phasen der Langeweile in unserer Lebenszeit fungieren als notwendiges Verstehensmedium für Wirklichkeit. In der Langeweile liegt somit eine Intensivierung vor  – als Ausdruck der Unterbrechung und der Möglichkeit der Wiederholung von Lebenszeit. Sie kann Wege der Widerständigkeit markieren im Dienste einer Wahrnehmung, die sich Zeit lässt, ja sogar trödelt.

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Wenn ‚das Reale‘ zunehmend über Zeitdispositive gesteuert und im Rahmen von Beschleunigungsmechanismen konstituiert ist, wird die Aktualität eines anderen Umgangs mit Zeit und Langeweile maßgeblich, der in einem wahrnehmenden Denken besteht. Langeweile schafft eine Sensibilität für die Kehrseite der Zeitdispositive und ist bildungsphilosophisch vielleicht sogar eine Sorge um die Zeit. Sie wird zur Möglichkeit der bildenden Erfahrung und steht damit im Kontext von menschlichen Entwicklungsprozessen jenseits aller effizienzbasierten Verobjektivierung. Angesichts der Komplexität von alltäglichen Funktionszusammenhängen entsteht durch die Langeweile eine Öffnung des extraterritorialen Bereichs der Funktionslosigkeit. Langeweile ist die Versenkung ins Nichtstun mit Erwartungsverweigerung. Oder wie Heidegger rät: „Diese Langeweile wird von selbst wesentlich, dann nämlich, wenn wir ihr nur nicht entgegen sind, wenn wir nicht immer gleich reagieren, um uns in Schutz zu bringen, wenn wir ihr vielmehr Raum geben.“44 Wir müssen das „Ausschwingenlassen“45 wieder lernen.

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ANMERKUNGEN Aleida Assmann und Andreas Dörpinghaus: Ausgesetzte Zeiten 1 G. Schneider, C. Toyka-Seid: Moratorium, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Das junge Politik-Lexikon, Bonn 2021, unter: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/320813/moratorium, abgerufen am 26.04.2021. 2 R. M. Rilke: Archaïscher Torso Apollos, Paris 1908. 3 JenaKultur-Blog: Gedanken zum Tag der Arbeit, in: JenaKultur-Blog, 2020, unter: https:// blog.jena.de/jenakultur/2020/05/01/gerade-jetzt-eben-nicht/https://blog.jena.de/jenakultur/2020/05/01/gerade-jetzt-eben-nicht/, abgerufen am 24.04.2021. 4 Ebd.

Aleida Assmann: Wie lange dauert die Gegenwart? 1 Vgl. M. Wittmann: Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens, München 2012, S. 141–156. 2 V. Woolf: „There are seventy-six different times all ticking in the mind at once“, Orlando/London 1960, S. 277. 3 Vgl. J. Campbell: The Role of Causation in an Ordinary Understanding of Time, in: F. Stadler, M. Stöltzner (Hrsg.): Time and History. Proceedings of the 28. International Ludwig Wittgenstein Symposium, Kirchberg am Wechsel, Austria, Heusenstamm 2006, S. 1–12; T. McCormack, C. Hoerl: The Child in Time: Temporal Concepts and Self-Consciousness in the Development of Episodic Memory, in: C. Moore, K. Lemmon (Hrsg.), The Self in Time. Developmental Perspectives, Mahwah 2001, S. 203–227. 4 E. Jandl: fünfter sein, illustriert von N. Junge, Weinheim/Basel 82004. 5 M. Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 196–200. 6 E. Husserl: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hrsg. von R. Bernet, Hamburg 1985. 7 V. Woolf: Orlando, Harmondsworth 1975 [1928], S. 69. 8 C. Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens, in: ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857–1860, hrsg. von F. Kemp, C. Pichois. München/ Wien 1989, S. 226. 9 „The mind receives a myriad of impressions – trivial, fantastic, evanescent, or engraved with the sharpness of steel. From all sides they come, an incessant shower of innumerable atoms; […] Let us record the atoms as they fall upon the mind in the order in which they fall, let us trace the pattern, however disconnected and incoherent in appearance, which each sight or incident scores upon the consciousness“ (V. Woolf: Modern Fiction, in: dies: The Common Reader, First Serie, London 1968 [1919], S. 189–190). 10 Der Begriff findet sich bei J. G. Herder und A. Warburg. 11 Vgl. E. Poeppel: Grenzen des Bewusstseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart 1985. 12 D. N. Stern: Der Gegenwartsmoment: Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag, übers. von E. Vorspohl, Frankfurt a. M. 2005. 13 Traumatische Vergangenheit und angstbesetzte Zukunft, so hoffte Stern, könnten verblassen gegenüber dem Gegenwartsmoment, der die Chance einer Entlastung von alten Bürden und die Möglichkeit einer neuen Perspektive eröffnet. Dazu: C. Neubaur: Lauter Gegenwartsmomente, auf Sand gebaut: Daniel Stern nimmt Abschied vom Unbewußten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 152 (21) 2006, unter: www.faz.net, abgerufen am 21.08.2014.

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14 Vgl. D. N. Stern: Der Gegenwartsmoment: Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag, übers. von E. Vorspohl, Frankfurt a. M. 2005, S. 15. 15 Der Prediger (Kohelet) 3,1–5, in: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, revidierte Fassung von 1984, hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1999. 16 J. Amichai: Zeit. Gedichte, übers. von L. u. P. Böhmer, Frankfurt a. M. 1998, S. 65. 17 V. Woolf: Augenblicke des Daseins. Autobiographische Skizzen, übers. von B. Walitzek, Frankfurt a. M. 2012, S. 132. 18 Ebd. S. 131 f. 19 V. Sklovskij: Kunst als Verfahren 1916, in: Theorie der Prosa, hrsg. u. übers. von G. Drohla, Frankfurt a. M. 1966, S. 12ff. 20 Vgl. W. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 1–2, Frankfurt a. M. 1980, S. 691–704. 21 K. Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 186, 188. 22 Vgl. M. Gamper, H. Hühn: Was sind Ästhetische Eigenzeiten?, Hannover 2014. 23 Die ästhetische Eigenzeit auf der Bühne wird nicht nur hergestellt, sondern auch modelliert durch Verlangsamung und Beschleunigung sowie durch Verfahren der Verdichtung und Entleerung, der Erregung, Irritation und Störung. Dadurch wird Zeit sinnlich erfahrbar gemacht und kann auch zum Gegenstand der Thematisierung, Anschauung und Reflexion werden (vgl. A. Assmann: Zeit als verbindendes Thema der Geisteswissenschaften, in: M. Gamper, S. Richter [Hrsg.]: Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 19: Bilanz der zweiten Projektphase. Was hat das DFG Schwerpunktprogramm ‚Ästhetische Eigenzeiten‘ bewirkt?, S. 31–46). 24 Vgl. H. U. Gumbrecht: Crowds. Das Stadion als Ritual von Intensität, Frankfurt a. M. 2020; ders.: Unsere breite Gegenwart, übers. von F. Born, Frankfurt a. M. 2010, S. 78–93. 25 L. Wittgenstein: Über Gewissheit, Werkausgabe in 8 Bänden, Bd. 8: Bemerkungen über die Farben, hrsg. von G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright. Berlin 1984, S. 543. 26 H. Böll: Georg Büchners Gegenwärtigkeit (1967), in: D. Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne: Texte, Analysen, Kommentar, Bd. 2: 1945–1980, Berlin 2002, S. 376. 27 W. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1977, S. 253. 28 H. Böll: Georg Büchners Gegenwärtigkeit (1967), in: D. Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne: Texte, Analysen, Kommentar, Bd. 2: 1945–1980, Berlin 2002, S. 378. 29 Siehe J. Tomlinson: The Culture of Speed. The Coming of Immediacy, Los Angeles 2007. 30 Ebd., S. 74. 31 H.-U. Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. 32 J. W. Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Tübingen 1808, S. 106. 33 B. Brecht: Buckower Elegien, in: ders., Gedichte 2. Sammlungen 1938–1956, Berlin/Weimar/ Frankfurt a. M. 1988, S. 310. 34 S. Plath: Die Tagebücher, hrsg. von F. McCullough, übers. von A. Walser, Frankfurt a. M. 1998, S. 14.

Andreas Dörpinghaus: Warum wir zögern. Über die Zeit der Bildung 1 Vgl. G. Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaft, in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990, Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262. 2 Vgl. P. Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, übers. von A. Russer, Frankfurt a. M. 1997, S. 293ff. 3 Vgl. K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: ders.: F. Engels: Werke. Bd. 42, Berlin 1983; S. 105.

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Anmerkungen

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4 Siehe F. Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe III, Bd. 2: Nachgelassene Schriften 1870–1873, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin/New York 1973, S. 133–263. 5 M. Foucault: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 12. 6 Vgl. T. W. Adorno: ohne Titel [Notizen und Aufzeichnungen zu Anthropologie und Massenkultur], Notizheft Ts51905, Theodor W. Adorno Archiv, 1943. 7 Vgl. hierzu A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: ders.: Werke in zehn Bänden (Züricher Ausgabe), Text nach der historisch-kritischen Ausgabe von A. Hübscher, Red. von C. Schmölders, F. Senn, G. Haffmanns, Bd. 1, Zürich 1977, insbes. § 34, S. 231 f. 8 Vgl. F. Nietzsche: Sils-Maria, in: ders.: Kritische Studienausgabe 3, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München 1988, S. 649. 9 Vgl. dazu W. von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück), in: ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Werke in 5 Bänden, hrsg. von A. Flitner, K. Giel, Bd. I, Darmstadt 42002, S. 234–240. 10 Siehe H. Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a. M. 2007, S. 75. 11 Siehe dazu: A. Dörpinghaus: Mich bilden, in: Pädagogische Korrespondenz. Zeitschrift für kritische Zeitdiagnostik in Pädagogik und Gesellschaft 61 (29) 2020, S. 73–87. 12 L. A. Seneca: Ad Lucilium. Epistulae morales, in: Philosophische Schriften in fünf Bänden, lateinisch/deutsch, hrsg. von M. Rosenbach, Bd. 3, Darmstadt 1999, S. 3. 13 Vgl. Platon: Politeia, hrsg. von K. Bormann, übers. und erl. von O. Apelt, Hamburg 111989, 518b–541b. 14 S. Kierkegaard: Die Wiederholung, übers., mit Einleitung und Kommentar, hrsg. von H. Rochol. Hamburg 2000, S. 22. 15 Vgl. A. Augustinus: Bekenntnisse – Confessiones, eingeleitet, übers. und erläutert von J. Bernhart, mit einem Vorwort von E. L. Grasmück, Frankfurt a. M. 1987, Buch XI. 16 T. Mann: Der Zauberberg, Berlin 1952, S. 47. 17 H. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 123 f.

Käte Meyer-Drawe: Dinge ändern sich – und uns 1 G. Selle: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 117. 2 S. Hirschauer: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns, in: K. H. Hörning, J. Reuter (Hrsg.): Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis (Sozialtheorie), Bielefeld 2004, S. 81. 3 K. Knorr Cetina: Postsoziale Beziehungen: Theorie der Gesellschaft in einem postsozialen Kontext, in: T. Bonacker, A. Reckwitz (Hrsg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 268. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 274. 6 Vgl. E. de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi, übers. von B. Hilzensauer, Wien 2011, S. 74, 182. 7 J. Crary: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, übers. von T. Laugstien, Berlin 32014, S. 43. 8 G. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, übers. von M. Cuntz, Zürich 22012 [Paris 1958], S. 82. 9 Ebd., S. 83. 10 M. Serres: Der Parasit, übers. von M. Bischoff, Frankfurt a. M. 21984, S. 346. 11 M. J. Langeveld: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 31968, S. 149.

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12 M. Montessori: Die Entdeckung des Kindes, hrsg. und eingeleitet von P. Oswald und G. SchulzBenesch, übers. von E. Seidel, Freiburg im Breisgau 121996 [1950], S. 117. 13 Vgl. K. Liggieri: „Sinnfälligkeit der Bewegung“. Zur objektpsychotechnischen Anpassung der Arbeitsgeräte an den Menschen, in: Technikgeschichte, 84 (1) 2017, S. 52. 14 Vgl. ebd. 15 Vgl. ebd., S. 50. 16 Vgl. Simondon: Die Existenzweise technischer Objekte, übers. von M. Cuntz, Zürich 22012 [Paris 1958], S. 9. 17 P. Roth: Exit Ghost, übers. von D. van Gunsteren, München 2007, S. 77. 18 Vgl. G. Selle: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge, Frankfurt a. M./New York 1997, S. 113. 19 W. Benjamin: Gesammelte Schriften. IV 1, hrsg. von T. Rexroth, Werkausgabe Bd. 10, Frankfurt a. M. 1980, S. 243. 20 V. M. Lampugnani: Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum, Berlin 2019, S. 37. 21 R. Pfaller: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008, S. 67. 22 Vgl. J. Crary: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, übers. von T. Laugstien, Berlin 32014, S. 43. 23 V. M. Lampugnani, Bedeutsame Belanglosigkeiten, Kleine Dinge im Stadtraum, Berlin 2019, S. 43. 24 R. Pfaller: Ästhetik der Interpassivität, Hamburg 2008, S. 183. 25 Ebd., S. 259. 26 Werkbundarchiv in Zusammenarbeit mit dem museumspädagogischen Dienst in Berlin: Blasse Dinge, Werkbund und Waren 1945–1949, Ausstellungsmagazin, Berlin 1989, S. 5. 27 Vgl. H. Weber: „Entschaffen“. Reste und das Ausrangieren, Zerlegen und Beseitigen des Gemachten, in: Technikgeschichte 81 (1) 2014, S. 13. 28 Vgl. H. Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1996, S. 36 f. 29 Vgl. Wikipedia: Amazon Go, 2021, unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Amazon_Go, abgerufen am 15.08.2020.

Bernhard Waldenfels: Zeit der anderen 1 Eine erste ausführlichere Fassung dieses Textes erschien in der Zeitschrift Metodo. International Studies in Phenomenology and Philosophy (Genève-Lausanne), vol. 5, No 2 (2017): Responsibility and Justice for Future Generations in Dialogue with Phenomenology (hrsg. von M. Fritsch, F. Menga). 2 F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe 4, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1980, S. 78. 3 Vgl. B. Waldenfels: Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, Berlin 2019. 4 F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe 5, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1980, S. 31. 5 H. Heine: Belsatzar. 1822, unter: Heinrich-Heine-Portal: http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/Projekte/HHP/searchengine/werke/baende/D01/enterdha?pageid=D01S0092&bookid=D01&lineref=Z02&mode=2&textpattern=belsatzaR&firsttid=0&widthgiven=30, abgerufen am 25.05.2021. 6 S. Freud: Die Traumdeutung (GW II/III), London/Frankfurt a. M. 1942, S. 3–5. 7 Vgl. B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, Berlin 2015, Kap. 7. 8 Vgl. B. Waldenfels: Schattenrisse der Moral, Frankfurt a. M. 2006, S. 332; 2015, S. 161 f. 9 F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe 2, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1980, S. 76. 10 Vgl. Platon. Parmenides, 141a. 11 Vgl. B. Waldenfels: Idiome des Denkens, Frankfurt a. M. 2005, S. 195.

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Anmerkungen 183

12 Vgl. ebd., Kap. 10–12, zu Levinas siehe Kap. 8. 13 Vgl. Th. Bedorf: Dimensionen des Dritten, München 2003. 14 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von R. Boehm, Berlin 1966, S. 417. 15 E. Husserl: Husserliana VI, Den Haag bzw. Dordrecht 1950ff., S. 256; vgl. dazu A. Steinbock: Grenzüberschreitungen. Generative Phänomenologie nach Husserl, übers. von T. Stähler, Freiburg/ München 2003. 16 Platon Symposion 205b. 17 Vgl. E. Husserl: Husserliana I, Den Haag/Dordrecht 1950 ff., S. 158. 18 F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe 4, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1980, S. 71. 19 Vgl. Aristoteles Nikomachische Ethik VIII, 14. 20 E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, übers. von W. N. Krewani, Freiburg/München 1987, S. 391 f. 21 Vgl. B. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik, Frankfurt a. M. 2002, S. 427–459. 22 Vgl. B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, Berlin 2015, Kap. 2. 23 E. Husserl: Husserliana X, Den Haag/Dordrecht 1950 ff., S. 205. 24 B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, Berlin 2015, S. 191. 25 K. Marx, F. Engels: Das Kapital, Bd. 1 (MEW 23), Berlin 1970, S. 285. 26 Ebd., S. 169. 27 Ebd., S. 384. 28 F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe 4, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1980, S. 78. 29 B. Waldenfels: Schattenrisse der Moral, Frankfurt a. M. 2006, S. 186. 30 B. Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, S. 609–626. 31 Vgl. J. Derrida: Falschgeld. Zeit geben I., übers. von A. Knop, M. Wetzel, München 1993, S. 10 f. 32 Aristoteles Nikomachische Ethik IV.

Konrad Paul Liessmann: Aus der Zeit gefallen. Anachronistische Betrachtungen 1 C. Ransmayr: Die letzte Welt. Mit einem ovidischen Repertoire, Nördlingen 1988, S. 11. 2 Ebd., S. 12. 3 M. Köhlmeier: Kalypso, München 1997. 4 W. Schmidt-Biggemann: Geschichte, Ereignis, Erzählung. Über Schwierigkeiten und Besonderheiten von Geschichtsphilosophie, in: A. Speer (Hrsg.): Anachronismen, Würzburg 2003, S. 25 f. 5 A. Landwehr: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020 (E-Book-Ausgabe), S. 245 f. 6 F. Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth, in: ders.: Kritische Studienausgabe 1, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München 1980, S. 446. 7 A. Landwehr: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020, S.  257. 8 V. Hansen: Das Jahr 1000. Als die Globalisierung begann, München 2020. 9 F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders.: Kritische Studienausgabe 1, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München 1980, S. 246. 10 F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil, in: ders.: Kritische Studienausgabe 1, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München 1980, S. 247. 11 G. W. Bertram: Wovor weicht die Dekonstruktion nicht aus? Oder ist das Unzeitgemäße unumgänglich?, in: A. Speer (Hrsg.): Anachronismen, Würzburg 2003, S. 215. 12 J. Saltzwedel: Finderglück. Mäßig unzeitgemäße Betrachtungen, Springe 2010.

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13 A. Comte-Sponville: Ermutigungen zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Reinbek bei Hamburg 2010. 14 F. Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth, in: ders.: Kritische Studienausgabe 1, hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München 1980, S. 464. 15 G. Anders: Mensch ohne Welt. Schriften zur Kunst und Literatur, München 1984, S. XVII. 16 A. Landwehr: Diesseits der Geschichte. Für eine andere Historiographie, Göttingen 2020, S. 265. 17 „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, / Das ist im Grund der Herren eigner Geist, / In dem die Zeiten sich bespiegeln.“ (Johann Wolfgang von Goethe: Faust I, Nacht, V. 177ff.).

Maren Schüll: Störenfriede. Wofür sind Unterbrechungen gut? 1 Vgl. D. Thomä: Puer robstus – Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, S. 21. 2 Vgl. G. Thunberg: Rede an den UN-Generalsekretär António Guterres anlässlich der UN-Klimakonferenz in Katowice am 03.12.2018, unter: https://blog.wozukunft.de/2018/12/19/greta-thunberg-tedx-2018-11-24/, abgerufen am 18.02.2021. 3 Vgl. J. Grimm, W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 19 (= Bd. X, Bd. III): Stob-Strollen. Fotomechan. Nachdr. d. Erstausg. 1957, München 1984, Sp. 406 f. 4 Siehe dazu C. E. Shannon: Mathematical Theory of Communication, Urbana 1949; M. Serres: Der Parasit, Frankfurt a. M. 1981. 5 Vgl. L. Jäger: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in: S. Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 42 und S. 46. 6 Vgl. A. Kümmel: Störung,. in: A. Roesler, B. Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn 2005, S. 229 f.; E. Schüttpelz: Der Trickster, in: E. Eßlinger u. a. (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010, S. 208–224. 7 Vgl. W. Hynes, J. William: Mapping the Characteristics of Mthic Tricksters. A Heuristic Guide, in: ders., W. G. Doty: Mythical Trickster Figures: Contours, Contexts, and Criticisms, Tuscaloosa 1993, S. 33. 8 C. G. Jung: Zur Psychologie der Tricksterfigur, in: ders.: Archetypen, München 1990, S. 167, 173. 9 Vgl. S. Kaufmann, U. Bröckling, E. Horn: Einleitung, in: dies.: Grenzverletzer, Berlin 2002, S. 9ff. 10 Vgl. J. Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 48. 11 Vgl. ebd., S. 26; ebd.: Die Aufteilung des Sinnlichen: Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008, S. 25 f. 12 Vgl. M. Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft: Vorlesungen am Collège de France, Frankfurt a. M. 2001, S. 298 f. 13 Vgl. ebd.: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Vorlesungen am Collège de France 1977/78, Frankfurt a. M. 2006, S. 142 f.; J. Rancière: Zehn Thesen zur Politik, Berlin/Zürich 2008, S. 28. 14 J. Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 114. 15 Vgl. M. Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 1: Vorlesungen am Collège de France 1977/78, Frankfurt a. M. 2006, S. 20. 16 Vgl. ebd.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976, insbes. S. 175, 236, 292. 17 Vgl. ebd.: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität, Bd. 2: Vorlesungen am Collège de France 1978/79, Frankfurt a. M 2004, S. 436; ebd.: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 41991, S. 168. 18 J. Kizler, N. Kizler: Der Struwwelpeter. Die Abrechnung, illustriert von Christina Mäckelburg, Originaltext von Dr. Heinrich Hoffmann, Vachendrof 2018. 19 Vgl. A. Dörpinghaus, I. Uphoff: Zeit und Bildung. Über die Selbstaffektion der Erfahrung, in: S. Schmidt-Lauff (Hrsg.): Zeit und Bildung. Annäherungen an eine zeittheoretische Grundlegung, München u. a. 2012, S. 66 f.

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20 J. Rancière: Der Philosoph und seine Armen, hrsg. von P. Engelmann, Wien 2010, S. 22. 21 B. Walter: Über den Begriff der Geschichte, in. ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2: Abhandlungen, hrsg. von R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1972, S. 702, These XVI. 22 M. Rautzenberg: Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Zürich/Berlin 2009, S. 18. 23 T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von G. Adorno, R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 16. 24 J. Derridas: Marx, das ist jemand, in: Zäsuren – Césures – Incisions 1 (2000), S. 66. 25 H.-T. Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 22001, S. 368; J.-L. Nancy: Die Kunst – ein Fragment, in: J.-P. Dubost (Hrsg.): Bildstörung. Gedanken zu einer Ethik der Wahrnehmung, Leipzig 1994, S. 180. 26 J. Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 22. 27 M. Seel: Ereignis. Eine kleine Phänomenologie, in: N. Müller-Schöll: Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2015, S. 42. 28 Vgl. S. Habscheid, L. Koch: Einleitung: Katastrophen, Krisen, Störungen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44 (1) 2014, S. 7. 29 H.-T. Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater?, in: ders.: Das Politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin 2002, S. 17, 19.

Michael Erler: Sokrates und der kairos oder Wie packe ich die Gelegenheit beim Schopf? 1 Vgl. J. L. Kinneavy, C. R. Eskin: Kairos, in: G. Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Darmstadt 1998, S. 836–844; P. Sipiora: Introduction. The ancient concept of Kairos, in: ders.: J. S. Baumlin (Hrsg.): Rhetoric and Kairos. Essays in history, theory and praxis, New York, 2002, S. 1–22. Cicero (De inventione, I, 26–27) unterscheidet zwischen Zeitraum (tempus) und Zeitpunkt (occasio). 2 Vgl. W. Beierwaltes: Exaiphnès oder: Die Paradoxie des Augenblicks, Philosophisches Jahrbuch 74, 1967, S. 271–283. 3 Das erklärt der hellenistische Dichter Poseidippos in einem Epigramm (vgl. Poseidippos. Epigrammata XIX. D. L. Page: Epigrammata Graeca, Oxford 1975). 4 Vgl. M. Theunissen: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2008. 5 In jüngerer Zeit findet der Aspekt der ‚günstigen Gelegenheit‘ vornehmlich in Theologie und Politikwissenschaften wieder wachsendes Interesse. Vgl. P. Tillich: Kairos, Darmstadt 1926; H. G. Gadamer: Kairos. Ein Diskurs über die Gunst des Augenblicks und das weise Maß. Radiointerview von B. H. Stappert, SWR 1989; vgl. A. Christophersen: Kairos. Protestantische Zeit. Deutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. 6 D. Levi: Il kairos attraverso la letteratura greca, in: Rendiconti dell’Accademia dei Lincei, Classe di Scienze Morali, Storiche e Filologiche 32 (1923), S. 260–281; 33 (1924), S. 93–118. 7 Vgl. Demosthenes., De corona 172; Epiktet. Encheiridion 33, 2. 8 Vgl. J. Poulakos: Gorgias’ Rhetorical Compositions, in: P. Sipiora, J. S. Baumlin: Rhetoric and Kairos. Essays in history, theory and praxis, New York 2002, S. 89–96. 9 C. R. Eskin, P. Sipiora: Hippocrates, Kairos, and writing in the sciences, in: P. Sipiora, J. S. Baumlin: Rhetoric and Kairos. Essays in history, theory and praxis, New York 2002, S. 97–113. 10 Vgl, K. Mertens: Der Kairos der Rede, in: J. Kopperschmidt (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, München 2000, S. 295–313. 11 Vgl. Platon. Politeia. 334b; vgl. D. Levi: The Concept of Kairos and the Philosophy of Plato. Rendiconti della Reale Accademia Nazionale dei Lincei Classe di scienze moralia RV 33 (1924), S. 93–118. 12 Vgl. Aristophanes: Die Ritter 1226; zur Diskussion vgl. C. W. Müller: Die Kurzdialoge der Appendix Platonica, München 1978, S. 144–148.

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13 Das spiegelt sich zum Beispiel in der pseudoplatonischen Schrift de iusto (siehe dazu C. W. Müller: Die Kurzdialoge der Appendix Platonica München 1978, S. 129–191). In den pseudoplatonischen ‚Definitiones‘ (414a6) wird kairos im sophistischen Sinn als entscheidend für den (eigenen) Nutzen bezeichnet (vgl. dazu J. D. Müller: Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance, Berlin/Boston 2011, bes. S. 18–47). 14 Vgl. Platon. Politeia 334b. 15 Zu Gorgias vgl. Th. Buchheim: Gorgias von Leontinoi. Reden, Fragmente und Testimonien, Hamburg 1989. 16 Vgl. Platon. Gorgias 481e. 514b. 17 Vgl. Platon. Gorgias 481d. 18 Vgl. M. Erler: Platon und seine Rhetorik, in: M. Erler, Ch. Tornau (Hrsg.): Handbuch Antike Rhetorik, Berlin/Boston 2019, S. 315–337. 19 Vgl. Platon. Phaidros. 272c. 20 Vgl. M. Lane: Method and Politics in Plato’s Statesman, Cambridge 1989, S. 125–146. 21 Vgl. Platon. Apologie 39cd. 22 Vgl. ebd., 365b–37a. 23 Vgl. zum Beispiel Pseudo-Platon. Axiochos 364b. 24 Vgl. M. Erler: Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons. Übungsstücke zur Anleitung im philosophischen Denken, Berlin/New York 1987, S. 259–267. 25 Vgl. Platon. Theaetetos 167e–168a. 26 Vgl. ebd., 172c–177c. 27 Vgl. Platon. Symposion. 174de. 28 Vgl. Ch. Abbt, N. Niazi (Hrsg.): Der Vieltuer und die Demokratie. Politische und philosophische Aspekte von allotrio- und Polypragmosyne, Basel 2017.

Ralf Konersmann: „Ruhe & Muße“. Vom Sonntag des Lebens 1 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders.: Theorie Werkausgabe, hrsg. von E. Moldenhauer, K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 15, S. 130. 2 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: ders.: Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 18, S. 113; s. a. ebd., Bd. 16, S. 12 f. u. Bd. 10, S. 412: „Verkehr mit der Philosophie ist als Sonntag des Lebens anzusehen […]. Der Mensch arbeitet die Woche durch um des Sonntags willen, hat nicht den Sonntag um der Wochenarbeit willen. So ist die Philosophie Bewußtsein – Zweck für sich selbst – und aller Zweck für sie.“ Diese Gewichtung hatte, wie wir heute wissen, keinen Bestand. Schon 1845, vierzehn Jahre nach Hegels Tod, legt Pierre Joseph Proudhon eine als Théorie du repos angekündigte Verteidigung der Sonntagsruhe vor, die – fast möchte ich sagen: dezidiert unphilosophisch – auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Nutzenerwägungen beschränkt bleibt. 3 Vgl. A. Kojève: Überlebensformen, hrsg. von A. Hiepko. Berlin 2007. Offenbar unter Anspielung auf den soeben angeführten Wortlaut der Enzyklopädie greift Kojève Hegels Wort vom ‚Sonntag des Lebens‘ auf (S. 23), um damit – für sich selbst als Autor, aber auch für die Philosophie ganz generell – die Einstellung der Kontemplation zu reklamieren. Die daraufhin entbrannte, hinsichtlich der Theoriegeschichte des 20. Jahrhunderts überaus aufschlussreiche Debatte dokumentieren die von R. Bischof herausgegebenen Schriften G. Batailles: Hegel, der Mensch und die Geschichte. Die Hegel-Essays. Berlin 2019; s. a. J.-C. Pinson: Von den Hütten. Philosophische Aspekte der Armut und der wahre Luxus des Lebens, in: Lettre International 126 (2019), S. 10–13. 4 Vgl. Th. W. Adorno: Studies in the Authoritarian Personality. Contents, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann, Frankfurt 1975, Bd. 9.2, S. 158. Adornos Kritik ist vorformuliert in Walter Benjamins fortschrittskritischen Thesen über den Begriff der Geschichte.

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Anmerkungen

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5 E. A. Poe: Der Park von Arnheim, in: ders.: Das gesamte Werk in zehn Bänden, Bd. 4, hrsg. von K. Schumann, H. D. Müller, Olten 1966, Bd. 4, S. 597–623, hier S. 614. Zu denken ist auch an die vielzitierte, wenngleich, wie ich vermute, alles andere als eindeutige Spruchweisheit aus der Sammlung Goethes: „Alles in der Welt läßt sich ertragen, / Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen“ (Gedichte, Bd. 2, hrsg. von K. Eibl, Frankfurt a. M. 1988, Bd. 2, S. 389). 6 Ich rekapituliere Beobachtungen und Thesen, die ich 2015 erstmals vorgestellt (Die Unruhe der Welt, Frankfurt a. M. 52015) und dann, zwei Jahre später, in alphabetische Ordnung gebracht und vertieft habe (Wörterbuch der Unruhe, Frankfurt a. M. 2017). 7 Ich zitiere die Einheitsübersetzung. In der Lutherbibel lautet die Stelle: „Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ 8 M. Luther: Auslegung des ersten Buches Mosis, hrsg. von T. Stiasny, Leipzig 1929, Bd. 1, S. 102; s. a. M. Witte: Kain und Abel, in: Aspekte der Bibel. Themen, Figuren, Motive, hrsg. von H.-J. Simm, Freiburg/Basel/Wien 2017, S. 36–46. 9 ‚Der Tod Senecas‘ gehört zu den Standardmotiven gerade auch dieses Künstlerkreises. In der kanonischen Fassung, die sich Rubens verdankt, handelt es sich um die Imagination und, darüber hinaus, um die Problematisierung einer unerschütterlichen, angesichts der größten Zumutung des Lebens gehaltenen Ruhe. 10 „Securitas et perpetua tranquillitas“ – so der 92. Brief an Lucilius. Ich zitiere die von M. Giebel herausgegebene Ausgabe, Stuttgart 2014, S. 426. 11 G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik II, in: ders.: Theorie-Werkausgabe, a. a. O., Bd. 6, S. 206. 12 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders.: Theorie Werkausgabe, a. a. O., Bd. 12, S. 49. 13 G. W. F. Hegel: Die Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann (Winter 1830/1831), hrsg. von K. Vieweg, München 2005, S. 55, 71. 14 Ebd., S. 57. Hegels Wiedergabe ist eine Kompilation. Im Original sagt Hamlet zum Geist (I, 5): „Well said, old mole! Canst work i’th’ earth so fast? A worthy pioner! […] Rest, rest, perturbed spirit!“ K. Stierle hat die Geschichte des Bildfeldes, besonders mit Blick auf Hegel, detailfreudig aufgearbeitet („Der Maulwurf im Bildfeld. Versuch zu einer Metapherngeschichte“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 26 [1982], S. 101–143).

Christoph Horn: Muße (scholê) bei Platon und Aristoteles 1 Eine wichtige Belegstelle für das Verständnis von Muße als ‚Zeit der Zweckfreiheit‘ ist Xenophanes DK 21B2. 2 Zum Glück des Philosophierens vgl. auch die Passage B52–68. Das Motiv hat im Peripatos offenbar weitergewirkt. Bei Dikaiarch findet sich die Aussage, die Menschen im Goldenen Zeitalter hätten die Muße genossen wie die Götter (Porphyrios De abstinentia 4, 2, in: F. Wehrli: Die Schule des Aristoteles, Bd. 1, Basel 1967, S. 24 f., Fr. 49). 3 H. Hesse: Siddharta. Eine indische Dichtung, Frankfurt a. M. 1973, S. 128.

Lambert Wiesing: Der Schlaf und die Partizipationspause * Der hier abgedruckte Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des 4. Kapitels „Die Partizipationspause“ aus meinem Buch: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Berlin 2009. Diese Fassung entstand als Vortrag für die Tagung „Pause“ im Haus der Kunst München, Juli 2018, und erschien nahezu identisch auch in: Arbeit an der Pause, hrsg. von A. Coers, A. Steig, C. Smith, Köln 2019, S. 29–41. 1 F. Schiller: Reiterlied. Aus dem Wallenstein (1797), in: ders.: Schillers Werke. Nationalausg., Bd. 8, Teil II: Wallenstein, Text II, hrsg. von N. Oellers, Neuausg., Weimar 2010, S. 420.

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Jan Assmann: Der Wille zum Jetzt. Messianismus und Apokalyptik 1 P. Celan: Corona, 1952, unter: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/corona-67, abgerufen am 31.05.2021. 2 R. M. Rilke: Herbst, Paris 1902, unter: http://rainer-maria-rilke.de/06b012herbsttag.html, abgerufen am 31.05.2021. 3 G. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006. 4 J. Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hrsg. von A. und J. Assmann, München 1993. 5 Ebd., S. 11. 6 G. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, S. 75. 7 J. Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hrsg. von A. und J. Assmann, München 1993, S. 26, 139. 8 G. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, S. 77. 9 C. Lehnert: Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus, Berlin 32015, S. 158. 10 1. Korintherbrief 7,21–24. 11 Ebd., S. 29–31. 12 M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hrsg. von D. Kaesler, München 32010, S. 100. 13 G. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, S. 33. 14 Ebd., S. 34. 15 Ebd., S. 37. 16 Ebd., S. 37. 17 Ebd., S. 66. 18 Römerbrief 9,27: Jesaja 10, 22 f. 19 J. Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hrsg. von A. und J. Assmann, München 1993, S. 40–43. 20 G. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a. M. 2006, S. 78. 21 1. Thessalonicherbrief 4,15–17. 22 1. Korintherbrief 15,22–26. 23 F. Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 2001. 24 J. Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hrsg. von A. und J. Assmann, München 1993, S. 42. 25 Ebd., S. 54. 26 J. Assmann: Kult und Kunst. Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst, München 2020, S. 97; H. de Lubac: Gestalt und Lebendigkeit unseres Glaubensbekenntnisses, Einsiedeln 1975, S. 98–104 und S. 131–154. 27 C. Schmitt: Der Begriff des Politischen, in: ders.: Probleme der Demokratie, Bd. 1, Berlin 1928. 28 J. Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hrsg. von A. und J. Assmann, München 1993, S. 11. 29 C. Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979, S. 7. 30 Vgl. auch J. Assmann: Gotteszorn und Apokalypse. Über den Ernstfall totaler Religionen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte VI/3, 2012, S. 67–82. 31 C. Schmitt: Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1979, S. 27. 32 Ebd., S. 35. 33 C. Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963/72010, S. 87.

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34 J. Taubes: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, in: ders: Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 1, München 1983. 35 C. Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 21922, S. 11. 36 Römerbrief 10,4. 37 1. Korintherbrief 7,31. 38 Matthäus 7,29. 39 C. Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963/72010, S. 87. 40 1. Korintherbrief 7,29. 41 2. Petrus 3,9–13. 42 1. Thessalonicherbrief 5, 1–11. 43 1. Korintherbrief 11,26. 44 J. Taubes, Ad C. Schmitt: Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, S. 81. 45 Tertullian: Apologeticum XXXIX, 2. 46 C. Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 29. 47 J. Taubes: Die politische Theologie des Paulus, hrsg. von A. und J. Assmann, München 1993, S. 139.

Ina Katharina Uphoff: Was ist Langeweile? 1 M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1983, S. 117 f. 2 E. Auerbach: Über die ernste Nachahmung des Alltäglichen, in: ders.: Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, hrsg. von K. Barck, M. Tremle, Berlin 2007, S. 450. 3 R. Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015, S. 19. 4 O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 71988, S. 172. 5 M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1983, S. 164. 6 Ebd., S. 173. 7 Ebd., S. 180. 8 Ebd., S. 202. 9 Ebd., S. 218. 10 Vgl. ebd., S. 237 f. 11 Ebd., S. 238. 12 S. Schomäcker: Schule braucht Langeweile? Über den Nutzen jugendlicher Langeweile für die Schule, Münster 2011, S. 31. 13 A. Bellebaum: Langeweile, Überdruss und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung, Opladen 1990, S. 32. 14 B. Pascal: Gedanken, Stuttgart 1997, S. 93ff. 15 Ebd., S. 99. 16 Vgl. M. Kessel: Langeweile im 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 4 (2) 1993, S. 236. Siehe auch J. Große: Philosophie der Langeweile, Stuttgart/Weimar 2008, S. 51. 17 I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Leipzig 51912, S. 157. 18 Ebd., S. 158. 19 Ebd., S. 159. 20 M. Kessel: Langeweile im 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 4 (2) 1993, S. 238. 21 W. von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück, in: ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 1, Darmstadt 2010, S. 235.

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22 J.-J. Rousseau: Emile oder Über die Erziehung, hrsg. von T. Zumhof, Stuttgart 2019, S. 409. 23 Ebd., S. 404. 24 Vgl. ebd., S. 364. 25 J. F. Herbart: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet, Göttingen 1806, S. 154. 26 J. F. Herbart: Umriss pädagogischer Vorlesungen, Göttingen 21841, S. 27. 27 Ebd., S. 28. 28 M. Kessel: Langeweile im 19. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie, 4 (2) 1993, S. 234 f. 29 T. Götz, M. Kranich, A.-L. Roos, K. Gogol: Langeweile, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 40 (3) 2018, S. 674. 30 Ebd., S. 675. 31 B.-C. Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt a. M. 2014, S. 9. 32 Ebd., S. 15. 33 Ebd., S. 46. 34 R. Konersmann: Wörterbuch der Unruhe, Frankfurt a. M. 2017, S. 37. 35 Ebd., S. 121. 36 Vgl. G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1996. 37 Ebd., S. 65. 38 M. Doehlemann: Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt a. M. 1991, S. 10. 39 E. Schmitz: Langeweile, in: Lexikon der Psychologie in fünf Bänden, Heidelberg 2001, S. 422. 40 Vgl. H. Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. 41 Die Hochschule für bildende Künste in Hamburg vergibt 2020 Stipendien für das Nichtstun. 42 Siehe hierzu mit Bezug zu mehreren Passagen: A. Dörpinghaus, I. K. Uphoff: Die Abschaffung der Zeit: Wie man Bildung erfolgreich verhindert, Darmstadt 2012, S. 81 ff. 43 D. Hell: Über die Langeweile, in: Neue Zürcher Zeitung, 6.8.2012, unter: https://www.nzz.ch/ ueber-die-langeweile-1.17410715, abgerufen am 07.06.2021. 44 M. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1983, S. 122. 45 Ebd.

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AUTORINNEN UND AUTOREN Aleida Assmann (Jg. 1947) ist Professorin i. R. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Ausgewählte Publikationen: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne (2013), Formen des Vergessens (2016), Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft (2018), Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte (2018), Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (2020). Jan Assmann (Jg. 1938) ist em. Professor für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Honorarprofessor für Religionstheorie an der Universität Konstanz. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u. a.: Ägypten. Eine Sinngeschichte (42005), Moses der Ägypter (72011), Die Zauberflöte. Oper und Mysterium (2005), Steinzeit und Sternzeit. Altägyptische Zeitkonzepte (2011), Das kulturelle Gedächtnis (82018), Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne (2018). Andreas Dörpinghaus (Jg. 1967) ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Bildungswissenschaft an der JMU Würzburg. Er veröffentlichte vielgelesene bildungswissenschaftliche Grundlagenwerke, zeitphänomenologische Studien und Arbeiten zu Pädagogik und Wahrnehmung (Sehen als Erfahrung, 2020). Bei der wbg sind von ihm u. a. erschienen: Einführung in die Theorie der Bildung (52013), Bildung an ihren Grenzen (2014). Käte Meyer-Drawe (Jg. 1949) ist Professorin i. R. für Allgemeine Pädagogik an der RuhrUniversität Bochum und ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Ausgewählte Publikationen: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen (22007), Diskurse des Lernens (22012), Die Welt als Kulisse. Übertreibungen in Richtung Wahrheit (2018, Orcid.org/0000-0003-4265-4590). Michael Erler (Jg. 1953) ist em. Professor ordinarius für Klassische Philologie, Seniorprofessor und Chair des Direktoriums des Siebold Collegium. Institute for Advanced Studies (SCIAS) der Universität Würzburg. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel und Herausgeber mehrerer Sammelbände u. a. über Platon, den Platonismus, Epikur und die epikureische Tradition (z. B. Der Sinn der Aporien in den Dialogen Platons, 1987; Platon, 2006; Platon, 2007; Epicurus, 2020), das Drama, hellenistische Literatur und Literatur der Kaiserzeit. Zu seinen Arbeitsgebieten gehört u. a. die Beziehung zwischen Literatur und Philosophie. Christoph Horn (Jg. 1964) ist Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Antike an der Universität Bonn. Ausgewählte Publikationen: Plotin über Sein, Zahl und Einheit (1995), Augustinus (1995), Antike Lebenskunst (1998), Philosophie der Antike (2013), Nichtideale Normativität (2014), Einführung in die Moralphilosophie (2018), bei der wbg ist von ihm erschienen: Einführung in die politische Philosophie (32012). Prof. Dr. phil. Ralf Konersmann (Jg. 1955) war bis 2021 Direktor des Philosophischen ­Seminars an der CAU Kiel. 2005–2007 Gründungsmitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Autor zahlreicher Bücher, Aufsätze, Essays und Feuilletons (www. ralfkonersmann.de). Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie,

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Herausgeber des Wörterbuchs der philosophischen Metaphern (erschienen bei der wbg, 3 2011), des Handbuchs Kulturphilosophie (2012). Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturphilosophie (2007–2019). Zuletzt erschienen: Die Unruhe der Welt (52015) sowie das Wörterbuch der Unruhe (2017, ausgezeichnet mit dem Tractatus-Preis 2017), Welt ohne Maß (2021). Konrad Paul Liessmann (Jg. 1953) ist Professor i. R. am Institut für Philosophie der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Essays und Kolumnen zu Fragen der Ästhetik, Bildungstheorie und Kulturphilosophie. Wichtige Publikationen: Philosophie des verbotenen Wissens (2000), Theorie der Unbildung (2006), Lob der Grenze (2012), Philosophie der modernen Kunst (2013), Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung (2014), Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen (2016, gem. mit Michael Köhlmeier), Bildung als Provokation (2017), Der werfe den ersten Stein. Mythologisch-philosophische Verdammungen (2019, gem. mit Michael Köhlmeier), Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen (2021). Dr. phil. Maren Schüll ist akademische Rätin am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der JMU Würzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte suchen insbesondere die Auseinandersetzung mit kulturwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Problemstellungen. Aktuell bewegen sich ihre Forschung und Lehre in einem bildungswissenschaftlichen Gefüge von Rhetorik, Politik, Ästhetik und ästhetisch-kultureller Praxis. Andreas Speer (Jg. 1957) ist Professor für Philosophie und Direktor des Thomas-Instituts an der Universität zu Köln. Er leitet eine Reihe von größeren Forschungsprojekten, vornehmlich aus dem Bereich der mittelalterlichen Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die Philosophiegeschichte des Mittelalters, das Verhältnis von Wissenschaftstheorie, Epistemologie und Metaphysik, ferner von Ästhetik und Kunsttheorie. Bei der wbg von ihm erschienen sind die Edition der Schriften des Abtes Suger von Saint-Denis (2012) sowie die Einführung zu ausgewählten Werken Bonaventuras. Ina Katharina Uphoff (Jg. 1972) ist promovierte Pädagogin und Leiterin der Forschungsstelle Historische Bildmedien am Lehrstuhl für Systematische Bildungswissenschaft der Universität Würzburg. Zu den relevanten Buchveröffentlichungen zählt u. a. das Werk Schaubilder und Schulkarten (2018). Bei der wbg sind von ihr zusammen mit Andreas Dörpinghaus u. a. erschienen: Die Abschaffung der Zeit (2012) und die Grundbegriffe der Pädagogik (52019). Bernhard Waldenfels (Jg. 1934) ist em. Professor für Phänomenologie an der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Phänomenologie des Fremden, u. a.: Antwortregister (1994), Bruchlinien der Erfahrung (2002), Ort- und Zeitverschiebungen (2007), Sozialität und Alterität (2015), Hyperphänomenologie (2012), Platon. Zwischen Logos und Pathos (2017), Erfahrung, die zur Sprache drängt (2019). Lambert Wiesing (Jg. 1963) ist Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Buchveröffentlichungen zur Bildtheorie, Phänomenologie und Luxus, u. a.: Die Sichtbarkeit des Bildes (2008), Artifizielle Präsenz (2005), Das Mich der Wahrnehmung (2015), Luxus (2015), Ich für Mich (2020).

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ANDREAS DÖRPINGHAUS

ist Professor für Systematische Bildungswissenschaft an der Universität Würzburg.

Es ist Zeit, über die Zeit nachzudenken Dieses Lesebuch versammelt 13 prägnante Essays über Muße und Langeweile, das Zögern und den rechten Augenblick, über Unterbrechungen, Ruhe und Unruhe. Dabei entfalten die verschiedenen disziplinären Perspektiven auf die Zeit ein reichhaltiges Spektrum persönlicher Zeiterfahrungen. Mit Beiträgen von Aleida Assmann, Andreas Dörpinghaus, Käte Meyer-Drawe, Bernhard Waldenfels, Konrad Paul Liessmann, Maren Schüll, Andreas Speer, Michael Erler, Ralf Konersmann, Christoph Horn, Lambert Wiesing, Jan Assmann und Ina Katharina Uphoff

Ausgesetzte Zeiten

ist Professorin i. R. für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Jan ist sie Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Aleida Assmann Andreas Dörpinghaus (Hrsg.)

ALEIDA ASSMANN

Aleida Assmann Andreas Dörpinghaus (Hrsg.)

Ausgesetzte Zeiten

Wir erleben gerade, dass unsere eingespielten Zeit-Routinen mehrfach unterbrochen sind. Die Pandemie hat die fortschreitende Beschleunigung der Rhythmen ausgesetzt, vieles wird verschoben, das Warten ist zurückgekehrt. Gleichzeitig verstärkt die Bedrohung des Planeten den Ausnahmezustand und wirkt unmittelbar auf unser Zeitgefühl: Wann wenn nicht jetzt ist es Zeit zu handeln? Wer sich vor diesem Hintergrund grundsätzlicher über die Vielfalt und persönliche Bedeutung menschlicher Zeiterfahrungen informieren will, findet in diesem Lesebuch reiche Anregungen.

Nachdenken über den Lauf der Dinge

Kommen Sie ins Gespräch mit Leser:innen und Autor:innen auf wbg-community.de

Umschlagabbildung: kyoshino / istockphotos Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

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wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4306-2

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