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German Pages [163] Year 1998
Wenn es um Fragen der sozialen Selbstverständigung der Menschen in der heutigen hochtechnisierten W e l t geht, stößt die herkömmliche Psychologie mit ihrer naturwissenschaftlichen Methodik und Theoriesprache an ihre Grenzen. In diesem Band werden daher die Möglichkeiten alternativer Herangehensweisen, wie Psychoanalyse, sozialer Konstruktivismus, aber auch der historische Zugang der Kritischen Psychologie und der prognostische Erkenntnisweg des Technikphilosophen Günther Anders erkundet. Dabei wird nach einem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Psychologie gefragt, mit dem nicht nur die Chancen und Potentiale, s o n d e r n auch die K o n f l i k t e und Widersprüche menschlicher Subjektivität in technologischer Realität zur Sprache kommen können.
E r n s t S c h r a u b e , Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kritische Psychologie der Freien Universität Berlin und derzeit Gastwissenschaftler am Department of Science and Technology Studies des Rensellaer Politechnic Institute in Troy, NY, USA.
Argument-Sonderband Neue Folge AS 262 ISBN 3-88619-262-8 • 29,80 DM
Ernst Schraube
AUF DEN SPUREN DER Psychologie DINGE in einer Welt der Technik
Argument-Sonderband Neue Folge AS 262
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schraube, Ernst: Auf den Spuren der Dinge : Psychologie in einer Welt der Technik / Ernst Schraube - Berlin ; Hamburg : Argument-Verl, 1998 (Argument-Sonderband ; N.E, AS 262) ISBN 3-88619-262-8
Alle Rechte vorbehalten © Argument Verlag 1998 Eppendorfer Weg 95a, 20259 Hamburg Tel. 040/4018000 • Fax 040/40180020 www.argument.de Lektorat: Lisa Schlenker, Winterbach Umschlagphoto: Voller Ernst, Berlin Gestaltung: K/PLEX, Berlin Druck: Alfa Druck, Göttingen Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Erste Auflage 1998
Inhalt
I
Einleitung
5
Technik in der Psychologie
15
Psychotechnik
16
Ingenieurpsychologie
18
Wirkungs- und Akzeptanzforschung
19
Kognitive Psychologie
22
Psychoanalyse
32
Sozialer Konstruktivismus und diskursive Psychologie
52
2 | Kritische Psychologie
71
Die Bedeutung der Mittel in der Entstehungsphase des Menschen
73
Manipulationsfähigkeit und Sach- und Sozialintentionalität
73
Zweck-Mittel-Umkehrung und soziale Mittelherstellung
75
Von der sozialen zur gesellschaftlichen Mittelherstellung
76
Herstellen, Hergestelltes und Subjekt im entstehenden gesellschaftlich-historischen Prozeß
79
Bedeutungsaspekte der Mittel: Hergestelltheit und Brauchbarkeit
80
Zuerst Vorstellen, dann Herstellen
81
Die Beziehung zu den Dingen
83
Subjekt zur Welt Kein Bedingungs- sondern ein Begründungsverhältnis
83
Bedeutungen: Aus Aktivitätsdeterminanten werden Handlungsmöglichkeiten
84
Objektive Lebensbedingungen und subjektive Handlungsgründe
88
Aneignung, Veränderung und Handlungsfähigkeit
92
Sinnliche und denkende Erkenntnis Psychologie vom Standpunkt des Subjekts
95 101
3 | Philosophie der Diskrepanz
113
Technik — das Subjekt der Geschichte Verkehrung von Mittel und Zweck Gefälle Verkehrung von Herstellen und Vorstellen Moralische Phantasie Herangehensweise. Schritte...
114 116 119 120 124 125
Prognostische Erkenntnis
140
4 | Selbstverständigung in einer Welt der Technik Literatur
145 157
II
Einleitung
Obwohl seit der industriellen Revolution Technik als Einflußgröße von den meisten Gesellschafts- und Kulturtheorien mitgedacht worden ist (z. B. Marx, Weber, Simmel, Freud), und obwohl während des gesamten 20. Jahrhunderts die formende Rolle von Technik nicht nur im Produktions-, sondern auch im Reproduktionsbereich immer wieder reflektiert worden ist (Heidegger, Frankfurter Schule, Ökologiebewegungen), ist die Auseinandersetzung mit Wissenschaft und Technik in den Geistes- und Sozialwissenschaften doch bis vor kurzem sporadisch und unsystematisch geblieben. Erst in jüngerer Vergangenheit ist die zentrale Bedeutung von Technik für fast alle gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche anerkannt worden und hat auch in Teildisziplinen und multidisziplinären Neugründungen ihren institutionellen Niederschlag gefunden, etwa Technikgeschichte, Techniksoziologie, Technikanthropologie, Technikphilosophie oder in multidisziplinären Zugängen wie Science & Technology Studies. Dabei werden zunehmend auch die gravierenden Probleme und Widersprüche im Zusammenhang von Mensch, Natur, Gesellschaft und Technik beleuchtet Schwerpunktthema etwa bei der gemeinsamen Konferenz der beiden großen Gesellschaften sozialwissenschaftlicher Technikforschung im Jahr 1997, dem "Joint Meeting of the European Association for the Study of Science and Technology" und der "Society for the Social Studies of Science" bildete die Frage nach den Krisen, Bedrohungen und. Unsicherheiten, mit denen Menschen in der heutigen Welt der Technik konfrontiert sind, die Problematik der Auflösung der Grenzlinien zwischen menschlichen Subjekten, natürlichen Verhältnissen und technischen Systemen und die Widersprüche und Paradoxe der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, deren Möglichkeiten und Macht einerseits wächst, die andrerseits aber eine unvorhergesehene und bedrohliche Komplexität an natürlichen und sozialen Dynamiken auslöst. In der Geschichte der akademischen Psychologie nimmt Technik eine bedeutende Rolle ein. Einerseits entstanden in der angewandten Psychologie Zulieferansätze wie die Psychotechnik, die Ingenieurpsychologie und die Wirkungs- und Akzeptanzforschung, andrerseits bildeten von der Elementen- über die Gestaltpsychologie, vom BehavioARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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EINLEITUNG
rismus bis zur Kognitiven Psychologie technische Begriffe und Methoden die theoretischen Grundlagen zur Interpretation psychischer Phänomene. Eine Interpretation der Technik selbst aber, die Frage nach der Angemessenheit einer aus Naturwissenschaft und Technik entliehenen Grundbegrifflichkeit, aber auch eine Erkundung der Veränderungen des Menschen in einer Welt der Technik lagen außerhalb des Fragehorizonts. Dieser Mangel wurde innerhalb der Disziplin erkannt, die Forderung aber nach einer umfassenden psychologischen Auseinandersetzung mit Technik fiel zumindest innerhalb der traditionellen Psychologie nicht auf fruchtbaren Boden. Die Gründe dafür sind vor allem im wissenschaftlichen Selbstverständnis der Psychologie und ihrer Theoriesprache zu suchen. Mit den Grundbegriffen und Methoden, mit denen in den Hauptströmungen der Psychologie gearbeitet wird, wie etwa der Computermetaphorik der Kognitiven Psychologie und dem verbreiteten experimentell-statistischen Verfahren der Erkenntnisgewinnung, erscheint die Welt, in der Menschen ihr Leben führen, und damit eben auch die heutige Welt der Technik allein in höchst verdünnter Form, als "Reiz" bzw. als "Input". Ein Verständnis der Bedeutung der Welt und der sachlich-sozialen Strukturen für Menschen, und damit auch ein Verständnis des psychischen Erlebens und Handelns in der heutigen Technowelt muß so systematisch ausgeblendet bleiben. Manche sprechen daher von einem "methodologischen Solipsismus" (Fodor) oder von der "Weltlosigkeit" (Holzkamp) traditioneller Psychologie. Wenn die Psychologie sich mit den Problemen und Widersprüchen im Verhältnis von Mensch und Technik auseinandersetzen will, wären daher konzeptionelle Neuorientierungen unausweichlich. An den Rändern des psychologischen Mainstreams, in den subjektorientierten Ansätzen, in denen begrifflich und methodisch alternative Wege eingeschlagen werden, vor allem in der Psychoanalyse und im sozialen Konstruktivismus finden erste Auseinandersetzungen mit Technik statt. In den Studien werden psychologische Prozesse der Bedeutungszuschreibung erkundet, aber auch das Wechselverhältnis von Mensch und Technik wird thematisiert und die Frage, wie sich im Umgang der Menschen mit Maschinen psychisches Erleben, Fühlen, Denken und Handeln verändern. So aufschlußreich viele der hier entwickelten Beobachtungen und Einsichten auch sind, so bleibt das begrifflich-methodische Instrumentarium, mit dem gearbeitet wird, außerhalb einer eingehenden Reflexion und Begründung. So mangelt es an einer fundierten Grundbegrifflichkeit und einer theoretischen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
II
Rahmenkonzeption, mit der der innere Zusammenhang von Mensch und Technik, mit der der Gegenstand, um den es geht, präzise ins Blickfeld kommen könnte. Entsprechend fehlt in vielen der subjektpsychologischen Technikstudien ein differenziertes Grundverständnis der Technik und so bleibt zwangsläufig auch in den konkreten Untersuchungen die Frage nach der Bedeutung der technischen Produkten und Strukturen selbst, die Entwicklung eines Verständnisses der konkreten Besonderheiten, Eigenarten und Charakteristika der Dinge, außerhalb des Blickfeldes. Im subjektwissenschaftlichen Ansatz der Kritischen Psychologie wurde nun der Versuch unternommen eine psychologische Grundbegrifflichkeit systematisch zu entwickeln und zu begründen, in der — Voraussetzung einer jeden Psychologie der Technik — der traditionelle Dualismus von Individuellem und Gegenständlich-Sozialem, von Mensch und Welt überwunden wird. Klaus Holzkamp entwickelt dazu ein historisch-empirisches Vorgehen, mit dem er das Psychische von seiner ursprünglichen Entstehimg bis hin zur Besonderheit der menschlichen Entwicklungsform in seinen unterschiedlichen Aspekten rekonstruiert. Er erarbeitet damit eine detaillierte kategoriale Konzeption des inneren Zusammenhanges von individueller Subjektivität, "natürlichen" Grundlagen und gesellschaftlicher Welt. Dabei entwickelt Holzkamp eine differenzierte Begrifflichkeit des Verhältnisses von Menschen zu den von ihnen geschaffenen Werkzeugen und Mitteln, und er zeigt, daß ohne ein präzises Verständnis der Bedeutung der sachlich-sozialen Strukturen, in denen Menschen ihr Leben fuhren, individuelle Subjektivität und menschliches Befinden und Handeln nicht wirklich erfaßt werden können. So versucht er mit seinem Bedeutungskonzept und dem Konzept der subjektiven Handlungsgründe eine Basis zu entwickeln fur psychologische Einsichten in die komplexen Beziehungen von Mensch und Welt. Dementsprechend werden in dem von Holzkamp skizzierten aktual-empirischen Forschungsweg Menschen (und ihr Leid) nicht, wie so oft, losgelöst aus ihren Lebenszusammenhängen — abstrakt und individualistisch — betrachtet, sondern problematische Erfahrungen und individuelles Handeln aus der Innenperspektive des Subjekts unter Einbeziehung der konkreten sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen und Strukturen heraus zu verstehen versucht. Kritische Psychologie als eine Psychologie vom Standpunkt des Subjekts und mit dem Anspruch, zur sozialen Selbstverständigung der Menschen in der heutigen Zeit und Welt beitragen zu wollen. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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EINLEITUNG
Auf der Grundlage von Holzkamps kategorialer Konzeption erscheint Technik als Mittel zum Zweck, als ein gesellschaftliches Mittel. Nun stellt sich aber die Frage, ob der Mittelbegriff zum Verständnis heutiger Technik ausreicht, oder ob fur eine angemessene Auffassung der Bedeutung heutiger Apparate, Maschinen und global vernetzter Maschinensysteme nicht eine Präzisierung der "MitterVorstellung der Technik erforderlich wäre. Bei der Frage nach einem zeilgemäßen Technikverständnis und nach der Konzeptionalisierung des Zusammenhanges von Mensch, Gesellschaft und Technik können im gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Technikdiskurs drei Sichtweisen unterschieden werden. Zum einen bildete sich in Ansätzen die Tendenz heraus, Technik als autonomen, aber gesellschaftlich bestimmenden Einflußfaktor aufzufassen, der sich nach eigenen internen Gesetzen entwickelt, aber die Entwicklung aller anderen gesellschaftlichen Bereiche lenkt. Dieser fechnikdeterminismus ist in manchen ökonomischen Theorien und frühen technik-historischen Arbeiten zu finden, ausgeprägt ebenso in technik-utopischen Schriften, die von einer Unausweichlichkeit der technischen Entwicklung ausgehen und sich von den jeweils gerade neuesten Technologien die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme erhoffen. Demgegenüber hat in den letzten zwei Jahrzehnten der Sozialkonstruktivismus in der Techniksoziologie gezeigt, daß Wissenschaft und Technik durch soziale Prozesse bestimmt werden. Sozialkonstruktivisten zufolge ist Technik nicht das Resultat einer inhärenten Entwicklungslogik der Technik selbst, sondern das Ergebnis von Auseinandersetzungen sozialer Gruppierungen und ihrer Werte (etwa Bijker, Hughes & Pinch, 1994). Technische Systeme werden aus dieser Sicht als Phänomene aufgefaßt, die auf nahtlose Weise materielle, institutionelle, ökonomische und soziale Aspekte miteinander verweben. Gegenüber den sozialkonstruktivistischen Ansätzen, die üblicherweise bei Fragen der Technikgenese verharren und selten analysieren, wie solche sozial konstruierten technischen Systeme auf soziale und gesellschaftliche Realitäten zurückwirken, haben sich technikkritische Ansätze entwickelt, die neben der sozialen Bestimmimg der Technik auch die technische Bestimmtheit des Sozialen in ihren Fragehorizont mit einbeziehen. Wenn, so wird hier argumentiert, technische Produkte und Systeme aus sozialen und gesellschaftlichen Widerspruchs- und Machtkonstellationen hervorgehen, dann schlagen sich diese Verhältnisse auch in den hergestellten ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
II
Dingen nieder. Technik ist damit immer auch politisch — "artifacts have politics" —, und daher stehen hier Fragen nach der besonderen Eigenart und Bedeutung technischer Produkte und Systeme und deren Einfluß auf das individuelle und soziale Leben im Zentrum der Analysen (Breuer, 1992; Smith & Marx, 1995; Ullrich, 1988; Winner, 1989,1992; u. a.). Die Technikphilosophie von Günther Anders stellt eine differenzierte Variante dieser technikkritischen Perspektive dar. Anders schreibt über die "Seele" in einer Zeit der technisch-industriellen Revolutionen und versucht für die individuellen und kollektiven Veränderungen der Menschen in einer Welt der Technik eine Sprache zu finden. Dabei diagnostiziert er das heutige Grunddilemma in einer Diskrepanz zwischen dem menschlichen Herstellungs- und Vorstellungsvermögen. Was wir produzieren, könnten wir nicht mehr angemessen reproduzieren und vor allem darin wurzele ein fataler Verfugungsverlust. Eine phantastische technische Welt und Wirklichkeit sei geschaffen, die allein durch Phantasie einzuholen und zu begreifen wäre. Daher entwickelt Anders in seinen Analysen eine moralische Phantasie. Ausgangspunkt dabei sind konkrete Widersprüche und Probleme menschlicher Lebenspraxis in technischer Wirklichkeit. Diese "Gelegenheiten", wie er sagt, interpretiert er dann nicht, wie das in subjektpsychologischen Konzepten üblich wäre, von "unten nach oben", analysiert also nicht vom Subjekt aus dessen individuellen Vermittlungen mit den für es bedeutungsvollen sachlich-sozialen Strukturen der Welt, er geht auch nicht in tedinikdeterministischer Manier von "oben nach unten" und versucht den Menschen unmittelbar aus den Verhältnissen heraus abzuleiten, vielmehr blickt er von "oben nach vorn", geht auf die Strukturzusammenhänge der Produkte der Technik ein und fragt von da aus nach den zukünftigen Veränderungen des Menschen. Anders entwickelt eine prognostische Hermeneutik, eine Vorgehensweise, in der er, mit einem in die Zukunft gerichteten Blick, ansetzend an den Dingen, eine Kritik der individuellen und sozialen Konsequenzen der Technik entwirft. Einen solchen prognostischen Erkenntnisweg fordert Anders nun nicht nur von der Psychologie, sondern als Aufgabe an die Allgemeinheit: "Da unser morgiges Schicksal und das Aussehen des morgigen Menschen davon abhängt, ob und wieweit wir fähig sind, in den Geräten von heute die von diesen geprägte Menschheit zu erkennen, (haben wir) diese unsere Fähigkeit auszubilden" (A2, S. 427). Dies sei "zur moralischen Aufgabe von uns allen geworden" und "wenn uns ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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EINLEITUNG
das nicht gelingt, dann werden wir das drohende Verderben nicht kupieren können" (A2, S. 428). Anders' Forderung nach einer derartigen Weise praktischer Vernunft widerspricht den gängigen Vorstellungen wissenschaftlichen Denkens. Vorsicht und Voisorge bei der Erzeugung und Einfuhrung neuer Technologien erscheinen zwar zweifellos vernünftig und sinnvoll, und so werden im gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Technikdiskurs mehr und mehr Stimmen laut, die eine kritische Beleuchtung nicht nur der ökonomischen oder der ökologischen, sondern auch der psychologischen Konsequenzen neuer Technologien einfordern. Sherry Turkle etwa erklärt in ihrer psychologischen Studie über den Einfluß der Computer auf menschliches Denken: "Es geht mir nicht um die Frage, wie der Computer zukünftig sein wird, sondern wie wir sein werden. Was fur Menschen werden wir sein?" (1984, S. 10). Oder der Technikphilosoph Langdon Winner betont, wie notwendig es allgemein fur die Wissenschaften vom Menschen wäre, "to ask in advance about the qualities of the artefacts, institutions, and human experiences currently on the drawing board" (1989, S. 18, Hervorhebung v. Verf.) und fragt entsprechend in einer Studie: "Who will we be in Cyberspace?" (1996). Trotzdem: "Phantasie" gilt Zumindestens bislang noch als der spekulative Gegenpol zur wissenschaftlichen Form der Erkenntnisgewinnung. Wissenschaftliche Aussagen beziehen sich üblicherweise auf vergangene oder gegenwärtige, nicht aber auf zukünftige Ereignisse und als ein wesentliches Kriterium wissenschaftlicher Analyse gilt das der empirischen Nachprüfbarkeit. Anders' moralische Phantasie und prognostische Durchdringung der Maschinenwelt erscheint so als eine Grenzüberschreitung, weniger Science, als vielmehr Science Fiction oder Prophetentum. Genauer noch: negatives Prophetentum, denn Anders' Aussagen und Voraussagen sperren sich ihrem Charakter nach dem Überprüfungskriterium, denn er wünscht von keiner seiner Prognosen, daß sie auch eintreten werde. "Nichts ist schrecklicher, als recht zu haben und recht zu behalten" (Anders, 1986b, S. 31). Günther Anders wie auch Klaus Holzkamp versuchen Denkweisen zu entwickeln, mit denen konkrete Probleme und Widersprüche menschlicher Lebenspraxis durchschaubar und begreifbar werden. Beide betrachten dabei den Menschen als Subjekt, als Wesen, die sich zu ihren natürlichen und selbstgeschaffenen Lebensverhältnissen ins Verhältnis setzen können. Beide nehmen sich der Verletzlichkeit des ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Subjekts an, sie erkennen, daß ein Einfluß auf und eine Verfugung über Dinge, die einen betreffen können, die Voraussetzung psychischen Wohlbefindens und eines menschenwürdigen Lebens darstellen, diese sich aber nicht von selbst verstehen, vielmehr immer wieder neu zu erkämpfen und zu gewinnen sind. Beide verstehen ihre Arbeiten als Mittel zur sozialen Selbstverständigung der Menschen in der heutigen Zeit und Welt. Holzkamps Beitrag dazu liegt vor allem in seiner Begründung einer welthaltigen allgemeinen Konzeption menschlicher Subjektivität und der Entwicklung einer psychologisch analytischen Grundbegrifflichkeit, welche Einsichten in den inneren Zusammenhang von individuellem Subjekt und sachlich-sozialer Lebenswirklichkeit ermöglicht, in der aber die Bedeutung konkreter Weltausschnitte — wie etwa die Welt der Technik — (noch) nicht detailliert ausgearbeitet wurde. Eine derartige Konkretisierung stellen Günther Anders' Arbeiten dar, es sind Analysen menschlicher Subjektivität in technologischer Realität. Anders erkennt, daß technische Produkte und Systeme mehr als nur Werkzeuge und Mittel im gesellschaftlichen Handlungszusammenhang darstellen, vielmehr Strukturen, welche die Welt heute konstituieren. Und diese weltkonstituierenden Technostrukturen und deren Effekte werden zwar von uns Menschen hergestellt, aber sie überfordern unsere Vorstellungsfahigkeit, so daß diese nicht nur Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten, sondern auch Bedingungen darstellen, die keine Bedeutung mehr "fur uns" haben und dem menschlichen Handlungs- und Verfugungshorizont entschwinden. So ist Anders der Selbstentmächtigung des Subjekts in einer Welt der Technik auf der Spur, er analysiert das "Innenleben" technologischer Strukturzusammenhänge und versucht deren individuelle und kollektive Bedeutung zur Sprache zu bringen. Derartige kritische Dinganalysen und Untersuchungen der Eigenart und der Bedeutung der technologischen Strukturen selbst stellen heute eine Voraussetzung dar fur ein Verständnis der Erfahrung und des Handelns individueller Subjekte und für eine Psychologie der Menschen in der heutigen hochtechnisierten Welt. Ausgangspunkt dieser Arbeit bilden die Probleme im Verhältnis von Mensch und Technik und die Frage, wie die Psychologie dazu beitragen könnte, diese Probleme durchschaubarer und verstehbarer zu machen. Da die Wirklichkeit nun nie unmittelbar, sondern immer "durch Begriffe hindurch" wahrgenommen und erkannt wird, kommt der ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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EINLEITUNG
Sprache, vor allem auch der Wissenschaftssprache, eine wesentliche Rolle bei Verstehensprozessen zu. Daher beleuchte ich im Folgenden die Theoriesprachen der Psychologie und hier entwickelte Sichtweisen auf die Beziehungen zwischen Mensch und Technik. Ich stelle unterschiedliche sich herausgebildete Begrifflichkeiten und Herangehensweisen vor, frage nach deren jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen und möchte dadurch die Voraussetzungen präzisieren fur eine kritische und selbstreflexive psychologische Auseinandersetzung mit Technik. Im ersten Kapitel beginne ich mit der Erkundung traditionell-psychologischer, naturwissenschaftlich orientierter Ansätze und deren Weisen der Analyse des Verhältnisses von Mensch und Technik. Ich frage, warum der Psychologie die Auseinandersetzung mit Technik so schwer fallt und beleuchte den Einfluß der Technik auf die psychologische Wissenschaftssprache. Danach erkunde ich psychologische Technikforschung an den Rändern des Mainstreams, in den subjektorientierten Ansätzen, die sich vom naturwissenschaftlichen Selbstverständnis lösen, und beleuchte die hier entstehenden Diskurse der psychologischen Selbstverständigung in einer Welt der Technik. Dabei diskutiere ich ausführlicher die psychoanalytische und die sozialkonstruktivistische Herangehensweise. Im zweiten Kapitel untersuche ich dann den subjektwissenschaftlichen Ansatz der Kritischen Psychologie und deren Entwurf einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts. Ihre theoretischen Grundlagen lese ich unter dem Aspekt des Verhältnisses von Subjekt und Technik, ich werde deren historisch-empirischen Erkenntnisweg und die dabei entwickelten Begriffe über den inneren Zusammenhang von Mensch, Natur und Gesellschaft/Technik vorstellen und beleuchte den daraus begründeten Vorschlag eines aktual-empirischen Forschungs- und Erkenntnisweges. Im dritten Kapitel der Arbeit stelle ich dann die Technikkritik des Philosophen Günther Anders vor und zeige, anhand eines konkreten Beispieles, dessen prognostischen Erkenntnisweg. Diesen diskutiere ich im abschließenden Kapitel im psychologischen Zusammenhang und frage dabei nach den Umrissen einer subjektwissenschaftlichen Psychologie der Technik. -k Je -k So sehr ich mich beim Schreiben dieser Arbeit in einem "inneren" Gespräch und einem Dialog mit mir Selbst befand, so sehr war ich ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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doch auch auf "äußere" Gespräche, auf die geduldigen und offenen Ohren anderer, auf Ermutigungen, Diskussionen und vielfaltige Unterstützungen von Freundinnen und Freunden angewiesen. Besonders danken möchte ich Jolande van Boekel, Heinrich Schwarz, Tamara Musfeld, Werner Deutsch, Thomas Bernhoeft, Dimitris Papadopoulos, Karoline Tschuggnall, Peter Mattes, Gisela Ulmann, Iris Meilike, Lisa Schlenker, Dominika Hasse, Rainer Seidel und den Studierenden meiner Seminare über Subjektivität und Technik im Studiengang Psychologie der Freien Universität Berlin. Klaus Holzkamp starb im November 1995. Er hat mich wie kein anderer ermutigt, mich mit Günther Anders' Technikphilosophie und den Problemen menschlicher Lebensführung in einer Welt der Technik auseinanderzusetzen. Seinem Andenken ist diese Arbeit gewidmet.
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11 Technik in der Psychologie
Innerhalb der Psychologie wird seit einiger Zeit immer wieder betont, daß eine umfassende Auseinandersetzung mit Technik erforderlich wäre. Aufgrund gravierender Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse im Zusammenhang mit der Entwicklung der Technik, hätte die Psychologie die Aufgabe sich an der Erforschung und Lösung der dabei entstehenden individuellen und sozialen Probleme zu beteiligen. Lenelis Kruse etwa fragt: "Was hat die Psychologie anzubieten, um den Menschen als Objekt von Technik nicht in Passivität verharren oder gar leiden zu lassen, sondern als Verfugungssubjekt zu emanzipieren?" und sie erklärt: "Es gibt wohl kaum eines der traditionellen Gebiete der Psychologie, von der Lern- und Motivationspsychologie über die Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie bis hin zur Pädagogischen und Sozialpsychologie, das bei diesen Problemen nicht angesprochen wäre und auch — in unterschiedlichem Maße — einen Beitrag zur Problemlösung leisten könnte" (1981, S. 79). Walter Bungard und Jürgen Schultz-Gambard gehen noch einen Schritt weiter und sehen die Psychologie als eine wissenschaftliche Disziplin gefährdet, wenn sie sich nicht an der Erforschung der Probleme der Technik und ihrer psychischen und sozialen Auswirkungen beteilige. "Wenn die Psychologie", betonen sie, "sich nicht zu einer umfassenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Technik bereit findet und daher auch zu den gesellschaftspolitischen Diskussionen über die Veränderungen unseres Lebens durch Technik nicht Entscheidendes beitragen kann, (wird) dies sicherlich ernsthafte Konsequenzen hinsichtlich des Forschungsbetriebes, wie wir ihn heute kennen, möglicherweise hinsichtlich der Existenz der Wissenschaft Psychologie überhaupt haben. Bereits jetzt befindet sich die Psychologie hierbei im gesellschaftspolitischen Abseits" (1988, S. 168; s. a. Sieber, 1990; Kipnis, 1991, 1997; u. a.). So berechtigt zweifellos diese Forderung nach umfassenden psychologischen Untersuchungen der Veränderungen des menschlichen Lebens in einer Welt der Technik auch sind, sie konnten innerhalb der Disziplin bislang kaum umgesetzt werden. "Das Gebiet der Technikpsychologie", erklären Walter Bungard und Hans Lenk 1988, muß "als nahezu nicht existent bezeichnet werden" (S. 10). Zwar entstanden in den letzten Jahren an den Rändern des psychologischen Mainstreams einige subjektpsychologische AuseinARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE
andersetzungen mit Technik, aber auch diese Studien sind bislang zu diskontinuierlich und zu vereinzelt, um von einem systematischen psychologischen Technikdiskurs sprechen zu können. Woran liegt das? Warum fallt der Psychologie die Analyse der Beziehungen zwischen Menschen und Technik trotz der verbreiteten Einsicht in deren Erforderlichkeit so schwer? Die Gründe dafür sind vor allem im wissenschaftlichen Selbstverständnis der vorherrschenden Psychologie zu suchen. Seit ihrer Herauslösung aus der Philosophie Mitte des vorigen Jahrhunderts und ihrer Institutionalisierung als eine einzelwissenschaftliche Disziplin begrenzt sich die Psychologie in ihren Hauptströmungen auf eine von den Naturwissenschaften entliehene Begrifflichkeit und Methodik. Mit einer rein, naturwissenschaftlich ausgerichteten Wissenschaftssprache reduziert die Psychologie das von ihr untersuchte psychische Geschehen konzeptionell auf kausale Zusammenhänge, in denen menschliche Lebenszusammenhänge allein sehr abstrakt, als in Variablenform operationalisierte, höchst begrenzte Weltausschnitte aufgefaßt werden können. Technik bzw. das Verhältnis von Mensch und Technik kann so zwangsläufig nur in sehr reduzierter Form zum Thema gemacht werden. Selbstkritisch erklärt Bungard daher, daß die Psychologie sich bei der Auseinandersetzung mit Technik durch ihre eigene Methodologie behindere. "Traditionell reduziert die Psychologie", betont er, "die von ihr untersuchte Realität auf wenige einzelne Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge" (1988, S. 161). In einer derartigen "umweltlosen Psychologie" (ebd.) aber könne Technik kaum als ein erfolgversprechender Forschungsgegenstand erscheinen. Diese Reduktion und begrifflich-methodische Selbstbehinderung zeigt sich einerseits in den entwickelten traditionell-psychologischen Technikzugängen, andrerseits aber auch auf besondere Weise in der gegenwärtig vorherrschenden Computersprache der Kognitiven Psychologie. PSYCHOTECHNIK Mit der Psychotechnik begann, vor bald einem Jahrhundert, die systematische psychologische Untersuchung der Beziehungen zwischen Menschen und Technik. William Stern, der diesen Begriff 1903 in die Psychologie einführte, verstand darunter, als ein Zweig der sich etablierenden angewandten Psychologie, ein auf psychologisches ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
PSYCHOTECHNIK
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Fachwissen gegründetes Behandeln und Einwirken. "Psychotechnik . . . [fördert] wertvolle Zwecke durch geeignete Handlungsweisen" (S. 28). Demnach wird hier der Ausdruck Technik im Sinne eines Tims des Menschen verwendet. Münsterberg, Moede, Giese u. a. entwickelten die Psychotechnik zu einem Verfahren, in dem insbesondere Fragen der Anpassung des Menschen an den technisch-industriellen Prozeß (" Subjektpsychotechnik") und umgekehrt, der Anpassung der Geräte und Maschinen an den Menschen, im Mittelpunkt standen ("Objektpsychotechnik"). "Den Menschen . . . vornehmen", schreibt Giese 1928, "und den Wirklichkeitsanforderungen anpassen" (S. 8). Das Programm der Psychotechnik war, wie Stern betont, an "transpersonalen Zielen" (1933, S. 53) orientiert: Rationalisierung und Optimierung der Arbeitskraft und der Produktion. Aufgrund ihres erklärten Selbstverständnisses als eine "Gehilfin der Wirtschaft" (Stern, 1933, S. 56), war die Psychotechnik von Anfang an nicht unumstritten. Ihre Eingriffe seien Übergriffe, die die Persönlichkeitssphäre der von ihr behandelten Individuen verletze und sie würde Menschen zum "Mittel" für transpersonale Ziele degradieren. Stern versucht zwar die Einwände ernst zu nehmen und betont, daß das Wohl der zu behandelnden Individuen stets mit zu berücksichtigen sei. "Der Psychotechniker", erklärt er, "arbeitet nicht an Maschinen, nicht an Waren (kurz: nicht an 'Sachen'), sondern an Menschen — Menschen aber sind und bleiben unter allen Umständen Zentren eines eignen Sinnes . . . also 'Personen', auch dann, wenn sie unter dem Gesichtspunkt eines transpersonalen Zieles erforscht und behandelt werden" und daher müsse "ein Arbeiten am Menschen . . . auch stets ein Arbeiten fizr eben diesen Menschen sein" (1933, S. 55). Diese Forderung aber blieb in der im Zusammenhang von Taylorismus und Fordismus boomenden Psychotechnik weitgehend wirkungslos. Im Betrieb, in Industrie und Wirtschaft entstanden die Hauptarbeitsfelder der Psychotechniker: Von der Eignungsprüfung bis zur Ausbildung, — "hier greift die Psychotechnik helfend ein, denn sie kann Drillmethoden . . . ausarbeiten, um in kürzester Zeit dasselbe oder noch mehr aus den Lernenden herauszuholen" (Giese, 1928, S. 55) — von der Anpassung der Maschinen an die psycho-physische Natur des Menschen bis zur Konsumstimulierung, — "im Werbewesen . . . handelt [es] sich darum, die Erzeugnisse abzusetzen. Dazu braucht man Publikum. Man muß also das Publikum dahin bearbeiten, wohin man es haben will" (S. 57) — reichen die psychotechnischen Behandlungen. Psychotechnik optimiert also mit psychologischer ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE
Technik das Verhältnis von Mensch und Technik. Und die präzise Bezeichnung dafür wäre, wie lipmann 1933 auch feststellt: "Technopsychotechnik" (S. 66). Aufgrund Sterns personalistischem Ansatz und seiner anti-mechanistischen Grundauffassung des Menschen unterscheidet sich einerseits die Psychotechnik von dem kurz nach ihr entstehenden Behaviorismus. Da es in der Psychotechnik aber auch um Fragen der Anpassung des Menschen an die Dingwelt geht, um Konditionierung von Menschen und um eine Form psychologischer Sozialtechnologie, kann sie andrerseits auch als ein Vorläufer des Behaviorismus angesehen werden. INGENIEURPSYCHOLOGIE Der technische Fortschritt führte zu immer komplexer und komplizierter werdenden Maschinen und es zeigten sich damit, vor allem im Zweiten Weltkrieg, schwerwiegende Probleme: Bomben verfehlten permanent die Ziele, Wale statt gegnerischer Schiffe wurden torpediert, Flugzeuge stürzten ab, etc.. Denn: die Maschinisten waren von den Anforderungen der Flugzeuge, Kommunikationsanlagen und anderen Maschinen überfordert, die technischen Entwicklungen "übertrafen", wie Alphonse Chapanis betont, "die Leistungsfähigkeit menschlicher Sinne, Gehirne und Muskeln" (1981a, S. 739). Um derartige Probleme aufzufangen, wurden interdisziplinäre Forschungsprogramme zur systematischen Untersuchung von MenschMaschine-Systemen eingerichtet und es entstand Human Factors Engineering und die Ergonomie bzw. die Ingenieurpsychologie. Die Ingenieurpsychologie fragt, wie Menschen mit ihren psychischen und physischen Grenzen verändert, trainiert und geschult werden könnten, so daß diese doch die neue Maschinenart bedienen können. Vor allem aber stellt sie sich, in der Tradition der Objektpsychotechnik, die Aufgabe, wie, mit psychologischem Fachwissen um die Besonderheiten menschlicher Fähigkeiten und deren Grenzen, Maschinen konstruiert und Geräte, Anlagen, Arbeitsplätze und Aufgabenstellungen gestaltet werden müssen. "Ingenieurpsychologen", erläutert Chapanis, "geht es primär um das Gestalten von Maschinen, Werkzeugen, Arbeitsplätzen und deren Umfeld, so daß sie den menschlichen Fähigkeiten und Grenzen am besten entsprechen" (1981b, S. 760).
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INGENIEURPSYCHOLOGIE
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Die Ingenieurpsychologie versteht sich, wie die Psychotechnik, als ein Bereich der angewandten Psychologie. Während aber üblicherweise im Zentrum der Aufgabengebiete und Tätigkeitsfelder der angewandten Psychologie individuelle Menschen stehen, geht es der Ingenieurpsychologie um die Entwicklung technischer Systeme. In den unterschiedlichsten Bereichen industrieller Produktion, vor allem in der Schwerindustrie, der Landwirtschaft und im Verkehr, aber auch in der Architektur, bei den neuen Kommunikationstechnologien und den Dingen des alltäglichen Gebrauchs, widmen sich Ingenieurpsychologen auf der Basis ihres psychologischen Wissens der Gestaltung technischer Produkte. Konzeptionell beschränkt sich die Ingenieurpsychologie bei der Gewinnung ihrer Einsichten in die psychologischen Besonderheiten der Menschen auf eine naturwissenschaftlich orientierte experimentalpsychologische Methodologie, aber auch bei der Anwendung der gewonnen Kenntnisse, bei der Gestaltung der technischen Produkte, wird der Zusammenhang von Mensch und Ding als ein System, also als ein technischer bzw. kausaler Zusammenhang aufgefaßt. So steht eine Erkundung der Bedeutung der auch von der Ingenieurpsychologie selbst gestalteten technischen Produkte im sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhang und eine breitere Betrachtung der Beziehungen zwischen hergestellten Dingen und den Menschen, die mit ihnen zu tun haben, außerhalb des Problemhorizontes. Mit der Ingenieurpsychologie, betonen Carl Graf Hoyos und Bernhard Zimolong 1990, will die Psychologie "Flagge zeigen" (S. XII). Sie soll "die Fähigkeit und Bereitschaft" der Psychologie demonstrieren, "in einer von der Technik geprägten Gesellschaft . . . zur Lösimg einschlägiger Probleme beizutragen, ja sogar mitzuhelfen, diese Gesellschaft und den Umgang mit der Technik humaner zu gestalten" (S. XII). In ihrem Problemverständnis und in ihren Lösungsvorschlägen allerdings begrenzt sich die Ingenieurpsychologie auf die Frage der Entwicklung und Gestaltung möglichst optimal und reibungslos funktionierender technischer Produkte. WIRKUNGS- UND AKZEPTANZFORSCHUNG Die Wirkungsforschung und die Akzeptanzforschung, als zwei weitere traditionelle technikpsychologische Ansätze, stellen demgegenüber gerade das Verhältnis von technischen Produkten und individuellen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Analysen. Beide arbeiten auf ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 26a
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TECHNIK IN DER PSYCHOLOGIE
behavioristischer oder neo-behavioristischer Grundlage. Während die Wirkungsforschung Technik als unabhängige Variable setzt und fragt, wie diese wohl auf den Menschen wirke, beispielsweise: "begünstigt Fernsehen antisoziales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen?" (Feshbach, 1989), untersucht die Akzeptanzforschung hingegen technische Dinge unter dem Gesichtspunkt der, in verschiedene abhängige Variable operationalisierten, Akzeptanz. Der Akzeptanzbegriff, der bis dahin auf autoritäre Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch bezogen, das Problem der Tolerierung von Entscheidungen erfaßt, wird hier nun auf die Beziehungen zwischen Mensch und Technik angewandt. Konkret erforscht wird die Einstellung — die Akzeptanz — des Verbrauchers gegenüber einem neu entwickelten und vor der Markteinfuhrung stehenden Produkt und die Frage, ob dieser die neue Technik auch nutzen und kaufen wird. Im Labor, im Feld oder mit repräsentativer Befragung werden Produkttests oder Modellversuche durchgeführt, die dann zeigen, ob "Wiederaufbereitungsanlagen", "Game-Boy" oder "Pay-TV" vom Konsumenten auch "gewünscht" werden. Die praktischen Aufgaben dieses Ansatzes erstrecken sich auch auf die Herstellung von Akzeptanz. Die Sicht der Industrie, daß "neue Technologien . . . immer nur dann zum Problem [werden], wenn die Gesellschaft ihnen Widerstand entgegensetzt" und daher "bewußte wie imbewußte Widerstände durch rationales Verhalten abzubauen" (Miegel, 1984, S. 34) seien, wird als Auftragsstellung von Akzeptanzforschern unmittelbar angenommen und schlägt sich dann auch entsprechend in den Ergebnissen der Forschung nieder. Der Beitrag der Wirkungsforschung und der Akzeptanzforschung für eine psychologische Technikforschung wird in der Psychologie durchaus kritisch betrachtet. Zum einen wird vor allem die Selektivität der Fragestellungen der Ansätze problematisiert. Bungard und Schultz-Gambard etwa erklären, daß bei derartiger Forschung die Gefahr bestehe, daß in den Zielsetzungen weniger wissenschaftliche Kriterien, als vielmehr die Interessen der Auftraggeber den Ausschlag geben würden. "Wirkungsforschung", betonen sie, "kann — und wurde auch oft so eingesetzt — Anhaltspunkte fur Maßnahmen liefern, mit denen schädigende Nebeneffekte bei der Einführung neuer Technologie als objektiv 'unschädlich' akademisch sanktioniert werden" (1990, S. 581). Und auch in der Akzeptanzforschimg würde auf problematische Weise eine Ablehnung oder Skepsis gegenüber neuen Technologien als "bestenfalls irrational und schlimmstenfalls pathologisch" (ebd.) psychologisiert. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Zum anderen wird, und zwar auch innerhalb der Ansätze selbst, das methodische Instrumentarium der Wirkungs- und Akzeptanzforschung diskutiert und problematisiert. In den Studien über die psychischen Folgen atomarer Bedrohung etwa, die in den 50er Jahren in USA entstanden und nach Tschernobyl verstärkt auch in Europa entwickelt wurden, wurde traditionell mit behavioristischer bzw. neobehavioristischer Methodik gearbeitet. Auf der Grundlage eines als kausal angenommenen Verhältnisses zwischen atomarer Bedrohung und Mensch, wurde nach dem Verhalten als Reaktion auf den AtomReiz gefragt. Nun zeigte sich in diesen Studien, da Menschen in verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich auf die Bedrohung reagierten, daß das "Wirkungs-Paradigma", in dem einerseits Menschen nur als passiv auf Reize reagierend, andrerseits die Weltgegebenheiten nur als uniformer Reiz betrachtet werden, fur ein wirkliches Verständnis menschlichen Umgangs mit atomarer Bedrohung zu kurz greifen. Auch ein um "Mediatoren" erweitertes Konzept, mit dem der Kontext zwischen Bedrohung und Reaktion als ein kausales Netz verschiedener Faktoren in die Untersuchung miteinbezogen wurde, erwies sich als unzureichend. "Unsere Untersuchimg", schreiben Boehnke et al. 1987 selbstkritisch in ihrer Studie über nukleare Bedrohung, "[teilt] mit den vergleichbaren ausländischen Studien . . . ihre methodischen Mängel. Die zentrale Frage nämlich, was mit einem solchen Untersuchungsansatz gemessen wird, . . . muß bisher als unbefriedigend gelöst gelten" (S. 85). Barbara Tizard erklärt daher, "daß der Umgang mit atomarer Bedrohung keine einfache Frage von Reiz und Reaktion sei, und auch nicht von verschiedenen Reaktionen in verschiedenen Kontexten, sondern daß Menschen ihre eigenen Erklärungen aus dem, was sie sehen und hören, konstruieren" (1989, S. 36), und damit eine Untersuchungsmethodik erforderlich werden würde, die einen Zugang zum Verständnis der Bedeutung der Bedrohung fiir Menschen ermöglicht. Die psychologische Atomforschung in der Phase des Wirkungs-Paradigmas, betont sie, hätte wichtige beschreibende Datensätze erbracht, die, da sie z. B. das Ausmaß der Besorgnis der Menschen belegen, zumindest die öffentliche Diskussion der Problematik angeregt hätten. Aufgrund des vereinfachten Kausalzusammenhanges aber, den sie voraussetzt, sei "Forschung, die im 'Wirkungs'-Paradigma verharrt, nicht länger brauchbar" (ebd. S. 37). Die Studien zur atomaren Bedrohung entwickelten sich so von einer "Wirkungsforschung" zu einer — wie sie bezeichnet werden könnte — Bedeutungsforschung, bei der in den vergangenen Jahren vor allem der sozialARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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konstruktivistische Ansatz, in dem mit den Beforschten eine Klärung der individuellen und sozialen Bedeutung der Bedrohung versucht wird, die Grundlage der Untersuchungen bildet (Tizard, 1989; Legewie, Böhm, Boehnke, Boldt, Faas, Gross & Jaeggi, 1990; u. a.). Psychotechnik, Ingenieurpsychologie und die Wirkungs- imd Akzeptanzforschung zeigen, daß Technik in der Geschichte der Psychologie durchaus Thema ist und daß differenzierte Analysen der Beziehungen zwischen Menschen und Technik entwickelt wurden. Allerdings steht in ihnen weniger die individuelle Person, als vielmehr die Technik im Zentrum, es werden weniger genuin psychologische Erkenntnisse menschlicher Subjektivität in technisierter Welt gewonnen, als vielmehr psychologische Kenntnisse in technischen Arbeitsfeldern und auf die Entwicklung der Technik selbst angewendet. Menschen erscheinen quasi als Anhängsel der Technologien, daher könnten diese Ansätze als Psychologien vom Standpunkt der Technik bezeichnet werden. In der Wirkungsforschung, dort, wo es um die Entwicklung spezifisch psychologischer Einsichten geht, zeigen sich grundsätzliche konzeptionelle Mängel. Aufgrund einer kausalistischen Zugangsweise, in der Wellgegebenheiten allein als Reiz, nicht aber in ihrer Bedeutung für Menschen gesehen werden, kann "Welt" (in dem dargestellten Beispiel "atomare Bedrohung") und der individuelle menschliche Bezug dazu, allein in sehr reduzierter Form zur Sprache kommen. Dieser Mangel verweist auf das bereits angesprochene allgemeine Problem der traditionell psychologischen Wissenschaftskonzeption, das Mensch-Welt-Verhältnis überhaupt und damit auch Technik ins Blickfeld zu bekommen. Daher werde ich nun traditionell psychologische Zugangsweisen unter dem Aspekt ihres Welt/Technik-Bezuges ausfuhrlicher betrachten, und konzentriere mich dabei auf die gegenwärtig die akademische Psychologie dominierende Konzeption der Kognitiven Psychologie, die, da in ihr psychische Phänomene mit technischer Terminologie interpretiert und analysiert werden, zudem eine besondere Form einer Technikpsychologie darstellt. KOGNITIVE PSYCHOLOGIE Die Psychologie bezieht bislang in ihren Hauptströmungen ihr Selbstverständnis und ihre fachliche Identität nicht aus einem inhaltlich spezifizierten Grundverständnis ihres Gegenstandes, vielmehr aus ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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einer spezifisch psychologischen Methodologie. Von Beginn ihres einzelwissenschaftlichen Daseins bis heute zeichnet die Psychologie sich durch eine, in unterschiedlichen Variationen durchgängig zu findende, besondere methodische Anordnung aus, durch die sie einerseits ihren wissenschaftlichen Anspruch bestimmt und sich damit andrerseits von anderen wissenschaftlichen Diziplinen abgrenzt. Die Struktur dieses klassischen Methodenschemas ist durch drei Instanzen bestimmt: Zum einen durch die "Versuchsperson(en)", zum zweiten durch eine "Reizkonstellation", die der Versuchsperson dargeboten wird und zum dritten von der Antwort, der "Reaktion" der Versuchsperson auf die Reizkonstellation, die vom Versuchsleiter dann als "Datum" registriert wird. Der Versuchsleiter konstituiert (über die Bestimmung der Fragestellung, die Auswahl der Versuchspersonen, usw.) die Anordnimg, er bleibt aber, im Bezug zu der Struktur des Schemas, im Hintergrund. Üblicherweise wird die dargebotene Reizkonstellation als "unabhängige Variable" bezeichnet und die Reaktion der Versuchsperson als "abhängige Variable"; in der "experimentellen Hypothese", bzw. der Theorie werden dann "Vorhersagen" über die Art des Zusammenhanges zwischen abhängiger und unabhängiger Variable gemacht. Wenn Bungard, wie oben ausgeführt, betont, daß traditionell die Psychologie die von ihr untersuchten Phänomene auf wenige einzelne Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge reduziert, dann bezieht er sich dabei genau auf dieses klassische nomothetische Schema psychologischer Methodologie. Durch diese methodische Anordnung wird eine Art von sprachlichem Rahmen gesetzt, innerhalb dessen psychologische Theorien formuliert werden. Dieser Rahmen ist einerseits sehr eng und begrenzend, da nur Theorien, die begrifflich in dieses methodische Schema übersetzt werden können, auch als psychologisch gelten. Andrerseits aber ist er auch sehr offen: aus ihm lassen sich keine inhaltlichen Bestimmungen über eine spezifisch psychologische Theoriesprache entwickeln. Von Anbeginn ihrer einzelwissenschaftlichen Entwicklung übernahm nun die Psychologie ihre Theoriesprache von den Natur- bzw. exakten Wissenschaften, Von Wundts elementenpsychologischem Zugang, dem das damals gerade entwickelte chemische Elementenmodell zugrunde lag, über die Gestaltpsychologie, die Köhler auf der Grundlage einer Gestaltphysik entwickelte, bis hin zu dem mit physiologischen Termini arbeitenden Behaviorismus und der Computersprache des Kognitivismus zeigt sich eine an den Naturwissenschaften ausgerichtete Grundbegrifflichkeit. Versuche zur ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Entwicklung einer genuin psychologischen Wissenschaftssprache, wie etwa William Sterns Grundlegung einer personalistischen Psychologie, bildeten die Ausnahme. Üblicherweise wird nicht darüber diskutiert inwieweit oder ob überhaupt derartige begriffliche Grundlagen dem Gegenstand der Psychologie gerecht werden und aus ihm begründet sind, vielmehr geht es alleine darum, welches naturwissenschaftliche Konzept auf die Psychologie am besten anzuwenden sei. So versteht sich die Psychologie in ihren Hauptströmungen bis heute als eine Naturwissenschaft. Dieses naturwissenschaftliche Selbstverständnis der Psychologie beruhe nun, wie Klaus Holzkamp feststellt, auf einem gravierenden Selbstmißverständnis und in der Konstruktion psychologischer Wissenschaft in Form einer methodischen Standardanordnung mit jeweils unterschiedlicher (scheinbar) naturwissenschaftlicher Grundbegrifflichkeit liege die Hauptwurzel der "Weltlosigkeit" der Psychologie. "Es muß mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden", betont Holzkamp, "daß die Psychologie durch ihre Anleihen bei der Chemie, Physik, Physiologie keineswegs zu einer wirklichen Naturwissenschaft wird — ja, daß sie eigentlich nicht einmal ernsthaft einen Anspruch in dieser Richtung erheben kann. Tatsächlich handelt es sich hier lediglich um eine Art von . . . 'Als-Ob'-Verhältnis: Die Psychologie 'tut' quasi so, 'als ob' sie Chemie, Physik, Physiologie wäre, um zum einen jeweils per Analogie die Lücke zu füllen, die die Unfähigkeit zu eigentlich psychologischer Theorienbildung hinterlassen hat, und um zum anderen hinsichtlich ihrer Position im System der Wissenschaften von ihrem 'naturwissenschaftlichen' Status, selbst wenn er nur ein 'Als-Ob'-Status ist, zu profitieren" (1996, S. 11). In einer Analyse der unterschiedlichen naturwissenschaftlichen Konzepte, die in der Geschichte der Psychologie verwendet wurden, zeigt Holzkamp, wie in Zungen naturwissenschaftlicher Modelle gesprochen wird, ohne aber — wie es in den Naturwissenschaften erforderlich wäre — den Nachweis, daß es sich bei den untersuchten Phänomenen tatsächlich um naturwissenschaftliche Prozesse handelt, zu fuhren (1996, S. 7-27). Bezogen auf den Behaviorismus erklärt er: "Die Verwandlung von Physiologie in Psychologie bedeutet hier also den Verzicht auf den Nachweis physiologischer Prozesse zugunsten der Benutzung physiologischer Terme als bloßer Redeweise. Man tut so, als ob alle 'Konditionierungsprozesse' in spezifischen neurophysiologischen Vorgängen fundiert seien und täuscht so eine psychologische Theorie als 'naturwissenschaftliche' Theorie vor" (1996, S. 13). Aufgrund eines ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"Als-Ob-Status" der entliehenen Konzepte kann also von einem wirklichen naturwissenschaftlichen Charakter psychologischer Theorie nicht die Rede sein. Zudem aber auch, weil bei einer Übertragung naturwissenschaftlicher Konzepte in die Terminologie der psychologischen Standardanordnung, diese keineswegs ihre naturwissenschaftliche Form beibehalten, sondern einen spezifisch "psychologischen" Charakter annehmen. Gerade aus der Übertragung und Einordnung der theoretischen Konzepte in das klassische Methodenschema und in die Beziehimg zwischen Reiz und Reaktion resultiert zwangsläufig, betont Holzkamp, "daß die wirkliche alltägliche Welt, die in übergreifenden Bedeutungszusammenhängen steht und 'in'der wir alle leben, handeln und Erfahrungen machen, . . . der Psychologie . . . verloren gehf (1996, S. 18). In der Konstruktion der klassischen Standardanordnung interessiert die Reizkonstellation nicht als ein selbständiger Weltausschnitt in seiner sozialen und gesellschaftlichen Einbettung, sondern allein unter dem Aspekt, wie sie auf die Versuchspersonen einwirkt und was für mögliche Reaktionen sie zeitigt. "Genau genommen", erläutert Holzkamp, "gehört der so verstandene Reiz also zur 'Peripherie' der Vp selbst: Er ist nur als mögliche Modifikation von deren Sinnesfläche mit dem Effekt der Reaktionsänderung relevant, stiftet quasi eine 'kurze' oder 'innere' Verbindung zwischen Sensorium und Bewegungsapparat der Vp" (1996, S. 18). Auch bei der Antwort der Versuchsperson interessieren, aufgrund der Struktur der methodischen Anordnung, nicht die interpretativen oder eingreifend-verändernden Qualitäten des individuellen Subjekts, vielmehr wird sie allein unter dem Aspekt des unmittelbaren Effektes der Reizkonstellation betrachtet. Bei dem Individuum, wie es aus der Perspektive der Standardanordnung mit scheinbar exakter Theoriesprache aufgefaßt wird, handelt es sich also nicht um einen wirklichen Menschen in seinen konkreten alltäglichen Lebensbezügen, sondern, wie Holzkamp notiert, um einen "Torso, dessen Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten in der realen Welt quasi gekappt worden sind, zugunsten einer Begrifflichkeit, in der die Realität lediglich in 'organismischen' Termini erscheint: Die Welt und die Handlungen des Individuums werden hier so auf dessen Organismus projiziert, daß nur ihre unmittelbaren Einwirkungen bzw. Auswirkungen übrigbleiben; entsprechend kann man nicht von den Weltbezügen des Individuums reden, die mit anderen Weltgegebenheiten sachlicher und sozialer Art eine eigene ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Struktur bilden, durch diese Bedeutung gewinnen und zu deren Bedeutung beitragen,. . . sondern eigentlich nur immer von der . . . Beziehimg zwischen der Peripherie und den zentralen Instanzen des Organismus . . .: 'Weltlosigkeit' des 'psychologischen' Individuums aufgrund der Anmessung der theoretischen Konzepte an die ReizResponse- bzw. Variablenbeziehung, wie sie von der Standardanordnung vorgegeben ist" (1996, S. 18 f.). Im klassisch psychologischen Methodenschema mit einer scheinbar naturwissenschaftlichen Theoriesprache wären also vor allem die Gründe der Weltlosigkeit der Psychologie zu finden. Dieser Weltverlust, der natürlich immer auch eine Unfähigkeit darstellt, die Welt der Technik zu thematisieren, zeigt sich nun auf besondere Weise in der Kognitiven Psychologie. Mit der Entwicklung moderner Computer in den fünfziger Jahren begannen Computerwissenschaftler sich zu fragen, wie man Maschinen konstruieren könnte mit Fähigkeiten, die bis dahin allein Menschen vorbehalten waren. Beflügelt von der Idee zur Konstruktion künstlicher Intelligenz und mit der Absicht, präzise Erkenntnisse über menschliche Fähigkeiten und deren Grundlagen zu gewinnen, begannen sie sich auch mit psychologischer Theorie zu beschäftigen. Computistische und psychologische Denkströmungen trafen so aufeinander, wobei nicht nur die Computerwissenschaftler psychologische Einsichten zur Entwicklung ihrer "Denkmaschinen" zu nutzen suchten, sondern auch Psychologen das Maschinendenken der Computerwissenschaftler übernahmen und versuchten dieses auf ihren psychologischen Gegenstandsbereich anzuwenden. Mit der Computersprache schien eine leistungsfähigere psychologische Theoriesprache möglich, die dem Wissenschaftlichkeitsanspruch des damals vorherrschenden behavioristischen Konzepts um nichts nachstand, mit der sich aber, — so die Hoffnung — im Gegensatz zu dessen "Black-Box"-Auffassung des Psychischen, auch menschliche Bewußtseinsprozesse auf streng wissenschaftlicher Grundlage untersuchen ließen. So setzte, Ende der fünfziger Jahre, die kognitive Wende in der Psychologie ein, mit der der behavioristische Zugang mit seiner Begrifflichkeit wie "Stimulus", "Response" oder "Konditionierung" von dem informationstheoretischen Zugang mit Begriffen aus der Computersprache, wie "Input", "Output", "Speicher" oder "Programmsprachen", abgelöst wurde. Diese Terminologie bildet das theoretische Fundament der auch den gegenwärtigen psychologischen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Wissenschaftsdiskurs dominierenden Kognitiven Psychologie (Neisser, 1974; Bower & Hilgard, 1984; Anderson, 1996; u. v. a.). Psychologische Phänomene werden in der informationstheoretischen Perspektive durch das Computer-Prisma, präziser: durch das Computerprogramm-Prisma hindurch interpretiert. Das Programm wird zur Standardform psychologischer Theorie, und psychologische Phänomene gelten erst dann als wirklich erklärt, wenn sie in den ihnen zugrundeliegenden Programmcodes wiedergegeben und ausgedrückt, rekonstruiert und simuliert werden können. Zwar gehen einige Vertreter des informationstheoretischen Ansatzes von einer Identität von psychischem Phänomen und Programm, von Wirklichkeit und Simulation aus und fragen nicht mehr ob, sondern allein was fur eine Maschine das Psychische sei: "Um die Seele zu erklären", betont etwa Dietrich Dörner, "muß ich sie als informationsverarbeitendes System begreifen und sie auf ein mathematisches System bringen. Natürlich ist die Seele keine Maschine im Sinne eines Staubsaugers, sondern ein unwahrscheinlich kompliziertes Gebilde. Der Grundbauplan allerdings ist mit etwas Mathematik gar nicht so schwierig zu entschlüsseln" (1996, S. 67). Und der Computerwissenschaftler Marvin Minsky erklärt, wir sollen nicht in unserem Stolz gekränkt sein, als Maschine betrachtet zu werden, sondern "mehr Selbstachtung aus dem Wissen schöpfen, welch wunderbare Maschinen wir sind" (1990, S. 30). Üblicherweise aber wird der Als-Ob-Charakter und der metaphorische Status der Computersprache offen ausgesprochen und diskutiert. Wenn man nun die Konsequenzen der Übertragimg und der Einordnung des informationstheoretischen Konzepts in das klassische Methodenschema betrachtet, dann zeigt sich die besonders zugespitze Form des Weltverlustes der Kognitiven Psychologie. Bei der Einfügung des "Maschinendenkens" in das Variablenschema stehen nun an der Stelle der behavioristischen Begriffe "Stimulus" und "Response", die Begriffe "Input" und "Output" des nach der Computermetaphorik konstruierten informationsverarbeitenden Systems. Die Hypothesen und Vorhersagen beziehen sich auf dieses Verhältnis zwischen "Input" und "Output". Während im Behaviorismus aber der "Stimulus" einen unmittelbaren Bezug zur Welt hat und dieser — auch wenn sie noch so reduziert und abstrakt sein mögen — Aspekte der Wirklichkeit auf der Sinnesfläche darstellt, steht der "Input" hingegen in keiner direkten Beziehung mehr zur Realität. Hinter dem "Input" steht keine Welt, sondern eine Person, die innerhalb des ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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informationsverarbeitenden Systems selbst nicht repräsentiert ist, die aber die Daten in das System eingibt, und von der es abhängt, was tatsächlich als "Input" erscheint. "Der 'Weltbezug' des metaphorischen Computers", erklärt Holzkamp, "beginnt . . . erst mit dem 'Input', was 'davor' lag und gerade zu diesem und keinem anderen 'Input' geführt hat, bleibt jedoch grundsätzlich außerhalb des Systems, ja, danach ist mit den sprachlichen Mitteln des Systems nicht einmal zu fragen. Dies ist — da hier die Vp nicht nur ins Reiz-Response-Schema, sondern ins noch weiter von der Wirklichkeit abgehobene InputOutput-Schema eingeschlossen ist — quasi der Gipfel der Irrealisierung der Welt für das 'psychologische' Individuum. Die kognitivistischen Theorien bewegen sich hier sozusagen in einem selbst gesetzten, beliebigen Raum, worin die wirklichen Handlungen und Erfahrungen der Subjekte nicht mehr vorkommen können" (1996, S. 27). Wenn also, wie in der Kognitiven Psychologie, das individuelle Subjekt, bzw. dessen "Psyche" als ein informationsverarbeitendes System begriffen wird, dann steht die wirkliche Welt, in der das Subjekt erfahrend und handelnd sich bewegt, systematisch und zwangsläufig außerhalb dieser Konzeption. So zeigt sich in der klassischen Konstruktion psychologischer Wissenschaft und ihrer Variation im Zusammenspiel von informationstheoretischer Grundbegrifflichkeit und psychologischer Methodenanordnung eine gegenüber dem Behaviorismus weiter zugespitzte Form des Weltverlustes und eine strukturelle Unmöglichkeit, das Verhältnis von Individuum und konkreter alltäglicher Welt in den psychologischen Blick zu bekommen (s. a. Bruner, 1990; Graumann, 1988; Graumann & Sommer, 1984). Mit der Kognitiven Psychologie hat sich die Psychologie in Bezug zur Technik in eine paradoxe Situation hineinmanövriert: Einerseits entwickelte sie damit eine Konzeption, in der Menschen als technische Systeme aufgefaßt werden und die daher geradezu als eine Reinform einer Technikpsychologie angesehen werden könnte. Auf der anderen Seite verhindert sie mit dieser Perspektive aufgrund ihrer strukturellen Ausklammerung der menschlichen Lebenswelt, wie in keiner anderen psychologischen Konzeption zuvor, gerade die psychologische Auffassung des Menschen in einer technisierten Welt, und stellt damit den entschiedenen Gegenpol zu einer wirklichen Technikpsychologie dar. Deren Aufgabe bestünde ja gerade darin, eine psychologische Konzeption zu entwickeln, in der Menschen als technikerzeugende ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Wesen verständlich werden und in der die handlungs- und erfahrungserweiternde, aber auch behindernde Bedeutung des Technischen für das individuelle Subjekt, kurz: die Beziehungen zwischen Mensch und Technik untersucht und in ihren problematischen Aspekten durchschaut und aufgeklärt werden könnten. Wenn man sich nun vergegenwärtigt, daß es sich beim Kognitivismus um das den derzeitigen universitären Psychologiediskurs bestimmende Paradigma handelt, dann wird klar, warum es in der Psychologie keine umfassende Auseinandersetzung mit Technik gibt und es diese ohne fundamentale Veränderungen der grundbegrifflichmethodischen Konstruktionen und des wissenschaftlichen Selbstverständnisses auch in Zukunft nicht geben kann. Mit der Kognitiven Psychologie wird auf besondere Weise deutlich, wie der psychologische Mainstream in einem funktionalistisch-technizistischen Maschinendenken verfangen ist. Eine psychologische Analyse technologischer Praxis hätte sich somit nicht nur auf die vorfindlichen empirischen Probleme im Verhältnis von Mensch und Technik, sondern auch auf die Psychologie selbst zu beziehen und eingehend die Funktion technizistischer Konzeptionen in der Geschichte der Wissenschaft und der Psychologie zu analysieren. Ansatzweise ist das in der entstehenden psychologischen Auseinandersetzung mit Technik der Fall. Bungard und Schultz-Gambert etwa reflektieren in ihrer Frage nach einer technikpsychologischen Perspektive kritisch die traditionell psychologische Grundkonzeption und betonen, daß mit deren "methodischen Standards" und ihrer Ausrichtung auf die Frage nach "situationsunabhängigen nomologischen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens" (1990, S. 579) die Untersuchung menschlicher Praktiken in realen Situationen und in der Komplexität ihres Erscheinens kein Gegenstand psychologischer Forschung sein kann. Sie fordern Alternativen zu einer derart "umweltlosen Psychologie" (1988, S. 161). Bungard setzt seine Hoffnungen dabei (wie etwa auch Kruse) auf die Ökologische Psychologie, die ja einen Versuch darstellt, die "Umwelt" in die psychologische Perspektive miteinzubeziehen (Graumann, 1974, 1978; Kaminski, 1976; u. v. a.). Damit aber geht er nicht weit genug. In der Ökopsychologie wird, um die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Welt ins Blickfeld zu bekommen, eine differenziertere Methodik zu entwickeln versucht, damit aber, und vor allem auch in ihrer Theoriesprache und ihrem Systembegriff des Menschen, verbleibt sie innerhalb (scheinbar) naturwissenschaftlicher ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Konstruktionen, und so kann auch sie keinen wirklichen Zugang zum Verständnis des Zusammenhanges von Mensch und Welt entwickeln. Tatsächlich entstanden — entgegen ihres ursprünglichen Anliegens — aus der Ökologischen Psychologie bislang keine Ansätze einer Technikpsychologie. Entsprechend taucht 1990 im Handbuch der Ökologischen Psychologie (Kruse, Graumann & Lantermann, 1990) "Technik" als ein eigenständiger ökopsychologischer Grundbegriff nicht mehr auf. So stellen Technik und die Probleme, mit denen wir Menschen heute in einer technisierten Welt konfrontiert sind, eine ungeheure Chance flir die Psychologie dar. Zum einen die Chance zur Selbstreflexion, zum Blick auf die eigene Geschichte technizistischer Konzepte und wie man damit an den Problemen und Widersprüchen menschlichen Lebens in der heutigen Technowelt mitgewirkt hat und mitwirkt. Zum anderen stellt "Technik" die Chance zur Emanzipation von pseudo-naturwissenschaftlichen Konzeptionen in der Psychologie dar und zur Entwicklung eines neuen angemesseneren, tatsächlich auch psychologischen Selbstverständnisses. Im Grunde steht die Entwicklung einer eigenständigen Disziplin Psychologie mit einer eigenständigen Wissenschaftssprache und einer eigenständigen Methodik noch aus. Nur so aber könnte die Psychologie eine reale (und nicht fiktiv naturwissenschaftliche) selbstbewußte und überzeugende fachliche Identität erreichen. Durch Technik stößt die Psychologie auf diese Problematik, durch sie hat sie die Chance, zu sich selbst zu kommen. Der Hauptgrund fur die Schwierigkeit der Entwicklung einer Technikpsychologie in der traditionellen Psychologie liegt also in ihrer Theoriesprache und ihrem Methodenschema. Die klassische Konstruktion psychologischer Wissenschaft müßte überwunden werden und dazu stehen grundlegend neue Schritte an: ohne das geht es nicht. "Aber", würde ein Einwand lauten, "unsere naturwissenschaftliche Methodik garantiert uns doch unser wissenschaftliches Selbstverständnis und unseren wissenschaftlichen Status". Nim wäre — wenn dies aus dem psychologischen Gegenstand heraus begründet werden kann — gegen wirklich naturwissenschaftliche Erkenntnisweisen in der Psychologie nichts einzuwenden. Alleine, wie gesagt, die Naturwissenschaftlichkeit der Mainstream-Psychologie steht auf tönernen Füßen. Zum anderen zeigt sich in diesem Einwand eine problematische Identifizierung von Naturwissenschaft als Wissenschaft überhaupt, und eine Nichtachtung anderer wissenschaftlicher Disziplinen, ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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etwa der Geschichtswissenschaften, der Anthropologie usw., in denen im wesentlichen mit interpretativen Begriffen und Methoden gearbeitet wird. Zudem erscheint mir dieser Einwand als eine veraltete Befürchtung aus der Zeit des letzten Jahrhunderts, als die Psychologie um ihre Institutionalisierung und um ihre Eigenständigkeit als Disziplin kämpfte. Heute müßte die Befürchtung eher umgekehrt lauten: Bei einem weiteren Festhalten an ihrer scheinbar naturwissenschaftlichen Begrifflichkeit und Methodik wird die Psychologie ihren wissenschaftlichen Status verlieren. Vor allem Naturwissenschaftler müßten eigentlich am klarsten den pseudonaturwissenschaftlichen Charakter der Psychologie erkennen und daß diese mit der von ihnen entliehenen Methodik zwangsläufig am Kern des psychologischen Gegenstandes vorbeisegelt. Aber auch den Sozial- und Geisteswissenschaften kann die Unfähigkeit der Psychologie, ihre eigene Theoriesprache zu finden, nicht verborgen bleiben. Und so wird die Psychologie innerhalb der Wissenschaft auch nicht sonderlich respektiert: Der Anthropologe Clifford Geertz etwa spricht von ihr als einer "liederlichen Außenseiter-Disziplin" (1987, S. 73), oder der Computerwissenschaftler Minsky verbannt die Psychologie aus seinem Institut: "Was wir niemals getan haben, war . . . statistische Psychologie zu Hilfe zu holen, um herauszufinden, was irgendeine ' Durchschnittsperson1 tut. . . Lange Zeit gab es bei mir im Labor die Vorschrift, daß keine psychologischen Daten benutzt werden durften" (Turkle, 1984, S. 318). Im Grunde ist das Problem klar: Wie könnte Psychologie von anderen Wissenschaften wirklich ernst genommen und respektiert werden, wenn sie selbst ihren Gegenstand inhaltlich nichtrichtigernst nimmt? Ihre Wissenschaftlichkeit würde die Psychologie doch gerade dadurch erweisen, wenn sie sich nicht länger mit Kleidern anderer Disziplinen schmückt, sondern es ihr gelänge ihre eigenen zu schneidern. Psychologie muß grundsätzlich neu über sich selbst, über ihre Grundbegrifflichkeit und ihre Wissenschaftlichkeit nachdenken. Die zentrale Frage für die Psychologie, und vor allem natürlich für eine Technikpsychologie, wäre also, wie eine "welthaltige" Konzeption entwickelt werden könnte, in der die Strukturen, in denen wir Menschen leben, nicht nur als "Reiz" oder als "Input", sondern in ihrer tatsächlichen inhaltlichen Bedeutung zur Sprache kämen. Dazu steht nun, gegenüber der bisherigen Praxis der Übernahme exakter bzw. naturwissenschaftlicher Theoriesprachen aus anderen wissenschaftlichen Diszplinen und der (vorgetäuschten) Schmückung mit deren wissenschaftlichen Status, die Entwicklung einer eigenständigen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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genuin psychologischen Wissenschaftssprache an, kurzum: eine grundlegende Neubestimmung des psychologischen Selbstverständnisses. An den Rändern des psychologischen Mainstreams, dort wo die klassischen theoretischen und methodischen Konstruktionen überwunden und neue Formen psychologischer Wissenschaft versucht werden, finden tatsächlich erste Auseinandersetzungen mit Technik statt, und es wurden einige spannende interpretative Untersuchungen entwickelt (etwa Becker, Becker-Schmidt, Knapp & Wacker, 1989; Cohn, 1988,1989; Flick, 1996; Leithäuser, Löchel, Schütt, SenghaasKnoblauch, Tietel & Volmerg, 1991; Löchel, 1997; Schönhammer, 1991; Schachtner, 1993, 1997; Volpert, 1988). Ich möchte hier nun nicht jede einzelne Studie zum Thema auffuhren, sondern konzentriere mich, wie bisher bereits in meiner Darstellung, auf die Vorstellung unterschiedlicher Herangehensweisen, die sich herausgebildet haben, wobei ich diese anhand von Einzeluntersuchungen veranschaulichen und diskutieren möchte. Drei Zugangsweisen, in denen Wesentliches zum Verhältnis von Mensch und Technik gesagt wird, können voneinander unterschieden werden: die psychoanalytische, die sozial-konstruktivistische bzw. diskursive und die kritisch-psychologische Perspektive. Im folgenden werde ich mich nun den beiden erstgenannten zuwenden, der letzteren dann ausfuhrlich im zweiten Kapitel. PSYCHOANALYSE In der Psychoanalyse wird seit Anfang dieses Jahrhunderts über die Frage nachgedacht, inwieweit die von Menschen hervorgebrachten kulturellen und technischen Erzeugnisse nicht nur Befreiungen von den Zwängen der Natur und Erleichterungen des menschlichen Lebens darstellen, sondern in ihnen auch die Unzulänglichkeiten und Schattenseiten des Menschen und seine dunklen und destruktiven Leidenschaften ihren Ausdruck finden. "Es klingt nicht nur wie ein Märchen", stellt Freud Ende der zwanziger Jahre fest, "es ist direkt die Erfüllung aller — nein, der meisten — Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat. . . . Der Mensch ist . . . eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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viel zu schaffen" (1976, S. 451). Freud greift das Unbehagen am kulturellen und technischen Fortschritt seiner Zeit auf, und interpretiert die Problematik der Kultur- und Technikentwicklung vor dem Hintergrund der psychischen Beschaffenheit des Menschen und der Psychodynamik seiner Triebe. Ich will nun die Besonderheit des psychoanalytischen Blickes auf das Verhältnis von Mensch und Technik anhand Gordon Fellmans Interpretation von Mary Shelleys Erzählung "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" darstellen. Zum einen, weil Fellman in seiner Interpretation an Freuds "Unbehagen in der Kultur" anknüpft, dort aber nicht stehen bleibt, sondern die Fruchtbarkeit der psychoanalytischen Denkweise auch für ein Verständnis der heutigen Verhältnisse zu zeigen versucht. Zum anderen aber auch aufgrund der Faszinationskraft des interpretierten Gegenstandes. Mary Shelleys Erzählung hat seit ihrem erstmaligen Erscheinen im Jahr 1818 Generationen von Leserinnen und Leser in den Bann gezogen. Es ist eine der ersten Erzählungen, in der die Befürchtung einer außer Kontrolle geratenen Wissenschaft und Technik thematisiert wird, und in der der moderne Prometheus als eine tragische Figur erscheint, der seinen eigenen Fähigkeiten nicht gewachsen ist und dadurch kläglich endet. Heute scheint es, als würde die Fiktion von der Wirklichkeit überholt: Wissenschaftler entziffern die Geheimnisse des Lebens, die Herstellung neuartiger Lebewesen wurde zum Alltagsgeschäft, und manche arbeiten an der Klonierung und Neuschöpfung des Menschen und wollen — trotz aller Einwände — an der Verwirklichung ihrer Ideen festhalten. So wundert es nicht, daß derzeit in der alltäglichen, aber auch in der wissenschaftlichen Technikdiskussion (etwa Winner, 1992, Kap. 8; Mulkay, 1995) die Frankenstein-Figur in vieler Munde ist. Da es der Psychoanalyse um eine Erhellung des menschlichen Selbstverständnisses geht und da in ihr, wie Klaus Holzkamp erklärt, "theoretisch und methodologisch der Standpunkt des Subjekts eingenommen" wird und sie so "als der erste Aufbruch . . . subjektwissenschaftlichen Herangehens in der Geschichte der Psychologie begriffen werden" (1988, S. 302) kann, will ich auf diese Perspektive ausführlicher als bisher eingehen und auch inhaltliche Aussagen von Fellmans Argumentation in meine Darstellung miteinbeziehen. Der Ausgangspunkt von Fellmans Analyse sind die Probleme, die sich im Verhältnis von Mensch und Technik zeigen, er will zum Verständnis der "spectres of nuclear annihilation and ecocide" (Fellman, ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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1991, S. 177) beitragen und dafür eine angemessene Sprache finden. Dazu fragt er, wie und wo bisher in der Geschichte der Kultur menschliche Destruktivität symbolisiert wurde und entscheidet sich Shelleys Erzählung genauer zu betrachten, vor allem auch aufgrund ihrer großen Faszinationskraft in der westlichen Kultur. Fellman fragt in seiner Deutung, was den Protagonisten in dieser Geschichte, Victor Frankenstein, dazu bewegt, etwas zu erzeugen, das aus Leblosem zusammengesetzt, ein eigenständiges Lebewesen wird, ein Monstrum, das dann seinen Erzeuger und alles ihm Nahestehende vernichtet. Frankensteins unverarbeitete innere Konflikte finden, verdrängt und abgespalten, ihren Ausdruck im Monster, so Fellmans Hauptthese, verleugnete und unbegriffene innere Widersprüche, besonders die von Männern, veräußerlichen sich in der heutigen monströsen Technik und deren verheerenden Folgen. Die Einsicht, die aus Shelleys Erzählung gewonnen werden könnte, sei, vor allem anderen, die Notwendigkeit zur inneren Selbstreflexion. Ohne eine solche, so Fellmans Schlußfolgerung, seien Anstrengungen, die heutigen Bedrohungen im Verhältnis von Mensch und Technik in den Griff zu bekommen, zum Scheitern verurteilt. Besonders bemerkenswert an Fellmans Vorgehensweise erscheint mir zum einen, daß er die Brüche des "Prothesengottes" anhand einer bald zweihundertjährigen Romanfigur untersucht und die in ihr symbolisierte Erfahrung und Erkenntnis über menschliche Destruktivität aufschlüsseln und diese Einsichten für heute nutzbar machen will. Fellman versucht aus einer Fiktion von gestern etwas über die Realität von heute zu erfahren. Zum anderen betont er, daß eine angemessene psychoanalytische Deutung nur gelingen kann, wenn der Zusammenhang von Innen- und Außenwelt, die wechselseitigen Vermittlungen von psychischen und sozialen Prozessen im Blick behalten werden, und nicht in ein abstrakt psychologisierendes Vorgehen verfallen wird. "Social critics who ignore inner dynamics commit the same outrageous blunder as psychoanalysts who ignore the realities of external history and institutional dynamics" (Fellman, 1991, S. 230). Dies versucht er einzulösen, indem er sich Frankenstein aus zwei Perspektiven nähert: Er beginnt mit einer sozialhistorischen Analyse; dann — der Schwerpunkt der Interpretation — untersucht er mit psychoanalytischen Kategorien die innerpsychische Dynamik. Im dritten Schritt versucht er die Perspektiven zu vermitteln und kommt von da aus dann zu Folgerungen fur heute. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Bemerkenswert an der Frankenstein-Geschichte ist die in der Rezeption verbreitete Verwechslung des Namens des Produzenten mit seinem Produkt. In Shelleys Erzählung ist Frankenstein der Wissenschaftler, seinem geschaffenen Werk gab sie keinen Namen. Sie spricht von ihm als das "Monster", der "Dämon", das "Ungeheuer", der "Unhold" oder einfach "es". Bevor ich auf Fellmans Interpretation genauer eingehe, möchte ich Shelleys Erzählung kurz zusammenfassen. "Kein Mensch kann eine glücklichere Kindheit gehabt haben als ich", (Shelley 1993, S. 63) erklärt Victor Frankenstein in der Erzählung. Sein Vater ist angesehen und wohlhabend, die Mutter überaus liebevoll und zärtlich und er ist ihr erstes Kind. Bei einem Ausflug Victors mit der Mutter aufs Land treffen sie die hübsche Elizabeth Lavenza, die bei Pflegeeltern in kargen Verhältnissen lebt. Die Frankensteins nehmen das Mädchen auf und sie wird die Spielgefährtin, Freundin und spätere Verlobte des Jungen. Der plötzliche Tod der Mutter verzögert Victors Studienbeginn. Er interessiert sich fur Naturphilosophie und will "die Geheimnisse des Himmels und der Erde" (ebd., S. 63) ergründen. Bald arbeitet er fasziniert an der Aufschlüsselung des "Lebensprinzips", beginnt aus Gliedmaßen und Organen einen Körper zusammenzusetzen und will nun selbst Leben erschaffen. Tatsächlich gelingt es, als er aber das Resultat seiner Arbeit sieht, bricht er zusammen. Der Anblick erfüllt ihn mit "atemberaubenden Entsetzen und Abscheu" (ebd., S. 98), der Gedanke an das Gemachte stürzt ihn in düstere Verzweifelung und er wird schwer krank. Die Pflege seines Jugendfreundes Henry Clerval bringt ihn zwar wieder auf die Beine, der Dämon aber läßt ihn nicht mehr los. Das Ungeheuer, monströs zuerst rein äußerlich, begehrt Anerkennimg und Mitgefühl, Victor aber empfindet nur Abscheu, Verachtung und Haß. Auch die anderen Menschen reagieren nur mit Ablehnung und so zieht es sich zurück, beobachtet aus einem Versteck die menschlichen Umgangsweisen und lernt Sprechen. Als weitere Versuche Mitgefühl zu gewinnen mißlingen, schlägt der Ausgegrenzte zurück. Er tötet Victors Bruder William, für dessen Ermordung dann die Haushälterin der Frankensteins angeklagt und verurteilt wird. Schließlich fordert er die Erschaffung einer Gefahrtin und nach heftigem Drängen willigt Frankenstein ein. Kurz vor der Vollendung aber schreckt er zurück. Er fürchtet eine unbegrenzte Vermehrung des Bösen und vernichtet vollständig seine Arbeit. Das Monster schwört Rache, tötet sofort Clerval und in der ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Hochzeitsnacht Elizabeth. Der Vater stirbt in Gram. Victor gelobt nun, das Monstrum bis zu seinem Tode zu verfolgen, bis er dann völlig abgekämpft auf einer Eisscholle in der Arktis von Walton, dem Kapitän eines Expeditionsschiffes, aufgenommen wird. Diesem erzählt er seine Geschichte und stirbt, während das Ungeheuer im arktischen Eis verschwindet. Frankenstein im gesellschaftlich-historischen Kontext: Victor ist Wissenschaftler Was will er und was tut er? Seine Hervorbringung ist Technik Frankenstein verkörpert, erklärt Fellman, den monomanen Wissenschaftler, der weder Maß noch Grenzen kennt. Er symbolisiert die Befürchtung, daß Forscher von blinder Leidenschaft getrieben, unverantwortlich mit ihrem Wissen umgehen. Er steht für den ehrgeizigen Wissenschaftler, "removed from petty concerns of daily life, and not aware of the consequences of their researches or even interested in them" (Fellman, 1991, S. 179). Frankensteins Traum ist, wie er in Shelleys Erzählung sagt, to "pioneer a new way, explore unknown power, and unfold to the world the deepest mysteries of creation" (ebd., S. 180). Sein Ziel ist, die Voraussetzungen des Lebens zu erforschen, um Krankheiten und menschliches Leid zu bekämpfen, letztlich will er den Tod beherrschen. Sein Traum aber wird zum Alptraum. "Learn from me", fleht er am Ende der Geschichte, "how dangerous [it is for the one] . . . who aspires to become greater than his nature will allow" (ebd., S. 180). Wenn die Wunder von Wissenschaft und Technik im Alltag auch dankbar aufgenommen wurden, so gab es gleichzeitig auch Angst vor den Wissenschaftlern. Sie brachten vertraute Vorstellungen und Weltbilder zu Fall. Und so befreiend Maschinen auch sein können, so erschien Technik in der Geschichte auch "as ä devil that devours and rampages as no humans, however organized, can." (ebd., S. 181). "Victor's contrivance", stellt Fellman fest, "fashioned of inert materials and activated, is technology; it is the prototype of cars, airplanes, assembly lines, computers, nuclear power, and nuclear explosives, indeed of all those fancies that extend humans' capacities, but which also alienate their powers from them and transfer them to devices which can turn malevolently, and as if by independent action, against them" (ebd., S. 181).
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Ein Monstrum Victors Produkt ist größer als er selbst. Es bewegt sich außerhalb seiner Kontrolle, er beherrscht es nicht mehr, es verselbständigt sich, ist lebendig, wird zum Subjekt und zu etwas, das ihn selbst beherrscht. "You are my creator", betont das Monstrum in Shelleys Erzählung, "but I am your master" (ebd., S. 182). Die Erzählung zeigt, stellt Fellman fest, die Widersprüchlichkeit der Technik. Technik entstand, um die gegenüber der Natur erlebte Passivität und Ausgeliefertheit zu überwinden. Bislang aber waren wir Menschen unfähig, "to avoid replicating passivity and victimization before technology, as much as before nature itself' (ebd., S. 183)/ Wie großartig die Anstrengungen zur Kontrolle der Natur auch sein mögen, so markiert Technik einen Bruch des Menschen mit seiner eigenen Eingebundenheit, der Mensch als solcher beginnt. Die Auflösimg des Unterschiedes zwischen Technik und Natur, der Abschied von der Natur ist damit eingeläutet, ein Bruch, der die ursprüngliche Absicht der Überwindung der Ausgeliefertheit zwangsläufig untergräbt. "Victor's project", erkennt Fellman, "dramatizes this calamitous potential" (ebd., S. 183). Aber warum wird das Produkt mächtiger als sein Produzent? Warum wird Frankensteins Werk größer als er selbst? — Frankenstein und sein Projekt, so Fellmans Einsicht, resultieren aus einem mehrförmigen Prozeß der Entfremdung, und vor allem drei unterschiedliche Formen dieses Prozesses würden durch die Erzählung thematisiert. Getrennt, individualisiert und vereinzelt Der Verfall zwischenmenschlicher Beziehungen Frankenstein lebt isoliert und einsam, losgelöst und entfremdet von sich selbst und von seinem sozialen Kontext. Er ist sui generis, er kennt nur seine eigene Idee, zu anderem und anderen ist er bindungsund beziehungslos. Früh löst er sich von den Wünschen und Vorstellungen des Vaters und geht seinen eigenen Weg. Als er sein Studium beginnt, stirbt die Mutter. Frankenstein spricht vom "Angel of Destruction, which asserted omnipotent sway over me from the moment I turned my reluctant steps from my father's door" (ebd., S. 184). Zu seiner Lebensgefährtin Elizabeth hat er im Grunde keine Beziehung. Er interessiert sich nicht für sein soziales Umfeld, andere Menschen sind für ihn ohne Bedeutung. "In the name of sozial advance", erklärt Fellman, "Victor wrenches himself from the ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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convivality of human society and secludes himself into the mysterious and lonely pursuits of his horrible and 'filthy' workshop" (ebd., S. 185). In einer derart defamiliarisierten, entfremdeten Lebenssituation erschafft Frankenstein das Monster. Sie ist eine Voraussetzung und das Monster vielleicht auch Ausdruck dieser Entfremdung. Als Frankenstein aber das Ergebnis seiner Arbeit sieht, fällt er aus seiner Isolation, beginnt auch aus der Sicht der anderen zu denken. Er gibt seine Arbeit vollständig auf und will sein Werk ungeschehen machen. "Victor realizes his own social nature only after his singular act of creating a fulsome methaphor for his estrangement" (ebd., S. 186). Frankenstein durchbricht seine eigene Entfremdimg, als er diese außerhalb von sich, verkörpert im Monster, sieht. Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Personen Zum zweiten sieht Fellman in der Erzählung Entfremdung im Marxschen Sinne vorgezeichnet. Gewiß ist Victor nicht der klassische Arbeiter, der geknechtet und passiv, seine Arbeitskraft verkaufen muß und dem historischen Prozeß ausgeliefert ist. Victor ist aktiv, er entwirft und verwirklicht in eigener Arbeit ein von ihm selbst erdachtes Projekt. Er verkörpert eine, zwischen Feudalismus und Kapitalismus stehende Übergangsfigur. Wie der mittelalterliche Handwerker ist er der Eigentümer der Produktionsmittel und bestimmt selbst über den Produktionsprozeß. Das Resultat aber des Produktionsprozesses ist zweideutig phantomhaft: es ist tot und lebendig zugleich. "As a manufactured object", bemerkt Fellman, "the monster anticipates what Marx called exchange value" (ebd., S. 187). "It is money; its autonomy mocks the integrity of its maker and threatens to overwhelm and destroy everything he cares about. Just as money is dead substance treated as live, so does the monster proceed from decayed materials and command attention as if a real person. . . . The creature [is] . . . the mixture of desaster and liberation that is capitalism itself (ebd., S. 187). Vermenschlichung Gottes und Vergottung des Menschen Einen weiteren dritten Verfremdungsprozeß, den einer dilettantischen Säkularisierung, sieht Fellman in der Erzählung symbolisiert: "The monster is . . . the powers of God" (ebd., S. 187). Eine Macht, die ursprünglich den Menschen zukam und die diese verfremdet auf Gott projizierten. Die Schöpfungsfähigkeit ist die äußerste Macht von Gott. Victor versucht, in bester Absicht, die Macht Gottes zurückzuholen. Er fordert die eigentlich den Menschen zukommende, aber Gott ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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zugeschriebene Macht zurück. Aber es gelingt ihm nicht, sie auf wirklich menschliche Art und Weise zu verwenden. Der Beginn des Kapitalismus kann verstanden werden als der Versuch, die projizierte Macht zurückzugewinnen. Als ein Versuch der Wiederaneignung, wie Prometheus' Diebstahl des Feuers, aber die Wiederintegration will nicht gelingen. Frankenstein könnte ja auf die menschenübliche Art Leben erschaffen und mit Elizabeth ein Kind zeugen. Aber er denkt nicht daran, er will eine neue Gattung erschaffen: "A new spezies would bless me as its creator and source; many happy and excellent natures would owe their being to me" (ebd. S. 189). Die menschliche Art Leben zu erzeugen ist Frankenstein zu wenig. Er will mehr, will eine ganz neue, bessere Gattung erschaffen. Gott wird nicht gestürzt, Frankenstein will selbst ein Gott sein. "Not fatherhood for Victor", erklärt Fellman, "but Fatherhood. Not thus, a dethroning of God but a confused merging with him" (ebd., S. 189). Die letzte Konsequenz der industriellen Revolution, zeigt die Frankenstein-Erzählung, ist "destructive power gone mad. . . . Victor's invention threatens to destroy all" (ebd. S. 193). Sie zeigt aber auch Mechanismen, die dieser Destruktivität zugrundeliegen. Neben den gesellschaftlichen Formen der Entfremdung sieht Fellman Frankenstein vor allem als ein Symbol unverarbeiteter innerer Kämpfe, die sich dann destruktiv veräußerlichen. Der psychoanalytische Weg erst, betont er, erschließt den vollen Gehalt von Frankenstein. "Just as Frankenstein illuminates historical tendencies underlying the nuclear crisis, so does it portray human inner complexities that allow still further insights into the human struggles that culminates in the technological possibility of total annihilation" (ebd. S. 195). Frankenstein im psychodynamischen Kontext. Victor wird von inneren Mächten "gelebt". Er ist der "sublimator manqueDas Monster Teil von ihm selbst Die Faszination, die von Shelleys Erzählung ausgeht, liegt sicher auch darin zu sehen, wie jemand von geheimen inneren Mächten getrieben wird und diese ihn ins Desaster führen. Freud erkannte einen Prozeß, ohne den menschliche Zivilisation nicht möglich wäre. Elementare Energien des Menschen müssen oft umgeleitet und deren ursprüngliche Objekte ersetzt werden. Wenn dabei Produktives herauskommt, spricht er von Sublimation. Wenn diese nicht gelingt, fuhrt das zu destruktiven Verhaltensweisen gegenüber sich selbst und anderen. Es ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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scheint, bemerkt Fellman, als ob Frankenstein dieser Prozeß nicht unbekannt sei: "My temper was sometimes violent", erklärt er in der Erzählung, "and my passions vehement; but by some law in my temperature [my nature] they were turned mot towards childish pursuits, but to an eager desire to learn, and not to learn all things indiscriminately. . . . It was the secrets of heaven and earth that I desired to learn; and whether it was the outward substance of things, or the inner spirit of nature and the mysterious soul of man that occupied me, still my inquiries were directet to the metaphysical, or, in its highest sense, the physical secrets of the world" (ebd. S. 195). Frankenstein, stellt Fellman fest, ist der höchste Sublimierer, Erschaffer nicht nur von Leben, sondern von der Zivilisation überhaupt. Und er ist der "sublimator manque" (ebd., S. 196), denn was er tut, ist wenig produktiv. Das Produkt seines Tuns, so Fellmans These, ist Ausdruck von ihm selbst. "Victor is himself — and he knows this — the monster" (ebd. S. 197). Wie entsteht das Monster in Frankenstein? Frankensteins Sexualität Er will die Grenzen des Mannes überschreiten und Leben erschaffen. Er konkurriert mit dem weiblichen Geschlecht Und mit Gott Fellman nähert sich dieser Frage über Frankensteins Sexualität, über deren Entwicklung und der dabei von ihm erlebten Krisen. Im Alter von fünf Jahren macht Frankenstein einen Ausflug mit seiner Mutter aufs Land, bei dem sie in einem Bauernhaus auf Elizabeth treffen, die dann in der Familie aufgenommen wird. In der ödipalen Phase, so deutet Fellman, geht Frankenstein mit seiner Mutter, die sich immer schon eine Tochter gewünscht hatte, fort und sie kommen zurück mit einem Baby. "That is to say", notiert er, "they have a child together" (ebd., S. 198). Während der Pubertät und auch danach scheint Frankenstein sich fur Sexualität überhaupt nicht zu interessieren. Mit dreizehn beginnt er Naturphilosophie zu lesen. Seine Verlobte Elizabeth liebt er zwar tief und irinig, aber sexuell gesehen, geschieht nichts zwischen den beiden. "If sexual energy can be sublimated", bemerkt Fellman, "then Victor's wholehearted immersion in his work could well be seen as obsession" (ebd., S. 199). Seine Arbeit ist nun aber auf merkwürdige Art doch von sexueller Natur. Frankenstein will das Geheimnis des Lebens entdecken, er will Leben erschaffen. Nun können aber bislang allein weibliche Wesen Kinder bekommen und so versucht er es auf seine Weise. Er besteht darauf, die Grenze des Mannes, das "Nicht-gebären-Können", zu überschreiten und erschafft ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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dann kein hilfloses Baby, sondern gleich einen mächtigen SuperErwachsenen. Diese Vorstellung, daß ein Mann mit sich selbst Leben erzeugt, ohne Frau und ohne Sex, scheint eine knabenhafte Größenphantasie zu sein. Aber nicht nur der Erwachsene Frankenstein verweigert die Anerkennung der Realität, daß Kinder nur aus dem Körper von Frauen kommen können. Sie ist, bemerkt Fellman, geradezu das Kennzeichen westlicher Kultur. Eva etwa wird in der biblischen Erzählung aus dem Körper von Adam erschaffen. Und am Anfang erschuf die Welt — ein männlicher Gott. Während nun im Körper der Frau aus befruchteten lebenden Zellen Leben entsteht, und Gott aus dem Nichts etwas erschafft, macht Frankenstein Lebendiges aus Totem. Es ist eine seltsame Vorstellung, bemerkt Fellman, aus Totem Leben erschaffen zu wollen. Und nicht nur ein Zeichen der Verleugnung der Realität des Todes. Wenn der Tod dem Nichts gleicht, und nur Gott Leben aus dem Nichts erschaffen kann, dann versucht Frankenstein weit mehr als weibliche Fähigkeiten zu erlangen. "Victor is rivaling God" (ebd., S. 200). Aber warum, fragt sich Fellman, will Victor wie Gott sein? Eine Wurzel der Destruktivität Victor ist getrennt und isoliert. Er ist ein äußerster Narzist. Das Monster die abgespaltene Wut Destruktivität zeigt Shelley in ihrer Erzählung im Zusammenhang mit Trennimg, Isolierung und Vereinzelung. Zugespitz gesagt, verkörpert der Dämon die Wut des von der Mutter getrennten Kindes. Nach dem Tod der Mutter beginnt Frankenstein sein Werk. Auch zu seinem Vater hat er ein ambivalentes Verhältnis. Er ist enttäuscht von ihm, als dieser sein Interesse an Naturphilosophie verurteilt Er fühlt sich unverstanden, mißachtet den Vater und geht, getrennt von ihm, seinen eigenen Weg. Nach psychoanalytischer Erkenntnis können Trennungskonflikte dazu führen, daß der unter der Trennung Leidende nicht einfach neue Beziehungen eingehen kann, sondern er oder sie selbst zum Objekt der Beziehung oder der Gefühle wird. "Sekundärer Narzißmus" wäre der Begriff für dieses Phänomen, bei dem die Person, so scheint es zumindest, ganz selbstverliebt nur sich im Auge hat; und zwar nicht als Basis für gute Beziehungen zu anderen, sondern schlicht als Ersatz. Frankenstein ist, erkennt Fellman, indem er sich in sein Laboratorium zurückzieht und ohne Verbindung zu anderen Menschen Leben zu schaffen versucht, "a supreme narcissist" (ebd., S. 203).
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"His reaction to separation is an egregious exaggerating of it. He does not separate only from his familiy; he separates from everyone else as welT (ebd., S. 203). Wut über die Verlassenheit ist nicht zugelassen und daher abgespaltet und verkörpert im Monster. "The monster is his own anger objectified" (ebd., S. 203). Mehr noch steht es auch fur den antizipierten Zorn der Mutter als Reaktion auf seine Wut. Aber auch fur seine Schuldgefühle für die Wut. Das Monster repräsentiert, stellt Fellman fest, die volle Bandbreite von Victors widersprüchlichen Reaktionen auf liebe und Trennimg: "If the monster is his anger seperated off from him, his desire to unlock nature's secrets so as to banish death suggests a way of coping with both the guilt of hating loved ones, and the love that would have them live forever. The monster, then, encompasses Victor's entire range of reactions to attachment and seperation" (ebd., S. 203). Warum überwiegt die Destruktivität? Das Monster wird nicht anerkannt Warum endet letztlich Frankensteins Kampf mit der Destruktivität für ihn tödlich? Um das zu verstehen, betont Fellman, ist es notwendig, das Monstrum selbst zu betrachten. Als es erschaffen ist, erschrickt ja sein Erschaffer und ignoriert es dann völlig. So verwundert es nicht, daß Frankensteins Verleugnung des Monsters genau die Tat ist, die dessen destruktives Potential auslöst. Der Dämon fordert immer wieder, daß man sich auf ihn einläßt, ihn anerkennt, ihn nicht einfach ignoriert. Dann, erklärt er, würde er sich auch unter Kontrolle halten. Aber er ist zu mächtig, zu grotesk, zu abscheulich. Sein Bitten und Fordern findet keinen Anklang. Erst als er erkennt, daß er, komme was wolle, nicht in seiner Art akzeptiert wird, beginnt er mit den Zerstörungen. "He pleads with Victor", stellt Fellman fest, "almost exactly as Freud pleads with humanity, in insisting that fundamental aggressive and sexual impulses must be acknowledged, given their due, lest they run amok" (ebd., S. 208). Warum wird das Monster nicht geachtet? Der Kampf zwischen Ich und Es. Victor kann mit dem Es nicht umgehen, es nicht kontrollieren Der Kampf zwischen Frankenstein und dem Monster, bemerkt Fellman, ist der Kampf zwischen Ich und Es. Mit der Annahme, daß Frankenstein selbst das Monster sei, wird die Erzählung Ausdruck für die gegensätzlichen Impulse, die Menschen bewegen können, und für ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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das Versagen des Ichs, die destruktive Macht des Es einzuholen und zu kontrollieren. Frankenstein konfrontiert sich ein stückweit mit seinen destruktiven Impulsen. Er läßt sie in der äußeren Wirklichkeit sich ausdrücken und verkörpern. Aber er kann sie dort nicht mehr in Schach halten. Das Monster repräsentiert aber mehr als nur Destruktivität. Es liebt und sorgt sich, es weint, sucht Freundschaft und Sexualität. "The monster", erklärt Fellman, "is the entire range of Victor's deeper, fuller feelings. It is the expression of his strongest desires that is taboo to Victor, and that must lead to his destruction" (ebd., S. 210). Der Kampf zwischen Frankenstein und dem Dämon ist die Konfrontation von liebe und Trennung, von ödipalen Wünschen und von der Vergeltung durch Kastration. Das Monster ist aus verschiedenen Körpern zusammengesetzt, wie Frankensteins innere Konflikte vielfaltig sind. Es ist — der Angriff auf Frankenstein — Kastration, ebenso veräußerlichte destruktive Energie, ebenso Eros. "In creating it", stellt Fellman fest, "Victor unwittingly fulfills his promise to 'pioneer a new way, explore unknown powers, and unfold to the world the deepest mysteries of creation'" (ebd., S. 211). Durch den Dämon gibt Shelley die gleiche Einsicht wie Freud: "Impulses denied will wreak their vengeance; acknowledged and consciously controlled, they need not to be feared. The distantiated, alienated 'it' can be integrated into the active, healthy I or ego. . . . Shelley's message in Frankenstein is then identical to that of Freud in Civilisation and Its Discontents." (ebd., S. 213). Nim wird auch deutlich, betont Fellman, warum üblicherweise der Name des Produzenten mit dem Produkt identifiziert wird. Der Leser weiß intuitiv wer "Es" wirklich ist: Macher und Monster sind identisch. Frankensteinftihltsich schuldig. Warum? Was ist seine Schuld? Ohne Frage fühlt sich Frankenstein fur seine Erschaffung, sofort als er deren monströse Konsequenz erkennt, schuldig. Aber er ist auch schuldig fur das, was das Geschöpf repräsentiert. Es drückt seinen quälenden Umgang mit dem ödipalen Projekt aus, sein ungebrochenes Verlangen nach der Mutter. Victors Aufgabe wäre, diese Phase zu überwinden und sich dem wirklichen Leben eines Erwachsenen zuzuwenden. "Victor is guilty", erklärt Fellman, "of withholding his adulthood from himself' (ebd., S. 214). "By dedicating his life to pursuing repressed boyhood desires, he foresakes the aduldt's birthright to make the most of adult life, accepting its real limits as well as its possibility in . . . meaningful, socially useful work. Victor knows this is his ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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misdeed. We recall his castigation of him 'who aspires to become greater than his nature will allow'" (ebd., S. 214). Wenn Frankenstein wie eine Frau Leben erschaffen will, dann nicht einfach, weil er Frauen um ihre Fähigkeiten beneidet Verzweifelt versucht er seine verschwindende Mutter bei sich zu halten, indem er sie internalisiert, sie zu einem Teil von sich selbst macht. "Victors struggles with Oedipal desire and comes out partly a woman, confusedly driven to create life" (ebd., S. 214). Eine derartige innere Dynamik bringt ihn dazu, daß er seine tatsächlichen Möglichkeiten und Grenzen völlig verkennt. "Victor's struggle is to liberate himself from the constricting family and its Oedipal bonds. But he fails. The project he chooses is not socially useful; it is an inversion, a caricature, of true sublimation" (ebd., S. 215). Genau hier liegt seine eigentliche Schuld. Technologismus: Technik ist die Vergegenständlichung ungelöster innerer Widersprüche Shelleys Erzählung zeigt, so Fellman, daß es Wissenschaftler bei ihrer Wahrheitssuche auch um andere Wahrheiten geht, als die, die sie gemeinhin vorgeben. Ein Hauptansporn fur Forschung mag eT^en im verlagerten oder entglittenen Drang liegen, die innersten Geheimnisse des Selbst kennenzulernen und effektiv und direkt damit umzugehen. Die Bedeutung der Technik, dieses Versuches die Umwelt zu kontrollieren, wäre dann vor allem, die Verlagerung des Versuches sich selbst zu erkennen und Gefühle und Handeln vernünftig und fruchtbar zu kontrollieren. Der Wunsch sich selbst zu erkennen und zu kontrollieren wäre so abgespalten zu einfacheren Formen der Kontrolle außerhalb von sich selbst. Wenn darin die Hauptbedeutung von Technik bestünde, würde dies, so Fellman, zwangsläufig zu den heutigen nuklearen und ökologischen Bedrohungen fuhren. Dieses Prinzip, daß innere Widersprüchlichkeit verlagert und veräußerlicht wird, und sich in Technik ausdrückt, nennt Fellman, Technologismus. "Technologism: the use of technology to divert attention from the deepest inner human issues and in doing so to span the entire range of destructive potential from fragmentary, incremental, miscellaneous degradation of the environment. . . [to] massive, nuclear annihilation" (ebd., S. 217). Frankenstein ist der Prototyp des technologistischen Mannes Im Mann verbinden sich die destruktiven Triebe mit dem Verlangen, das weibliche Geheimnis zu erkennen, in das Projekt Leben zu ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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erschaffen. "The current fantasy that computers may eventually be able to reproduce themselves and may create environments where our species is superfluous is a thinly disguised male attempt to create life, a sour-grapes mockery of the exclusive female access to ultimate secrets. And so with cloning and with projects to disengage the uterus from the female and grow babies in jars, test-tubes, etc. This activity is complemented by th most bizarre male effort of all time, to gain security and advantage by constructing and threatening to use devices that could destroy the entire planet, and also in a subtler way, by advancing exploitative technologies that in their own way and time can destroy the planet" (ebd., S. 218). Frankenstein ist der Prototyp des Mannes, der seine inneren Widersprüche nach außen verlagert. Und Shelley sah voraus, so Fellman, daß "the inner power the male projected outward could turn against him completely" (ebd., S. 218). "It seems reasonable to see Victor as science, government, technology, machismo, domination, resentment, anger, all rolled into one and to see the monster as Victor forces it to become, as the hateful effluent of all those terms unable to be synthesized by men into life-sustaining action" (ebd., S. 218). Der Urkontext schließlich von Frankensteins Wut ist der Verlust der Mutter. Der neurotische Mann, der sich zurück ins Paradies sehnt, aus dem ihn das Leben vertrieb, introjiziert mehr von der Mutter als er sollte, versucht in sich zu erhalten, was die äußere Wirklichkeit ihm verbietet. Vielleicht kann er einige Qualitäten der verlorenen Mutter erhalten. Aber nicht ihr Geschlecht. "The final contradiction is reproduction" (ebd., S. 218). "Victor tries to out-create women; he tries to bring his mother back to life; he tries by making life out of death, to outwit the Creator and creation and thus to deny his own limitations and reality at all possible levels" (ebd., S. 219). Frankensteins Mangel ist, daß er sich die Grenzen männlicher Fähigkeiten nicht vorstellen kann. "By defying the reality of his separation from his mother, the reality of his inner destructiveness, and the reality of the limited role the male plays in creating life, Victor denies his right to channel his disappointment, confusion, and anger into usefiil work in society. . . Instead he gives body to repressed rage and allows it uncontrolled fury" (ebd., S. 219).
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Victors, Monsters und Technologismus. Gibt es Lösungsmöglichkeiten? Frankenstein spiegelt eine gesellschaftliche Entwicklung. Das Monster repräsentiert "the capacity of humans to fashion the agent of their own destruction" (ebd., S. 220). Es steht fur das, was Frankenstein und seine Zeitgenossen fern von sich halten. "The monster, at all levels, is what Victor and his society do not face and deal with on their own terms" (ebd., S. 220). Frankenstein, der Prototyp des "freien" Mannes, ist eine massiv widersprüchliche Figur. Er ist unfähig mit der Befreiung und inneren Ambivalenz umzugehen und sie zu kontrollieren, und überfordert von der innerpsychischen Komplexität, aber auch von der äußeren institutionalisierten Komplexität, und so entsteht ein Technologismus und soziale, ökonomische und politische Strukturen, die ihn wirklich werden lassen. Wie könnte diese Entwicklung korrigiert werden? — Fellman sieht einen Lösungsweg, den er in Shelleys Erzählung vorgezeichnet sieht und bei dem er sich an Freuds Konzept der Sublimation — der erlösende Begriff im Drama der inneren Dynamik — anlehnt. "The same restless energies that create the possibilities of annihilation can be turned to activity to prevent it" (ebd., S. 230). Im Grunde hatte Frankenstein gute Absichten, wollte Leiden abschaffen und Leben verlängern. Es ging daneben, weil er sich nicht im klaren darüber war, daß seine produktiven Wünsche gleichzeitig auch auf seine drastisch verleugnete Destruktivität stießen. So wurde er unabsichtlich Opfer der eigenen Widersprüche. Blind gegenüber der psychischen Natur und inneren Mächten, ließ er sich von ihnen überwältigen. Der volle Titel von Shelleys Erzählung ist "Frankenstein, or the Modern Prometheus." Prometheus stahl von den Göttern die Macht, Zivilisation zu erschaffen und die Macht zu zerstören. Victor Frankenstein ist ein später Prometheus. Während aber sein Vorgänger das Feuer von den Göttern stahl, um es den Menschen zu bringen, befreite Victor seine eigene Macht, sein inneres Feuer, und durch Sublimation seine Fähigkeit sich selbst zu befreien und zu emanzipieren, aber auch die zu zerstören. "The one brings fire to the human, the other runs amok with humans' fire — ultimately nuclear conflagration — because he doesn't understand it" (ebd., S. 230). Prometheus und Frankenstein bilden eine Einheit. Sie zeigen das nützliche und das katastrophische Potential, das dem Diebstahl der Macht der physischen Natur und der Befreiung der Macht der menschlichen Natur folgt. So verkörpern sie die volle Breite der Möglichkeiten der Befreiung und des ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Desasters "that lie in wait for those who would tamper with existence beyond satisfying minimum survival needs" (ebd., S. 231). Shelley verstand, betont Fellman, daß ein angemessenes Verständnis den Dämon zähmen würde. Heute aber würde das kaum ausreichen: "Once the demon is created and recognized, dealing with it is not an internal issue only. If we are to come to terms with our monster, we need to confront their external shapes in the social world as well as our internal complicity" (ebd., S. 231). Shelleys Bild von Erzeuger und Monster gibt uns eine Metapher fur den Terror, fur die schreckliche Möglichkeit der Selbstvernichtung und unser Verhältnis zu ihr. "That we so desperately need to symbolize in order to speak of it, imagine it, bring it under control" (ebd., S. 231). "Using it as a device by which we may move toward facing both the external and the internal issues it reveals, can be a crucial step towards ending the nuclear and ecocidal potentials and gaining a genuine psychic, social, and political healing. Attemps which ignore these crucial realities are, I am convinced, doomed to failure" (ebd., S. 231). Fellmans psychoanalytische Interpretation von Shelleys Erzählung Frankenstein, seine Analyse des Innenlebens des Protagonisten und sein Versuch auf diesem Wege diesen und sein Monster zu verstehen, überzeugt. Frankenstein will das Gute, aber es gelingt ihm nicht. Er ist, konstatiert er selbst, "wie besessen", wird von inneren Mächten getrieben und beherrscht, und sie setzen, weil er unfähig bleibt sie zu reflektieren, die Dynamik blinder Grenzenlosigkeit in Gang, die das Monster verkörpert. Auf der Grundlage von Shelleys Erzählung scheint es sinnvoll, von innerer unverarbeiteter Komplexität aus, die Problematik einer verselbständigten und außer Kontrolle geratenen Technik zu beleuchten. Shelley selbst gibt in ihrer Erzählung geradezu den Schlüssel fiir eine derartige Deutung: "Ich betrachtete das Geschöpf, das ich auf die Menschheit losgelassen hatte", läßt sie Frankenstein sagen, "beinahe im lichte des Vampirs in meinem eigenen Innern" (Shelley, 1993, S. 131). Aber kann, das ist die entscheidende Frage an Fellmans Interpretation, Frankenstein verallgemeinert und auf heute übertragen werden? Dazu will ich zuerst nochmals die Erzählung selbst befragen und dabei wird sich zeigen, daß zwischen Shelleys modernem und dem heutigen Prometheus gravierende Unterschiede bestehen.
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Frankenstein ist, als er nach der Vollendung sein Werk betrachtet, sofort von Grund auf verwandelt. Beim ersten Anblick ist er völlig schockiert: "Der Blitz hat meine Seele getroffen" (ebd., S. 274), er kann das Aussehen der Gestalt nicht ertragen, ist erfüllt von "atemberaubende[m] Entsetzen und Abscheu" (ebd., S. 98) und seine "Träume" werden für ihn zur "Hölle" (ebd., S. 100). Frankenstein bereut seine Tat und schwere Schuldgefühle plagen ihn: "Mir schlug das schlechte Gewissen in die Brust und ließ den Griff nicht los" (ebd., S. 146). Er zieht aus dieser Erfahrung Konsequenzen und unterbricht die Arbeit an seinem Projekt: "Ich . . . gelobte mir feierlich, diese Arbeit nie wiederaufzunehmen" (ebd., S. 285) und sieht seine ausschließliche Aufgabe nun darin, das, was er getan hat, wieder "unschädlich zu machen" (ebd., S. 373). Dieser radikale Umschwung Frankensteins ist sicher nicht charakteristisch für heute. Ein Grund für Frankensteins Kehre liegt im Aussehen des Monsters. Sofort als es vollendet ist und er es sieht, reagiert er. Er kann den Anblick nicht ertragen. "Wenn ich ihn anschaute, wenn ich die widerliche Masse sah, die sich bewegte und sprach, wurde mir übel, und meine Gefühle schlugen in Haß und Abscheu um" (ebd., S. 252). Frankenstein sieht sein Produkt und dieses hat ein Aussehen. Das Ungeheuer hat eine monströse, "widerliche" Gestalt. Im direkten Ansehen seines Erzeugnisses also, welches unmittelbar auch aussieht, nimmt er wahr, was er produziert hat. Sofort fühlt er sich dann für sein Werk verantwortlich. Zweifelt keinen Moment lang an dieser Verantwortung. Warum? — Weil es unzweideutig sein Produkt ist. Von der Idee bis zum Endprodukt hat er es gemacht, er bestimmt den Produktionsprozeß, jeder Arbeitsschritt wird von ihm selbst durchgeführt, keine Arbeiter oder Angestellten, keine Maschinen oder Roboter, keine Zidieferfirma. Die Gesamtproduktion findet an ein und demselben Ort statt, nur er allein ist am Werk, und so ist sein Verhältnis zum Herstellungsgegenstand ein relativ unmittelbares. Wenn, dann gleicht seine Produktionsweise der des mittelalterlichen Handwerkers. Dieses auf verschiedenen Ebenen unmittelbare Verhältnis zwischen Frankenstein und seinem Werk ist ausschlaggebend für seine Veränderung. Aber es unterscheidet sich grundlegend von dem unserer Zeit. Das Kennzeichen heutiger Herstellungsweisen ist geradezu umgekehrt deren potenzierte Formen der Indirektheit und Vermitteltheit. Bei Frankensteins unmittelbarer Art und Weise des Produzierens wäre es tatsächlich denkbar, daß sich die Destruktivität des ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Produzenten im Produkt ausdrückt. Wie aber sollen heute, bei der ungeheuren Vermitteltheit der Herstellungsprozesse, innere Konflikte in die Produkte einfließen? Der Impuls käme bis zum Produkt nicht durch. Er scheitert am Komplexitätsgrad der Produktionsprozesse. Technik heute ist als Projektionsfläche fur innere Widersprüche kaum geeignet. Nim bleibt Frankensteins Kehre auf halbem Wege hängen. Nach Schock und Reue, will er, was er angerichtet hat, wieder unschädlich machen. Dieser zweite Schritt jedoch gelingt ihm nicht. Er kann sein übermächtiges Produkt nicht wieder rückgängig machen, kann das Monster nicht einholen. So stellt sich die Frage, warum ihm die Kehre nicht vollständig gelingt, warum muß Frankenstein scheitern? Fellmans Interpretation wäre: Weil er von sich selbst zu wenig versteht; weil er keinen Zugang zu seiner Schattenseite findet und keine Ahnung von den inneren Mächten, die ihn treiben, hat; weil er über keine angemessene Sprache verfugt, mit der er sein Es begreifen könnte. Daher versucht Fellman in seiner Analyse genau diese Lücke zu füllen, indem er auf psychoanalytischem Erkenntnisweg sich um ein Verständnis des Verhältnisses zwischen Menschen und Technik bemüht. Im Inneren des Subjekts die Triebstrukturen aufklären und von da aus dann Technik interpretieren, das ist Fellmans Lösungsvorschlag, und genau der Weg, den er selbst in seiner Untersuchung einschlägt. Dabei will er Individuelles und Gesellschaftliches als zwei Seiten einer Medaille verbinden, will das Subjekt auf innerpsychischem und sozialem Hintergrund in seinem Handeln verstehen. "Social critics who ignore inner dynamics commit the same outrageous blunder as psychoanalysts who ignore the realities of external history and institutional dynamics" (Fellman, 1991, S. 230). Fellmans Vermittlungsversuch aber bleibt abstrakt. Er beleuchtet zwei Seiten, aber nicht die einer Medaille. Frankensteins innere Widersprüchlichkeit wird in ihrer Grundstruktur unhistorisch gesehen. Fellman sagt selbst: "Certain psychodynamic inclinations are transhistorical" (ebd., S. 194). Deren analytische Einbettung in den gesellschaftlichen Kontext bleibt außen vor. So zeigt sich bei der Frage der Vermittlung von Innen und Außen, von Subjekt und Technik, auf die es gerade ankäme, eine entscheidende Schwäche in Fellmans psychoanalytischem Begriffsinstrumentarium. Die Person und ihr Handeln kann damit nicht unverkürzt aus ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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sich und ihren sozialen und technologischen Lebensverhältnissen heraus verstehbar und begreifbar werden. Freud erschütterte die Vorstellung des sich selbst mächtigen Subjekts. Er erkannte die Bedeutung der Triebe, des Unbewußten, der Verdrängung, der Mächte in uns, von denen wir gelebt werden, er zeigte, daß das Subjekt nicht Herr im eigenen Hause ist. So stand die Aufklärung dieser inneren Komplexität an erster Stelle. Fellman entwickelt Freuds Denken weiter und kann, anhand von Shelleys Erzählung, die Macht der Dinge als eine Veräußerung innerer Mächte beschreiben. Mit der Feststellung aber von Produkten als "Monster", von Dingen als finsteren Mächten, von der Widersprüchlichkeit der Technik ist eine weitere Dimension der Unfreiheit des Subjekts eröffnet. Nicht nur die inneren, auch die äußeren, selbstgemachten Dinge sind es nun, von denen wir "gelebt" werden. Notwendig wäre dann ein Weg, der nicht nur von inneren Konflikten aus das Handeln des Subjekts zu verstehen versucht, sondern der das "Handeln" der Dinge und deren Verhältnis zum individuellen Subjekt unter die Lupe nimmt, der das in den Dingen steckende "Böse" und wie dieses uns Menschen in Bann hält, aufzuklären versucht. Das Subjekt müßte, nicht nur vor dem Hintergrund innerer Komplexität, sondern auch vor dem Hintergrund der Technik interpretiert werden. In Shelleys Erzählung könnte auch diese Einsicht gefunden werden. Nochmals: Warum gelingt Frankensteins Kehre nicht? Das Monster, so Fellmans Lesart, symbolisiert und verkörpert Frankensteins abgespaltene innerpsychischen Bereiche; weil er zu ihnen aber keinen Zugang findet, weil er diese Teile von sich selbst nicht anerkennen und verstehen kann, wird er von ihnen beherrscht und schließlich vernichtet. Nim könnte das Monstrum aber auch einfach wörtlich verstanden werden, als tatsächliches Produkt, welches Frankenstein zwar produziert, zu dem er aber überhaupt keinen Zugang findet. Ja, er sieht gar keine Notwendigkeit sich in sein Produkt hineinzudenken und nach dessen Bedeutung und Konsequenz zu fragen. Weil er nun aber von seinem Produkt nichts versteht, ist er Sklave seines eigenen Erzeugnisses und dessen Opfer. Die "Moral" von Shelleys Erzählung hätte dann zwei völlig gegensätzliche Seiten: Nicht nur weil er seine inneren Schattenseiten nicht reflektiert, scheitert Frankenstein, sondern auch, weil er kein Verständnis fur sein eigenes konkretes Produkt findet. Während der aischyleische Prometheus durch seine Voraussicht, seine Einsicht und seine Klugheit besticht, und sich aufgrund dieser Fähigkeiten letztlich von seinen Ketten befreien kann, sind dies genau ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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die Eigenschaften, denen es Shelleys modernem Prometheus mangelt. Nicht nur kann er sein inneres entfachtes Feuer nicht angemessen reflektieren, auch gegenüber dem von ihm grenzenlos entfachten äußeren Feuer — der Technik —, bleibt er unangemessen begrenzt, es fehlt ihm die Voraussicht, die Klugheit und die Einsicht. Und dieser Mangel bringt ihn zu Fall. Auch Fellman weiß um die Notwendigkeit des Verständnisses der realen Produkte: "Once the demon is created and recognized, dealing with it is not an internal issue only. If we are to come to terms with our monsters, we need to confront their external shapes" (1991, S. 231). Der Schwerpunkt seiner Deutung aber liegt auf "our internal complicity" (ebd., S. 231). Für Frankenstein mag diese Deutung überzeugen. In der Übertragung auf heute aber ist Frankenstein eine untypische Figur. Er ist schockiert von seiner Tat, beendet sein Tim, versucht mit aller Kraft eine Umkehr, was, aufgrund des unmittelbaren Verhältnisses zu seinem Produkt, nicht verwundert. Aufgrund einer solchen Direktheit ist es auch vorstellbar, daß sich die von ihm nicht zugelassenen Anteile seines Selbst im Produkt ausdrücken. Bei potenziert vermittelten und abstrakten Produktionsweisen und Produkten aber ist eine "internal complicity" an der Technik nicht überzeugend. So wäre, in der Übertragung auf heute, die Betonung von Fellmans Interpretation umzukehren. Es wäre möglich, aber eher unwahrscheinlich, daß innere unreflektierte Komplexität sich in der Technik verkörpert. Primär scheint heute die Aufklärung der Nicht-Neutralität und Komplexität der Technik im Verhältnis zum Menschen. An der Psychoanalyse überzeugt insbesondere, daß in ihr, im Gegensatz zur traditionellen Psychologie, die Selbstverständigung des Menschen im Zentrum steht und sie sich um Einsichten in die Komplexität der Erfahrung und des Handelns des Subjekts bemüht. Aber auch ihre frühe Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen Mensch und der von ihm hervorgebrachten Kultur und Technik, und die "welthaltige" Dimension ihrer Theoriesprache. In der Begrifflichkeit allerdings, mit der sie das Verhältnis von Mensch und Welt zu durchschauen versucht, bleibt sie abstrakt, der innere Zusammenhang des "Prothesengottes" und seiner "Hilfsorgane, die ihm gelegentlich noch viel zu schaffen machen" wird nicht wirklich einsichtig, und so kann das Ineinander und die Vermittlung von Innen und Außen, von Subjekt und Technik nicht präzise und schlüssig zur Sprache ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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gebracht werden. Es werden zwei Seiten beleuchtet, aber nicht die einer Medaille. Nun hat sich in der Geschichte der Psychologie mit dem sozialen Konstruktivismus eine weitere alternative Wissenschaftskonzeption herausgebildet, mit der gerade der innere Zusammenhang von individuellem Subjekt und sozialen und technologischen Strukturen auffaßund untersuchbar werden sollte. Im folgenden Abschnitt werde ich psychologische Technikforschung aus dieser Perspektive näher beleuchten. SOZIALER KONSTRUKTIVISMUS UND DISKURSIVE PSYCHOLOGIE Mit dem sozialen Konstruktivismus hat sich eine neue Konzeption von Wissenschaft herausgebildet, die sich heute zu der Alternative gegenüber der herkömmlichen Wissenschaftsauffassung entwickeln konnte. Sie entstand aus der Kritik an der modernen Form wissenschaftlicher Erkenntnis, die an den klassischen Naturwissenschaften und deren "dekontextualisierten" Ideal orientiert ist, und versucht deren Mängel durch eine, oft als postmodern bezeichnete, Erkenntnisweise zu überwinden, in der gerade der "Kontext" und die soziale Vermitteltheit die Grundvoraussetzung des wissenschaftlichen (Selbst-) Verständnisses darstellt. Mit der Moderne und ihrem wissenschaftlichen Programm seien wir, betont der Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin, "auf Grund gelaufen" (1991, S. 20). Von einer abstrakten, universalistischen, dekontextualisierten Form wissenschaftlichen Denkens, vom "Rationalen" müsse der Schritt hin zum "Vernünftigen" gemacht werden, zu Denkweisen, in denen das Wohl der Menschen und deren konkrete praktische Probleme im Zentrum stehen. "Von jetzt an müssen alle theoretischen Ansprüche", erklärt er, "ihren Wert beweisen, indem sie zeigen, daß sie in der menschlichen Praxis und Erfahrung wurzeln" (ebd., S. 289), und zukünftig sei "die Dekontextualisierung der Probleme, die so typisch für die Hochmoderne war, keine ernsthafte Möglichkeit mehr" (ebd., S. 320). Anfang der 80er Jahre bildete sich auch in der Psychologie der soziale Konstruktivismus als ein identifizierbarer "body of thought" und als eine Arbeitsrichtung heraus, und in dieser nimmt die Auseinandersetzung mit Technik einen zentralen Stellenwert ein.
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Der soziale Konstruktivismus bezieht die soziale Vermitteltheit menschlicher Lebenspraxis in seine Untersuchungsperspektive mit ein und versucht in den Analysen die jeweilige Besonderheit der sozialen Einflüsse oder Einbettungen herauszuarbeiten. Technik wird auf sozial-konstruktivistischer Grundlage je nach disziplinärer Perspektive unterschiedlich thematisiert. In der Soziologie etwa wird, wie bereits in der Einleitung beschrieben, technische Praxis fokusiert, und in empirischen Fallstudien wird konkret gezeigt, daß es sich bei technischen Gebilden um soziale Dinge handelt, und Produktionsprozesse nicht einer neutralen, "objektiven" Logik o. ä. folgen, sondern die Dinge Resultat unterschiedlicher sozialer Interessen, Vorstellungen und Aushandlungsprozesse sind (etwa Bijker et al., 1994). Demgegenüber wird in der psychologischen Technikforschung auf Grundlage des sozialen Konstruktivismus nach der sozialen Vermitteltheit des menschlichen Selbstverständnisses gefragt, und welche Rolle dabei technischen Dingen zukommt. Im Gegensatz zur mechanistischen Auffassung der menschlichen Psyche in der traditionellen Psychologie, deren Grundannahmen und deren Verständnis des Menschen als individualistisches, objektivistisches und unhistorisches kritisiert und grundsätzlich in Frage gestellt wird, werden in der sozial konstruktivistischen Perspektive psychische Phänomene aus ihrer sozialen Einbettung heraus zu verstehen versucht. "Die Vorstellung vom Menschen als Maschine, dessen Handeln einem kalkulierbaren Programm gleicht", erklärt Kenneth Gergen, wird "abgelöst durch das Modell vom Menschen als soziale Konstruktion, dessen Handeln in einer komplizierten Weise mit den gesellschaftlichen Prozessen verwoben ist" (1990, S. 191). Der soziale Konstruktivismus in der Psychologie fragt nach den Prozessen, wie Menschen sich selbst und die Welt, in der sie leben, beschreiben und verstehen, er versucht alltägliche, aber auch wissenschaftliche Formen des Selbstverstehens zu verdeutlichen und zu klären, er versucht zu einem tieferen menschlichen Selbstverständnis beizutragen. "Social constructionist inquiry", erklärt Gergen, "is principally concerned with explicating the processes by which people come to describe, explain, or otherwise account for the world (including themselves) in which they live. It attemps to articulate common forms of understanding" (1985, S. 266). "Constructionism attemps . . . to place knowledge within the process of social interchange" (ebd.). Entscheidende Bedeutung wird dabei der Sprache und der Diskurse beigemessen. In Anlehnung an Wittgensteins Formel: "die Grenzen meiner ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", wird die Sprache als ein handlungs- und verstehenskonstitutives Moment aufgefaßt, und daher kommt in der sozial-konstruktivistischen Perspektive der Analyse von Diskursen ein zentraler Stellenwert zu. In der Geschichte der Psychologie haben sich aus der Sicht des sozialen Konstruktivismus zwei gegensätzliche Erklärungsweisen herausgebildet. Einerseits Auffassungen, die menschliches Verstehen und Handeln aus "inneren" Prozessen heraus interpretieren, wie etwa die Gestaltpsychologie, die Kognitive Psychologie, oder auch die Psychoanalyse; andrerseits entstanden Herangehensweisen, die unter Ausblendung innerer Prozesse, allein durch die Untersuchung "äußerer", beobachtbarer Gegebenheiten psychische Phänomene zu erklären versuchten, wie etwa der Behaviorismus. Der soziale Konstruktivismus versucht nun diesen traditionellen Dualismus von endogener versus exogener Perspektive und diese abstrakte Dichotomie von Subjekt und Objekt zu überwinden, und einen neuen theoretischen Rahmen mit einem alternativen Untersuchungsansatz zu entwickeln. Wobei gerade auch der zukünftigen Weiterentwicklung der theoretischen Rahmenkonzeption ein wesentlicher Stellenwert beigemessen wird. Vor allem folgende vier Grundannahmen vereint die sozial-konstruktivistische Denk- und Forschungsperspektive. Erstens wird hier davon ausgegangen, daß Menschen die Wirklichkeit nicht auf unmittelbare, direkte und dekontextualisierte Weise erfassen, sondern die Wirklichkeitserfahrung wesentlich von den jeweiligen Begriffen und Sprachen bestimmt ist. Daher wird im sozialen Konstruktivismus der Sprache und den Diskursen eine große Bedeutung zugemessen. "Social constructionism . . . begins with radical doupt in the taken-for granted world — whether in the sciences or daily life — and in a special way acts as a form of social criticism" (Gergen, 1985, S. 267). Zum zweiten wird erkannt, daß die Begriffe, mit denen wir die Welt und uns selbst verstehen, soziale Gebilde sind, Produkte historisch situierter Wechselbeziehungen zwischen Menschen. Ob nun dann — dritte Grundannahme — eine bestimmte Begrifflichkeit und Verstehensweise vorherrscht, hängt im wesentlichen nicht von deren empirischen Wert ab, sondern von den Wechselfällen der sozialen Prozesse. Zum vierten wird davon ausgegangen, daß das soziale Leben im wesentlichen von Formen des Verstehens-Aushandelns geprägt ist, wie und als was die Wirklichkeit, die eigene Person und die Welt, ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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aufgefaßt und behandelt wird. Psychische Phänomene werden aus der sozial-konstruktivistischen Perspektive also ihrer traditionell psychologischen, individualistischen, unhistorischen und scheinbar objektiven Verstehensweise entkleidet, und als Erscheinungsweisen aufgefaßt, die allein aus der sozialen Beziehung und dem sozialen Diskurs heraus angemessen verstanden werden können. Angst etwa, würde hier nicht als ein Teil des Individuums gesehen, sie entsteht vielmehr aus der Art und Weise der Beziehung zu anderen, sie wird als "unsere" Angst aufgefaßt, von der der Einzelne nur ihr Träger ist. Gergen erklärt: "The explanatory locus of human action shifts from the interior region of the mind to the processes and structure of human interaction. The question 'why' is answered not with a psychological state or process but with consideration of persons in relationship" (1985, S. 271). Um nun derartige soziale Prozesse der Konstruktion der Bedeutung der Wirklichkeit, um die Diskurse und Selbstverstehensprozesse untersuchen zu können, müssen, gegenüber den herkömmlichen psychologischen Stimulus-Response Konzeptionen, grundsätzlich neue methodische Wege eingeschlagen werden. So wird die traditionell fimktionalistische Methodik durch interpretative Forschungsstrategien ersetzt, in denen versucht wird, in Anknüpfung an Feldforschung, Ethnomethodologie und qualitative Methoden, alternative methodische Zugänge zu entwickeln. Da in einer Psychologie auf der Grundlage des sozialen Konstruktivismus die Frage, wie sich in den Beziehungen zu anderen und zu anderem das Eigene verändert, wesentlich ist, da eine "welthaltige" Psychologie zu entwickeln versucht wird, in der konzeptionell die sozialen Verhältnisse, in denen Menschen leben, in die psychologische Analyse miteinbezogen werden, kann hier auch das Verhältnis von Mensch und Technik zum Thema der Untersuchung werden. Ich will nun anhand zweier Ansätze — der Arbeiten von Kenneth Gergen und der von Sherry Turkle — die Besonderheit psychologischer Technikforschung auf sozial-konstruktivistischer Grundlage weiter vorstellen und diskutieren. Im Zentrum von Gergens Ansatz steht die Frage nach dem Einfluß der Technik auf die Beziehungen der Menschen untereinander und nach den Auswirkungen veränderter Beziehungsformen auf das Selbstverständnis der Menschen. Ausgangspunkt seiner Untersuchimg ist ein in die Krise geratenes menschliches Selbstverständnis im ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Alltag, aber auch in den Wissenschaften. Gergen sieht diese Verunsicherungen als Parallelphänomene und als Ausdruck einer allgemeineren Entwicklung, und er versucht diese in einem historischen Herangehen zu erkunden. Dabei stellt er fest, daß sich derzeit im Alltag wie auch in den Wissenschaften ein postmodernes Verständnis von Mensch und Welt herausbildet, und dieses hebt er einerseits von der romantischen Selbstsicht des 19. Jahrhunderts ab, in der man sich selbst aus seinem tieferen Inneren heraus zu verstehen versuchte, andrerseits von der modernen, mechanistischen Selbstauffassung (die sich, wie in dieser Arbeit bereits deutlich wurde, vor allem auch in der modernen Psychologie und deren Maschinen- und Computervorstellungen der menschlichen Psyche wiederfinden läßt), in der man sich als ein kohärentes Wesen, ausgestattet mit bestimmten festen Eigenschaften verstand. Gergen analysiert die Veränderungen des menschlichen Selbstverständnisses im Zuammenhang mit den Veränderungen der Strukturen sozialer Ordnung. Er diagnostiziert dabei die wesentliche Ursache der Krise des menschlichen Selbstverständnisses in den fundamentalen Veränderungen menschlicher Beziehungsverhältnisse durch die Entwicklung der Technik. Die technologischen Herausbildungen in diesem Jahrhundert, so seine These, fuhren zu grundlegenden Veränderungen der traditionellen Beziehungsmuster, zu einer ungeheuren Vermehrung und Intensivierung sozialer Beziehungen und zu einem Zustand, den er als soziale Sättigung bezeichnet. Während Menschen zu Beginn dieses Jahrhunderts relativ konstant an einem Ort gebunden lebten und in einer relativ überschaubaren Anzahl von Beziehungen mit anderen Menschen eingebunden waren, sind wir heute, aufgrund technischer Entwicklungen, in eine enorme Vielzahl von Beziehungen über den gesamten Globus verstrickt, und diese Veränderungen der Art und Weise der Beziehungen führe zu grundlegenden Veränderungen der Selbstsicht der Menschen. Gergen fragt nach den Effekten der sozialen Sättigung und beobachtet damit zusammenhängende grundlegende Veränderungen des menschlichen Selbstverständnisses, bis hin zu einem Sich-selbst-Verlieren-in-den-Beziehungen, zu Auflösungserscheinungen eines kohärenten Selbst und einem multiphrenen Zustand, in dem er die Besonderheit eines postmodernen Selbstverständnisses sieht. Gergen fragt nach der sozialen Bedeutung technischer Entwicklungen, er fragt, wie die Technologien dieses Jahrhunderts die Muster ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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sozialer Beziehungen verändern. Dabei unterscheidet er zwischen Technologien der Low-Tech-Phase und denen der High-Tech-Phase. Low-Tech-Technologien wären Eisenbahn, Post, Telephon, Rundfunk, Film und Zeitschriften- und Buchveröffentiichungen, wobei vor allem die relative Gleichzeitigkeit des Erscheinens und Ausbreitens dieser Technologien zu einer explosionsartigen Vermehrung der sozialen Beziehungen gefuhrt habe. Die Art der Beziehungen, stellt er fest, verändern sich entscheidend im Zusammenhang mit dem technologischen Prozeß. Die Entwicklung des Telephons etwa ermöglicht eine besondere Form nicht nur unmittelbare, sondern auch vermittelte Beziehungen zu führen. Vor allem aber überwanden die Low-TechTechnologien traditionelle Beschränkungen von Raum und Zeit, und sie brachten die Menschen immer näher zueinander und ermöglichten so eine Spannbreite von Beziehungen und eine Intensität, wie sie vormals nicht möglich gewesen wäre. Mit der Entwicklung des Flugverkehrs, des Fernsehens und der elektronischen Kommunikation der vergangenen zwanzig Jahre sieht Gergen tins in eine neue HighTech-Phase eingetreten, die er ursächlich für die soziale Sättigung sieht. Die Entwicklung des Fernsehen, betont er, führe zu neuen Beziehungsqualitäten, etwa zu dem Vermögen des Zuschauers (oder auch des Fernsehdarstellers) an mehr als einem Ort anwesend zu sein, welches er als eine Form der "Selbstvermehrung" bezeichnet. Aber es entstehen auch neue Beziehungsformen, wie die zu fiktiven TVPersonen, wobei diese "Kunstbeziehungen", wie Gergen erkennt, eine eigenartige Macht bekommen können, und wir beginnen, die Wirklichkeit nach den Medien, statt nach der Sinneswahrnehmung zu definieren. "Die grundlegende Frage ist nicht, ob Medienbeziehungen in ihrer Bedeutung den normalen nahekommen, sondern ob normale Beziehungen es mit der Macht der Kunstbeziehungen aufnehmen können" (1996, S. 107). Mit der aktuellen Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien und der Herausbildung eines Weltsystems, das die Übertragung aller elektronischen Signale vereint, von Text, über Bilder, Filme, Sprache, Musik, usw. Sieht Gergen den Prozeß zur Vermehrung sozialer Beziehungen und zur Intensivierung der sozialen Sättigung noch weit davon entfernt, abgeschlossen zu sein. Gergen fragt nun nach den individuellen Auswirkungen dieser Situation der sozialen Sättigung. Die Technologien der sozialen Sättigung setzen das Individuum, erklärt er, einer enormen Spannbreite von Personen, neuen Beziehungsformen, Umständen und GefühlsARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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intensitäten aus, der Einzelne ist mit einer Unzahl anderer Menschen und deren Leben, Vorstellungen, Lebenstile usw. konfrontiert, und durch die Verinnerlichung dieser unterschiedlichen, vielfältigen Lebensmuster anderer entstehe ein Prozeß der Selbstbevölkerung. "Mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts wurde das Selbst zunehmend mit Charakteren anderer bevölkert. Wir sind nicht einer oder einige, sondern . . . wir 'schließen Massen ein'. Wir erscheinen anderen als einzelne Identitäten, einheitlich von einer Machart. Mit der sozialen Sättigung birgt allmählich jeder eine riesige Bevölkerung mit versteckten Fähigkeiten in sich — man könnte Bluessänger, Zigeuner, Aristokrat oder Krimineller sein. Jede dieser Identitäten ist latent vorhanden und könnte unter den geeigneten Bedingungen lebendig werden" (ebd., S. 127). Diese Bevölkerung des Selbst zeige sich etwa im inneren Selbstgespräch und der Vielzahl der Stimmen, die hier zu Wort kommen. Die inneren Stimmen würden verinnerlichte Personen aus realen oder fiktiven Beziehungen — Familienmitglieder, Freunde, aber auch religiöse Figuren oder Charaktere aus dem Fernsehen — repräsentieren, und dieses innere Publikum hätte einen großen Einfluß auf das praktische Leben. Sie dienen als Vorbilder oder auch als Maßstab fur praktisches Handeln und sie verhindern die Entwicklung einer klaren eindeutigen Vorstellung des Selbst. Als Ergebnis der Selbstbevölkerung, aber auch als Folge der Bemühungen des bevölkerten Selbst, das Potential der Beziehungstechnologien auszunutzen, entstehe ein Zustand der Multiphrenie. "Inmitten des Wirrwarrs des heutigen Lebens", notiert Gergen, entdeckt man "ein neues Muster des Selbstbewußtseins. Dieses Syndrom könnte als Multiphrenie bezeichnet werden, da es allgemein auf die Spaltung des Individuums in eine Vielfalt von Selbstinvestitionen bezogen ist" (ebd., S. 131). Multiphrenie beschreibt Gergen als eine widerspüchliche Befindlichkeit, die Verinnerlichung anderer Personen erweitert nicht nur die subjektiven Möglichkeiten, sondern fordert auch ihren Tribut. Es könne zu Formen der Versklavung kommen, weil durch die anderen, die wir in unser Selbst aufgenommen haben, auch deren Wünsche zu unseren eigenen würden, die nun auf Erfüllung pochen. Oder auch zu Formen tiefer Verunsicherung, da jeder dieser verinnerlichten sozialen Geister andere Selbsteinsdiätzungskriterien zur Geltung bringt. Eine dritte Problemebene der Multiphrenie sieht Gergen in einem Verlust an Vernünftigkeit, Objektivität und Wahrheit in der Entscheidungsfindung. Das Kriterium für die Vernünftigkeit einer ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Entscheidungsfindung sieht Gergen als eine soziale Konvention, es hängt von gemeinsamen Meinungen anderer ab. Wenn nun aber im bevölkerten Selbst völlig unterschiedliche Meinungen und Vernunftkriterien verinnerlicht werden und vorherrschen, entstehen Probleme bei der Synthese und der Findimg einer einheitlichen zusammenfuhrenden Position bis hin zur Unmöglichkeit einen vernünftigen und zusammenhängenden Standpunkt zu finden. "Wir nähern uns einem Zustand, in dem die Vorstellung einer 'rationalen Wahl' bedeutungslos wird" (ebd., S. 140). Den Chor der unzähligen verinnerlichten Stimmen — den postmodernen Zustand der Multiphrenie, des "übersättigten Selbst" und in letzter Konsequenz des "ausgelöschten Selbst" — versteht Gergen aber nicht nur als ein Dilemma, vielmehr vor allem als eine Chance: als Möglichkeit zu einem faszinierenden Spiel mit Potentialen, und als Möglichkeit zur Entwicklung einer Sensibilität gegenüber der Beziehungswirklichkeit. "Wenn wir vollständig voneinander 'bevölkert' sind, wenn mein Dasein gleichzeitig dein Dasein ist, wie können wir dann dem anderen etwas antun, ohne damit uns selbst etwas anzutun? Genau diese Entwicklung auf eine weltweite Interdependenz hin ist es, die ich als den besten Effekt der postmodernen Wende ansehe" (1990, S. 198). Während Kenneth Gergen bei seiner Frage nach der Konstruktion des menschlichen Selbst- und Identitätsverständnisses vor allem den Einfluß der Technik auf die menschlichen Beziehungen betrachtet, beleuchtet Sherry Turkle die Frage nach der Identität vor dem Hintergrund des Einflusses der Technik auf soziale Diskurse. Das Anliegen von Turkle ist es, die Veränderungen von uns Menschen durch die neuen Computertechnologien zu erkennen, wobei sie nicht nur fragt, welche Bedeutung wir den Dingen beimessen und was wir mit ihnen tun, vielmehr will sie auch die Frage, was die Dingen mit uns tun, wie sie unsere Beziehungen verändern, unser Denken und unsere Gefühle, in ihre Untersuchung miteinbeziehen. Sie will einen begrifflichen Rahmen entwickeln, der eine gedankliche Auseinandersetzung mit dem Einfluß der Computer auf die Art des Nachdenkens über die eigene Person, aber auch über andere Menschen und die sozialen Lebensverhältnisse eröffnet und ermöglicht. Dabei ist ihr auch der Zukunftsbezug wichtig, sie fragt nicht nur wie wir und unsere Denkweisen sich verändern, sondern auch, wie wir uns verändern werden. "Technologie katalysiert Veränderungen", notiert sie, "Veränderungen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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in dem, was wir tun, und in unserer Denkweise. Sie verändert das Bewußtsein des Menschen von sich selbst, von anderen und von seiner Beziehung zur Welt.... Ich interessiere m i c h . . . fur den 'Computer als Subjekt'. Das ist die Maschine, die in das gesellschaftliche Leben und die seelische Entwicklung des einzelnen eintritt und unser Denken beeinflußt, vor allem das Denken über uns selbst.... Es geht mir nicht um die Frage, wie der Computer zukünftig sein wird, sondern wie wir sein werden. Was flir Menschen werden wir sein?" (1984, S. 10). Um einen Zugang zum Verständnis dieser Veränderungen der Menschen zu finden, entwickelt Turkle eine charakteristische Herangehensweise, die sich durch ihre Schriften hindurchzieht. Theorien, etwa Freuds Traumdeutung, werden von den Rezipienten auf bestimmte Weisen gelesen und aufgefaßt, ihnen wird eine spezifische kontextabhängige Bedeutung beigemessen. Und sie können die Leserin und den Leser dazu anregen, auf eine neue Weisen über sich selbst nachzudenken und sich in einem anderen licht zu sehen, sie können zu einem tieferen Selbstverständnis führen. So kann zwischen Theorie und deren Rezeption unterschieden werden, und daher ist es sinnvoll, nicht nur nach Inhalt und Gehalt und den vom Autor eigentlich gedachten Aussagen von Theorien zu fragen, sondern auch, wie diese im situativen Zusammenhang gelesen und aufgefaßt werden. Entsprechend zur Analyse der Rezeption von Theorien betrachtet Turkle technische Dinge als Objekte, die bestimmte Lesarten hervorrufen, neue Diskurse und Denkweisen evozieren, mit denen aus einem anderen Blick über verschiedene Aspekte von sich selbst und der Welt reflektiert werden kann. "We come to see ourselves differently", erklärt sie, "in the mirror of the machine" (1995, S. 9). So ist sie in den vergangenen zwanzig Jahren im Bereich der entstehenden Computerkultur der Vielzahl der dort hervorgebrachten Objekte und der sie umgebenden Ideen auf der Spur, und versucht, über die Analyse der von konkreten Objekten hervorgerufenen Diskurse, ein Verständnis der Veränderungen von tins Menschen durch Technik zu gewinnen. "Ich untersuche den Computer . . . als evokatorisches Objekt, als ein Objekt, das uns fasziniert, unseren Gleichmut stört und unser Denken neuen Horizonten entgegentreibt" (ebd., S. 10). Computer, betont sie, sind psychologische Maschinen. Nicht nur, weil über sie und ihre inneren Prozesse und Prozessoren — als ob es sich bei ihnen um mit Bedürfnissen, Denken, Intentionen o. ä. ausgestattete Wesen handeln würde — oftmals in psychologischer Sprache gesprochen wird, und ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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nicht nur weil umgekehrt, im Alltag, aber auch in der Wissenschaft, mit Maschinensprache über psychische Prozesse gesprochen wird, sondern, und daraufkommt es Turkle vor allem an, weil sie psychologisches Denken evozieren, weil sie uns dazu bringen, auf neue Weise uns wahrzunehmen, weil sie neue Weisen des Verstehens ermöglichen. "Der Computer ist eine . . . 'psychologische Maschine', und zwar nicht nur deshalb, weil man sagen könnte, er habe eine Psyche, sondern weil er Einfluß darauf hat, wie wir über uns selbst denken" (1984, S. 13). Dabei sieht sie durch die neuen Computertechnologien nicht nur Chancen zur Vertiefung der individuellen Selbsterkenntnis, sondern auch neue Möglichkeiten der sozialen Erkenntnis und der Gesellschaftskritik. Die in den heutigen Technowelten zunehmend vorherrschende Kultur der Simulation stellt eine Voraussetzung dar, betont sie, "to develop a more sophisticated social criticism . . . This new criticism would try to use simulation as a means of consciousness-raising" (1995, S. 71). Zur Erkundung der entstehenden Diskurse im Zusammenhang technischer Artefakte wählt Turkle einen empirischen Forschungsweg. Sie löst sich dabei, was aufgrund des bisher gesagten nicht verwundern wird, radikal von den empirischen Herangehensweisen traditioneller Psychologie. Sie greift auf interpretative Forschungsmethoden der Feldforschung und der Ethnographie zurück, und begibt sich selbst in die Technowelten und deren Diskurse hinein. "Mein Ziel ist es, Computerkulturen zu untersuchen, indem ich in ihnen lebe, indem ich mich, soweit möglich, am Alltagsleben und an den Ritualen ihrer Mitglieder beteilige und indem ich Menschen befrage, die mir dabei helfen können, Dinge von innen heraus zu verstehen" (Turkle, 1984, S. 19). Turkle erkennt dort die Unhaltbarkeit deterministischer Konzepte, also Vorstellungen, die von einer kausalen Bestimmtheit individuellen Denkens und Handelns durch soziale und technologische Lebensstrukturen ausgehen. "Der technologische Determinismus fuhrt sicherlich in eine Sackgasse", betont sie. "Auf die Frage 'Welche Auswirkungen hat der Computer auf das Denken der Menschen?' kann es keine einfache 'eindimensionale' Antwort geben . . . Computer (motivieren) eher zum Denken, als daß sie es determinieren. Die Folgen des Umgangs mit ihnen sind von Mensch zu Mensch sehr verschieden" (ebd., S. 21). Daher versucht Turkle, gewissermaßen von "unten" und aus einer Innenperspektive der Individuen und unter Einbezug, wie sie betont, der "Analyse der Gründe" (ebd.,
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S. 405) Einsichten in die subjektive Bedeutung und die spezifischen und typischen Lesarten der Artefakte zu gewinnen. Im Internet gibt es bestimmte virtuelle Orte, in denen soziale Interaktionen stattfinden, die als "Multi User Domains" bzw. als "MUDs" bezeichnet werden und deren evokatives Potential im Mittelpunkt der neueren Arbeiten von Turkle stehen. MUDs sind mit Simulationsprogrammen erzeugte digitale Spielräume, in denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über computervermittelte Kommunikation von verschiedenen realen Orten der Welt aus an einem virtuellen Ort sich zusammenfinden können. Die Simulationsprogramme ermöglichen in dem jeweiligen MUD die Konstruktion einer künstlichen Figur, so daß hier, in einer Art Rollenspiel, anonym eine virtuelle Identität erzeugt werden kann, die beliebig nahe oder entfernt zur eigenen, realen Person steht. Man kann hier quasi durch den Bildschirm hindurchschreiten und in die Rolle eines fiktiven Wesens schlüpfen und von dieser Rolle aus sich handelnd in der virtuellen Welt des MUDs bewegen, sie beeinflussen und gestalten, und Beziehungen zu anderen fiktiven Wesen aufnehmen, kurzum: man kann in digitaler Gemeinschaft ein virtuelles Leben führen. Gemäß ihrer Grundfragestellung erkundet Turkle auch hier vor allem wie, durch Erfahrungen in der neuen, fremden Welt des Cyberspace wir uns vertrauter werden, wie wir aus der Führung eines virtuellen Lebens auch einen neuen Blick und ein präziseres und umfassenderes Selbstverständnis im realen Leben gewinnen können. MUDs evozieren, stellt sie dabei beispielsweise fest, einen neuen Diskurs über die Geschlechterkonstruktion. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines MUD-Spieles können bei der Konstruktion ihrer künstlichen Figur auch das andere Geschlecht wählen, und dabei selbst erfahren, wie man sich fühlt, wenn man zum anderen Geschlecht gehört (oder etwa auch keines hat). Dieser Geschlechtertausch, also das Männer sich als Frauen präsentieren und umgekehrt, ist in MUDs weit verbreitet und über die Erfahrungen damit wird im Internet ausführlich diskutiert. In ihrer Untersuchung dieser Diskurse beobachtet Turkle, daß die Erfahrung des Geschlechtertausches nicht nur dabei hilft, Probleme zu verarbeiten, die mit dem eigenen realen Geschlecht zu tun haben, sondern auch ein tieferes Verständnis der Probleme und der sozialen Konstruktion der Geschlechterrollen ermöglicht. "MUDs sind evokative Objekte, um über Geschlecht nachzudenken", erklärt Turkle, sie evozieren "ein besseres Verständnis ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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nicht nur der Gründe für sexuelle Belästigung, sondern auch der sozialen Konstruktion von Geschlecht" (1996, S. 327). Kenneth Gergen überzeugt mit seinem Zugang, heutige Probleme des menschlichen Selbstverständnisses aufzugreifen und diese im Zusammenhang mit den Veränderungen menschlicher Lebensverhältnisse zu untersuchen. So treffend er dabei den gravierenden Einfluß der in diesem Jahrhundert entwickelten Technologien auf die Form und Art menschlicher Beziehungen reflektiert, und er, aufgrund der enormen Vermehrung der Spannbreite, aber auch der Intensität und Intimität der Beziehungen einen gesellschaftlichen Zustand der sozialen Sättigung erkennt, so fällt er dann, bei seinem Verständnis der Vermittlung von Individuellem und Sozialen, bei seinen Thesen zum Verhältnis von individueller Person und sozialer Sättigung unter der Hand auf die mechanistische Position traditioneller Psychologie zurück. Deutlich wird dies beispielsweise bei seiner Vorstellung der inneren Stimmen, die er als direkten Ausdruck äußerer Stimmen aus Beziehungen auffaßt. Hier zeigt sich zum einen die Problematik des Begriffs der Verinnerlichung, mit dem er die Besonderheit des Zusammenhanges von Person und Welt zu erfassen versucht, und zum anderen aber auch der Mangel bzw. die Zweideutigkeit seines Subjektbegriffs. Mit dem Begriff der Verinnerlichung scheint es, als ob wir Äußeres unmittelbar in unser Inneres hineinnehmen würden, als ob die Strukturen, in denen wir Menschen leben, unser psychisches Befinden und Handeln unmittelbar bedingten. Daß die Person auch als aktiv handelndes Wesen aufgefaßt werden könnte, daß sie sich die Dinge, die sie "verinnerlichen" will, wählen, sie sich im Prozeß der "Verinnerlichung" zu den Dingen verhalten, oder gar Einfluß auf die äußeren Dinge nehmen und diese verändern könnte, kann in einer solchen Begrifflichkeit nicht in Betracht kommen. So kann auch Gergen die vielfaltigen Vermittlungen zwischen Individuum und sozialer Welt nicht berücksichtigen und so erscheinen bei ihm die inneren psychischen Prozesse von den äußeren sozialen und technologischen Prozessen kausal determiniert Damit befindet er sich an zentraler Stelle seines Konzeptes — dem sozialen Konstruktivismus geht es ja gerade um ein Verständnis der sozialen Einbettung des Indiviuums — im Bereich der mechanistischen, von ihm selbst kritisierten, UrsacheWirkungs-Auffassung der klassischen modernen Psychologie. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Das Subjekt verlegt Gergen in seiner Analyse in den Kontext, es geht als ein bevölkertes und multiples, als ein intentionsloses und dezentriertes Wesen in den Beziehungen restlos auf. Es scheint, als habe er damit von der Auffassung Abschied genommen, die die Besonderheit des Menschen in seiner aktiv handelnden Subjekthaftigkeit sieht. Nim knüpft er mit seinem postmodernen Selbstverständnis und seiner These des aufgelösten Selbst zum einen an die wissenschaftliche Diskussion und an die Persönlichkeitskonzepte der modernen — subjektlosen — Psychologie an. Deren zweifellos problematische Vorstellung eines individualistisch-weltlosen, maschinenartigen Selbst mit modellierbaren Eigenschaften versucht er mit seinem Konzept zu überwinden. Das ausradierte Selbst ist gegen das Selbst der festen Eigenschaften geschrieben, und versucht die Einsicht, daß Menschen sich in der Wirklichkeit ihrer gesellschaftlichen Beziehungen konstruieren und rekonstruieren, zur Geltung zu bringen. Andrerseits knüpft Gergen an die Probleme des Alltags und der gesellschaftlichen Wirklichkeit an, die mit seinem Zugang ins Blickfeld kommen können. Dort erkennt er die drastischen Veränderungen der Struktur sozialer Beziehungen durch die neuen Technologien, und erkennt die Möglichkeit des sich Verlierens und sich Zerstreuens in den multiplizierten Beziehungen und in der Unzahl der Kanäle elektronischer Netze. "Wir sind überall", könnte der Zustand bezeichnet werden, "und damit nirgends". Damit ist er zweifellos einem wichtigen Problem der Grenzen menschlicher Handlungsfähigkeit und möglicher Auflösungserscheinungen des Subjekts auf der Spur. So sehr Gergen nun aber von den "Verheerungen" (1996, S. 12) und den "Versklavungen" (ebd., S. 132) der Beziehungstechnologien auch spricht, er positiviert die Auflösungserscheinungen und verallgemeinert (wie gesagt, auf zweifelhaft mechanistische Weise) die Positivierung zu einem theoretischen Konzept In diesem erscheint dann das individuelle Subjekt auf eine abstrakte, von der Welt losgelöste Weise, in der die Körperlichkeit und Befindlichkeit, das Leid und die Handlungsfähigkeit des Individuums ausgeblendet bleiben. Ein derartiges Denken kann der Macht und den Verheerungen der Technik nichts mehr entgegensetzen und theoretisiert die Selbstauslieferung des Menschen an die Beziehungstechnologien als kollektive Befreiung. Gergens postmoderne Perspektive eröffnet nicht, wie er behauptet, den Blick auf ein faszinierendes Spiel der Menschen mit ihren Potentialen, sondern umgekehrt, sie zeigt den Menschen als willfahrigen Gespielen der Maschinen. Mit seiner Auffassung der Auflösung des Subjekts in den ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Beziehungen steht Gergen im Widerspruch zur alltäglichen Selbsterfahrung. Aber auch zu seiner eigenen Vorstellung einer "verantwortungsbewußten Psychologie" (etwa 1990, S. 198), die von der Befindlichkeit, den Erfahrungen und den Problemen der Menschen ausgehen will, und die auf "Selbsterkenntnis und Einsicht in gesellschaftliches Leben" (1996, S. 18) zielt. So sind in seinem Zugang zwei gegensätzliche Beschreibungen der Person zu finden: einerseits die These des intentionslosen, multiphrenen, aufgelösten Selbst, andrerseits implizite Beschreibungen der Person als aktives, verantwortungs- und handlungsfähiges Subjekt: "Scientific formulations" erklärt er, "on constructivist assumptions . . . would . . . be the result o f . . . the responsibility of persons in active, communal interchange" (1985, S. 272, Hervorhebung v. Verf.). So kann Gergen, aufgrund seines impliziten Determinismus und seiner zweideutigen Subjektauffassung — entgegen seinem Anspruch — die klassische Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht wirklich überwinden. In seiner Untersuchung wird das Subjekt zum Objekt von Objekten; damit verbleibt er zwangsläufig in der traditionell-psychologischen Außenperspektive und kann so keine Einsichten in den inneren Zusammenhang von Subjekt und Objekt, von Individuum und Welt gewinnen. Gergens Zugang überzeugt, weil er überhaupt Technik und die soziale Welt in die psychologische Analyse miteinbezieht, und weil er wichtige Beschreibungen der sozialen Bedeutung der technologischen Bedingungen entwickelt. Aufgrund seiner problematischen Fassung des Verhältnisses von individueller und sozialer Bedeutung aber, und aufgrund seiner Ausblendung des individuellen Subjekts mit seiner Körperlichkeit, seiner Handlungsfähigkeit und seiner Widerständigkeit, kommt er unten "in der Welt" nicht wirklich an. Sherry Turkle wendet sich in ihrem Ansatz entschieden gegen jegliche kausale und deterministische Auffassungen des Verhältnisses von Individuum und Technik. Ihr Anliegen ist es, die Veränderungen der Menschen, insbesondere deren Denken über sich selbst, im Zusammenhang mit den neuen Computertechnologien zu erhellen. Dazu rekonstruiert sie, im Gegensatz zu Gergen, von unten, aus der Innenperspektive des Subjekts die individuellen und sozialen Konstruktionen der Bedeutung technologischer Objekte, und fragt, wie diese von den Objekten evozierten Diskurse ein neues Selbstverständnis und neue Möglichkeiten des Nachdenkens über sich selbst und die ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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menschlichen Lebensverhältnisse eröffnen. Sie bewegt sich dabei vor allem auf deskriptiver Ebene. Sie fragt nicht, aus welchen sozialen Zusammenhängen und Interessenskonstellationen heraus diese Diskurse entstehen und gemacht werden o. ä, sondern beschreibt auf sehr differenzierte Weise die Besonderheit der Techno-Diskurse, die sie in Interviews und teilnehmender Beobachtung feststellt, und entwickelt dabei wichtige Einsichten in die Intimität der Beziehungen zwischen Mensch und Technik. Bei genauer Betrachtung aber zeigen sich mir auch in Turldes Ansatz Brüchigkeiten. Sie fragt nach den Veränderungen menschlichen Selbstverständnisses und Denkens durch Technik, untersucht dann aber alleine (scheinbar) hilfreiche, produktive und nützliche Denkweisen, die die technologischen Objekte evozieren. Sie fragt alleine nach hervorgerufenen Denkweisen, die das menschliche Selbstverständnis erweitern, präzisieren und vertiefen. Von den Computertechnologien evozierte denk- und handlungsbehindernde Diskurse, die natürlich auch festgestellt werden könnten, sind bei ihr kein Thema. Das entscheidende Problem aber in Turkles Zugang sehe ich darin, daß mit ihm alleine die von den Dingen hervorgerufenen Vorstellungen und Diskurse in Betracht kommen können. Die von den Technologien behinderten, verhinderten und unterdrückten Vorstellungen und Denkweisen, die ausbleibenden, aber notwendigen Diskurse können nicht in die Perspektive miteinbezogen werden. Alleine das Gedachte und Gesagte, nicht aber das Ungedachte und Ungesagte kann zur Sprache kommen. Entscheidend aber im gegenwärtigen menschlichen Verhältnis zur Technik scheint mir nicht, worüber wir sprechen, sondern worüber wir nicht sprechen, aber sprechen müßten. In dieser konzeptionell nahegelegten Ausblendung des nicht Konstruierten sehe ich das Hauptproblem von Turkles Ansatz. Hier wird zwar sehr wohl untersuchbar, wie bestimmte Vorstellungsweisen aufgebaut und sozial konstruiert werden, aber die im Verhältnis zur Technik ausbleibenden, aber notwendigen Vorstellungsweisen, Diskurse und Denkweisen bleiben ausgeblendet und können nicht zum Thema gemacht werden. Deutlich wird auch an dieser Stelle ein unzureichender Begriff des Vermittlungszusammenhanges von Individuum, Diskurs und Technik. Nicht daß Turkle, wie etwa Gergen, implizit von einem kausalen Zusammenhang zwischen sozialem Diskurs und Individuum ausgeht, sondern daß sie Technik und Diskurs nicht wirklich in einem Zusammenhang auffaßt. So wie in manchen Rezeptionsanalysen der Text selbst nicht vorkommt, so kommt in Turldes Analysen die ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Technik selbst nicht vor. Sie befrage, betont sie, auch die Dinge, sie beleuchte nicht nur "what computers do for us" sondern auch, "what they dotous" (1995, S. 22). In ihren Untersuchungen aber kommt die Bedeutung der Dinge nur in der subjektiven Variante vor, nur in der Lesart der Rezipienten. Sie selbst beschreibt nicht, weder auf der Basis eigener Analysen, oder unter Hinzuziehung anderer Studien, die objektive Bedeutung technologischer Artefakte. Die Besonderheit der MUD-Figuren beispielsweise, kommen bei Turkle nur aus der Sicht der MUD-Spieler vor. Sie beschreibt, wie diese die Eigenart der Figur sehen, sie selbst aber fragt nicht nach der spezifischen Bedeutung der virtuellen Dinge. So kann sie die subjektiven Diskurse auch nicht gegen den Strich lesen und keine Vorstellung von dem, worüber nicht gesprochen wird, aber gesprochen werden müßte, entwickeln. Ohne ein wirkliches Verständnis der Besonderheit der technischen Objekte selbst aber können die Veränderungen menschlicher Denkweisen durch Technik nicht wirklich durchschaut und begriffen werden. Turkle beleuchtet alleine die subjektive Bedeutung der Technik, wirklich interessant wird diese aber erst, wenn sie ins Verhältnis zur objektiven Bedeutung der Dinge gestellt wird, wenn die Diskrepanz zwischen dem, wie Technik aufgefaßt wird, und wie sie aufgefaßt werden müßte, deutlich wird. Turlde aber interessiert sich nicht fur den "Text selbst", sie fragt alleine nach der Lesart, und damit hängen ihre Diskursanalysen, so konkret und subjekthaft sie auch erscheinen mögen, seltsam in der Luft. Ihnen fehlt die Verankerung und so bleiben auch sie, nicht wie Gergen beim Verständnis der Person, sondern umgekehrt, beim Verständnis der Technik, abstrakt und "weltlos". Psychologische Forschung auf der Grundlage des sozialen Konstruktivismus kann begriffliche und methodische Einseitigkeiten und Verengungen der traditionellen Psychologie überwinden. Sie löst sich völlig von derem, an den Naturwissenschaften orientierten, wissenschaftlichen Selbstverständnis und sie versucht individualistischmechanistische Auffassungen vom Menschen und experimentelle, auf kausale Zusammenhänge reduzierende Forschungswege zu überwinden und mit interpretativen Forschungsmethoden menschliches Handeln aus seiner Einbettung in die gesellschaftlichen Verhältnisse heraus zu verstehen. Psychologische Technikforschung auf dieser Grundlage befindet sich in der Entstehungsphase. Erste wichtige ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Schritte sind gemacht und gute Ansätze entwickelt, die bislang entwickelten Untersuchungen aber können kaum mehr als einen eröffnenden, vorläufigen Charakter haben. Seine "Einsichten", notiert Gergen entsprechend, "sind unsicher und nicht perfekt entwickelt, weil sich der Diskurs über Beziehungen gerade erst entwickelt" (1996, S. 382). Und auch Turkle erklärt: "Wir fangen gerade erst damit an, auch über unsere Beziehungen zur Technologie in . . . strukturierter Weise nachzudenken" (1984, S. 398). In der sozial-konstruktivistischen Technikforschimg kommt der Einfluß der Technik auf die sozialen Strukturen und menschlichen Beziehungen ins Blickfeld, und sehr präzise werden die im Zusammenhang mit der Technisierung entstehenden Diskurse und der Beitrag dieser neuen Denkweisen zur Selbstverständigung der Menschen untersuchbar. Hinter dieser Stärke aber zeigt sich auch das Hauptproblem dieser Perspektive: das über die Grenzen des unmittelbar Gedachten und Gesprochenen Hinausgehende, das Nicht-Konstruierte, aber Zu-Konstruierende, befindet sich systematisch außerhalb des Fragehorizontes, und so fallen die Brüche und Widersprüche im Verhältnis von Mensch und Technik, die nicht entstehenden, aber im Verhältnis zu den erzeugten technologischen Strukturen erforderlichen Vorstellungs-, Denk- und Handlungsweisen zwangsläufig aus der Untersuchungsperspektive heraus und können nicht zum Thema gemacht werden. Hintergrund dieser Ausblendung bilden konzeptionelle Unschärfen und begriffliche Zweideutigkeiten und Verengungen, die gerade auch dort zu finden sind, wo traditionelle Psychologie zurecht problematisiert wird und man deren Einseitigkeiten überwinden will: im Verständnis der Person, im Welt- und Technikverständnis, aber auch im Verständnis des inneren Zusammenhanges von Person und Welt. Vor allem auf grundbegrißlicher Ebene wären daher weitere Präzisierungen erforderlich. Gergen weiß selbst um diese Problematik und fordert daher zur Weiterentwicklung der theoretischen Rahmenkonzeption auf: "The further development of the metatheory should be of especially high priority" (1985, S. 272). In diesem ersten Kapitel fragte ich nach den in der Geschichte der Psychologie entwickelten Herangehensweisen zur Untersuchung der Beziehungen zwischen Mensch und Technik. Deutlich wurde, daß es der traditionellen Psychologie kaum gelingt, über Fragen der sozialtechnologischen Behandlung von Menschen und der Beteiligung an der Entwicklung "besserer" Maschinen, über eine, wie man sagen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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könnte, "Psychologie vom Standpunkt der Technik" hinauszukommen. Hintergrund dafür bildet ihr (allerdings brüchiges) naturwissenschaftliches Selbstverständnis, und ihre "weltlose", auf UrsacheWirkungs-Zusammenhänge reduzierende Begrifflichkeit und Methodologie. In den zur traditionellen Psychologie alternativ stehenden psychoanalytischen und sozial-konstruktivistischen Herangehensweisen wird Technik zunehmend thematisiert. Allerdings zeigt sich auch hier die Schwierigkeit, den inneren Zusammenhang von individuellem Subjekt und technologischer Welt in der Rahmenkonzeption theoretisch zu fassen und damit angemessen ins Blickfeld zu bekommen. Im folgenden Kapitel betrachte ich ausfuhrlich die Herangehensweise der Kritischen Psychologie. Ähnlich wie Psychoanalyse und sozialer Konstruktivismus, stellt sie eine Alternative zur traditionellen Psychologie dar und auch hier wird versucht deren begriffliche und methodische Verengung mit einer Konzeption zu überwinden, die einen Zugang zum Verständnis der Vielfalt menschlicher Selbsterfahrung und Lebenspraxis ermöglicht. Kritische Psychologie versteht sich ausdrücklich als eine sufr/eirfwissenschafiliche Psychologie und will, den Standpunkt des Subjekts einnehmend, zur Selbstverständigung der Menschen in der heutigen Welt beitragen. Dieses Anliegen zeigt sich vor allem auch in ihrem Bemühen zur Begründung einer "subjekt- und welthaltigen" psychologischen Wissenschaftssprache.
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2 | Kritische Psychologie
Wer psychische Erscheinungen erkundet, greift unvermeidlich zu Grundbegriffen, Kategorien, die ihm oder ihr mehr oder weniger präzise einen Zugang zum Verständnis der Phänomene eröffnen. Da von diesen Begriffen der Blick auf die Wirklichkeit bestimmt ist — was, aber auch wie etwas in Betracht kommt —, ist der kritische Blick auf diese selbst, deren Überprüfung und gegebenenfalls deren Präzisierung von entscheidender Bedeutung. "One cannot make psychologically relevant observations without the use of psychological categories", erklärt Kurt Danziger, "these categories define what it is that is being observed" (1997, S. 7). Eine der ersten Aufgaben psychologischer Wissenschaft wäre somit, sich eingehend der Reflexion ihres begrifflichen Instrumentariums zu widmen. Üblicherweise ist nun aber in der Psychologie der Blick auf die Begriffe selbst aus der wissenschaftlichen Reflexion ausgeblendet. "Psychologists have devoted a great deal of care", betont Danziger, "to making their theoretical concepts clear and explicit. But much of this effort has been rendered futile by their complaisance about the way in which psychological phenomena are categorized. The meaning of these categories carries an enormous load of unexamined and unquestioned assumptions and preconceptions. By the time explicit psychological theories are formulated, most of the theoretical work has already happened — it is embedded in the categories used to describe and classify psychological phenomena" (1997, S. 8). In den Untersuchungen wird entweder direkt auf eine Alltagsbegrifflichkeit oder aber auf im Wissenschaftsbetrieb tradierte Begriffsdefinitionen zurückgegriffen. Da die Diskussion um die Begründung der Grundbegriffe im psychologischen Wissenschaftsdiskurs (warum auch immer) unterbleibt, konnte bislang in der Geschichte der Psychologie keine allgemein verbindliche psychologische Wissenschaftssprache entwickelt werden, und so kann sich ein mehr oder weniger spontanes und unpräzis-oberflächliches Gegenstandsverständnis durchsetzen. Dieser Widerspruch einer wissenschaftlichen Psychologie, die ihr begriffliches Handwerkszeug nicht selbst in die wissenschaftliche Begründung miteinbezieht, wurde von der Kritischen Psychologie aufgegriffen und zu überwinden versucht. Holzkamp entwickelte dazu ein historisches Herangehen, mit dem er das Psychische — von der ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Entstehung bis hin zur Besonderheit der menschlichen Entwicklungsform — in seiner Gewordenheit analysiert und rekonstruiert. So konnte er psychologische Grundbegriffe erarbeiten, die historischempirisch begründet, eine theoretisch fundierte Auffassung der menschliche Psyche und differenzierte Einsichten in die inneren Zusammenhänge von gesellschaftlichem Leben, "natürlichen" Grundlagen und individueller Subjektivität ermöglichen. Die kategoriale Konzeption der Kritischen Psychologie stellt eine Art Brille dar, durch die die Wirklichkeit gesehen wird, nicht die konkrete Wirklichkeit selbst. In ihr werden nicht empirische Phänomene unmittelbar beschrieben, vielmehr sollte sie einen möglichst unverzerrten und klaren Blick auf die Wirklichkeit ermöglichen. Durch die Begriffe hindurch sollte die ganze Breite und Vielfalt psychologischer Erscheinungen in möglichst klarem Licht sichtbar werden. Kategorialtheoretische Aussagen sind also auf historisch-empirischer Grundlage gewonnene, konzeptionelle Annahmen über den Zusammenhang von Mensch und Welt, die in einzel-theoretischen Studien (deren Basis sie bilden) auf der Grundlage aktual-empirischen Materials weiter konkretisiert werden können oder müssen (vgl. GdP, S. 27 f.). Klaus Holzkamp analysiert in seiner historischen Entwicklung psychologischer Grundbegriffe ausführlich die Beziehungen der Menschen zu ihren Produkten. Zwar findet man darin nicht den Begriff "Technik", inhaltlich aber geht es, wenn von "Werkzeugherstellung", "Gegenstandsbedeutung" oder "Mittel" die Rede ist, genau darum. Die Entstehimg des Menschen wird üblicherweise mit der Entstehimg der Technik gleichgesetzt. "Die Technik ist so alt wie die Menschheit selbst", erklärt etwa der Technikhistoriker Wolfgang König, "durch Sprache und Technik ist der Mensch erst geworden" (1991, S. 12). In seiner Analyse der Entwicklungsgeschichte des Psychischen betrachtet Holzkamp detailliert die Phase vom Vormenschlichen zum Menschlichen — das Tier-Mensch-Übergangsfeld — und die dort entstehende und sich entwickelnde Herstellung und Nutzung von Werkzeugen und Mitteln. Er untersucht dabei die besondere Bedeutung der Mittel, fragt nach deren Konsequenzen fur die Entwicklung des Psychischen des Menschen und analysiert die zu Beginn des gesellschaftlich-historischen Prozesses sich herausbildenden Beziehungen zwischen Menschen und den von ihnen hergestellten Produkten. In seinem Entwurf einer psychologischen Wissenschaftsprache entwickelt Holzkamp einerseits ein Grundverständnis des inneren ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Zusammenhanges von individuellem Subjekt und gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und legt dabei das Fundament für einen psychologischen Begriff der Technik, andrerseits entwickelt er ein Rahmenkonzept für eine empirische Forschungsmethode zur konkreten Untersuchung menschlichen Erlebens und Handelns in der heutigen Welt. DIE BEDEUTUNG DER MITTEL IN DER ENTSTEHUNGSPHASE DES MENSCHEN
Manipulationsfahigkeit und Sach- und Sozialintentionalität Die frühesten Formen der Benutzung von Mitteln, erklärt Holzkamp, entstanden, als sich in der evolutionären Entwicklung durch Körperaufrichtung und entlastenden Handgebrauch eine "Manipulationsfahigkeit" (GdP, S. 162) ausbildete. Heute sind derartige Fähigkeiten an den dem Menschen ähnlichsten und in der Gegenwart noch vorkommenden Lebewesen, den Menschenaffen — den Ponginen (Gorilla, Orang-Utan, Schimpanse und Gibbon) — zu beobachten. Schimpansen benutzen, wie ausführlich erforscht wurde (Köhler, van Lawick-Godall, u. a.) in vielfältiger Weise Werkzeuge, etwa Stöcke als Mittel zur Erreichung von Nahrung. Möglich ist ihnen jedoch nur der Werkzeuggebrauch. Zu Werkzeugherstellenden Aktivitäten sind Schimpansen und andere Ponginen nur in eingeschränkter und rudimentärer Form fähig, etwa in der Herrichtung eines Zweiges als "Termitenangel". Holzkamp betont nun, daß die Besonderheit der menschlichen Werkzeugherstellung nicht im unmittelbaren Vergleich zu dem der Menschenaffen zu verstehen ist. Die Ponginen sind nicht die direkten Vorfahren des Menschen, sondern entstanden auf einem Evolutionszweig, der sich bereits früh von dem Zweig, der zum Menschen führte — dem der Hominiden (der "Menschenartigen") — abspaltete. Die evolutionäre Entwicklung der Hominiden führte dann aus einem subhumanen, vormenschlichen Stadium über vielfältige Entwicklungsformen in das Tier-Mensch-Übergangsfeld, aus dem dann die "humanen" Hominiden entstanden. Als die ältesten Formen humaner Hominiden werden derzeit die altsteinzeitlichen Australopithecinen betrachtet. Aus dieser Linie entstand, über verschiedene Zwischenformen, etwa der Homo-ErectusGruppe, der Präneanderthaler und des Präsapiens, der eigentliche ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Homo Sapiens, der Cro-Magnon-Mensch, der vor ca. 40.000 Jahren im steinzeitlichen Europa die frühesten konsistenten Kultur-Epochen herauszubilden begann. Den Entwicklungswiderspruch, der zur Abspaltung der Hominiden von den Pongiden führte, lokalisiert Holzkamp in Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen. Durch Zurücktreten und Überfüllung des Lebensraumes Wald wurden Gruppen aus ihrem Biotop verdrängt und diese konnten im hineingedrängten neuen Biotop der Steppen und Savannen Anpassungsleistungen entwickeln, die den evolutionären Prozeß in Richtung der Menschwerdung einleiteten (GdP, S. 164). Holzkamp zeigt, wie sich in dieser Anfangs-Phase der Anthropogenese durch die Vermögen der Sach-Intentionalität und der SozialIntentionalität optimierte Formen der Mittelbenutzung und Mittelherrichtung ausbilden. Aus der, bereits auf einer früheren Stufe, mit dem autarken Lernen (Holzkamp bezeichnet damit die Fähigkeit, nicht nur festgelegte Verhaltensweisen ergänzend, subsidiär, sondern selbständig auch völlig "neue" Bedeutungen und Zusammenhänge zu erlernen) möglich gewordenen psychischen Fähigkeit des "Relationen-Erfassens" und der "Ereignisantizipation" entwickelt sich eine neue Qualität des "Herstellens von Relationen" und des "Herstellens künftiger Ereignisse". Hergerichtete Knüppel, beispielsweise, werden als Waffen gegen Raubtiere benutzt, oder als Hilfsmittel bei der Jagd. Fähigkeiten bilden sich also, mit denen es den Lebewesen möglich wird, aus dem Rahmen artspezifischer Automatismen und festgelegter Aktivitätssequenzen herauszutreten und es ihnen ansatzweise gelingt neue Dinge zu tun und diese in ihren Lebenshorizont zu integrieren. Mit der "sachgerichteten Intentionalität", erklärt Holzkamp, "besteht . . . die Möglichkeit, durch Eingreifen in die Realität und 'Beobachtung' der Konsequenzen eine neue Ebene der Erfahrungsgewinnung zu erreichen" (GdP, S. 166). In den Sozialbeziehungen entwickelt sich die individuelle Leistungsmöglichkeiten überschreitende Fähigkeit der "sozialen Intentionalität" (GdP, S. 169). Eine Art sozialer Werkzeuggebrauch, bei dem Artgenossen in ihrem Leben miteinander sich gegenseitig als Instrumente zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles zusammentun. Holzkamp verdeutlicht diese wechselseitige soziale Intentionalität am (in Vorformen von van Lawick-Godall bereits bei Schimpansen beobachteten) Jäger-Treiber-Beispiel: ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"Bei einer Form von gemeinsamer Jagd, bei welcher Treiber' das Wild aufscheuchen, damit es vom 'Jäger' erbeutet werden kann, übernimmt der Treiber' eine Teilaktivität, die nur im Gesamt der überindividuell organisierten Jagd ihre Funktion hat, wobei diese Kollektivität eine spätere Verteilung der Jagdbeute impliziert und der Treiber seine Teilfunktion in Antizipation des Umstandes übernimmt, daß er später am Verzehr der vom Jäger erlangten Beute teilhaben wird" (GdP, S. 169). So entwickeln sich in der Evolution der Hominiden, indem individuelle Aktivitäten als Teile in gemeinsame Unternehmungen eingebettet sind und der gemeinsame Erfolg zum Maßstab des Gelingens wird, Ansätze eines sozialen Kontrollbedarfs und einer sozialen Verallgemeinerung der Vorsorge.
Zweck-Mittel-Umkehrung und soziale Mittelherstellung
Auf der Grundlage der Sach-Intentionalität und der Sozial-Intentionalität kann sich mm eine neue Beziehung zu den Werkzeugen herausbilden, die dann den entscheidenden Schritt in der Evolution hin zum Menschen einleitet: die Zweck-Mittel-Umkehrung. In ihr sieht Holzkamp ein wesentliches Kriterium, durch das die menschliche Mittelherstellung von der aller anderen Lebewesen unterschieden werden kann. Aus der individuellen Mittelherrichtung und benutzung entsteht die Fähigkeit zur sozialen Herstellung und zum sozialen Gebrauch von Mitteln. Gemeinsam ist all den bisher sich entwickelnden vielfältigen Formen der Beziehungen zwischen Lebewesen und Werkzeugen, daß die Mittel alleine im individuellen Zusammenhang für einen aktuellen Zweck verwendet werden. Ein Stock etwa, wird vom Tier nur angesichts einer Frucht, auf die es Appetit hat, als Mittel ausgewählt, dann mit dieser bestimmten Absicht hergerichtet und nach dem Gebrauch unbedeutend und weggeworfen. Der Schritt hin zum Menschen liegt nun in der Umkehrung dieser Zweck-Mittel-Beziehung. Die Mittel werden nicht mehr individuell spontan angesichts eines unmittelbaren Bedarfs, sondern in verallgemeinerter Weise angesichts eines Bedarfs überhaupt hergestellt. Der Stock dient dann nicht mehr als Mittel zur Beschaffung einer bestimmten Frucht, sondern als Mittel zum verallgemeinerten Zweck der Früchtebeschaffung. Den Mitteln kommt so eine allgemeine Bedeutung zu, sie werden aufgehoben, können verbessert werden usw., und sind auch dann da, wenn sie gerade nicht ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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gebraucht werden. Unsinnig wäre ab diesem Stand der Mittelherstellung die Vorstellung eines einsamen, kreativen Individuums, welches alleine fur sich seine Werkzeuge erfindet, aufhebt und benutzt Nicht zum individuellen Gebrauch werden die Dinge hergestellt und aufgehoben, entscheidend ist eben, betont Holzkamp, ihre verallgemeinerte Benutzbarkeit, ihre soziale Verallgemeinerung. "Sie stehen den Mitgliedern des Sozialverbandes 4für den Fall', daß sie gebraucht werden, zur Verfugung" (GdP. S. 174). So steht nicht mehr der akute Zweck vor dem Mittel, vielmehr umgekehrt, sind die Mittel bereits vorhanden, wenn ich sie fur einen bestimmten Zweck brauche. Die wesentliche Veränderung also, die die Mittel durch diese ZweckMittel-Umkehrung erfahren, ist der ihnen nun zukommende verallgemeinerte Zweck. Ihr entscheidendes Kennzeichen ist somit ihr Nutzen im Leben der Gemeinschaft. Alleine aufgrund dieser Nützlichkeit der Mittel fur das Zusammenleben, da durch sie eine um einen wesentlichen Schritt verbesserte Form der Anpassung erreicht ist, konnte diese neue Form der Mittelherstellung entstehen. Eben als eine neue Qualität der Absicherung des Lebens, in der die Mittel zur Vorsorge hergestellt werden, so daß sie da sind, wenn die Individuen der Gemeinschaft sie brauchen. Die verallgemeinerten Zwecke, denen die Mittel dienen, erklärt Holzkamp daher, seien, "stets und von vornherein die Zwecke der kollektiven Vorsorge im Sozialverband zur Verringerung der Gefahr künftiger Bedrohtheits- oder Mangelzustände o. ä. der Sozietät" (GdP, S. 174).
Von der sozialen zur gesellschaftlichen Mittelherstellung
Die Zweck-Mittel-Umkehrung, erklärt Holzkamp, hat weitreichende Konsequenzen. Mit ihr und der damit entfalteten sozialen Form der Werkzeugherstellung hat sich die entscheidende Grundlage zur Entwicklung des menschlichen Niveaus der Art und Weise des Herstellens — in Form gesellschaftlicher Arbeit — ausgebildet. Zum anderen aber wird durch sie ein Prozeß eingeleitet, der zur Aufhebung der phylogenetischen Entwicklung des Menschen, seiner Naturgeschichte und zur Entstehung der gesellschaftlich-historischen Entwicklung, der Menschheitsgeschichte fuhrt. Wie hat sich nun nach der Zweck-Mittel-Umkehrung die soziale Herstellung und Verwendung der Werkzeuge entfaltet und weiterentwickelt? Holzkamp unterscheidet in der Ausdifferenzierung der sozialen Werkzeugaktivität von ihren Anfängen beim Australopitecus bis zu den Jäger-Sammler-Kulturen der Altsteinzeit mehrere EntwickARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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lungsschritte. Die Schaffung und der Gebrauch von einfachen "Einheitswerkzeugen", wie Faustkeilen, geht über zur Herstellung "eines Arsenals aufeinander bezogener spezialisierter Werkzeugtypen", wie Beile, Messer, Schaber, Nadeln. Die Werkzeugherstellung mit der Hand geht über zur "Herstellung von Werkzeugen für die Werkzeugherstellung". Die Werkzeugherstellung weitet sich aus zur "werkzeugvermittelten Schaffung bzw. Veränderung weiterer Lebensumstände", wie etwa die Herstellung von Kleidung, Behausungen, Gefäße, Rodung von Wäldern, Anlegen von Wegen. Die Schaffung von Werkzeugen "als einfacher Erweiterung 'natürlicher' Aktivitätsmöglichkeiten", wie etwa der Stock zur Früchtebeschaffung als Verlängerung der Gliedmaßen, spezialisiert sich zur "Ausnutzung des gesetzmäßigen Aufeinander-Einwirkens von Naturkräften", wie etwa durch die Umsetzung des Hebel-Prinzips, der Beherrschung und Nutzung des Feuers bis hin zur Entwicklung von Pfeil und Bogen und anderen spezialisierten Jagdinstrumenten. Das dieser Entwicklung zugrundeliegende allgemeine Prinzip, erklärt Holzkamp, "ist die wachsende aktive Aneignung der Natur durch verändernd-eingreifende Vergegenständlichung verallgemeinerter Zwecke der Lebensgewinnung" (GdP, S. 176). In der Entfaltung der sozialen Werkzeugherstellung verändert sich also das Verhältnis zur Natur. Die Lebewesen treten mehr und mehr aus einer unmittelbaren Beziehung zur Natur heraus, sie entwickeln die Fähigkeit, in die Natur einzugreifen, ihre Geheimnisse zu erkennen und die in ihr liegenden Möglichkeiten flir gemeinsame Wünsche und Bedürfnisse herstellend zu erschließen. Diesen Prozeß der Aneignung der Natur und Vergegenständlichung von Wünschen und Bedürfnissen in den Mitteln, diese gebrauchswertschaffende Umgestaltung menschlicher Lebensbedingungen, durch die das Leben der Gemeinschaft in neuer Qualität abgesichert wird, sieht Holzkamp als die früheste Form der Arbeit In dem Maße nun wie Arbeit im Prozeß der Lebensgewinnung der Menschen bestimmend wird, wird die soziale zu gesellschaftlicher Mittelherstellung. Die Entfaltung der gesellschaftlichen Mittelherstellung hat auch auf übergeordneter Ebene weitreichende Konsequenzen. Sie bildet die Voraussetzung zur Aufhebung der evolutionären Selektion und damit der Phylogenese und sie wird zur Grundlage der gesellschaftlichhistorischen Entwicklung, der im eigentlichen Sinne Geschichte des Menschen. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Die gesellschaftliche Mittelherstellung und gesellschaftlichen Lebensformen entstehen und entwickeln sich, zeigt Holzkamp, noch auf der Grundlage der Evolutionsprinzipien, also auf der durch sie erreichten besonders erfolgreichen Anpassungsleistungen. In dem entstehenden Vermögen der gesellschaftlichen Organisation des Lebens liegt aber auch das Moment zur Aufhebung des die bisherige Entwicklung bestimmenden Selektions-Prinzips. In einer Übergangsphase müssen bis zu einem bestimmten Punkt die sich ausbildenden Ansätze zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung noch auf die genomische Information zurückwirken. Und so kann die im Erbgut fundierte, alleine dem Menschen zukommende Fähigkeit zur gesellschaftlichen Lebensweise: die gesellschaftliche Natur des Menschen entstehen. Mit dieser natürlichen Entwicklungspotenz des Menschen zur Gesellschaftlichkeit und der damit möglich gewordenen gesellschaftlichen Gestaltung des Leben entsteht nun aber eine völlig neue Qualität der aktiv vorsorgenden Anpassung, durch die die evolutionäre Selektion aufgehoben wird und sich damit aus der Phylogenese als der bis dahin bestimmenden Kraft der gesellschaftlich-historische Prozeß herausentwickeln kann. "Die 'natürlichen' Entwicklungspotenzen (des Menschen) zur Gesellschaftlichkeit", schreibt Holzkamp, ermöglichen "obwohl auf der einen Seite durch evolutionäre Selektion entstanden, auf der anderen Seite einen Prozeß . . in welchem das Prinzip der natürlichen Selektion als Entwicklungsfaktor gegenüber der Optimierung verallgemeinerter gesellschaftlicher Vorsorge durch Arbeit immer mehr zurücktritt. Auf diese Weise ist der Umschlag von der Dominanz des (in der Größenordnung von Jahrhunderttausenden sich vollziehenden) phylogenetischen Prozesses zur Dominanz eines durch die Möglichkeit geplanter Verbesserung der kollektiven Lebensicherung der Selektionswirkung enthobenen, damit selbständige Kontinuität gewinnenden gesellschaftlich-historischen Entwicklungsprozesses eingeleitet" (GdP, S. 181). Im Übergang von der sozialen zur gesellschaftlichen Mittelherstellung also entsteht, im Zusammenhang mit der Ausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen, aus der phylogenetischen die gesellschaftlich-historische Entwicklung. Eingeleitet wird dieser ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
DIE BEDEUTUNG DER MITTEL
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Prozeß mit der Zweck-Mittel-Umkehrung vor mindestens einer Million Jahren, seit ungefähr vierzigtausend Jahren existieren dann bereits die hochentwickelten Werkzeugkulturen, in denen die gesellschaftliche Natur des Menschen weitgehend ausgebildet ist, erst aber vom Neolitikum an, also vor maximal zehntausend Jahren, entsteht, mit dem kontinuierlichen gesellschaftlich-historischen Prozeß, der Homo sapiens sapiens, also die gegenwärtige Menschheit. Mit der entwickelten Herstellungsfähigkeit treten die Menschen in neuer Qualität aus der Natur heraus und ihr durch deren geplante Veränderung gegenüber. Sie können ihr Ausgeliefertsein an aktuelle und bedrohliche Naturverhältnisse durch die Umwandlung der Natur in Richtung einer menschlichen Lebenswelt, die, wie Holzkamp immer wieder betont, "auf konsistente und vorhersehbare Weise die Lebensnotwendigkeiten der Gesellschaftsmitglieder absichert" (GdP, S. 182), überwinden. Mit dieser, durch die Aneignung der Natur in gesellschaftlicher Arbeit geschaffenen Lebenswelt, setzen sich die Menschen auf eine neue Weise — als Produktionsgemeinschaft — miteinander ins Verhältnis. Und diese gesellschaftlich geschaffene Lebenswelt wird nun gegenüber der organismischen Selbstreproduktion in der Phylogenese, der Träger der nun entstehenden gesellschaftlich-historischen Entwicklung. HERSTELLEN, HERGESTELLTES UND SUBJEKT IM ENTSTEHENDEN GESELLSCHAFTLICH-HISTORISCHEN PROZESS Auf evolutionäre Weise, über Mutation und Selektion, entsteht also Gesellschaftlichkeit als eine neue Stufe der Art und Weise der Lebensgewinnung und dementsprechend muß sich die gesellschaftliche Natur des Menschen, d. h. die Fähigkeit der menschlichen Psyche zur Gesellschaftlichkeit ausbilden. Mit dieser entstandenen neuen Entwicklungsstufe gesellschaftlichen Lebens muß der einzelne nun nicht mehr all die Dinge, die er für sein Leben und Überleben braucht, unmittelbar selbst schaffen, vielmehr ist die Existenz des einzelnen, die Schaffung und Nutzung der Lebensbedingungen der Menschen, über den gesamtgesellschaftlichen Prozeß vermittelt. Menschen stehen, betont Holzkamp, zu ihrer von Menschen fur Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Welt in einem grundlegend neuen
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Verhältnis der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz (GdP, S. 193). Wenn es nun um menschliches Herstellen geht, so kann auch dieses alleine aus seiner Einbettung in den gesamtgesellschaftlichen Prozeß heraus angemessen verstanden werden.
Bedeutungsaspekte der Mittel: Hergestelltheit und Brauchbarkeit
Nach der Zweck-Mittel-Umkehrung und mit der Entfaltung der sozialen bzw. gesellschaftlichen Werkzeugherstellung verändert und differenziert sich die Bedeutung der Mittel. Aus den spontan hergerichteten und verwendeten Hilfsmitteln werden, mit der entstehenden Fähigkeit zur planmäßigen Herstellung, Arbeitsmittel, in denen allgemeine Zwecke vergegenständlicht sind. Das bloß Hergerichtete wird zu etwas Hergestelltem. Die bloße Verwendbarkeit der Gegenstände wird im Zusammenhang vorsorgender Lebenssicherung zu einer verallgemeinerten Brauchbarkeit der Mittel. Diese Gesichtspunkte der "Hergestelltheit" und der "Brauchbarkeit", stellt Holzkamp fest, sind zwei wesentliche Aspekte der Bedeutung von Mitteln (GdP, S. 211). Der Hergestelltheitsaspekt betont, daß die Produkte nicht zufallig und spontan und mit individueller Absicht, sondern geplant und für einen allgemeinen Zweck geschaffen werden. Dabei verkörpern die geschaffenen Dinge auch Erfahrungen und Einsichten wie etwas, so praktisch wie möglich, hergestellt werden kann. Auf diese in den Dingen verkörperten gesellschaftlichen Erfahrungen kann beim weiteren Herstellen zurückgegriffen und aufgebaut werden. So bildet der Hergestelltheitsaspekt auch die Grundlage zur Weitergabe und Verbesserung von Produktionswissen und -praktiken. Während es beim Hergestelltheitsaspekt der Bedeutung der Mittel also darum geht, diese durch vergegenständlichte verallgemeinerte Gebrauchszwecke herzustellen, geht es beim Brauchbarkeitsaspekt darum, die in den Produkten vergegenständlichten Gebrauchszwecke umzusetzen. Diese beiden Aspekte unterscheiden sich grundsätzlich. Ein Produkt herzustellen oder es zu gebrauchen sind zwei völlig verschiedene Tätigkeiten. Dennoch betont Holzkamp, besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten eines Produkts, weil der eine vom anderen geprägt wird. Alleine wenn Produkte nicht nur als etwas Zufälliges gehandhabt werden, sondern der in der Herstellung beabsichtigte Gebrauchszweck umgesetzt wird, werden sie erst etwas tatsächlich Brauchbares, eben Mittel für einen bestimmten Zweck. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"Der Hergestelltheits-Aspekt [ist] fur den Brauchbarkeits-Aspekt der Mittelbedeutungen bestimmend, und zwar deswegen, weil nur in Realisierung des bei der Herstellung intendierten verallgemeinerten Gebrauchszwecks ein Werkzeug nicht nur in seiner zufälligen Verwendbarkeit, sondern eben in seiner generalisierten Brauchbarkeit für die kooperativ-vorsorgende Existenzsicherung, also als 'soziales Ding' in Aktivitäten umgesetzt werden kann" (GdP, S. 212). Aufgrund dieser Bedeutung der Mittel, als Verkörperung gesellschaftlichen Herstellungs- und Gebrauchswissen, bilden sie die Grundlage der gesellschaftlich-historischen Erfahrungskumulation.
Zuerst Vorstdien, dann Herstellen
Die soziale bzw. gesellschaftliche Mittelherstellung und deren Resultate stehen, weil es dabei zentral um Vorsorge und Absicherung des gemeinsamen Lebens geht, in überindividuellen Antizipationszusammenhängen (s. etwa GdP, S. 268). Aber auch der konkrete Herstellungsprozeß ist durch dieses zukunftsbezogene Moment wesentlich geprägt. Menschen können, im Gegensatz zu den anderen Lebewesen, das Resultat ihres Schaffens vorab gedanklich ausbilden, also das Produkt vorstellen, bevor sie es herstellen. Holzkamp bezeichnet diese gedankliche Vorwegnahme des Arbeitsergebnisses als "Gebrauchszweck-Antizipation" und bezieht sich dabei auf eine berühmte Passage von Karl Marx: "Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war" (Marx, 1983, S. 193). Die Vorstellungen, betont Holzkamp, die am Anfang des Herstellungsprozesses stehen, bilden die "praktischen Begriffe" (GdP, S. 226). In ihnen ist der Hergestelltheitsaspekt, sowie die verallgemeinerte Brauchbarkeit von Dingen sprachlich repräsentiert. Und durch sie hindurch, also von den — als Maßstab und zur Steuerung — ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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antizipierten Gebrauchszwecken, werden die unterschiedlichen Stadien des Herstellungsprozesses reguliert, bis das Vorgestellte im Hergestellten aufgeht. "Den verallgemeinerten Gebrauchszweck muß man", notiert Holzkamp, "vorher 'in seinem Kopf haben, ehe man seine Herstellung antizipieren und realisieren kann; und in den 'Kopf kommt er aus übergeordneten Handlungszusammenhängen, . . . auf dem Wege . . . sprachlich-symbolisch kommunizierter 'praktischer Begriff[e]"' (GdP, S. 270). Der antizipierte Zweck kann nie eine rein individualistische Vorstellung sein, er ist immer allgemeiner Gebrauchszweck, immer bezogen auch auf andere und den gesellschaftlichen Prozeß. Ein Produkt nur fur je mich gibt es nicht, durch seine Brauchbarkeit (und nicht nur durch diese), durch sein "Gemachtsein-Zu" (s. etwa GdP, S. 291) ist es immer auch etwas Soziales und unauflöslich mit dem gesellschaftlichen Prozeß vermittelt. "Da in den im . . . gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß angeeigneten Gebrauchswert-Antizipationen verallgemeinerte Zwecke praktisch 'auf den Begriff gebracht' sind, verkörpern auch die hergestellten Arbeitsmittel . . . verallgemeinerte Brauchbarkeiten innerhalb kooperativ-gesellschaftlicher Zielkonstellationen: dies auch dann, wenn das Individuum im operativen Prozeß ein 'Produkt' o. ä. lediglich zum eigenen Gebrauch herstellt, da es dabei den kooperativ-gesellschaftlich entstandenen verallgemeinerten Gebrauchszweck für sich nutzbar macht, also (ob es will oder nicht) das darin liegende übergeordnete Handlungsziel realisiert (dem könnte das Individuum nur entkommen, wenn es nicht nur das Produkt fur sich herstellen, sondern auch dessen verallgemeinerten Gebrauchszweck sich ganz allein ausdenken würde; ein solches Individuum ist aber, da die in den Arbeitsmitteln/Lebensbedingungen liegenden Verallgemeinerungen . . . nur mit der Herausbildung der gesellschaftlichen Lebensgewinnungsform entstehen können, ein bloßes Hirngespinst)" (GdP, S. 270). In den Produkten also spiegeln sich Vorstellungen und Bedürfnisse, Einsichten und Erfahrungen des Menschen. Die von Menschen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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hergestellten Gegenstände sind Vergegenständlichungen seiner selbst. Unmittelbar sind dabei Vorstellen und Herstellen aufeinander bezogen. Und da in den Vergegenständlichungen immer auch der Bezug zu anderen und zum gesellschaftlichen Prozeß drinsteckt, sind diese immer auch gesellschaftliche Dinge. Hinter dem Hergestellten also, hinter den Mitteln, stehen nach dieser Auffassung unauflösbar wir Menschen. So erscheinen die Mittel an sich als unproblematisch, problematisch höchstens, was mit ihnen getan wird, fur welche Zwecke die Zwecke dann tatsächlich eingesetzt werden. DIE BEZIEHUNG ZU DEN DINGEN
Subjekt zur Welt Kein Bedingungs- sondern ein Begründungsverhältnis Im Zuge der Entfaltung Mittelherstellung bildet sich, wie gesagt, in der Evolution Gesellschaftlichkeit aus, als eine neue besser angepaßte Form der Lebensgewimiung. Mit der gesellschaftlichen Synthesis, in der nicht nur geschaffene Mittel, sondern auch fur sich belassene Welttatbestände in die menschlich-gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen miteinbezogen werden, entsteht ein verselbständigter gesellschaftlich-historischer Prozeß. Holzkamp betont ausdrücklich diesen verselbständigten Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse. "Der verselbständigte Systemcharakter gesellschaftlicher Verhältnisse", schreibt er, ist "allgemeines Charakteristikum der 'gesamtgesellschaftlich' vermittelten Lebensgewinnung" (GdP, S. 306). Mit dieser "Verselbständigung" ist nun aber nicht "Entfremdung" gemeint, etwa in dem Sinne, daß der gesellschaftliche Prozeß objektiv als eine naturhafte, von Individuen unbeeinflußbare Selbstbewegung erscheint. Mit Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist vielmehr zum einen die Herauslösung des gesellschaftlichen aus dem evolutionären Prozeß angesprochen, durch die dieser zu einem eigenständigen Prozeß mit eigenständig ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeiten wurde. Zum anderen aber vor allem der Sachverhalt, daß der gesellschaftlich-historische Prozeß zwar von Menschen geschaffen wird, er aber, im Gegensatz zu den vormenschlichen Lebensformen, auch unabhängig vom Beitrag des je Einzelnen — und in diesem Sinne "selbständig" — geschieht, er vor dem Individuum ja auch bereits da ist und es, zumindest bislang, überdauert.
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"Die gesellschaftlichen Verhältnisse", betont Holzkamp, stellen "ein 'in sich' lebensfähiges Erhaltungssystem dar, das selbständiger Träger historischer Kontinuität und Entwicklung ist und das der Einzelne in seinen unmittelbaren sozialen bzw. kooperativen Beziehungen als ihn selbst überdauernde Struktur, in die er sich 'hineinentwickeln' muß, vorfindet" (GdP, S. 306).
Bedeutungen: Aus Aktivitätsdeterminanten werden Handlungsmöglichkeiten
Wie sieht nun das Verhältnis des einzelnen Menschen zu diesem verselbständigten, gesamtgesellschaftlichen Erhaltungssystem, von dem ja die Werkzeuge und Mittel einen Teil bilden, genauer aus? Wichtig wird in diesem Zusammenhang Holzkamps "Bedeutungs"Konzept, da er mit diesem die Vermittlung zwischen Mensch und Welt, zwischen materiell-gegenständlichen und psychischen Aspekten des Lebens faßbar zu machen versucht. Gegenüber dem vormenschlichen Niveau, erläutert Holzkamp, auf dem die Bedeutungen generell als in der artspezifischen Umwelt liegende Aktivitätsdeterminanten verstanden werden müssen, werden in einer von Menschen geschaffenen Lebenswelt die Bedeutungen grundsätzlich zu "Handlungsmöglichkeiten" (GdP, S. 236). Das Individuum muß zwar, da es außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs kaum lebensfähig wäre, von diesen, d. h. von den Bedeutungen irgendwie Gebrauch machen. Aufgrund der geschilderten Verselbständigung des gesellschaftlichen Prozesses aber, hängt das Individuum in seiner Existenzsicherung nun nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzimg ab, eine Distanz wird nun zwischen ihm und seiner Welt möglich, und durch diese ist es von seinen jeweiligen konkreten Bedeutungsbezügen in seinen Handlungen nicht mehr determiniert und festgelegt. Das Individuum, notiert Holzkamp, "hat im Rahmen der globalen Erfordernisse der eigenen Lebenserhaltung. . . immer auch die 'Alternative' nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handhingsmöglichkeiten gegenüber 'frei (GdP, S. 236). In dieser Bestimmimg der Bedeutungen als Handlungsmöglichkeiten, die natürlich auch fur die hergestellten Produkte gilt, sieht Holzkamp ein unhintergehbares und unauflösbares Kennzeichen der Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Lebenswelt.
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"Auch, wo das Individuum unter historisch bestimmten, klassenspezifischen Bedingungen gravierenden Einschränkungen, Zwängen etc. unterworfen ist, sind dies immer Einschränkungen, Unterdrückungen, Deformierungen von gesellschaftlichen Handhingsmöglichkeiten. Dies heißt einmal, daß das Individuum auch unter noch so eingeschränkten Bedingungen immer noch Handlungsalternativen hat, also der Möglichkeitschzrakter der Bedeutungen erhalten bleibt (eine totale Ausgeliefertheit an die Umstände ist gleichbedeutend mit dem Ende der menschlichen Existenz); zum anderen heißt dies, daß die genannten Einschränkungen als Einschränkungen menschlicher Handhrngsmöglichkeiten erst ihren spezißsch menschlichen Charakter erhalten" (GdP, S. 236). Diese "Möglichkeits-Beziehung" des Individuums zu seiner Welt schafft die Voraussetzung, stellt Holzkamp fest, für eine erkennende, "'gnostische' Welt- und Selbstbeziehung" (GdP, S. 236) des Menschen. "Erst dadurch, daß die Individuen nicht mehr (wie noch auf bloß 'kooperativem' Niveau) jedes Ereignis in seiner Bedeutung auf die eigene Existenz und deren Erhaltung unmittelbar beziehen müssen, also jetzt 'existentiell entlastet' sind, wird jene 'Erkenntnisdistanz' möglich, in welcher Beziehungen von Ereignissen untereinander als objektive Gesetzmäßigkeiten faßbar werden" (GdP, S. 236). Das damit möglich gewordene Bewußtsein versteht Holzkamp also nicht nur als eine individuelle Fähigkeit, sich Mittel (zu verallgemeinertem Zweck) vorzustellen, bevor sie hergestellt werden. Die Besonderheit des menschlichen Bewußtseins besteht darin, daß Menschen die Fähigkeit haben, sich zu ihren Bedeutungsbezügen als Handlungsmöglichkeiten bewußt verhalten zu können. "Die wesentliche Bestimmung des Bewußtseins in seiner menschlichen Spezißk ist", notiert Holzkamp, "die auf der materiellen Grundlage der gesamtgesellschaftlichen Vermittelheit individueller Existenzsicherung entstehende 4gnostische' Welt- und Selbstbeziehungt in welcher die Menschen sich zu den Bedeutungsbezügen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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als ihnen gegebenen Handlungsmöglichkeiten bewußt 'verhalten' können, damit nicht mehr in den Erfordernissen ihrer unmittelbaren Lebenserhaltung befangen sind, sondern fähig werden, den übergreifenden Zusammenhang zwischen den individuellen Existenz- und Entwicklungsumständen und dem gesamtgesellschaftlichen Prozeß verallgemeinert-vorsorgender Schaffung menschlicher Lebensmittel/-bedingungen zu erfassen. Erst damit ist bei der planenden Antizipation von Arbeitsresultaten, dabei Herausbildung von über Vergegenständlichungen und deren symbolische Repräsentanz vermittelten Kooperations- und Kommunikationsformen, die . . . unmittelbare Rückbezogenheit auf die eigene Existenzsicherung überwunden, und die gesellschaftlichen Strukturen und Bedeutungszusammenhänge, die einerseits raumzeitlich über den individuellen Lebenszusammenhang hinaus auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse verweisen, und von denen andrerseits dennoch die personale Existenz abhängig ist, können so 'bewußt' bei der antizipierenden Planung berücksichtigt werden" (GdP, S. 237). Durch diese Fähigkeit des Bewußten-Verhaltens-zu verändert sich nicht nur die Beziehung zu den hergestellten Produkten, die man nun eben nicht nur mit einer bestimmten Absicht herstellen (die geschilderte Sachintentionalität), sondern zu denen man sich zudem bewußt verhalten kann. Auch die Beziehungen der Menschen untereinander verändern sich grundlegend. Bewußtes-Verhalten-zu ist ja immer ein Je-mich-zu-etwas-bewußt-ins-Verhältnis-Setzen. "'Bewußtsein'", notiert Holzkamp, "steht immer in der 'ersten Person'" (GdP, S. 237). Und so, wie ich mich als Ursprung des Erkennens und des bewußten Verhaltens zur Welt auffasse, so geht es natürlich auch meinen Mitmenschen. Dadurch werden menschliche Beziehungen über die Sozialintentionalität hinaus, in der, wie gesagt, andere als "soziale Werkzeuge" zur Erreichung bestimmter Ziele aufgefaßt werden, o. ä., zu Beziehungen zwischen Subjekt und Subjekt. Darin, daß "ich den anderen als gleichrangiges, aber von mir unterschiedenes 'Intentionalitätszentrum' in seinem 'Verhältnis' zu gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und darin zu sich selbst erfahre" (GdP, S. 238), erläutert Holzkamp, besteht ein wesentliches Kennzeichen menschlicher Subjektivität und Intersubjektivität ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Die psychische Fähigkeit nun, durch die das Subjekt sich aktiv ins Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen setzt, und so "über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß" (GdP, S. 241) verfugt, bezeichnet Holzkamp als Handlungsfähigkeit "Handlungsfähigkeit" betont er, ist "das erste menschliche Lebensbedürfnis — dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist, und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung" (GdP, S. 243). Aufgrund der Fähigkeit des Individuums des Bewußten-Verhaltens-zu ist Holzkamps Verständnis der Stellung des Subjekts zu seiner Welt vorgezeichnet. Menschen können nicht als durch ihre Lebensverhältnisse völlig bedingt aufgefaßt werden. "Das individuelle Subjekt entzieht sich als solches durch seine Möglichkeit des bewußten 'Verhaltens' zu den Bedingungen seiner vollständigen 'Bedingtheit'. . . Auch noch so eingeschränkte Handlungsalternativen bleiben immer noch Alternativen, und zu noch so gravierenden Unterdrückungsverhältnissen, objektiver Scheinhaftigkeit, ideologischer Beinflussung etc. kann sich das Individuum als Subjekt bewußt 'verhalten'. Die totale Eliminierung dieser Möglichkeiten ist gleichbedeutend mit der Auslöschung der menschlichen Existenz" (GdP, S. 345). Ein Hauptproblem technikpsychologischer Ansätze besteht, wie im ersten Kapitel deutlich wurde, in deren Verständnis des Zusammenhanges von Individuum und Welt. Subjekt und Technik stehen sich hier abstrakt gegenüber, einerseits in den objektivistischen Ansätzen, die von einer kausalen Ursache-Wirkungs-Beziehung und konzeptionell vom bedingten Menschen ausgehen (wie etwa in Behaviorismus und seinem Reiz-Reaktions-Modell, oder dem Kognitivismus und seinem Input-Output-Modell), aber andrerseits auch in den subjektivistischen Zugängen, in denen der Bezug zur Welt und Wirklichkeit ausgeblendet bleibt (wie etwa in der Psychoanalyse oder manchen sozial-konstruktivistischen Ansätzen). Mit seinem Konzept der subjektiven Handlungsgründe versucht Holzkamp dieses Problem der unvermittelten Gegenüberstellung von Subjekt und Welt zu überARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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winden und entwickelt eine Antwort auf die Grundfrage nach dem Verhältnis von Freiheit und Bedingtheit menschlichen Handelns.
Objektive Lebensbedingungen und subjektive Handlungsgründe
Bei der Darstellung der Entstehung und Entfaltung der menschlichen Fähigkeit zur Werkzeugherstellung wird bereits deutlich geworden sein, wie Holzkamp diese aus ihrem inneren Zusammenhang zur konkreten Lebenswirklichkeit heraus zu analysieren und zu begreifen versucht. Auf der Grundlage der Werkzeugherstellung entfaltete sich die Gesellschaftlichkeit des Menschen und damit entstand eine neue Qualität der inneren Eingebundenheit des Menschen in seine Welt, neue Vermittlungsweisen, eine neue Art innerer Zusammenhänge von Individuum und Welt. Menschen zeichnen sich durch das Vermögen aus, betont Holzkamp, sich bewußt zu ihren Lebensbedingungen verhalten zu können. Dabei werden die Bedingungen von Menschen nicht unmittelbar aufgefaßt, sondern vermittelt über das Medium menschlich-gesellschaftlicher Denk- und Sprachformen: "Bewußt" wird uns die Welt in ihrer symbolischen Repräsentanz. Seine Lebensverhältnisse erscheinen dem Individuum also vermittelt über symbolisch repräsentierte Bedeutungsstrukturen. Diese Bedeutungsstrukturen stellen nun, weil dem Individuum eben grundsätzlich als Handlungsmöglichkeiten gegeben, nicht die Bedingungen, sondern die Gründe dar, fur unser individuellmenschliches Erleben und Handeln. In diesen subjektiven Handlungsgründen sieht Holzkamp daher die wesentliche Vermittlungsebene zwischen Individuum und seiner Welt. Im Konzept der "subjektiven Handlungsgründe", notiert Holzkamp, sind "'Bedingungen' und 'Gründe' . . . nicht äußerlich gegenübergestellt, sondern Begründungszusammenhänge [werden] im 'Medium' von Bedeutungsstrukturen und deren Repräsentanz in Denkund Sprachformen als 'subjektiv'-handlungsrelevanter Aspekt der Bedingungszusammenhänge gefaßt . . . Menschliche Handlungen/Befindlichkeiten sind also weder bloß unmittelbar-äußerlich 'bedingt', noch sind sie Resultat bloß 'subjektiver' Bedeutungsstiftung o. ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen 'begründet" (GdP, S. 348). Der innere Zusammenhang zwischen Individuum und seiner Welt geschieht also vermittelt über die subjektiven Handlungsgründe. Dies ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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bedeutet nun, daß menschliches Befinden und Handeln zwar grundsätzlich nicht bedingt ist, andrerseits aber ist es auch nicht grenzenlos imbeschränkt und beliebig, vielmehr ist "auch die 'Greieste' Entscheidung. . . ftir das Individuum 'begründet'" (GdP, S. 349). Neben dem Bezug der subjektiven Handlungsgründe zu den äußeren Lebensbedingungen, betont Holzkamp auch den Bezug nach innen, zu den Bedürfnissen. "Wie 'frei' . . . eine Handlung audi sein mag, sie ist für 'mich' als Subjekt immer aus meiner 'menschlich' qualißzierten Bedürfhislage begründet" (GdP, S. 350). Individuelles Handeln als Bewußtes-Verhalten-zu Lebensbedingungen könnte zwar im Widerspruch zu den tatsächlichen Interessen des Individuums stehen, nicht aber, — da der Mensch sich nicht bewußt selbst schaden kann (für Holzkamp das einzige inhaltliche Apriori einer Wissenschaft vom Individuum) — im Widerspruch zu den Interessen und Bedürfnissen, wie das Individuum sie als seine Situation erfahrt. Daher nimmt Holzkamp an, daß jede bewußt vollzogene Handlung aus subjektiv funktionalen Begründungszusammenhängen heraus erwächst. Diese Begründungen beruhen ihrerseits nun, stellt Holzkamp fest, auf Prämissen, d. h. auf den konkreten äußeren, aber auch inneren, personalen Lebensbedingungen des Individuums, und zwar so, wie es sie bzw. sich erlebt. Die Betonung liegt auf: "wie es sie bzw. sich erlebt". Mit dem Begriff der Prämissen unterscheidet Holzkamp zwischen dem tatsächlichen und dem erlebten, dem realen und dem phänomenalen Aspekt der Lebensbedingungen. Entscheidend für das psychische Befinden und Handeln des Subjekts sind demnach nicht die Lebensverhältnisse als solche, sondern diese, wie sie vom Subjekt als seine Situation, seine Geschichte und Zukunft, seine Fähigkeiten usw. erfahren und aufgefaßt werden. Dadurch, daß Holzkamp Bezüge der subjektiven Handlungsgründe zu inneren und äußeren Bedingungen, zu den Bedeutungstrukturen/Handlungsmöglichkeiten, den gesellschaftlichen Denk- und Sprachformen, den Prämissen usw. aufzeigt, beschreibt er Strukturen, die menschliches Befinden und Handeln prägen. Wie beschreibt und bestimmt er die Freiheit der Handlungsalternativen, die die Besonderheit des Subjekts bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit seiner Existenz gerade ausmachen soll? Freiheit, betont Holzkamp, bedeutet mehr als nur Nicht-Abhängigkeit. Sie bemißt sich darin, inwieweit Menschen tatsächlich über ihre Lebensverhältnisse verfügen. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"'Frei' ist ein Individuum in dem Grade, wie es an der vorsorgenden gesellschaftlichen Verfügung über seine Lebensbedingungen teilhat, damit seine Bedürfnisse in 'menschlicher' Qualität befriedigen kann. Dies bedeutet, daß man von subjektiver Freiheit nur soweit reden kann, wie das Individuum nicht nur unter jeweils bestehenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen handlungsfähig ist, sondern auch über die Handlungsfahigkeitsbedingungen selbst verfugt, also diese zur Überwindung darin gegebener Handlungseinschränkungen erweitern kann: Nur auf diese Weise ist ja die Handlungsfähigkeit'unter' Bedingungen nicht durch die Unverfügbarkeit der Bedingungen selbst wieder eingeschränkt, letztlich zurückgenommen" (GdP, S. 354). Das wesentliche Kriterium also von subjektiver Freiheit sieht Holzkamp in der "doppelten Möglichkeit" der Nutzung und Erweiterung von Handlungsräumen. Entscheidend dabei ist, inwieweit fur das Individuum die Möglichkeit besteht, nicht nur unter den Bedingungen zu handeln, sondern es Alternativen hat, seine Bedingungen zu erweitern und zu verändern. Damit aber hängt die subjektive Freiheit selbst wiederum von den konkreten historischen Lebensbedingungen ab. So gesehen stehen bei der Frage nach dem Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung menschlichen Handelns die objektiven Bedingungen an erster Stelle. Damit aber, betont Holzkamp, ist nun keineswegs die Freiheit und Subjekthafügkeit des Menschen aufgehoben. Die zweite Möglichkeit der Erweiterung der Handlungsräume mag eingeschränkt sein, gar gegen Null tendieren, nie aber kann sie Null sein. Menschliches Handeln kann nicht zu einem reinen Handeln unter Bedingungen werden. "Der Mensch ist . . . durch seine 'doppelte' Möglichkeitsbeziehung des bewußten 'Verhaltens' innerhalb subjektiver Begründungszusammenhänge jeder 'BedingtheitEinschränkung, Abhängigkeit notwendig immer'ein Stück vorausWie sehr die Art und der Grad der verbleibenden Möglichkeit der Verfugungserweiterung über die Bedingtheit der Begründungen selbst wider 'bedingt' sein mag: Die Tatsache der Möglichkeit der Verfügungserweiterung ist 'unbedingt', sie ist eine genuine (aus der 'gesellschaftlichen Natur' in gesamt ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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gesellschaftlicher Vermitteltheit entspringende) Spezißk der 4menschlichen' Existenz und nur mit dieser auslöschbar" (GdP, S. 355). Die Vorstellung vom Menschen als Subjekt wäre aus Holzkamps Sicht unter keinen Umständen einzuschränken. Die Annahme der "Auslöschung" oder des "Todes" des Subjekts wäre fur ihn gleichbedeutend mit der Auslöschung oder dem Tod des Menschen. "Der Mensch", erklärt Holzkamp, ist "als solcher 'Subjekter kann nicht *subjektlos' und gleichzeitig 'Mensch' sein. Die relativierende Rede von Arten und Graden der'Subjekthafügkeit'Subjektivität' etc. ist also selbst wieder zu relativieren aufgrund der Einsicht, daß die Spezißk des Menschen als 'Subjekt' unreduzierbar und uneliminierbar ist" (GdP, S. 355). Mit dem Konzept der subjektiven Handlungsgründe versucht Holzkamp also ein Verständnis des inneren Zusammenhanges im Verhältnis zwischen Menschen und Welt zu erschließen. Zugespitzt auf die Beziehungen zwischen Menschen und ihren Produkten formuliert: Das Subjekt Mensch steht zu seinen Produkten nicht in einer Bedingtheitsbeziehung. Vielmehr bilden die hergestellten Dinge die Gründe für sein Befinden und Handeln, es steht in einer Möglichkeitsbeziehung zu ihnen, kann, auf was fur eingeschränkte Weise auch immer, etwas mit ihnen machen, restloses Ausgeliefertsein an die Technik wäre identisch mit dem Ende seiner Existenz. Die Entstehung und Entfaltung der Werkzeug- und Mittelherstellung hatte in der Evolution ungeheuer verändernde Konsequenzen. Mit ihr entstanden wir Menschen, und die Resultate des Herstellens stellte uns Menschen in ein völlig neues Verhältnis zur Welt. Von Anfang an produzierten Menschen kontinuierlich neue Produkte, veränderten ihre Welt und damit auch wieder sich selbst. Nach dieser "Selbstveränderung" wird nun noch auf der Grundlage von Holzkamps Arbeiten gefragt. Wie könnte dieses Verhältnis zwischen kontinuierlich neu hergestellten Produkten und notwendig sich verändernden Menschen verstanden werden? Wie eignen Menschen sich die Dinge an und wie verändert sie sich dabei? Dazu werde ich zuerst Holzkamps Aneignungsbegriff vorstellen, der dann in dessen "zweiseitiger" Konzeption der Handlungsfähigkeit aufgeht, und dieses Konzept anhand der denkenden Wirklichkeitsaneigung verdeutlichen. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Aneignung, Veränderung und Handlungsfähigkeit Daß Menschen sich bei der Aneignung ihrer Welt verändern, steht für Holzkamp außer Frage. Die Frage ist, auf Grundlage welcher Vermittlungsprozesse diese Veränderungen stattfinden und wie ein sinnvoller Weg zum Verständnis der Veränderungen menschlicher Subjektivität gefunden werden könnte. Mit dem Konzept der Aneignung schien nun in der Anfangsphase der Kritischen Psychologie zuerst einmal ein geeigneter Basisbegriff gefunden, der eine Herangehensweise zur Erhellung der Vermittlungsprozesse zwischen gesellschaftlichem Menschen und menschlicher Gesellschaft, zwischen Subjekt und Welt eröffnet. Lange galt die "Aneignung", wie Holzkamp erklärt, als "das grundlegende Konzept der . . . kritisch-psychologischen Forschung" (SE, S. 53, s. a. Holzkamp, 1980, S. XXXVIII). Aneignung wurde dabei als der Komplementärprozeß zur Vergegenständlichung betrachtet. "Dem Prozeß der Entäußerung des Menschen in vergegenständlichender Arbeit", erklärt Holzkamp, "ist der Prozeß der Verinnerlichung der gegenständlichen Resultate . . . durch die individuelle Aneignung zugeordnet" (SE, S. 105). Die gesellschaftliche Natur des Menschen als Möglichkeitsrahmen kann durch die Aneignimg der in den Bedeutungen vergegenständlichten gesellschaftlichen Erfahrung eingelöst und wirklich werden. "Die menschliche Ontogenese", bemerkt Holzkamp, "als Ausfaltung phylogenetisch erlangter biologischer Möglichkeiten zur 'Vergesellschaftung' und die Aneignung gesellschaftlich-historischer Erfahrung als durch gegenständliche Tätigkeit vorangetriebene Realisierung dieser Möglichkeiten sind also zwei Momente des einheitlichen Prozesses individualgeschichtlicher menschlicher Entwicklung" (SE, S. 53). Durch das individuelle Aneignen des gesellschaftlichen Lebens kann demnach der einzelne Mensch sein persönliches Leben erhalten und entfalten. Aneignung erschien so als ein unverzichtbarer, lebensnotwendiger Prozeß des individuellen Lebens. Auch auf gesellschaftlicher Ebene sieht ihn Holzkamp als "lebensnotwendig, weil nur über die Aneignung die Menschen zu wirklichen Trägern des Prozesses der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens werden" (1980, S. XXXIX, zweite Hervorhebung v. Verf.). Durch das Zueinander von Vergegenständlidiung und Aneignung verändern sich die Menschen. Zum einen wiederum auf gesellschaftlicher Ebene: während alle nicht-menschlichen Lebewesen ihre Art ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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über den Erbgang verändern, verändern wir Menschen uns vermittelt über den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozeß. Zum anderen verändert sich in der individuellen Aneignimg natürlich auch das Individuum. "Die Umgestaltung der Welt", erldärt Holzkamp, "und die Umgestaltung des Menschen . . . Vergegenständlichung und Aneignung, (sind) zwei Seiten eines einheitlichen Prozesses" (SE, S. 137). Dem Prozeß der Aneignung und Veränderung der äußeren Natur durch Vergegenständlichung in menschlich-gesellschaftlichen Produkten entspricht also der Prozeß der menschlichen Aneignung dieser Produkte in Veränderung seiner "zweiten Natur". Oder wie Marx das sagt: "Indem (der Mensch) auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich auch seine eigene Natur" (1983a, S. 192). Bei der Entwicklung des Aneignungskonzepts bezieht Holzkamp sich auf Überlegungen von Marx und Alexej Nikolajewitsch Leontjew. Marx faßt die Aneignung als die individuelle Seite des gesellschaftlichhistorischen Prozesses, als die Ausbildung menschlicher Fähigkeiten gemäß den Anforderungen der Produktion. Die "Aneignung", erklärt Marx, "ist zuerst bedingt durch den anzueignenden Gegenstand — die zu einer Totalität entwickelten und nur innerhalb eines universellen Verkehrs existierenden Produktivkräfte . . . Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten" (1983b, S. 67). Leontjew entwickelt, in Anschluß an Marx, ein psychologisches Konzept der Aneignung. Er sieht in ihr die individuelle Umsetzung der gesellschaftlich historischen Erfahrung durch den Menschen, und in dieser Reproduktion die Grundlage der psychischen Entwicklung. Die "psychische Entwicklung einzelner Menschen ist. . . das Produkt eines besonderen Prozesses — der Aneignung" (Leontjew, 1980, S. 282). "Beim Aneignungsprozeß reproduziert. . . das Individuum die historisch gebildeten Fähigkeiten und Funktionen" (ebd., S. 283). Marx und Leontjew stellen den reproduktiven Charakter des Aneignens heraus. Aneigung zwar durchaus als ein aktiver Prozeß, aber einer, in dem es vor allem darum geht, die in den Dingen vergegenständlichten, historisch gebildeten Eigenschaften und Fähigkeiten der menschlichen Art in den Eigenschaften und Fähigkeiten des Individuums zu entwickeln und auszubilden. Während dem Tier, betont Leontjew, seine Umwelt "gegeben" sei, sei dem Menschen seine von ihm geschaffene Welt "aufgegeben". Die Aneignung der "Errungenschaften ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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der historischen Entwicklung der Menschheit" (Leontjew, 1980, S. 284) sei kein Prozeß, der sich von selbst ergibt, vielmehr eine Aufgabe, die sich den Menschen grundsätzlich stellt. Auch Holzkamp betont diesen engen Zusammenhang zwischen Menschen und geschaffener Welt und die Notwendigkeit, die in den gesellschaftlichen Mitteln vergegenständlichten Erfahrungen in der Aneignung zu reproduzieren. Bereits beim Gebrauch einfacher Werkzeuge, stellt er fest, müssen sich "die menschlichen 'Fertigkeiten' und 'Fähigkeiten' . . . dem jeweiligen Stand der Differenzierung und Spezialisierung der Werkzeugtypen anmessen" (SE, S. 138); diese "Fähigkeiten (sind) Ergebnis und Voraussetzung der gesellschaftlichhistorischen Entwicklung" (SE, S. 139, Hervorhebung v. Verf.). Mit dem Aneignungsbegriff schien also ein wirklich historisches Herangehen in der Psychologie möglich, durch das die Entwicklung menschlicher Subjektivität nicht abstrakt isoliert, sondern als eine individuell besondere Konkretion des Zueinanders von naturgeschichtlicher und gesellschaftlich-historischer Gewordenheit aufgefaßt werden könnte. Eine Besonderheit der individuellen Aneignung besteht darin, erklärt Holzkamp, daß sie kein ungebrochen produktiver Entwicklungsprozeß menschlicher Subjektivität darstellt. Sie ist vielmehr, abhängig von den jeweiligen konkreten Lebensverhältnissen, ein "in sich widersprüchlicher Vorgang" (1980, S. XLIX). Das Aneignen von Aspekten des gesellschaftlichen Lebens kann ein Enteignen werden, ein Einschränken oder Verhindern von Erkenntnis, von Fähigkeiten und Erfahrungen. Die Wurzeln der Widersprüchlichkeit einer derartigen aneignenden Enteignung und deren Effekte auf die menschliche Subjektivitätsentwicklung, lokalisiert Holzkamp in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen. Als Mittel zum Zweck aufgefaßt, erscheinen die Produkte selbst nicht widersprüchlich und die Aneignung gesellschaftlich vergegenständlichter Fähigkeiten und Erfahrungen als unproblematische Veränderungen menschlicher Subjektivität und alleine als Erweiterungen menschlicher Erfahrung und Handlungsfähigkeit. Mit dem Aneignungsbegriff wird nur eine, die reproduktive Seite der Beziehungen zwischen Menschen und ihrer Welt fokusiert; die zweite mögliche, die produktive, handelnde, verändernde Seite — mit der das Subjekt erst wirklich zum Subjekt wird — wird mit ihm nicht faßbar. Der Aneignungsbegriff greift also zum Verständnis der ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Vermittlungen zwischen Menschen und ihrer gesellschaftlichen Lebenswelt zu kurz. Holzkamp präzisiert daher in der Ausarbeitung seiner Psychologie vom Standpunkt des Subjekts den einseitigen AneignungsbegrifF durch die Konzeption der subjektiven Handlungsgründe und durch das zweiseitige, analytische BegrifFspaar restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit. Auf der Dimension der Erkenntnis, der menschlichen Wirklichkeitsaneignung, will ich nun diese im Handlungskonzept gefaßte Zweiseitigkeit der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft verdeutlichen.
Sinnliche und denkende Erkenntnis
Ein Aspekt des Aneignungsprozesses ist die Frage, wie die Dinge wahrgenommen und erkannt werden. Wahrnehmen und Erkennen stellen erste Schritte im Umgang mit etwas dar. Dinge, die ich nicht kenne, existieren für mich nicht, mit ihnen habe ich nichts zu tun, und so bildet das Erkennen auch eine Grundvoraussetzung des Handelns. Daher will ich auf Holzkamps kategoriales Konzept der erkennenden Fähigkeiten des Psychischen des Menschen näher eingehen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit, welche, wie bereits ausgeführt, durch die gesellschaftliche Lebensweise erst möglich wurde, ist für Holzkamp keine willkürliche, intellektuell-vergnügliche Spielerei, vielmehr eine für das menschliche Leben notwendige Angelegenheit. "Die Erkenntnis", notiert er, ist"zentrale Voraussetzung für das Überleben der Gesellschaft" (SE, S. 170). Wenn die Menschen keinen angemessenen Erkenntniszugang zu den wesentlichen Grundstrukturen ihrer Lebenswelt finden können, dann kann daraus nur Desintegration und Entropie resultieren. "Sofern der gesamtgesellschaftliche Prozeß in seinen Haupttendenzen nicht durch die der jeweiligen konkreten historischen Entwicklungsstufe gemäße Ausprägungsform von Erkenntnis und erkenntnisgeleiteter Praxis geprägt ist, muß dies in letzter Konsequenz unausweichlich Stagnation und Verfall des gesellschaftlichen Lebens der Menschen nach sich ziehen" (SE, S. 170). Den Zusammenhang von Erkennendem und Erkenntnisgegenstand sieht Holzkamp als einen durchaus innigen, "'Erkenntnis' ist als solche eine adäquate, 'gültige' Erfassung von realen Gegebenheiten" (SE, S. 57), aber auch als einen relativen. "Erkenntnis", notiert er, ist ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"niemals abgeschlossen, da an den vom Menschen begriffenen und ergriffenen Bereich der 'äußeren' Natur und der eigenen Natur stets ein unauslotbarer Bereich bisher undurchdrungener Natur 'an sich' angrenzt" (SE, 171). Die Wirklichkeit gilt aus Holzkamps Sicht nicht als nicht, auch nicht als absolut, vielmehr als relativ erkennbar. Erkenntnis ist also immer auf dem Weg der Annäherung an die Wirklichkeit. Wahrnehmung und Denken bilden nun die zwei wesentlichen Momente des menschlichen Erkenntnisweges. In der sinnlichen Wahrnehmung finden Menschen den Zugang zu ihrer Welt und Wirklichkeit. Daher sieht Holzkamp in ihr die Grundlage des Erkennens. "Die Wahrnehmung als sinnliche Erfahrung . . . ist die Basis jeder Art von Erkenntnis" (SE, 370). Die sinnliche Erfahrung und die denkende Erkenntnis sind nun, stellt Holzkamp fest, nicht voneinander zu trennen, sie stehen zueinander wie zwei Seiten einer Medaille. Einerseits, weil in der sinnlichen Wahrnehmung immer durch den Begriff hindurch die Wirklichkeit erfaßt wird, das Wahrnehmen also stets vom Denken mitgeprägt ist, die denkende Erkenntnis andrerseits aber durch die sinnliche Erfahrung erst ihren notwendigen Realitätsbezug gewinnt. Aufgrund dieses Zusammenwirkens von Sinnlichem und Gedachtem in der Wahrnehmung bezeichnet Holzkamp die Wahrnehmung als sinnliche Erkenntnis. "Das Wahrgenommene ist Ausgangspunkt und Endpunkt des denkenden Erkennens in einem; auch wo das Denken sich scheinbar weit vom sinnlich Erfahrbaren entfernt, kann es doch nur in der Rückkehr zum Wahrgenommenen (das in einem bestimmten Sinne nie verlassen wurde) Wirklichkeitserkenntnis werden" (SE, S. 370). Das Besondere der menschlichen Wahrnehmung sieht Holzkamp nun darin, daß in ihr, vermittelt über die Sprache, Bedeutungen angeeignet werden. "Die Wahrnehmung in ihrer 'menschlichen' Spezifik ist das Ergebnis individueller Aneignung gesellschaftlich kumulierter Erfahrung, und zwar der sinnlich eingebundenen Gegenstandsbedeutungen als Resultat vergegenständlichender gesellschaftlicher Arbeit in Form ihres symbolisch-sprachlichen Begriffes" (SE, 172). Mit der Zweck-Mittel-Umkehrung ist eine strikte Trennung zwischen der Wahrnehmung als auf sinnlich Präsentes und dem Denken als auf ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Repräsentiertes gerichtete Erkenntnisweisen aufgehoben. In der Herstellung, im Prozeß der Vergegenständlichung verallgemeinerter Zwecke in den Mittel/Produkten, ist Präsentes (etwa Rohmaterialien) und Repräsentiertes (etwa die Vorstellung vom Produkt) voneinander getrennt, die beiden Aspekte fugen sich dann aber im Endprodukt wieder zusammen. "Die Wahrnehmung des bearbeitenden Dinges währenddes Herstellungsprozesses erfolgt. . . quasi durch die 'Idee' des zu erreichenden Endzustandes hindurch" (SE, S. 124). Aber auch in der Wahrnehmung des fertigen Produkts fließen Gegenwärtiges und Vergegenwärtigtes ineinander. Auf menschlichem Niveau, bemerkt Holzkamp, ist das wahrgenommene Ding von seinem Begriff nicht mehr zu trennen, es wird durch seinen Begriff hindurch, "in Form seines Begriffs" (SE, S. 172) wahrgenommen. Da also in der Herstellung von Mitteln deren verallgemeinerte Zwecke notwendigerweise vergegenwärtigt und antizipiert werden und dem entsprechend im Gebrauch der Mittel die Zwecke rückwärts gerichtet vergegenwärtigt werden, ist die menschliche Wahrnehmung von Anfang an, stellt Holzkamp fest, "rückgreifend und antizipatorisch" (SE, S. 156). Dieser Vergangenheits- und Zukunftsbezug der Wahrnehmung bilden, stellt Holzkamp fest, die zwei wesentlichen Momente eines ursprünglichen "gewahrenden Bewußtseins" (SE, s. 156). Sinnliche Erkenntnis wäre somit, aufgrund des antizipatorischen Aspekts der Wahrnehmung, der Möglichkeit nach von Anfang an prognostische Erkenntnis. Die sinnliche Wahrnehmung nun, erkennt Holzkamp, ist "halbirrtümlich" (SE, S. 309), sie hat zwei Seiten. Einerseits ist sie Grundlage des Erkennens, andrerseits aber auch fördert sie das Verkennen der Wirklichkeit. Die Wahrnehmimg bewegt sich vor allem auf der Ebene des unmittelbar sinnlich Erfaßbaren, gegenüber Zusammenhängen und Widersprüchen aber ist sie blind (SE, S. 333). So liegt ihre zentrale Aufgabe im Erkenntnisprozeß in der Gewinnung unmittelbarer Erfahrung. Wirkliche Erkenntnis aber ist vor allem auf das Denken angewiesen. "'Denken'", notiert Holzkamp, ist "die zentrale Weise individuellen Erkenntnisgewinns" (GDP, S. 383). Wie beschreibt nun Holzkamp die denkende Aneignung der Wirklichkeit? Denken sieht Holzkamp, neben der Motivation und der Emotionalität, als einen wesentlichen Funktionsaspekt menschlicher HandARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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lungsfähigkeit. Und so wie die Handlungsfähigkeit generell im Spannungsfeld zwischen restriktiv-defensiver und verallgemeinertverfugungserweiternder Alternativen sich bewegt, interpretiert Holzkamp das Denken als eine Fähigkeit, die sich zwischen den Polen der Denkweise restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, zwischen Deuten und Begreifen bewegt. Die Beziehung des individuellen Subjekts zu den gesellschaftlichen Bedeutungen und Denkformen ist stets problematisch. Je ich kann mich zu den Bedeutungen bewußt verhalten, kann mir entwickelte Begriffe aneignen und versuchen gesellschaftliche Bedeutungen gedanklich zu erschließen, ich muß das aber nicht. Ob ich das tue, hängt von der subjektiven Funktionalität der Begrifflichkeiten ab, d. h. ich eigne mir Bedeutungen nur dann gedanklich an, wenn mir das in irgendeiner Weise als sinnvoll erscheint. Die denkende Aneignung der Wirklichkeit kann nun, stellt Holzkamp fest, grundsätzlich auf zwei Weisen geschehen. "Denken in Realisierung der Handlungsfähigkeit ist. . . stets das 'Denken' der 'doppelten Möglichkeit' als Möglichkeit der Daseinserfullung unter gegebenen Bedingungen und als dabei vorausgesetzte Möglichkeit der Verfugung über die Bedingungen der Daseinserfullung selbst" (GdP, S. 386). Die naheliegende Weise, Probleme und Einschränkungen von Handlungsfähigkeit zu interpretieren, ist, diese direkt dort, wo sie auftauchen, also in der unmittelbaren Lebenspraxis, zu verstehen und zu lösen versuchen. Diese sich im unmittelbaren Lebenskontext sich bewegende Denkweise, die die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz ausklammert, bezeichnet Holzkamp als Deuten. Deuten setzt an der unmittelbaren Erfahrung und dem sinnlich Wahrgenommenen an, ohne dies zu relativieren und auf ihre tatsächlichen Zusammenhänge hin zu durchdringen. "Im 'deutenden' Denken verliert durch dessen Verhaftetsein im 'Unmittelbaren' das Individuum quasi immer wieder die gnostische Distanz, von der aus der Stellenwert der sinnlichen Information und der darin involvierten Organisationsprinzipien des 'Sichtbaren' im gesamten Erkenntnisprozeß relativiert und eingeordnet werden könnte; das 'Denken' ist damit unfähig, den sinnlichen Evidenzen und in ihnen liegenden StrukturierungsprinARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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zipien quasi 'Widerstand zu leisteninsoweit kann das Deuten als 'anschauliches Denken' charakterisiert werden" (GdP, S. 389). Im deutenden Denken gelten die Bedeutungen, so wie ich sie unmittelbar erfahre, als im Prinzip das Ganze. Hier wird zwischen Erscheinung und Wesen, zwischen einer erscheinenden Oberfläche und an ihr nur ansatzweise zutagetretenden, wesentlichen Zusammenhängen nicht unterschieden. Im Deuten, betont Holzkamp, ist "die 'Erscheinung' . . . nicht nur eine 'Seite' des 'Wesens', die Erscheinung ist das 'Wesen'" (GdP, S. 389). Mit einer solchen Realitätsverengung im anschaulichen Denken auf die unmittelbar individuellen Bezüge können dann natürlich auch die Umgangsweisen mit Problemen und eventuelle Lösungsversuche einen relativ eingeschränkten Rahmen nicht übersteigen. Problematiken, die über den eigenen unmittelbaren Lebenshorizont hinausgehen, bleiben dem deutenden Denken strukturell verschlossen. Eine begreifende Wirklichkeitsaneignimg steht nun dem Deuten nicht gegenüber, sondern schließt dieses mit ein und übersteigt es. In ihr wird das individuelle Leben in seiner gesamtgesellschaftlichen Vermittlung gesehen, und so Probleme aus ihrem realen gesellschaftlichen Zusammenhang heraus zu verstehen versucht. Scheinhaftigkeiten werden so zwar im Begreifen nicht abgeschafft, können aber als Schein erkannt und als gesellschaftlich-historisch geworden und somit auch veränderbare Gegebenheiten aufgefaßt werden. "Ich schwimme", notiert Holzkamp, "in begreifendem Denken nicht, wie beim Deuten, in der 'Pseudokonkretheit' der bürgerlichen Alltagsrealität wie ein 'Fisch im Wasser', sondern erfasse sie im unmittelbaren Lebensvollzug" (GdP, S. 395) in ihrer Bestimmtheit durch die konkreten gesellschaftlich-historischen Lebensverhältnisse. In Anlehnung an Tomberg beschreibt Holzkamp daher den Schritt vom Deuten zum Begreifen als Übergang von "der Entfremdung des Bewußtseins zum 'Bewußtsein der Entfremdung'" (GdP, S. 395). Holzkamp versucht die Voraussetzungen, den "Möglichkeitsraum" menschlichen Denkens auszuloten. Deuten versteht er dabei als die naheliegende und nahegelegte Denkweise. Im Begreifen werden im Naheliegenden und Unmittelbaren verhaftete Verständnisweisen, in Erfassung der zweiten Möglichkeit der Verfugungserweiterung und in Annäherung an die inneren Zusammenhänge der objektiven Lebensrealität zu durchdringen versucht. Dabei müssen die erfahrenen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Probleme als im Handeln zumindest perspektivisch überwindbar erscheinen, nur dann werde ich mich in der Wirklichkeitsaneignung in Richtung einer begreifenden Denkweise bemühen. "Nur die als realisierbar erfahrene Möglichkeit eines besseren Lebens kann... die Qualität meiner gegenwärtigen Befindlichkeit im Sinne der Bereitschaft zu Kampf und Risiko verändern und mir darin die Ansätze begreifender Wirklichkeitserkenntnis eröffnen" (GdP, S. 399). Erkenntnis ist also auch eine Frage der praktischen Aussicht auf ein besseres Leben, Klugheit wird so auch zu einer Frage des Mutes. Holzkamp unterscheidet also zwei alternative Richtungen im Denken. Alternativen, die nicht feste Eigenschaften sind, sondern die sich dem Individuum in problematischen Situationen immer wieder aufs neue stellen. Die Begriffe Deuten und Begreifen wären zur Kategorisierung von Verhaltensweisen anderer Menschen untauglich. Es sind, wie subjektwissenschaftliche Begriffe generell, analytische Begriffe. Sie "haben", betont Holzkamp, "ausschließlich die Funktion, 4in der Hand' der Betroffenen selbst diesen dabei zu helfen, ihre eigene, also jeweils 'meine eigene' Situation besser durchdringen . . . zu können" (GdP, S. 402). Aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet ist also die Wirklichkeitsaneignung schlicht eine notwendige Aufgabe. Menschliche Geschichte, der gesellschaftlich-historische Prozeß ist ein gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsprozeß. Was produziert wird, muß auch reproduziert werden. Wenn nicht der geschaffenen Welt entsprechende Fertigkeiten und Fähigkeiten entwickelt werden, wenn die vergegenständlichten Dinge nicht angemessen angeeignet und im wörtlichen Sinne entfremdet werden, dann kann daraus nur gesellschaftliche Desintegration, Zerfall und Zerstörung resultieren. Mangelnde Aneignung birgt die Gefahr der, nun aber tatsächlichen Verselbständigung des Geschaffenen. Menschen werden so nicht zu "Trägern" und Prägern des gesellschaftlichen Prozesses, eher zu Geprägten. Wenn Dimensionen der Vergegenständlichungen — etwa Technik — im Transzendenten verbleiben, also gesellschaftlich — warum auch immer — nicht angeeignet werden (oder nicht mehr angeeignet werden können), dann folgt daraus unweigerlich eine (wie der Soziologe Stephan Breuer die heutigen Lebensverhältnisse bezeichnet) "Gesellschaft des Verschwindens". ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Eindeutig auch, daß das Individuum, menschliche Subjektivität, sich durch die gesellschaftliche Welt und die geschaffenen Dinge — im Rahmen der gesellschaftlichen Natur — verändert Als gesellschaftliche Wesen sind Menschen historische, grundsätzlich sich verändernde Wesen. Wie aber die Wirklichkeits-Aneignungsweisen und Veränderungen aussehen, was für Konkretionen subjektiver Handlungsfähigkeit sich ausbilden, das kann auf der historischempirischen, kategorialen Ebene nicht beantwortet werden. Dazu muß die Betrachtung unten, beim konkreten Einzelfall ansetzen, dazu müssen die konkreten individuellen Lebensweisen analysiert werden. Wie nun aus kritisch-psychologischer Perspektive das Rahmenkonzept eines subjektwissenschaftlich aktual-empirischen Untersuchungsweges der Veränderungen menschlicher Subjektivität durch die Dinge aussehen würde, das soll schließlich noch ausgeführt werden. PSYCHOLOGIE VOM STANDPUNKT DES SUBJEKTS Auf der Grundlage der historisch-empirischen Analysen, in denen das Psychische in seinem kategorialen Zusammenhang rekonstruiert und so ein allgemeiner Begriff menschlicher Subjektivität entfaltet wurde, entwickelt Holzkamp ein aktual-empirisches Programm zur konkreten Erforschung menschlicher Subjektivität. Alleine auf subjektwissenschaftlichem Wege und im Begründungsdiskurs könne die Psychologie ihren Gegenstand angemessen erschließen. Nicht von oben nach unten, nicht vom "view of the top" über die Betroffenen hinweg, sondern von unten nach oben wird hier analysiert, ausgehend von der unmittelbaren Erfahrung wird diese gemeinsam in ihren Zusammenhängen zu durchdringen versucht. Üblicherweise wird in den Wissenschaften eine Außenperspektive auf den jeweiligen Forschungsgegenstand eingenommen, man forscht über die Dinge, was, wenn es etwa um materielle Erscheinungen oder um nicht-menschliche Lebewesen geht, auch durchaus berechtigt sein mag. In der psychologischen Analyse aber, erkennt Holzkamp, wäre die Einnahme einer Außenperspektive unangemessen, weil hier Forscher und Forschungsgegenstand kategorial nicht mehr voneinander zu trennen sind, beides sind Wesen der gleichen Art, eben Subjekte. Von der Außenperspektive muß also in psychologischer Forschung in eine Innenperspektive gewechselt und ein (verallgemeinerter) Standpunkt des Subjekts eingenommen werden. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"Bei den Lebewesen, mit denen wir es individualwissenschaftlich zu tun haben, (handelt es sich) um andere Subjekte, also grundsätzlich um 'Unsereinen'. Der Forschende ist hier, indem er 'subjektive' Gegebenheiten in verallgemeinerter Form wissenschaftlich erhellen will, notwendigerweise als 'auch ein' Subjekt von seinen eigenen Verfahren und Resultaten prinzipiell mitbetroffen. . . . Individualwissenschaft ist so in einem dezidierten Sinne 'Subjektwissenschaft'. Zwar kann man (wie in der traditionellen Psychologie üblich) aus methodologischen oder sonstigen Gründen von der Subjekthaftigkeit der anderen Individuen, damit der Intersubjektivität der Beziehungen zwischen Forscher und Forschungsthema o. ä. abstrahieren; damit hat man aber die menschliche Spezifik des Psychischen notwendig ausgeklammert und muß so seinen Forschungsgegenstand verfehlen" (GdP, S. 239). Aufgrund der Besonderheit des psychologischen Forschungsgegenstandes, stellt Holzkamp fest, wird die Einnahme einer Innenperspektive und des Standpunkts des Subjekts in psychologischer Forschung erforderlich. Subjekt-sein bedeutet ja grundsätzlich Intentionalitätszentrum-sein. Je ich bin Ursprung des Erkennens, nehme immer eine bestimmte Perspektive ein, habe stets eine subjektive Ansicht auf die Welt und auf mich selbst. Diese Perspektive, betont Holzkamp, hat intentionalen Charakter. Das Subjekt bezieht sich auf sich und seine Welt immer mit bestimmten Absichten, Plänen und Vorsätzen, und es erfährt in den zwischenmenschlichen Beziehungen andere ebenfalls als einen solchen Ort der Iritentionalität. Diese intentionale Bezogenheit des Subjekts auf sich und seine Welt ist nicht nur kognitiver oder mentaler, sondern auch handelnder Art. Handelnd können die als Handlungsmöglichkeiten gegebenen Bedeutungen eben realisiert oder aber auch verändert und umgestaltet werden. Die Beziehung des Subjekts zu sich und seiner Welt ist nun, wie dargestellt, über die subjektiven Handlungsgründe vermittelt. Menschen stehen nicht in einem unmittelbaren, auch nicht in keinem, sondern in einem über Handlungsgründe vermittelten Verhältnis zur Welt. Dieser spezifisch menschlichen Beziehimg muß nun, stellt Holzkamp fest, auch die Sprache, mit der menschliche Subjektivität wissenschaftlich erforscht wird, gerecht werden. Daher fordert er, entsprechend dem BezieARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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hungsmodus, die Diskursform der subjektiven Handlungsgründe — den Begründungsdiskurs — als die psychologische Wissenschaftssprache. Wir "müssen", betont Holzkamp, "den Begründungsdiskurs als universelle Grundlage und Medium psychologischer Wissenschaftssprache anerkennen, also wissenschaftliche Theorien in einer Weise bilden und auf Empirie beziehen, durch welche die Ebene des Subjektstandpunktes im Medium subjektiver Handlungsbegründungen nicht verlassen wird" (1991, S. 12). Da nun "Gründe", anders als "Ursachen" oder "Bedingungen", grundsätzlich "je meine Gründe" sind, sie stets in der "ersten Person" stehen, und so alleine aus einer Innenperspektive erschlossen werden können, wird fur eine Psychologie, die im Medium des Begründungsdiskurses analysiert, die Einnahme des Subjektstandpunktes notwendig und zwingend (vgl. L, 1993, S. 21). Nochmals, aus etwas anderer Perspektive formuliert: Aufgrund der Besonderheit der menschlichen Beziehung zur Welt, aufgrund des Möglichkeitscharakters der Bedeutungszusammenhänge, sind die Erscheinungsformen des Psychischen unbestimmt und vieldeutig. Menschliche Subjektivität ist daher alleine mit Rückgriff auf die objektiven Bedeutungsstrukturen und Handlungszusammenhänge nicht aufzuklären. Daher stellt Holzkamp dem Bedingtheits-Diskurs der traditionellen Psychologie, in dem mit dem Reiz-Reaktions-Modell von einer unmittelbaren Beziehimg zwischen Mensch und Welt ausgegangen wird (und anderen deterministischen Diskursen), den Begründungs-Diskurs als die alleine gegenstandsangemessene psychologische Wissenschaftssprache gegenüber. Andrerseits hebt er sich mit diesem Konzept eines "begründeten" Zusammenhanges zwischen Subjekt und Welt auch von subjektivistischen Diskursen ab, in denen menschliche Erfahrung eben nicht in konkreten Lebensverhältnissen "begründet", sondern als rein innerliches oder subjektives Erleben konstruiert wird (vgl. GdP, Kap. 9; Holzkamp, 1986a, 1994a, 1996). Gegenstand einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts können also nicht andere Subjekte sein, über die geforscht wird. Da der Forscher grundsätzlich auch Subjekt ist, fällt die Perspektive des Subjekts kategorial mit der des Forschers zusammen und so können "andere Subjekte grundsätzlich nur als Mitforscher, nicht aber als Forschungsgegenstand in Erscheinimg treten. Gegenstand der Psychologie ist. . . vielmehr", betont Holzkamp, *die Welt, wie jeweils ich sie ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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erfahre" (1991, S. 12, Hervorhebung v. Verf.). Mit dieser Gegenstandsbestimmung aktual-empirischer Forschung knüpft Holzkamp ausdrücklich an das Konzept von Wilhelm Wundt an, der, in den Anfängen der akademischen Psychologie, die unmittelbare Erfahrung als den genuinen Gegenstand der Psychologie betrachtete (etwa 1991, S. 13 oder 1994b, S. 381). Im subjektwissenschaftlichen Forschungsweg werden dann die Erfahrungen der Welt, wie sie je mir von meinem Standpunkt und meiner Perspektive aus gegeben sind, analysiert. Ausgangspunkt des Forschungsprozesses ist dabei grundsätzlich ein Dilemma, problematische Lebenserfahrungen die drängen, aber aus eigener Kraft nicht überwindbar erscheinen. Diese Dilemmata und Problematiken gilt es dann in der Analyse in ihren inneren Zusammenhängen zu durchdringen, um so unmittelbare Erfahrungsweisen und Problemsichten zu überschreiten und um, in der Auslotung der jeweiligen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten, praktische Lösungswege finden zu können. Im subjektwissenschaftlichen Paradigma geht es, wie Holzkamp immer wieder betont, "nicht darum, die Menschen zum Problem zu machen, sondern die Probleme der Menschen aufzugreifen" (1990, S. 9). Der Forschungsprozeß hat dann prinzipiell die Aufgabe je meine Welt- und Selbsterfahrung zu klären und zu verallgemeinern mit dem Ziel der Verbesserung je meines Befindens und der Erweiterung der Verfugung über je meine Lebenssituation. In Anknüpfung an die psychoanalytische Erkenntnisweise bezeichnet Holzkamp daher die Bewegungsform subjektwissenschaftlicher Forschung "als Weg vom 'Unbewußten' zu mehr 'Bewußtsein' bei Forschern und Betroffenen" (1988, S. 314). Unüberhörbar klingt in subjektwissenschaftlicher Psychologie die leise Stimme praktischer Vernunft. An Holzkamps Ansatz überzeugt, wie hier in historischem Herangehen für die komplexen Zusammenhänge von Mensch und Welt eine psychologische Grundbegrifllichkeit entwickelt wird. Dadurch kann eine bloße Gegenüberstellung von Mensch, Natur und Gesellschaft in einer Sichtweise überwunden werden, die den Blick auf die inneren Zusammenhänge dieser Verhältnisse eröffnet. Da er dabei auch eingehend die Entstehimg der menschlichen Herstellungsfahigkeit und das Verhältnis der Menschen zu den von ihnen geschaffenen Werkzeugen und Mitteln analysiert, schreibt er Wesentliches über die ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Entstehung und Bedeutung der Technik und die Beziehungen der Menschen zu ihr. Mit der Entfaltung der Mittelherstellung wird der Mensch erst zum Menschen. Sie ist einerseits die Basis der Entstehung des gesellschaftlich-historischen Produktions- und Reproduktionsprozesses, wodurch andrerseits die Ausdifferenzierung des Psychischen in seiner menschlichen Besonderheit letztlich erst möglich wurde. In Holzkamps Analysen steht die Welt der Dinge und die der Menschen nicht gegensätzlich gegenüber. Es sind menschliche Erfahrungen, Bedürfnisse und Erkenntnisse, die in den Mitteln vergegenständlicht sind, und im Gebrauch werden diese Brauchbarkeiten der Dinge, ihre verallgemeinerten Zwecke angeeignet. Aufgrund dieser in ihnen verkörperten Erfahrungen haben die Mittel grundsätzlich eine gesellschaftliche Qualität, sie sind stets gesellschaftliche Dinge. Aufgrund der gesellschaftlichen Vermitteltheit des menschlichen Lebens kann das individuelle Subjekt nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen, also auch der hergestellten Produkte, leben, und in seinem individuellen Handeln realisiert es die in den jeweiligen Dingen vergegenständlichte Bedeutung. So arbeitet Holzkamp in seinen Analysen den engen Zusammenhang von Subjekt und Mittel heraus, er zeigt, daß in der Betrachtung des Menschen die Dinge, so wie sie wirklich sind, nicht ausgeblendet werden können: Subjekt und Mittel sind untrennbar miteinander verwoben. Mit der Herausarbeitung der Besonderheit des Menschen als Subjekt und der hergestellten Dinge als Mittel zum Zweck schärft Holzkamp andrerseits aber auch die Trennlinie zwischen beiden, er begründet in seinen Studien präzise die Differenz zwischen Subjekt und Objekt. Menschen sind unhintergehbar Subjekt, Intentionalitätszentrum, und als solche geworden, Dinge sind Objekte und werden durch Arbeit gemacht Zwar können auch Menschen "bearbeitet" werden, aber eben nicht "erarbeitet"; es sind keine geschaffenen und schaffbare, keine psychisch aber auch keine physisch letztlich bedingte oder bedingbare Wesen. Menschen also sind von den Mitteln zu trennen, diese sind von Menschen geschaffene und daher grundsätzlich auch veränderbare Dinge. So fundiert Holzkamp mit seinen umfangreichen Analysen der menschlichen Subjektivität, der historischen Rekonstruktion der Zweck-Mittel-Umkehrung, der Entstehung menschlicher Herstellungsfahigkeit und der Bedeutung des Hergestellten als Mittel zum Zweck, die instrumentale Auffassung der Technik. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Die Mittel selbst stellen aus dieser Sicht kein Problem dar. Im Gegenteil, es sind nützliche Handlungsmöglichkeiten. Dinge, die die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten erweitern und das Leben erleichtern. "Durch den Werkzeuggebrauch", erklärt Holzkamp, wird "die Welt des Menschen in immer weiteren Bereichen zur vom Menschen gemäß seinen Bedürfnissen und Interessen umgestalteten Welt" (SE, S. 125). Die Zwecke der Mittel verkörpern einen Nutzen fur die Menschen, nur weil durch die Mittel Bedrohungen der Menschen abgewendet oder verringert werden konnten, konnte die Fähigkeit der Mittelherstellung im evolutionären Prozeß sich herausbilden. "Die verallgemeinerten Zwecke" erklärt Holzkamp, "denen die hergestellten Werkzeuge dienen, (sind) stets und von vornherein die Zwecke der kollektiven Vorsorge . . . zur Verringerung der Gefahr künftiger Bedrohtheits- oder Mangelzustände" (GdP, S. 174). Holzkamps historisch-empirische Analysen sind nun allerdings in der Entstehungszeit des Menschen angesiedelt, sie setzen an urgesellschaftlichen Grundformen und an Lebensweisen an, in denen sich noch keine komplexen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse ausgebildet haben. So stellt sich die Frage, ob diese Auffassung der hergestellten Produkte als Mittel zum Zweck, als produktive Kräfte, die zur Vorsorge und zur Erleichterung des Lebens dienen, auf unsere Zeit verallgemeinert und übertragen werden kann, ob der Mittelbegriff zum Verständnis heutiger Technik ausreichend ist, oder ob nicht vielmehr für eine angemessene Erkenntnis der Bedeutung heutiger Apparate, Maschinen und global vernetzter Maschinensysteme die Auffassung der Technik weiter präzisiert werden müßte. Marx greift im "Kapital" die Frage nach der Bedeutung der hergestellten Dinge auf und beschreibt die mit der industriellen Revolution einhergehende Differenzierung und Verwandlung der Mittel. Er zeigt, wie aus dem Werkzeug die Maschine sich herausbildet, beleuchtet deren Eigenart und untersucht, wie sich durch sie die Arbeits- und Lebensstrukturen der Arbeitenden verändern. Marx erkennt dabei einen wesentlichen Unterschied zwischen Werkzeug und Maschine. Werkzeuge sind Instrumente, die der Benutzer im Griff hat und die seine Handlungsmöglichkeiten erweitern. Maschinen demgegenüber, betont er, sind "gewaltige Mittel" (1983a, S. 425). Sie geben den Menschen, die mit ihnen arbeiten, derart ihren eigenen Rhythmus vor, daß nicht mehr eindeutig unterscheidbar ist, ob der Mensch die Maschine oder die Maschine den Menschen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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benutzt. Plastisch beschreibt Marx, wie im Maschinenbetrieb die Maschine ihre damals entwickeltste Gestalt findet. "An die Stelle der einzelnen Maschine tritt hier ein mechanisches Ungeheuer, dessen Leib ganze Fabrikgebäude füllt und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, imfieberhafttollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht" (1983a, S. 402). Mit der Differenzierung der Werkzeuge und ihrer Verwandlung in Maschinen geht, erkennt Marx, auch eine Veränderung der Beziehungen der Menschen zu den neuen Geräten einher und er beobachtet einen Prozeß der Verkehrung von Subjekt und Objekt. "Der Automat selbst (ist) das Subjekt" (1983a, S. 442) und die Arbeiter sind dieser zentralen Bewegungskraft untergeordnet. "In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat" (1983a, S. 445). Die Hauptwurzel dieser Vertauschung lokalisiert Marx in der kapitalistischen Produktionsweise. "Aller kapitalistischen Produktion", erklärt er, "ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingungen, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Produktionsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt" (1983a, S. 446). Marx beschreibt die Konsequenzen der Verkehrung von Subjekt und Automat vor allem als eine Verknechtung des Menschen durch die Maschine, als eine Beschneidimg der Arbeitenden in ihrer individuellen Lebendigkeit, Freiheit und Selbständigkeit. Aber er sieht in ihr auch eine Wurzel der Verwüstung der Welt und der Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen: "Die kapitalistische Produktion entwickelt . . . die Technik. . ., indem sie zugleich die Springquelle alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter" (1983a, S. 529). Einerseits sieht Marx das Problem der Eigenmächtigkeit der Maschine, die selbst zum Subjekt wird und die Arbeitenden unterordnet und diszipliniert, andrerseits versteht er die Werkzeuge, aber auch die Maschinen als "Mittel" und sieht in diesen selbst nicht wirklich ein Problem, sondern alleine in der Form der gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge, in denen sie verwendet werden. Besonders deutlich wird diese Sichtweise etwa in Marxens Haltung gegenüber ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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dem Maschinensturm, wenn er diesen frühen massiven Widerstand gegen die Automaten selbst, der sich ab dem 17. Jahrhundert in ausgedehnten Arbeiterprotesten bis hin zu massenhaften Zerstörungen von Maschinen ausdrückte, als eine zu kurz greifende Problemsicht deutete. "Es bedarf Zeit und Erfahrung", erklärt er, "bevor der Arbeiter die Maschinerie von ihrer kapitalistischen Anwendung unterscheiden und daher seine Angriffe vom materiellen Produktionsmittel selbst auf dessen gesellschaftliche Exploitationsform übertragen lernt" (1983a, S. 452). Diese Sicht, daß es alleine auf die Anwendung der Produkte ankäme und auf die individuellen und gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge, in die die Apparate und Maschinen eingebunden werden, ist auch gegenwärtig noch in der sozialwissenschaftlichen Technikdiskussion verbreitet. "Ob die moderne Technik", schreibt Adorno, "zum Heil oder Unheil gereicht, das liegt... an dem Gebrauch, den die Gesellschaft von ihr macht" (1987, S. 29). Andrerseits aber entstanden in den letzten Jahren einige Studien, die in Anknüpfung an Marx die Widersprüchlichkeit der Technik selbst untersuchen (etwa Breuer, 1992; Haraway, 1995a, 1995b; Scarry, 1992; Ullrich, 1988; Winner, 1989, 1992), wobei ich auf einen dieser Zugänge, die Analysen von Günther Anders, gleich ausfuhrlicher eingehen werde. Zuerst nochmals zurück zu Holzkamps Grundbegriffen. Genauer betrachtet und gegen den Strich gelesen, zeigen diese, daß die hergestellten Dinge nicht umstandslos als unproblematische Mittel kategorisiert werden können. Mehr noch: Holzkamp erarbeitet in seiner historischen Analyse mit seiner Einsicht in die Gesellschafilichkeit der Mittel und mit dem Begriff der relationalen Bedeutungsstrukturen Grundlagen fur einen Blick auf die Problematik und Widersprüchlichkeit der hergestellten Dinge selbst. Holzkamp stellt fest, daß auf menschlichem Niveau die hergestellten Dinge gesellschaftliche Dinge sind. Zum einen, weil sie in Form gesellschaftlicher Arbeit geschaffen werden und einen verallgemeinerten Zweck verkörpern. Zum anderen aber auch, weil die Bedeutung der einzelnen Werkzeuge und Geräte im Zusammenhang mit den übergeordneten gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen und Ziel-Mittel-Konstellationen stehen. Diese gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge ermöglichten in der Entstehungsphase des Menschen eine neue Form der Absicherung der Gemeinschaft und erwiesen sich als derart vorteilhaft, daß sich diese besondere menschARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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lich-gesellschaftliche Form der Lebenserhaltung in der Evolution herausbilden konnte. Wenn man nun, wie Holzkamp, davon ausgeht, daß im historischen Prozeß die gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge und sozialen Bedeutungsstrukturen einen widersprüchlichen Charakter annehmen, daß sie Bereicherungen, aber auch Behinderung und Einschränkungen des menschlichen Handelns darstellen können, dann muß diese Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse natürlich auch in den einzelnen Produkten ihren Ausdruck finden. Und zwar nicht nur in der Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird, vielmehr in den Produkten selbst. Ein einfaches Beispiel dafür aus der heutigen Zeit wäre die von Langdon Winner untersuchte Eigenart bestimmter Straßenbrücken in New York. Winner fragt, warum diese so seltsam tiefhängend konstruiert wurden und zeigt, daß es sich dabei um eine subtile Form vergegenständlichter Ausgrenzung und Diskriminierung handelt. Straßenbrücken wurden eine Zeitlang um bestimmte Stadtgebiete herum derart tiefhängend gebaut, daß Autos, nicht aber Busse hindurchfahren konnten. Schlicht um die damals auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesenen schwarzen Bevölkerungsgruppen von den Park- und Erholungsgebieten am Rande der Stadt fernzuhalten (Winner, 1989, S. 22 f.). Viele der heutigen Produkte verkörpern eine Zwiespältigkeit und Mehrdeutigkeit, in ihnen vereinen sich nützliche, verfiigungserweiternde, aber auch einschränkende, disziplinierende "Qualitäten". In ihnen können, mehr oder weniger verdeckt, geheime und gemeine Interessen und Intentionen vergegenständlicht sein, mit denen das Individuum im Umgang mit diesen Produkten unausweichlich konfrontiert ist. Langdon Winner spricht daher von einem inhärent politischen Charakter technischer Produkte. Mit seiner gesellschaftlichen Bestimmung der Mittelbedeutungen legt Holzkamp (ohne es näher auszufuhren) die Grundlage zur Einsicht in die Widersprüchlichkeit und in die mögliche politische Bedeutung der hergestellten Produkte selbst. In seinen Analysen der Entstehungszeit menschlicher Kultur und Gesellschaft gibt Holzkamp aber nicht nur ein Grundverständnis der sozialen Bestimmimg der Dinge, sondern auch der "dinglichen" Bestimmtheit des Sozialen. Von Anfang an, bemerkt Holzkamp, ist die Produktion nicht völlig zu Ende durchdacht, vielmehr unausweichlich mit Zufalligem und Ungeplantem, mit Unsicherheiten und Unbestimmtheiten befangen. Ein wesentlicher Aspekt menschlichen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Herstellens besteht darin, Kausalzusammenhänge zu schaffen und in die Welt zu setzen. Holzkamp spricht von "Aktivitäts-UrsacheWirkungs-Zusammenhängen" (GdP, S. 287), die Menschen denken und schaffen können, die aber nie völlig zu Ende gedacht, sondern sich immer auch durch eine gewisse Offenheit und Zufälligkeit auszeichnen. Ein Beispiel dafür wäre der gesellschaftliche Handlungszusammenhang "Feldbau", in dem, mit dem Säen im Frühjahr unter Verwendung des Saatgutes eine Ursache gesetzt wird, welche das Wachsen des Getreides und, wenn alles gut geht, die spätere Ernte bewirkt. Dabei können nun diese Wirkungen (das Wachsen des Getreides usw.) sich wiederum als Ursachen herausstellen, die eventuell unvorgesehene Wirkungen, etwa Mangelerscheinungen des Bodens, hervorbringen. Menschliches Herstellen zeichnet sich also von Anfang an dadurch aus, daß zur Schaffung geeigneter Lebensbedingungen, durch eingreifend-verändernde Aneignung der äußeren Natur, Ursachen gesetzt und Wirkungen hervorgebracht werden, die dann ihrerseits als Ursachen weitere Wirkungen hervorbringen, die dann wiederum als Ursachen Wirkungen nach sich ziehen können usw. Der Verlauf derartiger Ursache-Wirkungs-Ketten hat unausweichlich etwas unbestimmtes und zufälliges, nicht aber, betont Holzkamp, etwas unausweichliches, denn bei Bedarf kann in den Zusammenhang eingegriffen werden. Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind die Voraussetzung für komplexere Produktionsweisen, jenseits des rein handwerklichen Machens. Durch sie wird Kausalität nicht nur eine reine Naturtatsache, sondern ein menschliches Produkt, und so enthalten menschliche Sozialstrukturen die verschiedensten Formen von Kausalzusammenhängen, die Holzkamp als Kausalbedeutungen bzw. relationale Bedeutungsstrukturen (1996, S. 71) bezeichnet. Da nun diese "Bedingtheitsaussagen" der Dinge von Menschen erzeugt und daher auch in sie eingegriffen und sie verändert werden können — problematische Wirkungen etwa bei Bedarf beeinflußt werden können — stellen diese relationalen Bedeutungen, trotz der in ihnen enthaltenen Kausalität, keine Bedingungen dar, sondern Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten, die als Prämissen in subjektive Handlungszusammenhänge eingehen können. Nim erkennt Holzkamp aber auch, daß es in der heutigen Welt der Technik hervorgebrachte Kausalzusammenhänge und Bedingungen geben kann, die nicht einfach als Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten umgesetzt werden können, sondern denen gegenüber man einfach ausgeliefert ist. Die Folgen von geschaffenen KausalzusamARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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menhängen — etwa das Ozonloch als Folge technischer Eingriffe in Naturprozesse — können in Bereiche hineinreichen, in denen problematische Wirkungen nicht mehr einfach verändert werden können, die sich möglicher Einflußnahme weitgehend entziehen und welche sich so in einem Grenzbereich menschlicher Handlungsfähigkeit befinden (1996, S. 72). Kritische Psychologie erweitert den wissenschaftlich-psychologischen Blick um die Dimension der systematischen Reflektion und Diskussion der psychologischen Grundbegriffe und sie kann mit ihrem historisch-empirischen Herangehen eine präzis begründete psychologische Rahmentheorie entfalten. Darin werden wichtige Einsichten über menschliche Subjektivität und die Ursprünge menschlicher Werkzeug- und Mittelherstellung entwickelt und, in einem differenzierten Bedeutungskonzept, die Grundlagen fur einen psychologischen Begriff der Technik gelegt. Die historische Betrachtung der Mittel endet allerdings in der Zeit der Entstehimg des gesellschaftlich-historischen Prozesses, und so kann hier zwar ein Rahmenkonzept einer "welthaltigen" Psychologie, aber kein konkretes Verständnis der heutigen Welt der Technik entwickelt werden. Das Zentrum von Günther Anders' Philosophie der Diskrepanz bilden kritische Analysen der technologischen Strukturen der heutigen Zeit. Anders ist der Kluft zwischen menschlicher Herstellungs- und Vorstellungsfähigkeit auf der Spur, und beleuchtet dabei nicht die Widersprüche der gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge, aus denen die Maschinen und Apparate hervorgehen, sondern die Widersprüche der Technik selbst. Er thematisiert die Grenzbereiche menschlicher Handlungsfähigkeit und versucht die soziale Bedeutung der technologischen Bedingungen bis zur letzten Konsequenz auszuleuchten und die Veränderungen menschlicher Subjektivität in einem Weltzustand Technik zur Sprache zu bringen.
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Wenn Marx, bezogen auf die Fabrik, vom Automat selbst als dem Subjekt spricht, welches den Arbeiter anwendet, dann geht Anders einen Schritt weiter und erklärt, die Technik sei zum Subjekt der Geschichte geworden, mit der wir Menschen nur noch mitgeschichtlich seien. Die Besonderheit moderner Technik bestehe darin, daß sie nicht mehr bloß "Mittel" ist und nicht mehr nur im "Dienst" für anderes steht, sondern selbst einen eigenen Herrschaftscharakter entfaltet. Anders postuliert eine Verselbständigung der Technik, einen Verfugungsverlust, und in diesem lokalisiert er das Grunddilemma unserer Zeit. Darauf reagiert er mit einer Herangehensweise, die als eine Umkehrung subjektwissenschaftlichen Denkens erscheinen mag: Nicht vom Mensch zum Ding, vielmehr umgekehrt, vom Ding zum Mensch geht Anders in seinen Analysen. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchungen sind konkrete empirische Phänomene — "Gelegenheiten" wie er sie nennt —, Aspekte menschlicher Erfahrung in technologischer Praxis. Aber er geht nicht direkt auf individuelle Erfahrungen und subjektive Handlungspraktiken ein, die er dann aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung heraus zu analysieren versucht, um so im Unmittelbaren verhaftete Erlebnisund Handlungsweisen zu erhellen und mögliche Lösungswege zu entwickeln. Anders fragt aus umgekehrter Perspektive, eingehend auf Dinge, nach deren Implikationen und Konsequenzen für Menschen. Nicht wie wir uns der heutigen Produkte bedienen, was wir mit ihnen "machen", untersucht er, vielmehr umgekehrt, was die Produkte aus uns Menschen machen und machen werden. Dabei geht Anders nicht zurück zum Ursprung und analysiert die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, die Gewordenheit des Gegenstandes, er entwirft keine historische Rekonstruktion, sondern umgekehrt: eine prognostische Interpretation. Nicht "subjektpsychologisch", so scheint es, ist das methodische Konzept, vielmehr andersrum, "dingpsychologisch", und da heutige Dinge Dinge der Technik sind: "technikpsychologisch". In seiner ersten Untersuchung nach Hiroshima, in der er die durch die Atombombe veränderte Situation reflektiert, formuliert Anders den Schlüsselsatz zu diesem Programm: ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"Wie selbstverständlich es . . . auch sein mag, mit Personen so umzugehen, als wären sie 'Sachen' — auf 'Sachen' so einzugehen, als wären sie 'Personen' . . . gerade das aber ist das Gebot der Stunde, weil die ausschlaggebenden 'Sachen', diejenigen, die unsere heutige Welt konstituieren und über deren Schicksal entscheiden, gar keine 'Sachen' sind, sondern Ding-gewordene Maximen und geronnene Handlungsmodi" (Ai, S. 298). Diese Forderung zur Umkehrung von Person und Sache, von Subjekt und Technik, bestimmt von da an die Denkperspektive in Anders' Theorie. Schillernd knüpft dieser in der Formulierung an die Psychologie seines Vaters William Stern und dessen programmatisches Werk "Person und Sache" an. Während Stern das Konzept einer "Subjektpsychologie" (1900, S. 431) begründet (vgl. Staeuble, 1985), von einem der Fülle psychischer Inhalte übergeordneten, handelnden, "thätigen" Subjekt ausgeht und gegen eine impersonalistische Psychologie, "die Sachen an die Stelle der Personen" (Stern, 1923, S. 64) setzt, den kritischen Personalismus entwickelt, ergründet Anders die Maximen der Dinge, die geronnenen Handlungsmodi der Sachen, die "tätige" Technik. "Die 'geheimen Regungen' und . . . 'Prinzipien' der Apparate", die müssen wir uns "so klar machen, als wären sie unsere" (Anders, 1982a, S. 225). TECHNIK - DAS SUBJEKT DER GESCHICHTE Anders Theorie ist eine Technikkritik. Analog zu Gesellschaftskritik bedeutet Technikkritik natürlich nicht Anti-Technik. Im Gegenteil, Anders weiß um die Notwendigkeit technischer Produkte. "An sich", betont er, "ist unsere Fähigkeit, in größtem Maßstab Produkte zu erzeugen, Machinen zu bauen, uns von diesen bedienen zu lassen, Installationen zu errichten, Verwaltungen zu'Organisieren und Organisationen zu koordinieren usf. nichts Monströses, sondern etwas Großartiges" (1988a, S. 24). Üblicherweise wird Technik instrumental gedeutet. Damit wird sie einerseits, wie etwa von Holzkamp ausfuhrlich begründet, als Mittel zum Zweck aufgefaßt. Andrerseits wird Technik dabei auch als ein Tim des Menschen verstanden, wie etwa in dem Begriff "Therapietechnik" deutlich wird. Diese zwei Kennzeichen der Technik stehen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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zueinander wie zwei Seiten einer Medaille. Denn Zwecke feststellen und Mittel dafür schaffen und gebrauchen ist ein menschliches Tun. "Zu dem, was die Technik ist", erläutert Martin Heidegger, "gehört das Verfertigen und Benützen von Zeug, Gerät und Maschinen, gehört dieses Verfertigte und Benützte selbst, gehören die Bedürfnisse und Zwecke, denen sie dienen. Das ganze dieser Einrichtungen ist die Technik" (1988, S. 6). Diese verbreitete Deutung der Technik, wonach sie Mittel ist, also auch ein menschliches Tun, wird üblicherweise als die instrumentale Bestimmung der Technik bezeichnet. Mit "Technik" ist also nicht nur das Gemachte angesprochen, also etwa eine Maschine (als Mittel zum verallgemeinerten Zwecke), sondern auch, daß mit dem Gemachten etwas gemacht werden kann, es selbst als Mittel für bestimmte Zwecke eingesetzt werden kann. Als problematisch gelten dann, wie bereits im vergangenen Kapitel gezeigt, nicht die Mittel selbst, sondern höchstens, was mit ihnen gemacht wird, fur welche Zwecke sie eingesetzt werden. Die automatischen Webstühle versteht Marx, um diesen Gedanken an einem weiteren Beispiel zu verdeutlichen, zuerst einmal als Mittel zum verallgemeinerten Zwecke des Webens. Diese Maschinen können nun wiederum für verschiedene Zwecke verwendet werden, etwa (was Marx ausfuhrlich beschreibt) zu einer radikaleren Weise der Ausbeutung der Arbeitenden, oder aber auch zu einer Befreiung der Arbeitenden von stumpfsinniger, schwerer Arbeit, zu einer Erleichterung und Verbesserung menschlichen Lebens. Entscheidend fur Marx ist die Frage wie produziert wird, also die nach den konkreten Produktionsverhältnissen, weil er von da aus den Verwendungszusammenhang der Technik bestimmt sieht. Anders geht nun einen Schritt weiter. Zwar negiert er nicht grundsätzlich die Angemessenheit der instrumentalen Technikdeutung; ähnlich wie Heidegger, der diese zwar als richtig, aber eben nicht als "wahr" ansieht (1988, S. 7), sieht Anders sie als "legitim . . . nur bei Einzelhandlungen und isolierten maschinellen Prozeduren" (Ai, S. 100). Zur adäquaten Erfassung allerdings der wesentlichen Aspekte der heutigen technischen Wirklichkeit seien die Kategorien "Mittel" und "Zweck" ungeeignet. Anders problematisiert daher vehement die instrumentale Technikdeutung. "Alle Dinge unterschiedslos als 'MitteP zu klassifizieren,. . . gerade darin [besteht] unsere Unmoralität" (Ai, S. 298). Denn diese Denkweise vernebelt den Blick und verhindert, durch die Unterstellung einer freien Verfügung über die Geräte und Maschinen, die Frage nach den Produkten selbst und damit ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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die Analyse und Aufklärung der Bedeutung der Technik. Nicht wer produziert, auch nicht mehr wie, sondern in dem, was produziert wird, sieht Anders die entscheidende Frage.
Verkehrung von Mittel und Zweck Das wesentliche Kennzeichen eines "Mittels" bestehe darin, erklärt Anders, daß es etwas Sekundäres sei. "Zum Begriff des 'Mittels' gehörtes, daß es, seinen Zweck 'vermittelnd' in diesem aufgehe; daß es in diesem ende wie der Weg im Ziel" (Ai, S. 249). Von seinem Gebrauchszweck aus bekommt das Mittel seine Bedeutung. Das Charakteristische der Geräte heute sei nun, daß sie nicht mehr als Einzelne vorkommen. Die Dinge sind wechselseitig miteinander verbunden, sie hängen voneinander ab, das eine braucht das andere bzw. andere, und umgekehrt. Die Geräte und Maschinen heute sind untereinander vernetzt und diese Netze sind wiederum untereinander vernetzt: Geräte heute sind Teil-Geräte eines umfassenden Gerätesystems. Von diesem nun zu behaupten, es sei ein "Mittel", über das verfugt und dem Zwecke gesetzt werden würden, entbehre jeder Grundlage. Dieses Gerätenetz bilde die heutige Welt. "Welt" aber, erklärt Anders, "ist etwas anderes als 'Mittel'. Etwas kategorial anderes" (Ai, S. 2). Der entscheidende Schritt in der Evolution hin zum Menschen besteht, wie Holzkamp detailliert zeigt, in einer Zweck-Mittel-Umkehrung. Beim werdenden Menschen bildet sich, im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen, die Fähigkeit heraus, Gegenstände als Werkzeuge und Mittel nicht nur angesichts eines unmittelbaren Bedarfs, zu einem unmittelbaren Zwecke, herzurichten, sondern Mittel zu einem Bedarf überhaupt, zu einem allgemeinen Zwecke, herzustellen. So daß sie da sind, wenn sie fur einen akuten Zweck gebraucht werden. Und diese Umkehrung bildet, weil nun gesellschaftliche Dinge geschaffen werden können, die Basis fur die Entstehimg der gesellschaftlich-historischen Entwicklung. Anders stellt nun fest, — ohne auf die Ursachen dieser Entwicklung genauer einzugehen — daß sich in der Geschichte, im gesellschaftlich-historischen Prozeß selbst eine Verkehrung von Mittel und Zweck verwirklicht. "Heute sind", notiert Anders, "Mittel und Zweck geradezu ausgetauscht" (Ai, S. 251). Während ursprünglich die verallgemeinerten Zwecke, d. h. die Wünsche und Bedürfnisse von uns Menschen, im Mittelpunkt des Produzierens stehen, und dabei die Mittel im Zweck aufgehen, gehen nun ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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umgekehrt die Zwecke in den Mitteln auf. "Der Zweck von Zwecken", schreibt Anders, "besteht heute darin, Mittel fiir Mittel zu sein" (Ai, S. 252). In einer solchen Situation der Universalität der "Mittel" (die damit keine Mittel mehr sind) wird nur dasjenige noch akzeptiert und aufgefaßt, was verwendet und aus dem etwas gemacht werden kann. Die Welt einschließlich des Menschen (samt Genen und Organen) gilt als Rohstoff, alleine das Ausbeut- und Verwertbare zählt, alles andere ist nicht, oder nicht wert zu sein. *Rohstoffsein ist criterium existendi, Sein ist Rohstoffsein" (A2, S. 33) — das ist "die Metaphysik der industriellen Revolution" (S. 32) und die Grundlage eines Weltzustandes Technik: Diese These der Technik als sich vollendender Metaphysik — der fortschreitenden Annäherung an ein Absolutum — teilt Anders mit der Technikphilosophie von Martin Heidegger (s. Althaus, 1989, S. 104 ff. und Hildebrandt, 1990). Auch Heidegger stellt fest, daß die moderne Technik kein Werkzeug ist, sie habe auch nicht mehr mit Werkzeugen zu tun; vielmehr bestehe deren Wesen in einer herausfordernden Art und Weise des Entbergens, im "Ge-stell" (1988a, S. 19), dessen Macht uns Menschen beansprucht und zu einem Weltzustand Technik gefuhrt habe. In der Grundthese zur Technik und im Aufzeigen ihrer Gefahr treffen sich diese beiden Philosophien, demgegenüber unterscheiden sie sich jedoch fundamental im Subjektbegriff und in der Handlungsempfehlung. Während Heidegger die Marginalisierung des Menschen durchaus zu akzeptieren scheint und zur "Gelassenheit" auffordert: "Wir sollen nichts tun, sondern warten" (1988b, S. 35), nimmt Anders die Gegenposition ein: "Statt als Desperate unsere Hände in den Schoß zu legen, [fühlen wir uns verpflichtet] doch im Notfall als Desperados einzugreifen und trotz unserer Ängste oder Einsichten alle Schritte, wie wenig diese auch verbürgen mögen, auszuprobieren" (1989c, S. 28). Seine Grundvorstellung menschlicher Subjektivität wird von Anders nicht explizit ausgeführt. Zwar macht er Ansätze dazu und entwickelt in frühen philosophisch-anthropologischen Studien die These der "Unfestgelegtheit des Menschen" und beschreibt die natürliche Unnatürlichkeit, die grundlegende Künstlichkeit des Menschen, und seine, im Gegensatz zu den Tieren, Freiheit in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Welten leben zu können und dabei nicht auf bestimmte Umgangsformen und Verhaltensweisen festgelegt zu sein (Stern, 1934, 1936). Und immer wieder verweist er in seinen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Schriften, ohne näher darauf einzugehen, auf sein Verständnis der Gesellschaftlichkeit des Menschen. "Der Mensch ist — Menschen" (TG, S. 207). Der bestimmte Artikel sei bereits eine Irreführung, der Plural gehört zum Typ; aber auch der Plural stelle nur eine Halbwahrheit dar: "Menschen sind niemals bloße Vielzahl, sondern stets Gesellschaft" (TG, S. 207). Oder mit einer anderen Formulierung: "Die Mitgift des Menschen (besteht) eben nur in 'Gesellschaftlichkeit überhaupt', gewissermaßen in einem Blanko-Scheck, den er, wenn er überhaupt funktionieren will, nachträglich irgendwie ausfüllen muß" (Ai, S. 310). Erst wenn "der Mensch" als ein gesellschaftliches Wesen verstanden wird, mache die Frage nach der Freiheit und Unfreiheit des Menschen wirklich Sinn. Da die gesellschaftlichen Verhältnisse sich bislang stets als Herrschafts- und Machtverhältnisse ausgebildet haben, müsse, betont Anders, an der Unterscheidimg "richtige" und "falsche" Welt festgehalten werden. Diese Unterscheidung ermögliche den Blick auf die Widersprüchlichkeit menschlich-gesellschaftlicher Lebensverhältnisse und auf problematische Herrschafts- und Machtstrukturen, die den Menschen ihre Welt nicht wirklich, im Verfügungssinne, zu ihrer werden lassen. "Die moralische Aufgabe von heute", sieht Anders darin, "eine wahre Welt zu ermöglichen; oder, was auf das gleiche hinausläuft, diejenigen Mächte, die die Menschen systematisch weltlos und unmenschlich machen, bloßzustellen und zu bekämpfen" (TG, S. 212). Eine differenzierte Entwicklung aber einer grundbegrifflichen Konzeption des inneren Zusammenhangs von Mensch und Welt ist nicht das Hauptthema in Anders' Untersuchungen. Zwar implizieren die Thesen von der "Antiquiertheit des Menschen" eine derartige Grundauffassung, Anders aber analysiert an den Brennpunkten der Gegenwart, er beleuchtet die Veränderungen des Menschen im Zusammenhang der geschaffenen Welt der Technik. Dort konstatiert er eine neue Qualität innerer Unstimmigkeit und Brüchigkeit menschlicher Subjektivität. Wir seien, stellt er fest, "die zerrissensten, die in sich disproportioniertesten, die inhumansten Wesen, die es je gegeben hat" (Ai, S. 272).
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GEFÄLLE Der 6. August 1945, die Zerstörung Hiroshimas, begreift Günther Anders als den "Tag Null einer neuen Zeitrechnung" (AW, S. 42). Mit diesem Tag wurde alles anders. Denn von nun an ist es der Menschheit möglich, sich selbst — und mehr — auszulöschen. Von da an nennt sich der Sohn der Psychologen William und Clara Stern, der sich Ende der zwanziger Jahre ab und zu das Pseudonym "Anders" fur journalistische Veröffentlichungen zulegte, endgültig Günther Anders. Aus dem Sprung ins Atomzeitalter, in eine geschichtlich "total neue und unerhörte Situation" (H, S. XI), wurden persönliche Konsequenzen gezogen. Er reagierte mit einer "Kehre" (MoW, S. XI) im Leben, einer grundlegenden theoretischen und praktischen Richtungsänderung, aus der in den darauf folgenden Jahrzehnten eine umfangreiche Philosophie der Diskrepanz entstand. Im Mittelpunkt dieses Denkens steht das Mißverhältnis zwischen Herstellen und Vorstellen, das "prometheische Gefalle". Dieses Gefälle, behauptet Anders, charakterisiere "die conditio humana unseres Zeitalters und aller folgenden Zeitalter" (AW, S. 43), in ihm bestehe das "Grund-Dilemma" (1986, S. 96) der Gegenwart. Da es für die menschliche Subjektivität heute so kennzeichnend sei, sieht er in ihm, das Kriterium für die Zeitgemäßheit oder Obsoletheit von Psychologien. "Keine Psychologie, die diese Malaise vernachlässigt", betont er, darf "als eine Psychologie des heutigen Menschen anerkannt werden" (M, S. 4 7 ). Somit ist es das Leitmotiv des Andersschen Denkens: "Fast alle meine späteren Schriften (sind) . . . Variationen über dieses Grundthema der Diskrepanz" (H, S. XII). Es ist die Kategorie, die die Perspektive, aus der gesehen und analysiert wird, bestimmt. Nicht nur was und was nicht in Betracht kommt, sondern auch die Betrachtungsweise selbst, Anders' Herangehensweise an den Gegenstand. Da mit diesem Begriff ein Zustand bezeichnet wird, den es zu überwinden gilt, ist er auch eine moralische Kategorie. "Einmal muß ich es . . . aussprechen, wie tief es mich enttäuscht hat", schreibt ein Studienfreund in einem Brief an Anders, "daß du dich in ein einziges Sonderproblem verrannt, daß du dich eingeleisig gemacht hast; und nun dein Leben mit deiner . . . idee fixe verbringst . . . — Den philosophischen Komplizenwahlspruch ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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unserer Studienzeit 'Das Ganze ist das Wahre' hast du jedenfalls im Stich gelassen. Soll ich dich nun wirklich abschreiben?. . ." (H, S. 137). . . Da das Ganze an einem Faden hängt", antwortet Anders, "da es in Gefahr schwebt, zu fallen und sein Ganz-sein zu verlieren, besteht die heutige Aufgabe darin, es an demjenigen Punkt in Griff zu bekommen, von dem aus seine Erhaltung gesichert, von dem aus sein Ruin verhindert werden könnte; nicht mehr, wie in guten alten Zeiten vor dem Jahre Null, darin, das Ganze als den wahren Inhalt zu umgreifen. Nicht das Ganze ist heute die Wahrheit, sondern die Bewahrung des Ganzen . . . Wer den Wagenrädern in die Speiche fallen will, der muß auf diesem Geleise, auf dem der Wagen rollt, hinter dem Wagen einherrennen. . . Und das ist es, was ich zu tun versuche" (H, S. 139).
Verkehrung von Herstellen und Vorstellen Das "Gefälle" bezeichnet ein Mißverhältnis zwischen Herstellen und Vorstellen. Der durch Technik ermöglichten immensen Produktionsfähigkeit kommt die Vorstellungsfähigkeit des Menschen nicht mehr nach. Die verschiedenen psychischen Vermögen, so wie Fühlen, Wahrnehmen, Vorstellen, Sprechen, Verantworten stehen in einem Mißverhältnis zum Herstellen. Wir leben in einer neuen Welt, mit den alten Begriffen und veralteten Handlungsweisen. Oder wie Anders sagt: "Dem, was wir können, kommt unser Wissen und Verstehen überhaupt nicht nach!" (K, S. 270). "So bleibt das Vorstellen hinter dem Machen zurück: Machen können wir zwar die Wasserstoffbombe; uns aber die Konsequenzen des Selbstgemachten auszumalen, reichen wir nicht hin. — . . . Unser Fühlen [humpelt hinter] unserem Tun nach: Zerbomben können wir zwar Hunderttausende; sie aber beweinen oder bereuen nicht" (Ai, S. 17). Diese "täglich wachsende Asynchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktewelt. . . [ist] 'das prometheische Gefälle'" (ebd.). Das Hergestellte und dessen Folgen sind "überschwellig", stellt Anders fest, es übersteigt die Grenzen der Sinnlichkeit und der gewohnten Wahrnehmung. Im Unterschied zu den bekannten subliminalen Reizen, die die Grenze des Rezipierbaren unterschreiten und ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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keine Reaktion auslösen, ist das Überschwellige dasjenige, was über der Grenze des Auffaßbaren liegt und gleichfalls keine Reaktion auslöst. "Konfrontiert m i t . . . 'zu großen Texten'", schreibt Anders, werden wir "zu 'emotionalen Analphabeten', die . . . einfach nicht mehr erkennen, daß sie Texte vor sich haben. Sechs Millionen bleiben für uns eine Ziffer, während die Rede von zehn Ermordeten vielleicht noch irgendwie in uns anzuklingen vermag, und uns ein einziger Ermordeter mit Grauen erfüllt" (1988a, S. 28). Paradigma der überschwelligen Produkte ist die Atombombe. Exemplarisch spiegelt sich in ihr die negative Allmacht des Menschen, seine durch Technik möglich gewordene Fähigkeit die eigene Gattung und mehr auslöschen zu können. "Die Seele streikt" (Ai, S. 269), betont Anders, — alleine beim Gedanken an die Gefahr. Da wir Überschwelliges produzieren, uns ihm gegenüber aber nicht einstellen und so keine Stellung dazu einnehmen können, da wir im Herstellen über unseren eigenen Horizont hinausgehen, im Verhalten-zu aber im Innerhalb verbleiben, daher ist "unsere psychische Antiquiertheit. . . der Defekt von heute" (AD, S. 170). An sich ist dieses Gefälle natürlich kein Defekt. Biologisch wäre es, vermutet Anders, bei der Herausbildung der menschlichen Fähigkeiten eher unvorteilhaft und sinnlos gewesen, wenn sich die Kapazitäten und Grenzen der Fähigkeiten gleichen würden. Tatsächlich waren Gefälle zwischen den Vermögen in vorindustriellen Zeiten unauffällig und weitgehend unproblematisch. Auftretende Widersprüche durch neu erfundenes und produziertes Gerät wurden durch anpassende Veränderung und Weiterentwicklung im Denken, Fühlen und Handeln aufgehoben. Mit der industriellen Entwicklung der Technik aber und der Ablösung der Werkzeuge und Geräte durch die Maschinen, begann ein explosionsartiges Wachstum der Produktionsleistungen. Die Differenz entstand nun weniger aufgrund einer anormal engen Limitierung der Vorstellungsfahigkeit als vielmehr "durch das tägliche Ansteigen der Größe (oder der submikroskopischen Winzigkeit) der von uns herstellbaren und hergestellten Erzeugnisse und deren Effekte" (Anders, 1989c, S. 66). Dem Herstellen liegt, im Gegensatz zum Vorstellen und Fühlen, das "Aufstockungsprinzip" (ebd.) zugrunde, welches die Voraussetzung fur das fortschreitende Ansteigen der Produkt-"Qualitäten" bildet. Während wir also als Herstellende am jeweils Geleisteten anknüpfen können und die heutigen Produkte auf den Gestrigen aufbauen, sowie die Gestrigen auf den Vorgestrigen ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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usw., verbleiben wir als Fühlende, da Gefühle zwar historisch und durchaus veränderlich sind, aber eben auf Gestrigem nicht "aufbauen" können, innerhalb relativer Grenzen. So entsteht dieses Gefalle zwischen dem Hergestellten und dem Imaginativen und Emotionalen. Wenn nun, wie Holzkamp rekonstruiert, eine Besonderheit des menschlichen Herstellens darin anzusehen sei, daß, vermittelt über praktische Begriffe, das Vorgestellte im Hergestellten aufgeht; daß, im Gegensatz zu den Tieren, bei uns Menschen die Idee im Kopf ist vor dem gemachten Produkt, oder wie Marx das sagt: daß "am Ende des Arbeitsprozesses . . . ein Resultat [herauskommt], das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war" (1983, S. 193), dann sieht Anders diese Form, durchaus in Anknüpfung und Weiterentwicklung der Marxschen Entfremdungstheorie, im heutigen hochtechnisierten Arbeitsprozeß gemeinhin aufgehoben. Arbeit sei zu einem "medialen" (Ai, S. 187), aktivpassiv-neutralen "Mit-Tun" und "Bedienen" geworden. Keiner der Arbeitenden habe das "Zielbild" der Produktion, in der er tätig ist, auch vor Augen. Die Ursache dafür liege insbesondere in der hochgradigen Vermitteltheit des Herstellungssprozesses selbst. Der Weg von der eigenen Tätigkeit bis zum Endprodukt verläuft über derart viele und weit auseinanderliegende Stationen, daß das Zusammendenken von konkretem Handgriff und Endresultat, selbst für denjenigen der es versucht, kaum gelingen würde. Die Produktion eines Produktes verteilt sich in einen weltweiten, komplexen Produktionsprozeß vieler kleiner Produkte, die sich wiederum aus Produkten zusammensetzen, die sich ihrerseits aus Produkten zusammensetzen, usf. Die damit zusammenhängende Entwicklung zu einer radikalisierten Spezialisierung der Arbeitenden, die "totale Arbeitsteilung" (M, S. 30), schafft die Voraussetzungen fur einen Zustand, in dem letztendlich der Gesamtzusammenhang nicht mehr nachvollzogen wird, auch gar nicht nachvollzogen werden soll. Die Arbeitenden — und nicht nur die der Industrie — haben keine Vorstellung mehr von dem, was sie herstellen. Die hergestellten Produkte, geschweige denn deren Effekte, gehen sie nichts an. — So realisiert sich das Gefälle, "da das Herstellen mit dem Hergestellten nichts mehr zu tun hat, bereits innerhalb des Herstellungsvorgangs selbst" (A2, S. 67).
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GEFÄLLE
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Aus der Differenz-Diagnose, deren Grundformel Anders, wie er sagt, "am Tage nach der Vernichtung Hiroshimas" (1992a, S. 8) geprägt hatte, zieht dieser nun Konsequenzen. Da er erkennt, daß "wir nicht überleben [werden]. . . [wenn] es uns nicht gelingt. . . den Umkreis unseres Vorstellenkönnens dem unseres Machenkönnens anzumessen" (ebd.), sieht er im Versuch, das Gefälle zu überwinden, die Herausforderung und entscheidende moralische Aufgabe unserer Zeit. Inhaltlich sind daher Anders' Schriften nach Hiroshima durchweg Variationen über dieses eine Thema der Diskrepanz. Entscheidend nun ist das daraus gefolgerte methodische Gebot. In der GefälleSituation, notiert Anders, wird "der Vorstellende nun eigentlich zum 'Nachstellenden'. . ., da er versucht, dem von ihm Gemachten und der unabsehbaren Macht, die er durch eigenes Machen hat oder ist, die ihm aber über den Kopf gewachsen ist, nachzukommen, um sich selbst gewachsen zu bleiben" (Ai, S. 348). Um das ins Überschwellige entglittene einzuholen, und um die Nicht-Identität des Menschen mit sich selbst und die Zerrissenheit der Vermögen, aufgrund derer das Subjekt im Begriff ist sich — nun aber im wörtlichen Sinne — auszulöschen, zu verhindern oder rückgängig zu machen, gegen psychische Antiquiertheit, wird Vorstellen zum Nachstellen des Hergestellten. Daher geht Anders in seinen Analysen nicht auf das Subjekt, sondern auf die Produkte ein und versucht deren psychologische Effekte aufzuklären und vorstellbar zu machen. Dieses Konzept einer "moralischen Phantasie" bildet das Zentrum von Anders' Theorie und findet ihren Ausdruck in einer Herangehensweise, in der "die Dinge gefoltert (werden), bis sie ihr Geständnis ablegen" (A2, S. X). Ich will nun Anders Erkenntnisweg anhand seiner Fernsehanalyse genauer betrachten. Anfang der fünfziger Jahre schrieb Anders eine kritische Theorie des Fernsehens. Die hier entwickelten Überlegungen werden von ihm in späteren Texten immer wieder aufgegriffen, weiterentwickelt und präzisiert, und in ihnen kommt Anders' Vorgehensweise anschaulich zum Ausdruck. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Problematik der Verwischimg der Grenzlinien von realer und fiktiver Welt, von Wirklichkeit und Simulation, eine Problematik, die sich heute, im Zusammenhang mit der Entwicklung der neuen Computertechnologien, des Internets und der virtuellen Welten des Cyberspace in zugespitzter Form stellt
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MORALISCHE PHANTASIE Vor dem Hintergrund des "Gefälles" wird verständlich, warum Günther Anders sich ausführlich in seinen Arbeiten mit dem Fernsehen und den neuen Medien auseinandersetzt. Wenn der entscheidende Widerspruch menschlicher Lebenspraxis in dem Verhältnis von Mensch und der von ihm geschaffenen technologischen Welt gesehen wird, dann stellt sich im besonderen Maße die Frage, inwieweit durch die Entwicklung der Kommunikationstechnologien und der zwischen Subjekt und Welt vermittelnden Objekte, der Medien, dieser Widerspruch abgemildert oder weiter verschärft wird, inwieweit die Übertragungsgeräte die Fremdheit der Dinge im wörtlichen Sinne entfremden oder umgekehrt weiter verfremden. Früh waren für Anders die neuen Medien Thema der Reflektion. Erste Begegnungen mit dem Radio hatte er Mitte der 20er Jahre: "Ich wohnte damals in Drewitz, in Berlin in einer Vorstadtstraße, und aus allen Fenstern sang dieselbe Tenorstimme" (Liessmann, 1988, S. 51). Aus diesen "schockierenden"' Erfahrungen entstand ein kurzer medienphilosophischer Text, der im "Anbruch", Adornos "Zeitschrift für moderne Musik" veröffentlicht wurde. Das Grundproblem, schreibt dort Günther Stern, das sich durch den Rundfunk stelle, sei, "empfindend gewachsen zu sein jenen unmäßigen Erfindungen, die der Mensch zwar herstellte, die ihm aber über Kopf und Herz hinauswuchsen" (1930, S. 66). Als er dann 1955 seine erste Analyse des Fernsehens veröffentlichte, gab es in der Bundesrepublik wenig Erfahrungen mit dem neuen Gerät. Schlicht weil das Fernsehen damals sich erst in der Entstehungsphase befand. Im Dezember 1952 begann der Nordwestdeutsche Rundfunk mit einer stundenweisen Ausstrahlung eines regelmäßigen Programms und 1953 gab es fünfzehnhundert registrierte Geräte (Riedel, 1985, S. 119). Erst Ende der fünfziger Jahre begann in Deutschland die rasante Entwicklung und Verbreitung des Fernsehen zu einem Massenmedium. Der Autor hatte allerdings selbst kaum praktische Erfahrungen mit dem Phänomen Fernsehen gesammelt: "Als ich . . . meine Analyse des TV vorlegte, . . . hatte ich noch nicht ein einziges Mal ferngesehen" (K, S. 300). Das sei aber auch gar nicht notwendig gewesen. Statistik, Experimente oder empirische Feldforschung wären bei derartigen Problemen kaum hilfreich: "Die Phantasie ist das Auge von heute" (K, S. 300). ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Herangehensweise. Schritte...
...Die Dinge selbst sind bereits das Problem Im ersten Schritt seiner TV-Analyse problematisiert Anders die Auffassung der Technik als Mittel zum Zweck. Wer Fernsehen verstehen wolle und dabei auf den Mittel-Begriff zurückgreife, der habe bereits daneben gegriffen. "Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht die durch 'Mitter vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens kurz: uns" (Ai, S. 100). Fernsehen wird als eine Einrichtung gesehen, die selbst schon hinterfragt werden muß, vorgeordnet vor der Frage, was man mit ihr machen kann. In der Form also, nicht erst im Inhalt, sieht Anders bereits das Problem. Dieser erste, eröffnende Schritt in Anders' Herangehen an seinen Gegenstand ist im Grunde der entscheidende. Das Besondere und Spannende an Anders' Denken sehe ich vor allem in dieser Sensibilität gegenüber der Macht der Dinge und darin, daß er sehr früh versteht, diese Einsicht in eine konsequente Zugangsweise umzusetzen, die dann seinen gesamten Arbeiten nach 1945 zugrundeliegt. In den sechziger und siebziger Jahren wurde, etwa mit Marshall McLuhans These "The Medium is the Message", die Vorstellung der Priorität der Formen vor dem Inhalt auch im Alltag vertrauter, und heute sind, wie gesagt, in den Wissenschaften kritische Dinganalysen, die von den "politics" der "artefacts" ausgehen und deren soziale Bedeutungen untersuchen nichts Ungewöhnliches. Anders ist früh der subtilen Formen der Macht der "Mittel" auf der Spur, und bringt diese Einsicht in der "Kindergeschichte", die er seiner TV-Analyse voranstellt, bildlich zum Ausdruck: "Da es dem König aber wenig gefiel, daß sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. 'Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen', waren seine Worte. 'Nun darft du es nicht mehr', war deren Sinn. 'Nun kannst du es nicht mehr', deren Wirkung" (Ai, S. 99). ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Da Anders also annimmt, daß die Dinge bereits selbst das Problem sind, sie etwas mit uns machen, bevor wir etwas mit ihnen machen, ist für ihn die Frage nach diesem "Handeln" der Dinge die primäre Frage. Daher geht er in seinen Analysen auf die Dinge ein und fragt, was diese mit uns machen und machen werden. Wie geht Anders dann in der Fernsehanalyse konkret vor? — In drei Schritten nähert er sich dem Phänomen: Zuerst betrachtet er die Besonderheit der gesellschaftlichen Situation, in der Fernsehen stattfindet und versucht die Eigenart des Geschehens, welches vom Fernsehen aufgenommen und übertragen wird, näher zu bestimmen, er fragt nach dem Ausgangszustand des Übertragungsgeschehens. Im zweiten Schritt untersucht er, wie dieser Zustand der Ereignisse sich im Bild-Modus verändert, was mit dem Geschehen im vermittelnden Apparat geschieht. Und im letzten Schritt werden dann die durch die spezifische Vermittlungsform der Bilder bedingten Veränderungen, die Konsequenzen für Mensch und Welt beleuchtet. ... Verbiederte Bilder einer verbiederten Welt "Obwohl wir in Wahrheit in einer entfremdeten Welt leben, wird uns die Welt so dargeboten, als ob sie für uns da wäre, als ob sie unsere wäre und unseresgleichen" (Ai, S. 116). Ein globaler Prozeß, stellt Anders fest, der trotz fortschreitender Entfremdung, die fremdesten Personen und Gegebenheiten als etwas Vertrautes erscheinen läßt. Ein Prozeß, in dem die fremdesten und gefährlichsten Sachverhalte verniedlichend verfremdet werden; die Explosion einer Wasserstoffbombe wird beispielsweise als "Aktion Opa" bezeichnet. "Diesen Vorgang der Pseudofamiliarisierung, der . . . keinen Namen hat", erklärt Anders, "nennen wir die 'Verbiederung der Welt'" (Ai, S. 117). Die Ursache dafür liege, neben der unsachgemäßen Verallgemeinerung demokratisch-politischer Gleichheitsprinzipien, und der Popularisierung der, die Distanz zum jeweiligen Forschungsgegenstand neutralisierenden, objektiven Perspektive des Wissenschaftlers, vor allem im Warencharakter aller Erscheinungen. Denn, "so wahr es nämlich ist, daß sich alles in Ware Verwandelte verfremdet, so wahr ist es gleichzeitig, daß sich jede Ware, da sie gekauft werden . . . will, auch verbiedern muß" (Ai, S. 122; Hervorhebung v. Verf.). Ebenso universal wie die Entfremdung, die "sich an alles Vertraute und Vertrauliche heranmacht, um es midashaft in Unvertrautes, Kaltes, Dingliches und Öffentliches umzumünzen, so bemächtigt sich die ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Scheinfamiiiarisierung alles Fernen und Fremden, um es in ein Schein-Heimisches zu verwandeln" (Ai, S. 336). Da die Sendungen ebenfalls ausnahmslos Waren sind, "wollen" auch diese verkauft, d. h. mit höchster Einschaltquote gesehen werden. Daher gilt die verbiedernde Präsentierung der Ware, zum Zwecke der Verkäuflichkeit, auch fur die Fernsehbilder. Der Warencharakter der Bilder und die damit zusammenhängende verfälschende Ästhetik des Fernsehens bildet, wie weiter unten noch deutlicher werden wird, einen wesentlichen theoretischen Hintergrund von Anders' Interpretation. Die Hauptleistung der Verbiederung, und daher auch ihr Hauptdaseinsgrund, besteht darin, betont Anders, die Ursachen und Symptome der Entfremdung abzublenden, "den Menschen, den man seiner Welt, und dem man seine Welt entfremdet hat, der Fähigkeit zu berauben, diese Tatsache zu erkennen" (Ai, S. 124). Dies gelingt in erster Linie dadurch, daß "pausenlos die Welt mit Bildern von Scheinvertrautem bevölkert, ja die Welt selbst, als ein einziges riesiges Zuhause, als ein Universum der Gemütlichkeit" (Ai, S. 125) dargeboten wird. Und so erscheint "die heutige Welt viel weniger; als sie wirklich ist, namentlich viel weniger gefährlich" (Anders, 1986, S. 2). Verwundern könnte, daß ein solch allgemeiner Prozeß bisher so unerkannt geblieben ist. Aber, stellt Anders fest, als "Betrogene" fühlen wir uns eben "durch und durch gesund". "Es ist, als wären wir, durch die Verfremdung verwundet, unfähig gemacht, zu bemerken, daß wir unter der Droge der Verbiederung stehen; und von der Droge zu stark betäubt, um noch zu spüren, daß wir verwundet sind: also, als höben die zwei Zustände einander auf7 (Ai, S. 126). "In die Entfremdungswunde, die die eine Hand geschlagen, gießt die andere den Balsam der Familiarität" (Ai, S.125). In einem nächsten Schritt untersucht Anders die spezifische Vermittlungsform der Sendungen, er fragt, "als was für Gebilde erreichen uns die ins Haus gelieferten Ereignisse?" (Ai, S. 154). ...Das Ereignis wird als Fernsehbild zum Phantom Fernsehbilder, bemerkt Anders, sind neuartige Bilder. Während das Wesen des Bildes bisher in einem, zwar unausdrücklich bleibenden, trotzdem den Begriff Bild bestimmenden, Zeitgefalle zwischen diesem ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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und dem nachgebildeten Gegenstand bestand, können die TV-Bilder zeitgleich, simultan und synchron mit ihrem abgebildeten Gegenstand auftreten. Der live-übertragene Gegenstand, aber nicht nur dieser, erscheint auf dem Bildschirm präzise und eindeutig in seiner Wirklichkeit erfaßt. Zutreffend ist also, daß der Gegenstand in seiner Wirklichkeit auf dem Bildschirm erscheint, man sieht und hört das Violinenkonzert selbst, nicht etwas über die Auffuhrung. Genauso zutreffend aber ist, daß es sich bei dem übertragenen Gegenstand um eine Interpretation der Wirklichkeit und nicht um die Wirklichkeit selbst handelt. Doppeldeutig, oder wie Anders sagt, phantomhaft erreichen uns die Ereignisse. "Das Eigentümliche der durch die Übertragung geschaffenen Situation [besteht] in deren ontologischen Zweideutigkeit; . . . weil die gesendeten Ereignisse zugleich gegenwärtig und abwesend, zugleich wirklich und scheinbar, zugleich da und nicht da, kurz: weil sie Phantome sind" (Ai, S. 131). Um diese Doppeldeutigkeit der gesendeten Ereignisse weiter aufzuklären, vergleicht Anders bestehende Kommunikationsmittel, wie Bücher und Zeitungen, mit den neuen Medien, und fragt nach der Form, wie die Ereignisse vermittelt werden. Dabei beleuchtet er die Natur von Nachrichten und erkennt, wie sich in den medialen Bildern die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Interpretation, zwischen Sein und Schein, zwischen Realität und Fiktion verwischt. ...Bilder sind getarnte Urteile Nachrichten nun, schreibt Anders, sind "Urteile". Es sind Sätze über einen Gegenstand mit zweiteiliger Struktur, einem Subjekt und einem Prädikat. Beispielsweise: "der Fernseher ist kaputt", allgemein formuliert "S ist p". Dem Benachrichtigten wird nicht der Gegenstand selbst übermittelt, sondern etwas vom Gegenstand, etwas über diesen. Dieses, in der Nachricht vermittelte "etwas" wird gewöhnlich "factum" oder auch "Tatsache" genannt. Mit dem Begriff "Prädikat" wird der, durch einen Urteilsprozeß gewonnene, inhaltlich über den Gegenstand etwas aussagende, zweite Teil des Urteils bezeichnet. Mit ihm wird das Faktum ausgedrückt. Es ist das wirklich oder angeblich Wichtige für den Benachrichtigten, aufgrund dessen kann er sein Handeln disponieren, etwa den Fernsehmechaniker anrufen. Der freiheitsermöglichende Aspekt der Nachricht und des Prädikats besteht darin, ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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daß man nicht bei all dem, was einen angeht, unmittelbar anwesend sein muß; auf der anderen Seite stellt sie auch eine Freiheitsbehinderung dar, da man nur einen Teil-Gesichtspunkt der Sache mitbekommt, quasi der Gegenstand sich im Prädikat "erschöpft", und dieses zudem wahr oder audi falsch sein kann. "Gewöhnlich bleibt nun der Unterschied zwischen unmittelbarer und vermittelter Erfahrung absolut deutlich. Da die unmittelbare Erfahrung, also die Wahrnehmung, vor-prädikative Bilder aufnimmt; die mittelbare, die durch Nachricht, dagegen in 'S ist p'-Form auseinanderbricht, ist Zweifel über die Erfahrungsart oder Verwechslung der beiden eigentlich kaum möglich. Selbst der Bücher- oder Zeitungswurm, der im Horizont vermittelter Erfahrung lebt und sich von diesen nährt, kommt doch, mindestens im Erfahrungsvollzug selbst, nur selten auf den Gedanken, daß er das Vermittelte unmittelbar (oder gar umgekehrt) erfahre; wenn er auch nachträglich, wenn ein Inhalt in den Vorratskeller seines Wissensbestandes abgesunken ist, ins Ungewisse darüber geraten mag, ob er diesen einer direkten oder einer indirekten Erfahrung verdanke" (Ai, S. 159). Das Grundproblem des Fernsehens besteht nun darin, schreibt Anders, daß die Sendungen "den Empfänger von vornherein und prinzipiell in einen Zustand versetzen, in dem der Unterschied zwischen Erleben und Benachrichtigtsein, zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung ausgelöscht ist; in dem es unklar ist, ob er vor einer Sache stehe oder vor einer Tatsache, vor einem Gegenstand oder vor einem Faktum" (Ai, S. 159). Während also bei gesprochenen oder geschriebenen Nachrichten ein Faktum übermittelt wird, erscheint beim Fernsehen der Gegenstand selbst auf dem Bildschirm; ich höre und sehe das Violinkonzert selbst, nicht etwas über die Aufführung. So verschwimmt im Fernsehen die bis dahin scharfe Trennlinie zwischen Gegenstand und Nachricht, und daher sind die Sendungen prinzipiell zweideutig. In Wirklichkeit allerdings zeigen die Sendungen nicht die Ereignisse selbst, sondern etwas über diese; sie sind immer Urteile in "S ist p"Form. Denn die Sendungen sind Waren, und als solche sind sie Urteile. "Jede Ware ist . . ., sofern sie ausgestellt ist und sich anbietet — und nur als solche, nur als Angebot ist sie ja ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Ware — bereits ihre eigene Beurteilung; und zwar ihr Eigenlob . . .. Sie (wird) arrangiert Und Arrangement besagt, daß ihr p (also das, was mit ihr los ist', ihre wirkliche oder vorgebliche Qualität) so von ihr losgelöst und als Lock-Eigenschaft derart herausgehoben und vorgeschoben wird, daß nun eigentlich diese, und nicht die Ware als ganze sichtbar wird" (Ai, S. 162). Ähnlich dem Gegenstand in der Nachricht, "erschöpft" sich quasi die Ware im Prädikat, statt "S ist p" gilt nun die Umkehrung "p ist S". Der "Urteils-Charakter der Ware" gilt also auch fur die Sendungen. Diese sind immer Aussagen über die Ereignisse, obwohl sie sich als die Ereignisse selbst geben. Denn das Bild tarnt den Urteils-Charakter der Sendungen. "Das Urteil drapiert sich in scheinbarer Nacktheit", formuliert Anders, "es behängt sich mit dem Schmuck fehlender Prädikate" (Ai, S. 161). "Da kein Urteil so unverdächtig, so unscheinbar, so verführerisch ist wie dasjenige, das angeblich nichts ist als die Sache selbst, liegt in ihrem Verzicht auf das ausgebildete "S ist p-Schema" ihre betrügerische Kraft. Was wir, vor dem Radio oder Bildschirm sitzend, konsumieren, ist statt der Szene deren Präparierung, statt der angeblichen Sache S deren Prädikat p, kurz: ein in Bildform auftretendes Vorurteil, das, wie jedes Vorurteil, seinen Urteilscharakter versteckt; aber . . . den Konsumenten davon abhält . . . noch einmal die Mühe des Urteilens auf sich zu nehmen" (Ai, S. 163). Diese getarnte Urteils-Form, erklärt Anders in einem nächsten Schritt, gilt im wesentlichen nicht für die einzelnen Beiträge, sondern für die Gesamtheit der Sendungen. Mit einer Umkehrung eines Hegeischen Satzes formuliert: *Das Ganze ist die Lüge; erst das Ganze" (Ai, S. 164). Die Summe der Sendungen muß also als Ware begriffen werden, die verzerrt dargeboten wird, um verkauft zu werden. Dabei sind um Wahrheit und Objektivität sich bemühende Teilbeiträge keineswegs unerwünscht, denn sie festigen die Attraktivität des Ganzen. "Keine Lüge, die etwas auf sich hält, enthält Unwahres" (Ai, S. 164). Und selbst wenn alle Beiträge wahrheitsgetreu senden würden, wird insgesamt eine getarnte Urteils-Form alleine dadurch hervorgebracht, weil vieles Wirkliche nicht gezeigt wird. So ergibt die Gesamtheit der ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Sendungen ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Ein "Pseudo-Modell" der Welt, denn es erscheint, aufgrund der Spezifik der Fernsehbilder und der Art ihrer Präsentation als die Wirklichkeit selbst. Dieses Modell hat "Rückschlagwirkung", behauptet Anders, es ist eine "Matrize", die die gesellschaftliche Realität, den Zuschauer und die Welt "prägt". ...Bilder prägen den Rezipienten Wenn dieses "Pseudo-Modell" als die Wirklichkeit selbst rezipiert wird, dann wird dieses unmittelbar zur Bedingung der Erfahrung, zur Grundlage der (Alltags-) Begriffsbildung, zum bestimmenden Moment menschlichen Fühlens und Denkens, der Bedürfnisse und des Handelns. "Die Reizmodelle", schreibt Anders, sind "apriorische Bedingungs-Formen; aber nicht nur solche der Anschauung; nicht nur solche des Verstandes; nicht nur solche des Gefühls; sondern auch solche des Benehmens und Handelns — also Matrizen von einer Anwendungsbreite und Leistungs-Universalität, wie sie selbst spekulativste Philosophen niemals vorausgesehen hatten . . . Natürlich darf die Rede von 'apriorischen Bedingungs-Formen' nicht wörtlich . . . verstanden werden. . . Aber 'apriorisch' sind sie trotzdem, sofern sie als Gußformen, also als Bedingungen, dem Erfahren, dem Fühlen und dem Benehmen vorausliegen und diese 'condition', also 'konditionieren'. Und da diese Bedingungen ja nicht nur darüber präjudizieren, wie, sondern selbst darüber was und was nicht erfahren, gefühlt usw. wird, ist ihre Kraft von außergewöhnlicher Stärke und ihr Zuständigkeitsbereich von außergewöhnlicher Breite" (Ai, S. 169). Um dieses "prägende" Verhältnis zwischen der Ware Fernsehsendung und Individuum präziser zu bestimmen, untersucht Anders allgemein das Verhältnis von Ware und Bedürfnis. Auch dieses analysiert er nicht, indem er seinen eigenen inneren Bedürfnissen oder denen anderer nachgeht, sondern indem er auf die "geronnenen Handlungsmodi" der Produkte eingeht. Dabei stellt er fest, daß die Produkte selbst Bedürfnisse produzieren. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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"Die primären Bedürfnisse von heute", notiert Anders, sind "diejenigen . . unter denen unsere Dingwelt leidet" (M, S. 124). Produkte brauchen, alleine um nicht unbrauchbar zu werden, weitere Produkte. Jede Ware verlangt nach anderen, das Auto nach Öl und Benzin, es braucht Ersatzteile, Straßen, Tankstellen, Raffinerien und vieles weitere. "Der Eigentümer der Ware hat. . . deren Durst. . . zum eigenen Durst zu machen. Und wie schwer es ihm auch fallen mag, die akkumulierenden Mäuler seiner Eigentum gewordenen Objekte zu stopfen, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als deren Bedürfnisse zu übernehmen; . . . Wer A braucht muß auch B brauchen, und wer B braucht, auch C. Er benötigt also nicht nur . . . A immer wieder; vielmehr ganze Generationen von Waren: B, das von A verlangt, C, das von B gefordert, D, das von C herbeigerufen wird, und so in infinitum" (Ai, S. 177). Anders bemerkt, wie im vernetzten Produktsystem der heutigen Warenwelt sich ein "Durst der Dinge" entfaltet, er untersucht dessen Erscheinungsweisen und schreibt aus dieser Perspektive eine Theorie der menschlichen Bedürfnisse. In diesem Sinn seien unsere Bedürfnisse von den Waren geprägt, oder wie Anders, gemäß seinem Leitspruch, so prononciert wie nur irgend möglich zu formulieren (s. Ai, S. 236), erklärt: "Unsere Bedürfnisse sind nun nichts anderes mehr als die Abdrücke oder die Reproduktion der Bedürfnisse der Waren selbst" (Ai, S. 178). Vom falschen Modell der Sendungen werden die Bedürfnisse bestimmt. Die Einführung des "Matrizen"- und "Präge"-Begriffs mag irritieren und als eine verzerrte Darstellung erscheinen. Der Mensch ist doch kein Ding, will man einwenden, sondern ein lebendiges Wesen, immer frei genug, sich zu seinen Bedingungen verhalten zu können, er ist niemals durch "Stanzformen" stanzbar, und menschliche Probleme werden durch eine solche Begrifflichkeit auch nicht besser erfaßbar! Wird hier tatsächlich von einer "konditionierbaren" menschlichen "Condition" ausgegangen? Wird hier ein Philosoph, der jene "Psychologien ohne Seele" als eine "Verfälschung des Menschen verhöhnt" (Ai, S. 128), selbst zum falschenden Behavioristen? — Hier zeigt sich die besondere Art der Andersschen Darstellung, seine Methode der überzeichnenden Darstellung, der "Übertreibung in Richtung Wahrheit". Um eine Entwicklungslinie, die zu Ende gedacht ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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auf Matrizenhaftigkeit, Prägung, eben Unfreiheit zielt, begreifbar, angreifbar und veränderbar zu machen, wird — eben um die Dinge in ihrer Tragweite zu Ende zu denken — ein Begriff gewählt, der versucht von der letzten Konsequenz, dem äußersten Punkt aus den Zusammenhang auszuleuchtet. ...Bilder prägen die Welt Die Fernseh-Bilder werden nun, behauptet Anders, nicht nur zum Vorbild fur den Rezipienten, auch die Ereignisse selbst, die wirkliche Welt richtet sich nach den Bildern; nicht das reale Geschehen bestimmt den Inhalt der Sendungen, sondern umgekehrt, von den TVSendungen wird die Realität bestimmt. "Das Wirkliche [wird] zum Abbild seiner Bilder" (Ai, S. 179). Zur Begründung dieser These der Verkehrung von Wirklichkeit und Bild, von Ereignis und Sendung, werden von Anders zuerst allgemeine Grundsätze der Warenproduktion, unausgesprochene Axiome einer heutigen "Wirtschafts-Ontologie" herausgearbeitet, und dann auf die TV-Produktion konkretisiert. Denn, das Verhältnis zwischen Ereignis und Sendimg ist, da die Sendungen Waren sind, ein konkreter Fall des allgemeinen Verhältnisses zwischen Modell und reproduzierter Ware. "Wirklich seiend" gilt, stellt Anders fest, aus der Perspektive der Produktion weder das Einzelne, noch unverarbeitete Natur, sondern alleine das in Serie gefertigte Produkt. Nicht das Einzelmodell, von dem die Ware reproduziert wird, ist von primärem Interesse, sondern die Reproduktion. Ohne Reproduktion hat das Modell keinen "Wert". "'Realität wird durch Reproduktion produziert; erst im Plural, erst als Serie, ist 'Sein'. — . . . das nur Einmalige 'ist' nicht'" (Ai, S. 180). Übersetzt in den Produktionszweig "Bild-Medien" bedeutet dieser Grundsatz, daß dort alleine die Sendung interessiert, die wirklichen Ereignisse erschöpfen sich in ihrer Funktion für die Sendung. Jede Produktion versucht nun so früh wie möglich in den Rohstoff einzugreifen und dessen Entstehungs- und Entwicklungsprozeß zu einem ersten Stadium der Produktion selbst zu machen. Dies gilt, schreibt Anders, auch für die Fernsehsendungen: "Ihr Rohmaterial besteht zum großen Teil aus Ereignissen. Daher versucht man, . . . ihnen so früh wie möglich, oder von vorneherein, eine optimale Reproduktionseignung zu verleihen; also dafür zu sorgen, daß sie ihren Reproduktionen ohne Schwierigkeit als Unterlage dienen können. Das Wirkliche — das angebliche Vorbild ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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— muß also seinen eventuellen Abbildungen angemessen, nach dem Bilde seiner Reproduktionen umgeschaffen werden. Die Tagesereignisse müssen ihren Kopien zuvorkommend nachkommen. Wirklich gibt es bereits zahllose Geschehnisse, die nur deshalb so geschehen, wie sie geschehen, damit sie als Sendungen brauchbar seien; ja solche, die überhaupt nur deshalb geschehen, weil sie als Sendung erwünscht oder benötigt sind. Wo in solchen Fällen die Realität aufhört und das Spiel anhebt, ist nicht mehr zu beurteilen" (Ai, S. 190). Vollkommen immöglich wird die Bestimmung der Grenzlinie zwischen Realität und Bild, wenn die Verbreitung des Fernsehens eine bestimmte Quantität überschreitet, denn dann, schreibt Anders, werden die Bilder soziale Realitäten von einer derart massiven Bedeutung, daß durch sie bestimmt wird, "was wirklich ist" und "wie es wirklich passiert". "Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muß das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden" (Ai, S. 111). Der "Tisch . . . verwandelt sich", schreibt Marx im "Kapital" in der Einfuhrung seiner Fetischismus-These, "sobald er als Ware auftritt, . . . in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich . . . auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne" (1983, S. 85). In einer Gesellschaft, in der die Grundlage der Produktion privat-arbeitsteilige Warenproduktion ist, sind Arbeitsprodukte fast ausnahmslos Waren. Waren sind immer Doppeltes: Gebrauchsgegenstände und zugleich Wertträger. Der Gebrauchsgegenstand Tisch, wie Marx ihn beschreibt, ist ein "ordinäres sinnliches Ding". Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein "sinnlich übersinnliches Ding". Die Ware wird durch etwas Gesellschaftliches, durch ihren "Wert", zu einem besonderen gesellschaftlichen Ding. Der "Wert" aber erscheint als eine natürliche Eigenschaft der Ware, das Ding scheint ausgestattet mit einer Eigenschaft, die ihm tatsächlich nicht zukommt. In der Ware wird ein verkehrtes Ding-Eigenschaftsverhältnis zurückgespiegelt. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Und so wie der Fetisch, ein Ding in 'primitiven' Gesellschaften, das zuerst vom Menschen gemacht wird und danach Macht über diese ausübt, gewinnen bloße Dinge, vermittelt über den "Wert", wie Wolfgang Haug schreibt, eine "soziale Regulierungsfunktion". "Der Begriff Fetischcharakter (bezeichnet) im Kern nichts anderes als diesen folgenreichen Sachverhalt, . . . daß die Produzenten ihre Gesellschaftlichkeit abtreten an die Waren" (Haug, 1987, S. 168). Wenn man sich nun die Struktur der inhaltlichen Argumentation in Anders' Analyse des Fernsehens vergegenwärtigt, dann wird deutlich, daß Marx' Begriff des Warenfetischismus in Anders' Herangehensweise eine Schlüsselrolle einnimmt. Denn, so wie Marx in der doppeldeutigen, "sinnlich, übersinnlichen" Ware eine Verkehrung von Subjekt und Prädikat, von Ding und Eigenschaften beschreibt, erkennt Anders in den doppeldeutig "phantomhaften" Fernsehbildern eine Verkehrung von Subjekt und Prädikat, von Ding und Eigenschaften, von wirklichem Gegenstand und Interpretation. Und analog den Waren, denen vermittelt über den Wert fetischartig eine soziale Regulierungsfunktion zukommt, werden von den, in den Bildern vermittelten Interpretationen der Wirklichkeit die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Rezipierenden und die Welt, bestimmt. Das menschlichgesellschaftliche Leben geschieht in Abhängigkeit der Sendung, statt umgekehrt. So enthüllt sich das Geheimnis der Dinge als eine Universalisierung jenes quid pro quo des Fetischcharakters der Ware: als eine Verkehrung von Menschen und Technik (s. auch Althaus, 1989, s.38). In seiner frühen prognostischen Analyse sieht Anders kaum Möglichkeiten durch Fernsehen zu einem "richtigen", verfugenden Verhältnis von Mensch und Welt zu finden. So erforderlich in einer Welt mit global gewordenen Problemen die Erweiterung des Gegenwartshorizontes wäre, das Fernsehen könne eine derartige Erweiterung nicht leisten. "Vielmehr weicht" es, erklärt er, "unseren Horizont so vollständig auf, daß wir echte Gegenwart überhaupt nicht mehr kennen; und selbst dem Geschehen, das uns wirklich angehen sollte, nur noch jenes scheinbare Interesse entgegenbringen, das aufzubringen wir von den uns ins Haus gelieferten Scheingegenwarten gelernt haben" (Ai, S. 134).
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Die Einseitigkeit der Beziehung zur virtuellen Welt der Bilder "passivisiert" die Rezipienten — als bloße Zuhörer werden wir "Hörige", als Zuschauer zum "Voyeur" — und so entsteht, statt kritischer Massenbewegungen, der Typ des "Masseneremiten". Die Sprache verkümmert, der Zeitbegriff reduziert sich zu einer dehistorisierten "Momentaufnahme", wir sind überall und daher nirgendwo. "Zerstreuung" im Doppelsinn des Wortes ist das Resultat der ständig wechselnden Szenen und Ereignisse; in eine Unzahl von Problemen verwickelt, sehen wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. In der Flut der Bilder geht Zusammenhangserkenntnis unter, sie verhindert systematisch das Verstehen und damit auch das Eingreifen und Verändern. "Das Wirkliche", vermutet Anders, wird "mit Hilfe des angeblich Wirklichen selbst;... die Welt unter ihrem Bilde zum Verschwinden" (Ai, S. 154) gebracht. Diese skeptische Einschätzung korrigiert Anders in späteren Studien aufgrund empirischer Beobachtungen. Er erkennt, daß im Fernsehen doch Möglichkeiten zur Erweiterung des Erkenntnishorizontes liegen und es geradezu notwendige Voraussetzungen zur Überwindung des "Gefälles" im Verhältnis von Mensch und Welt bietet. Er sieht, daß Wirklichkeit doch durch Bilder begriffen werden kann, daß sie zwar einerseits die Wahrnehmimg verschleiern, andrerseits aber wesentliche Ereignisse durch Fernsehen überhaupt erst wahrnehmbar werden und daß, wo die unmittelbare Sinnlichkeit versagt, die mediale Fiktion notwendig wird. ...Bilder sind besser als nichts In den Bildern des Vietnamkrieges erkannten die Fernsehzuschauer die Grausamkeit dieses Krieges, und sie antworteten mit Empörung und Widerstand. Ohne die TV-Sendungen, vermutet Anders, der sich, etwa auch als Juror beim Vietnam-Tribunal, vehement für die Beendigung des Vietnamkrieges eingesetzt hatte, wäre die Anti-VietnamkriegBewegung niemals zu einer einflußreichen politischen Kraft geworden. Die Bilder lösten einen Protest aus, der zum Abbruch des Krieges erheblich beitrug. Aufgrund dieser Erfahrung präzisiert Anders seine Thesen zur sozialen Bedeutung des Fernsehens und schreibt 1968 in "Visit beautiful Vietnam": "Dieses Mittel: Menschen mit Hilfe von Bildern blind zu machen, scheint sich nun allmählich zu rächen. Jedenfalls benehmen sich heute bereits Hunderttausende völlig anders als gestern und ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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vorgestern. Der dialektische Umschlag ist frappant. Statt als verblendete Augenzeugen vor dem Bildschirm zu sitzen, beweisen sie plötzlich durch ihr neues Benehmen, durch ihre Massenteilnahme an der SpringMobilization, daß ihnen mit Hilfe der Fernsehbilder und jener anderen pictures, durch die sie eigentlich hatten vollends blind gemacht werden sollen, das Augenlicht zurückgegeben worden ist. Als Publikum hatte man sie zum Bersten mit Bildern angefüllt; die Hülle ist gesprungen, und aus ihr steigen nun Menschen, die sich, statt weiter nur zu konsumieren, auf teach-ins und Massenveranstaltungen einlassen, auf Veranstaltungen, die schon nicht mehr nur dem Typ bloßer Demonstration zugehören, sondern bereits Vorformen wirklicher Aktionen darstellen. Wenn, wie es heute geschieht, die Konsumenten, statt Märsche nur zu konsumieren, zu marschieren beginnen, dann haben sie ein Recht darauf neu zu hoffen. Und wir mit ihnen" (S. 203). Bilder, stellt Anders fest, vernebeln nicht nur, sondern sie können auch eine realitäts- und welthaltige Sicht ermöglichen, und ein angemessenes Handeln, auch Protest und Widerständigkeit, begründen. "Wahrgenommene. Bilder", schreibt er, sind "zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts" (Ai, S. VIII). ... Unvorstellbare Vorstellungserweiterung durch Bilder Mit der Beschreibung einer einzigartigen "Selbstbegegnung der Erde" erweitert Günther Anders im Nachdenken über die Apollo-Weltraumflüge auf den Mond seine Überlegungen zum Fernsehen. Die Fernsehbilder ermöglichen, stellt er fest, eine Veranschaulichung auch der äußersten Herstellungsfähigkeit des Menschen. Sie vermittelten aus dem Weltraum für einen Großteil der Erdbewohner die sinnlich wahrnehmbare Erfahrung der "totalen Abstraktion", der unvorstellbaren, aber möglichen Selbstzerstörung der Menschheit. "Der Blick vom Mond", schreibt Gabriele Althaus über Anders, bietet "auch einen Hoffnungsschimmer für die Erkenntniskritik . . . Daß wir nun sehen konnten, was wir nur wissen konnten, könnte zu jener Wahrnehmung und Anschauung beitragen, ohne die der Begriff des Nichts leer und unbestimmt bleibt, und so annäherungsweise und umstellend zu der Vorstellungserweiterung führen, für die wir kognitiv über kein evoluARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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tionäres Erbe verfugen" (1989, S. 131). Der Blick aufden Mond ist also nicht das eigentlich phantastische der Bilder aus dem All, sondern der Blick vom Mond — auf die Erde. "Man schätzt, daß eine halbe Milliarde Menschen, also fünfhundert Millionen, gleichzeitig eines und dasselbe durchgemacht, nämlich gleichzeitig Glanz und Misere des Irdischen angesehen haben. Den Glanz: da sie, obwohl zuhause im Fauteuil sitzend, den Erdball, der diese Fauteuils trägt, so haben sehen können als wenn sie selbst etwa vierhunderttausend Kilometer außerhalb dieses Erdballs geschwebt hätten. — Und die Misere: da sie ihre Erde als eine unter anderen haben erkennen müssen, also als etwas kosmisch Belangloses" (M, S. 89). Dabei "war unsere von niemandem gestützte und vereinsamt in der unermeßlichen Schwärze des Himmels hängende Erde so ungewöhnlich, so ungewöhnlich schön und so ungewöhnlich trostlos wie nichts, was wir früher auf Erden gesehen hatten, und auch in der Erinnerung ist sie etwas auf atemberaubende Weise Unbekanntes" (M, S. 90). "Ich glaube, daß die räumliche Distanzierung von der Erde, die durch den Triumph der Technik möglich geworden ist, Millionen von Menschen eine Chance geschenkt hat, die bis heute nur diejenigen genossen hatten, die die 'Anstrengung des Begriffs' auf sich genommen hatten: nämlich die Chance der Abstraktion . . . Seit der Explosion der ersten Atombombe besteht die sehr reale Möglichkeit, daß wir unseren Erdball in eine tote Kugel verwandeln. Ist es nicht höchst sonderbar, . . . daß wir in derselben Epoche, in der wir fähig geworden sind, dieses Totsein herzustellen, auch fähig geworden sind, das Bild des toten Planeten mit eigenen Augen zu sehen?" (M, S. 66) Fernsehen wird beim Blick vom Mond zu einem Mittel besonderer Art. Mit ihm gelingt ein Ereignis in historisch neuer Qualität, eine sinnliche Selbstbegegnung der Menschheit bis hin zum äußersten Pol der eigenen Herstellungsfähigkeit. Die Bilder zeigen die Erde als Ganze in ihrer Verletzlichkeit, sie bieten die Möglichkeit zur Erweiterung der versagenden und begrenzten Vorstellungsfähigkeit, zur Entwicklung einer der Welt der Technik angemessenen Anschauung. Mit ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Bildern umstellt könnte das Unvorstellbare, in Annäherung, vorstellbar werden. ...Vorstellungserweiterung durch fiktive Bilder 1979, nach dem "Holocaust"-Film ergänzt Anders seine FernsehTheorie um einen weiteren Gesichtspunkt: Nicht nur die wirkliches Geschehen abbildenden Bilder könnten Realität vermitteln, sondern ebenso rein erfundene Bilder. "Die Lehre darf nicht wieder verlernt werden", erklärt er, "nur durch fictio kann das factum, nur durch Einzelfälle das Unabsehbare deutlich und unvergeßbar gemacht werden" (Ha, S. 181). Der, eine fiktive Geschichte erzählende Film habe die Reduktion der enormen Greuel der Massenvernichtung auf eine bloße Zahl rückgängig gemacht, und "die Ohren und die Augen und die Seelen" erreicht, die in 33 Jahren davor nicht erreicht wurden. "Die ausgedachte Figur eines einzigen Gefolterten, dessen (fingiertes) Leben wir kennen, und den wir ins Herz geschlossen haben, sagt über die Millionen mehr aus, als die Aufzählung von Millionen auch nur über einen Einzigen hätte aussagen können" (Ha, S. 187). Im "Holocaust"-Film gelang es, "die Ziffern in Menschen zurückzuverwandeln. Und zu zeigen, daß die sechs Millionen Vergasten sechs Millionen Einzelne gewesen sind" (Ha, S. 183). Das die Grenzen der Emotionen überschreitende Reale, die "Überschwelligkeit" der heutigen Welt, kann, erklärt Anders, "überhaupt erst durch das Bild . . . zu etwas geschichtlich Realem und Sichtbaren" (Ha, S. 200) werden. Um die Grenzen der Emotionen und der Wahrnehmung aufzuheben und um unsere Vorstellungsfähigkeit zu erweitern, benötigen wir Bilder, die wie "Gläser", die unauffaßbare Realität derart verkleinern und untertreiben, daß sie erfaßbar wird. Nicht nur zu "übertreiben in Richtung Wahrheit" sei ein notwendiges und sachgerechtes Vorgehen, sondern ebenso umgekehrt: zu "untertreiben in Richtung Wahrheit" (Ha, S. 203). Anhand der Schritte in Anders' Herangehen an Fernsehen wird deutlich, daß und wie er seine Forderung zur Ausbildung moralischer Phantasie selbst einlöst. Er versucht, das zwar geschaffene, aber unzulänglich angeeignete Gerät in seiner sozialen Bedeutung vorstellbar zu machen. Dabei geht er nicht vom Mensch zum Ding, vielmehr umgekehrt, vom Ding zum Mensch. Er fragt nicht, was er selbst oder ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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andere, warum und wie, mit dem Fernsehen machen, sondern er geht auf das Fernsehen selbst ein, fragt nach dessen innerer struktureller Besonderheit und von da aus nach deren Konsequenzen für uns Menschen. In seinem ersten prognostischen Zugang erkennt Anders, daß die vermittelnden Medien gerade nicht vermitteln, daß in ihnen kaum Möglichkeiten liegen, eine angemessene Vorstellung und einen angemessenen handelnden Bezug zur Wirklichkeit zu finden. Das Wirkliche wird mit Hilfe des angeblich Wirklichen selbst, die Welt unter ihrem Bilde zum Verschwinden gebracht. Ganz hat er damit aber die Dialektik der Bilder nicht erfaßt. Auf der Grundlage empirischer Beobachtungen revidiert und präzisiert Anders seinen Zugang. Er erkennt die erkenntnis- und handlungserweiternden Möglichkeiten der Bilder, daß sie — und nur sie — notwendige Anschauungen und Bezüge zur Realität tatsächlich vermitteln und somit auch zur Überwindimg des Gefälles beitragen können. Die Brüche in den Andersschen Entwürfen sind deutlich, aber sie gehen nicht wirklich tief. Es sind alleine Ergebniskorrekturen. Die innere Logik der den Analysen zugrundeliegenden Herangehensweise überzeugt, sie wird in den späteren Betrachtungen audi weiterhin angewendet. So zeigt sich in Anders' Analysen des Fernsehens in besonderer Weise, wie er der Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit der Bilder auf der Spur ist, wie er mit moralischer Phantasie die Dialektik der Technik und die Beziehungen von Menschen und Dingen, präziser: von Dingen und Menschen zu durchleuchten versucht. PROGNOSTISCHE ERKENNTNIS Anders7 Herangehensweise steht in engem Zusammenhang mit seinem Verständnis der heutigen gesellschaftlich-historischen Situation. Die menschliche Handlungsfähigkeit hat sich selbst übertroffen, Dinge sind hergestellt und herstellbar, die selbst zu einer Bedrohung geworden sind, zu einer Bedrohung des Ganzen. Darin sieht Anders eine kopernikanische Wende in der Geschichte des Menschen, für die symbolisch Hiroshima steht. Das grundlegende Problem der Menschen in dieser neuen Situation sieht er darin, ein angemessenes Verhältnis zu der geschaffenen Welt zu bekommen, was nichts anderes bedeutet, als ein angemessenes Verhältnis zu sich selbst. Er erkennt ein prometheisches Gefälle der menschlichen Handlungsfähigkeit, eine Diskrepanz, die die Beziehungen von Mensch und Welt ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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durchziehen. Anders begreift diese Situation als eine moralische, d. h. als eine defiziente, als eine, die eigentlich nicht sein dürfte, also als eine, die es zu überwinden gilt. Da er in ihr die Weiterexistenz des Menschen gefährdet sieht, ist sie der Angelpunkt von Anders' Denken. Von diesem äußersten Punkt aus also — dem möglich gewordenen Nicht-mehr-sein der Menschen — ist Anders' Herangehen bestimmt. Diese äußerste Möglichkeit verkörpert die Technik. Dem eisigen Schatten, den die Technik in die Zukunft wirft, versucht Anders sich theoretisch und praktisch zu stellen. Die Technik selbst versteht Anders bereits als das Problem. Mittel seien nicht mehr nur Mittel, vielmehr geronnene Handlungsmodi. Die Geräte, Maschinen und vernetzten Maschinensysteme von heute stellen keine Werkzeuge, keine Mittel zum Zweck mehr dar, sondern Dinge, in die dasjenige Handeln, welches dem Menschen mehr und mehr abhanden kommt, nun zukommt. Die Produkte sind "inkarnierte Handlungen". Oder wie Anders allgemein formuliert: die Technik ist zum Subjekt der Geschichte geworden. Den Ursprung dieser Subjektverkehrung lokalisiert Anders nirgends anders als im eigentlichen Subjekt, uns Menschen. "Was ich meine", betont er, "ist. . . daß wir — und unter 'wir' verstehe ich die Mehrzahl unserer in Industrieländern lebenden Zeitgenossen inclusive deren Staatsmännern — darauf verzichtet haben (oder uns zu diesem Verzicht haben zwingen lassen) uns selbst (oder die Nationen oder die Klassen oder die Menschheit) als die Subjekte der Geschichte zu betrachten, daß wir uns entthront haben (oder haben entthronen lassen) und an unseren Platz . . . ein einziges anderes Subjekt gesetzt haben: die Technik" (A2, S. 279). Gewiß hat dieser Subjekt-Verzicht ganz unterschiedliche Ursachen und Gründe. Die entscheidende Wurzel sieht Anders in der Diskrepanz. Darin, daß wir zu große Produkte bauen, für die wir nicht "gebaut" sind und mit denen wir nicht "mitgewachsen" sind, daß wir Dinge herstellen, die wir uns nicht mehr vorstellen können, daß wir herstellend über unseren eigenen Horizont hinausgehen, im Verhalten-zu aber im Innerhalb verbleiben. Mit einer derart monströs gewordenen Technik scheint das Subjekt Mensch tatsächlich an seine Grenzen gekommen. Daher fordert Anders "eine Kritik der Grenzen des Menschen, also nicht nur der Vernunft, sondern der Grenzen aller seiner Vermögen (der seiner Phantasie, seines Fühlens, seines Verantwortens usf.) . . . [Dies] scheint mir heute, da sein Produzieren alle Grenzen gesprengt zu haben scheint, und da diese spezielle GrenzARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Sprengung die noch immer bestehenden Grenzen der anderen Vermögen um so deutlicher sichtbar gemacht hat, geradezu das Desiderat. . . geworden zu sein . . . Die Grenzen verlangen, wirklich nachgezeichnet zu werden" (Ai, S. 18). Die einzige allgemeine Bestimmung des Menschen sieht Anders in dessen gesellschaftlicher Natur. Von einem solchen "Blanko-Scheck", den es auszufüllen gilt, geht Anders aus. Heute aber haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse derart verändert, bemerkt Anders, daß nun "die Alltagswelt, mit der Menschen zu tun haben, in erster Linie eine Ding- und Apparatewelt ist, in der es auch Mitmenschen gibt; nicht eine Menschenwelt, in der es auch Dinge gibt und Apparate" (A2, S. 60), und es nun Autos, Computer oder TV-Apparate sind, von denen Lebensstile und Umgangsformen primär bestimmt werden. Den "gesellschaftlichen Menschen", erklärt er, gibt es nicht mehr, sondern *nur den gesellschaftlichen Menschen innerhalb der Produktions- und Produktewelt" (A2, S. 261). Daher ist die Frage nach der Rolle des Menschen in einer Welt der Technik bzw. die Rolle der Technik in der menschlichen Lebenswelt, kurz: das Verhältnis von Menschen und Technik das zentrale Thema in Anders' Arbeiten. Die Ausgangspunkte von Anders' Analysen sind stets ganz konkret empirische Einzelphänomene des menschlichen Lebens. Diese versucht er dann aus ihrer Vermitteltheit mit der Welt der Technik heraus zu verstehen. In den Gegenständen von Anders' Arbeiten — aktuelle empirische Phänomene menschlicher Lebens- und Handlungsweisen — zeigt sich deren genuin psychologischer Charakter. Anders selbst betont die Nähe seiner Arbeiten zur Psychologie. "Mein Vater hatte noch das unselige Wort Tsychotechnik' geprägt, wenn er auch nicht wie seine Kollegen damit prahlte, entdeckt zu haben, daß die Seele technisch bearbeitet werden könne. Wir dagegen meinen, wenn wir von Technikpsychologie' sprechen, die Untersuchimg und Kritik des Einflusses, den die bestehende Technik auf den Menschen ausübt" (A2, S. 464). Im Herangehen folgt er in gewissem Sinne der phänomenologischen Maxime seines Doktorvaters Edmund Husserls, er geht "zu den Dingen selbst". In seinen Analysen geht er auf die Dinge ein, versucht deren Bedeutung zu erfassen, um von da aus mit prognostischem Blick die Veränderungen des Menschen begreifen zu können. Grundlage dieser Reflektionen sind empirische Beobachtungen, vor allem aber moralische Phantasie. ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Ein von Menschen gemachtes Produkt zu verstehen heißt, zurückgehen zu seinem Ursprung. Zu fragen und zu rekonstruieren, was das Subjekt, welches das Produkt geschaffen hat, ursprünglich mit ihm gemeint hat, für welche Zwecke das Mittel gedacht und hergestellt wurde und welche Bedeutung ihm nun zukommt. Produkte "sagen" etwas über den Herstellenden und über das, wozu es gebraucht werden kann. In ihnen drücken wir Menschen uns aus, sie können als "Ausdruck" aufgefaßt werden. Dieser ist oft nicht offensichtlich und unmittelbar zu verstehen, so daß erst eine Deutung die Bedeutung des Produktes erschließt. Die in der heutigen Zeit wesentlichen Produkte nun, bemerkt Anders, "sagen" nicht mehr, was sie sind, sie sind "ausdruckslos" (A2, S. 422). Weder zeigen sie etwas über das herstellende (allgemeine) Subjekt, noch etwas über ihre Bewandtnis, also wozu sie da sind. Und am wenigsten zeigen sie von dem, wie sie uns Menschen verändern. Genau das aber sei heute auf entscheidende Weise der Fall. Das Verhältnis von Menschen zu den von ihnen geschaffenen Geräten sieht Anders in einem grundlegenden Verwandlungsprozeß. "Präger und Geprägte sind ausgetauscht. Wenn es heute Prägende gibt, dann sind nicht wir es, die die Geräte prägen, sondern umgekehrt die Geräte, die uns prägen. Wir werden . . . deren. . . 'Ausdruck'" (A2, S. 424). Das nun aber nur festzustellen, erklärt Anders, genügt nicht. Rückverwandlung steht an. Erforderlich sei dafür vor allem die Ausbildung der Fähigkeit, in den Geräten von heute die Menschen von morgen zu erkennen. Daher geht Anders in seinen Analysen auf das Innere der Dinge ein und versucht mit moralischer Phantasie deren Tragweite bis in die letzte Konsequenz der Veränderung menschlicher Subjektivität auszuloten. Eine solche prognostische Erkenntnis, erklärt Anders, sei "nicht schwieriger als der Blick in die Vergangenheit, oft vielleicht sogar weniger schwierig" (A2, S. 429). Und in Anlehnung an Friedrich Schlegel, der Historiker "rückwärts gekehrte Propheten" genannt hatte, könnte man, schlägt er vor, derartige Prognostiker als "vorwärts gekehrte Historiker" bezeichnen. Anders' Interpretationen scheinen in einer Sprache der Bedingtheit des Menschen geschrieben, ihnen scheint die Auffassung einer technischen Determination des Menschen zugrundezuliegen. Genauer betrachtet aber zeigt sich, daß es sich um Analysen handelt, die gegen die Bedingtheit des Menschen geschrieben sind und sie gerade den Gegenpol zu Konzepten des technologischen Determinismus darstellen. Es sind Versuche, eine von uns Menschen zwar gemachte, aber ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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aus der Verfugung sich loslösende Technik wieder in den Griff zu bekommen, sie einzuholen. Durch die Vergegenwärtigung von Zukünftigem, durch die Analyse dessen was die Dinge mit uns machen, sollen die Dinge wieder zu etwas werden, mit denen wir etwas machen. So daß die Mittel wieder Mittel wären, Dinge, über die wir verfugen, allgemein nützlich fur Menschen. Anders' Denken ist auf menschliches Handeln und dessen Vergegenständlichungen im Hergestellten, auf menschliche Praxis bezogen. Deren fatalen Brüchen ist er auf der Spur. Um das Auseinanderfallende wieder aufeinander zu beziehen, versucht er in der Denkbewegung dem Hergestellten nachstellend dieses wieder vorstellbar zu machen, er versucht das "Unbewußte" und Ungewußte der Dinge in das menschliche Bewußtsein miteinzubeziehen.
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4 | Selbstverständigung in einer Welt der Technik
Psychologische Analysen der Beziehungen zwischen Mensch und Technik bewegen sich konzeptionell im Spannungsfeld zweier Pole. Einerseits haben sich "objektivistische" Denkweisen herausgebildet, die mit natur- bzw. technowissenschaftlichem Selbstverständnis psychische Phänomene beleuchten, und dabei in einer StimulusResponse-Terminologie (die eine Spielart des technologischen Determinismus darstellt) das Individuum als von der Technik bedingt auffassen, bzw. das Individuum selbst als Technologie, als ein informationsverarbeitendes System, betrachten. Andrerseits haben sich "subjektivistische" Denkweisen entfaltet, die sich vom naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Hauptströmungen der Psychologie lösen. Sie gehen vom Menschen als einem aktiven, handelnden Subjekt aus und fragen, was das Individuum mit den technischen Produkten macht. Auf der einen Seite wird das Individuum oder die Gemeinschaft fokusiert, wobei die Faktizität der Dinge unterbelichtet bleibt, auf der anderen Seite steht die Entwicklung der Dinge und deren kausale Wirkung auf Menschen im Zentrum, wobei die Möglichkeiten des Subjekts ihnen gegenüber ausgeblendet bleiben. Die "objektivistischen" Herangehensweisen bewegen sich in ihrer Auseinandersetzung mit Technik in relativ engen Grenzen. Die Ingenieurpsychologie konnte sich als ein auch heute verbreiteter Ansatz herausbilden. Sie beschränkt sich allerdings in ihrer Problemstellung, unter Hinzuziehung experimentell gewonnenen Wissens über die psychischen Fähigkeiten der Menschen und ihrer Grenzen, auf die Beteiligung an der Konstruktion und Gestaltung technologischer Produkte und Systeme. Die Wirkungsforschung demgegenüber beleuchtet die Effekte technologischer Produkte auf den Menschen, in ihrem Problemverständnis aber begrenzt sie sich auf die Untersuchung einfacher Reiz-Reaktions-Zusammenhänge. In der Wirkungsforschung und ihrer behavioristischen Theoriesprache, sowie in zugespitzter Form im derzeit in der Psychologie vorherrschenden Kognitivismus, zeigt sich das Problem, daß psychische Phänomene begrifflich und methodisch auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge reduziert werden. Die sozialen und technologischen Strukturen, in denen Menschen leben, erscheinen alleine als "Reiz", bzw. als "Input" und ihre ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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wirkliche, inhaltliche Bedeutung für das Individuum bleibt systematisch ausgeblendet Vor allem aufgrund einer derartig konzeptionellen "Weltlosigkeit" kann die Psychologie in ihren Hauptströmungen nicht zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit den individuellen und gesellschaftlichen Problemen, die sich in einer Welt der Technik stellen, finden. Die Psychoanalyse bewegt sich im Bereich "subjektivistiseher" Denkweisen. Sie bezieht den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem Menschen ihr Leben führen, in ihre Begrifflichkeit mit ein und erweitert das Verständnis der Bedeutung von Kultur und Technik. Sie schlägt vor, deren Erzeugung und Entwicklung auch vor dem Hintergrund psychodynamischer Prozesse zu interpretieren und sieht die von Menschen geschaffenen Produkte als produktiven aber auch destruktiven Ausdruck undurchschauter und unverarbeiteter innerer Konflikte und Widersprüche. Die Psychoanalyse greift die Probleme des "Prothesengottes", dem seine selbst erzeugten Organe zu schaffen machen, auf und entwickelt eine Begrifflichkeit, mit der sie die Probleme und Widersprüche der Technik erhellen will. Dabei bleibt aber zum einen das Verständnis des "Veräußerlichungsprozesses" abstrakt und die Frage ungeklärt, wie innerpsychische Konflikte über die heutigen hochkomplexen Herstellungsprozesse ihren Ausdruck in technischen Produkten finden könnten. Zum anderen bleibt der Einfluß der entwickelten Technologien und der geschaffenen widersprüchlichen Lebensstrukturen auf die "Innenwelt" der Menschen außerhalb des konzeptionellen Rahmens. So wird in der psychoanalytischen Perspektive der Zusammenhang von Subjekt und Welt zwar thematisiert, in der Begrifflichkeit aber bleibt es bei einer äußerlichen Gegenüberstellung, der innere Zusammenhang wird mit ihr nicht wirklich begreifbar und durchschaubar. Sozialkonstruktivistische Technikanalysen versuchen die Dichotomie von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt zu überwinden, und fragen, wie Menschen sich selbst und die technologische Welt, in der sie leben, beschreiben und verstehen. Dabei untersuchen sie die Bedeutung technologischer Entwicklungen für das sozialen Leben und für das individuelle Selbstverständnis und erkunden, wie diese Bedeutungen individuell und sozial konstruiert werden. In den Untersuchungen wird der Zusammenhang von individuellem Subjekt und technologischer Welt einerseits "subjektivistisch" gefaßt und ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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technologische Objekte erscheinen im Bezug zum Individuum alleine in ihrer subjektiven Bedeutung (Turkle), andrerseits wird aber auch auf "objektivistische" Art und Weise subjektives Erleben als unmittelbarer Ausdruck der sozial-technologischen Verhältnisse interpretiert (Gergen). Da in den Ansätzen jeweils der Gegenbegriff fehlt, einerseits ein Begriff der Realität der Welt/Technik, andrerseits eine Begriff der Realität des Subjekts, bleiben die Probleme, die Widersprüche und Paradoxe in der Beziehung zwischen Mensch und Technik konzeptionell ausgeblendet und nicht wirklich benennbar. Darin besteht der gravierende Mangel sozialkonstruktivistischer Ansätze: Da die Bedeutungskonstruktionen nur unmittelbar aus sich selbst heraus verstanden werden, kann alleine das Konstruierte, nicht aber das NichtKonstruierte, aber Zu-Konstruierende, nur das Gesagte und Sagbare, nicht aber das Ungesagte und Unsagbare, ins Blickfeld kommen. So kann auch hier kein wirklich "welthaltiges" Verständnis des Zusammenhanges von Subjekt und Technik entwickelt werden. Kritische Psychologie stellt sich die Frage nach der Begründung einer psychologischen Wissenschaftssprache und versucht auf dieser grundbegrifflichen Ebene ein Verständnis des inneren Zusammenhanges von individuellem Subjekt und sozialer Welt zu entwickeln. In historischer Analyse wird von Holzkamp gezeigt, wie sich in der Evolution aus der Fähigkeit zur Manipulation von Gegenständen im TierMensch-Übergangsfeld die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Herstellung und zum Gebrauch von Mitteln herausbildet. Die evolutionäre Entfaltung des psychischen Vermögens zur Herstellung von Mitteln bildet die Grundlage der Entstehung des gesellschaftlich-historischen Prozesses und der gesellschaftlichen Weise des menschlichen Lebens miteinander. Dieser entstehende gesellschaftliche Prozeß wirkt, aufgrund der dadurch möglichen verbesserten Vorsorge und Absicherung des Lebens, noch auf die Ausformung der menschlichen Natur zurück und begründet die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Durch die gesellschaftliche Lebensform kann sich andrerseits auch ein grundlegend verändertes Verhältnis zur Welt herausbilden. Menschen leben nicht mehr auf unmittelbare Weise in einer natürlichen Umwelt, deren Bedeutungen von den Lebewesen als Aktivitätsdeterminaten umgesetzt werden, sondern vermittelt in einer gesellschaftlichen Welt, deren Bedeutungen fur Menschen Handlungsmöglichkeiten darstellen, sie sich also in ihrem Handeln zu ihrer Welt bewußt verhalten können. In dieser besonderen Beziehungsform ist das unhintergehbare ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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SELBSTVERSTÄNDIGUNG IN EINER WELT DER TECHNIK
Subjektsein des Menschen begründet. Egal wie eingeschränkt die Lebensbedingungen auch sein mögen, das individuelle Subjekt steht zu ihnen in einer Möglichkeitsbeziehung, es kann, wie begrenzt auch immer, sich zu ihnen verhalten. Die Lebensbedingungen erscheinen dem Individuum nicht unmittelbar, sondern vermittelt über die symbolisch (in Denk- und Sprachformen) repräsentierten Bedeutungsstrukturen, und da diese den Menschen als gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, stellen sie nicht die Bedingungen, sondern die Gründe fur das individuelle Befinden und Handeln dar. Menschliches Handeln sieht Holzkamp also weder als unmittelbar bedingt, noch als bloßes Resultat subjektiver Bedeutungskonstruktionen, sondern als in den Lebensbedingungen begründet Mit dem Konzept der subjektiven Handlungsgründe und dem Bedeutungskonzept versucht er das psychologische Verständnis der Vermittlung von Subjekt und Welt zu fundieren. Dabei entwickelt er in seinem Bedeutungskonzept ein Rahmenverständnis der von Menschen geschaffenen Produkte. In der evolutionären Entfaltung des Psychischen, stellt er fest, konnte sich, im Übergang vom Tierischen zum Menschlichen, in einer Zweck-MittelUmkehrung die menschliche Fähigkeit zur Herstellung und zum Gebrauch von Werkzeugen und Mitteln herausbilden. Mit dieser Zweck-Mittel-Umkehrung entstand eine entscheidende Veränderung der Bedeutung der Mittel. Ihr wesentliches Kennzeichen besteht nun in ihrem verallgemeinerten Zweck, in ihrem Nutzen im Leben der Gemeinschaft. Alleine aufgrund dieser Nützlichkeit der Mittel fur das Zusammenleben konnte in der Evolution diese neue — menschliche — Form der Mittelherstellung entstehen. Eine Form, die sich durch Vorsorge und Bedrohungsabwehr auszeichnet und dadurch eine neue Qualität der Absicherung des Lebens der Gemeinschaft und der Erweiterung der Verfügung über Natur und Lebenswelt ermöglicht. In den geschaffenen Mitteln spiegeln sich die Bedürfnisse, Vorstellungen und Erfahrungen des Menschen, sie sind Vergegenständlichungen seiner Selbst Da die hergestellten Dinge stets den Bezug zu anderen verkörpern, sind sie soziale Dinge. Und in dem Maße, wie mit der Entfaltung kultureller und gesellschaftlicher Lebensweisen das menschliche Herstellen in Form gesellschaftlicher Arbeit bewerkstelligt wird, werden die hergestellten Dinge zu gesellschaftlichen Dingen. Neben ihrem Hergestelltsein ist ein zentraler Aspekt der Bedeutung der Mittel ihr verallgemeinerter Zweck, ihre Brauchbarkeit und Nützlichkeit im menschlichen Miteinander. Die hergestellten ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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Dinge selbst erscheinen so als unproblematische Dinge, problematisch alleine, was individuell und gesellschaftlich mit ihnen gemacht wird, also in welcher Weise sie gebraucht und verwendet werden. In seiner historischen Analyse entfaltet Holzkamp ein präzises Verständnis des Zusammenhanges von individuellem Subjekt und gesellschaftlicher Welt, und er entwickelt in seinem Bedeutungskonzept — in dem allerdings die systematische Analyse der "Mittel" in der Entstehungsphase des Menschen endet — die Grundlagen fur einen psychologischen Begriff der Technik. Dabei schreibt er mit seiner Rekonstruktion der hergestellten Dinge als Mittel zum verallgemeinerten Zweck eine historisch-empirische Begründung der instrumentalen Technikauffassung. Seine Grundbegriffe gehen aber über ein Verständnis der reinen Nützlichkeit der Dinge hinaus und eröffnen auch den Blick auf die Problematik und Zwiespältigkeit der hergestellten Dinge selbst. Wenn die Bedeutung der Werkzeuge und Mittel durch die übergeordneten gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge und ZielMittel-Konstellationen wesentlich bestimmt wird, und diese gesellschaftlichen Handlungszusammenhänge im historischen Prozeß einen widersprüchlichen Charakter annehmen, dann muß diese Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse auch in den geschaffenen Produkten ihren Ausdruck finden. Wenn Mittel als gesellschaftliche Dinge begriffen werden, dann ist damit, ohne daß dies von Holzkamp weiter ausgeführt wird, die Grundlage zur Einsicht in die Brüchigkeit der Dinge selbst gelegt, und daß in ihnen nicht nur nützliche, verfiigungserweiternde, sondern — intendiert oder auch unter der Hand — einschränkend-disziplinierende, politischideologische "Qualitäten" vergegenständlicht sein können. Zudem eröffnet Holzkamps Begriff der Kausalbedeutungen und der relationalen Bedeutungsstrukturen den Blick auf eine weitere mögliche Problematik der geschaffenen Produkte und Strukturen selbst. Menschliches Herstellen zeichnet sich von Anfang an dadurch aus, daß zur Schaffung geeigneter Lebensbedingungen, durch eingreifend-verändernde Aneignung der äußeren Natur, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge geschaffen werden. Kausalität wird, mit der menschlichen Herstellungsfähigkeit, von einer reinen Naturtatsache zu einem menschlichen Produkt, und so enthalten die menschlichen Lebensstrukturen verschiedene Formen der Kausalität. Diese geschaffenen Kausalzusammenhänge und hervorgerufenen Ursache-Wirkungs-Ketten zeichnen sich zwangsläufig durch eine Unbestimmtheit und Unsicherheit ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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SELBSTVERSTÄNDIGUNG IN EINER WELT DER TECHNIK
aus und können zu ungeplanten und unvorhergesehenen Veränderungen der ökologischen und sozialen Lebensverhältnisse fuhren. Vor diesem gedanklichen Hintergrund greift Holzkamp die Problematik der heutigen gravierenden ökologischen Veränderungen auf und fragt, inwieweit in unserer Zeit durch die technologischen Eingriffe in die Naturprozesse Kausalzusammenhänge geschaffen werden, deren Wirkungen in Bereiche hineinreichen, in denen sie sich der menschlichen Einflußnahme weitgehend entziehen, und damit Bedingungen geschaffen werden, deren Bedeutung nicht einfach als Prämissen in die subjektiven Handlungszusammenhänge eingehen können, sondern diese sich im Bereich des "Unsagbaren" und der Grenzen der menschlichen Handlungsfähigkeit befinden. Günther Anders' Philosophie der Diskrepanz setzt in diesem Bereich geschaffener Bedingungen, die keine Bedeutung mehr für Menschen darstellen, an der Problematik einer menschliche Subjektivität negierenden Sprachlosigkeit im Verhältnis zur technologischen Entwicklung, an. Die Besonderheit moderner Technik liegt darin, zeigt Anders, daß sie nicht mehr bloß "Mittel" ist und es alleine auf die Art und Weise ihres Gebrauchs ankommt, sondern daß sie selbst einen eigenen Herrschaftscharakter entfaltet. Die Voraussetzung dafür sieht er vor allem in einer Diskrepanz, in einem prometheischen Gefalle zwischen menschlicher Herstellungsfähigkeit einerseits und Vorstellungs- und Sprachfähigkeit andrerseits, darin, daß wir Menschen als produzierende Wesen über uns selbst hinauswachsen und im Verhältnis zu dem ungeheuren Leistungsvermögen, welches die geschaffenen Produkte verkörpern, die anderen menschlichen Vermögen schlicht auf der Strecke bleiben. Aufgrund unterschiedlicher Grenzen der Natur psychischer Fähigkeiten klaffen Produktion und Imagination in den heute geschaffenen enormen Geräten, Maschinen und untereinander verflochtenen Maschinennetzen auseinander, und so realisiert sich eine immanente Transzendenz in der Praxis, uns Menschen als Herstellende kommen wir als Wahrnehmende, als Fühlende und als Vorstellende nicht mehr nach. So entsteht, vor allem auch aufgrund der Grenzen der Sprache selbst, die eben nicht für die Enormität des Gemachten "gemacht" ist, eine gesellschaftlich geschaffene, aber nicht in praktischen Begriffen gefaßte und aufgefaßte und somit eine aus dem menschlich-gesellschaftlichen Handlungs- und Verfugungszusammenhang sich herauslösende monströse Technik.
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Nicht in Personen sondern, andersrum, in die Dinge denkt Anders sich hinein und versucht von dort aus ein Verständnis der zukünftigen individuellen und kollektiven Veränderungen des Menschen zu gewinnen. Ausgangspunkt seiner Reflexionen sind konkrete "Gelegenheiten", empirische Phänomene im Verhältnis von Mensch und Technik, wobei er in der Analyse dann die "sachliche" Situation und die den Dingen innewohnenden Maximen und geheimen Handlungsmodi zu durchschauen versucht. Er fragt nach der Konsequenz, der Konsequenz, der Konsequenz . . . und versucht die Dinge bis zu ihrem Ende zu denken. Um der Technik ihr Fremdsein zu nehmen, um die Diskrepanz, die Klüfte und Widersprüche von Praxis und Theorie, von geschaffener Wirklichkeit und sprachlich-begrifflicher, handelnder Erfassung aufzuheben, versucht Anders mit dem Blick in das "Innenleben" der Apparate prognostisch deren soziale Bedeutung zur Sprache zu bringen. Anders' Konzeption liegt, eine Gemeinsamkeit mit Holzkamps Ansatz, ein Begriff des inneren Zusammenhanges von Mensch und Welt zugrunde, wodurch einerseits die Risse und Brüche, die Probleme in diesem Zusammenhang erst wirklich erkannt und thematisiert werden können, und es andrerseits in der Analyse gerade darum geht, diese Vermittlungszusammenhänge und das konkrete Ineinander von Subjekt und Lebenswirklichkeit zu erhellen. Während Holzkamp dabei die sozialen und gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhänge, in denen es auch technische Dinge gibt, konzeptionell faßbar zu machen sucht, fokusiert Anders — letztlich aus moralischen Gründen — die technischen Vermittlungszusammenhänge, die natürlich nicht völlig losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden können. Daß die Bedeutung der technischen Wirklichkeit sozial konstruiert wird, würde Anders nicht bestreiten. Aber er sieht gerade in der Unzulänglichkeit und Brüchigkeit dieser sozialen Konstruktion der Technik das entscheidende Problem. Daher überschreitet Anders mit seinem Zugang die sozial-konstruktivistische Perspektive und fragt nach der wirklichen, objektiven Bedeutung der Dinge. Andrerseits aber könnte Anders' Ansatz auch nicht der "objektivistischen" Seite zugeordnet oder als ein Ansatz des technologischen Determinismus verstanden werden. Zwar spricht Anders von "Technokratie" und "von der Technik geprägten Menschen", aber eben als von faktischen Zuständen, die es zu überwinden gilt. Anders' Versuch der prognostischen Vergegenwärtigung der Veränderungen der Menschen durch Technik ist nichts ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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anderes als ein Schritt gegen technische Determiniertheit. Die "Produktionen" erfordern einen prognostischen Blick, weil sie zwar hergestellt, aber ihre Folgen fur die Menschen nicht vorgestellt sind. So sind Anders' Analysen ein Versuch eine Basis zu gewinnen, von der aus sich das Subjekt wieder bewußt zur Technik verhalten kann. Prognostische Interpretationen können zwangsläufig nicht im Begründungsdiskurs geführt werden. Begründungen sind grundsätzlich individuell, Gründe immer "je-meine" Gründe und sie beziehen sich auf aktuelles konkretes Handeln. Mit der Beschreibung zukünftiger Wirkungen von Dingen auf die menschliche Handlungsfähigkeit kann zwar aufgezeigt werden, wie die individuellen Handlungsmöglichkeiten sich verändern, wie Handlungsräume sich erweitern oder verengen und es kann gezeigt werden, wie, durch die Umgestaltung der Welt, wir Menschen uns auch selbst verwandeln. Derartige Untersuchungen aber bleiben, so konkret sie auch erscheinen mögen, grundsätzlich abstrakt, losgelöst vom individuellen Subjekt und der Frage, wie "je-ich" mich tatsächlich gegenüber den Wirkungen der Apparate verhalten werde, was das Subjekt tatsächlich mit den Dingen macht oder machen wird. Hier zeigen sich nun, wenn man davon ausgeht, daß die Psychologie eigentlich erst da beginnt, wo nicht über das individuelle Subjekt hinweggegangen wird, sondern dessen Erfahrung und Handeln im Zentrum steht, die psychologischen Grenzen von Anders' Befunden. Anders beschreibt zwar die Veränderungen menschlicher Subjektivität in einer Welt der Technik, sagt damit aber nichts über die konkreten Beziehungen des individuellen Subjekts zu den Produkten aus. Seine Analysen setzen zwar "unten", an ganz konkreten empirischen Phänomenen menschlicher Lebenspraxis, an, in der weiteren Analyse dann aber geht er von "oben" nach "vorn" und kann dabei nie tatsächlich "unten" beim psychischen Erleben und Handeln des Individuums, bei den subjektiven Handlungsgründen der einzelnen Person ankommen. Diese können nur von "unten" nach "oben", ausgehend von unmittelbaren subjektiven Erfahrungen und deren detaillierter empirischer Erforschung, verallgemeinernd angemessen erfaßt werden. Die konkrete Beschreibung psychischer Realitäten des individuellen Subjekts ist nun aber auch nicht Anders' zentrales Anliegen. Ihm geht es um die Überwindung fataler Klüfte zwischen Subjekt und geschaffener Welt. Daher fragt er nach der Bedeutung der technologischen WzrJdichkeit und deren psychologischen Konseguenzen. Seine ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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prognostischen Interpretationen der Veränderungen menschlicher Subjektivität sind Beschreibungen möglicher, aber nicht tatsächlicher psychischer Befindlichkeiten und Handlungsweisen. Es sind AntiModelle, Warnbilder, mit der Absicht ausgestellt, daß sie nicht Realität werden. Auch wenn sie im nachhinein durchaus als Realitätsbeschreibungen erscheinen mögen. So sind Anders' Analysen der Beziehungsformen und Umgangsweisen, in die die Geräte und Maschinen die Menschen stellen und seine Beschreibungen der Veränderung menschlicher Subjektivität im Weltzustand Technik, Provokationen, zur Veränderung menschlich-unmenschlicher Veränderungen. Da es in ihnen letztlich darum geht, gegenüber einer zum "Subjekt" gewordenen Technik, den Menschen wieder als das eigentliche Subjekt und die verfugende Instanz über die geschaffenen Lebensverhältnisse durchzusetzen, zeigt sich in der Herangehensweise der genuin subjektwissenschaftliche Charakter von Anders' Philosophie der Diskrepanz. Seine Denkweise steht, obwohl nicht im Begründungsdiskurs geführt, keineswegs im Widerspruch zu einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts. Anders' Herangehensweise mag auf den ersten Blick abstrakt und überheblich erscheinen, als ein Konzept über Menschen hinweg. Die nähere Betrachtung aber zeigt, daß es nicht um Kontrolle und Reglementierung von Menschen geht, sondern umgekehrt, um die Kontrolle über die Lebensbedingungen, um die Verfügung über Technik. Es ist ein Denkweg, dessen Überzeugungskraft gerade auch darin besteht, daß er selbst bereits der erste Schritt von Widerstand und Aktion darstellt: Widerstand gegen eine entwürdigende Selbstauslieferung und ein entwürdigendes Ausgeliefertsein an die produzierte Wirklichkeit und Aktion, in der gerade durch die Analyse des "Innenlebens" der Apparate- und Maschinenwirklichkeit, Menschen wieder an die erste Stelle gestellt werden. Die psychologische Bedeutung von Anders' Analysen zeigt sich vor allem darin, daß in ihnen die Interpretation menschlicher Handlungsfähigkeit und deren Grenzen im Zentrum steht. Dazu problematisiert er die instrumentale Technikauffassung und entwickelt eine fundierte Kritik der Technik. Der zentrale Stellenwert von Anders' Konzept liegt aber weniger in der Kritik des Zweck-Mittel-Begriffs und der instrumentalen Vorstellung der Technik, als vielmehr darin, aus dieser Kritik und der Einsicht in ein problematisches Verhältnis von Mensch und Technik, eine in sich konsistente, überzeugende Herangehensweise ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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entwickelt zu haben — gegen eine fatale Verkehrung von Zweck und Mittel, von Mensch und Technik. Dabei präzisiert Anders die Einsicht, daß menschliches Handeln alleine aus dem Vermittlungszusammenhang von Subjekt und Gesellschaft heraus angemessen verstanden werden kann, dahingehend, daß sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen die Produkte der Technik zu entscheidenden Bedingungen des Handelns herausgebildet haben. Menschliches Handeln wäre also vor allem vor dem Hintergrund der Technik zu interpretieren und die Frage nach den Beziehungen von Mensch und Technik müßte zur Grundfrage einer heutigen Wissenschaft vom Menschen werden. Ausgehend von einem prometheischen Gefälle zwischen Herstellen und Vorstellen, von einer immanenten Transzendenz in der gesellschaftlich-technischen Lebenspraxis, faßt Anders in seinen Analysen den Gegenstand in seiner Sinnlichkeit und Wirklichkeit, subjektiv dadurch, daß er sich ihm, aufgrund der " Übersinnlichkeit" heutiger vergegenständlichter Praxis, objektiv, in der "Anschauung" und Vorstellung annähert. Wirklich sinnliche Erkenntnis wird für ihn zu prognostischer Erkenntnis, Darin unterscheidet er sich von bisherigen subjektwissenschaftlichen Konzepten, aber genau darin besteht eine erforderliche und überzeugende Präzisierung. In dieser konsequent "objektiven" Annäherung zeigen sich andrerseits aber auch die Grenzen von Anders' Herangehensweise. In der Fokussierung des "Innenlebens" der Apparate und der zukünftigen Veränderungen menschlichen Handelns bleiben die real-gegenwärtigen, aktual-empirischen, individuellen und sozialen Praktiken des Umgangs mit den Dingen ausgeblendet. Anders versucht die möglichen psychischen Folgen des Hergestellten vorstellbar zu machen, er fragt nach dem "Ausdruck" der technischen Produktion, um so eine Basis eines bewußten Verhaltens zu den Dingen zu entwickeln. Die Frage aber nach den konkreten Umgangsweisen des Subjekts mit den Dingen, was mit ihnen warum gemacht wird, die Analyse konkreter individueller und gesellschaftlicher Vermittlungsprozesse der Beziehung zwischen Mensch und Technik liegt außerhalb von Anders' Untersuchungshorizont. Obwohl es ihm letztlich um die Person geht und um deren individuelles Handeln (und seine Texte daher auch durchweg Handlungsprovokationen darstellen), geht er in seinen Analysen gewissermaßen sofort von "Null auf Hundert", gleich auf die Ebene der Dinge, der technologischen Strukturen und deren Konsequenzen, und überspringt dabei die Ebene der konkreten menschlichen Praktiken. Anders entfaltet in seinen Analysen eine sehr ARGUMENT-SONDERBAND NEUE FOLGE AS 262
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zentrierte Sicht, die, weil er nach einem kurzen Bezug zur konkreten "Gelegenheit" sofort auf die Ebene der Dinge und der Entwicklung von Interpretation und von "Warnbildern" springt, immer auch abstrakt bleibt. So kann mit moralischer Phantasie und einer prognostischen Herangehensweise die Forderung zur praktischen Vermittlung von Vorstellung und Herstellung, von Theorie und Praxis, von Mensch und Technik nur teilweise eingelöst werden. Für eine subjektwissenschaftliche Technikpsychologie stellt sich in Zukunft die Frage nach der Entwicklung von Herangehensweisen, die konzeptionell eine zweiseitige Annäherung an die Beziehungen von Mensch und Technik ermöglichen: Einerseits von "oben", aus "objektiver" Perspektive, durch das Hineindenken in die Wirklichkeit der Dinge selbst, andrerseits aber auch von "unten", aus "subjektiver" Perspektive, durch das Hineindenken in die konkreten Probleme, Erfahrungen, Handlungsweisen und Strategien individueller Subjekte. Auf grundbegrifflicher Ebene stellt sich diese Frage vor allem auch beim Verständnis der Bedeutung der geschaffenen Lebensbedingungen. Das Verständnis müßte deren subjektive, aber auch deren objektive Dimension erfassen, wobei die objektive Dimension derart präzisiert und erweitert werden müßte, daß nicht nur die Widersprüche und die Macht sozialer und gesellschaftlicher, sondern auch der technologischen Strukturen analytisch erfaßt und die "geheimen Maximen" der Dinge und das "Innenleben" der Apparate ins Blickfeld kommen kann. Im konkreten empirischen Vorgehen stellt sich die Frage nach einer zweiseitigen Annäherung auf der deskriptiven Zugangsebene, bei der Gewinnung von Problembeschreibungen menschlichen Befindens und Handelns in technologischer Praxis, aber auch auf der konstruktiven Zugangsebene, bei der Interpretation der beschriebenen Phänomene. Vor allem in der Interpretation müßte ein zweiseitiges, "technikhaltiges" Verständnis der Bedeutungen zum Tragen kommen, so daß dichte Beschreibungen menschlichen Handelns in einer Welt der Technik möglich werden, in denen nicht nur das Gesagte und Sagbare, sondern auch das Ungesagte und Unsagbare der Dinge zur Sprache käme.
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Literatur
Arbeiten, auf die wiederholt Bezug genommen wird, werden mit folgenden Abkürzungen zitiert: Ai
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Eine Soziologie für alle Der aktive Text Eine Soziologie für Frauen
Argument Sonderband Neue Folge 235 Mit einem Vorwort von Frigga Haug ISBN 3-88619-235-9 256 Seiten. 39,80 DM
Die Analysen der kanadischen Soziologin Dorothy Smith, einer der führenden feministischen Denkerinnen Nordamerikas, sind Bausteine für die Entwicklung einer anderen Soziologie. Im Zentrum dieser Soziologie für Frauen steht der »aktive Text«: Jenseits unseres unmittelbaren Wissens besteht Welt in unserem Bewusstsein aus TextRealitäten. An unzähligen Fäden sind wir durch solche Texte in Gesellschaft eingesponnen, dass wir sie als selbstverständliche Bestandteile unseres Daseins akzeptieren und nicht als Mittel von Institutionen, Bürokratien, Organisationen begreifen, um unser Bewusstsein zu strukturieren, unsere Handlungen zu regulieren. In einzelnen Fallstudien führt Dorothy Smith überzeugend vor, wie Psychiatrisierung, Medikalisierung, Kriminalisierung, Normalisierungsprozesse vorgenommen werden. Teilweise erinnern ihre Analysen und Zugriffsweisen an Michel Foucault, mit einem entscheidenden Unterschied: Smith begreift die vorhandenen Machtstrukturen nicht als Gesellschaft an sich, sondern als Zeugnisse einer entfremdeten Gesellschaft, die vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss.
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