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German Pages 208 [206] Year 2015
Claudius Müller
Den Religionen auf der Spur Die Welt des Glaubens in 26 Objekten
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Verlag Philipp von Zabern ist ein Imprint der WBG. © 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Dietlind Grüne, Mannheim Satz: Melanie Jungels, scancomp GmbH, Wiesbaden Einbandabbildung: Guanyin © Museum Fünf Kontinente, Foto: Swantje Autrum-Mulzer. Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-4555-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-4902-4 eBook (epub): 978-3-8053-4909-3
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Inhalt 7
Einleitung
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Die Welt an einem Angelhaken: Ein hawaiianischer Schöpfungsmythos
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Die Toten vergessen – ein langer Abschied
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Die Trommelreise des Schamanen
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Die Hand der Fatima
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Das Universum auf der Drachenrobe
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Huckepackreiten in Afrika
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Die Sonne im Schnabel des Raben
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Die Maya und der Tod
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Auf Blumenpfaden ins Paradies: Ein muslimisches Heiligengrab
80
Der Kosmos des Buddha des unermesslichen Lichtes
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Der vielgestaltige Gott Vishnu
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Der Blick in die Zukunft
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Dämonen am Amazonas
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Begegnungen am Dach der Welt
115
Die Kunst des Brauens: Ein Bierkessel aus Afrika
123
Brautschmuck aus dem Jemen
5
131
Tanz auf dem Dach der Welt
138
Der Dolch als Lebensbegleiter
145
Die philippinische Passion des Hauptmanns Longinus
153
Reisstampfen auf Bali
160
Guanyin: Gottheit der grenzenlosen Güte
167
Die heiligen Pfade der Ahnen
175
Vom Bild zur Schrift
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Das Kreuz der Nestorianer: Eine unverhoffte Begegnung an der Seidenstraße
190
Blickkontakt mit einer äthiopischen Madonna
197
Vielfalt und Einheit – Spurensuche
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Abbildungsnachweis
Einleitung
R
eligion begleitet unseren Alltag „von der Wiege bis zur Bahre“, wie es leicht antiquiert, doch anschaulich heißt. Dass sich Religion nicht auf ein Sonntagsvergnügen reduzieren lässt, ist uns im Allgemeinen sehr wohl bewusst. Doch ein so eingängiges Bild täuscht leicht über die Vielfalt und Vielschichtigkeit religiöser Traditionen hinweg, die mit dem Totenkult verbunden sind und weit über die 2000 Jahre des viel beschworenen christlichen Abendlandes und seine Grenzen hinausreichen. So gehen das Christentum wie auch Islam und Judentum ihrer historischen Herkunft nach auf religiöse Strömungen des Vorderen Orients zurück, in denen sich immer wieder Gemeinsamkeiten und Überschneidungen finden. Sie teilen also nicht nur einen Fundus von gemeinsamen, älteren Glaubensvorstellungen, sondern standen zum Teil über Jahrtausende hinweg miteinander im Kontakt, der wechselseitige Einflüsse ermöglichte und förderte. Nicht unähnlich der Entwicklung dieser drei Religionen ist etwa das historische Verhältnis zwischen Hinduismus und Buddhismus, die sich seit dem 2. und 1. vorchristlichen Jahrtausend in ihrem nordindischen Herkunftsgebiet herausgebildet haben. Ihre Entwicklung ist geprägt von Konflikten, der Tradierung früherer Glaubensvorstellungen und ihrer Umdeutung in neue Kontexte. Diese sogenannten Hochreligionen zeigen vergleichbare Entwicklungen und teilen äußerlich ähnliche religiöse Grundkategorien, wie den Glauben an ein höchstes Wesen oder letztes Ziel der menschlichen Existenz, die Berufung auf kanonische heilige Schriften und sind häufig auf der Basis eines etablierten Priesterstandes organisiert. Aus späterer Sicht erwecken sie – nicht nur für ihre Anhänger – das Bild eines in sich geschlossenen Glaubenssystems, das häufig den Blick auf ihre immer wieder bezeugte Wandelbarkeit verstellt, und ihre Fähigkeit sowie Bereitschaft, sich verschiedenen, von außen kommenden Einflüssen zu öffnen. Veränderungen der erwähnten Hochreligionen, deren Entwicklung durch schriftliche Quellen belegbar ist, lassen sich im großen histori7
schen Kontext und in der Analyse von Fallstudien verfolgen. Schwieriger hingegen ist es, die frühe Entwicklung und konkret kaum belegbare Geschichte von mündlich tradierten Religionen nachzuvollziehen. Ihre ungeheure Erscheinungsvielfalt ist durch überall anzutreffende Grundvorstellungen bezeugt wie die Beseeltheit der Natur und von natürlichen Erscheinungen, den Glauben an kosmische, übermenschliche Einflüsse und an außergewöhnliche Kräfte sowie deren Beeinflussbarkeit durch magische Praktiken. Was ihnen allen und damit Religionen in aller Welt gemeinsam ist, drückt sich in der lateinischen Wurzel des Begriffs religio, „Gebundenheit“, aus: Es ist der Glaube, von höheren Mächten „abhängig“ zu sein, was nicht zugleich bedeutet, ihnen „unterworfen“ zu sein. In der gemeinsamen Basis von Religion und den zahlreichen, historisch belegten oder auch nur vermuteten Kontakten untereinander liegt die Herausforderung, einzelne Spuren in Gegenständen, Handlungen oder Vorstellungen zu erkennen. Die sechsundzwanzig Einzelobjekte, die im Folgenden jedes für sich nach diesen Kriterien betrachtet werden, stellen scheinbar eine verschwindend geringe Auswahl dar, zu gering, um generelle Aussagen treffen zu können. Was sollte schon ein alltäglicher Gebrauchsgegenstand wie ein Angelhaken von einer Insel der Südsee über die Entstehung der Welt aussagen? Was kann ein Brautschmuck für seine muslimische Trägerin bedeuten, dessen Dekor frühe byzantinische und christliche Elemente der italienischen Renaissance enthält und von einem jüdischen Handwerker gefertigt wurde? Und warum glauben christliche Missionare des 17. und 18. Jahrhunderts in der chinesisch-buddhistischen Gottheit Guanyin eine Verkörperung der heiligen Maria zu erkennen, wenngleich beide aus gänzlich unterschiedlichen religiösen Welten stammen? Den einschlägigen Untersuchungen der Ethnologie verdanken wir eine große Fülle von Antworten auf solche Fragen nach religiösen Zusammenhängen. Wie weit sich allerdings solche Fragen nach möglichen, auch historisch belegbaren Kontakten zwischen den Kulturen, Ausmaß und Abfolge gegenseitiger Beeinflussungen und daraus bewirkter Veränderungen schlüssig beantworten lassen, ist schwer zu entscheiden. Doch kann die Betrachtung eines einzelnen Gegenstandes sehr wohl 8
hilfreich für das Verständnis solcher Prozesse sein und diese in vielen Fällen durchaus bestätigen. Spuren religiöser Einflüsse, die sich über lange Zeiten übereinandergelegt, gleichsam „abgelagert“ haben, öffnen den Weg zu möglichen Antworten. Die in der Folge vorgestellten Gegenstände sollen als Beispiele aus der Vielfalt religiöser Erfahrungen dienen, die sich an dezidierten Kultobjekten, aber auch einfach an Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs niedergeschlagen haben. Letztlich gilt es, den Reiz einer weiterführenden, eigenen Spurensuche zu wecken, also selbst möglichen Verbindungen nachzugehen und tatsächliche Übereinstimmungen zu entdecken. Die Suche nach solchem „Anschauungsmaterial“ ist einfach. Es findet sich etwa in Hülle und Fülle in den vielen, hochrangigen völkerkundlichen Sammlungen Deutschlands, die auf frühe Sammlungen von Herrscherhäusern und seit dem 18. Jahrhundert die Bestände von Wissenschaftlern und Reisenden zurückgehen, die sich den Anfängen der menschlichen Kultur und damit auch der Religionen gewidmet hatten. Denn immer wieder sind Kulturen aufeinandergestoßen, haben sich über Handel und Kriege Kenntnisse anderer Völker verbreitet. Über solche Auseinandersetzungen sind alte Religionen untergegangen und zugleich neue entstanden. Das uns „nächste“ Beispiel begann vor 2000 Jahren: Eine kleine, vorderorientalische Sekte, die gleichsam aus dem Nichts auftauchte, das Christentum, brachte in wenigen Jahrhunderten nicht nur die feste politische Ordnung des Römischen Reiches ins Wanken, sondern löschte auch viele Züge der über ein Jahrtausend vorherrschenden Philosophie und Religion der Antike aus, indem es ihr Erbe übernahm. Seine Spuren sind allenthalben bis heute zu erkennen, von der „Lateinschrift“ über den Karneval, der auf das römische Fest der Saturnalien zurückgeht, oder einen alltäglichen Begriff wie „Religion“ und unzählige andere. Es ist reizvoll, Spuren nachzugehen und zu versuchen, sie wie Botschaften aus einer anderen Welt zu entschlüsseln. Oft sind sie selbst das Rätsel, doch sicher ist, dass alle Spuren, auch auf Umwegen, zu Zielen führen. 9
Die Welt an einem Angelhaken: Ein hawaiianischer Schöpfungsmythos
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er französische Schriftsteller und Philosoph Paul Valéry erzählt, dass er einmal bei einem Spaziergang am Strand eine Meeresschnecke im Sand entdeckte, deren wie aus sich selbst gewachsene Gestalt und Schönheit ihn zu einem längeren Essay über die Ästhetik in der Natur anregten. Die Schnecke selbst warf der Autor wieder ins Meer zurück: Sie war nur eine unter Unzähligen ihrer Art und hatte in seinen Augen ihren Zweck erfüllt. Als Leser mag man diese Handlung bedauern: Wir alle kennen solche alltäglichen Gegenstände – Reisemitbringsel wie eine Muschel, in der das Rauschen des Meeres zu hören ist, oder ein auffallend gezeichneter Stein, den wir bei einer Bergwanderung auflesen, ein unbedeutend scheinendes kleines Geschenk, das uns von einem nahestehenden Menschen gemacht wurde. Solche Gegenstände entfalten dank der Geschichten, die sie begleiten, ein Eigenleben, werden beinahe als lebendig wahrgenommen, wie die Erinnerungen, mit denen sie verknüpft sind und die sie gleichsam in sich tragen. Auch wenn wir wissen, dass es zahllose ähnliche Steine oder Muscheln gibt, so sind es doch der bestimmte, einzelne Stein und die konkrete Muschel, denen wir uns verbunden fühlen und an denen unser Herz hängt. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, in dem die Mitglieder einer größeren Gemeinschaft an einem Gegenstand in vielerlei Ausführungen und verschiedenen Formen hängen, der für alle gleichermaßen von grundsätzlicher, wesentlicher, ja existenzieller Bedeutung ist. Solch ein Gegenstand ist in der Inselwelt der Südsee der Angelhaken, konkret:
Aus Knochen geschnitzter Angelhaken aus der Südsee, Ende 19. Jahrhundert.
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der Angelhaken des mythischen Kulturheros Maui. Dieser Angelhaken stammt aus Hawaii, jener Inselgruppe, von der aus sich der reiche Legendenkreis um Maui weit über den Pazifik hin verbreitet hat. Es ist ein gewöhnlicher, kaum hundert Jahre alter Angelhaken wie unzählige seiner Art, die in der Inselwelt der Südsee bis heute im Gebrauch sind und mit denen sich die Menschen dieser Region in einer besonderen Beziehung persönlich verbunden fühlen. Der Pazifik, der bei Weitem nicht so friedlich ist, wie sein Name nahelegt, den ihm der westliche Entdecker Magellan bei der ersten Durchquerung 1422 gab, bedeckt ein Drittel der Erdoberfläche. Zu seinem Raum gehört eine große Zahl meist kleiner Inseln und Inselgruppen, darunter Hawaii als einer der östlichen Vorposten. Besiedelt wurde die pazifische Inselwelt von Nordwesten her, beginnend vor circa 35 000 Jahren, als man wegen des damals niedrigen Meeresspiegels fast trockenen Fußes vom asiatischen Festland zu den vorgelagerten Inseln Ost- und Südostasiens – den Philippinen, Japan, Indonesien, Neuguinea und Australien – gelangen konnte. Zwischen 1000 vor und 1000 n. Chr. folgte eine zweite große Besiedlungswelle mit Booten, welche die Region bis Polynesien erfasste und deren Siedler die bis heute dort lebendige Kultur schufen. Die gemeinsame Lebensgrundlage bilden der Anbau von Sago und Taro, die Nutzung der Kokospalme sowie vor allem der Fischfang, basierend auf einer vielfältigen Bootsbautechnologie und einer hoch entwickelten Navigationskenntnis. Letztere waren die Voraussetzungen für die frühen Entdeckungsfahrten über Tausende von Kilometern hinweg ins buchstäblich Unbekannte. Die Bootstypen wie Auslegerboote oder Segel- und Ruderboote variierten je nach Region oder Zweck und zeichneten sich durch präzise aufeinander abgestimmte, verfugte Planken aus. Die Herstellung der Boote war Aufgabe der gesamten Dorfgemeinschaft und an rituelle Vorschriften gebunden: Die Bootsbauer mussten sich vorübergehend absondern, und bestimmten Mitgliedern der Gruppe waren einzelne Tätigkeiten vorbehalten. Bevorzugte Ornamente bei der Bemalung der Außenwände waren verschiedenfarbige kreisrunde Scheiben und Bogenmuster sowie „Augen“ an Bug und Heck, die das Boot vor fremden Einflüssen und bösen Dämonen schützen, aber auch den Blick in die Ferne weiten sollten. Dazu konnten sich 12
Bänder mit eigentümlichen Figuren in der Art von Strichmännchen gesellen, die mythische Ahnen darstellten. Sie begleiteten das Boot und seine Besatzung auch als kleine Holzskulpturen mit Federschmuck an Bug und Heck und stellten das Gefährt unter ihren besonderen Schutz. Vielfältig sind auch die Methoden des Fischfangs in der Region – es gibt Netze, Reusen, Speere, Harpunen und Giftpflanzen, die die Fisch betäuben, oder auffallende, für uns ungewohnte Techniken wie die des traditionellen Drachenfischfangs: Von einem Boot wird ein in der Luft fliegender Drachen aus Stoff gezogen, an dem ein Köder hängt, nach dem die Fische schnappen sollen. Die allgemein übliche und am weitesten verbreitete Methode ist das Fangen der Fische mit dem Angelhaken. Der Ursprungsort des kaum zehn Zentimeter langen südseetypischen Angelhakens ist Hawaii, das mit Neuseeland und der Osterinsel ein riesiges Dreieck mit vielen Inseln (griechisch poli nesoi) beschreibt, die Polynesien den uns geläufigen Name gegeben haben. Diese fast zahllosen Inseln und Inselgruppen sind auch die Heimat von Maui, dem „Trickreichen“, dem mythischen Helden und Kulturschöpfer, dessen herausragende Taten in Legenden erzählt werden, die nicht selten mit dem Angelhaken verbunden sind. Die mündlich überlieferten Geschichten und ihre Widerspiegelung in der alltäglichen Lebenswelt prägen bis heute die traditionelle Kultur Polynesiens. Schon als Kind zeichnete sich Maui durch die Anwendung häufig undurchsichtiger Tricks aus, die ihn, wie seine erotischen Abenteuer als Erwachsener, zum leicht anrüchigen Außenseiter der Gemeinschaft machten. Vor diesem Ruf konnten ihn selbst seine speziellen Fähigkeiten, in allen Fischzügen besonders viele und große Exemplare erbeuten zu können, nicht bewahren. In einer der Geschichten wird berichtet, dass Maui immer wieder mit seinen Brüdern zum Fischfang hinausfahren will, diese sich aber aus Angst vor seinen magischen Kräften dagegen wehren. Die Menschen scheuen sich davor, mit ihm zu eng in Berührung zu kommen, gar mit ihm in einem Boot zu sitzen. Also bleibt Maui tatenlos zu Hause, faulenzt und wird von den Frauen als Nichtsnutz hingestellt; immerhin schnitzt er einen Angelhaken aus einem Kieferknochen. Eines Nachts, 13
als ihm dieses lächerliche Spiel zu dumm wird, klettert er in das Boot der Brüder und versteckt sich darin. Erst auf hoher See merken die Brüder, dass Maui mitgekommen ist, können ihn allerdings nun nicht einfach wieder loswerden. Es gelingt Maui, seine Brüder davon zu überzeugen, weiter als üblich aufs Meer hinauszufahren. Dort gäbe es viel reichere Fischgründe als die ihnen bisher bekannten. Und so segeln sie hinaus, immer weiter ins Unbekannte, bis Maui schließlich sagt: „Hier werfen wir unsere Angeln aus.“ Und in der Tat: Der Fang, den die Brüder einholen, sprengt alle ihre Erwartungen. Als sie umkehren wollen, hält Maui sie zurück; auch er will seine Angel auswerfen. Er lässt die Schnur ins Meer hinabsinken, immer tiefer und tiefer, bis zum Meeresgrund. Dann zieht er mit aller Macht, zieht und zieht, bis schließlich sein Fang an die Oberfläche kommt: Es ist ein riesiges Stück Erde, ein gigantischer Klumpen, der sich zu einer Insel verfestigt; sie wird eine der Inseln Hawaiis, die bis heute existiert und seinen Namen trägt. Damit ist es aber nicht genug. Maui wirft ein zweites Mal seine Angel aus, und ein riesiger Fisch beißt an, der das Boot fast zu sprengen droht. Glücklich kehren die Brüder zurück in ihren Heimathafen, wo es ein großes Hallo gibt und alle begeistert sind. Maui warnt die Dorfbewohner: „Der große Fisch darf nicht einfach so verzehrt werden, sondern muss nach rituellen Regeln zerteilt werden.“ Kaum dreht er sich um und geht weg, stürzen sich seine Brüder auf den riesigen Fisch, zerteilen ihn und wollen ihn gleich aufessen. Darauf erwacht der Fang, der nicht nach ritueller Vorschrift getötet wurde, wieder zum Leben, fängt an, mit seinem Schwanz hin und her zu schlagen und kehrt die vordem flach gewölbte, glatte Insel von unten nach oben: Berge türmen sich auf, in die tiefe Schluchten gekerbt werden, und die Ufer werden in steile Kliffs gebrochen. Das Ergebnis ist die Insel in ihrem gegenwärtigen Zustand, wie sie die jetzt lebenden Menschen kennen. Ist erst einmal der feste Boden unter den Füßen gesichert, stellen sich weitere Fragen, warum die Natur, die uns umgibt so beschaffen ist, wie wir sie vorfinden? Etwa was es mit dem Licht auf sich hat? Zwar schien seit Urzeiten die Sonne, aber in den Augen von Maui waren die Tage viel zu kurz: Denn kaum war sie am Morgen aufgegangen, schien sie 14
auch schon wieder ins Meer hinabzufallen. Und er forderte, „wir brauchen längere Tage zum Arbeiten, um ausreichend für unser Essen zu sorgen.“ Wiederum fährt Maui mit den sich sträubenden Brüdern hinaus aufs Meer, mit dem Plan, den Lauf der Sonne zu verlangsamen. Es geht gegen Osten, weiter und weiter ins Unbekannte – nicht anders als bei den Fahrten von einer Insel zur nächsten während der Landnahme der Südseeinseln in der realen Geschichte. Die Brüder gelangen ans Ende der Welt, an einen Abgrund, aus dem die Sonne tagtäglich emporsteigt. Maui lässt seine Brüder eine Falle aus Flachs herstellen und lehrt sie bei dieser Gelegenheit die Fertigkeit, Taue zu knüpfen und flechten: Vierkanttaue, runde Taue, flache Taue. Daraus macht er eine riesige Schlinge, um die Sonne zu fangen. Und tatsächlich: Am Morgen, als die Sonne aufgeht, verfängt sie sich in der großen Schlinge und kann sich nicht aus den Fesseln befreien, so sehr sie sich auch wehrt. Maui schlägt mit seinem Angelhaken auf sie ein, bis sie resigniert und verzweifelt seiner Forderung nachgibt. In Zukunft wird die Sonne ihren Lauf über den Himmel verlangsamen und die Dauer der Tage wird länger werden – wie es die Menschen seitdem tagtäglich erleben. Auf die fundamentalen Fragen nach der Entstehung der Welt und ihrer Gestaltung bis hin zur Erschaffung des Menschen haben die Völker in allen Teilen der Erde vielfältige und unterschiedliche Antworten gefunden, die den Reichtum ihrer individuellen Erfindungsgabe und kulturellen Tradition bezeugen. Dass es sich meist um immer wieder neue, unabhängig voneinander gefundene, variierende „Lösungen“ handelt, zeigen zwei Parallelen von mythischen Überlieferungen aus Japan und China, beide im weiteren Sinne Randgebiete des Pazifiks. Im „uralten“ China etwa stiegen der Überlieferung nach jeden Tag zehn Sonnen empor und ließen so die Erde verdorren, bis endlich der mythische Bogenschütze Yi neun von ihnen abschoss und damit den aktuellen Zustand bewirkte. Der Gründungsmythos des Inselreichs Japan erzählt von einem göttlichen Geschwisterpaar, das mit einem Speer im Urozean rührte und aus den herabfallenden Tropfen feste Inseln im Wasser entstehen ließ. Auch hier ist es ein Alltagsgerät, das in den Händen von Kulturheroen seine magische Kraft entfaltet. Im Angeln wiederum liegt nach einem anderen chinesischen Mythos auch der Ursprung der Men15
schen: Ein Götterpaar ließ eine Schnur in ein Schlammloch hängen, an der sich Erdklumpen verfestigten – die ersten Menschen. In einer anderen Version spricht der Schöpfungsmythos der Bibel vom christlichen Gott, der den ersten Menschen aus Lehm formt. Ob jagen, fischen oder töpfern – es sind gewöhnliche, allen bekannte Tätigkeiten, die den Menschen auf seinen mythischen Anfang zurückführen. Die sich alltäglich immer wiederholenden Handlungen greifen einen ursprünglichen Akt auf und erinnern an die Vorfahren, die ihn zum ersten Mal vollzogen. Dank der besonderen Form des Angelhakens, der wie der Kiefer eines Menschen gebogen ist, sind in ihm die magischen Kräfte versammelt, die vom mythischen Helden Maui und den Ahnen stammen und auch in der Gegenwart für reichen Fischfang sorgen sollen. So erinnern wir uns selbst täglich daran, dass die Welt, wie wir sie erleben, erst so geworden ist, von jemandem begründet werden musste. Ob es Gottheiten waren oder Helden, Trickster, Schamanen oder Tiere, die das erste Mal eine Angel auswarfen oder zum ersten Mal Getreide säten, die Berge und Flüsse in ihrer gegenwärtigen Form gestalteten – sie alle haben dafür gesorgt, dass wir in der Welt leben, wie sie sich heute darstellt. Davor war alles anders, wie auch immer, jedenfalls noch nicht so wie heute. Vielleicht war auch nichts da, doch das können wir aus den Geschichten nur erahnen. Hätte Paul Valéry am Strand einen Angelhaken gefunden, wären wir möglicherweise um einen weiteren Essay reicher, wenn auch der Angelhaken wie die Schnecke wieder im Meer gelandet wäre. Dagegen finden Angelhaken aus fernen Regionen leichter und in großer Zahl private Liebhaber oder ihren Platz in Museumssammlungen, sind sie doch bequem und leicht zugänglich in Schubladen aufzubewahren. Der Blick richtet sich über die Schönheit der Einzelobjekte hinaus auch auf ihre kulturhistorische Vielfalt. Bei einer größeren Sammlung von Angelhaken besticht das Bild ihrer Verbreitung und ihrer Variationen ebenso wie die Vielfalt des Materials, aus dem sie gefertigt wurden: Knochen von Tieren und Menschen, Muscheln, Hartholz, Zähne, verschiedene Steine und Korallen. In ihnen allen lebt der eine Angelhaken fort, an dem Maui das Festland aus dem Meer gezogen hat. 16
Die Toten vergessen – ein langer Abschied
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s ist schwer, Dinge zu verlieren, die einem viel bedeuten, die Heimat verlassen zu müssen, vor allem aber einen nahestehenden, lieb gewordenen Menschen, der gestorben ist, nie mehr wiedersehen zu können. All das ist schmerzhaft und setzt Prozesse in Bewegung, die nicht einfach zu bewältigen sind. Das Wissen, allein zurückzubleiben, schafft trotz anderer ebenfalls Trauernder ein Gefühl der Verlassenheit und Leere, mit dem umzugehen man immer wieder lernen muss. Wir versuchen es auf verschiedene Weise, vor allem, indem wir Erinnerungen an das Verlorene bewahren. In vielen Religionen ist es Tradition, Verstorbenen ein Grabmal zu errichten, einen Leichenstein zu setzen, der den Namen und die Lebensdaten von der Familienzugehörigkeit über den Beruf bis hin zu bestimmten Umständen des Todes festhält. So dienen Friedhöfe den unmittelbar Trauernden zum Gedenken, künftigen Generationen zur Erinnerung und werden schließlich zu historischen Archiven einer Gemeinschaft. Das Netz von Erinnerungen ist jedoch sehr viel weiter über unseren Alltag gespannt: Da gibt es Denkmäler von berühmten Herrschern und bedeutenden Gelehrten auf Plätzen oder in den Parks der Städte, und zahlreiche Straßennamen erinnern uns unablässig an Vergangenes und Verlorenes. Sie werden naturgemäß immer wieder erneuert, auch spontan, wenn etwa für den Popstar Michael Jackson eine Gedenkstätte geschaffen und mit Blumen und Kerzen lebendig gehalten wird oder wenn „Erinnerungen“ ins Gerede kommen und „vergessen“ werden sollen, wie etwa Straßen, die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika oder in der Südsee gewidmet sind. Es gibt andere Formen des Umgangs mit dem Tod von Menschen und ihres Gedenkens, in denen nicht das Sich-immer-aufs-Neue-Erinnern gepflegt wird, das Sichfesthalten an Vergangenem, sondern ganz im Gegenteil das Bewältigen der Erinnerung, indem man bewusst vergisst. Neuirland (papuanisch Niu Ailan) ist eine der größeren Inseln des südöstlich von Papua-Neuguinea gelegenen Bismarck-Archipels. Von 1885 17
bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs hieß die Insel Neumecklenburg und war – wie die Bezeichnung nahelegt – Teil des deutschen Kolonialreichs in der Südsee. Neuirland war bekannt für die hohe Qualität seiner Schnitzkunst, die vornehmlich im Kontext des Ahnenkults blühte. Vom Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts stammt ein Großteil der umfangreichen und wertvollen Bestände solcher Werke in deutschen Völkerkundemuseen. Es waren beliebte, exotische Mitbringsel von deutschen Kapitänen, Missionaren, Händlern und frühen Reisenden. Im Unterschied zu den üblichen Sammelmethoden der Zeit wurden sie allerdings im Allgemeinen nicht als Kriegsbeute mitgenommen und auch nicht gegen Glasperlen oder Messer eingetauscht, sondern mit Billigung ihrer Schnitzer beziehungsweise der ursprünglichen Eigentümer den Europäern überlassen. Die als „Malangan“ bezeichneten Schnitzereien gehörten zu einem vollendeten, abgeschlossenen Begräbnisritual; daher war es den Neuirländern gleichgültig, ob sie im Busch vermoderten oder in Museen jenseits des Meeres aufgestellt wurden. Dort erfreuten sich außereuropäische Objekte seit Anfang des 20. Jahrhunderts der besonderen Aufmerksamkeit von Malern wie Pablo Picasso oder Künstlern der „Brücke“ und des „Blauen Reiters“, die die künstlerische Inspiration in den Vordergrund stellten – bis heute ein bleibendes Kriterium in den Augen westlicher Betrachter. Mit dieser Reduktion auf das künstlerische Element übersieht man aber allzu leicht, dass solche Objekte Teil und Endpunkt einer langen und komplexen Geschichte sind, die von religiöser Kraft und sozialen Funktionen geprägt ist und ohne die sie unverstanden bleiben. Auf den ersten Blick sind Malangane filigrane Schnitzwerke aus Holz, die sich bei genauer Betrachtung häufig als miteinander kombinierte Elemente wie Tiere, Menschen oder mythische Wesen enträtseln. Meist sind sie in Form von Friesen, Säulen, Masken oder Einzelskulpturen gefertigt. Sie entsprechen demnach der gängigen einheimischen Be-
Aus Holz geschnitzte Malangan-Figur aus Zentral-Neuirland, bemalt mit roten und schwarzen Pigmentfarben, vor 1913.
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deutung von malangan, was so viel bedeutet wie „ein Bild machen“, „als etwas erscheinen“. Doch dieses Wort ist keineswegs nur die Bezeichnung für ein Abbild egal welcher Art, sondern auch der umfassende Begriff für alle Handlungen, mit denen sich die Lebenden von einem Verstorbenen trennen: die Begleitung eines sterbenden Menschen, das Schnitzen von Objekten, die bei den Ritualen einzusetzen sind, die verschiedenen Phasen des Begräbnisses und der Trauerfeierlichkeiten bis hin zum endgültigen Entlassen des Toten aus der Gemeinschaft und seinem Verschwinden aus dem Gedächtnis der Nachkommen. Malangan beschreibt einen mehrere Jahre dauernden Prozess des Abschieds, an dem die eigentlichen Schnitzwerke gleichen Namens einen zwar konkret sichtbaren, aber eher überschaubaren Anteil haben. Die erste Phase betrifft den Tod eines Mannes oder einer Frau und die rituelle Trennung des Toten von den Lebenden. Der Tod kommt immer überraschend, aber nie unvorhersehbar. Wie es bei uns üblich ist, sich darauf vorzubereiten, indem man „sein Leben in Ordnung bringt“, ein Testament verfasst oder eine Grabstätte bestimmt, so verfahren auch die Menschen auf Neuirland ihren kulturellen Traditionen gemäß: Sterbende werden von den engsten Angehörigen gepflegt und betreut, nach dem Tode selbst versammelt sich die größtmögliche Gemeinschaft der Familie, die den Verstorbenen bei den Bestattungsfeiern begleitet. Um für diese Feierlichkeiten, die zahlreiche Angehörige und Helfer zusammenführen, gerüstet zu sein, müssen bereits angesichts des nahenden Todes Lebensmittel und Geld gesammelt werden. Wenn der Mensch zu atmen aufgehört hat, ist der erste Schritt des Todes eingetreten: Seine Atemseele hat ihn verlassen, aber seine Körperseele ist noch präsent. Jetzt beginnen die eigentlichen Totenrituale, in denen alle Angehörigen des Klans verschiedene Aufgaben zu erfüllen haben. In dieser ersten Phase sollen die rituellen Handlungen aller Beteiligten zeigen, dass eine Gemeinschaft von einem Toten Abschied nimmt und alle zusammen die Betroffenheit, die Emotionen, das aufkommende Gefühl der Leere bewältigen wollen. Zunächst wird der Tote gewaschen, dann festlich gekleidet und schließlich auf einem Zeremonialsitz festgebunden. Tänzer werden aufgefordert, zu Ehren des Toten 20
Tänze zu veranstalten, es werden rituelle Klagen angestimmt, und die engsten Familienangehörigen bemalen sich am ganzen Körper mit der schwarzen Farbe der Trauer. Im Anschluss daran übernimmt ein enger Angehöriger des Verstorbenen die Aufgabe, in einer kurzen Rede des Toten zu gedenken, seiner Taten und seiner besonderen Bedeutung für die Gemeinschaft. Danach wird der Tote verbrannt oder begraben, allerdings werden einige größere Knochen vom Leichnam für spätere zeremonielle Zwecke aufbewahrt. Im Anschluss an die Totenklage und das gemeinsame große Festmahl verteilt man die Reste des Essens unter den Anwesenden und bezahlt die Organisatoren, die Besitzer der geschlachteten Schweine sowie die Tänzer mit Muschelgeldschnüren. Während einer etwa zweimonatigen Trauerperiode bleiben die nahen Verwandten des Verstorbenen im Dorf, müssen bestimmte Nahrungstabus befolgen und sexuelle Enthaltsamkeit üben. Zum Abschluss dieser Phase waschen die engeren Familienangehörigen die schwarze Trauerfarbe vom Körper mit Ausnahme der Haare ab. Jetzt setzt man die Trauerfeiern mit gemeinschaftlichen Essritualen und Tänzen fort, die das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Familienangehörigen stärken sollen. Zum einen tragen alle Trauernden dazu bei, die aufwändigen Feste zu realisieren und durchzuführen, zum anderen bekräftigen die gemeinsamen, einander verbindenden Handlungen des Essens, Feierns, Tanzens, Sprechens das Gefühl, dass der Zusammenhalt der Familie trotz des Todes eines ihrer Mitglieder Bestand haben wird. Die endgültige Trennung des Toten von der Gemeinschaft der Lebenden findet erst Jahre später statt. Der prosaisch erscheinende Grund für diesen langen Abschied liegt darin, dass als Vorbereitung für den abschließenden, umfangreichen Festzyklus Geld gespart sowie eine größere Menge an Nahrungsmitteln angesammelt werden muss und vor allem zusätzlich Schweine zu züchten sind, die im Allgemeinen zwei Jahre bis zur Schlachtreife brauchen. In dieser Feier kommt nun dem Malangan-Schnitzwerk seine rituelle Bedeutung zu. Der erste Schritt ist die Beauftragung seiner Herstellung. Die Kenntnis, welcher Typus von Malangan für einen bestimmten Todesfall zu wählen ist und welche konkreten Riten durchzuführen sind, beschränkt sich auf wenige Mitglieder des Klans. Die Familie des Verstorbenen wendet sich an 21
einen der Klan-Älteren und bittet ihn, die spezifische Form vorzugeben, in welcher der Malangan geschnitzt werden soll. Dieser bestimmte Typus geht dann aus diesem Anlass ins Eigentum dieser Familie über und darf in Zukunft nicht mehr verwendet werden. Nunmehr erteilt die Familie den Auftrag einem professionellen Schnitzer, der zunächst ein bestimmtes Holz auswählt, einen passenden Baum fällt und das Holz austrocknen lässt, bevor die eigentliche Phase des Schnitzens beginnt. Bei allen einzelnen Abschnitten der Vorbereitung und Herstellung eines Malangans versammelt sich die Trauergemeinde zu Festmahlen und gemeinsamen Feiern mit rituellen Tänzen, vor allem aber, um an der Arbeit des Künstlers teilzunehmen, ihn von der Gestaltung der groben Vorlage bis hin zu den abschließenden Durchbruchsschnitzereien zu begleiten und sich schließlich von der ästhetischen Qualität des Schnitzwerks zu überzeugen. Die Ausrichtung der Feiern sowie die Entlohnung des Schnitzers und der Tänzer werden von der Familie gemeinsam getragen. Nach Wochen und Monaten ist der Schnitzvorgang abgeschlossen; der Künstler glättet die Oberfläche des Holzes und bemalt es. Nun ist der Malangan vollendet und seine Errichtung wird mit einem großen Abschlussfest gefeiert, zu dem er, manchmal mit mehreren anderen solcher Figuren, in einer Umzäunung aufgestellt und von den Mitgliedern der Gemeinschaft im Rahmen eines großen Festmahls gewürdigt wird. Dies ist der endgültig Abschied des Toten vom Dorf und er kann nun dem Vergessen anheimgegeben werden. Doch vergessen heißt nicht, dass er gänzlich verschwindet – er ist lediglich als Person nicht mehr präsent und wird nicht im Gedächtnis bewahrt. Dennoch bleibt erhalten, was ihn als Individuum auszeichnete, nämlich seine Lebenskraft, die auf andere Menschen übertragen wird, in denen er weiter wirkt und fortlebt. Weitverbreitet – vor allem in Ackerbaukulturen – ist die Vorstellung, dass mit dem Tod die Erneuerung des Lebens, eine Wiederauferstehung verbunden ist. So bringt das Säen von Samen in die Erde nach einer Zeit des scheinbaren Todes neue Früchte hervor. Derselbe Gedanke – dass neues Leben aus dem Tode entsteht – manifestiert sich auf Neuirland in einem zentralen Ritus während der Initiation der jugendlichen Mitglieder in die Gemeinschaft. Wenn zur endgültigen Ver22
abschiedung eines Verstorbenen das Malangan-Schnitzwerk aufgestellt wird, versammelt man die Initianden in einer abgesonderten Hütte und sie werden für die Dauer der Zeremonien für den Toten selbst als tot erachtet. Wenn sie dann wieder „zum Leben erwachen“ – und damit den Status als verantwortliche Mitglieder ihrer Gemeinschaft erhalten –, hat sich die Lebenskraft der Malangane auf sie übertragen. Diese haben ihrerseits mit dem Abschluss der rituellen Feiern für den von ihnen repräsentierten Verstorbenen ihre Aufgabe vollbracht. Als greifbare Gegenstände existieren sie nicht mehr den Augen der Zuschauer. Sie erfüllen keine Funktion mehr, weder als Abbild für einen Toten noch als Erinnerung an ihn. Wie die einzelnen Wörter in den Geschichten, die man einander erzählt hat, die verschiedenen Klänge der Musik und die aufeinanderfolgenden Schritte der Tänze hört und sieht man sie nicht mehr. Sie waren vorübergehend Glieder einer Kette und haben so den Fortbestand der sozialen Gruppe gesichert. Nicht die Unsterblichkeit des Einzelnen, sondern die Unvergänglichkeit der Gemeinschaft haben sie versinnbildlicht. Die Malangane Neuirlands sind Beispiele der großartigen traditionellen Schnitzkunst der Südseeinseln. Sie haben nicht nur expressionistische Künstler vor hundert Jahren beeindruckt, sondern ziehen bis heute das Auge der Besucher von Museen auf sich und werden dies auch weiterhin tun, selbst wenn manche Motive nicht mehr klar zu deuten sind oder ihre Verbindung zu mythischen Erzählungen tatsächlich in Vergessenheit geraten ist. Uns erscheinen die Szenen auf den Friesen und die mit Figuren geschmückten Pfosten auf den ersten Blick verwirrend. Sie bleiben dunkel in ihrer Vielgestaltigkeit – wie etwa der durchbrochen geschnitzte Malangan-Pfahl, der sich dank zweier Augenpaare oben und unten als Doppelfigur entpuppt: eine Frau, die von einem weit aufgerissenen Fischmaul gestützt oder in dieses hineingeworfen und verschlungen wird? Bei einem anderen Malangan-Fries im Flachrelief löst sich dessen elegant bewegte Ornamentik als das Bild eines Hahns auf, der über einem auf dem Boden liegenden Menschen steht und in seinem Schnabel eine vollplastisch geschnitzte Schlange hält. Etwas zu vergessen scheint einfacher zu sein, als etwas zu enträtseln. Beides braucht jedoch seine Zeit und die Hilfe anderer. 23
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Die Trommelreise des Schamanen
„In Lappland sind schmutzige Leute,/Plattköpfig, breitmäulig und klein,/ Sie kauern ums Feuer und backen/Sich Fische und quäken und schrei’n.“
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eim Lesen dieser Zeilen möchte man erst mal vor Verlegenheit schlucken, wenn man nicht wüsste, dass sie von Heinrich Heine stammen, also wohl ironisch gemeint sind. Oder etwa doch nicht? Aus dem Kontext wird klar, dass der Dichter Klischees aufgreift, die Anfang des 19. Jahrhunderts über die Lappen im Umlauf waren, diese aber im selben Atemzug ironisch widerlegt, indem er ihnen ein ebenso imaginäres positives Klischee gegenüberstellt: das der Inder, die am Ganges leben, wo „es duftet und leuchtet“ und „schöne, stille Menschen/Vor Lotosblumen knie’n“. Beide Orte waren damals den Europäern gleichermaßen fremd und unbekannt, „mit seltsamen Menschen und seltsamen Sitten“ eben, wie Heine sagt. Klischees sind leicht zu entlarven, aber häufig nicht einfach aufzulösen, weil sie doch unbewusste Vorurteile bedienen. Aber folgen wir dem Geiste Heines und versuchen, den einen oder anderen Hintergrund zu erhellen. Schon Lappland ist ein Fall für sich, bietet sich doch – und das spätestens sei Sebastian Münsters Cosmographia von 1628 – im Deutschen das unglückliche Wortspiel mit „läppisch“ und „Schmutzlappen“ an. Dabei hat die auf das Altfinnische zurückgehende Bezeichnung „Lappen“ vermutlich „Rand(-bewohner)“ bedeutet. Der Begriff soll dem Wunsch ihrer heute lebenden Nachkommen folgend vermieden und – nach der Eigenbezeichnung samii – durch „Sami“ ersetzt werden.
Trommel eines Schamanen der im nördlichen Schweden lebenden Samen, der Rahmen aus Kiefernholz mit Rentierhaut bespannt, Ende 17. Jahrhundert.
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Dass jeweils die anderen die „Schmutzigen“ sind ist eine gängige, manchmal nicht unbegründete Vorstellung. So rümpfte eine osmanische Delegation um das Jahr 1000 am deutschen Kaiserhof entsetzt die Nase und beklagte sich über die ungewaschenen Deutschen. Weltweit verbreitet ist die Verachtung des Aussehens von Fremden, weil sie gerade nicht dem eigenen Schönheitsideal entsprechen. Nicht verwunderlich also, dass die kleine Körpergröße der Samen im Vergleich zu ihren hochgewachsenen Nachbarn ins Auge springt. Und selbstverständlich pflegen sie einen ungewöhnlichen Lebensstil – Fische am offenen Feuer! Der Vorwurf basiert allerdings auf der zutreffenden Beobachtung, dass es unter den Samen traditionell auch Fischer gab. Verständlich ist auch, dass sie in unseren Ohren „quäken und schreien“, ist einem doch ihre Sprache unbekannt. Haben nicht schon die antiken Griechen ihre des Griechischen nicht mächtigen Nachbarn als Barbaren, also „Stammler“, bezeichnet? Dagegen erging es den Deutschen etwas besser, die in den slawischen Sprachen immerhin als nemec, die „Stummen“, bekannt waren. Die Begriffe „quäken“ und „breitmäulig“ spielen beide auf die vermeintliche „Froschhaftigkeit“ der Samen an. Fremde der Kategorie Tier zuzordnen, egal welcher Art, ist die simpelste und am weitesten verbreitete Form, sich von anderen abzusetzen. Heinrich Heine hat fast das gesamte Spektrum der Fremdzuschreibungen in zwei Zeilen zusammengefasst: Verurteilung des anderen, weil er anders ist, konkrete Beobachtungen, die missverständlich überliefert werden, sowie Bezeichnungen des Fremden als Tier, weil man ihn nicht mal als Menschen betrachtet. Was wissen wir tatsächlich von den etwa 45 000 Sami, die heute im Norden Finnlands, Schwedens, Norwegens und Russlands leben? Sie gehören zur ural-altaischen Sprachgruppe und sind Nachkommen sibirischer Völker, die etwa seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. von Kamtschatka bis nach Nordeuropa als Jäger und Sammler lebten und religiöse Traditionen hatten, die gemeinhin als Schamanismus bezeichnet werden. Der Schamanismus ist keine kodifizierte Religion oder Lehre im uns bekannten Sinne wie etwa der Buddhismus, das Christentum oder der Islam. Er hatte sich im nördlichen Sibirien unter dem Einfluss von Religionen der sesshaften Völker im Süden herausgebildet und war 26
zu einem in sich stimmigen Komplex von Glaubensvorstellungen zusammengewachsen. Bis heute kennt er keinen schriftlich überlieferten Kodex oder eine etablierte Priesterschaft und wird in seiner traditionellen Form weiterhin innerhalb kleiner Gruppen praktiziert. Im Mittelpunkt steht der Schamane, das religiöse Oberhaupt einer Gemeinschaft. In diese besondere Rolle wird er durch einen Vorgänger berufen, der ihn aufgrund körperlicher Zeichen – etwa eines sechsten Fingers oder einer sechsten Zehe – schon bei der Geburt bestimmt oder später wegen seiner Sensibilität auswählt und in die Welt eines Schamanen sowie seine Aufgaben einführt. Seine wichtigste Fähigkeit besteht darin, ins Jenseits zu reisen, also die verschiedenen Welten – die Unterwelt, die Welt der Menschen und die Welt der Gottheiten – miteinander in Verbindung zu bringen. Um für solche Reisen in andere Welten gerüstet zu sein, erhält der Schamane bei seiner Initiation einen neuen Körper. Dieser Ersatzkörper wird durch seine besondere Tracht symbolisiert. Ein metallenes Skelett, das auf seinem Gewand aufgenäht sein kann, versinnbildlicht seine neuen Knochen, die aus Eisen oder Stein gebildet sind. Es wird häufig ergänzt durch aufgenähte Federn, Tierfelle oder Stoffschlangen, da eine solche gefährliche Flugreise wie die ins Jenseits nur in Begleitung von Hilfsgeistern – meist Wölfe, Bären, Adler und andere Tiere – möglich ist. Voraussetzung für die Jenseitsreise ist eine rituelle Ekstase, in die der Schamane versetzt wird. In diesem entrückten Zustand, den er durch Tanzen und rhythmisches Trommelschlagen herbeiführt, der ihn aber auch ohne erkennbare Einwirkung von außen erfassen kann, liegt sein Körper viele Stunden wie tot, quasi seelenlos auf der Erde. Seine Seele ist unterwegs im Jenseits, wo er die Gottheiten im Auftrag seiner Gemeinschaft befragt – etwa nach der Ursache für eine Krankheit oder der Möglichkeit, dass die Seele eines Kranken wieder zurückkehren oder endgültig im Jenseits bleiben wird – oder auch um Jagderfolge bittet. Trommeln sind fast im gesamten nördlichen Sibirien bis in die Mongolei und nach Zentralasien Teil der schamanischen Tradition. Für die Sami stellen sie das wichtigste Objekt ihres religiösen Erbes dar. Wie diese Trommel des 17. Jahrhunderts aus der Münchner Sammlung bestehen sie gewöhnlich aus einem leicht ovalen Fichtenholzrahmen, 27
der mit Rentierleder bespannt ist. Die in kräftigen Strichen ausgeführte Bemalung des Leders in rotbrauner Farbe aus Erlenrinde zeigt den Aufbau des Kosmos, der in Himmel, Menschenwelt und Unterwelt gegliedert ist. Die drei Ebenen sind über eine hier nicht durchgängig gezeichnete Mittelachse miteinander verbunden. Häufig besteht diese aus einem Baum, der von der Erde in den Himmel wächst, oder aus einer senkrechten Verbindung, die in der Art einer Zeltstange das Himmelsgewölbe am höchsten Punkt, dem Polarstern, stützt. Längs dieser zentralen Achse bewegt sich der Schamane, fliegend oder kletternd, auf seiner Jenseitsreise durch die verschiedenen Welten. Diese sind von einzelnen Figuren und ganzen Szenen bevölkert, deren Darstellung an vorgeschichtliche Felszeichnungen wie auch an frühe abstrakte Bilder von Wassily Kandinsky erinnern. Als Student der Völkerkunde hatte der Maler Feldforschung bei sibirischen Völkern betrieben, und seine Malerei war in der Tat von schamanischen Trommelbildern beeinflusst. Die teils realistischen, teils symbolischen Motive sind nicht immer konkret zu deuten. So ist in unserem Beispiel am rechten Rand ein Rentierschlittengespann zu erkennen, das von einem Wolf verfolgt wird – möglicherweise eine Darstellung des Schamanen auf seiner Reise durch alle drei kosmischen Ebenen. In der mittleren Welt, dem Diesseits, jagen Menschen ein Rentier und einen Bären, in der unteren Welt stehen drei Gottheiten mit symbolischen Attributen, während auf der oberen Ebene das Hauptgötterpaar der Sami mit seinem Sohn in der Mitte zu sehen ist. Darüber scheinen Sonne und Mond, die links und rechts das Zelt der Götter flankieren. Auch wenn nicht alle Szenen auf Schamanentrommeln eindeutig zuzuordnen sein mögen, so ist klar, dass es sich immer um ein verdichtetes, geschlossenes Abbild des Universums handelt, dem in vielerlei Hinsicht eine besondere Bedeutung zukommt. Mit dem Schlagen der Trommel löst sich der Schamane vom Diesseits; sie dient ihm als Reittier ins Jenseits, das er mit dem Schlegel als Peitsche lenkt, und schließlich fungiert sie als Kompass, mit deren Hilfe er sich in der anderen Welt orientieren kann. Ein so vielseitiges Instrument eignet sich zudem für das Sammeln und Bannen von bösen Geistern und für Zeitreisen, um Voraussagen über die Zukunft treffen zu können. 28
Letztere Verwendung der Trommel war im übrigen Nordasien unbekannt, erfreute sich aber bei den Sami, wo jeder Familienvorstand eine solche „Wahrsagetrommel“ besaß, größter Popularität. Die beiden Trommeltypen des Schamanen und des Wahrsagers unterschieden sich vermutlich nur in der Bemalung, was aber heute nicht mehr überprüfbar ist. Wahrsagetrommeln wurden immer dann befragt, wenn es galt, den Erfolg bevorstehender Unternehmungen zu erfahren, wie die Wanderung der Rentierherden, das Gelingen einer weiten Reise, die Beute bei Jagd und Fischfang oder der Erfolg einer geplanten Heirat. Um einen Dieb ausfindig zu machen, legte man Steinchen oder kleine Zeiger auf die waagerecht gehalten Trommel und brachte diese mit dem Trommelschlegel zum Vibrieren. Das bewirkte den Anschein tanzender Sandkörner. Aus der Wanderung der Steinchen oder des Zeigers über die Figuren und die Landschaft des Bildes war abzulesen, was die Zukunft bringen würde, oder auch, wo Dieb und Diebesgut zu suchen waren. Vermutlich war dies eine ebenso effiziente Methode wie Karten zu legen oder Horoskop zu lesen und mindestens genauso aufregend, wenn nicht sogar anschaulicher. Unsere Trommel dürfte aus dem Besitz eines Schamanen stammen, da sie bereits sehr früh erworben wurde und seit 1673 in einer Nachzeichnung belegt ist. Dabei stellt sich die Frage, wer damals bereits solche Objekte gesammelt hat und warum er dies tat. Die Antwort erhellt nicht nur die Geschichte der Sami, sondern öffnet auch ein wenig bekanntes Fenster zu den politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verflechtungen innerhalb Europas. Die Sami lebten seit vorchristlicher Zeit als Jäger, Sammler und Rentierzüchter im Norden des Kontinents, zum Teil auch als sesshafte Ackerbauern bis hinunter nach Mittelschweden. Im ausgehenden Mittalter hatten die in der Region politisch dominierenden Schweden erkannt, dass mit Pelzen auf dem europäischen Markt ein Riesengeschäft zu machen war, da es in der Aristokratie und unter den reichen Patriziern ein Kennzeichen von Rang und schick war, Pelz zu tragen. Die Sami lieferten so lange an die Schweden, bis sich die Jagd auf Pelztiere in Sibirien als kostengünstiger erwies und Letztere den Handel dorthin ausgelagerten. Als mit der beginnenden Neuzeit die reichen Bodenschätze im 29
Norden Schwedens und Finnlands immer größere Bedeutung gewannen, waren die Samen erneut gefragt. Sie lieferten Fleisch von gejagten Tieren ebenso wie von ihren Rentierherden zur Versorgung der zahlreichen Bergarbeiter. Kurz: Die Sami standen erneut zu Diensten und ihre Schamanen waren dank ihrer Autorität die besten Verhandlungspartner für die schwedischen Herren. Diese Entwicklungen gingen Hand in Hand mit einer Art schleichender Assimilierung, die am stärksten durch die im 17. Jahrhundert einsetzende Missionierung durch die lutherische Kirche gefördert wurde. Die Sami bekehrten sich zum Christentum, ihre traditionellen Bräuche wurden verboten, die Schamanen als Zauberer und Betrüger denunziert, manche unter ihnen verbrannt. Vor allem ihre Trommeln wurden zur Zielscheibe der Kirche, da sie in ihren Augen alles verkörperten, was heidnisch und teuflisch war. Man konfiszierte und verbrannte zum Teil auch sie; an die zweihundert Trommeln schickte man nach Stockholm und Kopenhagen, das damals die Hauptstadt Norwegens war. Zu den etwa siebzig erhalten gebliebenen zählt das Münchner Exemplar. Spuren von traditionellen Glaubenspraktiken, die an den Schamanismus erinnern, finden sich jedoch bei den Sami bis heute in bestimmten Formen des gemeinschaftlichen Singens und in ekstatischen Elementen des Gottesdienstes. Der unmittelbare Kontakt der Missionare mit den Sami förderte zwar die Kenntnis ihrer Kultur, bestärkte jedoch andererseits eine umso deutlichere Distanzierung, je genauer man ihr heidnisches Erbe zu durchschauen glaubte und sie als Nichteuropäer klassifizierte. Bereits im Dreißigjährigen Krieg, als die schwedischen Truppen Gustav Adolfs II. Mitteleuropa verwüsteten, behauptete die katholische Schreckenspropaganda zu Unrecht, dass der Schwedenkönig mit „lappischen“ Hilfskontingenten kämpfe, also mit besonders grausamen „tatarischen“ Soldaten. Diese Unterstellung in Bezug auf die Herkunft der Samen wurde bis Ende des 19. Jahrhunderts eifrig kolportiert und dazu pseudowissenschaftlich ausgeschmückt: Sie seien eben Mongolen, orientalische Nomaden, die bekanntermaßen so dumm seien, dass sie ihre Fantasie mit „Visionen“ und „Erscheinungen“ – das heißt schamanischen Zaubereien – füllen müssten. 30
Weitere Beispiele dafür, wie die Samen in diesem Stil bis ins 19. Jahrhundert verunglimpft wurden, lassen sich leicht anführen. Manches ist, wie erwähnt, auf missverstandene Berichte zurückzuführen, so etwa die Behauptung, dass die Samen krummbeinig seien, weil sie keine Kniescheiben hätten. Dabei konnte man sich einfach nichts Rechtes unter ihrem eigentümlichen Gang im Schnee vorstellen, der in der Tat ihren Schneeschuhen geschuldet war, immerhin die Vorläufer unserer Skier. Vieles gehört zu den üblichen Klischees, die sich auf auffallende Andersartigkeiten von Fremden fokussieren, wie es in den Zeilen von Heinrich Heine anklingt. Das Hauptproblem mit den Sami lag darin, dass sie scheinbar nicht in den europäischen Kulturkontext passten. In allem und jedem wirkten sie nur „fremd“ und mussten einfach anderswo hingehören. So wurden bezeichnenderweise Schamanentrommeln der Samen – wie die hier vorgestellte – und andere Belege ihrer Kultur in Völkerkundemuseen aufbewahrt, an Ort also, deren Auftrag es ist, Zeugnisse „außereuropäischer“ Kulturen zu sammeln. Und noch Anfang des 20. Jahrhunderts führte man in Europa Sami mit anderen „Exoten“ wie Berbern, „Negern“, „Indianern“ oder Südseeinsulanern auf Völkerschauen vor. Exotisch sind, wie der Name bereits sagt, alle von „außen“ Kommenden. Die Vertreter indoeuropäischer Sprachen, zu denen die aus Asiens Steppen stammenden Vorläufer der Germanen zählen, sind seit bereits dem dritten vorchristlichen Jahrtausend in Europa ansässig, immerhin tausend Jahre länger als die Sami. Daraus allerdings Prioritäten abzuleiten wäre müßig, umso mehr, als auf dem eher überschaubaren europäischen Kontinent ständig und intensiv kulturelle Kontakte untereinander bestanden, sowohl friedlich als auch kriegerisch. Dass innerhalb dieser Verflechtungen auch Klischees eine gemeinsame Geschichte haben, versteht sich von selbst. Zwei Beispiele verbinden etwa die geografisch weit voneinander entfernt lebenden Griechen und die Sami. Im griechischen Weltbild der Antike stellte man sich die Welt als eine Scheibe vor, über der sich das Himmelszelt wölbte. Wo Himmel und Erde aneinanderstießen, wurde es eng, und so war es einleuchtend, dass in solchen „Randgebieten“ nur kleine Völker leben konnten – die Sami am Nordrand und die „Pygmäen“ in 31
Afrika. Ein zweites Beispiel ist der „Windgürtel“, der bis ins 19. Jahrhundert den samischen Schamanen als eines ihrer wirkungsvollsten Zaubermittel zugeschrieben wurde. Mit diesem Gürtel fingen sie angeblich den Wind ein und verbargen ihn in drei Knoten. Wenn sie den ersten Knoten lösten, wehte ein sanftes Lüftchen, beim zweiten Knoten blies der Wind schon heftiger und mit dem dritten Knoten brach schließlich ein schlimmer Orkan los. In Regionen, wo unvermutet heftige Stürme tobten, war dies eine schlüssige Erklärung dafür, die sich bestens mit den Vorurteilen über die Schamanen deckte. Der Kern der Geschichte geht auf die gängige griechische Vorstellung eines Windschlauchs zurück, der an beiden Enden wie eine Wurst zugebunden ist und beim Öffnen die Winde entlässt. Es ist eines der „Wandermotive“, die über viele Stationen tradiert wurden– von den Reliefs der klassischen Antike bis zu den Malereien der Renaissance –, und im konkreten Fall bezeugen, dass schon seit früher Zeit das Land der Mitternachtssonne mit dem Mittelmeer im Austausch stand und dass die Sami doch Europäer sind.
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Die Hand der Fatima
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it den vielfachen Bedeutungen und Funktionen der Hand sind wir spontan gut vertraut. Wir kennen die Hand, die gibt, die nährt, die Hand, die schützt, die schöpft, die Hand, die streichelt, die heilt, aber auch straft, die erhobene Hand, die schwört oder Distanz schafft, und die ausgestreckte Hand, mit der man auf jemanden zugeht, um ihm mit einem kräftigen Händedruck einen guten Tag zu wünschen. Diese „Sprache“ wird allerdings nicht überall verstanden, und im Zeitalter vor der globalen Kommunikation hätten wir mit dieser Geste nicht selten ein befremdetes Stirnrunzeln geerntet. Dabei wollen wir nach unserer längst vergessenen Tradition eigentlich nur kundtun, dass wir keine Waffe in der Hand haben und in bester Absicht kommen. Wenn wir jemandem gegenübertreten, sind es neben dem Gesicht vor allem die Hände, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und die wir als einen eigenständigen Teil der Kommunikation wahrnehmen. Hände sind ausdrucksstark, ein Teil der Persönlichkeit eines Menschen und seiner Kraft im konkreten wie im übertragenen Sinne: So stärken elf Fußballer, die sich an den Händen fassen, die in ihnen ruhende, gemeinsame Kraft, bündeln sie und übertragen sie aufeinander. Ähnlich, wenngleich stärker symbolisch, empfinden wir den Ritus des Ringtauschs bei der Hochzeitszeremonie als eine offenkundige Verbindung der Kraft zweier Menschen. Bei aller Vielfalt der möglichen Bedeutung von Handhaltungen und Gesten in den Kulturen spielen häufig religiöse Aspekte mit hinein, deren Ursprung meist nicht mehr bewusst ist. In der abendländischen Tradition wurde das „Bild“ der Hand, ihre ikonografische Bedeutung, wesentlich geprägt durch antike Mythen, die Bibel und Heiligenlegenden. Vor Augen steht uns etwa Moses, der durch das Hochhalten seiner Hand den Weg durch das Rote Meer öffnet und später den Ausgang einer Schlacht zu seinen Gunsten entscheidet, weil er einen ganzen Tag lang – wenngleich mit „Unterstützung“ seiner zwei Helfer Aaron und Hur – die Arme emporhält. Andere Beispiele sind Jesus, der die Kran33
ken durch das Auflegen der Hände heilt, wie auch die zur Ikone gewordene Darstellung der Erschaffung Adams durch einen Fingerzeig von der Hand Gottes, die Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle gemalt hat. Die Hand als positives Symbol ist seit Jahrtausenden im Mittelmeerraum bekannt: Den Ägyptern galt sie als „helfende“ Hand für die Reise ins Jenseits, die Juden sprachen von der „Hand Gottes“, die römische Antike von der „Hand der Venus“, das frühe Christentum von der „Hand Mariens“ und der Islam von der „Hand der Fatima“. All diesen Symbolen gemeinsam ist die Vorstellung, dass über die Hand übernatürliche Kräfte wirksam werden, die den Menschen Schutz und Hilfe gewähren. Einfache, alltägliche Erscheinungen sind also vermutlich in verschiedenen Kulturen auf ähnliche Weise verstanden worden und haben sich in ähnlichen Funktionen und Formen weithin verbreitet. Vorweg ist festzuhalten, dass die Frage nach einem Früher oder Später solcher Entwicklungen häufig nicht zu beantworten ist und es in manchen Fällen müßig bleiben muss, sie überhaupt zu stellen. Die „Hand der Fatima“ ist Teil dieser reichhaltigen, populären Überlieferungen und in ihrem Ursprung darüber hinaus mit einem Ereignis verknüpft, das vor 1500 Jahren die Anfänge der muslimischen Religion auf der arabischen Halbinsel entscheidend beeinflusst hat. Die Grundform einer erhobenen Hand mit geschlossenen Fingern ist als Symbol in der gesamten muslimischen Welt von Südasien bis Nordafrika verbreitet. Es erscheint in verschiedenen Ausprägungen und Funktionen als Zeichen lebendiger Volksfrömmigkeit der Sunniten wie der Schiiten, der beiden Hauptrichtungen des Islam. In einer besonders auffälligen Form erscheint die Hand als Aufsatz von Standarten, wie sie als Votivgaben schiitischen Versammlungshäusern gestiftet werden. Dieser Aufsatz besteht aus einer Zink-Silber-Legierung mit einer unten angesetzten Tülle, die auf eine Holzstange gesteckt wird. Es handelt sich um eine linke Hand, etwa in natürlicher Größe, deren Rücken kunst-
Hand der Fatima, die als Standartenaufsatz diente, 20 Jahrhundert.
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voll in Treibarbeit geschmückt ist. In arabischer Kalligrafie sind neben Allah die Namen des Propheten und seiner Familie verzeichnet, also Mohammed, seine Tochter Fatima, deren Mann Ali (zugleich Mohammeds Vetter) und ihre zwei Söhne Hassan und Hussein. Die einzelnen Finger zieren Rankenmuster, sogenannte Arabesken, die auf die blühende Natur verweisen und Vorstellungen von Paradies und Jenseits wachrufen. Standarten dieser Art erinnern an Feldzeichen oder Banner, die mit einem konkreten historischen Ereignis verbunden sind, der Schlacht von Karbala. Nach dem Tode des Propheten im Jahre 632 n. Chr. waren unter seinen Anhängern Konflikte über seine Nachfolge ausgebrochen. Die eine, in der Tradition Mohammeds stehende Partei forderte, dass der Nachfolger aus seiner Familie stammen solle, also der Prophetenenkel Hussein sein müsse. Dagegen wandten sich andere Gruppierungen, die sagten, man möge dafür sorgen, dass über eine gemeinsame Entscheidung neue Kräfte an die Spitze der islamischen Bewegung kommen. Im Jahre 680 kulminierte der Streit zwischen beiden Fraktionen in der Schlacht bei Karbala, die mit der gänzlichen Vernichtung der Familie Mohammeds und der Niederlage seiner Anhänger endete. Dies war der Beginn einer Trennung des Islam in zwei Strömungen, die wir heute als Sunniten und Schiiten kennen. Während Erstere die Mehrheit der islamischen Gläubigen bilden, dominieren Letztere vor allem im Iran und im Irak. Der zwischen beiden Richtungen bestehende Streit dreht sich nicht um Glaubensüberzeugungen – die Singularität Allahs sowie die Anerkennung des Korans und Mohammeds als Prophet sind nicht diskutierbar –, sondern um die Frage nach der Legitimität von Macht und damit der Führung innerhalb der islamischen Lehre. Zum Gedenken an diesen Wendepunkt in der frühen Geschichte des Islam führen schiitische Gläubige bei Umzügen am zehnten Tag des „Trauermonats“ und bei Wallfahrten Standarten mit sich. Für sie wird der historische Bezug über die Namen der „fünf heiligen Mitglieder der Familie des Propheten“ hergestellt, die auf den Fingern der Hand geschrieben stehen, vornehmlich über den Prophetenenkel Hussein, der in der Schlacht auf grausame Weise zu Tode kam. Die Hand wird auch 36
nach Mohammeds Schwiegersohn als „Hand Alis“, „Hand des Löwen“ oder „Hand des Gotteslöwen“ bezeichnet. Neben diesen eher metaphorischen Assoziationen ist das Symbol auch mit dem Bannerträger Abbas Alamdar verbunden. Während der Schlacht wollte er der kleinen Tochter Husseins, die zu verdursten drohte, Wasser aus dem Euphrat bringen; dafür wurden ihm beide Hände abgeschlagen. Im vornehmlich sunnitisch geprägten Mittelmeerraum ist das Symbol hingegen als „Hand der Fatima“ bekannt und nimmt – über den historischen Bezug hinaus – die bereits angedeutete Tradition der „helfenden Hand“ auf, die stärker mit der Frau und Mutter als mit Kriegshelden assoziiert wird. Wie auch immer die Hand bezeichnet wird, was historisch nachweisbar ist oder mündlich tradiert wurde – das unbestritten verbindende Element ist die Hand mit fünf Fingern als naturgegebene Konstante. Zugleich stellt die Zahl fünf eine Grundkategorie des muslimischen Glaubensgebäudes dar. Das Vorstellung von den „fünf Säulen des Islam“ beschreibt die Grundlage der Religion überhaupt; auf ihnen basiert die gesamte Gemeinschaft und das Leben jedes Einzelnen. Diese „fünf Säulen“ sind das öffentliche Glaubensbekenntnis, das täglich fünf Mal zu verrichtende Gebet, die Hilfe und Unterstützung für die Armen, das Fasten im Monat Ramadan und schließlich die Pilgerfahrt nach Mekka, die jeder Muslim mindestens einmal im Leben vollziehen soll. Das erklärt, warum die „Hand der Fatima“ von so ungeheurer Bedeutung im Alltag der Gläubigen ist und sich heute vor allem im Mittelmeerraum in vielen Formen und unterschiedlichen Materialien findet. Innerhalb der „fünf Säulen“ konkretisiert sich Fatimas helfende Rolle in Glaubensinhalten und Verhaltensvorschriften und wird zu einem greifbaren Zeichen muslimischer Gemeinschaft. Die Hand wird als Amulett getragen, das den Einzelnen vor gefährlichen und bösen Einflüssen von außen sichtbar schützen soll und zugleich schmückt. Wir betrachten Schmuck als Verschönerung der Menschen und sind uns kaum bewusst, dass er ursprünglich, neben manchen anderen Funktionen, auch dazu beitrug, den Träger vor Dämonen und damit verbundenen Gefahren, vor allem Krankheiten, zu bewahren. Was immer man als „Schmuck“ trug, wie man sich kleidete oder auch verkleidete, den Körper bemalte, tätowierte oder verstümmelte – in 37
vielen Fällen lag der Nutzen solcher Handlungen darin, das Böse abzuwehren und von sich fernzuhalten. Um wie viel näher liegt es dann, die Hand, die ja Bestandteil des menschlichen Körpers ist und mit der man sich konkret immer wieder verteidigen muss, als besonders wirksames Mittel des Schutzes einzusetzen? Die Hand der Fatima ist im sunnitisch geprägten Bereich des Mittelmeerraums und der angrenzenden Länder das am meisten verbreitete und populärste Schutzsymbol dieser Art. Sie wird als Schmuckamulett am Hals, als Ohrschmuck, als Anhänger am Ring oder als Stickerei auf der Kleidung getragen; vor allem kleine Kinder werden mit solchen Amuletten versehen, da sie durch Krankheitsdämonen besonders gefährdet sind. Man malt eine Hand auf Mauern oder ritzt sie in Alltagsgeräte; dabei erscheint sie nicht nur naturalistisch wie beim Standartenaufsatz, sondern auch stilisiert als Kamm oder fast abstrakt, wenn etwa die Finger als einfache Striche gezeichnet werden. Das Bild der Hand als religiöser Abwehrgestus ist nördlich der Alpen in viel geringerem Ausmaß verbreitet als in den verschiedenen Traditionen des mediterranen Volksglaubens. Das lässt erkennen, dass das Mittelmeer weniger eine Grenze als eine Brücke darstellte, über die durch Jahrtausende religiöse Vorstellungen und Brauchtum trotz unterschiedlicher kultureller Entwicklungen miteinander in Kontakt standen und sich gegenseitig beeinflussten. Beispielhaft dafür steht die „Hand der Fatima“ und die Vorstellung vom „Bösen Blick“, die ein geradezu komplementäres „Paar“ zu bilden scheinen. Seit dem Altertum stellt der „Böse Blick“ zwischen den Säulen des Herkules, die wir heute als Enge von Gibraltar kennen, und dem Zweistromland Mesopotamiens eine der großen magischen Gefährdungen der Menschen dar. Das Auge ist ein ambivalentes Organ, eine der empfindlichsten Öffnungen des Körpers, durch die negative Kräfte eindringen können, zugleich aber ist es auch ein „Instrument“, eine Waffe, mit der man andere verletzen, ihnen Schlechtes an den Hals wünschen kann. Vor dem bösen Blick schützt daher nicht nur das Handamulett der Fatima sondern auch das „Augenamulett“, das „Gleiches mit Gleichem vergilt“: Ein solches an Hausmauern oder Wänden aufgemaltes 38
oder in Räumen aufgehängtes Augenamulett suggeriert symbolisch eine Art Sicherheitszone. Der böse Blick ist meist eine plötzlich auftretende Gefährdung – etwa wenn man einem Feind zufällig in der Straße begegnet – und erfordert eine spontane Antwort. Hier treten Handgesten verschiedener Art in Aktion, die vor allem Italienern vertraut sind. Die allgemeinste Form ist es, die Hand zu heben und „halt!“ zu signalisieren, was nicht immer angemessen erscheint und Aufsehen erregen könnte. Man kann diese Geste aber auch im Verborgenen vollziehen: Wenn man das Gefühl hat, jemand verwünsche einen gerade mit seinem bösen Blick, dann verbirgt man die Hand und denkt sich seinen Teil. Oder man ballt die Faust in der Tasche, eine sehr verbreitete Geste, mit der man sich zugleich insgeheim abreagieren kann. Erfolg versprechender, wenngleich weniger subtil ist die Methode, das Übel an der Wurzel zu packen, indem man dem Auge direkt droht, es zu zerstören. Während die geballte Hand nur hilflose Wut signalisiert, ist eine Hand mit gespreizten Fingern eine Waffe, mit der man das Auge des anderen, den Ursprung des bösen Blicks, unschädlich machen kann. Noch effizienter ist es, die Hand mit zwei Hörnern – Zeigefinger und kleinem Finger – zu zeigen: Dann hat man beide Augen im Visier, auf die man einstechen möchte. Am gefährlichsten für den bösen Blick ist der Mittelfinger. Aus der geschlossenen Faust als einziger hochgereckt, ist er ein Bild des Phallus par excellence. Nicht umsonst war er den Römer bereits als „Impudicus“, der Schamlose, bekannt. Egal ob man die Hand mit dem „Stinkefinger“ offen zeigt oder sie schamhaft in der Tasche oder hinterm Rücken verbirgt: Mit dieser Geste ist fürs erste jegliche Gefahr gebannt.
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Das Universum auf der Drachenrobe
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is vor gar nicht langer Zeit stachen die hohen kirchlichen, weltlichen und militärischen Würdenträger aus der Masse der Bevölkerung durch besonders prunkvolle Gewänder hervor, durch Roben mit kostbarem Besatz aus Hermelin oder Zobel oder durch bunte Uniformen, die zusätzlich mit Orden geschmückt waren. Das hat sich heute, mit wenigen Ausnahmen, geändert, doch zu allen Zeiten machten Kleider Leute, wie es so schön heißt. Diese auffallende Robe aus Seide mit vielfarbigen Stickereien muss einen besonderen Mann „gemacht“ haben, und in der Tat: Es handelt sich um eine „Drachenrobe“, bekannt als das Gewand des Kaisers von China. Das aber kann so nicht recht stimmen, denn allein in den westlichen Sammlungen werden etwa sechstausend solcher Drachenroben aufbewahrt, und man kann bei einem knappen Dutzend chinesischer Kaiser, die zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert als Träger in Betracht kommen, nicht annehmen, dass sie alle ihre Gewänder den Museen überlassen hätten. Im Übrigen, was die Masse der chinesischen Bevölkerung betrifft, so gehört traditionelle bäuerliche Kleidung aus China bis hin zur originalen blauen Mao-Jacke zu den eher raren Fundstücken in diesen Sammlungen. Die Einordnung des vorliegenden Gewands als „kaiserlich“ ist dem Drachendekor geschuldet, insbesondere der Tatsache, dass es sich um einen Drachen mit fünf Krallen handelt, denn es gibt auch solche mit vier oder drei Krallen. In Wahrheit ist das Kriterium „Drache“ allein für diese ehrenvolle Bezeichnung nicht ausreichend. Wertvolle Roben dieser Art wurden zwar als Geschenk des Kaisers an Gesandte
Chinesische Drachenrobe aus blauer Seide mit Stickereien und angelegten Goldfäden, 19. Jahrhundert.
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aus fremden Ländern oder verdienstvolle Minister überreicht, aber üblicherweise auch von hochrangigen Beamten und ihren Frauen als Zeichen ihrer Würde getragen, außerdem von reichen Händlern gemeinsam mit Beamtenrängen käuflich erworben, selbst als Theaterkostüme verwendet und am Ende der Kaiserzeit gezielt für einen Markt von westlichen Interessenten hergestellt. Der Drache ist in der chinesischen Tradition von alters her das Symbol des Herrschers, so wie der Phönix das Symbol seiner Gemahlin ist. Beide mythischen Tiere stehen generell für Erfolg und gesellschaftlichen Rang, und besonders der Drache verkörpert darüber hinaus das Glück schlechthin. Unter den zwölf Jahrestieren des chinesischen Zyklus ist er das höchstangesehene und erstrebenswerteste. Kindern, die in einem Drachenjahr – zuletzt 2012 – geboren werden, ist das Glück in die Wiege gelegt, was auch immer man darunter versteht. Entsprechend verbreitet ist der Drache weit über den unmittelbaren Einflussbereich des Kaisers hinaus als Motiv auf Keramiken, Textilien, in Gemälden, als Steinskulptur oder Holzschnitzwerk. Das hier gezeigte Gewand kann unter den genannten Einschränkungen als Grundversion einer „kaiserlichen Drachenrobe“ mit ihren insgesamt neun fünfkralligen Drachen auf Vorder- und Rückseite angesehen werden. Die Drachen haben ihr Maul weit geöffnet und verfolgen scheinbar spielerisch mit ihrer Zunge eine Flammenperle. Als eine der Acht Kostbarkeiten ist die Perle ein verbreitetes Motiv und verkörpert in der taoistischen Tradition Chinas Reinheit. In Verbindung mit dem Drachenemblem ist sie indes eher ein buddhistisches Symbol, das für die Suche nach Erkenntnis und den Weg zur Erleuchtung steht. Verstärkt wird dieses Sinnbild noch, wenn zwei Drachen einander gegenüberstehen und um eine Perle kämpfen. So ausdrucksstark diese Gesamtkonstellation wirkt, so verwirrend ist sie zugleich für den Betrachter, handelt es sich doch um die Robe eines Kaisers von China, des Sohnes des Himmels und höchsten Vertreters der konfuzianischen Tradition. Repräsentiert er nunmehr auch den Buddhismus, eine eigentlich fremde, nicht chinesische Religion, die nur von einigen Philosophen und Gelehrten hochgehalten wird oder bestenfalls als Teil der Volksreligion lebendig geblieben ist? 42
Es handelt sich hier um einen nur scheinbaren Widerspruch, den es im historischen Kontext aufzulösen gilt. Anfang des 17. Jahrhunderts eroberte das Volk der Mandschu China. Als Nachfolger der chinesischen Ming-Kaiser gründeten ihre Führer eine neue Dynastie unter der Bezeichnung Qing (die „Klare“), die von 1644 bis 1912 über das Reich der Mitte herrschte. Die Mandschu lebten ursprünglich als Jäger und nomadisierende Viehzüchter, später auch als sesshafte Ackerbauern im Nordosten von China an der Grenze zu Sibirien. Sie zählten lediglich einige Millionen Menschen, die für etwa zweieinhalb Jahrhunderte einen etablierten und von einer gut ausgebildeten Bürokratie organisierten Staat von 360 Millionen sesshaften Chinesen regieren sollten. Dass ihnen dieses Unterfangen letztlich gelang, beruhte vor allem auf drei Faktoren: auf den politischen Fähigkeiten der ersten drei Kaiser, die bis Ende des 18. Jahrhunderts – also über eine sehr lange Periode hinweg – im Amt waren, auf der Kooperation der Mandschu mit der konfuzianischen Beamtenschaft sowie auf der Bewahrung wesentlicher Teile ihrer traditionellen Identität, mit der sie sich sichtbar von den Chinesen absetzten. Auch ohne sich mit Einzelmotiven der Drachenrobe auseinanderzusetzen, spürt der Betrachter auf den ersten Blick, dass sie ihrem Träger unmittelbar Glanz, Würde und Unnahbarkeit verleiht. Die Kenntnis der Vorgeschichte, die zur Entstehung eines solchen Gewands führte, und die konkrete Betrachtung seiner Motive zeigen, dass in ihm zwei gänzlich verschiedenen Traditionen bezüglich Material, Schnitt und Dekor in einer neuen, gleichsam naturwüchsigen Einheit aufgegangen sind. Die Robe illustriert das eigenständige politische und religiöse Bewusstsein der Mandschu und signalisiert zugleich die Beständigkeit eines konfuzianisch organisierten Beamtentums mit fast zweitausendjähriger Geschichte. Die traditionelle Kleidung der Mandschu basierte auf Tierhäuten, einem Material, das sie nicht nur in ihrer Heimat vorfanden, sondern das auch ihrer Lebensweise in der Steppe, in Wäldern und Sümpfen am besten angepasst war. Dem gegenüber war in China Kleidung aus Baumwolle üblich, selten aus Seide – zu Repräsentationszwecken und um die eigene gesellschaftliche Position kundzutun. Die Verarbeitung etwa eines Hirschfells mit Bein- und Schwanzansatz erforderte 43
einen besonderen Zuschnitt der vorgegeben Form, aus der großflächige Einzelteile mit so wenig Abfall wie möglich zu einem Gewand zusammengenäht wurden. Die sinnvolle ökonomische Nutzung des Materials galt zwar genauso auch für den Zuschnitt der Seide, doch unter einer anderen Prämisse: Es handelte sich dann um gewebte Stoffbahnen, deren Breite festgelegt war. An die Vorgaben der traditionellen mandschurischen Lederkleidung erinnert ein besonderes Detail der Drachenrobe, nämlich die auffallende Rundung der Ärmel in der Achselhöhle. Ein weiteres Erbe der nördlichen Herkunft der Mandschu sind die überlangen und eng anliegenden Ärmel der Robe mit dem angesetzten, sich zu den Händen hin erweiternden Abschluss, den sogenannten Pferdehufmanschetten. Die Jagd in den mandschurischen Wäldern war vor allem im Winter von den kalten Witterungsbedingungen bestimmt; wenn sich der Jäger urplötzlich einem Hirsch gegenübersah, musste er auf die Schnelle bereit sein, Pfeil und Bogen sicher und erfolgreich zu handhaben: Weite Ärmel, in denen man sich verfangen konnte, wären nur hinderlich gewesen, und zugleich behielt man immer warme Hände, da die Manschetten wie ein Muff fungierten. Später, in der chinesischen Version, konnten die Beamten und Würdenträger bei offiziellen Anlässen ihre Hände in den Manschetten verbergen, wie es der Verhaltenscode vorschrieb. Dass die Robe über der Brust besonders weit bis unter die linke Achsel übereinandergezogen wird, also sozusagen vorne „doppelt gepolstert“ war, diente bei der ursprünglichen Kleidung vermutlich auch als Schutz vor der Kälte. Das damit verbundene Knöpfen des Mantels auf der linken Seite widerspricht einem bekannten, Konfuzius zugeschriebenen Ausspruch: Demnach habe einer der Unterschiede zwischen Chinesen und Barbaren darin gelegen, dass man in China die Gewänder auf der rechten Seite knöpfte; die Mandschu hätten somit ihren traditionellen Brauch nach der Eroberung Chinas aufgegeben. Doch der alte Weise wurde durch die Geschichte widerlegt, da historisch weder für die Chinesen noch die Barbaren eine durchgängig einheitliche Praxis des Schließens der Kleider auf der linken oder rechten Seite belegbar ist. Eindeutig mandschurischen Ursprungs hingegen ist der auffallend hoch angesetzte Schlitz vorn und hinten 44
jeweils in der Mitte der Drachenrobe – ein scheinbar nebensächliches Detail, das nur funktional zu erklären ist. Es ist zurückzuführen auf die ursprüngliche Form der mandschurischen Kleidung, die so geschnitten sein musste, dass man sie auch zu Pferde tragen konnte, also bei der Jagd, der Begleitung der Herden oder militärischen Auseinandersetzungen. Der Schlitz blieb wie die Hufeisenmanschetten in der offiziellen Hofkleidung in China erhalten, wenngleich es weder bei Audienzen noch bei rituellen Verpflichtungen notwendig war, hoch zu Ross zu erscheinen. So lassen manche Besonderheiten im Schnitt der Drachenrobe ein Erbe erkennen, das die Mandschu aus den Wäldern und Steppen des Nordens ins Reich der Mitte begleitet hat. Die Mandschu waren nicht unvorbereitet gekommen: Sie hatten bereits rege wirtschaftliche und damit auch kulturelle Kontakte zu den Chinesen, da aus ihrer Region seit Jahrhunderten wertvolle Pelze und heißbegehrter Ginseng nach Süden exportiert worden waren. Wie verfährt man aber im Alltag mit einer erdrückenden zahlenmäßigen Übermacht und wie passt man sich einem unerschütterlich scheinenden Selbstbewusstsein an, das über drei Jahrtausende hinweg gewachsen ist? Eine der Antworten auf diese Fragen hat ihre Spuren im Dekor der Drachenrobe hinterlassen, die sich unter dem Einfluss der Mandschu von einem kaiserlichen chinesischen Prunkgewand zu einem universalen Herrschaftssymbol wandelte. Auf den ersten Blick ist die übergreifende Komposition der Robe zu erkennen: Den Hintergrund bildet ein von Wolken durchsetzter blauer Himmel über einem in bunten Farben stilisierten Meer, dessen schäumende Wellen sich an einer zentralen Bergspitze brechen, dazu sind verschiedene naturalistische Symbole und Motive über die gesamte Fläche verteilt. Es ist das traditionelle Muster der chinesischen Weltsicht, das sich in dieser Zusammenstellung widerspiegelt, aufbauend auf den drei in China verbreiteten religiösen Grundlehren: dem Konfuzianismus, dem Taoismus und dem Buddhismus. Dass sich der Drache in Szene setzt, überrascht wenig, ist er doch das Emblem des Kaisers per se: In neunfacher, goldgestickter Ausführung 45
und in alle Richtungen Ausschau haltend überragt er sämtliche anderen Motive. Zugleich steht er für Konfuzius (ca. 551–479 v. Chr.), dessen Mutter der Legende nach von einem Drachen auf mystische Weise geschwängert wurde. Die Lehren des Konfuzius bildeten die Grundlage der Staatsideologie des chinesischen Kaiserreiches und wurden seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. von den Beamten und Gelehrten propagiert. Wir haben es hier mit der höchsten Drachenpotenz zu tun: vorne fünf, hinten drei und ein weiterer, der sich zeigt, wenn man die Robe frontal öffnet und den innen aufgestickten „verborgenen Drachen“ sichtbar werden lässt. Die neun ist nach chinesischer Vorstellung die „höchste“ und am meisten Glück bringende Zahl. In den Himmel eingewebt sind traditionelle Symbole wie Fledermäuse, Kraniche, Blumen und Pfirsiche, die generell ebenfalls Glück, Erfolg, Reichtum, viele Söhne und langes Leben versprechen. Eine andere Gruppe von Symbolen ist dem Taoismus zuzuordnen, der auch von konfuzianischen Gelehrten häufig als eine Art „Feierabendideologie“ gepflegt wurde und sich vornehmlich der Philosophie bis hin zum Thema der Unsterblichkeit widmete. Auf die Frage nach jener geben die seit dem 13. Jahrhundert sehr populären Acht Unsterblichen ihre Antwort; sie wurden mit den ihnen zugeordneten Emblemen Kastagnetten, Blumenkorb, Bambustrommel, Flaschenkürbis, Schwert, Flöte, Lotos und Fächer in den Dekor der Robe aufgenommen. Als dritte Religion präsent ist der Buddhismus, der – in der traditionellen Sicht der Gelehrten und Beamten als fremd, nicht chinesisch angesehen – zeitweilig staatlich verfolgt, dann aber im Laufe der Jahrhunderte als Teil der Volksreligion in den chinesischen Alltag integriert wurde. Auch seine Lehre ist in den Dekor der Drachenrobe eingeflossen; sie wölbt sich geradezu über dem Kosmos vielfältiger Vorstellungen. Neun Drachen kämpfen um die Perle, das Symbol der buddhistischen Erleuchtung. Das Weltenmeer, assoziiert durch die fünffarbigen Wellenstreifen, erstreckt sich in alle „fünf “ Himmelsrichtungen (die uns geläufigen vier Richtungen und die Mitte) mit dem buddhistischen Zentralberg Meru in der Mitte. In den Wellen – lautlich identisch mit dem Wort für „Audienz“ und damit ein from46
mer Wunsch für die vom Kaiser mit Roben Bedachten – schweben die acht Sinnbilder des Buddhismus: das Rad der Lehre, der Schirm, die Lotosblüte, der endlose Knoten, die Vase der Unsterblichkeit, die Meeresschnecke, der Fisch und der Baldachin. Wie nun ist es aber zu erklären, dass dieser zwiespältig wahrgenommene und als fremd empfundene Buddhismus auf einer im ureigensten Sinne chinesischen Kaiserrobe eine derart auffallende Rolle spielt, ja, als alles umgreifender Rahmen figurieren sollte? Die Eroberer aus der Mandschurei waren den Chinesen nicht nur zahlenmäßig weit unterlegen, sondern in deren Augen auch kulturell Barbaren. Wie schon frühere Eroberer aus der Steppe, etwa die Mongolen, die im 13. und 14. Jahrhundert China beherrschten, waren die Mandschu dank ihrer nomadisierenden Lebensweise außerordentlich gute, vorausschauende Organisatoren und hatten diplomatische Erfahrung im Schmieden von Koalitionen mit feudalen Klan-Fürsten. Das kam ihnen zugute in der unumgänglichen politischen Auseinandersetzung mit der chinesischen Beamtenschaft, deren konfuzianischer Ideologie sie scheinbar nichts entgegenzusetzen hatten. Doch sie hatten den Buddhismus, den sie mit anderen Nichtchinesen wie den Tibetern und Mongolen teilten und den sie nun als ideologische Grundlage und Selbstverständnis den konfuzianischen Beamten gegenüber hochhielten. Bewusst bewahrten sie weitere eigene Traditionen, etwa ihre Art der Ahnenverehrung, den Schamanismus, ihre Sprache und Schrift sowie bestimmte Kleidungstraditionen. Die konfuzianische Beamtenschaft war nötig, um den Staat „am Laufen zu halten“, doch in ihrer äußeren Erscheinung grenzten sich die Mandschu demonstrativ von den Chinesen ab: Sie schrieben allen chinesischen Männer vor, einen Zopf zu tragen, zugleich untersagte man den eigenen Frauen, die als „barbarisch“ empfundene Sitte der Fußverkrüppelung der vornehmen Chinesinnen zu übernehmen. In dieser Entwicklung wird die Drachenrobe zu einem eigenständigen historischen Dokument. Der Kaiser, der dieses Gewand trägt, stellt die Achse dar, die Himmel und Erde verbindet. Als Himmelssohn steht er im Zentrum der Erde auf dem Weltenberg, inmitten des Oze47
ans, und alle seine Beamten, an die Roben dieser Art weitergegeben wurden, sind Teil dieser Achse, die sich wie eine riesige Pyramide bis an die Grenzen des Reiches ausdehnt: Sie repräsentieren gleichsam als Botschafter den Kaiser und üben in seinem Namen die Macht über alle Untertanen aus. Die Kaiser der Qing-Dynastie förderten gezielt den Buddhismus, etwa durch Tempelbauten und Wallfahrten. Einer der herausragenden Kaiser der Qing-Dynastie, Qianlong (reg. 1736– 1796), sah sich selbst als Wiedergeburt eines Bodhisattva und wurde so häufig in Bildern und Drucken dargestellt. Und die kaum weniger bedeutende letzte Kaiserin von China, Cixi (reg. 1875–1908), ließ sich als Bodhisattva, als Barmherzige Guanyin im Lotosblütenteich, malen und fotografieren.
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Huckepackreiten in Afrika
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on Vater oder Mutter huckepack auf den Schultern getragen zu werden – es gibt kaum eine größere Freude für ein kleines Kind. Unübersehbar ist der Stolz, von höherer Warte aus auf die Erwachsenen hinabzuschauen und den Blick weiter als gewohnt in die Ferne schweifen lassen zu können. Auf den Schultern anderer zu reiten oder zu stehen muss nicht ausschließlich spielerischen Charakter haben und sich auf Kinder beschränken – häufiger als es den ersten Anschein hat, begegnen wir diesem Bild auch bei Erwachsenen und selbst in der westlichen Tradition.
Natürlich kennen wir die Kunststücke im Zirkus, wenn Akrobaten ein- oder mehrstöckige Menschenbäume aufbauen. Selbst diese haben „alltägliche“ Parallelen, etwa in Katalonien, wo zu bestimmten Festen unter großer Teilnahme der Bevölkerung solche Menschenpyramiden seit über zweihundert Jahren errichtet werden. Das eigentliche Motiv des sogenannten „Schulterritts“ ist in der abendländischen Kunst seit der klassischen Antike bis heute immer wieder anzutreffen. Der Bogen spannt sich weit und beginnt bei der Flucht des Äneas aus dem brennenden Troja, der seinen gebrechlichen Vater auf den Schultern trägt und seinen kleinen Sohn an der Hand führt – ein Motiv, das als Skulpturengruppe und als Bild weitverbreitet war. Er reicht über die in vielen Variationen aufgegriffenen bacchantischen Tänze, lustvoll ausgemalte Gelage mit der Liebesgöttin Venus, dem Gott des Weines Dionysos und seinem Gefährten Silen, mit Nymphen, Satyrn und anderen Mitsäufern, von denen sich manche halb- oder volltrunken auf den Schultern von Mitfeiernden tragen lassen. Das Motiv findet sich auch in Szenen des mittelalterlichen Jungbrunnes wieder, wenn die Alten und Schwachen, des Gehens nicht mehr Mächtigen auf den Schultern von Kräftigeren herbeigetragen werden, um nach dem Bad im magischen Brunnen in alter Frische und Schönheit wiederaufzuerstehen. Weitverbreitet ist seit dem Mittelalter auch die Ikonografie des heiligen Christopheros, der zwar vor einigen Jahrzehnten aus dem offiziellen Kanon der katholischen Kirche verbannt wurde, aber weiterhin als Träger des Chris49
tuskindes über einen Fluss höchst populär ist. Das Kind ist mit jedem Schritt immer schwerer zu tragen, und dieses Motiv erinnert an eine der bekannten Geschichten aus der fünften Reise Sindbads des Seefahrers aus Tausendundeine Nacht. Sindbad entspricht der Bitte des „Alten vom Meer“, ihn auf den Schultern zu tragen, und kommt dabei fast zu Tode, da der alte Teufel Sindbad nicht mehr aus der Umklammerung seiner Beine entlassen will. Aus jüngerer Zeit sei auf Max Beckmann verwiesen, der 1942/43 ein Triptychon mit dem Titel „Karneval“ gemalt hat. Auf dem rechten Flügel dieses „Altarbilds“ ist ein Mann im Clownkostüm dargestellt, der eine leicht bekleidete Frau auf dem Rücken trägt und von einer weiteren Frau mit gezücktem Dolch verfolgt wird. Die Szene illustriert die Flucht des Malers aus Amsterdam in das amerikanische Exil und erschließt sich dem Betrachter wegen des erwähnten Motivs der Flucht des Aeneas aus dem zerstörten Troja wie auch aufgrund des Bezugs auf den Karneval und den Clown – beides Symbole der verkehrten Welt und Bilder der aus den Fugen geratenen Zeit. Welche Bedeutung auch immer das Motiv des Schulterritts auf den ersten Blick zum Ausdruck bringen mag – spielerische Freude eines Kindes, Laszivität und Rausch als Teil des Tanzens, Entkommen aus einer Gefahr, den Drang oder die Notwendigkeit, nicht an einem Ort zu verharren, oder einfach jemandem Hilfe zuteilwerden zu lassen, der darum bittet –, sie haben alle keine ursprüngliche, immanente Verbindung wie etwa eine gemeinsame Quelle oder eine allgemeingültige Aussage. Sie sind letztlich auch nicht hilfreich, um die aus Holz geschnitzte Skulptur der Tabwa, eines Volkes aus Ostafrika, zu verstehen, die, auf das wesentliche reduziert, in monolothischer Strenge, fast exemplarisch das Motiv des Schulterritts zeigt. Ein Mann trägt eine Frau auf dem Rücken, beide nackt und doch bedeckt mit
Hölzernes Figurenpaar aus Tabwa, Tansania, vor 1905.
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Tatauierungen, wie die Ethnologie rituell vollzogene Körperbemalungen oder Hautritzungen bezeichnet: Spürbar ist die Schwere der Last, unverkennbar sind die Entschlossenheit des Mannes und die stolze Erhabenheit der Frau, beide scheinen plötzlich erstarrt und doch in Bewegung zu sein. Formal mag diese Skulptur das weltweit verbreitete Motiv des Schulterritts oder des „ Huckepacktragens“ als ein typisches Beispiel illustrieren. Ihre klare Grundstruktur – ein Mensch trägt einen anderen auf Rücken oder Schultern – legt nahe, von einer solchen Figur ausgehend auch auf die Bedeutung anderer Darstellungen dieser Art zu schließen. Dennoch: Der erste Schritt bleibt die Einzelanalayse des konkreten Gegenstands und seines kulturellen wie historischen Kontextes, aus denen sich vielleicht allgemeine Schlussfolgerungen ziehen lassen, die ihrerseits wiederum im Vergleich zu überprüfen sind. Soweit aus Berichten über die Tabwa und den vorhanden Unterlagen zu diesem Exemplar bekannt ist, spielen Figuren dieser Art in ihren Alltagsriten als Gegenstände keine Rolle. Es ist zu vermuten, dass ein Schnitzkünstler der Tabwa dieses Paar im Auftrag eines Missionars oder eines europäischen Reisenden geschaffen hat, um eine zentrale Vorstellung ihrer Kultur bildhaft darzustellen: den Übergang des Menschen von einer Sphäre des Lebens in eine andere. Auch in unserer abendländischen Tradition werden bestimmte Lebensphasen sowie der Übergang von einer in die andere als markant wahrgenommen und herausgehoben, vor allem Geburt, Hochzeit und Tod. Wir kennen aber auch eine Fülle weiterer öffentlicher und privater Anlässe wie Einschulung, Konfirmation oder Firmung, Ausbildungsabschluss, Jubiläumsfeste oder Eintritt in den Ruhestand, die mit größeren oder kleineren, manchmal auch religiösen Feiern verbunden sind. Sie bestimmen nicht nur die Existenz des Einzelnen, sondern daneben auch die offizielle „Rolle“, in der er innerhalb der Gemeinschaft wahrgenommen wird. Die beschriebenen Veränderungen erleben wir als einen Einschnitt, der ein Davor und ein anderes Danach markiert, als das Überschreiten einer imaginären „Schwelle“, die mit einer emotionalen Bewegtheit – Ängstlichkeit, Unruhe, Sorge, Vorfreude, Stolz, Dankbarkeit – verbunden ist. 52
Das Verlaufsmuster solcher Veränderungen ist aus allen Kulturen der Welt meist im religiösen Kontext bekannt und, mit Anpassungen, in unserer westlichen Gesellschaft weiterhin lebendig. Vor hundert Jahren hat der französische Anthropologe Arnold van Gennep dafür den Begriff rites de passage, Übergangsriten, geprägt, der bildlich und inhaltlich die Verknüpfung von alltäglichem Verhalten mit kosmischem Wirken ausdrückt. Die Bewältigung solcher kritischer Übergänge im Leben eines Menschen läuft nach van Gennep in drei Phasen ab: Zunächst wird man aus dem gewohnten Alltag herausgerissen und muss sich trennen. In der zweiten, gefährlichsten Phase, dem Schwellenstadium, hat man keinen Boden mehr unter den Füßen und hängt gleichsam in der Luft, während man schließlich in der dritten Phase auf der nunmehr erreichten, neuen Stufe in die alte Gemeinschaft wieder eingegliedert wird. Dem Schritt vom Kind zum Erwachsenen kommt in allen Kulturen besondere Bedeutung zu. Er kennzeichnet die Aufnahme des Jugendlichen in die Gemeinschaft der Erwachsenen, also in eine gänzlich neue Welt der Verantwortung. Bei den Tabwa und benachbarten Gruppen der ostafrikanischen Grenzregionen zwischen Angola, Tansania und Mosambik zeigte sich der Weg von der Kindheit zur Reife nicht als langsames Anwachsen von Wissen und Eigenständigkeit, wie wir es sehen würden, sondern als klarer, zeitlich relativ begrenzter Einschnitt. Der Ablauf ist deutlich in die eben geschilderten Phasen gegliedert. Zunächst werden die Novizen aus ihrem üblichen Alltag und der gewohnten Umgebung herausgerissen, und Jungen und Mädchen etwa gleichen Alters werden getrennt voneinander in Lagern in der Wildnis zusammengefasst. „Ältere“, individuell manchmal auch als „Paten“ oder „Patinnen“ bezeichnet, unterweisen die Novizen mehrere Monate (die Mädchen kürzer als die Jungen) im Wissen und in den Pflichten ihrer künftigen Position. Dies ist die Hauptphase der Initiation, die sehr treffend als „Buschschule“ bezeichnet wird. Danach werden die Initiierten als nunmehr Erwachsene von festlichen Zeremonien begleitet wieder in den Kreis der Dorfgemeinschaft integriert. Der rituelle Schulterritt begleitet bei den Tabwa und ihren Nachbarvölkern auffallend häufig und prominent den gesamten Verlauf der Reife53
feiern. Zum Auftakt trägt einer der erwachsenen Helfer den „vornehmsten“ Jungen auf den Schultern in den Wald, um einen bestimmten, für die Zeremonien notwendigen Baum zu suchen. In der Folge wird der Schulterritt geradezu das Leitmotiv für den Ablauf der Beschneidung, in der die Knaben beweisen, dass sie Schmerz ertragen können, und die zugleich das äußerliche Zeichen ihrer künftigen Gruppenzugehörigkeit ist. Im Schulterritt werden die Initianden zum Beschneidungsplatz getragen, wo der oberste Leiter der Zeremonie die Rücken seiner Helfer mit einer Salbe bestreicht und, wiederum den vornehmsten der Jungen auf dem Rücken tragend, der Reihe nach über die zu Beschneidenden springt. Danach ist es regional üblich, dass Frauen die Initianden auf den Schultern zum abschließenden Bad im Fluss tragen; sie werden künftig von den jungen Männern als „ältere Schwestern“ angesprochen. Nicht viel anders ist die Initiation der Mädchen, in der dieses Motiv ebenfalls eine zentrale Rolle spielt: Patinnen tragen sie zum Versammlungsplatz und zum zeremoniellen Bad. Dann überspringt eine Patin mit ihrem Mädchen huckepack ein neu entfachtes Feuer, und alle Initiandinnen werden auf dem Rücken von Frauen im Laufschritt um die Siedlung getragen. Die Szene wird im nächtlichen Unterricht als Jagd auf eine Gazelle erklärt, die, vom Jäger erbeutet, auf dem Rücken getragen wird. Sie ist zugleich die Einführung in die Sexualität und damit in die „offizielle“ Ehe- und Gebärfähigkeit der jungen Frauen. Abschließend ergreifen die Frauen in einem zeremoniellen Akt mit Gewalt die Mädchen, übergießen sie mit kaltem Wasser und tragen sie wiederum auf dem Rücken zum Festplatz, wo sie unter dem Jubel der Anwesenden als Mitglieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Der Schulterritt ist demnach ein fester, geradezu unverzichtbarer Teil der Reifefeiern in Südosttansania. So überrascht es wenig, dass diese Tradition in den Regionen, die seit über hundert Jahren christianisiert sind, ohne grundsätzliche Umdeutung als Ritus bei Feiern der ersten Kommunion, der Firmung oder der Hochzeit in die neue Glaubenspraxis übernommen wurde. Im Bild des Jägers, der die erbeutete Gazelle auf den Schultern trägt, kann man sehr wohl eine abgewandelte Form des Schulterritts und damit auch der Beziehung zwischen Mann und Frau erkennen. Nach 54
modernem, westlichem Verständnis erscheint dies ziemlich antiquiert, bestenfalls als dichterische Metapher, hingegen kaum nachvollziehbar als Einstieg in die Sexualkunde. In der Tradition der Tabwa steht das Motiv von Jäger und Gazelle im Zentrum eines viel weiter gespannten historischen Rahmens und verweist auf die mythische Herkunft der Tabwa, die in der Initiation der jungen Stammesmitglieder immer wieder rituell erneuert wird. Damit ist es auch der Schlüssel für die auffallenden Tatauierungsnarben auf der Tabwa-Skulptur: Es handelt sich um Wunden, die zu einem prägnanten Schmuckmuster vernarben und die Mädchen und Knaben in einem äußerst schmerzhaften Prozess zugefügt werden – den Mädchen in mehreren Abschnitten zwischen dem achten Lebensjahr und dem eigentlichen Erwachsenwerden, den Knaben konzentriert während des Initiationsrituals selbst. Die Narben belegen ihre Fähigkeit, nunmehr wie die Erwachsenen körperlichen Schmerz ertragen zu können und zu müssen, und „zeichnen“ sie zugleich als Mitglieder der Gemeinschaft. Sie tragen aber nicht nur eine abstraktes Schmuckmuster auf der Haut, sondern auch das Abbild der realen sowie der kosmisch-mythischen Geografie: Die dominante vertikale Mittelachse stellt zum einen den sich von Norden nach Süden erstreckenden Tanganjikasee dar, zum anderen die Milchstraße, die auf ähnliche Weise das Sternenzelt am Himmel strukturiert. Beide Achsen trennen Ost und West, links und rechts, verbinden aber auch oben und unten. Das Tataurierungsmuster weist somit jedes Mitglied der Tabwa als Teil der kosmischen Ordnung aus. In einer zweiten, „zeitlichen“ Dimension verknüpft die Tatauierung ihre Träger mit dem Ursprungsmythos der Tabwa, der hier zugleich inszeniert und illustriert wird. Die Tabwa führen ihre Herkunft und den Ort, an dem sie sich niedergelassen haben, auf den „großen ersten Jäger“ zurück, der auf einer langen Jagd ein Stachelschwein erbeutete und damit die traditionelle Lebensweise als Jäger begründete. Drei Sterne im Orion versinnbildlichen das Stachelschwein, der Mittelstreifen des Narbenschmucks – zugleich die Milchstraße und der Lebensraum der Tabwa – symbolisiert den endlos scheinenden Weg des ersten Ahnen. Die Narben erzählen diesen Mythos, der die Grundlage des Initiationsritus bildet und dessen Codes, auch wenn sie heute 55
nicht mehr präsent sein mögen, doch als künstlerischer Ausdruck weitergegeben wurden. Die Tabwa-Skulptur sowie die sich um sie rankenden Legenden und Bräuche illustrieren einige wichtige Facetten des Schulterritts, aus denen alleine aber keine darüber hinausgehenden allgemeinen Folgerungen abzuleiten sind. Sie zeigen jedoch mögliche Deutungsansätze, die uns begleiten, wann immer wir auf das Motiv des Schulterritts treffen. Das Bild selbst ist so augenfällig, dass es im ersten Moment geradezu einfache Erklärungen seiner Bedeutung provoziert, die deshalb nicht unbedingt als billig anzusehen sind: Man denkt an das Tragen als „Hilfe“ für kleine Kinder, die noch nicht das Gehen der Erwachsenen gelernt haben, das Stützen alter, gebrechlicher Menschen in vergleichbarer Intention, selbst an das Wahrnehmen einer Möglichkeit, von einem Ort zum anderen zu gelangen. Weitere Assoziationen ergeben sich aus der im sakralen Königtum Westafrikas verbreiteten Vorstellung, dass Würdenträger mit ihren Füßen nicht den gewöhnlichen Boden berühren dürfen, da sie sonst ihrer heiligen Macht verlustig gehen, oder aus dem Schreiten von Filmstars auf dem roten Teppich von Cannes, die so ihre magische Ausstrahlung zur Geltung zu bringen. Und immer wieder gibt es auch unterschwellige erotische Töne, die über die rein sexuelle Aufklärung von Initianden hinausweisen. Hin und wieder wird man von Wissenschaftlern mit dem Eingeständnis konfrontiert, dass auch sie bei einem Lehrer gelernt haben, und sie bekennen, dass man „auf den Schultern von Riesen“ eben weiter sehen könne. Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton ist in seiner weit ausholenden, brillanten Untersuchung On the Shoulders of Giants (1964) dem Ursprung dieses Diktums nachgegangen. Isaac Newton – der sein Licht durchaus nicht unter den Scheffel zu stellen pflegte – soll es geprägt haben, doch kann der Autor bereits frühere Verbreitungen des Bildes im Abendland entdecken, so in Kirchenfenstern der Gotik, wo Apostel von Propheten huckepack getragen werden. Mit seinem Werk erweitert Merton das Spektrum dieses Motivs und eröffnet zugleich Erfolg versprechende Perspektiven, wie die Frage des Schulterritts von höherer Warte aus weiter zu vertiefen sei. 56
Die Sonne im Schnabel des Raben
„‚Die Bosheit war sein Hauptpläsier,/Drum“, spricht die Tante, „hängt er hier!‘“
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o endet in den Worten von Wilhelm Busch das kurze Leben des Raben Hans Huckebein: In einer hinterhältigen Falle des Knaben Fritz gefangen, sieht sich Huckebein hilflos mit den Widrigkeiten des Haushalts von Tante Lotte konfrontiert, bis er sich schließlich – betrunken vom süßen Likör – mit einem Wollknäuel selbst stranguliert. Es scheint, als hätte der Autor mit diesem Szenario bildhaft den Ablauf des Aufeinandertreffens der „Naturvölker“ mit der weitaus überlegenen Zivilisation der Weißen geschildert. In vielen Teilen der Welt außerhalb Europas führten ja die ersten Kontakte zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die angesichts der unerklärbaren Überlegenheit der Europäer bei den Eroberten zu einem Kulturschock führten. Die Verzweiflung über die scheinbare Wertlosigkeit der eigenen, überlieferten Kultur machte die Menschen anfällig für die Droge Alkohol, den die Eroberer nicht selten gezielt als Waffe einsetzten. Und unter dem Einfluss von sich ausbreitendem Alkoholismus brachen in kurzer Zeit kulturelle Traditionen und soziales Gefüge auseinander – ein Los, das vor allem auch die nordamerikanischen Indianer noch weit im vorigen Jahrhundert traf. Bei den indianischen Stämmen der amerikanischen Nordwestküste, die in den pazifischen Küstenregionen des heutigen Grenzgebiets von Kanada und den Vereinigten Staaten siedeln, war der Rabe der am weitesten verbreitete mythologische Vogel, und er ist es bis heute geblieben. Er gilt als Kulturheros par excellence, als listiger Helfer der Menschen, der dafür gesorgt hat, dass die Erde überhaupt bewohnbar wurde. Aber nicht nur bei den Indianern, sondern weltweit ist der Rabe über Hans Huckebein oder Maître Corbeau in der Fabel von 57
Jean de La Fontaine hinaus bekannt, erscheint in vielen Geschichten und mit unterschiedlichen Gesichtern. Nicht immer ist sein Bild ungetrübt. Häufig, wie die genannten Beispiele zeigen, ist die Popularität des Vogels verbunden mit Tollpatschigkeit, sogar Katastrophen, die ihm noch dazu wie Pech am Gefieder kleben. So ist er seit der römischen Antike bis heute als „Unglücksrabe“ bekannt, der als schlechtes Vorzeichen gilt: Fliegt er krächzend an jemandes linker Schulter vorbei, kündigt er Unheil an. Weitgehend vergessen ist hingegen, dass seinerzeit der Flug des Raben über die rechte Schulter gute Nachrichten versprach oder dass er wegen seiner Fähigkeit, die menschliche Sprache zu lernen, geachtet wurde. Heute überwiegen in unserer Breiten die eindeutig negativen Assoziationen: von Kinderliedern („… fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben“) über Beschimpfungen wie „Rabenaas“ oder „Rabeneltern“ (wahlweise „Rabenmutter“ oder „Rabenvater“) bis hin zu Sprüchen wie „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ und „Er stiehlt wie ein Rabe“. Dass Raben mit ihrer Brut besonders grausam umgingen, lässt sich aus Beobachtungen in der Natur nicht belegen und das entsprechende Schimpfwort scheint im Gegensatz zu anderen europäischen Sprachen eine Eigenart des Deutschen sein. Allerdings passt diese sprachliche Besonderheit zum weitverbreitet schlechten Ruf des Raben als Leichen- oder Totenvogel, der sich aus der Vorliebe von Raben, sich von Kadavern zu ernähren, belegen lässt; sie halten sich also gerne an Friedhöfen und Hinrichtungsstätten auf. Auch in Nord- und Ostasien sowie im Vorderen Orient wird der Rabe häufig mit Leichen und dem Reich der Toten assoziiert. In der jüdisch-christlichen Tradition steht am Ursprung dieser Verbindung die Geschichte von der Sintflut, wie sie im Alten Testament berichtet wird: Um zu erfahren, wie weit sich die Wasser zurückgezogen haben, sendet Noah zunächst einen Raben aus, der nicht zurückkehrt (vielleicht, weil er sich an den im Wasser schwim-
Hölzerne Rabenrassel aus Nordamerika, 19. Jahrhundert.
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menden Leichen gütlich tut, wie es in der mittelaterlichen Malerei häufig dargestellt wird). Dagegen bringt die nach dem Raben ausgesandte Taube Noah einen Olivenzweig im Schnabel und kündigt so das Ende der Flut an. Beide Vögel sind fester Bestandteil der Legende, obzwar uns heute meist nurmehr die Taube als Symbol des Friedens geläufig ist. Auf der anderen Seite der Erdhalbkugel, an der pazifischen Küste Nordamerikas ist es, wie erwähnt, der Rabe, der die Menschen rettet und gleichsam ihre Existenz erst möglich gemacht hat. Zahlreiche Mythen und Legenden der Indianer feiern ihn daher als sprichwörtlichen Helden und in vielerlei Manifestationen kommt ihm eine einzigartige Paraderolle zu. „Rabe“ war ursprünglich – so berichten die Erzählungen – ein Häuptlingssohn eines himmlischen Stamms, der jedoch voll Gier so viel Essen in sich hineinstopfte, dass für seine Stammesgenossen nichts mehr übrig blieb und sie alle zu verhungern drohten. Schließlich wurde es dem Vater zu bunt und er befahl seinem Sohn, zu verschwinden, allerdings nicht ohne ihm in einem Beutel drei Gegenstände mitzugeben: ein Federkleid zum Fliegen, einen Zauberstein, der sich in eine Insel verwandelte, wenn man ihn ins Wasser warf, sowie Fischeier und Beeren. Rabe flog von dannen, zwängte sich durch ein schmales Loch, das die Verbindung zwischen Himmel und Erde darstellte, und warf, als er müde wurde, den Stein ins Wasser, der sich in eine Insel verwandelte, auf der er sich erholen konnte. An der Küste traf er schließlich auf die Menschen, denen er die Fischeier und die Beeren gab; so begründete er ihre traditionelle Lebensweise als Fischer und Sammler. Später sah Rabe, dass den Menschen das Licht fehlte, die Sonne, und wollte ihnen auch diese bringen. Er flog zurück in die Oberwelt, indem er sich wiederum durch die enge Öffnung zwängte, und versteckte sein Federkleid. Da sah er die Tochter des Häuptlings, die an einer Quelle Wasser holte. Er verwandelte sich in eine Baumnadel, die ins Wasser fiel und so die Tochter schwängerte. Sie gebar einen Sohn – nämlich den sich selbst gleichsam „untergeschobenen“ Raben –, der vom Tag seiner Geburt an raunzte, jammerte und kreischte – kurz: 60
ein unerträgliches Kind. All dies machte er aber nur, um an den hoch auf dem Regal stehenden Behälter zu kommen, in dem die Sonne aufbewahrt wurde – eigentlich kein Kinderspielzeug, aber schließlich gab der Häuptling nach. Der Kleine griff sich den Behälter, rannte zur Öffnung zwischen Himmel und Erde, schlüpfte ins Federkleid und flog mit der Sonne im Schnabel zu den Menschen zurück, die seitdem das Licht kennen. Aber auch das Feuer verdanken sie seiner Rabenlist: Mit seinem Schnabel schnappte er sich ein glimmendes Holzstück aus einer nur in der Oberwelt existierenden Feuerstelle. Der Preis dafür allerdings war hoch. Sein schöner langer Schnabel verbrannte zu einem kurzen Stummel und sein ehemals strahlend weißes Gefieder verfärbte sich kohlrabenschwarz. Ähnlich teuer bezahlte der Rabe für den Diebstahl von Süßwasser, das er den Menschen, die bisher nur Salzwasser gekannt hatten, zukommen lassen wollte: Zunächst bezirzte er die Nachtigall, die Hüterin der einzigen Süßwasserquelle, und gewann ihr Mitgefühl, weil er sich sehr durstig gab, dann trank er und trank ohne Unterlass, bis die Quelle leer war. Als er zurück in die Unterwelt fliehen wollte, blieb er im Loch stecken, weil er zu dick geworden war, und die wütende Nachtigall rächte sich, indem sie unter dem hilflosen Raben ein Feuer entfachte. Solche und ähnliche Geschichten sind von Indianerstämmen wie den östlich der Rocky Mountains in Montana lebenden Crow bekannt. Sie verdanken sogar ihren Namen einem mythischen Rabenvogel, der ursprünglich ein buntes Federkleid in den Farben des Regenbogens getragen hatte und allseits wegen seines schönen Gesanges gepriesen worden war. Als er aus Mitleid mit den unter der Kälte leidenden Menschen das Feuer raubte, wurde auch er schwarz gebrannt und hat seitdem nie mehr seine schöne Stimme vernehmen lassen. Die Tricksereien des Raben waren zweifellos von existenzieller Bedeutung für die Menschen und zauberten eine neue Welt herbei: den festen Boden unter ihren Füßen, die Sonne, das Feuer, Süßwasser und Nahrung, also die Welt, wie wir sie heute kennen. Diese Güter zu erringen war aber nur durch die Verletzung bereits bestehender Normen und Ordnungen möglich, welche für den Raben als Übeltäter zwangsläufig Strafe nach 61
sich zog: Er erhielt schwarze Federn, das Krächzen statt des Gesangs und einen Stummelschnabel, wie eben Raben heute zu sein pflegen. Der Rabe erlangt dank seines Listenreichtums immer das Gewünschte, wenngleich er nicht ohne Hinterlist auszukommen scheint. Doch das Ergebnis heiligt Mittel und Wege. So spannend und abwechslungsreich diese Erzählungen auch sind, so stellen sie doch nicht nur eine mehr oder minder logische Aneinanderreihung von einzelnen, pittoresken Motiven dar, sondern kreisen aus verschiedenen Perspektiven um die eine, existenzielle Frage: Wie ist es zu dieser unserer Welt gekommen? Daraus folgen zwangsläufig andere Fragen: Wird auch in Zukunft jeden Morgen die Sonne wieder aufgehen, wird es weiterhin Fische und Wild als Nahrung geben? Und vor allem: Was muss man dazu beitragen? Ein so simpler Gegenstand wie etwa unsere „Rabenrassel“ kann eine Antwort auf diese Fragen geben. In ihrer Bildbotschaft sowie ihrer Funktion als Ritualgerät überliefert sie symbolisch nicht nur den Legendenkreis, der sich um den Raben als Kulturheros rankt, sondern vergegenwärtigt ihn und seine Taten immer wieder aufs Neue bei den Gemeinschaftsfeiern indianischer Gruppen. Diese Rassel stammt von den als Jäger und Fischer an der pazifischen Küste lebenden Tlingit. In verschiedenen Formen und mit variierenden Schnitzdekoren waren solche Stücke bei den Indianerstämmen der Nordwestküste weitverbreitet. Das Innere ist mit Körnern oder Steinchen gefüllt, die beim Schütteln mit der Hand das charakteristische Rasselgeräusch hervorrufen. Hauptmotiv des Dekors ist der Rabe auf der Flucht: So schmal und windschlüpfrig wie möglich, um sich durch das Loch zwischen Himmel und Menschenwelt zwängen zu können, hält er in seinem noch langem, ausgestrecktem Schnabel die Beute: ein glimmendes Holzstück, Licht und Feuer zugleich. Auf seinem Rücken liegen verschiedene Wesen – ein Mensch, ein Bär (?), ein weitere Vogel, auf anderen Rasseln häufig auch ein Frosch oder ein Mensch mit Wolfsmaske –, deren Bedeutung als Gruppe unklar ist. In allen Varianten sticht jedoch eine auffallende lange Zunge ins Auge, die eine Art Brücke zwischen Mensch und mythischem Tier darstellt. Sie ist in der Tat ein Bild der Verbindung und des Kontaktes, der zwischen allen Beteiligten und über die Zeiten hinweg hergestellt wird. 62
Rabenrasseln dieser Art oder in Form von ähnlich dekorierten Holzkugeln wurden am Stiel in der Hand gehalten und geschüttelt. Mit ihrem rhythmischen Schlag untermalte der Schamane bei den gemeinschaftlichen Feiern die Erzählungen über den Ursprung der Menschen und begleitete die Aufführungen der Tänzer. Solche Veranstaltungen fanden zum Beispiel statt, wenn die jungen Stammesmitglieder als nunmehr voll Verantwortliche in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen und in die Mythen und die Geschichte ihres Stammes eingeführt wurden. Der Klang der Rassel versetzte den Schamanen und die Tänzer in Trance, in der sie die Ereignisse des Ursprungs erlebten, diese rituell zum Leben erweckten und so jedes Mal aufs Neue die ursprünglichen Geschenke an die Menschen bestätigten. Wie aber ist es zu erklären, dass die grundsätzlich positive Rolle des Raben bei den Nordwestküsten-Indianern in offenkundigem Gegensatz zu den anfangs erwähnten dunklen Seiten des Vogels steht, von denen aus fast allen Teilen der sonstigen Welt berichtet wird? Der Rabe ist im unmittelbaren Sinne des Wortes ein „Leichenvogel“. Ähnlich wie Wölfe oder Kojoten ernähren sich auch verschiedene rabenartige Vögel von Kadavern. Wo immer also Raben zu beobachten waren, galten sie als sicheres Zeichen dafür, wo ein Kadaver lag oder auch eine Leiche hing – der ursprüngliche „Galgenvogel“ war ein Rabe, dessen Bezeichnung man auf den Gehenkten übertrug. Diese symbiotische Beziehung machte sich beispielsweise der Ahnherr der Mandschu zunutze, die Anfang des 17. Jahrhunderts unter seiner Führung China erobern sollten: Auf der Flucht vor seinen Feinden versteckte er sich unter einem Baum, in dem ihm wohl gesonnene Elstern hockten, und täuschte so seine Verfolger, die dort kein lebendes Wesen vermuteten. In dieser Geschichte ist eine Ambivalenz spürbar, mit der wir im Bild des Raben immer wieder konfrontiert werden. Er hat gute und schlechte Seiten, wie etwa als Orakelvogel bei den Römern. In vielen Teilen der Welt, vor allem im nördlichen Asien und Europa überwiegen die Assoziation von Rabe und Tod und sein Bild als Aasfresser und Leichenvogel. Auch in den Geschichten der Indianer ist der Rabe nicht einfach der reine Unschuldsengel, im Gegenteil, er trickst, betrügt und führt Freund und Feind an der Nase 63
rum. Die Besonderheit, die den Raben bei den Indianern gegenüber anderen Geschichten in vielen Teilen der Welt auszeichnet, ist seine vorrangige Rolle als Kulturbringer. In dieser Rolle ist er „Außenseiter“ im positiven, aber auch im negativen Sinne. Denn erst dadurch, dass er sich über die vorgegeben Regeln hinwegsetzt, ja hinwegsetzen muss, wird er zum Schöpfer der Welt, wie sie ist, und wie sie in mythischen Erzählungen und kultischen Handlungen der Indianer immer wieder bestätigt und erneuert wird.
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Die Maya und der Tod
Der Jaguar ist die gewaltigste Großkatze der Neuen Welt; sein Lebensraum erstreckt sich vornehmlich auf den Dschungel und die Tiefebenen nahe der großen Flussläufe Mittel- und Südamerikas. Bis heute gilt er als einer der gefährlichsten Feinde von Tieren und Menschen. Manche seiner Eigenschaften und seines Verhaltens als Raubtier sind unmittelbar oder im übertragenen Sinne in den Dekor eines Keramiktellers eingegangen, der aus einem rund 1500 Jahre alten Maya-Grab stammt. Die Maya leben seit dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend bis heute in Mittelamerika und herrschten zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert n. Chr. über ein großes Reich auf der Halbinsel Yukatan. In diesem Zeitraum entstand auch der Teller. Wir wissen nicht, welche möglichen Bedeutungen des Jaguars – etwa als Schutzgeist des Lebens oder Helfer in der Welt der Toten – seinerzeit in den Gesamtdekor eingegangen sind. Die schriftlichen Überlieferungen sind lückenhaft und innerhalb der historischen Entwicklung von Glaubensvorstellungen häufig nicht schlüssig zuzuordnen. Bildhafte Darstellungen auf Reliefs und Anlagen von Gräbern oder Totenpalästen sind unterschiedlich interpretierbar. Sicher können wir davon ausgehen, dass der Teller als Grabbeigabe Vorstellungen der Maya von Leben und Tod widerspiegelt, sodass die Aufgabe des heutigen Betrachter darin besteht, einzelne Elemente aus der Vielfalt mythologischer Vorstellungen und religiöser Überlieferungen so weit wie möglich sinnvoll miteinander zu verbinden. Das Ergebnis kann bestenfalls der Versuch einer Deutung des Bildzusammenhangs sein. Schon der Teller stellt in seiner klaren und einfachen Gestaltung die wesentlichen Elemente der Entstehung des Universums und seines Aufbaus dar. Er ist aus Ton gebrannt und wird von drei Füßen getragen. Der „Fuß des Wassers“ erinnert daran, dass die Erde aus dem Wasser emporgewachsen ist; der „Fuß der gefiederten Schlange“, die als Herrschaftssymbol gilt, und der „Fuß des Jaguars“, der als Herr der Unterwelt angesehen wird, verweisen auf zwei zentrale Gottheiten des Maya-Pantheons. Dieser Teller symbolisiert aber nicht nur das Universum in abstrakt-reduzierter Form, sondern ist zugleich das Abbild ei65
nes Hauses: Seine drei Füße entsprechen den drei Steinen, die um eine Feuerstelle errichtet werden und auf deren stabiler Basis die Kochtöpfe ruhen. Herd, Haus und Universum sind letztlich ein und dasselbe und finden sich als Einheit in diesem Teller wieder. Die Dekorelemente des Tellers sind auf vielfältige Weise mit Vorstellungen von Tod und Jenseits und des Übergangs vom einen zum anderen verknüpft. Den zahlreichen Bildmotiven und mythischen Überlieferungen nach zu schließen, scheinen dies auch die Themen gewesen zu sein, die den Alltag der Maya bestimmt haben. Für den einfachen Menschen war die Perspektive überschaubar; sie konnten froh sein, mit einer Münze im Mund begraben zu werden, um sich im Jenseits wenigstens Nahrung zu verschaffen. Der Wegzoll ins Totenreich ist eine Idee, die sich spontan mit der Vorstellung vom Übergang in eine andere Welt verbinden lässt und aus verschiedenen Kulturen bekannt ist. So hatte im alten Griechenland ein Toter dem Fährmann ins Jenseits einen Obolus zu entrichten, und im alten China wurde einem vornehmen Toten ein Jadeplättchen in den Mund gelegt, ein Symbol der Fortsetzung des Diesseits im Jenseits. Hier würde man gerne direkte Kontakte zwischen den Kulturen vermuten, doch gibt es dafür keinerlei historische Belege. Die Vorstellung davon, was einen reichen Maya im Jenseits erwartete – von den armen gibt es nur wenige materielle Zeugnisse –, liegt auf der Hand: die Fortsetzung des Diesseits. Man ließ sich zu Lebzeiten einen Palast errichten, der später als Grabstätte dienen und gemeinsam mit dem Verstorbenen quasi ins Totenreich geschickt werden würde. Wer im Hier und Jetzt einen Palast bewohnt hatte, wechselte in der Tat nur die Räume, um im Jenseits weiterhin in Fülle und Reichtum wie zuvor zu leben. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leben und Tod, die in solchen Vorstellungen zum Ausdruck kommt, bleibt jedoch bestehen. Er-
Bemalter Tonteller der Maya als Grabbeigabe, 6. Jahrhundert.
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klärungen und Begründungen dafür finden sich in vielfältigen Mythen, die es in der Tradition der Maya in großer Zahl, allerdings nicht immer mit eindeutigen Antworten gibt. Eine der berühmten Mythen der Maya erzählt von den Heldenzwillingen. Das Urelternpaar hatte Zwillinge geboren, zwei Knaben, die glücklich und zufrieden in ihrer Welt lebten. Ihre größte Freude und ihr liebster Zeitvertreib war das Ballspiel. Dadurch störten sie jedoch die in der Unterwelt lebenden Götter, die sich vom Getrampel über ihren Köpfen belästigt fühlten. Sie holten die beiden Zwillinge zu sich herunter und versuchten sie zurechtzustutzen und zu demütigen. Sie stellten ihnen Aufgaben, die sie nicht lösen konnten, und zu guter Letzt wurden die Zwillinge gleichsam als Versager mit dem Tode bestraft. Einen der beiden hängten sie an einen Baum, und als die Tochter des Herrschers der Unterwelt vorüberkam, spuckte er in die Hand der jungen Frau – eine der in vielen Kulturen berichteten Formen von magischer Schwängerung. Die Frau wurde verstoßen und flüchtete in die Oberwelt zu ihren „Schwiegereltern“. Dort gebar sie wiederum Zwillinge, deren Liebe erneut dem Ballspiel galt, das natürlich wieder mit Lärm verbunden war und ebenfalls ihr Erscheinen vor den Göttern der Unterwelt nach sich zog. Nun, diese beiden machten es besser als Onkel und Vater: Sie sollten ebenfalls gedemütigt werden und wurden daher Tests ausgesetzt, die sie jedoch mit Bravour bestanden. Als ihnen etwa die Aufgabe gestellt wurde, eine Zigarre eine ganze Nacht hindurch am Glühen zu halten, stopften sie von vorne Glühwürmchen hinein und erweckten so den Anschein, als würde sie die Nacht lang glühen. Sie versuchten auch, die Herren der Unterwelt zu erheitern oder auszutricksen. Schließlich zerstückelten sich die beiden Zwillinge gegenseitig, setzten sich erneut zusammen und waren wieder lebendig. Dieses Kunststück beeindruckte die Herren der Unterwelt dermaßen, dass sie es nachmachen wollten und sich auch zerstückeln ließen. Allerdings versagten sie im zweiten Teil und erwachten nicht wieder zum Leben, sodass die Heldenzwillinge als Sieger aus dem Wettkampf mit den Herren der Unterwelt hervorgingen. Die beiden kehrten zurück in die Oberwelt, wurden als Sonne und Mond an den Himmel versetzt und beherrschten fortan die Welt der Menschen. Es würde zu weit führen, all den angesprochenen Motiven, 68
die in diesem Mythos mit Tod und Jenseits verbunden sind, im Einzelnen nachzugehen, aber die grundsätzlichen Fragen wie etwa nach dem Sterben und Wiedergeborenwerden im Jenseits, den Prüfungen, denen man unterwegs ausgesetzt ist, der Überwindung des Todes oder der Vorstellung einer jenseitigen Parallelwelt sind unmittelbar zu erkennen und nachvollziehbar. Der Tod als solcher war nicht zu überwinden, aber in Mythen und Riten oder einfachen zeremoniellen Gesten hatte er seinen Ort im Alltag der Menschen und band ihr Dasein in einen Rahmen ein, der über die Dauer ihres Lebens hinausreichte. Bemalte Keramikteller waren als Grabbeigaben bei den Maya üblich. Ihre Dekore dokumentieren auch ohne eine konkrete Geschichte zu erzählen oder einen Mythos zu bebildern, dass der Tod ein beherrschendes Thema des Alltags war. Manche Motive sind aus anderen kulturellen Traditionen bekannt und erschließen sich dem Betrachter unmittelbar, wie etwa der als Skelett dargestellt Gott des Todes, der auf einem Knochenthron hockt. Einer spezifischen Kenntnis der MayaBildsprache bedarf es hingegen, um symbolische Zeichen zu lesen oder allegorische Darstellungen zu deuten. So kündigt die Kombination eines Schrägstrichs mit je einem links und rechts davon gesetzten Punkt an, dass es sich im Folgenden um Bilder des Todes handelt. Ähnlich assoziieren Motive wie geschlossene Augen, eine hagere, skelettierte Gestalt, Wasserlilien als Kopfschmuck, Höhlen- oder Wasserdarstellungen die Welt von Tod und Jenseits. Auch formale Elemente der äußeren Gestaltung – man erinnere sich der drei Füße – beschreiben komplexe Zusammenhänge von Diesseits und Jenseits. Selbst das auffällige Loch in der Mitte des Tellers ist nicht aus Ungeschicklichkeit entstanden, sondern wurde gezielt in den Boden geschlagen, um der Seele des Verstorbenen eine Öffnung zu geben, durch die sie auf ihrer Weiterreise ins Jenseits entweichen kann. Solche „Seelenlöcher“ waren weitverbreitet, von vorgeschichtlichen Grabanlagen aus Steinplatten in Europa bis zu den großen tönernen Topfsärgen auf den Philippinen vor dreitausend Jahren. Im Zentrum unseres Tellers sitzt ein alter, gebeugter Mann mit einem Gefäß im Schoß, das Ingredienzien wie Pilze, besondere Pflanzen, Met 69
und Tabak enthält. Als Teil bestimmter Kulte bewirkt die Einnahme solcher Drogen Visionen, die Bilder des Jenseits zeigen und damit die Erfahrung der Unterwelt vorwegnehmen. Wie die Szene auch erkennen lässt, werden zur Verstärkung der Rauschwirkung Klistiere verwendet, mit denen die Drogen direkt in den Anus eingeführt werden: Am Rand des Tellers hocken drei für den Kultrausch bereite Figuren mit Klistieren. Die Orte, an denen solche Kulte gefeiert wurden, sind im Allgemeinen Höhlen, naheliegende Abbilder der Unterwelt, die den unmittelbaren Bezug zu Tod und Jenseits herstellen. Für die Maya war – wie geschildert – das Jenseits im Diesseits immer präsent; die beiden Welten standen einander wie Spiegelbilder gegenüber. Die Anlage des Grabes und seine Beigaben repräsentierten den Alltag und ließen nur durch einen bestimmten Code – den Dekor – erkennen, aus welchem Anlass sie geschaffen wurden. Dass das Leben eine Vorstufe zum Tode ist, dass Diesseits und Jenseits ineinander übergehen sind grundsätzliche, weltweit geteilte Vorstellungen, deren enorme Vielfalt und Widersprüchlichkeit sich erschließt, wenn man die einzelnen Traditionen betrachtet. Verglichen etwa mit der christlich-westlichen Praxis, den Tod und sein Umfeld aus dem Alltag auszugrenzen, sie möglichst auf unmittelbar Betroffene zu beschränken und rasch zu verdrängen, wandten sich die Völker Mittelamerikas in vorspanischer Zeit mit Inbrunst, geradezu Besessenheit den Fragen von Tod und Jenseits zu. Diese unterschiedliche Einstellung zeigte sich bereits deutlich zu Beginn der Christianisierung: Gegen die tief verwurzelten Bräuche und Kulte der Indianer konnten die Missionare ihre Vorstellungen vom Tod nicht durchsetzen, sodass sie einen Deutungskompromiss propagierten. So gingen die traditionellen Vorstellungen der Maya in den Allerheiligen- und Allerseelenfeiern der katholischen Kirche auf und verschmolzen mit ihnen. Allerdings werden sie nicht als stille Tage der Besinnung begangen, sondern als fröhliches Gemeinschaftsfest mit den Toten, die Ende Oktober, Anfang November am Día de los Muertos auf Besuch zu den Lebenden kommen. Der Grundtenor in der Auseinandersetzung der Maya mit dem Tod war von der Ambivalenz bestimmt, zum einen dem Tod ausgeliefert 70
zu sein, zum anderen ihn auf verschiedene Weise überwinden zu wollen. Darin spiegelt sich eine häufige Erfahrung in der Begegnung mit religiösen Kräften wider, die helfend, aber auch zerstörerisch wirken, zugleich positiv und negativ sein können. In der Götterwelt der Maya ist der Jaguar eine dieser Kräfte mit Doppelwertigkeit, die zugleich töten und Leben bewahren können. Auf den ersten Blick scheinen seine negativen Aspekte vorzuherrschen. Auf unserem Teller taucht er in einer vielsagenden Anspielung auf die Nähe des Todes auf: als Fellumhang, wie ihn der Herr der Unterwelt trägt. Der Jaguar symbolisiert die Sonne in der Unterwelt. Als Sternbild bringt er den in seinem Zeichen geborenen Menschen Unglück, indem sie zu einem Leben als Sklave oder Prostituierte bestimmt werden. All dies bekräftigt seinen negativen Einfluss. Zugleich ist der Jaguar aber auch das Tier, das zwischen den Welten wandelt. Er schweift in der Nacht umher, schwimmt durch Flüsse, klettert auf Bäume, kann also die verschiedenen Sphären der Welt durchqueren. Sein geschmeidiges, bewegliches Wesen befähigt ihn, sich auch in der Unterwelt zu bewegen und diese zu überwinden. Als einer der drei Füße, auf denen der Teller steht, bezeugt er seine Unentbehrlichkeit für die Stabilität des Universums. In dieser Funktion entspricht er der Position des Herrschers, der als Träger der Macht Ordnung und Stabilität des Reiches aufrecht erhält, und nicht umsonst galt der Jaguar den Vornehmen und den Herrschern, die sich auf JaguarThronen präsentierten, als Schutztier. Er tritt häufig als Schutzgeist auf, begleitet den Menschen als seine Schutzseele durchs Leben, beschützt ihn und sorgt dafür, dass auch ihm die Kraft des Jaguars zuteilwird. Die positive und die negative Seite des Jaguars stehen in einem scheinbaren Widerspruch: Seine Macht kann in die eine oder die andere Richtung wirken, je nachdem, wie sie von ihrem Träger eingesetzt wird. Der Jaguar als tödliche Gefahr und zugleich als Schutztier ist bis heute ein lebendiges Motiv in Mittelamerika. Vor etwa zwanzig Jahren berichtete die Presse in Guatemala, dass ein Mann einen anderen erschlagen haben sollte und dafür vor Gericht gestellt wurde. Seine Verteidigung lief darauf hinaus, dass nicht er der Mörder sei, sondern dass sein Schutzgeist in Gestalt eines Jaguars die Verantwortung trage. In schwierigen Situationen von einem Schutzgeist begleitet zu werden 71
ist eine beruhigende Vorstellung, die seit alters in zahllosen Erzählungen bestätigt wird. Schon die biblischen Apokryphen berichten, dass ein Schutzengel den jungen Tobias auf seinem beschwerlichen Weg begleitete, um eine Arznei gegen die Erblindung seines Vaters zu finden. Und kein sibirischer Schamane hätte sich ohne seine tiergestaltigen Hilfsgeister auf die gefährliche Reise ins Jenseits begeben. Die Macht solcher übermenschlichen Helfer kann allerdings auch für den Schutzbefohlenen gefährlich werden, und nicht immer gibt es wie in Goethes Zauberlehrling einen Meister, der die magischen Kräfte des Besens in seine Schranken weist. Im erwähnten Gerichtsverfahren allerdings hatte der Angeklagte einen Richter, der sich seiner Argumentation anschloss und ihn freisprach.
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Auf Blumenpfaden ins Paradies: Ein muslimisches Heiligengrab
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enn wir jemandem einen Strauß Blumen überreichen, wissen Geber und Empfänger je nach der Art der Blume, ihrer Farbe und dem Anlass, was man damit ausdrücken will. Die Botschaft von roten Rosen ist wohl jedem geläufig, zumindest im westlichen Alltag. In China hingegen, aus botanischer Sicht immerhin das Ursprungsland der Rose, war das Schenken von Rosen bis vor nicht allzu langer Zeit unbekannt, und wer mit einem solchen Strauß bedacht wurde, mochte sich wundern, was er bedeuten sollte. Blüten und Blumen sind überall, wo sie gedeihen, ein Zeichen des Reichtums der Natur, die sich immer wieder aufs Neue und in großer Fülle entfaltet. Weltweit verbreitet sind sie als Symbole für Fruchtbarkeit und Schönheit, die entsprechend der regionalen Vielfalt der Natur in den verschiedenen kulturellen Traditionen eigene Blumensprachen entwickelt haben. Eine fremde Blumensprache ist ohne Übersetzung unverständlich, auch wenn einem die eine oder andere Blume bekannt vorkommen mag. Als unmittelbar beeindruckend empfinden wir Zusammenstellungen von Blumen verschiedener Art wie blühende Wiesen oder einen bunten Strauß, selbst in einer gemalten Version etwa von Claude Monet oder auf einem Stillleben. Sogar Ikebana-Blumengestecke, die sich für manchen Betrachter in purer Nüchternheit oder Askese zu erschöpfen scheinen, oder eine flache, mit stilisierten Pflanzenmotiven geschmückte Wand erfreuen spontan unser Auge. Das hier gezeigte Arrangement besteht aus Keramikfliesen, die mit verschiedenen floralen Motiven dekoriert sind: Blumen, Blüten und Blätter, die sich aus Töpfen emporranken, oder Büsche und Bäume. Diese Wand diente ursprüng73
lich als Umfriedung eines muslimischen Heiligengrabs in Pakistan, und in ihrer Zusammenstellung verkündet sie eine besondere Botschaft: Dies ist der Garten, in den ein Heiliger eingegangen ist, der Garten, der ihn im Jenseits als Paradies erwarten wird. Auch im Christentum ist es Brauch, Gräber mit Blumen zu schmücken und Friedhöfe mit Bäumen zu bepflanzen – in südlichen Ländern mit „Lebensbäumen“ –, doch die besondere Verbindung, die hier zwischen Grab und Paradies hergestellt wird, zeigt, dass im muslimischen Glauben dem Garten eine weitere und tiefere Bedeutung zukommt. In ihr schwingt die historische Erfahrung seines Ursprungs mit, der untrennbar mit der Wüste und der Einöde verbunden ist. Der Religionsstifter Mohammed stammte aus der Wüste, dort wurde ihm Anfang des 7. Jahrhunderts der Koran offenbart, und Wüstenstämme waren die ersten, die sich zum Islam bekannten und ihn weiterverbreiteten. In der lebensfeindlichen Umwelt der Wüste ist eine Wasserstelle oder gar ein Flusslauf der einzige Ort, an dem sich die Natur entfalten und Leben gedeihen kann. Eine Oase erscheint hier wie ein geschlossener Garten, ein kleines Paradies in der Einöde. Die Begriffe „Garten“ und „Paradies“ sind bereits in der altorientalischen Tradition eng miteinander verbunden. Die sprachliche Wurzel des Wortes Paradies ist seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. schriftlich in der Bedeutung „umwallter, eingefriedeter Ort“ belegt und bezeichnete im Altpersischen die königlichen Gartenanlagen und Jagdparks. In der Folge gelangte das Wort als Firdaus ins Arabische und über das griechische Paradeisos in die westlichen Sprachen. Die Vorstellung, dass der Garten, der ein Stück Natur einschließt, zugleich einen „paradiesischen“ Zustand abbildet, wird zu einer geradezu zentralen Botschaft innerhalb der islamischen Überlieferung: Das Paradies, auch als „Ewiger Garten“ oder „Garten Eden“ bezeichnet, wird im Koran über 130-mal erwähnt und mehr oder minder ausführlich beschrieben. In
Wand aus bemalten Keramikfliesen aus Pakistan.
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diesen Schilderungen des Paradieses schimmert immer wieder durch, dass es einen Ort des Lebens in größtmöglicher Fülle verkörpert, im Gegensatz zur lebensfeindlichen Wüste, wo tödliche Gefahren lauern. Das Leitmotiv dieses Gegensatzes ist das Wasser, an das sich weitere Köstlichkeiten anschließen: ein Garten „mit Wasserläufen, deren Wasser frisch ist und nie verdirbt, mit Strömen von Milch, die sich niemals im Geschmack verändert, mit Strömen von Wein, köstlich für die Trinkenden“ (aber nicht berauschend), „und mit Strömen von Honig, deren Honig fein gereinigt ist“. In diesem Garten finden sich allerorten Palmen, Bäume und Tiere, die reichlich für köstliche Früchte und Fleisch sorgen. Dieses Paradies erwartet die Gottesfürchtigen im Jenseits; es ist eine Lebenswelt, in der man sich einfach wohl und behaglich fühlt, in der einem zuteilwird, „was die Seele begehrt und für die Augen eine Wonne ist“. Man wird bedient, man trägt die wunderbarsten Kleider und wie im Diesseits gibt es auch Männer und Frauen. Nach einer Variante der Auslegungen der heiligen Schriften werden dem Mann im Paradies zwei Frauen zugedacht, während die Frau im Jenseits mit jenem Mann vereint wird, nach dem sie sich zu Lebzeiten immer gesehnt hat. Was im Koran poetisch ausgemalt wird, findet sich in zahllosen Zitaten und Parallelen in der Literatur wieder, etwa in den volkstümlichen Erzählungen Tausendundeine Nacht, in denen in Bildern des Paradieses die Schönheit irdischer Gärten nachempfunden wird, „mit allen Sorten frischen Obstes, hohen Bäumen und reifen Früchten daran und eng verflochtenen Zweigen. Sprechende Vögel saßen darin, und Wasser schoss allerorten hervor.“ Ein ebenso weites verwandtes Feld ist die islamisch-orientalische Dichtkunst mit ihrer Liebeslyrik, zu deren bevorzugten Themen die opulent blühende Natur gehört. Die Dichter sehen sie als einen Garten voller Blumen, als Inbegriff eines himmlischen Paradieses. Dem der Blumensprache Kundigen ist klar, dass mit dem Garten die Frau gemeint ist, die in kaum verschlüsselten Metaphern besungen wird. Wenn ein Dichter von einem Garten spricht, sind seine Worte an die Geliebte gerichtet. Redet er von einer Rose, so sind ihre Wangen gemeint, die Kamille ist ein Bild ihrer Zähne, die Mandeln sind ihre Augen, Myrte und Vergissmeinnicht ihre Haare, und ihre schlanke Gestalt gleicht dem Wuchs einer Zypresse oder Dattelpalme. Solche 76
Bilder eines paradiesischen Gartens lassen Augen und Herz des Lesers aufgehen. Andererseits gibt es im Islam auch mystische Strömungen wie den Sufismus, welche die Natur über den äußerlichen Glanz hinaus in strengerem Licht sehen. Für ihre Anhänger ist die Natur ein Abbild Gottes, an dessen Betrachtung sich die Menschen erfreuen sollten. Ein schön anzuschauender Apfel bedeutet ästhetischen Genuss, wer seiner Begierde nachgibt und ihn verzehrt, verzichtet auf diesen. Das Jenseits als Garten strahlt auf das Diesseits zurück. Jedes Stück Natur, jeder Garten erinnert daran, und es ist verständlich, dass man diesen Empfindungen Gestalt verleiht, indem man seinen eigenen Garten schafft. Im alten Orient reicht die Errichtung von künstlich bewässerten Gartenanlagen in den großen, von Wüsten umgebenen Städten bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. zurück. In Mesopotamien spiegelt sich diese Tradition in den Paradiesvorstellungen des Gartens Eden der jüdischen und christlichen Religion wider, und im alten Persien des 1. vorchristlichen Jahrtausends lebt sie weiter in den herrschaftlichen Jagdparks seiner Könige. Im Islam wurde etwa tausend Jahre später unter dem Eindruck dieser ungebrochenen Überlieferung der irdische und himmlische Garten zu einem unverwechselbaren und tragenden Bestandteil der Kultur. Auch dem Christentum erscheint der Garten Eden als wesentliche, unverzichtbare Grundlage des Glaubens. Das Paradies stellt sich in den Augen der Gläubigen als unvergleichlich schön und erstrebenswert dar, wie wir es aus dem Mittelalter kennen, wo das „Paradiesgärtlein“ immer wieder als ein Sehnsuchtsort dargestellt wird. Das Paradies ist und bleibt das letzte Ziel der Menschen, doch wird dieser Wunsch im Christentum immer wieder überlagert und infrage gestellt durch das Drama des Sündenfalls und der Vertreibung von Adam und Eva. Mit einem anderen Grundton und Stellenwert, vor allem ohne offene oder unterschwellige Einschränkung empfängt uns das islamische Paradies bereits im Diesseits. In prächtigen Gartenanlagen werden die „vier Flüsse von Wasser, Wein, Honig und Milch“ in Form von Teichen, Flussläufen und Kanälen nachgebildet; Beete voller bunter Blumen und Schatten spendende Haine weisen im übertragenen Sinn den Weg zum himmlischen Paradies und stimmen auf seine unvergleichliche Schön77
heit ein. Die Gestaltung von Terrassen erlaubt es dem Wanderer, die Blüten von Büschen und Bäumen unmittelbar auf gleicher Höhe zu erleben. Im Zentrum und an verschiedenen anderen Orten des Gartens stehen Pavillons aus Marmor, die zum Verweilen einladen: Sie bieten ein schützendes Dach auf vier, sechs, acht oder bis zu zwölf Säulen und lassen, nach allen Seiten offen, das Auge frei streifen. Hier kann man sich niederlassen und wird erfrischt vom kühlen Wind, der über die Wasserläufe und Teiche streicht. Das sprudelnde Geräusch von Wasser, das in kleinen Stromschnellen fließt, vermittelt den Eindruck von freier, belebter Natur. Die Pavillons eröffnen immer neue, überraschende Ausblicke und Perspektiven auf die künstlich gebildete Landschaft und strukturieren die gesamte Anlage des Gartens. Sie gehören zur Tradition der orientalischen Architektur und waren ursprünglich Anbauten, die sich in erhöhter Position an Außenwänden und Ecken von Häusern und Palästen, später auch Moscheen und Grabmälern befanden. Später wurden sie als eigene Bauelemente fester Bestandteil der Gartenarchitektur. Solche Gartenanlagen, zum Teil von besonderen Ausmaßen, konnten nicht jedermanns Sache sein. Sie stellten ein Privileg der Aristokratie und der Reichen dar, die es sich leisten konnten und sich dadurch in ihrem Rang bestätigt sahen. Deshalb umgab man im Allgemeinen solche Gärten mit Mauern, die dieses vorweggenommene irdische Paradies von der profanen Umwelt absetzten. Die großen Parks der muslimischen Herrscher waren wenigen zugänglich, meist nur bei Audienzen und für den Hofstaat, der sich lediglich im vorderen, niedrigen Teil des Gartens aufhalten durfte. Am kühlsten war es in seinem hinteren und höher gelegenen Teil, der der Herrscherfamilie vorbehalten war. In den großen Parks und Gärten der muslimischen Fürsten wurden Jagdveranstaltungen abgehalten, aber auch Dichterwettstreite und gemeinsame Musikfeste, wo man sich einfach traf und es sich miteinander wohlergehen ließ. Damit nahm man das Versprechen eines verheißenen Paradieses vorweg, das sich nach dem Tode einlösen würde. So ist es durchaus verständlich, dass man in diesen Gärten bereits zu Lebzeiten sein Grabmal errichten ließ, das den Status eines Herrschers oder Fürsten widerspiegelt. Am bekannteste ist das Taj Mahal, ein Mausoleum in einem wunderbaren Garten, der als irdisches Paradies angelegt ist. 78
Von Mohammed ist folgender Ausspruch überliefert: „Der Weg zwischen der Kanzel (dem Ort, wo ich den Koran verkündete) und meinem Grab wird zu den Gärten im himmlischen Paradies gehören.“ Daher waren ursprünglich alle seine Anhänger bestrebt, so nah wie möglich am Grab des Propheten begraben zu werden, um unmittelbar in das Jenseits, das himmlische Paradies einzugehen. Später bemühte man sich, zumindest in der Nähe der Grabstätte eines Heiligen zur letzten Ruhe gebettet zu werden. Ein solcher heiliger Ort war ebenfalls als Garten angelegt, der mit Blumen und Bäumen geschmückt war, wie sie auf diesen Keramikfliesen zu sehen sind. Sie sind ein Zeichen der unmittelbaren Nähe des himmlischen Paradieses und weisen den toten Gläubigen den Weg dorthin. Dagegen erscheint der Grabstein einer einfachen Muslimin bescheiden, geradezu nüchtern: Der Name der Toten und ihr Sterbejahr sind eingraviert, gefolgt vom Wunsch, dass die Verstorbene „auf Dauer in einem Blumengarten leben soll, umgeben von Tieren, die in ihrer Sprache sprechen“. Gräber können also sehr verschieden sein: ein Mausoleum in einem prächtigen Park, eine idyllische Grabanlage, die von Bildern zierlich gemalter Pflanzen und Bäume umgeben ist, oder ein einfacher, beschrifteter Grabstein auf dem Friedhof, der –wie im Islam üblich – nach Mekka ausgerichtet ist. Für alle muslimischen Gläubigen stellt sich das Jenseits als ein paradiesischer Garten dar, in dem sie nach dem Versprechen des Korans nach ihrem Tod in Freuden leben werden. Der Weg, der den irdischen mit dem himmlischen Garten verbindet, beginnt immer an der Stätte des Grabes. Er ist ein von blühenden Pflanzen gesäumter Pfad, dessen Ziel das Paradies ist.
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Der Kosmos des Buddha des unermesslichen Lichtes
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ie Statue eines athletisch gebauten Mannes mit umgehängtem Löwenfell ist unschwer als antiker Held Herkules zu identifizieren; das Denkmal eines Bischofs in Begleitung seines Bären, der einen Packen Bücher auf dem Buckel trägt, ist für einen Oberbayern leicht als der heilige Korbinian von Freising zu erkennen, der die Region zum Christentum bekehrte. Eine solche Reihe von bedeutenden Gestalten der Geschichte, die anhand von Tierattributen zu benennen sind, ist einfach fortzusetzen – jedenfalls bis ins 18. Jahrhundert, als noch Herrscher und Feldmarschälle wie Friedrich II. von Preußen oder Prinz Eugen von Savoyen zu Pferd verewigt wurden. Seitdem überzeugen eher Denkmale ohne Tiere, wie das von Winston Churchill in London, der, auf seinen Stock gestützt, schwer an der Bürde der Verantwortung zu tragen scheint und zugleich voll Entschlossenheit voranschreitet. Wie hingegen ist das für unsere Augen eher ungewohnte Bild eines Buddha im Mönchsgewand zu verstehen, der auf einer Schildkröte steht? Um die Antwort vorwegzunehmen: im Grunde gar nicht so anders, denn alle Genannten verbinden außergewöhnliche, nicht selten „übermenschliche“ Taten mit bleibender, je nach Sichtweise universaler Ausstrahlung. Diese mit Goldlack überzogene Holzstatue des Buddha Amitabha – „des unermesslichen Lichtes“, wie sein Name sagt – stammt aus dem Japan des 18. Jahrhunderts und steht seit fast hundert Jahren im zentralen Treppenaufgang des Staatlichen Museums für Völkerkunde in München (heute Museum Fünf Kontinente). Sie stellt den bedeutendsten der transzendenten Buddhas dar, die zeitlos sind, immer präsent
Buddha Amitabha aus vergoldetem Holz aus Japan, 19. Jahrhundert.
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und nicht den Naturgesetzen unterworfen. Amitabha ist der historisch am frühesten verehrte Buddha – in Indien seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. –, der in China und Japan höchstes Ansehen und Popularität genießt. Ikonografisch überlagern sich schon früh Amitabha und der historische Buddha, der Gründer der Lehre. Allen Buddha-Darstellungen gemein sind festgelegte äußerliche Merkmale, zu denen 32 besondere Eigenschaften zählen. So wölbt sich zentral über seinem Kopf ein Wulst, dessen Ursprung sich um die Zeitenwende nach Baktrien zurückverfolgen lässt, als griechische Bildhauer Buddha-Skulpturen mit dem in ihrer Heimat üblichen Haarknoten schmückten. Charakteristisch sind die nach rechts gedrehten Haarlocken sowie die langen Ohrläppchen – eine Folge des Ohrschmucks, den der historische Buddha in seiner Jugend als Fürstensohn getragen hatte. Zur Erinnerung an die Haarlocke auf seiner Stirn sind Statuen an dieser Stelle häufig mit einem Edelstein oder Kristall geschmückt. Weitere Kennzeichen sind die Mönchskleidung, dazu bestimmte Gesten, die entsprechend der intendierten Aussage der Statue variieren, aber im Einzelnen ikonografisch präzise vorgeschrieben ist: Im vorgestellten Fall gewährt der Buddha Amitabha mit der nach oben gerichteten, offenen rechten Handfläche seinen Anhängern Schutz, mit der ebenfalls einladend geöffneten linken Handfläche vollzieht er die Geste der Wunscherfüllung. „Buddha“ ist kein Name, sondern ein Ehrentitel und bedeutet „Erwachter“, „Erleuchteter“. Nach buddhistischer Vorstellung kennt unser gegenwärtiges Zeitalter eine historische Verkörperung des Buddha, den Fürstensohn Siddhartha Gautama, der im fünften vorchristlichen Jahrhundert im Norden Indiens lebte. Über verschiedene Stufen von Erfahrungen gelangte er zur Erleuchtung, nachdem er erkannt hatte, dass alle Existenzen leidvoll sind und die Überwindung des Leidens nur möglich ist, wenn man es als Illusion durchschaut und damit aus dem Kreislauf der Wiedergeburten aussteigt. Andernfalls bleibt man im Leid und in dieser Welt verhaftet. Jahrhundertelang beschränkte sich die Kenntnis der Lehre des Buddha auf eine geringe Anhängerschaft, vornehmlich von Mönchen und Gelehrten, da sie hohe intellektuelle Ansprüche stellte. Zur Akzeptanz der buddhistischen Weltanschauung in der breiten Bevölkerung bedurfte es eines neuen Ansatzes. Neben 82
der ursprünglichen Lehre, die aus späterer Sicht „Kleiner Wagen“ genannt wurde, weil die Erleuchtung nur Menschen von höchster geistiger Kapazität vorbehalten war, entwickelte sich um Christi Geburt die Lehre des „Großen Wagens“. Dieser sollte allen Wesen – Tieren, Menschen, Geistern, Gottheiten – Platz bieten und die Perspektive geben, in absehbarer Zeit und nicht erst nach zahllosen Wiedergeburten jenen Grad der Erkenntnis zu erlangen, der zur Erleuchtung führt. Eine wesentliche Folge dieser neuen Ausrichtung war eine missionarische Öffnung, durch die sich der Buddhismus, ausgehend von Indien, über die Handelswege des Himalaya und Zentralasiens nach China, Tibet, Korea und Japan verbreitete. Bereits im 7. Jahrhundert war der Buddhismus in Japan fest verwurzelt, allerdings in seiner ursprünglichen Form, wonach nur einer Elite, die bestimmte intellektuelle Voraussetzungen erfüllte, das Ziel der Erleuchtung als realisierbare Möglichkeit vor Augen stand. Da die Lehre des Buddhismus schriftlich überliefert wurde, musste man lesen können, um die Texte zu studieren, was die Chance der Erleuchtung für Mitglieder der Aristokratie und betuchter Schichten erhöhte. Der Buddhismus spiegelte demnach die gesellschaftlichen Strukturen der damaligen Zeit wider. Um die Jahrtausendwende kam es zu politischen Veränderungen, die die Macht der Aristokratie beschnitten und mehr Menschen Einfluss auf die Teilhabe an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Gemeinschaft bot. Dies bezog sich auch auf die Religion, die für alle zugänglich sein sollte. Mit dem bereits bekannten Buddha Amitabha rückte eine Bezugsfigur immer stärker ins Bewusstsein der Gläubigen, deren Popularität in der Folge rasch zunahm. Der Überlieferung nach hatte Buddha Amitabha verkündet, dass alle Menschen, die Anhänger der buddhistischen Lehre waren, ihr Vertrauen in ihn setzten und seinen Namen aussprachen, unmittelbar im westlichen Paradies, über das er herrschte, wiedergeboren und anschließend direkt zur Erleuchtung gelangen würden. Dieses Versprechen war natürlich für die große Masse der Menschen von Bedeutung: Sie mussten nicht mehr lesen, schreiben, die Texte studieren können – wozu etwa ein Bauer weder die Voraussetzungen mitbrachte noch die Zeit hatte –, sondern 83
brauchten nur den Namen Amitabha auszusprechen, um im westlichen Paradies wiedergeboren zu werden. Eine der Folgen dieser Entwicklung war, dass die Mönche, die bislang zurückgezogen in Klöstern gelebt hatten, um für ihre eigene Erleuchtung zu beten, zu meditieren und Rituale durchzuführen, sich nunmehr unter das Volk mischten. Sie gingen auf die Straße und warben für den Buddhismus, indem sie die einfachen Menschen ansprachen. Auf ihren Wegen läuteten sie kleine Glöckchen, rezitierten laut buddhistische Sutren und forderten die Leute auf, in das Singen des Namens von Buddha Amitabha einzustimmen. Eine weitere Folge der zunehmenden Volkstümlichkeit von Buddha Amithaba betraf die Stellung der Frauen. Traditionellerweise gab es durchaus Nonnenklöster, wenngleich es nur wenige waren und sie geringe Bedeutung hatten. In der buddhistischen Weltsicht der frühen Zeit waren Frauen von Natur aus benachteiligt, weil sie selbst nicht zur Erleuchtung kommen konnten, sondern erst als Mann und letztlich als Mönch wiedergeboren werden mussten, um die Kette der Existenzen zu überwinden. Dieser Art von Geringschätzung der Frau begegnet man in verschiedenen Religionen; bekannt ist sie etwa aus der christlichen Tradition, die Eva im Paradies mit dem Apfel der Erkenntnis als Verführerin in Erscheinung treten lässt. Auch der Buddhismus sieht mit anderen Vorzeichen die Frau als Ursache der Ablenkung, die den Mönch das angestrebte Ziel der Erleuchtung aus den Augen verlieren lässt. In einer immer wieder zitierten Geschichte, die auf den historischen Buddha zurückgehen soll, entspinnt sich zwischen ihm und seinem Lieblingsjünger Ananda folgender Dialog: „Meister, was soll ich denn mit den Frauen machen, wenn ich sie treffe?“ – „Ignorier‘ sie einfach!“ – „Ja, aber wenn sie auf mich einreden?“ – „Dann rede nicht zurück!“ – „Und wenn sie darauf beharren?“ – „Dann sei auf der Hut, Ananda!“ Anderthalb Jahrtausende nachdem der historische Buddha 483 v. Chr. das Nirwana erreicht hatte und seine Individualität und das mit ihr verbundene Leiden endgültig erloschen waren, bot sich den Verehrern von Buddha Amitabha, ob Männern oder Frauen, gleichermaßen die Chance, unmittelbar aus dem Kreislauf der Existenzen auszusteigen. In 84
der Gestaltung seiner Bilder wie dieser Statue manifestieren sich die an alle Menschen gerichtete Einladung, bei ihm Schutz zu suchen, und das Versprechen, Hilfe zu erhalten. Ein genauer Blick auf die Gesten der Hände zeigt, dass die beiden Zeigefinger eingeknickt sind – ein Zeichen dafür, dass Amitabha von seinen Verehrern erwartet, selbst durch ihren Lebenswandel dazu beizutragen, im westlichen Paradies wiedergeboren zu werden. Das westliche oder reine Paradies ist der Ort, an dem man zum letzten Mal wiedergeboren wird, als Mönch im Kelch eines Lotos, der sich aus dem Wasser emporhebt. Der Lotos ist die Blume des Buddha und symbolisiert die Reinheit seiner Lehre: Wie eine Lotosblüte, die aus dem Schlamm rein und weiß erblüht, ist die Lehre des Buddhismus in die Welt gekommen, in den Schlamm des Alltags, aus dem heraus sie sich entfaltet hat. Buddha Amitabha herrschte über das Paradies des Westens, so wie auch den anderen überzeitlichen Buddhas die vier Himmelsrichtungen und das Zentrum zugeordnet waren, um ihren Anspruch auf Universalität zu unterstreichen. Den frühen christlichen Missionaren in Japan hingegen erschien diese Eigenschaft als ein besonderes Zeichen, dass dieser mildtätige Gott gerade den Westen beherrschte, also ihrem Gott zu entsprechen schien. Amitabha ist in ein Mönchsgewand gekleidet, das wie seine bloßen Füße an seinen indischen Ursprung erinnert. Er steht auf einem Lotossockel, der wiederum von einer Schildkröte getragen wird, die über Meereswellen zu schweben scheint. Ihr ausgeprägter Schädel mit dem weit aufgerissenen Maul, aus dem Haare heraushängen, ist ein Zeichen ihrer Verwandtschaft mit dem Drachen. In der chinesischen Tradition waren Drache, Einhorn, Phönix und Schildkröte die vier heiligen Tiere, die dem klassischen Schöpferheros Pangu geholfen hatten, die Welt zu gestalten. Sie sind also die Schöpfer des Universums, und die Schildkröte ist darüber hinaus auch das Abbild des Universums selbst: Ihr Rückenpanzer ist rund wie der Himmel und wölbt sich wie ein Zelt über ihren Bauchpanzer, der viereckig ist wie die Erde nach ostasiatischer Vorstellung. Auf dem Panzer der Schildkröte sind Muster und Zeichen zu sehen, die im klassischen chinesischen Buch der Wandlungen (chin. Yi Jing, bei uns in der noch heute vorbildlichen Übersetzung von Richard Wilhelm als I Ging bekannt) als Bilder von aufeinanderfolgenden kosmischen Verän85
derungen aufgezeichnet sind. Sie bestehen aus Sprüngen, die entstehen, wenn man einen Schildkrötenpanzer mit einem brennenden Holzstab erhitzt, und ihre jeweilige Form wird als Orakel gedeutet. Die Schildkröte ist aber auch Zeuge der Veränderungen des Universums, wie ein Mythos bestätigt: Nach ostasiatischer Vorstellung sind Himmel und Erde durch vier Säulen miteinander verbunden, die nicht etwa den Himmel stützen, sondern an denen die Erde hängt. Ein mythischer Rebell, der gegen den Herrscher aufbegehrt hatte und unterlegen war, rannte voller Zorn gegen die im Nordwesten stehende Säule und brachte sie zum Einsturz. Dadurch verschoben sich Himmel und Erde gegeneinander; die Erde hob sich im Nordwesten und sackte im Südosten ab. Seitdem fließen die großen Ströme Chinas, der Gelbe Fluss und der Jangtse, von Westen nach Osten, wo sie ins Meer münden. Tiere wie der Löwe, der Bär oder die Schildkröte sind ikonografische Attribute, mit deren Hilfe eine dargestellte Figur identifizierbar ist. Die sich um sie rankenden Legenden und Mythen – die Taten, von denen das Löwenfell erzählt, der Inhalt der Bücher, die der Bär trägt, die kosmischen Assoziationen, mit denen die Schildkröte verknüpft sind – erklären die mit den Figuren verbundenen Veränderungen: die Vergöttlichung von Herkules, die Christianisierung Bayerns oder das Aufblühen einer buddhistischen Bewegung, deren Anhänger nach dem reinen Paradies des Westens streben. Die Schildkröte als Abbild des Universums stützt Buddha Amitabha und bestärkt ihn zugleich in seiner Aufgabe, allen Wesen den Weg aus dieser Welt des Leides zu weisen.
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Der vielgestaltige Gott Vishnu
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bbildern von Göttern, Gottheiten oder Heiligen, also jenen Wesen, die von den Anhängern einer Religion als höchst verehrenswert angesehen werden, begegnet man an verschiedenen Orten und auf unterschiedliche Weise. Im Idealfall befinden sie sich in jenem kultischen Kontext, für den sie ursprünglich bestimmt waren, ob in einer imposanten Tempelanlage oder einem bescheidenen Herrgottswinkel. Doch schon die wohlbekannten Skulpturen der antiken Götter sind nur noch ausschließlich in Museen anzutreffen oder in Heiligtümern, die zu Museen umgewandelt wurden. Vor allem die abendländische Tradition lässt die Grenzen zwischen den Kathedralen der Kunst, als die Museen gerne bezeichnet werden, und ihren sakralen Vorbildern häufig verschwimmen und beeinflusst durch die jeweilige Präsentation unser Verständnis von religiösen Objekten. Ursprünglich ließ die Schädelreliquie eines Märtyrers den Gläubigen erschauern, eine Darstellung des Gekreuzigten bewirkte tief empfundenes Mitleiden und der Anblick einer Statue des heiligen Florian zog spontan ein Stoßgebet um Schutz vor einer Feuersbrunst nach sich. In der Nachbarschaft ähnlicher Figuren und Bilder innerhalb einer Ausstellung erweitert sich der Blickwinkel; kulturwissenschaftliche oder kunsthistorische Betrachtungen treten in den Vordergrund und neutralisieren geradezu die ursprünglich Intention ihrer Schöpfung. Begegnungen mit Bildern des Göttlichen gibt es viele, und nicht selten lassen sie mit ihnen verbundene religiöse Vorstellungen erkennen. Eine mittelalterliche Legende berichtet von einem armen Geiger, der vor dem Bild der volkstümlichen heiligen Kümmerniss am Kreuz aufspielt, um ihre Leiden zu lindern. Als Dank streift sie einen golden Schuh von ihrem Fuß, und gibt so allen Hilfesuchenden ein konkretes Zeichen – etwas Fassbares, an das sie sich in ihrer Not klammern können. Zwischen dieser Legende und einer Episode aus dem Leben des 87
chinesischen Zen-Meisters Tianran (9. Jahrhundert n. Chr.) scheinen Welten zu liegen: Als ihn fror, machte er ein Feuer mit einer hölzernen Buddha-Statue und wärmte seine Hände daran; dem sich entrüstenden Abt erklärte er, dass der Inhalt der buddhistischen Lehre keine Reliquie sei. In beiden Fällen wird von Begegnungen mit sakralen Abbildern berichtet, die in ganz unterschiedlicher Weise Gleiches bewirken, nämlich den Menschen helfen. Die religiöse Bedeutung der Objekte – des goldenen Schuhs und der Buddha-Statue – wird erst durch die damit verbundene Geschichte erkennbar. Im Allgemeinen stehen Darstellungen von wichtigen Gottheiten in kodifizierten Traditionen, sodass eine Identifizierung selbst bei einem Torso wie dem des hinduistischen Hauptgottes Vishnu möglich ist. In seiner standardisierten, vierarmigen Gestalt trägt Vishnu als kosmischer Herrscher königliche Kleidung sowie eine hohe, tiaraförmige Krone und als Zeichen seines Standes die von der linken Schulter herabhängende Brahmanenschnur, die männlichen Hindus im Initiationsritus verliehen wird. In der rechten oberen Hand – hier ebenso wie die linke abgebrochen – trug er eine Diskusscheibe, die die Sonne darstellt: Sie ist das Zeichen dafür, dass Vishnu das gesamte Weltall beherrscht und es wie die Sonne erleuchtet. Die fehlende Linke hielt ein Schneckenhorn hoch, dessen Schall die gesamte Welt erfasst und Vishnus Allgegenwart kundtut. Die beiden unteren Arme sind erhalten geblieben: Die linke Hand, locker am Oberschenkel angelegt, umfasst einen Knüppel, mit dem der Gott böse Dämonen verjagt; die Rechte teilt den Menschen, die ihn um Schutz anflehen, in einer Geste der Barmherzigkeit und Ermutigung mit: „Ich bin eure Stütze, ich helfe euch.“ In ihrer frontalen, streng aufrechten Haltung vermittelt die Statue Vishnus Funktion als Weltensäule und Träger des Alls. Er ist der Beschützer aller Wesen und der Bewahrer der kosmischen Ordnung, so wie Shiva, der andere hinduistische Hauptgott, der Zerstörer der Ordnung ist.
Stehender Vishnu aus Granit aus Südindien, 10./11. Jahrhundert.
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Beide gemeinsam repräsentieren das kosmische Prinzip von Werden und Vergehen. Der Hinduismus ist mit dem Christentum und dem Islam eine der größten und am weitesten verbreiteten Weltreligionen. Er entwickelte sich seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. aus zahlreichen lokalen Kulten und verschiedenen Glaubensrichtungen des indischen Subkontinents, wo er heute die dominante Religion ist, ohne dass man von einem konsistenten, verbindlichen Glaubensgebäude sprechen könnte. Grundlegend und allen Hindus gemeinsam ist die Vorstellung einer allumfassenden, ewigen Weltseele, an der alle Wesen – Götter, Menschen, Dämonen, Tiere – mit individuellen Seelen teilhaben. Diese eine kosmische Seele geht mit den jeweils vergänglichen Körpern vorübergehende Verbindungen ein, die sich in einem Kreislauf von Wiedergeburten (samsara) immer neu manifestieren, als würde die Seele „verschlissene Kleider wechseln“. Das Ziel ist die Erlösung vom Zwang des Wiedergeborenwerdens, wenn die Seele dank richtigen und guten Handelns endgültig in der Weltseele aufgeht. In diesem Kreislauf des Werdens und Vergehens aller Wesen erscheint Vishnu immer wieder in vielen, letztlich unzähligen Gestalten, in denen er seiner Rolle als Waffen schwingender Beschützer entsprechend der jeweiligen Situation gerecht wird. Mehrere Legendenzyklen ranken sich um seine wichtigsten zehn Manifestationen, in denen er in verschiedenen Zeitaltern immer wieder in Erscheinung getreten ist und die zum ständigen Motivschatz von indischer Literatur und Kunst zählen. Zu diesen Vollinkarnationen gehören Tiere wie etwa der Fisch, die Schildkröte, der „Löwenmann“ oder der Eber. Als einst die Erde, auf der wir alle sicher zu stehen hoffen, in die Unterwelt abgerutscht war, verwandelte sich Vishnu in einen mythischen Eber, um die Erde zu retten. Er trug sie auf seinem Rücken vom Boden der Unterwelt empor, und wollte sie wieder an der gewohnten Stelle befestigen. Dabei wurde er jedoch von Dämonenzwillingen gestört und angegriffen, da die Erde, wie diese verkündeten, in „ihre“ Unterwelt abgestürzt sei und dort auch bleiben müsse. Zum Glück gelang es Vishnu in seiner Ebermanifestation, die beiden zu überwältigen und mit einem Hieb seiner Hauer zu töten. 90
Zu den populärsten Verkörperungen Vishnus gehören seine Erscheinungen als Krishna – ursprünglich eine Gottheit indischer Hirtennomaden, die später als Inkarnation Vishnus ihm gleichgesetzt wurde. In den Legenden und Mythen taucht Krishna zunächst als kleines Kind auf, ein rechter Kobold, der die Ammen oder Mütter, die ihn betreuen, an der Nase herumzuführen pflegt. Immer wieder erzählt wird die Geschichte von „Krishna mit der Butterkugel“: Zunächst trickst er wieder einmal seine Ammen aus, entwischt ihnen und zerschlägt einen großen Buttertopf. Daraus holt er sich die Butter, füttert damit die Affen und nimmt sich selbst davon, um zu naschen. Diese äußerst beliebte Szene wird mit ihm als kleinem Kind dargestellt, das am Boden krabbelt und in der erhobenen Hand eine Butterkugel hält. War schon der kleine Krishna ein Schelm, dem man nicht böse sein konnte, so wurde er als Erwachsener zum Schwarm aller Frauen. Die Mütter wurden auf einmal zu jungen Mädchen, die sich in ihn verliebten; er war so eine Art Don Juan der indischen Geschichte mit einer Reihe von amourösen Abenteuern. Einmal etwa beobachtet Krishna Hirtenmädchen beim Baden. Sie haben ihre Saris am Ufer abgelegt und plantschen im Fluss. Krishna greift sich die Kleider und klettert auf einen Baum. Als die Mädchen aus dem Fluss steigen, sind sie verzweifelt, denn sie finden ihre Saris nicht mehr. Da zeigt sich Krishna im Geäst des Baumes, und die Frauen, verschämt und entsetzt, wissen nicht, was sie tun sollen. Als er schließlich sagt: „Jede kann einzeln zu mir kommen und sich ihren Sari bei mir abholen“, bleibt ihnen so recht keine Wahl. Verglichen mit Zeus, der sich in einen Schwan oder Stier verwandelte, um ans Ziel zu gelangen, kann man Vishnu in seiner Manifestation als Hirtenjüngling zumindest keine Unredlichkeit unterstellen. Seine außerordentlichen körperlichen und magischen Kräfte hat Vishnu auch in zahlreichen Wundertaten unter Beweis gestellt, etwa im Kampf mit einer giftigen Wasserschlange, der Verursacherin eines gefährlichen Stromwirbels, die er unschädlich machte, oder indem es ihm gelingt, riesige Feuersbrünste und Unwetter von den Menschen abzuwenden. Zu den zehn wichtigen Vollinkarnationen Vishnus zählt eine, die man in dieser Reihe trotz ihrer Vielfalt zunächst nicht vermuten würde: 91
Buddha, der „Erleuchtete“. Die Herausbildung des Hinduismus war von Anfang an bestimmt durch die Aufnahme verschiedener Elemente aus anderen religiösen Strömungen, die bis heute seinen Charakter als Sammelbecken unterschiedlicher religiöser Traditionen bestimmen. Auch Einflüssen des Buddhismus verdankt die hinduistische Religion manches, dessen Spuren bis heute deutlich nachvollziehbar sind. Hierzu gehören etwa die Vorstellung vom Kreislauf der irdischen Existenzen, die diesen mit richtigem Verhalten und Anhäufen guter Taten schließlich überwinden können, aber auch ethische Verhaltensregeln oder die Tradition von Orden und Klöstern. Bei so viel Nähe in grundsätzlichen Glaubensüberlieferungen bestand aus der Sicht der Anhänger des Hinduismus die Gefahr, dass dadurch die Grenzen zwischen den beiden Religionen verschwimmen. Wie aber und mit welcher konkreten Absicht kommt Vishnu dazu, den Buddha und damit einen „Konkurrenten“ seiner eigenen Lehre zu verkörpern? Nun, er tritt als Buddha „verkleidet“ in dessen irdische Spuren und verkündet die Lehren des Buddhismus. Damit trennt Vishnu die guten von den schlechten Hindus, denn diejenigen, die ihm als „Buddha“ folgen, sind die schlechten. So eigentümlich diese Verkörperung Vishnus erscheinen mag, so zeigt sie doch, dass zwischen Religionen Auseinandersetzungen vorstellbar sind, in denen die Überzeugungen anderer mit deren eigenen Waffen geschlagen und schließlich übernommen werden können. In den über dreitausend Jahren seines Bestehens ist der Hinduismus in Indien und Südostasien mit zahlreichen religiösen Traditionen in Berührung gekommen, auf vielerlei Weise beeinflusst und zu einem vielfältigen, offenen Glaubensgebäude erweitert worden, als das sich die Religion heute darstellt. Es wurden nicht nur Einflüsse von lokalen buddhistischen Kulten aufgenommen und etwa die altindische Gottheit Indra integriert, sondern auch Traditionen früherer indoeuropäischer Einwanderer. Deren Sozialstruktur von Kriegern und Gelehrten, Händlern und Bauern wurde von den Hindus im religiösen Sinne umgedeutet und blieb bis heute als Grundlage der Kastentrennung erhalten. Vishnu kann als Sinnbild für die Entstehung und Geschichte der hinduistischen „Religion“ gelten. Er ist eine Gottheit, die dem Werden und 92
Vergehen nicht mehr unterworfen ist und sich weit über die vorgestellten Beispiele hinaus in so vielen Gestalten verkörpert, dass er nicht mehr fassbar scheint. In der Bhagavad Gita („Gesang des Erhabenen“), der Hauptschrift des Hinduismus, heißt es von ihm: „Ich sehe dich in deiner nach allen Seiten endlosen Gestalt, mit vielen Armen, Leibern und Gesichtern und Augen; kein Ende, keine Mitte und keinen Anfang sehe ich an dir, o du Herr des Alls, du ‚Allgestaltiger‘.“ Solcherart wird Vishnu in Bildern und Zeichnungen dargestellt, mit zahlreichen Körpern, Händen, Füßen und Köpfen, die nach und nach in der Umgebung verschwimmen und ihn zum vielgestaltigen Gott machen. Egal in welcher Gestalt – Vishnu erscheint den hinduistischen Gläubigen immer als Ansprechpartner, an den man sein Anliegen, seine Bitte um Hilfe richtet, dem man seine Verehrung entgegenbringt. Doch im Unterschied zu manchen anderen Religionen nimmt Vishnu während einer Kulthandlung Besitz von seinem Abbild, und der Gläubige nimmt unmittelbar Teil an seiner göttlichen Natur und ist für diesen Moment selbst Vishnu, der vielgestaltige Gott.
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Der Blick in die Zukunft
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er Blick in die Vergangenheit scheint uns immer wieder zu bestätigen, dass die von damals aus betrachtete Zukunft eigentlich vorhersehbar gewesen wäre. Und zumindest in der einen oder anderen Sache würden wir schon ganz gerne wissen, was uns bevorsteht, was gleichsam vor unseren Augen oder buchstäblich auf der Hand liegt, wenn man es denn zu sehen oder darin zu lesen verstünde. Dafür gibt es weltweit Experten, die auf verschiedene Weise den Schleier zu lüften wissen, wobei man nicht unbedingt auf schamanische Erfahrungen oder tantrisch-buddhistische Einsichten zurückgreifen muss. Nicht wenige von uns haben wohl in ihrem Alltag Erfahrungen mit Handlesen, Kartenlegen, Würfeln oder auch bloß dem Deuten von Horoskopen sowie mit den meist nicht zufriedenstellende Antworten. Zumindest für die Vorhersage der richtigen Lottozahl gibt es mathematisch präzise Aussagen über ihre Wahrscheinlichkeit. Fatal ist allerdings das Gefühl, durch bewusst inszenierte Mehrdeutigkeit doch wieder auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. In einer bekannten Szene des Altertums befragt der lydische König Kroisos (6. Jahrhundert v. Chr.) das Orakel von Delphi – bis heute das Orakel überhaupt –, ob er gegen die Perser in den Krieg ziehen soll. Die Antwort scheint kristallklar: „Wenn du den Halys [den Grenzfluss zwischen Lydien und Persien] überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Kroisos verliert die Schlacht und zerstört – wie vorhergesagt – ein großes Reich, nämlich sein eigenes. Nicht umsonst bekommt der Ausdruck „Orakeln“, eigentlich „(göttliches) Weissagen“, die Bedeutung von „unklar, dunkel Daherreden“. Im Volksmund heißt das dann so: „Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter, oder es bleibt, wie es ist.“
Orakelteller der Yoruba aus Holz, Nigeria, vor 1916.
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Dass eine Prophezeiung nicht immer befolgt werden sollte, bezeugt die Geschichte des Kampfes zwischen dem westafrikanischen Reich der Yoruba und dem Königreich Benin im 15. Jahrhundert. Als die beiden Armeen einander gegenüberstanden, flogen Ibisse, die als Unglücksvögel galten, über die beiden Heere hinweg. Die Orakelpriester des Königs von Benin warnten ihren Herrn: „Jetzt keinen Kampf wagen, das ist ein schlechtes Vorzeichen!“ Darauf erwiderte der König: „Sich auf Omen zu verlassen, wenn man ein Reich erobern will – das ist falsch!“ Er gab das Signal zum Angriff und vernichtete das Heer der Yoruba. Die Ibisse ließ er töten und als Zeichen des Triumphs in Bronzegestalt auf Stangen mitführen. Heute stellen die Yoruba mit über 15 Millionen Menschen den Großteil der Bevölkerung Nigerias dar. Ein wichtiger Teil ihres reichen kulturellen Erbes ist die ausgefeilte, sehr lebendige Tradition des Orakelwesens mit seinen tiefen religiösen Wurzeln, das kaum etwas mit „Zufallsbefragung“ zu tun hat. Das Orakel ist für die Yoruba von äußerst großer Bedeutung, allerdings weniger, um in die Zukunft zu blicken, sondern um die Gemeinschaft in ihren vielen Verflechtungen und Konflikten im Zustand der Ausgeglichenheit zu halten. Ausgangspunkt ist die Vorstellung der Yoruba vom Kosmos und seiner Zweiteilung. Es gibt den Himmel, in dem 401 Gottheiten und die Ahnen leben, sowie die Erde mit ihren Menschen, Tieren und Pflanzen. Bei der Geburt wird dem Menschen von einem Wahrsager eine Gottheit gleichsam als Schutz mit ins Leben gegeben, und damit auch ein bestimmter Charakter und eine spezifische Verhaltensweise, verbunden mit verschiedenen Interessen, Fähigkeiten und Talenten. Das heißt aber nicht, dass man diesen Bedingungen den Rest seines Lebens ausgeliefert ist, sondern man hat durchaus Entscheidungsfreiheiten und Möglichkeiten, sich selbst weiterzuentwickeln. Die verschiedenen Kräfte, die zwischen Himmel und Erde hin- und herpendeln, beeinflussen die menschliche Gemeinschaft: Es können Konflikte entstehen, die zu Auseinandersetzungen zwischen den Menschen führen, man kann krank werden oder sich unglücklich fühlen. Um herauszufinden, woran das im Einzelnen liegt, werden Orakel befragt.
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Diese kleine, aus Holz geschnitzte und farbig bemalte Gruppe eines Priesters mit zwei Begleitfiguren ist über hundert Jahre alt. Sie stellt die Grundkonstellation einer Orakelbefragung bei den Yoruba dar, wobei solche mehrfigurigen Szenen in der afrikanischen Kunst eher selten anzutreffen sind. Auf einer Matte im Zentrum sitzt der Orakelpriester im Schneidersitz, flankiert von zwei Helferinnen mit gespreizten Beinen, den „Gattinnen des Orakelgottes“. Mit der rechten Hand umfasst er einen Stock aus Elfenbein, Metall oder Holz, die linke ruht auf einer Fußschale, die mit Palmnüssen gefüllt ist. Ein rechteckiges, mit Schnitzwerk verziertes Orakelbrett unterstützt Stock und Schale. Vor der Befragung des Orakels deponiert der Bittsteller vor dem Priester einige Münzen oder Kaurischnecken – ebenfalls ein gängiges Zahlungsmittel – als eine Art Opfer oder Entgelt für die erwünschte Antwort. Er flüstert sein Anliegen entweder den Kultobjekten des Wahrsagers oder den Wertgegenständen zu. Der Bittsteller spricht also nicht direkt den Priester an, der weder hinhört noch hören soll, welche Frage der Betreffende hat, sondern auf das vor ihm liegende Orakelbrett fixiert ist. Als Erstes erfleht der Priester den Beistand von Orunmila, der obersten Gottheit und dem wichtigsten Ansprechpartner, welcher bei der Schöpfung der Welt anwesend war und daher alles Wissen über die Welt und das Schicksal der Menschen in sich vereinigt. Um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, klopft der Priester mit dem Stock auf den Boden und tut so kund, dass ein Bittsteller etwas wissen will. Dem weissagenden Priester kommt im Orakelritual der Yoruba die zentrale Rolle zu, da aus seinem Mund die Gottheit spricht. Die Ausbildung zum Orakelpriester dauert viele Jahre und setzt ein hohes intellektuelles Niveau voraus. Es geht nämlich nicht bloß um die korrekte Durchführung der Orakelbefragung, sondern auch um die Kenntnis der umfangreichen Orakeltextsammlung. Dieses Kompendium umfasst 256 Abschnitte mit jeweils Hunderten von Versen, in denen exemplarisch Lebenserfahrungen aus der Mythologie und dem historischen Wissen, erweitert durch rituelle Anweisungen, verzeichnet sind. All dies sollte und musste der Priester zum großen Teil auswendig kennen. 97
Die Fußschale ist mit 16 Palmnüssen gefüllt, von denen einige in der vorliegenden Szene zwischen den Fingern des Priesters zu erkennen sind. Diese Palmnüsse wirft er zwischen beiden Händen hin und her, bis entweder eine Nuss oder zwei übrig bleiben. Dieser Vorgang kann mehrfach wiederholt werden, da manchmal alle Nüsse auf den Boden fallen und keine übrig bleibt oder der Priester alle wieder auffängt. Wann immer aber eine oder zwei der Nüsse in seiner Hand verbleiben, zeichnet er eine durchgehende Linie (für zwei Nüsse) oder eine gebrochenen Linie (für eine) auf das vor ihm liegende Orakelbrett, das mit Maniokmehl oder von Termiten erzeugtem Holzstaub bedeckt ist. Sobald er auf dem Brett acht Markierungen von erfolgreichen Würfen notiert hat, entspricht diese Serie einer von den insgesamt 256 möglichen Konstellationen, die im Orakeltext mit den jeweiligen Versabschnitten vorgesehen sind, und der Priester weiß, wo er im Geiste „nachzuschlagen“ hat. Nun beginnt der Orakelpriester aus dem betreffenden Textabschnitt zu rezitieren, und der Bittsteller kniet oder sitzt vor ihm und hört zu. Der Priester zitiert, zitiert, zitiert und plötzlich sagt der Bittsteller: „Das ist es, darüber möchte ich bitte Genaueres wissen“ – weil er spürt, dass er auf jene Stelle gestoßen ist, die ihm eine Antwort auf seine Frage gibt. Daraus ergibt sich ein Gespräch zwischen beiden, eine Deutung dieses heiligen Textabschnitts, und dem Bittsteller ist schon allein dadurch geholfen, dass sein Konflikt oder die ihn bedrückenden Probleme in einem weiteren, mythischen, religiösen, auch historischen Zusammenhang stehen. Der Orakelpriester ist weniger ein Wahrsager oder jemand, der ein Horoskop erstellt, sondern ein Lebenshelfer, der ahnt und spürt, wo die eigentlichen Bedürfnisse des Fragenden liegen, was in seinem Leben außer Kontrolle geraten ist, und der ihm über das memorierte Orakelbuch Antworten vermittelt. Und mehr noch: Der Priester verknüpft das jedem Einzelnen bei der Geburt zugewiesene persönliche Geschick mit der Möglichkeit, dieses dank seines Charakters, seiner Klugheit, aber auch durch rituelle Handlungen wie das Befragen eines Orakels verbessern zu können. Die Fähigkeit des Priesters, Tausende von Versen zu zitieren, in denen Präzedenzfälle zwischen Mythen, Alltag und Legenden literarisch auf98
bereitet sind und für die Gemeinschaft bewahrt werden, ist beeindruckend, ebenso wie seine Rolle als Ratgeber, der die Verbindung zum Alltag eines Einzelnen herzustellen hat, der etwa mit einem scheinbar unvorhersehbaren Todesfall konfrontiert wurde. Einer der Orakelabschnitte berichtet in Versform von einem Jäger, der auf die Jagd geht, ohne zuvor ein Opfer zu vollziehen, wie es eigentlich üblich ist. Unterwegs trifft er den Tod und sie jagen gemeinsam. Beide finden jedoch nichts bis auf zwei Eier. Der Jäger will die beiden Eier mit dem Tod teilen, der Tod verzichtet aber darauf, und der Jäger geht mit der Beute nach Hause. Als eine Hungersnot ausbricht, brät er sich die beiden Eier und isst sie. Da kommt der Tod wieder und sagt: „Auch bei uns im Himmel ist eine Hungersnot ausgebrochen; ich möchte meinen Anteil an der Beute haben.“ Aber es ist zu spät: Der Jäger hat die Eier nicht mehr, und der Tod erschlägt ihn und seine gesamte Familie. Eine solche Geschichte mag dem Orakelpriester als Ausgangspunkt für die Erklärung dienen, dass der Tod unversehens und plötzlich die Menschen ereilt und es unter allen Umständen notwendig ist, die erforderlichen Riten durchzuführen. Mit dem Ende einer Orakelsitzung müssen Priester und Gottheiten für die Ratschläge und die damit erbrachte Leistung durch den Bittsteller entlohnt werden. Er kann diese Schuld in Form der erwähnten Münzen und Kaurischnecken abgelten oder durch Nahrungsmittel. Den Gottheiten müssen diese Gegenstände jedoch in einer von ihnen konsumier- oder nutzbaren Form übermittelt werden. Das wiederum ist die Aufgabe des Schicksalsgottes und Boten Eshu, der in der Welt der Gottheiten ebenso wie in der Welt der Menschen zu Hause ist, zwischen beiden Sphären hin- und herwandern kann und die Opfergaben in Speisen für die Götter verwandelt. Seine entscheidende Funktion innerhalb einer Orakelbefragung drückt sich darin aus, dass sein Gesicht zwei Mal frontal auf dem vor dem Priester liegenden Orakelbrett dargestellt ist. Wenn Letzterer während der Zeremonie den bestäubten Tellerboden mit gebrochenen und ungebrochenen Strichen markiert, blickt er Eshu ins Gesicht, der seinerseits vom anderen Rand aus den Bittsteller anschaut. Solche aus Holz geschnitzten Orakelbretter sind im Allgemeinen rund, können aber auch eckig sein wie bei der vorliegenden Figurengruppe. Der umlaufende 99
Randdekor zeigt neben Eshus Gesicht häufig mythologische Motive, die sein Wirken als Fruchtbarkeitsbringer illustrieren. So finden sich neben einer Henne, die in der mythischen Überlieferung der Yoruba ursprünglich die Erde aus dem Urschlamm „zusammengescharrt“ hat, viele Bilder von kopulierenden Männern und Frauen, welche die natürliche und menschliche Fruchtbarkeit fördern. Das weite Feld der Weissagung ist wohl überall auf der Welt und in zahllosen Formen bekannt. Die Fragen an das Orakel betreffen Grundlegendes, die Antworten mögen im Detail variieren, bleiben aber immer ein Rätsel, das nur der Fragende selbst lösen kann. Eines unserer beliebtesten und bekanntesten Orakel in einem bestimmten Lebensabschnitt ist die Befragung des Gänseblümchens, aus dessen Blüte man die Blätter zupft: „Er – oder sie – liebt mich, liebt mich nicht, liebt mich, liebt mich nicht …“ Die französische Version ist etwas detaillierter: „Il – ou elle – m’aime un peu, beaucoup, à la folie, pas du tout …“ Daraus Schlüsse auf den unterschiedlichen Charakter von Deutschen und Franzosen in Liebesfragen zu schließen wäre allerdings maßlos übertrieben.
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Dämonen am Amazonas
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m Jahre 1817 reiste Erzherzogin Leopoldine aus dem Hause Habsburg mit dem Schiff von Portugal nach Brasilien. Damit setzte sie die Tradition eines jahrhundertelang gepflegten Wahlspruchs ihrer Familie fort, der besagt, dass andere Kriege führen mögen, während das glückliche Österreich heiraten möge – tu felix Austria nube. In diesem Fall war es Dom Pedro I., Herrscher und später auch Kaiser von Brasilien, dessen Ehefrau Leopoldine wurde. Im Gefolge der Erzherzogin befanden sich auf Wunsch von König Max I. von Bayern und im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zwei bayerische Naturforscher, der Zoologe Johann Baptist von Spix und der Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius. Die beiden erfüllten nicht nur eine diplomatische Mission aus nachbarschaftlicher Höflichkeit, sondern sollten auf ihrer drei Jahre währenden Reise auch das wenig bekannte Landesinnere Brasiliens erkunden. Entdeckungsfahrten und die koloniale Expansion hatten zwar in den früheren Jahrhunderten bereits ein zuverlässiges Bild der Küstenregionen außereuropäischer Kontinente ergeben, doch das dahinterliegende Land war meist noch Terra incognita und bot sich zur Erforschung neuer Möglichkeiten der wirtschaftlichen Nutzung an. Im Vergleich zu den damals bescheidenen Perspektiven einer wirtschaftlichen Erschließung des Amazonasbeckens waren die wissenschaftlichen Erkenntnisse der beiden Forscher in Botanik, Zoologie und Ethnografie umso bemerkenswerter, und ihre Erwerbungen in Brasilien sind bis heute Glanzlichter von Münchner Sammlungen. Im Verlauf ihrer Reise gelangten Spix und Martius an der peruanischbrasilianischen Grenze in das Gebiet der Tukuna-Indianer, wo sie in einem Dorf eine merkwürdige Prozession erlebten: Ein langer Zug von verkleideten Tänzern mit Masken, die verschiedene Tiere und groteske Monster darstellten, bewegte sich durch das Dorf. Mittendrin befand 101
sich ein laut schreiendes kleines Kind auf dem Arm seiner Mutter, dem zum Scheppern einer Schildkrötenrassel die Haare ausgerissen wurden. So seltsam und brutal dieser Vorgang den beiden Forschern im ersten Moment erschien, so wurde bald deutlich, dass es sich – wie wir heute sagen würden – um einen Ritus handelte, in dessen Verlauf die Dorfgemeinschaft das Kind offiziell in ihren Kreis aufnahm. Wie spätere Untersuchungen ergaben, ist den meisten solcher religiöser Feiern gemeinsam, dass alles, was im Hier und Jetzt geschieht, seine Wurzeln in einer Zeit „davor“ hat und in eine andere, „jenseitige“ Welt zurückführt. Häufig stellen mythische Erzählungen eine Verbindung her, die einzelne Details des Geschehens erklären und die rituellen Handlungen legitimieren. Bei den Tukuna wurde bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als der Stamm als Einheit zu bestehen aufhörte, ein Mythos überliefert, der von einer ihrer Gruppen berichtet, die auf einem Jagdzug ein großes Nagetier erlegt und dieses auch sofort verzehrt hatten. In Wirklichkeit aber war dieses Tier der Sohn eines Dämons, also selbst ein Geist. Als nun die anderen Dämonen von diesem Frevel hörten, eilten sie herbei, zerstörten das Lager der Tukuna und töteten alle, die vom Fleisch gegessen hatten. Die Leichen nahmen sie mit zu sich und verzehrten sie. Ein einziges Ehepaar entkam diesem Gemetzel: Zum einen waren sie vom Herrn der Tiere gewarnt worden und konnten sich mit ihrem kleinen Kind auf einem Baum verstecken. Auch zogen sie auf seinen Rat hin die Rinde des Baumes ab und machten seinen Stamm so glatt, dass sie vor den möglichen Verfolgern sicher waren. Zum anderen war in der Zeit unmittelbar nach der Geburt eines Kindes Fleisch für seine Eltern tabu, und das Ehepaar hatte daher Fisch gegessen. Damit wurden sie nicht wie die anderen Tukuna schuldig, die das Fleisch des Geisttieres verzehrt hatten, und blieben vom Zorn der Dämonen verschont. Als sie vom Baum herabgestiegen waren und sahen, was passiert war,
Zeckenmaske der Tukuna-Indianer aus Rohrgeflecht mit einem Überzug aus Rindenbast, schwarz und gelb auf weißem Grund bemalt, 19. Jahrhundert.
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kehrten sie in das Dorf zurück und berichteten davon. Der Zorn war groß, und die Tukuna machten sich nun alle gemeinsam auf den Weg zur Höhle der Dämonen, um sich zu rächen, und brachten sie ihrerseits um. In den toten Dämonen erkannten sie verschiedene Tiere und Monster, nach deren Vorlage sie Maskengewänder gestalteten, die in künftigen Zeiten daran erinnern sollten, dass es einen Kampf zwischen Menschen und Dämonen gegeben hatte und wie er ausgegangen war. Der Maskenumzug an sich war die eigentliche Botschaft des Mythos, doch finden sich in einzelnen Elementen weitere Belege, die die Zeitebenen des Damals und des Heute miteinander verknüpfen. Im Vordergrund standen Rinde und Rindenbast, die im Alltag der Indianer des Amazonas zu den wichtigsten Gebrauchsmaterialien gehören; aus ihnen werden Kleidung, Gerätschaften wie Maniokpressen und eben rituelle Masken gefertigt. Dank dieses Materials waren die Tukuna mit dem Herrn der Tiere verbunden, der ihnen bei der Jagd half und schützend in Gefahren vor Dämonen zur Seite stand. Das Neugeborene stand noch außerhalb der Gemeinschaft, doch kam ihm trotz seiner naturgemäß passiven Rolle dennoch eine entscheidende Funktion zu: Es war indirekt verantwortlich für das Nahrungsmitteltabu und rettete dadurch das Leben seiner Eltern. In ihm konzentrierten sich nun im rituellen Maskenumzug die übernatürlichen Schutzkräfte, und es erinnerte zugleich an den Ursprung der Tukuna. Was aber hatte es mit dem brutalen Akt des Haareausreißens auf sich, noch dazu bei einem Kleinkind? Es ist eine der weltweit verbreiteten kulturellen Traditionen, dass der Übergang in den Status eines Mitglieds der Gemeinschaft mit besonderen Zeremonien oder Riten markiert wird. Üblicherweise ist diese Initiation mit der Geschlechtsreife der jungen Männer und Frauen sowie mit der Einführung in die gemeinsamen Werte verbunden, sehr häufig auch mit der Fähigkeit, Schmerz bewusst zu erdulden, womit Zeugnis über den erlangten Status als Erwachsener abgelegt wird. Dass bereits früh nach der Geburt Initiationsrituale vollzogen werden, ist auch im abendländischen Brauchtum bis heute eine lebendige Tradition – etwa bei der Beschneidung im Judentum oder der Taufe im Christentum. Haare sind – wie auch Finger- oder Fußnägel – ein 104
besonderes Merkmal des Menschen, da sie sich auf wundersame Weise immer wieder von selbst erneuern. Aus diesem Grund gelten sie als Sitz der Lebenskraft. Bekannt ist die biblische Geschichte von Delila, die Samsons Haare im Schlaf abschneidet und ihn dadurch seiner außerordentlichen Kraft beraubt. Im übertragenen Sinne spielt dieser Gedanke in die mittelalterliche Tradition hinein, dass nur frei Geborene ihr Haar lang tragen durften, während Leibeigene das Haar scheren mussten und abfällig als „Geschorene“ bezeichnet wurden – ein im Österreichischen als „Gscherte“ weithin verbreitetes Schimpfwort. Zwei Mal im Leben, als Kleinkind oder als Jugendliche, konnte es geschehen, dass ein Mitglied der Tukuna aus rituellen Gründen sein Haar verlor. In beiden Fällen markierte dieser Verlust einen symbolischen Tod, an den sich eine Wiedergeburt anschloss, wenn das Haar nachgewachsen war. Beim ersten Mal führte das Ausreißen der Haare zusammen mit dem geschilderten Maskenumzug zur Aufnahme des kleinen Kindes als neues Mitglied in die Dorfgemeinschaft. Auf der zweiten Stufe war der Haarverlust das äußerliche Zeichen für den Übergang eines Mädchens zur Frau. Die Gruppe der gleichaltrigen Mädchen musste sich vorübergehend in eine eigene Hütte zurückziehen, in der ihnen die Haare geschnitten oder ausgerissen wurden; an diesem Akt waren alle erwachsenen Mitglieder des Dorfes beteiligt. Die Dauer des Nachwachsens der Haare war die Zeit zwischen symbolischem Tod und Wiedergeburt. Danach waren die Initiandinnen ehefähige Frauen und Mitglieder der Gemeinschaft der Erwachsenen mit deren Rechten und Pflichten. Die Bedeutung des Maskenumzugs ging über die unmittelbare Aufnahme eines neuen Stammesmitglieds in die Gemeinschaft der Tukuna hinaus: Die Dämonenmasken erinnerten Stammesmitglieder daran, dass sie tagtäglich von gefährlichen Kräften umgeben waren, vor denen sie sich schützen mussten, auf deren Hilfe sie andrerseits aber auch zählen konnten. Sie trugen dazu bei, dass die Gemeinschaft stabil blieb und der jeweilige Übergang von einem Lebensabschnitt zum anderen in einer geordneten, verbindlichen Form stattfand. Die Masken des Umzugs der Tukuna umfassten eine große Zahl von Dämonendarstellungen, ob Tiere oder Monster, wie an den Beispielen 105
der Sammlung von Spix und Martius zu sehen ist. Allerdings ist uns heute in vielen Fällen ihre damalige Bedeutung unbekannt. Die Tukuna sind vor etwa hundert Jahren in verschiedenen anderen Gruppen aufgegangen und können nicht mehr befragt werden, doch verdanken wir den beiden Reisenden wie auch späteren Feldforschern manche wertvolle Hinweise. Die wichtigste Maske stellt den Wald- und Buschgeist dar, der für die Rettung des Ehepaars vor dem Massaker durch die Dämonen verantwortlich war: Gerade als Zeichen seiner außerordentlichen Macht zeigt ihn die Maske als teuflisch-dämonisches Monster. Andere Masken der Sammlung sind die Wildkatze, der Tapir, das Reh, der Jaguar, das Eichhörnchen, der Affe und der gefährlich PiranhaFisch. Dem Eichhörnchen kam wohl eine „urschöpferische“ Rolle zu, denn es half den Menschen, den Zentralbaum umzustürzen, dessen Krone die Sonne daran hinderte, ihnen ihre Strahlen zu schicken. Erst dank dieser Tat kennen die Menschen das Tageslicht. Der Tapir wiederum ist eine Sternengottheit, die vom Himmel aus die Zeremonien begleitet, die den Übergang der Mädchen zu den Frauen markieren. Auf einem Tapirfell sitzend, müssen die Initiandinnen das Ausraufen der Haare über sich ergehen lassen, bevor sie zu einem Ritualbad in den Himmel emporgetragen werden. Komplex ist die mit der Jaguarmaske verknüpfte Geschichte: Sie berichtet von einem Jäger, der in den Wald ging und einen magischen Pfeil abschoss, durch den sich die Rinde von einem Baum löste. Er und seine Gefährten kleideten sich dann in diese Rindenstücke, bemalten sie mit schwarzen Flecken, verwandelten sich auf diese Weise in Jaguare und jagten Menschen und Tiere. Es gab aber Menschen, die diese Jagdlist durchschauten; sie verkleideten sich ihrerseits als Jaguare, machten Jagd auf die „Jaguardämonen“ und töteten diese schließlich. Am ausdrucksstärksten in unseren Augen wirkt eine Zeckenmaske, die Spix und Martius von ihrer Reise mitgebracht haben. Die Zecke spielt eine herausragende und eigentümliche Rolle in den mythischen Erzählungen der Tukuna. Mit ihrem langen Saugrüssel und ihrem stechenden Blick ist sie leicht zu erkennen und macht allein durch ihr Äußeres klar, wie lästig und bedrohlich sie als Dämon gewirkt haben muss – umso mehr, als im Verständnis der Tukuna Zecken tagsüber 106
normale Menschen sein konnten und nicht als Dämonen zu erkennen waren. Nur in der Nacht verwandelte sich ein solcher Zeckenmensch in ein Ungetüm, ein Rieseninsekt, bei dem es unerheblich war, ob es als Zecke, Heuschrecke oder Wanze in Erscheinung trat. Sicher war, dass der Dämon sich auf die Menschen stürzte und ihnen wie ein Vampir das Blut aussaugte. Die Ambivalenz eines Ungeheuers, dessen Identität als Zecke oder Mensch undurchschaubar war, ließ es zu einer permanenten, letztlich nicht fassbaren Bedrohung werden. Gerade in einer Phase des Übergangs, in der das Bekannte und Bestehende nicht mehr zu gelten schien und das Neue, das an seine Stelle treten sollte, noch unklar ist, stand das Zeckenmonster als Symbol für die Veränderung. Zugleich erfüllte es die Funktion einer Strafinstanz, der man nicht entrinnen konnte. Zu den Aufgaben, die den Mädchen der Tukuna während der Übergangsriten gestellt wurden, gehörte es, in der Abgeschlossenheit einer Hütte die ganze Nacht stehend auszuharren, ohne sich zum Schlafen hinzulegen. Den Novizinnen wurde vor der Prüfung von einem Mädchen erzählt, das zu müde war, um wach zu bleiben, und sich zum Schlafen in einen Hängematte legte. Daraufhin stürzten sich die Insektenmonster auf sie und saugten ihr das Blut aus. Solche exemplarischen Geschichten verdeutlichten den Initiandinnen, dass nur jene den Status der Erwachsenen in der Gemeinschaft erreichten, die sich genau an rituelle Vorschriften hielten. Mit all diesen Masken durch das Dorf zu ziehen hieß einen Zustand von dauernder Gefährdung zu beschwören, eine Welt zu inszenieren, in der man umgeben war von Bedrohungen – seien es Krankheiten, Misserfolg bei der Jagd, Konflikte mit Nachbarn oder in der Familie selbst. In der Verkleidung gelang es aber, die Verursacher des Bösen zu erkennen, sie zu bannen und schließlich zu überwinden.
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Begegnungen am Dach der Welt
„Oh, East is East and West is West, and never the twain shall meet“.
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er hat nicht Rudyard Kiplings Gedichtzeile über die Unvereinbarkeit von östlichen und westlichen Kulturen im Ohr? Ein grob behauenes kleines Steinrelief aus brüchigem, grauem Schiefer, die Schauseite leicht lädiert, an einer Schmalseite abgeschlagen, im Hintergrund der Darstellung Palmen, davor fünf Figuren, die miteinander in demonstrativen Gesten verbunden sind: Auf den ersten Blick und ohne weitere Informationen sehen wir eine eher verwirrende Szene. Und doch kann dieses Bruchstück dazu beitragen, das endgültig klingende Urteil Kiplings zu relativieren, die Tür, die er zuzuschlagen scheint, wieder einen Spalt zu öffnen. Den Schlüssel zur inhaltlichen Deutung des Reliefs und seines historischen Hintergrunds liefert die frühe Geschichte des Buddhismus und seiner Ausbreitung. Das Stück entstand in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in Gandhara, einer Gebirgsregion im heutigen Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan, die reich an Schiefer ist, jenem leicht zu bearbeitenden Material, aus dem zahlreiche Reliefs und Skulpturen dieser Art mit vornehmlich buddhistischen Inhalten hergestellt wurden. Hier ist die Geburt von Siddharta Gautama (traditionell 563–483 v. Chr.) dargestellt, Sohn aus nepalesischem Fürstengeschlecht und zukünftiger „Erleuchteter“, der Buddha des gegenwärtigen Zeitalters. Hochschwanger machte sich seine Mutter, die Königin Maya, auf den weiten Weg, um bei ihrer eigenen Mutter zu entbinden, so wie es
Darstellung der Geburt des Buddha aus grauem Schiefer aus Gandhara, 4. Jahrhundert.
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üblich war. Unterwegs überkamen sie die Wehen und sie gebar ihren Sohn, wie im Relief dargestellt, auf wundersame Weise im Hain von Lumbini. Entspannt steht sie an einem Baum und hält sich mit der rechten Hand an einem Zweig fest, links wird sie von ihrer Schwester gestützt. Aus Mayas rechter Hüfte sieht man das Kind hervorkommen, das von den beiden vedisch-hinduistischen Gottheiten Indra und Brahma in Empfang genommen wird. Indra hüllt das Neugeborene in ein Tuch von weißer Seide; hinter ihm steht in der Geste der Verehrung Brahma, der an der Haartracht eines Asketen zu erkennen ist. Das Kind kommt als Bodhisattva, als künftiger Buddha zur Welt, der die Entscheidung zu dieser seiner letzten Wiedergeburt getroffen hat, deren Umstände außergewöhnlich sind und die ohne Schmerzen vonstattengeht. Aus buddhistischer Sicht markiert sie eine Zeitenwende, und der eben geborene, künftige Buddha bezeugt diese in seiner allerersten Handlung: Er geht je sieben Schritte in die vier Himmelsrichtungen, um zu verkünden, dass er den Weg zur Erlösung vom Leiden aufzeigen werde. Ein Detail hat sich in die Darstellung eingeschlichen, welches das durchweg legendenhaft-mythische Bild mit einer gleichsam historischen Fußnote versieht: Indra und Brahma werden, erkennbar kleiner und in demütiger Haltung, als Diener und Adoranten des BuddhaKindes eingeführt. Sie sind die Vertreter einer vergangenen, überflüssig gewordenen Religion, die nunmehr im Buddhismus aufgehen soll. Allerdings müssen noch zahllose weitere Buddhas geboren werden, bis alle Wesen endgültig das Versprechen des gegenwärtigen eingelöst haben und den Weg zur Erleuchtung gegangen sind. Die Vorstellung, dass jemand bereits kraft seiner Geburt auserkoren ist, ist Allgemeingut geblieben, wenngleich die früher damit verbundenen besonderen Vorzeichen und mythischen Begleitumstände einer eher nüchternen, profanen Betrachtung gewichen sind, die sich beispielsweise auf einen herausragenden Stammbaum bezieht oder den sprichwörtlichen silbernen Löffel im Munde, mit dem die Person zur Welt kommt. Der spätere Buddha wurde auf außergewöhnliche Weise von Maya empfangen: Sie träumte, dass ein kleiner, weißer Elefant in ihre rechte Seite eindrang. Ähnliches wird von Konfuzius berichtet, dessen Mutter von einem Drachen geschwängert wurde, oder von Dschingis 110
Khan, dessen Mutter ihn durch einen Schamanen empfing, der Nacht für Nacht als Mondstrahl durch das Rauchloch in ihrer Jurte hinabstieg. Auch in der griechisch-römischen Mythentradition gibt es kaum einen Helden, der seine Existenz nicht einem göttlichen Besucher in Schwanen-, Stier- oder anderer Gestalt verdankt. Gerade weil dieses Motiv so verbreitet ist, liegt die damit verbundene Botschaft auf der Hand: Besondere Menschen, Helden mit außerordentlichen Kräften, Religionsstifter mit übernatürlicher Weisheit können nicht einfach von gewöhnlichen menschlichen Vorfahren abstammen, sondern sind bereits durch die außerordentlichen Begleitumstände ihrer meist göttlichen Herkunft und der Art ihres In-die-Welt-Kommens ausgezeichnet. Nicht anders ist die Empfängnis der Jungfrau Maria durch den Heiligen Geist und die Geburt des künftigen Religionsgründers Jesus in der christlichen Tradition zu verstehen. Solche einander verblüffend gleichenden Grundkonstellationen mögen dazu verleiten, auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt, ein allen Menschen gemeinsames Urmotiv zu schließen. Aus kulturgeschichtlicher Sicht ist dies aber keine Lösung, da so die vielen unterschiedlichen und möglichen Entwicklungen des Motivs der außergewöhnlichen Geburt des Helden nicht mit einbezogen werden. Auch für die Geburt des Buddha gibt es weder mündliche Überlieferungen noch schriftliche Zeugnisse oder Bilddarstellungen, die dieses Ereignis mit spezifischen kulturellen Kontakten aus vorbuddhistischer Zeit belegen. Dies ist umso bemerkenswerter, als die gesamte Region von Nordindien bis Zentralasien und die angrenzenden westasiatischen Hochebenen seit dem 4. vorchristlichen Jahrtausend über große Wanderbewegungen und Kriege in ständigem Kontakt miteinander standen. Und in historischer Zeit kreuzten sich dort die wichtigsten Fernhandelswege, die bis in den Mittelmeerraum und nach Ostasien reichten. Vom 1. bis zum 4. Jahrhundert n. Chr. war Gandhara ein Zentrum par excellence für kulturelle Kontakte, in dem vor allem durch griechische und indische Einflüsse eine neue, eigene Bilder- und Gedankenwelt geschaffen wurde. Unser Relief entstammt dieser Welt und ist ein kleines Beispiel aus einer kaum überschaubaren Fülle von ähnlichen Reliefs und Skulpturen, zum Teil von außerordentlicher Kunstfertigkeit, die die Kultur Gan111
dharas im eigentlichen Sinne des Wortes illustrieren. Es sind vornehmlich buddhistische Motive, die den Buddha auf Reliefs oder als Statue in verschiedenen Positionen und mit unterschiedlichen Gesten abbilden, von seiner Lebensgeschichte und der Verbreitung seiner Lehre handeln sowie kultische Verehrungsobjekte wie das Rad der Lehre, Stupas (halbkugelförmige Grabmale oder Reliquienschreine) oder Lotosblüten darstellen. Daneben sind hinduistische Themen zu identifizieren, aber offensichtlich auch eindeutig hellenistische Motive wie der Gott Dionysos, der Held Herakles oder die Geschichte vom Trojanischen Pferd. Kehren wir zurück zu unserem Kleinrelief mit der Geburt des künftigen Buddha, das im Kontext des eben Gesagten einen weiteren aufmerksamen Blick lohnt. Der Kopf des Neugeborenen ist auf auffallende Weise abgeschlagen – dies dürfte der Brüchigkeit des Schiefers geschuldet sein, lässt aber den Buddha gleichsam gesichtslos wirken. Dieser Fingerzeig erinnert – allerdings nur zufällig – daran, dass der Buddhismus in den ersten fünfhundert Jahren seines Bestehens eine anikonische, also nicht bildhafte Religion war, was ihren Begründer betraf. Der Buddha durfte als Person nicht abgebildet werden. Er selbst hatte es sich verbeten; er wollte nur über seine Lehre wirken und einer individuellen Verherrlichung entgehen. Außerdem war mit seinem „Tod“, dem Verlöschen im Nirwana, das endgültige Verschwinden seiner leiblichen Hülle aus dem Kreislauf der Existenzen verbunden; es konnte in diesem Verständnis gar kein Bild von ihm geben. Dafür schuf man in der frühen Zeit aussagekräftige Bilder von Symbolen, die Stationen seines Lebens begleitet hatten: die Almosenschale, den leeren Thron als Sinnbild seiner Erleuchtung, seinen Fußabdruck, der für das Verlöschen steht, die Lotosblüte des Buddhismus, das Rad der Lehre, das er in Bewegung gesetzt hatte, oder den Stupa – das Grabmal – als Spur seiner irdischen Existenz. Doch seine Anhänger verspürten mit der immer größeren zeitlichen Distanz ein wachsendes Bedürfnis, den verehrten Lehrer als persönliches Gegenüber zu erfahren. Zudem öffnete sich der Buddhismus, und seine Lehre sprach immer breitere Schichten der Bevölkerung an. So begann man etwa um Christi Geburt erste Bildnisse des Buddha zu schaffen, deren weitgehend unabhängige Ursprünge an zwei verschiedenen Orten zu finden sind, die rund tausend Kilometer 112
voneinander entfernt liegen: Mathura in der nordindischen Tiefebene und Gandhara am „Dach der Welt“. In Mathura gab es bereits eine lange Tradition figuraler Darstellung von Alltagsszenen, sodass der Schritt zur Buddha-Skulptur kein großer war. In Gandhara hingegen war der Buddhismus mit einer stark vorderasiatisch-hellenistischen Bildtradition konfrontiert, eine indirekte Folge des Indienfeldzugs von Alexander dem Großen, der 327 v. Chr. bis nach Zentralasien vorgedrungen war. Das in der Region etablierte baktrische Reich wurde von Herrschern regiert, die an ihrem griechischen Erbe festhielten und sich an der westlichen Kultur orientierten. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich die neue Religion aus Indien mit der aus dem Westen stammenden Bildsprache verbündete und dem Bedürfnis der Gläubigen entgegenkam, indem buddhistische Themen im griechischen Gewande dargestellt wurden. Viele der häufig bis zu lebensgroßen Buddha-Bildnisse ähneln in der Tat Darstellungen von griechischen Philosophen: Sie sind in ein klassisches, togaartiges Gewand mit dem charakteristischen strengen Faltenwurf gehüllt, das in rudimentärer Form auch auf dem Relief der Buddha-Geburt zu erkennen ist. Sie tragen die in Vorderasien und im Mittelmeerraum üblich Sandalen, das Gesicht ist deutlich europäisch, mit spezifischer Augenform, einer kräftigen Nase und einem Schnurrbart. Das Haar liegt in Locken, wie wir es von Bildern Alexanders des Großen in seiner Verkörperung des „schönen Jünglings“ kennen, und nicht in den nach rechts gedrehten Schnecken der späteren buddhistischen Standardikonografie. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten war die Region von Gandhara die bedeutendste Vermittlungsstation, über die der Buddhismus nach Zentralasien und China, seit dem 7. Jahrhundert auch nach Korea und Japan gelangte. Naturgemäß änderte sich auf diesem langen Weg der Stil der buddhistischen Bildnisse, die sich unterwegs lokalen Traditionen anpassten. Zwei kleine ikonografische Details sind bemerkenswert: Zum einen „verloren“ die Darstellungen der Buddhas und Bodhisattvas auf ihrem Weg nach Osten ihre Philosophensandalen und wurden nach indischem Mönchsvorbild wieder bloßfüßig. Zum anderen blieb den Bodhisattvas in japanischen Darstellungen der „männ113
liche“ Schnurrbart erhalten, der sich bis heute als feine Linie über der Oberlippe abzeichnet. Welche Einzelheiten in den Bildnissen sich in der Geschichte verändern, vor allem aber wie und warum sie das tun erschließt sich meist erst aus späterer Sicht und ist nicht vorherzusagen. Ausgehend von einem bruchstückhaften Relief aus Gandhara mit der Geburt des Buddha haben wir die Frage nach der stilistischen Tradition sowie nach dem Motiv ihrer Entwicklung an einem regionalen Beispiel verfolgt. Für die „besondere Geburt“ existieren zahlreiche Parallelen und kulturspezifische Varianten, ohne dass im konkreten Fall Einflüsse von außen belegbar wären. Anders hingegen die stilistischen und ikonografischen Veränderungen, die in den wenigen angedeuteten Bespielen bereits eine Fülle von historischen und regionalen Verknüpfungen zeigen, die grundlegend für die Kenntnis von der Verbreitung und Entwicklung der buddhistischen Lehre sind. Die Begegnungen am Dach der Welt bewirkten mehr als zufällige oder beliebige Kontakte: Eine von außen kommende Anregung, den Buddha ikonisch darzustellen, wurde bewusst aufgegriffen, um eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Damit wurde eine Tradition geschaffen, ohne die der Buddhismus nicht mehr vorzustellen ist. Kiplings zitierte Gedichtzeile steht am Anfang und am Ende einer Ballade, in der er beschreibt, wie ein pakistanischer Stammesfürst und ein englischer Soldat einander über unüberwindlich scheinende kulturelle Barrieren hinweg verstehen lernen. Sie läuft auf das Gegenteil dessen hinaus, was der Erwartungshaltung des Lesers suggeriert wird. Auch Johann Wolfgang Goethe war ähnlich wie später Kipling offen für das Fremde, und im Überschwang der Gefühle schrieb er im „Nachlass“ zu seinem Westöstlichen Divan: „Wer sich selbst und andre kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“ Die beiden Schriftsteller haben auch ohne kulturgeschichtliche Analyse verstanden, dass zwischen Nachbarkulturen Brücken bestehen, die wohl nicht immer erkennbar oder historisch nachweisbar sind, die zu suchen aber immer lohnt.
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Die Kunst des Brauens: Ein Bierkessel aus Afrika
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n unseren Breiten ist Bier ein Alltagsgetränk, das auch ohne besonderen Anlass ein Gefühl von geselligem Beisammensein vermittelt und trotz mancher Trinkrituale – miteinander anstoßen, jemanden unter den Tisch trinken, aus einer Hand ein Glas Korn und ein Bier zugleich trinken – keine Assoziationen zu Riten, geschweige denn religiösen Vorschriften weckt. Und doch: In katholischen Regionen pflegt man bis heute die Erinnerung, dass Bier früher eine nicht unbedeutende Rolle in der religiösen Tradition gespielt hat. Seit dem Mittelalter galt nämlich zwischen Aschermittwoch und Ostern, während der für alle Erwachsenen verbindlichen vierzigtägigen Fastenzeit, Bier als „Fastenspeise“. Die in dieser Zeit durch Meditation und Gebete besonders belasteten Mönche durften das selbst gebraute Bier als aufbauende Nahrung und zusätzlich zur fleischlosen Kost zu sich nehmen. Heute steht diese Tradition – ohne Fastengebot und religiöse Bindung – allen offen, die bei kräftigendem „Starkbier“ oder „Märzen“, wie die etablierten Sorten heißen, die Dämonen des Winters gemeinsam austreiben. Schon lange vor dem Oktoberfest oder fröhlichen Runden in englischen Pubs war das Trinken von Bier ein Zeichen der Geselligkeit. So entdeckten Archäologen im mesopotamischen Susa eine fast viertausend Jahre alte „Kneipe“, in der man gemeinsam am Tresen stehend Bier mit Saugrohren aus Tonkrügen trinken konnte – eine Technik, die in Ritzzeichnungen der Zeit mehrfach illustriert ist. Auch aus Tibet, das für seine Biertradition bekannt ist, kennen wir vergleichbare Szenen: Auf einem religiösen Rollbild des 19. Jahrhunderts ist Padmasambhava, der Begründer des tibetischen Buddhismus, dargestellt, der gemeinsam mit seinen beiden Frauen um einen großen Kessel Bier steht, aus dem sie, umgeben von einer fröhlichen Dorfgemeinschaft, mit Saugrohren Bier trinken. Nach solchen und ähnlichen Belegen kann man mit gutem Grund davon ausgehen, dass sich auch um unser als „Bierkessel“ ausgewiesenes Objekt aus Afrika üblicherweise eine 115
Gruppe von Menschen traf, die gemeinsam aus ihm tranken. Daraus ergibt sich eine Reihe von Fragen in Bezug auf seine Besonderheit, die ihn von anderen Trinktraditionen unterscheidet. Der Kessel besteht aus gebranntem Ton, stammt aus dem westafrikanischen Staat Burkina Faso und ist circa achtzig Jahre alt. Er hat die gängige Form eines Vorratsgefäßes und diente zu bestimmten Anlässen zur Herstellung und Verteilung von Hirsebier an die Dorfgemeinschaft. Auffallend ist seine Größe von 58 Zentimetern Höhe und einem Durchmesser von 105 Zentimetern; bis an den Rand gefüllt, würde er etwa 150 Liter Bier fassen. Wer konnte solch einen großen Kessel schaffen und mithilfe welcher Technik? Töpferei ist weltweit seit vielen tausend Jahren, in Ostasien wohl seit über 20 000 Jahren bekannt und gehört zu den ältesten Handwerken der Menschheit. Die frühe Arbeit mit Ton hinterließ ihre Spuren in den Mythen vieler Kulturen, etwa über den Ursprung der ersten Menschen. Uns am nächsten und am bekanntesten ist die jüdisch-christliche Vorstellung von der Erschaffung Adams, den Gott aus Lehm geformt hat. Auch in der Töpferei stand am Anfang das freie Formen von Gefäßen aus Ton. Mit der Erfindung der Drehscheibe in den urbanen Zentren des Vorderen Orients um 4000 v. Chr. erfuhr das Handwerk einen wesentlichen technologischen Fortschritt, der höhere Produktivität bedeutete, den Handel begünstigte und die Märkte ausweitete. Keineswegs alle Kulturen haben diesen Fortschritt übernommen, trotz ihrer Kontakte zu Nachbarn, die die Töpferscheibe bereits kannten. Gerade Gemeinschaften, deren religiöse Überlieferungen und rituelle Praktiken eng mit den herkömmlichen handwerklichen Techniken verknüpft waren, bewahrten ihre soziale Stabilität, indem sie fremde Erfindungen nicht übernahmen und so destabilisierende Einflüsse von außen vermieden. Es wäre grundfalsch, daraus auf Minderwertigkeit oder Rück-
Ein Terrakotta-Bierkessel aus Burkina Faso, Mitte 20. Jahrhundert.
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ständigkeit von dörflichen Gemeinschaften wie etwa denen in Burkina Faso zu schließen, nur weil dort bis heute Tongefäße auch mit der Hand und ohne Hilfe einer Scheibe gefertigt werden. In einem traditionell geschaffenen Bierkessel manifestiert sich nicht nur die Überlieferung komplexen handwerklichen Wissens von Jahrtausenden, sondern es kommen darin zugleich religiöse Praktiken zum Ausdruck, die den sozialen Alltag der Menschen bis heute prägen. Handwerk und Religion sind hier miteinander verbunden, beide sichern den Bestand der Gemeinschaft. In den meisten Regionen Afrikas ist Töpfern traditionell eine Tätigkeit, die von Frauen ausgeübt wird. Das bedeutet mehr als eine beliebige Arbeitsteilung – die Männer machen dies, die Frauen jenes –, es ist ein wesentliches Kennzeichen, gleichsam eine Aura, die einem Gefäß wie diesem Bierkessel verliehen wird: Von der Auswahl und Vorbereitung des Materials über die Gestaltung der Form und seiner Verzierung bis hin zu seiner Verwendung als existenzielles Ritualobjekt liegt die Verantwortung für diesen Kessel ausschließlich in den Händen der Frauen eines Dorfes. Das Ausgangsmaterial Tonerde findet sich in vielen Teilen des afrikanischen Kontinents und ist leicht zugänglich. Allerdings sind für die Herstellung eines Tongefäßes mehr Mühe, Zeitaufwand und vor allem Erfahrung erforderlich, als ein flüchtiger Blick auf das fertige Ergebnis verraten mag. Es sind die „Meisterinnen“, ältere Frauen der Gemeinschaft, die das in ihrem eigenen Leben und über frühere Generationen hinweg gesammelte Wissen nach und nach an die kleinen Mädchen und jungen Frauen weitergeben. Nach dem Abbauen der Tonerde muss diese getrocknet, von Fremdkörpern gereinigt, zu Pulver verrieben, mit Magerungsmitteln versetzt und mit Wasser vermischt werden. Damit wird erreicht, dass der Ton auch bei Erhitzen und dem damit verbundenen Austrocknen seine stabile Konsistenz bewahrt und im Brand am Gefäß keine Sprünge oder Risse auftreten. Als Magerungszusätze verwendet man organische sowie anorganische Materialien: zerstampften Mist, zerstoßenes Stroh und Gräser, Sand sowie Steine oder alte, pulverisierte Topfscherben. Nun folgt die eigentliche Formgebung des Gefäßes. Ein Klumpen der mit den Füßen getretenen oder mit den Händen gekneteten Tonerde bildet die ebene Basis des Gefäßes. Darauf werden kreisförmig Tonwülste gesetzt, die Fu118
gen glattgestrichen und die Wandstärke durch Pressen mit den Händen angeglichen, bis schließlich die gewünschte Form und Höhe erreicht sind. In diesem Stadium bringt man zusätzlich Dekore als Schmuck oder aus magischen Gründen an. Hierauf wird das Gefäß im Feuer gebrannt, in Afrika üblicherweise im offenen Feldbrand: Die Töpferinnen stellen die rohen Tongefäße auf die Erde oder in eine Brenngrube und umgeben sie von allen Seiten mit Brennmaterial – Stroh, Mist, Reisig, Holz –, das angezündet wird. Die bis etwa 600 Grad Celsius erhitzte und gehärtete Tonware ist dann gebrauchsfertig. Tongefäße für den alltäglichen Gebrauch, zum Kochen, zur Aufbewahrung oder zum Transport, bleiben meist ohne Dekor, während etwa die Verzierung dieses Bierkessels ein Zeichen für seine besonderen Funktionen ist. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die gesamte Außenhülle des Kessels ein Muster von parallelen Streifen aufweist, die vor dem Brand mit einem Holzstempel oder durch das Abrollen einer Walze eingedrückt wurden. Dadurch wirkt der Kessel für das Auge lebendiger und verstärkt den plastischen Effekt des Mündungswulstes sowie des aufgelegten Reliefdekors aus Ringen und Tiermotiven. Die raue Oberfläche lässt das Gefäß griffiger erscheinen – auch im ganz konkreten Sinne, da die voluminöse Halbkugel dadurch leichter zu schieben oder zu tragen ist. Das eingepresste Muster hat einen weiteren, sehr praktischen Sinn: Da das Gefäß zur Aufbewahrung einer großen Menge von Bier dient, muss es den Inhalt so frisch wie möglich halten können. Es wird daher bis zu einem Drittel seiner Höhe in der Erde versenkt, deren Kühlungsfunktion sich dank der vergrößerten Oberfläche über die Verdunstung zusätzlich erhöht. Das ist eine allgemeine Erfahrungsweisheit, die früher auch in Bayern genutzt wurde, bis dort die herkömmlichen Bierkrüge aus Steingut mit ihrer griffigen, grobkörnigen Oberfläche durch die heutzutage üblichen Krüge aus Glas ersetzt wurden, an denen man zwar sofort sieht, wie hoch das Bier tatsächlich eingeschenkt wurde, das allerdings nur um so schneller schal wird. Zu diesen allgemein praktischen Erfahrungen als Voraussetzung für das Töpferhandwerk kommen religiöse Vorschriften, die diesen Bierkessel im weitesten Umfeld begleiten. Bereits die Gewinnung der Ton119
erde und ihre Verarbeitung, in der Folge die Herstellung des Gefäßes bis hin zu seinem Gebrauch sind von Meidungsgeboten und magischen Abwehrtechniken bestimmt, die sich aus mythischen Präzedenzfällen legitimieren. Hauptkomponente der Vorschriften ist die Ausgrenzung von Männern, deren Nähe zu den Arbeitsvorgängen oder gar Berührung von Material und Geräten strikt zu vermeiden sind. Das beginnt bereits mit den Erdgruben, für deren „Gesundheit“ eigene Priesterinnen verantwortlich sind, da sie durch Streit, bösartige Gedanken oder Handlungen Schaden nehmen oder gar zerstört werden können. Der Seele der Grube muss zunächst ein Opfer dargebracht werden, bevor die Tonerde – nur an bestimmten Tagen – abgebaut werden darf. Diese Arbeit wird kleinen Mädchen aufgetragen, die auch, unter Anleitung Älterer, das Stampfen und Vermischen der verschiedenen Ausgangsmaterialien zum eigentlich Ton übernehmen. Dabei wie bei allen weiteren Arbeitsgängen dürfen keine „männlichen“ Geräte eingesetzt werden oder auch nur in die Nähe kommen, schon gar nicht typische Jagdwaffen wie Speere oder Keulen. Männern ist es nicht erlaubt, Frauen anzusprechen, die Tonerde transportieren, und sie müssen sich vom Brennen der Tonware fernhalten, da sie mit ihrem potenziellen „bösen Blick“ gefährlich sind. Es versteht sich von selbst, dass in dieser Zeit geschlechtliche Vereinigungen verboten sind, und selbst vor dem ersten Schluck Hirsebier durch einen Mann muss eine Frau den Kessel rituell reinigen. Was sich wie eine einseitige, ungewöhnliche Diskriminierung ausnimmt, gehorcht indes einer „allgemeingültigen“, leicht nachvollziehbaren und sinnvollen Logik. Meidungsvorschriften dieser Art gelten mutatis mutandis nach beiden Seiten, das heißt, dass auch Frauen bei typischen „männlichen“ Tätigkeiten eine Gefährdung darstellen können und sich daher fernzuhalten haben. Dies gilt etwa für das Berühren von Waffen und für alles, was mit der Jagd zu tun hat, bis hin zur Jagd selbst. Generell gilt, dass sich Frauen während der Menstruation überhaupt zurückzuziehen haben. In unserem Fall haben die Geschlechtertrennung und ihr Sinn den Hintergrund, dass die beiden Lebenssphären ihre jeweils eigenen Regeln haben, die sie für sich gestalten und entwickeln, sodass sie getrennt voneinander ihre spezifischen Kräfte konzentrieren können. Im Fall des Bierkessels ist es die weibli120
che Lebenskraft, die im Ritualgefäß erhalten und konzentriert werden muss, um zur Entfaltung zu gelangen. Es kommt noch hinzu, dass das Schaffen eines Tongefäßes, also eines Objekts im „Werden“, einen langwierigen Prozess durchläuft; in dieser Zeit ist es extrem gefährdet, weil es sich selbst noch nicht gegen Dämonen oder böse Einflüsse wehren kann. Diese Phase ist eine Zeit des Übergangs, in der die Trennung der Geschlechter konsequent eingehalten werden muss, bei der Herstellung von zerbrechlichen Tongefäßen ebenso wie bei der Initiation von Jugendlichen eines Stammes. Aus Erde und Feuer wird ein Tongefäß geschaffen, aus Erz und Feuer wiederum entsteht Eisen. In vielen mythischen Traditionen werden Kulturheroen als besonders herausragend verehrt, die den Menschen das Feuer gebracht und sie seine Beherrschung gelehrt haben. Für Töpfer und Schmied ist das Feuer die grundlegende, gemeinsame Voraussetzung für das zu schaffende Werk. Der Überlieferung nach war das Schmiedehandwerk das ältere und es war der Mann, der zuerst das Feuer beherrschte und so der Frau das Töpfern ermöglichte. Dennoch bekräftigen religiöse Vorschriften und rituelle Handlungen immer wieder aufs Neue die in den Mythen überlieferte ursprüngliche Einheit zwischen beiden. So waren nach dem Mythos der Yoruba, der größten Ethnie Westafrikas, am Anfang der Welt der Himmelsgott und die Erdgöttin in einer großen Kalebasse verborgen, er oben, sie unten. Sie gerieten in Streit, die Kalebasse zersprang, und der Himmel stieg nach oben, während die Erde nach unten sank. Seitdem sind Himmel und Erde getrennt. Die Erde ist die Mutter, aus der wir kommen und zu der wir alle, wenn wir tot sind, wieder zurückkehren: in einer Urne, die aus Tonerde hergestellt wurde, und begleitet von der Dorfgemeinschaft, die sich um den Kessel versammelt, um Hirsebier zu trinken. Hirsebier ist bis heute ein Getränk, das nur in Gemeinschaft, meist bei religiösen Anlässen und verschiedenen Festen getrunken wird, im Unterschied etwa zum profanen Palmwein, den jeder nach Lust und Laune trinken kann. In jedem Fall sind der Verkauf und das Ausschenken des Biers ausschließlich Frauen vorbehalten. Hirse, das wichtigste Getreide der Region, wird in einem solchen Tonkessel, der bis zu zweihundert Liter 121
fasst, im Verhältnis von eins zu drei mit Wasser vermischt und während einiger Tage zum Keimen gebracht. Die getrockneten Keimlinge mahlt man mit einem Reibstein zu haltbarem Mehl. Bei Bedarf schüttet man das Mehl wieder in den Kessel, den man mit Wasser auffüllt und zum Kochen bringt. In mehreren Kochvorgängen, die bis zu drei Tagen dauern, ergänzen die Frauen geheime Zutaten für den speziellen Geschmack und fügen schließlich Hefe hinzu. Nach einer Nacht des Gärens und insgesamt zehn Tagen ist das Bier fertig und bleibt ungefähr 24 Stunden genießbar. Die Lebenskraft, die den Kessel als religiöses Zentrum gerade einer Begräbnisfeierlichkeit auszeichnet, geht zurück auf all die Mythen, Gebote und Vorschriften, die ihn von seiner Herstellung bis zur Gewinnung von rituellem Hirsebier begleiteten. Zur Feier versammeln sich Hunderte von Dorfbewohnern um dieses Symbol ihrer Gemeinschaft, das die Kräfte aller Anwesenden konzentriert. Da sich der Tote schwer von der Gemeinschaft trennt, wollen ihn die Menschen zurückhalten, ihn nicht gleich für tot erklären. Also schütten sie über dem Grab Hirsebier aus und versuchen ihn auf diese Weise zurück ins Leben zu holen. Nach einer gewissen Zeit von einigen Tagen ist es klar, dass er endgültig tot ist und in die Erde zurückkehrt. Für den Weg ins Jenseits stellt das Hirsebier ein Stärkungsmittel für den Toten dar, der von den beiden Wasserbüffeln und der Eidechse am Rand des Bierkessels begleitet wird, Verkörperungen der Lebenskraft im Glauben der Menschen von Burkina Faso.
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Brautschmuck aus dem Jemen
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ölkerkundemuseen zeigen dem Besucher in ihren Sammlungen eine kaum überschaubare Zahl von Gegenständen, welche die Vielfalt von Kulturen und ihre Veränderungen über lange Zeiträume hinweg dokumentieren. So helfen sie mit, verbreitete Vorurteile – etwa dass sich Kulturen über lange Zeiten hinweg nicht verändert hätten oder dass es so etwas wie „reine“ Kulturen gebe – anhand des Gegenstandes augenfällig zu widerlegen. Der historische Blick erkennt immer wieder Entwicklungen, sieht immer wieder wechselseitige Einflüsse, die auf unterschiedliche Kontakte zurückgehen und sich häufig in Gegenständen widerspiegeln, deren Zuordnung zur einen oder anderen Kultur nicht möglich scheint. Wirft ein Barockengel des 18. Jahrhunderts aus Guatemala wegen der bekannten Missionierung Lateinamerikas keine besonderen Fragen auf, so bedarf es der kulturhistorischen Recherche, wenn man erfahren möchte, wie es zu einer christlichen Kreuzigungsszene auf einem chinesischen Porzellanteller gekommen ist, wieso die Robe eines chinesischen Würdenträgers aus Kanton mit kanadischem Biberpelz besetzt ist oder was portugiesische Soldaten als Motive auf einer Bronzeplatte westafrikanischer Könige bedeuten. Diese wenigen Beispiele des 17. und 18. Jahrhunderts bezeugen weiträumige kulturelle Kontakte, die auf Handel, Mission und Kriege zurückgehen und selbstverständlich die Kulturen aller Beteiligten verändert haben.
Nicht immer sind die Spuren dieser Kontakte so deutlich nachzuvollziehen. Sie überlagern einander, werden über Generationen hinweg neu gedeutet und können schließlich zu etwas Neuem führen, dessen tatsächliche Ursprünge den Menschen späterer Zeit unbekannt sind und häufig ohne Bedeutung sein mögen. Ein überzeugendes spannendes Beispiel für verschiedene Ebenen von kulturellen Kontakten ist dieser Brautschmuck aus dem Jemen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, an dem Gründe, Abläufe und Auswirkungen solcher Berührungen über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg fast Schritt für 123
Schritt nachvollziehbar sind. Schon eine etwas präzisere Eingrenzung des Gegenstands – Schmuck, den jüdische Silberschmiede für den jemenitisch-islamischen Markt hergestellt haben – wirft eine Reihe von Fragen auf. Dass es in Südarabien und an der gegenüberliegenden Küste Afrikas bis in die jüngste Vergangenheit jüdische Gemeinschaften gab, wurde weltweit bekannt, als vor etwa dreißig Jahren die Gruppe der Falascha von Äthiopien nach Israel auswanderte. Kaum mehr in Erinnerung sein dürfte dagegen die Ausreise von rund 100 000 jemenitischen Juden in den Jahren 1949 bis 1951 in den damals gegründeten Staat Israel. Sie war auch das Ende einer fast drei Jahrtausende währenden Verbindung zwischen Jerusalem und dem Jemen, deren erste Erwähnung auf Legenden und das schriftliche Zeugnis der Bibel zurückgeht: Berichtet wird von der sagenhaften Königin von Saba, die aus ihrem Reich in Südarabien und dem ostafrikanischen Küstengebiet des heutigen Eritrea und Äthiopien aufbrach und mit reichen Schätzen König Salomo in Jerusalem besuchte. Die Frucht der Begegnung war ein Sohn, dessen Nachkommen ab dem 5. Jahrhundert n. Chr. als erste christliche Dynastie Äthiopien beherrschen sollten. Darüber hinaus schickte Salomo jüdische Kaufleute nach Saba, wohl um den schon bestehenden Handelskontakt mit dem Reich Saba zu fördern. Jemenitisch-jüdische Grabsteine aus dem 3. Jahrhundert in Palästina sprechen für einen florierenden Handel zwischen dem Arabischen Meer und dem Mittelmeer. Die folgenden anderthalb Jahrtausende waren geprägt von Konflikten und Kämpfen zwischen Christen, Juden, islamischen Arabern und später den türkischen Eroberern der Region, die vom 17. Jahrhundert bis 1904 Teil des Osmanischen Reichs war. Die gesamte Zeit war auch bestimmt durch eine mehr oder minder starke Diskriminierung der Juden, noch am geringsten unter der türkischen Herrschaft, was sich aus der gemeinsamen Ferne zum Jemen erklärt: Die einen
Brautschmuck aus vergoldetem Silber aus Sanaa, Jemen, Anfang 20. Jahrhundert.
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waren fremde Eroberer, die anderen selten wohlgelittene fremde Zuwanderer. Die Juden bildeten eine kleine Gruppe, die über zwei Jahrtausende hinweg ihre kulturelle Identität bewahren konnte. Dass ihnen dies trotz, aber wohl auch gerade wegen der diskriminierenden Vorschriften und Gesetze der jemenitischen Majorität (hohe Abgaben, Kleidungsvorschriften, Zwang zu „niederen Reittieren“, das heißt Eseln, Verbot von Sattel und Schwert) gelang, war vor allem ihrer beruflichen Spezialisierung zu danken. In ihrer Tätigkeit als Schmiede wurden sie unentbehrlich für die jemenitische Gesellschaft und etablierten sich als fester, wenngleich marginaler Bestandteil. Auf dem Land waren sie darüber hinaus gesuchte Kleinhändler – ein Beruf, den die hauptsächlich als Ackerbauern oder städtische Kaufleute tätigen Muslime verachteten, aber doch brauchten. Diese symbiotische Lebensweise, also das Zusammenwirken verschiedener Bevölkerungsgruppen, war eine weltweit verbreitete Praxis. In Tibet beispielsweise waren es die Muslime, die als Randgruppe den Metzgerberuf ausüben mussten, da den Buddhisten aus religiösen Gründen das Töten von Tieren verboten war. Ebenfalls religiös bedingt übernahm in Japan bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Paria-Schicht der Burakumin die sozial verachteten Berufe der Abdecker und Gerber. Im Jemen waren jüdische Feinschmiede wegen ihrer Kunstfertigkeit, Silber zu bearbeiten, gesucht und von den Muslimen geschätzt. Sie belieferten die wohlhabende städtische Oberschicht mit Schmuck, reich verzierten Krummdolchen und Scheiden oder sorgten als Münzmeister für das Prägen von Zahlungsmitteln. Daneben waren sie aber auch Grobschmiede, die Sensen, Pflugscharen, Äxte, Hacken oder Sicheln anfertigten und reparierten. Jemenitische Dörfer engagierten gleichsam eine jüdische Handwerkerfamilie, deren Mitglieder auf der Basis von mündlichen Abmachungen und in Naturalien entlohnt ihren Dienst versahen oder als Wanderhandwerker über die Dörfer zogen. Dieser Brustschmuck aus vergoldetem Silber, der für eine junge muslimische Frau als Brautgabe bestimmt war, entstammt der Tradition jü126
discher Kunstschmiede im Jemen. Die filigrane Arbeit in Form von Ziselierungen und Durchbrechungen fällt sofort ins Auge, ebenso wie die realistisch gestalteten Motive von Pflanzen, Vögeln und Gestirnen, die sich in größerer oder kleinerer Zahl zu wiederholen scheinen. Es sind unmittelbar vertraute Elemente, die natürlich nicht allein muslimische oder jüdische Traditionen dokumentieren, sondern in der ganzen Welt verbreitet sind. Im Orient jedoch finden sie sich durch die Jahrtausende hinweg immer wieder in dieser Zusammenstellung und in einem ähnlichen symbolischen Kontext, der in den dort entstandenen Religionen verwurzelt ist, den Religionen Mesopotamiens und Altägyptens, des Judentums, der griechischen und römischen Antike, des Christentums und des Islams. In ihnen allen sind Pflanzen symbolische Bilder für Fruchtbarkeit, werden geflügelte Wesen – Vögel, Schmetterlinge – häufig als „Seelen“ verstanden und haben Gestirne – Sonne, Mond, Planeten – meistens kosmische Bezüge. Dieser Brustschmuck ist das Ergebnis einer Entwicklung, in der sich im Laufe einer langen Geschichte viele Wege gekreuzt und überlagert haben, deren ikonografische Spuren im Einzelnen nicht zu verfolgen sind. Unzweifelhaft kennen wir seine Herkunft von jüdischen Kunsthandwerkern im muslimischen Auftrag und den Anlass seiner Entstehung, eine Vermählung. Bleibt die Frage, wie diese Informationen zueinander passen, sich miteinander verbinden lassen. Und welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Das beherrschende Element des Schmucks ist die große Zahl der Vögel. Es sind genau 36, auf jeder Seite 18. Beide Zahlen erscheinen zwar im Fundus der zahlenmystischen Spekulationen verschiedener Kulturen, lassen sich jedoch hier nicht islamspezifisch deuten. Schon eher ist dies in Bezug auf das Motiv der Vögel möglich, die von den Arabern bereits in vorislamischer Zeit – wie in anderen altorientalischen Überlieferungen – als Verkörperung der Seele angesehen werden; für gewöhnlich umschwebt sie in Gestalt einer Eule den Körper des Verstorbenen. Die Theologen des Islam wenden sich zwar explizit gegen die Vorstellung eines Totenvogels, doch die Tradition ist im Volksglauben sehr stark verankert: So sollen die Seelen der Frommen auf den Bäumen des Paradiesgartens auf die Leiber der Gläubigen warten, mit denen sie sich zur Auferstehung wieder verbinden. Sie sind grün, im Unterschied zu den 127
schwarzen Seelenvögeln der Ungläubigen, und werden meist mit Sperlingen identifiziert, die man hier zwar vermuten möchte, aber nicht eindeutig beweisen kann. Die „Anhängsel“ in der untersten Reihe des Schmucks stehen dagegen unverkennbar in der islamischen Tradition. Es sind Symbole einer Hand mit jeweils fünf Fingern. Dass einige Finger fehlen, ist vermutlich ein Beleg dafür, dass der Schmuck tatsächlich getragen wurde. Der Zahl fünf kommt im Islam eine herausragende Bedeutung zu, da sie grundlegende muslimische Glaubensinhalte beschreibt wie die Namen der „fünf schiitischen Heiligen“ oder die „fünf Gebete“, die dem Glaubensbekenntnis gleichgesetzt werden. Vor allem symbolisiert sie die „fünf Pfeiler“, die zu den Pflichten jedes gläubigen Muslim gehören: das Bekenntnis der Zugehörigkeit zum muslimischen Glauben, das tägliche Gebet, die Pilgerfahrt einmal im Leben nach Mekka, das Fasten im Ramadan und die Pflicht des Almosengebens. Am weitesten verbreitet ist ihre Darstellung in Form einer offenen Hand, nach der Tochter des Propheten „Hand der Fatima“ genannt, die als Amulett zum Schutz vor Dämonen und bösen Einflüssen getragen wird. Dass sie ein Teil des Brautschmucks ist, erfüllt vordergründig die Funktion des Abwehrzaubers, zusätzlich wirkt dieser Abschluss wie eine ästhetische Verzierung. Im Mittelmeerraum waren solche Handamulette bereits seit der der Antike populär und wurden als „Hand der Venus“ oder im Christentum als „Hand Marias“ bezeichnet. Die auffallende Mittelachse wird von vier Elementen gebildet, von denen uns drei vertraut anmuten – eine Schleife, eine liegende Mondsichel und ein Herz –, während die Deutung des vierten Elements ungewiss ist. Die Schleife erinnert an ein gebundenes Stoffband, profan als „Fliege“ bekannt, die modisch gesehen heute eher auf dem Rückzug ist, wie auch der andere Brustschmuck des Herrn, die Krawatte. Beide verbindet eine verwickelte Geschichte und ein gemeinsamer Ursprung: Ihrer Herkunft und ihrer Bezeichnung nach geht die „Krawatte“ zurück auf Ludwig XIV., in dessen Heer kroatische Soldaten dienten, die dekorative Stoffbänder als Erkennungszeichen trugen. Die gleichen Halstücher galten bei den Osmanen als Schutzamulette und wurden in dieser 128
Funktion auch als Teil des jemenitischen Brautschmucks übernommen. Dem Mond – wie auch der Sonne und den Gestirnen – kommt in den Kosmologien aller Völker ein herausragender Platz zu. Im östlichen Mittelmeerraum ist die Mondsichel als ikonografisches Element seit der Antike verbreitet, zum Beispiel als Zeichen der Göttin Artemis oder als Symbol der Stadt Konstantinopel, die Artemis als Schutzgöttin erwählt hatte. Während des letzten Jahrtausends ist die Mondsichel zu einer Art Feldzeichen zweier Lager geworden, die durch die Jahrhunderte aus religiösen und politischen Gründen miteinander tief verfeindet sind: des Abendlands und des Osmanischen Reichs. In der christlichen Tradition erscheint der Sichelmond etwa im 12. Jahrhundert als Motiv der Jungfrau Maria, das auf die apokalyptische Vision des Johannes zurückgeht: Er sieht eine Frau am Himmel, die mit der Sonne bekleidet ist, auf dem Mond steht und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen trägt. Die Darstellung der „Maria auf der Mondsichel“ ist vielfach in barocken Kirchen zu sehen, häufig mit einer Schlange zu ihren Füßen, welche sie zertritt. Auf manchen Bildern – wie etwa einem Gemälde im Überlinger Münster – tritt die Muttergottes auf den Kopf eines Osmanen, da beide, Schlange und Türken, in den Augen der Christenheit das Böse schlechthin verkörperten. Die Verbindung des osmanischen Reiches mit der Mondsichel hatte auch einen höchst profanen Grund: Der Legende nach soll dessen Gründer Osman l. (1258–1326) im Traum das Bild seines künftigen Herrschaftsbereichs gesehen haben, der sich wie eine Mondsichel von einem Ende der Erde zum anderen erstreckte. Die „Maria auf der Mondsichel“ wiederum war in den Zeiten der Türkennot die Schutzherrin der christlichen Truppen und sie glaubten, mit ihrer Hilfe würde das Abendland über den Islam triumphieren. Wie aber passt das uns wohlbekannte, zuunterst hängende Herz zu Stoffschleife und Mondsichel? Ganz einfach: Mit dieser Interpretation des Symbols, eines der gängigsten der globalen Bildersprache, sind wir ein Opfer unserer Sehgewohnheit geworden. Es ist kein Herz, sondern ein um 180 Grad gedrehtes, auf dem Kopf stehendes Blatt und gehört zu den im Orient am meisten verbreiteten Symbolen der Pflanzenwelt. 129
Im Islam, der zu allen Zeiten von einer hochrangigen Handwerkskunst in der Bearbeitung von Metall, Holz und Textilien begleitet wurde, bestand von Anfang an das Verbot, Allah und Mohammed und im Prinzip auch alle anderen Lebewesen bildlich darzustellen. Als eine der Folgen dieses Verbots hatte sich eine Kunst der Pflanzenornamentik entwickelt, die von Ostasien bis zum Abendland Bewunderung hervorrief und nicht umsonst zur Bezeichnung „Arabeske“ für das stilisierte Rankenmuster führte. Das abstrakt scheinende, doch in seiner ursprünglichen Natürlichkeit geformte Blatt symbolisiert im Islam Fruchtbarkeit von Mensch und Natur, was durch den eingesetzten roten Steine in der Farbe des Lebenskraft spendenden Blutes noch verstärkt wird. Das Motiv wiederholt sich vielfach im Schmuck, genau 36-mal: Jeder Vogel sitzt auf einem Blatt und alle zusammen ergeben einen Schwarm von Seelenvögeln auf den Bäumen des Paradiesgartens. Blätter, Vögel und Finger bauen sich auf zu einem kraftvoll wirkenden Muster, dessen Wahrnehmung für das Auge zwischen ornamentaler Schönheit oder konkretem Bildinhalt schwankt, die beide letztlich eins sind. Die Botschaft des Brautschmucks liegt in der Summe der dargestellten Motive: Fruchtbarkeit, neues Leben, Glück und Segen, die Sicherheit, vor Gefahren, unheilvollen Einflüssen und bösen Dämonen geschützt zu sein und am Ende seines Lebens ins Paradies einzugehen. Dass sich die einzelnen Motive in unterschiedlichen religiösen Kontexten der orientalischen Symboltradition wiederfinden und jüdische Kunsthandwerker den Schmuck im Sinne ihrer muslimischen Auftraggeber im Jemen gefertigt haben, öffnet den Blick auf die komplexe Entwicklung von Kultur, wie sie sich an einem einzigen Gegenstand darstellt.
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Tanz auf dem Dach der Welt
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n allen Religionen spielt die Abwehr des Bösen, von Dämonen, von Unglück bringenden Geistern, eine wichtige Rolle und gibt ihren Anhängern das Gefühl, in einem Schutzmantel geborgen zu sein, der ihnen vor Bedrohungen aller Art Sicherheit bietet. Die Formen, in denen Schutz gesucht und gewährt werden kann, sind vielfältig: Das kann die Kenntnis wichtiger ritueller Handlungen sein, die Unterstützung durch wohlwollende Kräfte, etwa in Tiergestalt, das Meiden gefährlicher Orte und Situationen oder sehr häufig das Vertrauen in bestimmte Gegenstände, die als magisch wirksame Abwehramulette mögliche Gefahren bannen. Die gesamte Gemeinschaft und jedes einzelne ihrer Mitglieder sind von einem Geflecht einander verstärkender positiver Kräfte und Einflüsse umgeben, die allgegenwärtig Schutz verheißen und gleichsam auf Abruf als Hilfe gegen Gefahren bereitstehen. In China etwa ist der Drache eins dieser herausragenden Schutzelemente, die allerorten präsent sind und die Menschen begleiten. Als Firstfigur an Tempeln und Palästen schützt er vor Überschwemmungen und fördert zugleich die Fruchtbarkeit der Natur, als Dekor von Prunkroben steht er für die tugendhafte Herrschaft des Kaisers und seiner Beamten, als Glück verheißendes Schmuckzeichen auf Gegenständen und Bildern vermittelt er Kraft und Stärke gegenüber Feinden, und als buddhistisches Symbol der Suche nach Erkenntnis verspricht er die endgültigen Befreiung vom Bösen und dessen geistige Überwindung. Gottheiten und Heilige, die als Vertreter der jeweiligen Religionen verehrt werden, sind in besonderer Weise nicht nur befähigt, sondern geradezu verpflichtet, ihren Anhängern Schutz zu gewähren. Eine solche Gottheit des tibetischen Buddhismus ist Hayagriva, dessen sprechender Name „Der mit dem Pferd im Nacken“ bedeutet. Er ist einer der acht Dharmapalas, die über das Dharma, die buddhistische Lehre wachen. Eine Figur wie die von Hayagriva scheint in ihren zahlreichen ikonografischen Details geradezu unterzugehen und bewahrt gerade darin ihre unverwechselbare Gestalt, deren Aura wie ein Schutzschild nach außen strahlt und deren göttliche Kraft gleichermaßen die Welt zu 131
durchdringen scheint. Auf einen einzigen Blick kann das Auge die vielen Einzelheiten nicht erfassen; umso prägnanter ist das Bild in seiner Gesamtheit und umso deutlicher ist die mit ihm verbundene Botschaft, dass dem Gläubigen Schutz gewährt und zugleich jede Bedrohung von ihm ferngehalten wird. Den neugierigen, interessierten Betrachter lädt die Figur ein, sich auf die Spuren der einzelnen Elemente zu begeben, aus denen sich das Bild Hayagrivas und dessen Aussage zusammensetzen. Diese Skulptur ist aus Bronze gegossen und vergoldet, zeigt Reste von Bemalung und stammt aus dem 17. Jahrhundert. Als Kultobjekt ist sie Teil der praktizierten Religion des tibetischen Buddhismus, deren Lehre der Gott beschützt. Alle acht Dharmapalas waren ursprünglich selbst Dämonen, doch da sie nicht im eigentlichen Sinne böse waren, konnten sie schließlich ihre Kräfte positiv einsetzen und in den Dienst des Buddhismus stellen. Diese Umkehrung ihrer Funktion ist dem bedeutenden Meister des Buddhismus Padmasambhava zu verdanken, der im 8. Jahrhundert die Lehre des Buddha nach Tibet gebracht hatte, nicht ohne den Widerstand der lokalen bösen Gottheiten zu brechen, die er nur gegen das Versprechen am Leben ließ, dass sie fortan den Buddhismus und seine Anhänger schützen würden. Traditionell gibt es in jedem tibetischen Kloster einen Raum, der diesen Wächtern der Lehre geweiht ist und in dem täglich um ihren Schutz gebeten wird. Den acht Dharmapalas gemeinsam sind bestimmte Erkennungsmale, die Erinnerungen an ihre frühere Existenz sowie ihrer Herkunft aufgreifen und ihre spezifische Wirkkraft illustrieren. Ihre vornehmliche, letztlich einzige Aufgabe besteht darin, Unheil von der buddhistischen Lehre und ihren Anhängern abzuwenden. Dass sie ihr ursprünglich böses Aussehen für ihre neue Aufgabe beibehielten, stellt für die buddhistischen Gläubigen, die sich in ihrem Glauben aufgehoben fühlen,
Skulptur des Hayagriva mit Gefährtin aus vergoldeter Bronze aus Tibet, 17./18. Jahrhundert.
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keinen Grund zur Beunruhigung oder Furcht dar. Für den Nichteingeweihten mag Hayagriva in der Tat schreckenerregend aussehen: Er verfügt über ein im Zorn verzerrtes Gesicht, weit aufgerissene, dämonische Augen, ein drittes Auge auf der Stirn, Fangzähne im Kiefer, einen flammenartig wehenden Haarschopf, aus dem ein Pferdeschädel herausschaut, eine Krone aus fünf Totenköpfen, ein Brustgehänge aus abgeschlagenen Menschenköpfen, Tigerfell und Elefantenhaut als Kleidung, ein Paar bedrohlich gespreizter Flügel, diverse Waffen in den vier Händen, mit Blut gefüllte Schädelschalen, und zu guter Letzt tanzt er im Ausfallschritt auf zwei menschlichen Figuren, die er offenkundig zu Tode trampelt – zum Fürchten, fürwahr. Viele dieser Elemente sind auch aus anderen religiösen Traditionen Ost- und Südasiens bekannt, und so liegt es nahe, die komplexe Figur Hayagrivas in einen größeren historischen und regionalen Kontext zu stellen. Der Buddhismus selbst ist in Nordindien, einer seit langem von religiöser Vielfalt geprägten Region, im 5. Jahrhundert v. Chr. vom historischen Buddha Siddhartha Gautama begründet worden. Bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. waren aus dem Norden Reitervölker hierher eingewandert, die vedische Religionen mit sich gebracht hatten, aus denen sich in der Folge der Hinduismus entwickelt hatte. In diesem wie der buddhistischen Lehre bestehen bis heute sehr ähnliche Vorstellungen über die Entstehung und das Vergehen der Welt sowie über den Kreislauf der Existenzen. Auch in Tibet, wo der Buddhismus im 8. Jahrhundert n. Chr. Eingang fand, gab es bereits bestehende religiöse Strömungen, vor allem den bis heute lebendigen Bön. Solche Traditionen beeinflussten sich gegenseitig, sei es, indem sie sich gezielt voneinander abgrenzten, sei es, indem sie für gemeinsame Vorstellungen neue inhaltliche Erklärungen aus ihrer jeweiligen Sicht propagierten. Hayagriva war als Manifestation Vishnus ursprünglich eine hinduistische Gottheit; beide nahmen jedoch entsprechend ihrer religiösen Kontexte unterschiedliche Entwicklungen. Die Bedeutung des Namens „Der mit dem Pferd im Nacken“ verweist allerdings auf noch frühere Wurzeln, die in der Rolle des Pferdes bei der Eroberung Nordindiens durch indoeuropäische Reiterstämme liegen und Hayagrivas besondere 134
Verehrung widerspiegeln. Doch auch für die Tibeter, die das Hochplateau Zentralasiens teils als Nomaden, teils als Ackerbauern bewohnten, war das Pferd vor allem ein enormer wirtschaftlicher Faktor, dem daher religiöse Bedeutung zukam: Durch bloßes Wiehern etwa konnten Pferde Dämonen verjagen, und alle drei Jahre leisteten die Untertanen ihrem lokalen Herrscher einen Treueeid, der mit Pferdeopfern verbunden war. Aus diesem Anlass ließen Bön-Priester in ihren Meditationen besonders furchterregende Manifestationen von Hayagriva erstehen, die alle bösen Geister vertrieben und Sicherheit und Schutz für die kommenden drei Jahre versprachen. Die Dynamik der gesamten Skulptur entsteht durch die kraftvollen Vogelschwingen – manchmal auch ergänzt durch eine Flammenaureole –, die Hayagriva emporzuheben scheinen. Sie beflügeln die Gottheit im unmittelbaren Sinne des Wortes und sind darüber hinaus ein Beleg ihres facettenreichen Erbes, an dessen Ursprung diesmal zwei mythische Vögel stehen: der vogelköpfige Bön-Dämon Khyung und der hinduistische Sonnenvogel, die beide im tibetischen Buddhismus als Garuda miteinander verschmolzen sind. Garuda war im Hinduismus ursprünglich eine Vogelgottheit, in deren Diensten zahllose weitere Vögel standen. Von ihm wird berichtet, dass er sich mit seinen mächtigen Schwingen über dem Meer aufhielt und dessen Fluten derart aufwirbelte, dass er und sein Gefolge die Schlangen, die sich am Meeresboden aufhielten, entdecken und fressen konnten. Nun sind im Buddhismus auch Tiere befähigt, den Pfad der Erleuchtung zu gehen, und so wandten sich die Schlangen, die sich zur Lehre des Buddha bekannt hatten, mit der Bitte um Hilfe an diesen, um der dauernden Verfolgung durch die Vögel zu entgehen. Daraufhin riss der Buddha aus seiner Mönchsrobe Hunderttausende von kleinen Stofffetzen und gab sie den Schlangen als Schutzamulette. Das Augenmerk, das wir bislang auf einige auffallende Details der Skulptur gerichtet haben, führte zu zwei Beobachtungen, die bereits eine allgemeine Aussage erlauben. Zum einen konzentrieren sich in der Figur verschiedene Elemente der Abwehr von Bösem und des Schutzes davor. Der Schrecken, den ein möglicher Angreifer verbreitet, wird auf 135
ihn selbst erfolgreich zurückgeworfen und macht ihn unschädlich. Hayagriva ist die charakteristische Personifizierung einer solchen Verkehrung: Gegenüber seiner früheren Existenz als Dämon ist er in seiner äußerlichen Erscheinung formal unverändert, doch steht er nunmehr mit all seinen Fähigkeiten im Dienste eines neuen Herrn, seines Bezwingers Padmasambhava. Die vorhandenen Einzelmotive werden wie in einem Puzzle erneut zusammengesetzt, ergeben äußerlich das gleiche Bild und dennoch eine ins Positive gewendete Gottheit mit noch größerer Kraft. So wird Hayagriva einer der acht Dharmapalas, der vollkommenen Schützer der buddhistischen Lehre. Zum anderen haben wir aus unserer Betrachtung die Aussage gewonnen, dass historische Querverbindungen und Einflüsse von verschiedenen religiöser Traditionen untereinander erkennbar sind; das klingt zwar trivial, überrascht jedoch wegen der damit verbundenen offen bleibenden Folgen. An einem einzelnen Motiv oder Symbol wie dem Drachen in China ist nachvollziehbar, dass es im Laufe der Jahrtausende verschiedene Funktionen und Aufgaben erfüllte und von vielen Seiten wegen seiner positiven Ausstrahlung in bester Absicht vereinnahmt wurde, sodass es schließlich als konkreter Gegenstand der Verehrung nicht mehr so recht fassbar ist. Ganz anders erscheint uns eine so klar definierte und wichtige Gottheit des tibetischen Buddhismus wie Hayagriva, deren Entstehung und Wirkung, wie wir gesehen haben, von unterschiedlichen Einflüssen aus verschiedenen historischen Epochen geprägt waren. Wer wen beeinflusst hat, welche die ältere Tradition ist, aus welchen gemeinsamen Quellen sich unterschiedliche Folgen ergeben haben, das alles ist nicht immer einfach oder eindeutig zu bestimmen. Wie auch immer die Figur von Hayagriva in diesem Kontext zu sehen ist – sie belegt eine häufig anzutreffende Folge von Berührungen zwischen religiösen Traditionen, die über zwei verschiedene Wege verlaufen: Entweder sie bereichern sich wechselseitig auf inspirierende Weise oder die fremde Glaubensvorstellung wird als Konkurrent erfahren, der überwunden werden muss und zur Stärkung der eigenen Religion in diese integriert wird. Eine Schutzgottheit wie Hayagriva wurde nicht einfach aus einer anderen Religion „importiert“, sondern musste besiegt und „überzeugt“ werden, sich für die neue Religion einzuset136
zen. Erst dann konnte sie ihre umso wirksamere Kraft in den Dienst der neuen Aufgabe stellen. Die verwirrende Vielfalt von Attributen und Gesten hat das ungeübte Auge des Betrachters bisher vom Hauptmotiv der Gesamterscheinung abgelenkt: Hayagriva ist mit seiner Partnerin im Tanz verbunden, den die Skulptur in einem Moment der Erstarrung anhält. Die Partnerin ist eine himmlische Botin, die die Verbindung zur Sphäre der Erlösung herstellt. Der Tanz versinnbildlicht das Fliegen in diese Sphären und begleitet die mystische Vereinigung der beiden. Mit den Füßen stehen sie auf zwei Figuren, die zwar technisch zur Stabilisierung und als Stütze dienen, in der Aktion der beiden Tanzenden aber bewusst zerstört werden. Dass es sich dabei um eine rituelle Vernichtung von Bösem handelt, erklärt die Gestaltung der Figuren – einer weiblichen, die auf dem Rücken liegt, und einer männlichen, die sich auf ihre Arme und Beine stützt. Die Frau verkörpert die Leidenschaft, der Mann Gier und Hass. Mit der Abtötung dieser drei Eigenschaften – Leidenschaft, Gier und Hass – entfaltet sich die Kraft, die dazu befähigt, die Erleuchtung zu erlangen. Eine solche Skulptur leitet den buddhistischen Gläubigen an, sich in der Meditation Schritt für Schritt über die äußerliche Präsenz der Attribute einer Gottheit mit ihr zu identifizieren und zu vereinigen und damit zum Erwachen im Sinne der buddhistischen Erkenntnis zu gelangen.
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Der Dolch als Lebensbegleiter
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n den Jahren 1902 und 1903 unternahm Prinz Rupprecht von Bayern, Enkel des Prinzregenten Luitpold und später Kronprinz von Bayern, eine Reise, die ihn um die ganze Welt führte: über den Vorderen Orient, Süd- und Südostasien, China und Japan bis nach Nordamerika und wieder zurück nach Europa. Die auch aus damaliger Sicht lange Dauer der Fahrt war nicht nur den üblichen Verkehrsmitteln Schiff und Eisenbahn sowie den politischen Pflichtterminen des Prinzen geschuldet, sondern vor allem seinen kulturellen Interessen, dem eigentlichen Motiv für dieses anstrengende Unternehmen. So reiste Rupprecht mit der Bahn mehrere Wochen lang durch Java, der unter niederländischer Kolonialherrschaft stehenden Hauptinsel Indonesiens. Er besuchte unterwegs einige berühmte Tempelanlagen und war als Gast bei lokalen Fürsten eingeladen, unter anderem bei Sultan Susuhunan von Surakarta. In seinen Reiseerinnerungen, die reich an persönlichen Beobachtungen sind, schildert Prinz Rupprecht den Empfang, den der Sultan ihm zu Ehren gab, verbunden mit einer Tanzdarbietung und einem Rundgang durch den Palast. „Es war schon spät, als man uns wieder zum Sitzen nötigte und uns auf Befehl des Sultans in gelbe Seidentücher gehüllte Geschenke überreicht wurden. Ich erhielt einen prachtvollen Kris mit goldtauschierter Klinge, der noch aus der Zeit des Reiches Mataram stammt.“ Es war ein dem Besucher angemessenes fürstliches Gastgeschenk, das den offenkundig bis Surakarta bekannten Interessen des Kronprinzen an Kultur und Geschichte Rechnung trug, gehörte doch der Kris seit mehr als tausend Jahren zu den wichtigsten Zeugnissen der kulturellen Traditionen Indonesiens. In seiner ursprünglichen Funktion war der Kris eine Waffe, die zum Stechen und Hauen diente. Seit dem 13. Jahrhundert wurden sie als Zeichen ihrer wachsenden religiösen Be-
Kris aus Eisen mit zwei Scheiden aus Java, goldtauschiert und mit Einlagen von Diamanten, vor 1755.
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deutung immer aufwändiger und prunkvoller gestaltet: Der Kris entwickelte sich zu einem Symbol des Mannes schlechthin, zu seinem zweiten Ich, das ihn „von der Geburt bis zum Tod“ begleitete. Zum einen befand er sich real an dessen Seite, zum anderen trat er unter bestimmten Umständen gar an dessen Stelle, konnte ihn ersetzen. Seit fast anderthalb Jahrtausenden bestanden zwischen den indonesischen Inseln sowie Süd- und Ostasien kontinuierliche Handelskontakte auf dem Seeweg. Die archäologische Untersuchung der Ladungen gesunkener Schiffe und frühe schriftliche Quellen bezeugen den regen Austausch von wertvollen Hölzern sowie verschiedenen Vögeln und anderen Tieren Indonesiens gegen Keramikprodukte vom asiatischen Festland. Aus diesen wirtschaftlichen Verflechtungen ergaben sich verschiedene religiöse Einflüsse, die bis heute die Kultur Indonesiens entscheidend geprägt haben. Ursprünglich waren auf den Inseln wohl animistische Vorstellungen vorherrschend, in deren Sicht die gesamte belebte und unbelebte Natur mit Seelen ausgestattet ist. Im Laufe der Jahrhunderte verbreiteten sich in geringerem Ausmaß Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum und vor allem der Islam, der heute die dominierende Religion des Landes ist. In der breiten Bevölkerung blieben jedoch ältere Anschauungen lebendig, die ohne Kenntnis der besonderen Rolle des Krises unverständlich bleiben. Das traditionelle Weltbild Javas, der bevölkerungsreichsten Insel Indonesiens, ist bis heute ausgerichtet an der Polarität zwischen dem männlich gedachten Himmel und der weiblichen Erde, die sich in einer mythisch-heiligen Hochzeit vereinen. Die für das Prinzip des Lebens notwendige Verbindung der beiden Pole gilt auch für die zwischen ihnen liegende Mittelwelt, in der die Menschen leben. Den Menschen sind symbolisch der männliche Kris und der weibliche Bereich der Textilien zugeordnet; dabei ist zu beachten, dass unter einer Zuordnung im religiösen Kontext mehr zu verstehen ist als eine formale, beiläufige Entsprechung. Im Falle des Krises handelt es sich für seinen Besitzer um ein jeweils einzigartiges, „einmaliges“ Stück, das in einer umfangreichen Zeremonie zu seinem Alter Ego bestimmt wird und damit seine zweite Identität darstellt. Die außerordentliche Wertschätzung dieses 140
besonderen Krises äußert sich bereits in seiner aufwändigen Herstellung sowie seinem spezifischen Dekor und zeigt sich in der Folge in seiner Aufbewahrung in einer demonstrativ kostbaren Scheide und in seiner sorgfältigen Pflege. Das Schmieden der Klinge, an welcher allein sich Qualität und magische Macht des Krises erweisen, ist eine heilige Handlung. Sie ist strengen zeitlichen und rituellen Vorschriften wie Fasten, Beten, Meditieren sowie sexueller Enthaltsamkeit unterworfen. Der Schmied hämmert kleine Metallblöcke aus silberfarbenem Nickel und dunklem Eisen – im Idealfall aus Meteoriteisen – zu flachen, dünnen Plättchen, die er sechzig-, siebzigmal immer wieder faltet und neu hämmert, bis ein besonderes Muster erkennbar ist: die Maserung. Sie gibt der Klinge „Seele“ und spirituelle Kraft. Die wellenförmige Schneide der Klinge nimmt die Form einer Naga-Schlange auf, die in Südostasien seit vorhinduistischer Zeit eine zentrale Rolle in Schöpfungsmythen einnimmt und generell als höchst wirksame Schutzgottheit gilt. Bei unserem Kris erweitert sich die Klinge zum Griff hin zur Form eines goldtauschierten Löwen, der von Pflanzenranken umgeben ist: Er ist in der Tradition chinesischer Vorbilder gestaltetet und zeugt vom ostasiatischen Einfluss. Der Griff selbst ist leicht gebogen. Zur Zeit des Hinduismus, etwa bis zum 14. Jahrhundert, hatte er die Gestalt einer stehenden, gebeugten Gottheit. Mit der Verbreitung des Islam und dem Eindämmen von bildhaften Darstellungen entwickelte sich die fast abstrakte, gekrümmte Form, deren ursprüngliche Herkunft zu erkennen ist, wenn man ältere Krise danebenlegt. Das vorliegende Stück hat zwei Scheiden – das ist eine Auszeichnung, die nur den besonders edlen Waffen zugedacht ist. Die wichtigere, rot lackierte Scheide ist mit religiösen Szenen bemalt, die den Bogen zum Kris als sakrale Erinnerung an den Schöpfungsmythos schlägt: Dargestellt wird die mythische Mittelwelt, in der Mann und Frau leben und das Prinzip der ursprünglichen Vereinigung von Himmel und Erde symbolisieren. Zu erkennen sind Berge, Tiere, Seen, das Wasser, also die uns umgebende Welt, allerdings ohne die üblicherweise auch abgebildeten kosmischen Symbole von Sonne und Mond. 141
Im religiösen Alltag belegen Herstellung und Gestaltung eines Krises seine mythischen Wurzeln bei zwei besonderen Anlässen: Beschneidung und Hochzeit. Bei der Hochzeit kommt dem Kris eher selten und am Rande eine Funktion zu. Als zweites „Ich“ seines Trägers kann er unter bestimmten Umständen dessen Stelle einnehmen. Nach altjavanischer Tradition wird eine Heirat üblicherweise in persönlicher Anwesenheit beider Eheleute geschlossen. Sollte allerdings der Mann krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen verhindert sein, dann übernimmt der persönliche Kris seine Stelle und wird als zweites Ich mit der Frau vermählt. Diese Form der Heiratszeremonie betrifft meist Verbindungen zwischen Partnern von großer sozialer Distanz, etwa wenn ein reicher Mann eine Frau aus bescheidenen Verhältnissen heiratet. Sehr manifest dagegen ist die Funktion des Krises bei Beschneidungsriten, welche die Aufnahme eines jungen Menschen in die Gemeinschaft der Erwachsenen besiegeln. Nach altjavanischer Sitte wurde die Beschneidung bis ins 19. Jahrhundert auch an Mädchen vorgenommen – allerdings nicht öffentlich. Heutzutage werden ausschließlich Knaben in einer Zeremonie beschnitten, zu deren Teilnahme die bereits initiierten Mitglieder eines Dorfes verpflichtet sind. Einige Tage vor dem Fest besucht der Vater mit dem Jungen die Ahnengräber der väterlicher Linie, um den Segen für das neue „Glied“ in der Kette zu erbitten, die von den Ahnen über die Gegenwart bis in die Zukunft reicht. Das Fest selbst wird mit Tänzen und einem gemeinsamen religiösen Mahl begangen, bis dann die eigentliche Zeremonie in einem Raum des Hauses stattfindet, der zum Tempel umfunktioniert wird. Der Kris, der bei der Beschneidung Verwendung findet, ist einmalig: Er wird im Auftrag des Vaters speziell für den betreffenden Sohn geschmiedet. Heute sind die Jungen bei der Beschneidung zwischen fünf und sieben Jahre alt, während sie bis ins 19. Jahrhundert fünfzehn bis siebzehn Jahre waren. Dieses Alter gilt auch jetzt noch als die Grenze zum sozialen Erwachsenwerden. Dann übergibt der Vater seinem nunmehr voll initiierten Sohn den Kris, mit dem er beschnitten wurde, als sein Eigentum. Erst mit dem Kris, der als Ersatz für eine den Männern – mythologisch begründet – fehlende linke Rippe gilt, ist er „vollständig“ und durch die rituell geschaffene Identität mit dem im Kris gegenwärtigen mythischen Begründer der Gruppe verbunden. 142
Beschneidungen sind aus verschiedenen Teilen der Welt bekannt, ohne dass diesem Ritus eine einheitliche Erklärung zugrunde liegt. Wohl allen gemeinsam ist die Berufung auf eine seit Urzeiten ausgeübte Sitte, die ursprünglich von einer Gottheit eingesetzt wurde. Auch die Völkerkunde ist zu keinem eindeutigen Schluss gekommen, wohl weil es für die jeweiligen Religionsangehörigen verschiedene gültige Begründungen gibt. Hygienisch-medizinische Gründe mögen eine Rolle gespielt haben, auch die für das „Erwachsenwerden“ wichtige Fähigkeit, in Initiationsriten Schmerz zu erdulden, oder die äußerliche Kennzeichnung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Allerdings wurden ähnliche Signale durch Tätowierungen oder das Abfeilen von Zähnen gesetzt. Ein wichtiges, verbindendes Element all dieser Riten liegt wohl darin, sich selbst als Opfer anzubieten und dadurch in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. In der christlichen Überlieferung sind uns aus dem Alten Testament die Beschneidung und die Praktizierung des Ritus in der jüdischen Religion bekannt: Zum Zeichen des Bundes, den Gott mit Abraham schloss, sollen alle männlichen Mitglieder seines Volkes am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden. Laut Bibel soll dies mit einem steinernen Messer geschehen, was im Unterschied zum kostbar gestalteten Kris den eher archaischen, an die mythischen Ursprünge erinnernden Charakter dieser Handlung ausdrückt. Eine deutliche, wenn auch kaum mehr bewusste Spur hat das Fest der Beschneidung auch in unserem Kalender hinterlassen. Jesus war Jude und wurde nach biblischer Vorschrift beschnitten, und zwar acht Tage nach seiner Geburt, die am 24. Dezember gefeiert wird, also am 1. Januar, profan Neujahr, laut Kirchenkalender der „Tag der Beschneidung des Herrn“. In Südostasien ist der Kris ein wichtiger Teil der kulturellen Traditionen. Er wird im Kampf als Stichwaffe eingesetzt, auch als rituelle Waffe, die den Gegner schon durch das Deuten in seine Richtung töten kann, vor allem aber steht er symbolisch und konkret für seinen Träger. Mit seinem Tode geht er in das sakrale Familienerbe, Pusaka genannt, über. Darin werden wertvolle Erinnerungsstücke gesammelt, die die Geschichte der Familie begleitet haben, so Schmuck, Waffen, Ritualgeräte, aber auch Küchenutensilien oder Werkzeuge. Dieser gemeinsame 143
„Schatz“ ist über seinen materiellen Wert hinaus höchst sensibel und stellt ein enormes magisch aufgeladenes Potenzial dar. Daher müssen solchen Gegenständen immer wieder Opfer dargebracht werden, um ihr günstiges Wirken für die Gemeinschaft zu sichern. Zeremonien zu Ehren eines persönlichen Krises muss sein Besitzer selbst vollziehen: Einmal in der Woche, am Donnerstagabend, verbrennt man zu seiner Reinigung Weihrauch und bringt ihm ein Blumenopfer dar. Einmal im Jahr wird der Kris rituell gereinigt, indem man ihn in Blütenwasser badet und die Klinge mit Sandelholzöl und Limonensaft einreibt. So bewahrt man ihre Schärfe und lässt den Kris immer wie neu aussehen. Das Geschenk, das Sultan Susuhunan seinem bayerischen Gast überreichen ließ, war dem Anlass und dem königlichen Status der beiden würdig: ein kostbarer Kris, etwa zweihundert Jahre alt, von höchster kunsthandwerklicher Qualität, mit wertvollen Steinen besetzt und versehen mit der magischen Aura des Pusaka, des Familienschatzes des Schenkers. Dadurch tat der Sultan kund, dass zwischen ihm und dem Prinzen eine besondere Verbindung bestand, dass sie gleichsam Brüder geworden waren. Das Gastgeschenk Susuhunans gelangte mehr als drei Jahrzehnte später, im Jahre 1937, als Teil einer größeren Sammlung von Kronprinz Rupprecht in die Bestände des Museums für Völkerkunde in München. Der Tag der Übergabe ist nicht überliefert. Passend gewesen wäre der 27. März, der früher als bayerischer Nationalfeiertag geltende Rupertitag. Jedenfalls bildete die Schenkung ein weiteres Kapitel in der Jahrhundertealten Mäzenatentradition des Hauses Wittelsbach, das öffentliche Sammlungen durch Zuwendungen aus dem Familienerbe, gewissermaßen dem Pusaka, förderte und auf diesem Wege der Allgemeinheit wirkungsmächtige kulturelle Zeugnisse zukommen ließ .
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Die philippinische Passion des Hauptmanns Longinus
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ultur ist ein gerne gebrauchter und weitverbreiteter Begriff. Vom „kulturellen Interesse“ über „Kultur haben“ – also sich zu benehmen wissen – bis hin zu „Popkultur“ und „multikulti“ ist er ein Teil unseres alltäglichen Sprachschatzes, wobei die präzise Beschreibung dessen, was damit gemeint ist, schwerfällt. Selbst im wissenschaftlichen Gebrauch der Völkerkunde, zu deren zentralen Aufgaben die Erforschung von Kultur gehört, wird sie unterschiedlich verstanden: einmal umfassend wie etwa in Bezug auf „Indianerkulturen“, dann wiederum im engeren Sinne für eine bestimmte, vielleicht nur ein paar hundert Menschen umfassende Gruppe („Kultur der sibirischen Ostjaken“), als sozialer Vorgang wie die „Akkulturation“ oder übergreifend als „materielle Kultur“, worunter alles Mögliche vom Haarpfeil bis zur Harpune fällt, und schließlich auch als Teil eines im Deutschen gängigen Begriffspaars wie „Kultur und Zivilisation“, das inhaltlich schwer voneinander abzugrenzen ist. Vertrackter wird die Situation, wenn wir Übersetzungen in andere Sprachen mit einbeziehen. Es müssen noch nicht mal so ferne Sprachen sein wie das Lateinische – mit der Wurzel von colere, was „bebauen“ und „kultisch“ verehren bedeutet – oder das chinesische wenhua – mit der Wurzel „Schrift“. Auch uns näher stehende Sprachen wie Französisch oder Englisch geben scheinbar Rätsel auf: In Hull, nahe Ottawa, befindet sich das bedeutendste Völkerkundemuseum Kanadas, das mit seiner offiziellen englischen Bezeichnung „Museum of Civilization“ und der offiziell französischen „Musée des Civilisations“ heißt. Im Deutschen kämen als Übersetzung noch am ehesten „Museum der Weltkulturen“ (Frankfurt) oder „Museum der Kulturen“(Basel) in Frage. Gerade wegen seiner großen Verbreitung und Beliebtheit bleibt die Bedeutung des Begriffs „Kultur“ unscharf, und so ist es kein Wunder, dass es zahlreiche Publikationen zu diesem Thema und beinahe ebenso viele Definitionen gibt.
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Als hilfreich erweist sich da die konkrete Erfahrung mit Kultur, der eigenen oder der anderer. Man umgeht den durchaus wichtigen, häufig aber ermüdenden Weg über abstrakte, allgemeine Überlegungen und nähert sich dem Phänomen mittels seiner lebendigen Vielfalt, ohne Gefahr zu laufen, die damit untrennbar verbundenen historischen Veränderungen und Entwicklungen fürs Erste beiseitezuschieben. Auch wenn ein solcher Zugang im Prinzip über jede Kultur möglich ist, bieten sich doch manche Beispiele eher an als andere. Dies liegt an ihrer Anschaulichkeit, ihrem Facettenreichtum und nicht selten an ihrer Nähe zu eigenen Erfahrungen, die das Verständnis des scheinbar Fremden erleichtern. Ein solches Beispiel sind die Philippinen mit ihrer kulturellen Vielfalt, die sich über Jahrtausende hinweg entwickelt und verändert hat. Über den philippinischen Archipel wanderten die Menschen vom Festland aus nach Süden und Norden, über Landbrücken, später mit Booten in den Pazifik, das „Meer von Inseln“. Auf der Hauptinsel Luzon und den zahlreichen kleineren Inseln leben bis heute die Nachkommen der Sammler, Jäger, Fischer und Nassreisbauern, deren Spuren sich in vorchristlicher Zeit verlieren. Seit dem 13. Jahrhundert siedelten Muslime auf der großen Südinsel Mindanao, und vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Philippinen Teil des spanischen Weltreichs. Deutliche kulturelle Einflüsse sind weiterhin dem lebhaften Handel mit Südostasien, China und Japan zu verdanken. Aus der langen spanischen Herrschaft erklärt sich, dass die Philippinen heute mit fünfzig Millionen Gläubigen der größte katholische Staat der asiatischen Hemisphäre sind, wofür die zahlreichen Kirchen und religiösen Feste ein beredtes, lebendiges Zeugnis ablegen. In dieser katholischen Tradition stehen auch die Passionsspiele auf der mittelphilippinischen Insel Marinduque. Alljährlich in der Karwoche scheinen römische Legionäre das Kommando zu übernehmen und Teile der Insel in historische Militärlager zu verwandeln: Allenthalben sieht man
Maske des Longinus aus mehrfarbig bemaltem Holz aus Marinduque, Philippinen, 1984.
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als Soldaten verkleidete Männer – in Wams und Rock und mit wehendem Umhang aus buntem Stoff, an den Beinen hochgeschnürte Riemensandalen aus Leder –, die in Trupps durch die Straßen streifen und demonstrativ ihre Holzschwerter zücken. Jeder trägt eine in kräftigen Farben bemalte realistische Holzmaske im einheitlichen Stil mit aufgerissenen Augen, gefletschten Zähnen und schwarzem Vollbart. Den Kopf bekrönt ein Federbusch auf einem mit Papier verziertem Helm, nach dessen spanisch-mexikanischer Bezeichnung morion, eigentlich Maurenkappe, die Legionäre „Moriones“ genannt werden. Während der Karwoche sind die Moriones Schauspieler, die die Kreuzigung Christi und seine Wiederauferstehung als Passionsspiel aufführen. Ein einziger Maskenträger sticht aus der Masse der Moriones hervor, da sein eines Auge halb geschlossen, erblindet ist. Er verkörpert den Hauptmann Longinus, der dem toten Jesus am Kreuz seine Lanze in die Seite gestochen haben soll. So geläufig dieses Motiv aus zahllosen Kreuzigungsdarstellungen ist und geradezu Teil des Standardrepertoires seit dem Mittelalter, wird es im Neuen Testament doch nur in einer kurzen Passage erwähnt. Auf Marinduque jedoch spielt Longinus die Hauptrolle in der Passionsgeschichte Christi. Aus seiner Sichtweise erleben die Teilnehmer des Festes den Tod von Jesus, und es ist der als Longinus verkleidete Mann, der nach dem „Gloria“ der Ostersonntagsmesse durch die Straßen läuft und allen die Auferstehung des Herrn verkündet. Er ist der „erste“ Märtyrer, der von Hunderten von Legionären verfolgt, gefangen und schließlich hingerichtet wird. Warum wird nun aber gerade die Osterpassion aufgeführt, und weshalb aus der Sicht des Longinus? Wie fügt sich die christliche Leidensgeschichte in die Geschichte eines Archipels ein, der durch Jahrtausende und Jahrhunderte hindurch viele kulturelle Traditionen aufgenommen und bewahrt hat? Die Philippinen, benannt nach dem spanischen König Philipp II., wurden über dreihundert Jahre lang nicht direkt von Madrid aus, sondern über Mexiko als eine Art Sekundärkolonie verwaltet. In Fragen der Missionierung – zusammen mit dem Handel ein Hauptanliegen der Spanier – konnte man auf viele Erfahrungen zurückgreifen, die in Mexiko mit etablierten vorspanischen Staaten und den traditionellen Religionen der Maya und Azteken gemacht worden 148
waren. Die diplomatisch versierten und nach außen hin tolerant vorgehenden, dabei durchaus interessierten Jesuiten suchten nach Ansatzpunkten, wie man Indianern, den Ungläubigen, die christliche Religion über ihre eigene Erfahrungen näherbringen könnte. Ein geeignetes Motiv waren etwa die Heiligen Drei Könige, die dem Christuskind an Epiphanias huldigen, dem Tag der Erscheinung des Herrn, einem der hohen Feste der katholischen Kirche. Die biblischen „Magier“ oder „Weisen“ waren seit dem 6. Jahrhundert zu „Königen“ erklärt worden, wohl um zu demonstrieren, dass sich politische Herrscher der Kirche zu unterwerfen haben. Im ausgehenden Mittelalter galten die drei Könige als Repräsentanten von Europa, Afrika und Asien oder auch als die drei Lebensalter von Jugend, Erwachsensein und Greisenalter. Mit der Entdeckung Amerikas mussten sie „politisch“ neu gedeutet werden, und der „Inder“ (für Asien) wurde mancherorts durch einen mit Federn geschmückten „Indianer“ (für Amerika) ersetzt, was als Anerkennung und zugleich als pädagogische Aufforderung zu verstehen war. Ein ähnlicher Vorgang der Anpassung, genauer der wechselseitigen kulturellen Beeinflussung ist an der Gestalt der Monstranz zu verfolgen. In der Mitte des Altars stehend, bewahrt sie traditionell den „Leib des Herrn“ in Form einer Hostie auf und wird den Gläubigen nur in der Kirche zur Messfeier und auf der Fronleichnamsprozession gezeigt, wie es der Name besagt. Die Jesuiten in Mexiko, deren Interesse an der Geschichte und Religion des Landes die Wissenschaft viel zu verdanken hat, sahen in der von den Azteken als göttliche Kraft verehrten Sonne eine bildliche und inhaltliche Übereinstimmung mit dem „Licht der Welt“, als das Jesus sich selbst bezeichnet hatte. Nach diesem Vorbild entwickelte sich eine neue Gestalt der Monstranz. Aus der traditionellen gotischen Turmmonstranz – einem schmalen, hohen Schrein mit durchbrochenen Seitenwänden – wurde ein kreisrunder, scheibenförmiger Hostienbehälter, der von Sonnenstrahlen umgeben ist, die in aztekischer Tradition aus bunten Federn bestehen. In dieser Monstranz erkannten die zum Christentum bekehrten Azteken das Sonnensymbol wieder, das ihren Gott des Lichtes versinnbildlicht hatte. Diese Entwicklung in Mittelamerika wirkte zurück auf die katholischen Län149
der Europas, wo das Ritualgerät in Form einer strahlenden Sonne das barocke Stilempfinden der Zeit unmittelbar anzusprechen schien. Die Monstranz wurde in ihrer reich mit Gold, Silber und Edelsteinen geschmückten, von einem Strahlenkranz eingefassten Gestalt populär, in der sie der Priester bis heute den Gläubigen zeigt. Die christliche Missionierung war vor allem für die Jesuiten eine wechselseitige Angelegenheit: Je besser ich die zu Bekehrenden in ihrer eigenen Kultur verstehe, deren wesentlicher Bestandteil die Religion ist, desto überzeugender gelingt es mir, meine eigene Botschaft zu verkünden. Dass man dazu auch innerhalb der Kirche unterschiedlicher Meinung sein kann, liegt auf der Hand, und die Kontroversen mit Orden wie den Dominikanern oder den Franziskanern, die sich auf die strikte Lehre der Kirche beriefen, prägten die Missionierung Ostasiens, vor allem Chinas, in der beginnenden Neuzeit. Die Philippinen waren für die vornehmlich jesuitische Mission ein fruchtbares Feld. So förderte sie die Aufführung von Spielen, die biblische Inhalte in den Sprachen der einheimischen Bevölkerung dramatisierten und an denen die Menschen mit großer Begeisterung teilnahmen. In diese Theaterstücke wurden Elemente der lokalen Religionen integriert, nicht um diese zu erklären oder zu feiern, sondern um sie demonstrativ „vorzuführen“ und im buchstäblichen Sinne des Wortes zu zerstören. Ihre heiligen Objekte, in der Sprache der Missionare heidnische Fetische, wurden auf der Bühne vor den Augen der entsetzten Zuschauer zerbrochen, um so ihre Wirkungslosigkeit zu demonstrieren. Mit solchen gezielten Aktionen erreichten es die spanischen Missionare bereits im 17. Jahrhundert, die von ihnen in Besitz genommenen zentralen Teile der Philippinen zu einem zutiefst katholischen Land zu machen. Die Popularität der Passionsspiele auf Marinduque ist bis heute ungebrochen, auch wenn es schon längst nicht mehr um die Überwindung heidnischer Bräuche geht. Dies hat zwei unterschiedliche Gründe: Zum einen ist Ostern das höchste Fest der Katholiken, zum andern verkörpert Longinus – eigentlich eine eher bescheidene, in der Bibel lediglich gestreifte Randfigur des Geschehens – die Sicht eines Landes, das spät missioniert wurde und, auch wenn es zu den großen katholischen Län150
dern der Erde zählt, nur eine Nebenrolle zu spielen scheint. Der später als römischer Hauptmann bezeichnete Longinus hat nach dem Zeugnis des Neuen Testaments dem gekreuzigten, toten Jesus die Lanze in die Seite gestochen, und die griechische Wurzel seines Namens bedeutet in der Tat „Lanze“. Im 10. und 11. Jahrhundert stattete die christliche Tradition den Hauptmann mit einer umfänglichen Heiligenvita aus und Longinus erfreute sich vor allem in der Bildtradition des späten Mittelalters großer Beliebtheit. Sein Lanzenstich ist auf vielen Kreuzigungsszenen der Zeit zu sehen, auch dank der Legende, dass er durch Blut und Wasser, das aus der Wunde Christi floss, im doppelten Sinne „sehend“ wurde: Sein blindes Auge wurde geheilt und zugleich erkannte er den christlichen Glauben. Der römische Hauptmann Longinus war der erste Mensch außerhalb der jüdischen Gefolgschaft von Jesus, der bekehrt wurde, und indem man sich auf ihn berief, konnte man ein sehr starkes Zeichen für seinen Glauben setzen. Man möchte erwarten, dass eher „spät“ Bekehrte wie die philippinischen Christen mit umso größerem Eifer die Ursprünge und die Reinheit ihres neuen Glaubens vertreten. Doch in manchen Aspekten der Passionsspiele sind Spuren traditioneller, vorchristlicher Fruchtbarkeitsvorstellungen zu entdecken. Dem Blut, das in der Leidensgeschichte von Jesus ein ständiges und wichtiges Motiv darstellt, kam auf den Philippinen schon früher große Bedeutung als Träger der Lebenskraft und magisches Mittel zur Förderung der Fruchtbarkeit zu. Die Ifugao, Nassreisbauern in den Bergen von Nord-Luzon, badeten traditionellerweise zur Zeit der Pflanzung eine männliche und eine weibliche Holzfigur in Hühner- oder Schweineblut. Die Figuren bewachten den Reisspeicher, und der Ritus sollte die Fruchtbarkeit der Saat erhöhen. Ein anderer, weitverbreiteter Ritus zur Steigerung der natürlichen Fruchtbarkeit klingt im Lauf des Longinus durch die Felder an. Lässt man sich dabei wie dieser drei Mal „fast“ fangen, so gleicht das einem rituellen Wettkampf mit Siegern und Verlierern, deren Kräfte vereinigt werden und so eine doppelt starke magischen Wirkung entfalten. Auch die Verfolgung des Longinus durch die vielen Legionäre befördert nach traditioneller Vorstellung die Aussicht auf eine reiche Ernte, spiegelt doch das Hin und Her die Bewegung der geschlechtlichen Vereinigung von Tieren wie Menschen wider. 151
Wenn am Ende Longinus doch in den Feldern gefangen wird, erfährt er eine rituelle „Hinrichtung“, indem man ihm die Maske vom Kopf schlägt: Es ist dies zugleich sein letztes Blutopfer für die Saat, während sein „Leichnam“, der auf einem Gestell im Triumph durch die Felder und Straßen der Insel gezogen wird, noch auf magische Weise dafür sorgt, dass sich Schädlinge und böse Dämonen von Pflanzen und Menschen fernhalten. Christliche Passionsspiele gibt es an verschiedenen Orten der Erde, so auch im bayerischen Oberammergau, wo alle zehn Jahre das Leiden des Herrn in einer bewegenden Inszenierung mit Regie, Maske und Amateurschauspielern von sämtlichen Bewohnern des Ortes aufgeführt wird. In Bayern wie auf den Philippinen ist das Passionsspiel ein Ereignis von enormer touristischer Attraktivität, vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass auf Marinduque spontaner gefeiert wird, wie auf einer spanischen Fiesta: Ein lebendiges, buntes Treiben herrscht auf den Straßen und in den Feldern, trotz des dramatischen Geschehens ein fröhliches Fest mit gutem Ausgang und lebendigen Spuren der Erinnerung an alte Vorstellungen von magischen Kräften.
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Reisstampfen auf Bali
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n unseren Breiten gilt gemeinhin die Kartoffel als traditionelles Grundnahrungsmittel, wofür die zahlreichen regionalen Bezeichnungen – Erdapfel, Grundbirne und viele weitere Ableitungen – zu sprechen scheinen. Selten denken wir daran, dass diese populäre Knollenfrucht durch die Vermittlung der Spanier aus der Neuen Welt nach Europa kam und erst vor etwa 350 Jahren in Mitteleuropa heimisch wurde. Der Reis als das charakteristische Getreide Ost- und Südostasiens blickt hingegen auf eine vieltausendjährige Geschichte in dieser Region zurück. Die drei Hauptsorten, die vor etwa siebentausend Jahren aus wilden Gräsern domestiziert wurden, der chinesische, der indische und der indonesische Reis bilden bis in die Gegenwart die weltweite Grundlage der Reisproduktion. Kaum bekannt ist, dass der Reis nicht immer und für alle Menschen eine so wichtige Rolle gespielt hat. In China etwa war über Jahrtausende hinweg Hirse als Nahrungsmittel von ebenso großer Bedeutung wie Reis, der lange Zeit nur südlich des Jangtse angebaut wurde. Und in Japan mussten die Bauern bis ins 19. Jahrhundert ihre Abgaben zwar in Reis leisten, sein Verzehr blieb jedoch ein Privileg der Begüterten. Dieser dekorative, reich beschnitzte Holztrog dient zum Stampfen von Reis und stammt von Bali, einer der kleineren Inseln des indonesischen Archipels mit einer Bevölkerung von etwa 200 000 Menschen. Die Region ist seit dem 16. Jahrhundert islamisiert, und Indonesien ist heute der bevölkerungsreichste islamische Staat der Erde. Bali hat sich als eine kulturelle Enklave erhalten, in der viele vorislamische, vor allem hinduistische Traditionen bewahrt wurden. In der balinesischen Kultur spielt Reis als Lebensgrundlage der Menschen eine außerordentlich wichtige Rolle, die in mythischen Erzählungen und religiösen Handlungen bezeugt wird, welche den Alltag der Menschen begleiten. Allein daran, dass das balinesische Wort für „essen“ gleichbedeutend mit „Reis essen“ ist, lässt sich die lebensnotwendige Funktion des Getreides ablesen. Reis gilt als eine Gabe der Götter, ein Geschenk des Himmels, er ist die Quelle des Lebens und des Reichtums. Zahlreich sind die Kulte und zeremoniellen Veranstaltungen, welche die Bedeu153
tung des Reises im religiösen Sinne feiern, und ebenso zahlreich sind die Legenden und Mythen, die diese begründen und die berichten, wie der Reis überhaupt zu den Menschen gekommen ist. Balis Hauptmythos über den Ursprung des Reises erzählt von einem Gottkönig aus alter Zeit, der eine schöne junge Frau geschaffen hatte und diese wie seine Tochter behandelte. Als er in Liebe zu ihr entbrannte und sie heiraten wollte, verweigerte sie sich zunächst, stimmte dann aber doch unter drei Bedingungen zu: Der König müsse eine Pflanze schaffen, die aus sich selbst immer wieder neu Nahrung hervorbringt, zum zweiten solle er einen Stoff entwickeln, der nicht knittert, und schließlich Musikinstrumente erfinden, die selbst, ohne menschliches Dazutun spielen können. Die Bemühungen des Königs, diese Wünsche zu erfüllen, waren trotz seiner übernatürlichen Kräfte erfolglos, aber es gelang ihm auch nicht, von seiner Begierde Abstand zu nehmen. Schließlich bedrängte er seine Tochter so heftig, dass sie vor Entsetzen im Schock zu Boden fiel und starb. Der Opfertod der jungen Frau war indessen nicht umsonst, denn aus ihrem Grab wuchs eine Pflanze, die sich immer wieder von selbst erneuerte und so dafür sorgte, dass sich die Nahrung für die Menschen nie erschöpfte: der Reis. Wie auch für andere vergöttlichte Kräfte der Natur – Sonne, Erde, Wasser, Feuer – werden auf Bali zu Ehren der Reispflanze Opfer vollzogen, die ihr Gedeihen sichern und eine reiche Ernte bringen sollen. Im Mittelpunkt der Kulthandlungen steht die hinduistische Reisgöttin Dewi Sri, in deren Mythos altindonesische Vorstellungen von „Reismüttern“ eingegangen sind. Der gesamte Ablauf des Reisanbaus – vom Keimen der Pflanze über das Umsetzen der Schößlinge bis hin zur Ernte – wird von Kulthandlungen und Opfern begleitet, die den Übergangsriten eines menschlichen Lebens gleichen. Zum Auslegen der Keime in Saatbeete werden kleine Gaben wie gekochter Reis, Betelnüsse und Blumen geopfert, nach 40 Tagen werden die Schößlinge rituell in einer dem Kosmos entsprechenden Ordnung in die Nassfelder umgesetzt, und weitere 42 Tage später feiern die Dorfbewohner mit Tänzen und Musik den ersten Geburtstag von Dewi Sri. Anschließend muss für drei Tage absolute Ruhe herrschen, damit sich die Göttin wieder erholen kann. 154
In den Wochen danach werden die noch leeren Reisstampftröge als eine Art sakrale Schlaginstrumente genutzt, deren Klangrhythmus die Lebenskraft des reifenden Reises verstärken und böse Dämonen von ihm fernhalten soll. Mit dem Einsetzen der Reisblüte beginnt die wichtigste und heikelste Phase: Dewi Sri gilt nun als schwanger und wird mit rituellen Umzügen und zahlreichen Opfern vor Gefahren – also Schädlingen – geschützt. Etwa fünf Monate nach dem Ausstecken der Reisschößlinge ist der Reis reif und kann geerntet werden. Um die Reiskörner selbst zu gewinnen, werden die Ähren in einen Holztrog gelegt und durch Stampfen mit mannshohen Holzschlegeln von den Hülsen befreit. Vier, fünf Frauen versammeln sich um den Trog und schlagen in einem beständigen Takt von jeweils etwa einer Sekunde mit dem Schlegel auf die Ähren. Zwei oder drei weitere Frauen untermalen diese monotonen Schläge mit einem unterschiedlich strukturierten Gegenrhythmus, indem sie mit dem Stampfholz an die Innen- oder Außenwand klopfen, und zwar in einer Schlagfolge von drei-drei-zwei, drei-zwei-drei oder zwei-drei-drei. Diese Schläge hinterlassen an den Rändern des Holztroges charakteristische, deutlich erkennbare Kerben. Dass das gemeinsame, in verschiedenen Taktfolgen
Hölzerner Reisstampftrog aus Bali, Indonesien, Mitte 20. Jahrhundert.
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aufeinander abgestimmte Dreschen die körperlich anstrengende Arbeit erleichtert, liegt auf der Hand. Vor allem aber trägt der Lärm, der sich bei solchen Aktionen entfaltet, dazu bei, negative Einflüsse fernzuhalten. Eine ähnliche Tradition ist es, mit Stampfgeräuschen den Platz für einen neuen Tempel rituell zu reinigen oder Verstorbene zu ihrer Grabstätte zu begleiten. Die wechselnden Schlagrhythmen, die das rituelle Stampfen am Reistrog bestimmen, üben aber auch einen unmittelbaren akustischen Reiz aus, dessen Struktur in der balinesischen Musik wiederzufinden ist. Dieser Klang spricht selbst unsere westlichen Hörgewohnheiten an, wie an der Popularität der indonesischen Tempelmusik, des Gamelan, zu erkennen ist, in die solche rhythmische Elemente eingeflossen sind. Die Bedeutung der Reispflanze als Lebensgrundlage der Menschen Balis wird also durch eine Vielzahl kultischer Handlungen bezeugt. In ihrer verehrten Personifizierung als Dewi Sri ist sie eine der wichtigsten Gottheiten des hinduistisch-balinesischen Pantheons, die alljährlich den menschlichen Lebenszyklus von Geburt, Erwachsenwerden, Hochzeit, Gebären und Tod vollzieht. Der Stampftrog ist seiner Funktion nach ein Gerät zum Dreschen, ein simples Arbeitsgerät also, wie es in verschiedene Formen in allen Ackerbaukulturen existiert. Auf Bali kommt ihm eine spezifische sakrale Rolle zu: Der Schlagrhythmus – ein übliches Bild für die sexuelle Vereinigung von Tieren und Menschen – stärkt die natürliche Lebenskraft, während der Lärm potenzielle Schädlinge der Reispflanzen vertreibt: böse Geister, Insekten oder beides in einem. Von besonders abschreckender Wirkung ist der Trog selbst. Aus einem Baumstamm gehauen, bildet er eigentlich die Leiche eines bösen Dämons ab, wie eine berühmte balinesische Ursprungslegende erklärt. Dieser Dämon wollte nämlich das Lebenswasser gewinnen, das ihn unsterblich machen würde wie die Götter. Bei seinem Vorhaben wurde er von der Sonne und dem Mond beobachtet, die ihn an die Götter verrieten. Sie bestraften den Dämon, indem sie ihm den Kopf abschlugen. Damit sollte er eigentlich gestorben sein, aber da in seinem Mund bereits das Lebenswasser war, war sein Kopf nicht mehr zu töten und blieb lebendig. Sein Körper hingegen starb; er wurde auf die Erde geworfen, wo er sich in einen Stampftrog verwandelte. 156
Geschichten dieser Art spiegeln das Leben der Menschen wider, indem sie beispielhaft zeigen, dass Ursachen, Werden und Vergehen miteinander in Zusammenhang stehen und sich immer wiederholen. Denn der Dämon lässt nicht ab von seinen Bemühungen, sich zu rächen, indem er versucht, die beiden Verräter Sonne und Mond mit seinem unsterblichen Maul zu verschlingen. Die Menschen erleben diese Versuche als Mond- und Sonnenfinsternis, also als Androhung einer kosmischen Katastrophe, in der Sonne und Mond eines Tages nicht mehr am Himmel erscheinen würden. Um das zu verhindern, müssen die Menschen jedes Mal, wenn sich eine solche Finsternis ereignet, auf den „Körper“ des Dämons einschlagen: Dann wird in allen Dörfern auf Bali hemmungslos und ohrenbetäubend auf die leeren Reiströge eingedroschen, sodass der Dämon die Gestirne wieder ausspuckt und es ihm nicht gelingt, seine Rache erfolgreich zu Ende zu bringen. Die verschiedenen Funktionen eines Reistrogs verbinden ihn mit dem Individuum, mit der Dorfgemeinschaft und dem Kosmos. Der Trog ist untrennbar mit der Versorgung durch das Grundnahrungsmittel Reis verbunden und schützt zugleich die Welt der Menschen vor bösen Geistern. So verwundert es nicht, dass einzelne Reisstampftröge aufwändig geschmückt werden, um den Menschen diese Funktionen zu verschiedenen Anlässen vor Augen zu führen. Der sehr detaillierte und fein gearbeitete Schnitzdekor des vorliegenden Reisstampftrogs stellt der Reihe nach Szenen der Hölle dar. In hinduistischen und ähnlich auch in buddhistischen Glaubensvorstellungen werden Menschen kurze Zeit nach ihrem Tode gemäß den Taten im vorhergegangenen Leben belohnt oder bestraft. Nach der verbüßten Strafe erhält der Einzelne in einer nächsten oder vielen weiteren Wiedergeburten die Möglichkeit, früher oder später mit der Seele im brahmanischen Urgrund aufzugehen und nicht mehr wiedergeboren zu werden. Das ist eine sehr pädagogische Form, den richtigen Weg aufzuzeigen, und so illustriert auch der Trog auf drastische, exemplarische Weise die Strafen, die für einzelne Vergehen vorgesehen sind. Der umlaufende Dekor beginnt mit einer schreitenden menschlichen Figur, die auf dem Rücken ein Bündel getrockneter Palmblätter trägt – das 157
traditionelle Schreibmaterial in Südasien –,auf denen Vergehen und Strafen verzeichnet sind. Im Anschluss erkennt man eine Gruppe von Höllenrichtern, die den erschreckt am Boden kauernden „Seelen“ ihre jeweiligen Strafen verkünden und diese von Gehilfen gleich ausführen lassen. Dargestellt sind etwa Feuerstrafen für Brandstifter, die das Haus von Verwandten angezündet haben und nun selbst verbrannt oder ins Feuer gehängt werden. Die gleiche Strafe erleiden Frauen, die hemmungslos ihren sexuellen Wünschen gefolgt sind, während Männer, die allen ihren Lüsten frönten, mit Schnüren von Rotangpalmen gefesselt werden und für zwei Jahre an hohen Bäumen hängen müssen. Ein Hund, der einer Frau ins Bein beißt, bestraft diese für ihre Weigerung, das Weben zu lernen, und eine Gruppe von Sündern wird gezeigt, die unter einem „Schwertbaum“ ausharrt, dessen herabfallende Klingen sie zerstückeln, bis sie wiedergeboren werden. Die Frage, in welcher Gestalt und wann man wieder in den Kreislauf der Existenzen eintreten kann, scheint eine der wichtigsten Fragen gewesen zu sein, auch wenn sie auf dem Trog als Strafe nicht direkt dargestellt wird, wohl auch nicht dargestellt werden kann. Wie etwa das Beispiel einer Hexe, von der berichtet wird, dass sie 500 Menschen getötet hatte und für 10 Jahre zu Staub, danach für 200 Jahre zu einem Erdwurm und schließlich für 200 000 Jahre zu einem giftigen Pilz wurde, bevor sie als Mensch wiedergeboren werden konnte, oder die Seelen von Reisdieben, die mit einem Körper voll wirrer Haare wiederkehren, bzw. Baumwolldiebe, die als Albinos wieder zur Welt kommen. Auch die Form selbst des Trogs, der an den beiden Enden mit geschnitzten Rinderköpfen versehen ist, erinnert an Höllenstrafen: Die Seelen von Frauen, die abgetrieben haben, werden in rinderkopfförmigen Kesseln gekocht. Die auf dem Trog abgebildete Vielfalt von Bestrafungen halten den Menschen die Folgen unrechtmäßigen Handelns vor Augen. Zugleich verstärken diese realistischen Darstellungen die helfende Funktion des Gefäßes. Solche Bilder schützen höchst wirksam vor dem Übel, indem sie Böses mit Bösem vertreiben. Dies gilt vornehmlich für eindeutig sexuelle Motive, die sich mehrfach in demonstrativer Frontalität auf dem Trog finden. Weitverbreitet ist die Vorstellung, dass etwa die bewusste 158
Entblößung des Körpers, die geschlechtliche Vereinigung, symbolische Gesten oder Schimpfworte mit sexuellen Anspielungen helfen, Dämonen zu vertreiben und Gefahren zu bannen. In einem japanischen Mythos entschließt sich die Sonnengöttin eines morgens einfach, in ihrer Höhle zu bleiben und nicht mehr aufzugehen, was zum Untergang der Erde geführt hätte. Verzweifelt beratschlagten die Götter, was zu tun sei. Schließlich führt eine der Göttinnen einen obszönen Tanz auf, der alle anderen in ein riesiges Gelächter ausbrechen lässt. Die Sonne, voll Neugier, schleicht sich aus ihrer Höhle heraus, und in diesem Augenblick verschließt man diese hinter ihr. Seitdem kann die Sonne sich nicht mehr verstecken. Das Gelächter ist ein Zeichen von Verlegenheit, der selbst die Götter nicht entgehen, und zugleich eine Abwehrreaktion, mit der man etwas letztlich Bedrohliches nicht an sich herankommen lässt. Scheinbar anders nähern wir uns in den Museen den edlen Statuen von nackten Göttern und Helden der Antike, deren erotische Feinheit wir bewundern, ohne uns der ursprünglich gezielt abwehrenden Intention bewusst zu werden, die in ihrer demonstrativen Schutzlosigkeit zum Ausdruck kommen mag. Hingegen erwecken die antiken Tonfigürchen der griechischen Göttin Baubo, die ein zurückgezogenes Dasein in Pultvitrinen fristen, eher geringe Aufmerksamkeit: Sie sind vergleichsweise unattraktiv, um nicht zu sagen, hässlich, und mit ihren gespreizten Beinen wirken die kleinen Figürchen einfach nur aggressiv. Aber genau darum geht es im zweifachen Sinne: unverstellt das Böse abzuwehren und zugleich so direkt wie möglich das Positive zu bewirken, nämlich die Fruchtbarkeit von Mensch und Natur zu fördern. Nun, die Antike ist, wie gesagt, „museal“ und Japan und Bali scheinen fern zu sein. Doch auch in unserem traditionellen Volksglauben sind Zeugnisse dieses Denkens lange Zeit lebendig geblieben. So wurden etwa Kapitelle oder Dachvorsprünge gotischer Kathedralen mit Darstellungen von hockenden, sich entblößenden Frauen versehen, die den geweihten Raum von Bösem und von übelwollenden Dämonen freihielten. Und wie auf dem balinesischen Trog finden sich in manchen Bildelementen der christlichen mittelalterlichen Tradition, etwa dem Schächer zu Linken oder dem Jüngsten Gericht, ähnliche Vorstellungen von Höllenqualen, die einen Sünder nach seinem Tod erwarten. 159
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Guanyin: Gottheit der grenzenlosen Güte
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ir müssen nicht zu den bedeutenden katholischen Wallfahrtsorten in Europa wie Lourdes, Fátima, Mariazell oder Altötting fahren, um zu spüren, wie tief und fest die Marienverehrung in der Kirche verwurzelt ist. Die Spuren der Hochachtung, welche die Gläubigen der Heiligen Jungfrau entgegenbringen, sind wohl in den meisten Städten mit katholischer Tradition erkennbar. Ihre zahlreichen Kirchen mögen zwar verschiedenen Heiligen gewidmet sein, aber immer wieder beherbergen sie auch Kapellen mit Gnadenbildern und Statuen, die Maria geweiht sind. In einer Stadt wie München sind der Liebfrauendom und der zentrale Marienplatz mit der Mariensäule, die an die Errettung aus schwerer Schwedennot im Dreißigjährigen Krieg erinnert, die traditionellen Wahrzeichen geblieben, trotz harter Konkurrenz durch „Wiesn“ und Fußballstadion. Mit solchen Bildern im Kopf kommt einem der Besuch von buddhistischen Tempeln und konfuzianischen oder taoistischen Schreinen in Ostasien wie ein Déjà-vu-Erlebnis vor: Immer wieder treffen wir auf Darstellungen von Gottheiten mit mehr oder minder stark ausgeprägten weiblichen Zügen, die einander in auffallender Weise ähneln, auch wenn sie sich in ihrem Stil, ihrer regionalen und zeitlichen Zuordnung sowie ihren Attributen – nicht nur für das geübte Auge – unterscheiden. Jenseits der genannten großen Religionen Ostasiens begegnen sie uns auch in zahlreichen ähnlichen Formen regionaler und volksreligiöser Varianten. Was sie alle verbindet ist ein Gefühl von unmittelbarer Zugänglichkeit, Offenheit und Entgegenkommen, das sie ausstrahlen und auf den Betrachter übertragen. Aus dieser Vielfalt von ähnlichen Götterfiguren, die zum Teil miteinander „verwandt“ sind oder sich in
Chinesische Figur der Guanyin aus Holz mit Resten von Bemalung und Vergoldung, 12./13. Jahrhundert.
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der historischen Entwicklung häufig zu überlagern scheinen, sticht eine buddhistische Gottheit hervor, die bis heute in Ostasien immer wieder dargestellt wird. Es ist der Bodhisattva Avalokiteshvara, so die ursprüngliche Bezeichnung in Sanskrit, dessen weibliche Form in China als Guanyin und in Japan als Kannon bekannt ist. Bodhisattvas nehmen im Buddhismus eine besondere Stellung ein. Für die Anhänger der buddhistischen Lehre sind sie jene Vorbilder, die bereits den Weg zur Erleuchtung, besser: zum „Erwachen“, gegangen sind. Sie habe zwar diese Welt als Illusion erkannt, verzichten aber aus freien Stücken darauf, den endgültigen Schritt zu tun, also nach ihrer letzten irdischen Existenz zu erlöschen, wie es heißt, und nicht mehr wiedergeboren zu werden. Bodhisattvas leben unter uns und bleiben so lange in der Welt, bis sie allen anderen Wesen den Weg gewiesen haben. Erst dann, wenn sie „über den Fluss gegangen sind und nicht mehr wiederkehren“, werden auch sie Buddhas, „Erwachte“. Diese Helferfunktion der Bodhisattvas trug dazu bei, die anfangs eher einer intellektuellen Minderheit vorbehaltene Lehre des Buddha allen Menschen zugänglich zu machen. Unter der Bezeichnung Mahayana, wörtlich „Großer Wagen“, entstand eine missionarisch orientierte Richtung des Buddhismus, die diese Öffnung propagierte und sich seit der Zeit um Christi Geburt vom Norden Indiens aus über Zentralasien, China und Tibet bis nach Korea, Japan und Vietnam verbreitete. In all diesen Regionen ist der „nördliche Buddhismus“ die vorherrschende Form der Lehre, die sich im Laufe der Jahrhunderte in weitere Schulen aufgespalten hat, darunter auch die des Zen (chinesisch: Chan). Diese Holzskulptur stellt Guanyin dar, den in China populärsten Bodhisattva. Sie stammt aus dem 12. oder 13. Jahrhundert und lässt trotz mancher Beschädigungen und der nur in Spuren erhaltenen farbigen Fassung ihre ursprüngliche künstlerische Qualität erkennen. Der Name Guanyin bedeutet ebenso wie die Sanskrit-Bezeichnung Avalokiteshvara „Der die Klagen mit den Augen erfasst“ – er sieht also sofort, wann immer und wo jemand in Not ist, und eilt ihm zu Hilfe. Die Vorstellung, dass Guanyin alles Leid der Welt hört und sieht, drückt sich in seinen sanften, offenen Gesichtszügen aus, seinem milden Lächeln der Zuwendung, das allen Menschen und We162
sen gilt, die nach ihm rufen. In seinen zahlreichen populären Darstellungen mit elf Köpfen und vielen Armen (bis zu tausend), die in seinen offenen Händen jeweils ein Auge zeigen, erfährt der Betrachter auf einen Blick das Mitgefühl von Guanyin. Als Bodhisattva ist er grundsätzlich geschlechtslos. Anders ausgedrückt: Er hat wie die Buddhas die Geschlechtlichkeit bereits hinter sich gelassen und kann sich je nach den Umständen, die sein Eingreifen erfordern, als Mann oder Frau verkörpern. Auch Kleidung und Schmuck sind nach den Anlässen variabel und bezeugen, dass er Teil dieser Welt ist. Nicht selten weist ihn eine Krone als Herrscher aus, womit für die Gläubigen seine herausgehobene Stellung und besondere Ausstrahlung unterstrichen werden. Häufig trägt er in seinem Haar ein Medaillon, das seinen geistigen Vater Buddha Amitabha zeigt, den Herrscher des westlichen Paradieses. Es ist ein Hinweis auf seine aufgeschobene Buddha-Existenz, in dem sich zugleich für den buddhistischen Gläubigen die Hoffnung auf das Ende des irdischen Weges widerspiegelt. Nach einer langen Kette von Existenzen, immer wieder unterbrochen von Leid und Rückfällen, wird auch er ein letztes Mal im westlichen Paradies wiedergeboren werden, bevor er zur Erleuchtung gelangt und endgültig diese Welt verlässt. Die Vorstellung von Vorbildern und Helfern, die sich in Bodhisattvas verkörpern, geht auf die Lehre des historischen Buddha (gest. 483 v. Chr.) in Indien zurück, wo bereits vor seiner Zeit Gottheiten verehrt wurden, die etwa Blinde sehend machen oder Kranken Gesundheit wiedergeben konnten. Die frühesten Nachrichten über den Buddhismus in China stammen aus der Zeit um Christi Geburt, doch Guanyin wird dort erst seit dem 7. Jahrhundert belegt. Die frühesten Darstellungen zeigen den Bodhisattva in seiner traditionellen geschlechtslosen Form, doch gewannen seine Züge eine immer stärkere weibliche Ausstrahlung, bis Guanyin seit dem 13. Jahrhundert eindeutig auch als Frau gestaltet wurde. Dieser Wandel lag nahe angesichts ihrer vornehmlichen Funktion als mitleidige Helferin – einer Funktion, die auch in China gemeinhin mit Frauen und Müttern assoziiert wurde. Doch wurde dieser Prozess auch dadurch beschleunigt, dass es in der Volksreligion Chinas eine reiche Tradition von weiblichen Gottheiten gab. So nahm im Taoismus Tianhuang Shangmu, die „Himmlische Kaiserin und Erhabene Mutter“ eine der höchsten Positionen in der religiösen Hierarchie ein. Weitverbreitet waren auch re163
gional verwurzelte, populäre Kulte für heilige Frauen, die wegen ihrer magischen Kräfte verehrt wurden und um deren Wirken sich zahlreiche Legenden rankten. So verwundert es nicht, dass man rasch ihre innere Verwandtschaft mit der eigentlich buddhistischen Guanyin spürte und sie schließlich als ihre Verkörperungen interpretierte, die sich bis in Einzelheiten ihrer jeweiligen Gestaltung erstreckte. Zwei solcher Gottheiten, die bis heute großes Ansehen in der religiösen Folklore Taiwans und Hongkongs genießen – erneut auch wieder auf dem Festland, vor allem entlang der Meeresküsten –, sind Miaoshan und Mazu. Das Mädchen Miaoshan war die Tochter eines Königs und soll vor über tausend Jahren gelebt haben. Als sie sich dem Befehl ihres Vaters zu heiraten widersetzte, wollte dieser sie erzürnt töten lassen, doch es gelang ihr zu entfliehen. Daraufhin wurde der König von einer Krankheit geschlagen, die nur von einem Wesen geheilt werden konnte, das gänzlich ohne Hass war: Dieses Wesen war seine eigene Tochter, die sich in die Wildnis zurückgezogen hatte und dort allein und in Abgeschiedenheit lebte. Um ihren Vater genesen zu lassen, musste die Tochter ihr eigenes Leben, Arme und Augen opfern. Durch ihr selbstloses Opfer konnte der König geheilt werden, woraufhin er sich zum Buddhismus bekehrte und seinerseits darum bat, dass seine Tochter wieder zum Leben erweckt werde. Sie erhielt nicht nur ihre ursprüngliche Gestalt wieder, sondern zusätzlich tausend Arme und tausend Augen, sodass sie wie Guanyin alles Leid dieser Welt sehen und helfen konnte. Wie Miaoshan wird auch Mazu bis heute vor allem an der Südostküste des chinesischen Festlands und in Taiwan verehrt. Auch sie wurde vor etwa tausend Jahren geboren und soll sich bereits in früher Jugend durch besondere Frömmigkeit, Mildtätigkeit und die Fähigkeit, gut schwimmen zu können, ausgezeichnet haben. Als eines Tages ihr Vater und ihr Bruder, die beide zur See fuhren, in einen Taifun gerieten, erstarrte Mazu, die zu Hause am Webstuhl saß, wie in Trance: Die beiden ihr Nahestehenden, die unterzugehen drohten, erschienen ihr als Traumbild. Im Traum flog sie an die Unglücksstelle, ergriff mit ihren Zähnen den Vater am Gewand und zog ihn aus dem Wasser; zugleich schob sie schwimmend das Boot mit ihrem Bruder vor sich her. In diesem Moment rief ihre Mutter ihren 164
Namen, Mazu öffnete spontan den Mund, um zu antworten, und ließ dadurch den Vater fallen, der in den Fluten versank und ertrank. Voll Verzweiflung stürzte sich Mazu in die See, um den Leichnam ihres Vaters zu finden, was ihr auch gelang. Für diese pietätvolle Tat wurde sie in den Himmel versetzt, und bis heute gilt sie als Schutzpatronin der Seefahrt und Fischerei. An den Küsten werden ihr zu Ehren Prozessionen mit Booten veranstaltet, und auf vielen traditionellen Fischerbooten befindet sich ein ihr geweihter kleiner Altar. Zahlreich sind ihre Wallfahrtsstätten und Tempel, wie etwa in Macao, das seinen Namen auf Mazu zurückführt. Auf Altären und Votivdrucken wird Mazu meist von zwei dämonenartigen Figuren begleitet. Der eine heißt „Der tausend Meilen in die Ferne sieht“ und wird mit einer Hand über den Augen dargestellt; der andere hat den Namen „Der so weit hört, wie der Wind weht“, was durch seine Hand verdeutlicht wird, die er hinter sein Ohr hält. Die beiden wohlwollenden Geister illustrieren die Hilfsbereitschaft der Mazu augenfällig. Auch Guanyin wird häufig flankiert von einem Helferpaar dargestellt, einem Jungen und einem Mädchen, die nach taoistischem Ritus die Seelen Verstorbener ins Jenseits geleiten. Es sind zunächst solche äußerlichen Attribute und Zeichen, die all diesen Darstellungen gemeinsam sind, doch bei Guanyin, Miaoshan, Mazu und ihnen verwandten Gottheiten gesellt sich ein weiteres übereinstimmendes Element hinzu: Alle sind unverheiratete, jungfräuliche Mädchen, auch die über die Geschlechtlichkeit erhabene Guanyin, die ihre übernatürlichen Kräfte ungeteilt allen Hilfesuchenden zukommen lassen. Guanyin, Miaoshan, Mazu und andere weibliche Lokalgöttinnen erfreuten sich im Laufe der Jahrhunderte in der buddhistisch gefärbten Volksreligion immer größerer und überregionaler Popularität. Die kaiserlichen Beamten machten sich diese Entwicklung zunutze und förderten offiziell ihre Verehrung mit dem Ziel, diese Gottheiten mit der konfuzianischen Tianhou, der „Himmelsgöttin“, gleichzusetzen. Guanyin und Ihresgleichen wurden so Teil einer Hierarchie, die im Himmel gipfelte, weltlich gesehen also beim Kaiser, dem „Sohn des Himmels“. Ähnlich verfuhren die christlichen Missionare, die vor vier Jahrhunderten nach China kamen. Sie wurden mit religiösen Vorstellungen konfrontiert, die ihnen be165
kannt erschienen und für die Propagierung der christlichen Lehre durchaus hilfreich waren. Zu solchen Glaubenskategorien gehörte nicht nur die Verehrung des Himmels als „oberste Gottheit“, sondern auch alltägliches magisches Brauchtum, das den Bedürfnissen der einfachen Gläubigen entgegenkam, etwa die Heilung von Krankheiten, die Hilfe in Seenot oder der Wunsch nach Kindern. Wenn „daheim“ in Europa in solchen Fällen die Jungfrau Maria als gnadenreiche Vermittlerin zu ihrem Sohn angerufen wurde, waren „dort“ in China Gottheiten wie Mazu, Miaoshan und Guanyin die Ansprechpartner für diese Anliegen. Entsprechend wurden die in fast allen Tempeln anzutreffenden Statuen von weiblichen Gottheiten, die manchmal auch noch ein Kind auf dem Arm trugen, von den Missionaren als die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind interpretiert. Und selbst heute ist bei manchen dieser Figuren die Frage, ob es sich nun um Guanyin oder Maria handelt, nicht immer eindeutig zu entscheiden. Ein deutscher Orientreisender kolportierte um 1800 eine südchinesische Legende über Kongyinpußao, also Guanyin, die er in ihrer Schönheit und Reinheit mit der römischen Diana und Maria gleichsetzte – das Zeitalter der Aufklärung hatte Spuren hinterlassen. Die Legende selbst variiert bekannte Motive: Ein Dorf in der Provinz Fujian wird von einem Unwetter verwüstet. Die hilfreiche Guanyin steigt daraufhin als schöne Frau vom Himmel herab und bietet sich allen als Zielscheibe für das Werfen von Münzen an. Wer sie treffe, den würde sie zu ihrem Liebhaber erwählen. Doch geschickt weicht sie allen Münzen aus, sodass der Preis nicht eingelöst werden kann. Stattdessen ist ein Haufen Geld zum Wiederaufbau des Dorfes zusammengekommen. Eine ganz andere Katastrophe ereignete sich 1945, als am Ende des Zweiten Weltkriegs die US-amerikanische Luftwaffe die von Japan okkupierte taiwanesische Hautstadt Taipeh bombardierte. Augenzeugen berichteten, dass eine riesige Frauengestalt inmitten der Rauchschwaden über der Stadt schwebte und mit ihrem weiten Umhang die Bomben auffing. Wer würde entscheiden wollen, ob die Menschen Guanyin gesehen haben oder Maria in Gestalt der Schutzmantelmadonna? Sie alle jedoch fühlten sich durch die Hilfe einer gütigen göttlichen Frau aus höchster Not errettet.
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Die heiligen Pfade der Ahnen
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m Jahr 1913 veröffentlichte Sigmund Freud Totem und Tabu, eine Sammlung von vier Essays, in denen er aus psychoanalytischer Sicht Parallelen zwischen den Religionen „primitiver“ Gesellschaften und der frühen, durch Neurosen bestimmten menschlichen Entwicklungsphase zieht. Freud war kein Völkerkundler und er konnte sich nur auf die Forschungsergebnisse seiner Zeit stützen, doch aus heutiger ethnologischer Sicht wäre eine Gleichsetzung von frühen Kulturstufen mit Entwicklungsphasen des Menschen fehl am Platz, schlimmer: gänzlich irreführend. Mit dem einprägsamen Titel hat Freud jedoch entscheidend dazu beigetragen, die zwei Begriffe „Totem“ und „Tabu“, deren Komplexität er im Übrigen durchaus anerkannte, in der modernen Alltagssprache gängig und populär zu machen. Das Wort „tabu“ geht auf Völker der Südsee zurück und bezeichnet in polynesischen Sprachen Dinge oder Verhaltensweisen, die aus religiösen Gründen zu meiden sind. Im westlichen alltäglichen Sprachgebrauch benutzt man den Ausdruck für etwas generell Verbotenes oder Anstößiges, das man nicht tun sollte oder darf, ohne dass damit religiöse Gefühle assoziiert wären. Dagegen schwingt im Begriff „Totem“ deutlich die Konnotation von ursprünglicher, primitiver Religion mit. Meist versteht man darunter die enge Verbindung eines Menschen mit Schutzgeistern in Tiergestalt und die besonderen Fähigkeiten, die sich aus dieser Identität ergeben. Auch dieses Wort ist im Ursprung außereuropäisch und stammt aus der Sprache der OjibweIndianer, die im heutigen Grenzbereich von Kanada und den USA an den Großen Seen siedelten. Mit „Totem“ bezeichneten die Ojibwe einen „geschwisterlichen Verwandten“, ein Mitglied der eigenen Gruppe, deren Zusammengehörigkeit durch ein Emblem, eben ein Totem, sichtbar gemacht wurde. Um die Anfänge und die frühe Entwicklung der menschlichen Kultur zu erklären, konzentrierte sich die Völkerkunde Ende des 19. Jahrhunderts vornehmlich auf die Untersuchung kleinerer Gruppen von Jägern 167
und Sammlern. Ihre Merkmale waren primitive, „steinzeitliche“ Werkzeuge und die Tatsache, dass ihr Überleben gänzlich von dem abhängig war, was ihnen die Natur an Nahrung unmittelbar bot. Mit ihrer „schweifenden“ Lebensweise, meist ohne festen Wohnsitz, ihrer gering ausgebildeten Sozialstruktur und schließlich ihrer Unkenntnis von Schrift waren sie im Aussterben begriffene Zeugen und Repräsentanten einer besonders einfachen und frühen, also ursprünglichen Entwicklungsstufe von Kultur. Die bei Jägern und Sammlern verbreiteten religiösen Vorstellungen waren wie ihre Lebensweise gänzlich der Natur verhaftet. Im Zentrum standen die Ahnen, mit denen die Menschen untrennbar verbunden waren. Deren Wirken war überall präsent, zu jeder Zeit zu spüren und zu erfahren. Die Vorfahren konnten sich in einzelnen Pflanzen oder Tieren, heiligen Orten, Wäldern oder Bergen, in Flüssen, aber auch in Naturerscheinungen wie Regen oder Sonnenschein manifestieren. Die Ahnen waren eins mit der Natur, die durch die Nachkommen geschützt und verehrt werden musste, um das gemeinsame Wohlergehen zu sichern. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Völkerkundler davon überzeugt, vor allem in Australien noch erhaltene Spuren solcher ursprünglichen Kultur und der Anfänge von Religion, des Totemismus, gefunden zu haben. Die schon damals kargen Lebensräume der sogenannten Ureinwohner und ihre schwindenden Überlebensperspektiven sind durch die Expansion weißer Siedler und die wirtschaftlichen Interessen der Industrien bis heute noch weiter reduziert worden. Die Vorfahren der gegenwärtig noch lebenden rund 200 000 „Aboriginal people“, wie sich selbst als „Volk“, das verschiedene regionale und sprachliche Gruppen umfasst, bezeichnen, leben seit mindestens 50 000 Jahren in den Wüsten Australiens. Die Kenntnis von ihrer Kultur ist gerade in unseren Breiten gering, und so verwundert es wenig, dass wir sie in aller Unschuld als Menschen der „Traumzeit“ romantisieren – ein westliches Missverständnis für eine uns fremde, sehr komplexe Zeitvorstellung – oder sie zum anderen als Anhänger eines ar-
Hölzerner Schild aus Zentralaustralien, vor 1912.
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chaisch verstandenen „Totemismus“ zu Exoten machen und damit letztlich auf das Etikett „Mensch als Tier“ reduzieren. Zwei über hundert Jahre alte Holzschilde mögen Aufschluss geben über den traditionellen Alltag der Aboriginal People und ihr sensibles Verhältnis zu Natur und Umwelt. Von den Kräften, die in diesem Verhältnis wirksam werden, berichten mythische Erzählungen, illustriert durch Bilder, die Gerätschaften des Alltags und Kultobjekte schmücken und Begriffe wie „Totemismus“ oder „Traumzeit“ mit realem Leben füllen. Solche Schilde sind auf ihrer Rückseite mit eingeschnitzten Griffen versehen und dienen zunächst zur Verteidigung, erfüllen aber bei bestimmten Zeremonien auch kultische Funktionen. Ihre Farbigkeit beschränkt sich auf schwarze und weiße Pflanzen- und Erdpigmente, die in wenigen einfachen Zeichen auf naturbraunem, mit Längsrillen versehenem Holz aufgetragen wurden. Es sind Schlangenlinien, konzentrische Kreise, kräftige schwarze Punkte (drei Augenpaare?) oder pfeilförmige Symbole auf einem mit weißen Flocken übersätem Grund. Auf den ersten Blick wirkt der Dekor einfach und klar, fast als hätte ein Kind den Schild bemalt, das spontan Motive kombinierte, ohne eine bestimmte Abfolge oder ein in sich schlüssiges Gesamtbild im Sinn zu haben. Doch hinter der scheinbaren Simplizität und Zufälligkeit der Zeichen verbergen sich komplexe Bilder, die in Beziehung zum Alltag der Menschen stehen. Die Aboriginal people waren im klassischen Sinne Jäger und Sammler, die unter den spezifischen, extrem harten Bedingungen ihrer Umwelt nur dank detaillierter Kenntnis der Natur überleben konnten. Die alles bestimmende, grundlegende Herausforderung lag in der Frage, für wie lange die Versorgung mit Wasser gesichert war. Das hing von den Regenfällen ab, die regional unterschiedlich und großen Schwankungen unterworfen sind. Dies wiederum führte im Jahresablauf zu Perioden von absoluter Dürre, aber auch von außerordentlich reicher, natürlicher Fruchtbarkeit der Pflanzen. Während die Frauen als Sammlerinnen von Wurzeln, Knollen, Beeren, Honigameisen und Larven tätig waren und für eine stabile Grundlage der Nahrung sorgten, machten die Männer Jagd auf Kängurus, Wallabys und Laufvögel und sicherten so den Nachschub an frischem Fleisch, das in Erdöfen mit heißen Steinen gegart 170
wurde. Die Zeichnungen und Dekore auf Alltagsgeräten – Steinbeilen, Speeren, Speerschleudern, Behältnissen zum Transport von Wasser, Reibschalen und Schilden – stellten Alltagsverrichtungen dar, die zugleich in die mythischen Überlieferungen einbezogen wurden, welche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden. Der Dekor des einen Schildes bildet in knapper Form die Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ab und skizziert in wenigen Elementen die Techniken der Jagd und Nahrungsmittelgewinnung. Wenn das Auge erst einmal in die entsprechende Richtung gelenkt wurde, sind die „Pfeilsymbole“ leicht als Spuren eines Vogels, konkret des häufig gejagten Emus zu deuten. Bei den konzentrischen Kreisen ist der unerfahrene Betrachter auf die Erklärung der Aboriginal people selbst angewiesen: Sie stellen den Bauch eines Emus dar. Diese Laufvögel waren ein Jagdwild, das mit subtilen Methoden erlegt wurde. Man warf zerstoßene Blätter einer bestimmten giftigen Pflanze in Wasserlöcher, aus denen die Vögel zu trinken pflegten. Dadurch wurden sie betäubt und waren leicht zu töten. Der tote Emu wurde ausgenommen, der Inhalt des Magens entfernt und die Eingeweide in Blätter gewickelt und gekocht. Das in Stücke geschnittene Fleisch des Emus wird auf Holzkohle gegrillt und ebenfalls verzehrt. Die häufig auf Schilden als Hintergrundmuster auftauchenden weißen Punkte verweisen auf essbare Samenkörner, also auf die Sammeltätigkeit der Frauen. Während dieser Schild vordergründig den realen Alltag der Aboriginal people abbildet, ruft der andere Schild einen weitverbreiteten Ursprungsmythos in Erinnerung, in dessen Mittelpunkt eine Wasserschlange steht. Es handelt sich sogar um eine namentlich bekannte Schlange von einem bestimmten Wasserloch in Zentralaustralien, dem Herkunftsort des Schildes, doch erscheint sie hier stellvertretend für alle mythischen Wasserschlangen des Landes. In der Vorstellung der Aboriginal People existierten Himmel und Erde von Anfang an. Im Innern der Erde lebte in Gestalt einer großen Schlange Ungud, die Verkörperung der schöpferischen Urkraft, aus der alles Leben entsteht und in die alles zurückkehrt, um wiedergeboren zu werden. Die Erde, die wir Menschen kennen, ist der Rücken dieser Urschlange, auf dem 171
sich Bäume, Berge und Flüsse befinden und Menschen wie Tiere leben. Aus der Urschlange krochen die sogenannten Wondschinas heraus, plump menschengestaltige Wesen ohne Mund, nur mit Auge und Nase ausgestattet und mit einem schlangenförmigen Körper. Sie repräsentieren das Prinzip der Fruchtbarkeit. Nach ihrer Erschaffung zogen sie über die Erde und bringen seitdem den Menschen Samen und Regen, sie graben Flussläufe in die Landschaft und türmen Berge auf. Zum Sterben legen sie sich auf einen weichen Felsen, auf dem sie Bilder von sich als Abdruck hinterlassen. Diese zum Teil mehr als fünf Meter hohen Abbildungen finden sich bis heute in Nordwestaustralien, und die Menschen betrachten es als ihre traditionelle Pflicht, die Farben immer wieder zu erneuern, um die Lebenskraft der Wondschinas zu bewahren. Denn diese kehren nach ihrem Tode mit ihrer Seele als schöpferischem Prinzip zurück in ihre Ursprungswasserstelle, einem Fluss, einem Teich oder einer Quelle. Auf deren Grund leben sie weiter und zeugen unablässig „Kinderkeime“, Seelenbestandteile der Menschen, die von Ungud abstammen, also dem Urahn selbst. Aus den Keimen entstehen die Kinder der Menschen, deren Seelen nach der Vorstellung der Aboriginal people durch einen Traum in der Wasserstelle gefunden werden. Der Mensch hat zwei Seelen: eine sterbliche, die mit der Zeugung entsteht und mit seinem Tode ebenfalls stirbt, und eine weitere, die die Mutter „empfindet“, wenn sie in ihrer Schwangerschaft zum ersten Mal das Kind in sich spürt. Wo und unter welchen Umständen dies geschieht, bestimmt das Totem, das dem Kind zugeordnet wird: ein Tier, eine Pflanze oder eine Naturerscheinung wie Regen oder Sturm. Zu ihm entwickelt der Träger eine besondere Beziehung. Er lernt Legenden, Mythen und Riten, die mit seinem Totemwesen verbunden sind, und pflegt die Verbindung zu ihm, denn nur dann gibt es ausreichend Regen, wachsen die samentragenden Gräser oder können genügend Tiere erlegt werden. Die mythische Urschlange
Hölzerner Schild aus Zentralaustralien, vor 1912.
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Ungud, die Wondschina-Wesen und die Menschen bilden eine Gemeinschaft, die eingebunden ist in einen kontinuierlichen mythischen Schöpfungsprozess, der als „Träumen“ im übertragenen, aber auch im konkreten Sinn zu verstehen ist. Die Vorstellung, dass zwischen einer Gruppe von Menschen und bestimmten Tieren, Pflanzen oder Naturphänomenen eine „totemistische“ Verbindung besteht, die mythisch legitimiert ist und sich in verschiedenen Formen darstellen kann, ist weltweit verbreitet. Es lassen sich daraus zwar Verhaltensregeln etwa bei der Heirat, der Jagd oder dem Kontakt mit der Natur ableiten, und solche totemistischen Elemente mögen auch Rechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft und der Umwelt in unterschiedlicher Weise beeinflussen und sich in religiöse Konzeptionen integrieren, doch sind sie für sich genommen keine Religion. Die Aboriginal people Australiens pflegten ihre Beziehung zur Umwelt über die von den Ahnen vermittelten Totems, die sich überall und immer wieder offenbarten. Sie nutzten die Pfade, die ihre Vorfahren seit Anbeginn vorgegeben haben und auf denen sie die überlieferten heiligen Wasserstellen aufsuchten. Dort erneuerten sie in gemeinsamen kultischen Feiern und Tänzen die Zyklen der Natur und bewahrten die von den Ahnen ererbte Umwelt. Mit der Ankunft der Europäer vor über zweihundert Jahren, der Einfuhr von nicht indigenen Tieren wie Schafen, Kaninchen, Rindern und Hunden, dem Errichten von Drahtzäunen, künstlichen Wasserreservoirs und Highways wurden jedoch viele der Ahnenwege unterbrochen und die Verbindungen zum mythischen Ursprung zerstört. Die bis vor wenigen Jahrzehnten geübte offizielle Politik, die Aboriginal people als totemistische Träumer und Nachzügler schnellstmöglich auf unsere westliche Kulturstufe zu heben, führte zu kultureller Desorientierung und Schlimmerem wie Alkoholismus. Die Mythen um Ungud und die Wondschinas, die religiöse Bedeutung von Wasserstellen und heiligen Pfaden, selbst die traditionelle EmuJagd sind nur noch in der Erinnerung „lebendig“ und nicht in der Erfahrung des alltäglichen Lebens.
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Vom Bild zur Schrift
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ie Durchquerung des nordamerikanischen Kontinents am Ende des 19. Jahrhunderts ist wohl kaum mehr mit den Gefahren und der Mühsal zu vergleichen, welche die europäischen Siedler in den zwei vorangegangenen Jahrhunderten bei der Landnahme und Eroberung des Kontinents erfahren hatten. Immerhin existierte bereits die Eisenbahn, die Ost- und Westküste miteinander verband. Und doch muss es gerade für eine Frau wie Therese von Bayern eine besondere Herausforderung gewesen sein, diese Strapaze einer letztlich Monate dauernden Reise auf sich zu nehmen. Prinzessin Therese (1850–1925) stammte aus dem Hause Wittelsbach, das seit 1180 in Bayern regierte. Sie stand in der Tradition einer kunstsinnigen Familie, die schon seit dem 16. Jahrhundert auch völkerkundliche Sammlungen angelegt und damit den Grundstock des heutigen Museums für Völkerkunde in München geschaffen hat, das offiziell 1868 von ihrem Cousin, König Ludwig II., gegründet wurde. Therese von Bayern war nicht nur selbst auf ausgedehnten Forschungsreisen in Sibirien sowie Nord- und Südamerika unterwegs, sondern förderte darüber hinaus tatkräftig die wissenschaftliche Untersuchung außereuropäischer Kulturen. Als erste Frau wurde sie in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Ihre damalige Reise durch Nordamerika galt der Dokumentation indianischer Kulturen, die durch die grenzenlose Expansion der Weißen dem Untergang geweiht zu sein schienen. Auch ohne im engen Sinne Feldforscherin zu sein, erwarb sie Bilder und Gegenstände, die künftig die Bedeutung und die Vielfalt der indianischen Tradition illustrieren sollten. Nach dem Besuch der großen „Völkerschau“ in Chicago 1893 reiste Prinzessin Therese nach Nord- und Süddakota, wo die zu den Sioux-Indianern zählenden Lakota in der Reservation „Standing Rock“ lebten. Dort wurde sie bei ihren Erkundungen vom Benediktinerpater Bernard Strassmeier unterstützt, und es gelang ihr, neben anderen Objekten auch ein außergewöhnliches Bild zu erwerben, das im traditionellen Stil auf Musselin gemalt war. Es handelt sich dabei 175
um eine Auftragsarbeit, die in großer Vielfalt Szenen des Alltagslebens dokumentiert, welche der indianische Künstler wohl noch selbst erlebte hatte. Prinzessin Therese beraubte also nicht, wie damals in vielen vergleichbaren Fällen geschehen, die Träger der Kultur eines für diese konstitutiven, etwa religiös wichtigen Originalobjekts. Bilder dieser Art zierten üblicherweise die Innenseite von Bisonfellen, die auch als Mäntel getragen wurden und heute zu den bedeutendsten Schätzen westlicher Sammlungen zählen. Eher selten handelt es sich wie hier um Stoffbahnen, die in kleinen Tipis – indianischen Zelten, die als Schwitzhütten dienten – aufgespannt wurden. Zunächst gerbte man die Felle von Bison, Hirsch oder Biber in einer besonderen Technik, deren Niveau Europa erst Ende des 19. Jahrhunderts erreichen sollte. Felle und Stoffbahnen wurden dann mit Mineralfarben, die auch zur Tatauierung und zur Gesichtsbemalung dienten, in strahlendem Weiß grundiert. Die Farben zur Bemalung gewann man aus tierischen und pflanzlichen Materialien, Scharlachrot etwa aus Schildläusen, Schwarz aus Nusswurzeln oder Blau aus der Asche von wilden Kürbissen. Die Bilder illustrierten meist Ereignisse im Leben herausragender Häuptlinge eines Stammes, Kriegsszenen, Rachefeldzüge, unheilvolle Naturereignisse wie Meteoritenschauer oder dokumentieren Friedensschlüsse zwischen verfeindeten Gruppen. Bisonroben wurden aber auch getauscht und wanderten von Stamm zu Stamm, sodass es nicht immer klar ist, auf welche ursprüngliche Tradition sie zurückgehen. In der Kunst der Fell- und Stoffbemalung waren Männer und Frauen gleichermaßen versiert. Die Männer schufen Bilder von kriegerischen Heldentaten, Jagderfolgen sowie Begegnungen übernatürlicher Art, während die Frauen Bisonmäntel mit abstrakten Motiven und geometrischen Elementen anfertigten, die sie manchmal zusätzlich mit Glasperlen oder Stachelschweinborsten bestickten. Die Bedeutung dieser Ornamente, die über Generationen von Mutter zu Tochter vererbt wurden, ist im Allgemeinen nicht mehr bekannt. Die realistisch gestaltete Stoffbahn aus der Sammlung von Prinzessin Therese ist ein charakteristisches Beispiel für den von Männern gemalten Typus. 176
Schon auf den ersten flüchtigen Blick erkennt man zwar spontan Szenen wie den Diebstahl von Pferden oder kriegerische Auseinandersetzungen, doch deren inhaltlicher Zusammenhang erschließt sich dem Betrachter nicht unmittelbar und ihre Abfolge ist nicht klar einzuordnen. Der Haupterzählstrang rankt sich um die Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau, beginnend mit dem Plan einer Heirat (rechts oben, Mitte), an die sich (links) das Liebeswerben anschließt, das als Bisonjagd illustriert wird (Mitte oben), um zu zeigen, welch ein großer Jäger der Bräutigam ist. Weiterhin offenbart er sich auch als jemand, der Pferde stehlen kann: Mit einer Kapuze getarnt schleicht er sich heran (Mitte oben), treibt die Pferde weg, flieht mit ihnen durch einen Fluss und wird vermutlich von den bestohlenen Eigentümern verfolgt, wie die Darstellung darunter nahelegt. Dazwischen ist erneut die Frau – erkennbar an ihrem gestreiften Kleid – zu sehen, die ein Pferd am Zügel führt und von einem Hund begleitet wird. Die Tiere ziehen ein Gestänge hinter sich her, ein sogenanntes Travois, das traditionell zum Transport von Lasten diente. Bevor die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert Pferde in Amerika eingeführt hatten, setzten die Indianer üblicherweise Hunde als Zugtiere für Travois ein.
Malerei auf Musselin mit Darstellung des Alltags der Lakota-Indianer aus Süd-Dakota, USA, vor 1893.
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Die weiteren Darstellungen bieten ein Panoptikum bedeutender Gemeinschaftsfeiern und ritueller Tänze der Lakota-Indianer, darunter drei der „Sieben Riten der heiligen Pfeife“. Zu diesen Riten gehört der Besuch der Schwitzhütte (links oben) als Ort der rituellen Reinigung und Meditation, der zur Vorbereitung der Hunka-Zeremonie dient. Mit dieser Zeremonie vollzieht sich die symbolische gegenseitige Adoption zweier Menschen, deren Verpflichtungen gegenüber dem jeweils anderen über rein verwandtschaftliche Beziehungen hinausgehen. Weiterhin zählt dazu der bekannte „Sonnentanz“, durch den ein junger Mann als Krieger des Stammes initiiert wird (Einzelfigur Mitte oben und rechte Szene). Für einen Tag oder länger muss der Kandidat einen Stamm im Tanz umwandeln und dabei in die Sonne schauen. In seiner Haut stecken Holzpflöcke mit Schnüren, an denen Büffelschädel hängen, und je nach der Spannung dieser Schnüre und wie er sich dem Gewicht dieser Schädel bewusst hingibt, beweist er seine Fähigkeit, Schmerz zu ertragen. Rechts unten sind vermutlich Szenen des Omaha-Tanzes zu sehen, eines weiteren Ritus der heiligen Pfeife: Einige Tänzer verweisen mit Waffen und Grasbüscheln auf ihre besondere kriegerische Fähigkeit, an vorderster Front zu kämpfen, indem sie sich – getarnt und daher unbeobachtet – an den Gegner anschleichen. Andere tragen Pfeifen mit Federschmuck in den Händen, die das Ende von Feindseligkeiten symbolisieren und den Frieden in einer gemeinsamen Zeremonie besiegeln. In der unteren Mitte vollführen Tänzer mit Hirschmasken, begleitet von einem Clown, den Wapiti-Tanz, der an die Erschaffung der Hirsche als Jagdwild erinnert. Wie erzählt wird, konnte auch den mythischen Ur-Wapitihirsch hin und wieder das Fell jucken, und er musste er sich an einem Baumstamm reiben. Aus seinen herabfallenden Fellhaaren entstanden die Hirsche, die den Menschen künftig als Jagdwild zur Verfügung standen. Leichter zu verstehen ist die sich rechts anschließende Tanzszene einer Gruppe von Indianern mit Bisonmasken, von denen einer als Bison selbst verkleidet ist. Mit diesem Tanz soll das Wild angelockt sowie der Dank für Jagderfolg ausgedrückt werden. Es muss nicht verwundern, dass nicht alle Szenen des Bildes in ihren Zusammenhängen eindeutig zu bestimmen und in eine klare Abfolge 178
einzupassen sind. Ende des 19. Jahrhunderts war manches traditionelle Erbe der Kultur bereits in Vergessenheit geraten oder von den Behörden verboten worden. Und auch wenn der Künstler möglicherweise einen Auftrag für Prinzessin Therese ausführte und ein eigenes Konzept umsetzte, legt doch die Gesamtdarstellung den Gedanken einer imaginären Biografie nahe: Im Werben des Mannes um eine Frau werden die Rollen sichtbar, die sie in ihrer traditionellen Lebens- und Arbeitswelt einnehmen, und sie werden eingebettet in den Ablauf von Zeremonien, die alle Mitglieder ihrer Gemeinschaft miteinander verbinden und begleiten. In diesen Szenen verdichten sich einzelne charakteristische Abschnitte des Alltagslebens in Momentaufnahmen, die wie Illustrationen zu einem Text zu sehen sind, der mündlich vorgetragen oder schriftlich niedergelegt wurde. Vor der europäischen Einwanderung war in Nordamerika die Schrift in unserem Sinne unbekannt. Doch schon Anfang des 18. Jahrhunderts hatte man in solchen Zeichnungen Ansätze einer eigenständigen indianischen Schrift vermutet. Der berühmte französische Jesuit Joseph-François Lafitau, der von 1711 bis 1717 als Missionar bei den Irokesen im heutigen Kanada tätig war und zu den aufmerksamsten Beobachtern traditioneller indianischer Sitten gehörte, schrieb in seinem umfangreichen Werk Moeurs des Sauvages Amériquains, dass es sich bei bemalten Tierhäuten wie auch bei Tätowierungen und Körperbemalungen nicht einfach um Ornamentik handele, sondern um eine nicht alphabetische Schrift. Sie gelte als eine Art soziales Gedächtnis und dokumentiere das Leben und die Taten von Einzelnen im Kontext ihrer Gemeinschaft. Diese herausragenden Personen waren an ihrer auffallenden Kleidung – wie im Falle unseres Bildes – oder an der Frisur zu identifizieren, andere Personengruppen wie Tänzer an ihren jeweiligen zeremoniellen Kostümen mit Masken, Waffen oder Grasbüscheln. Lafitau sprach wörtlich von symboles hiéroglyphes, also symbolischen heiligen Schriftzeichen, mit denen ein Mann seine Erfolge im Krieg oder seinen Anspruch auf Jagdgründe kundtat: Dies waren bestimmte Zeichen, die er auf Baumrinden, Gewändern oder seiner Haut hinterließ. Aus der Tatsache, dass Tote bei Kriegen und die Zahl der Teilnehmer an Jagdzügen in Form von Strichen dargestellt wurden 179
oder Pferde nur durch ihre Spuren erkennbar waren, schloss Lafitau, es habe sich nicht bloß um Bilder, sondern um einfache Strichzeichen als Gedächtnishilfe gehandelt. Eine wichtige Bestätigung seiner Deutung sah er darin, dass diese „Bilderschrift“ von verschiedenen Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen gleichermaßen verstanden wurden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Frage, wie man sich den Übergang – wenn er überhaupt stattfindet – vom Bild zur Schrift vorzustellen hat. Dieser kommt vergleichbar in der griechischen Wurzel unseres Begriffs „Grafik“ zum Ausdruck, die sowohl „Zeichen“ als auch „Schreiben“ bedeutete. Wir alle kennen die Begriffe „heilige Texte“ oder „heilige Schriften“, die in den meisten Religionen mit schriftlicher Tradition geläufig sind. Eine sakrale Erklärung für den Ursprung von Schrift wäre eine durchaus überzeugende Hypothese: Sei es, dass die Götter den Menschen die Schrift wie andere Kulturgüter geschenkt oder dass Kulturheroen diese aus Zeichen am Himmel und auf der Erde abgeleitet haben, sei es, dass die Schrift ursprünglich entwickelt wurde, um die Grundlagen und Mythen einer Religion aufzuzeichnen. Die Wissenschaft ist sich in den aktuellen Annahmen über die möglichen Ursprünge, genauer: die Entwicklung von Schriftsystemen nicht einig und schlägt daher verschiedene Wege ihrer Entstehung vor. Häufig wird die Rolle von Religionen hervorgehoben, vor allem in Verbindung mit dem Kalender oder der Zeitrechnung in Herrschaftsperioden; diese Sichtweise wird durch die frühesten erhaltenen sakralen Zeugnisse bestärkt. Allerdings kann man davon ausgehen, dass gerade religiöse Texte, Orakelinschriften, Klan-Namen oder rituelle Vorschriften auf besonders beständigem Material wie Stein, Metall oder Schildkrötenpanzer aufgezeichnet wurden und sich daher einfach besser erhalten haben. Andererseits scheinen in der Forschung Überlegungen in den Vordergrund zu treten, wonach die Herausbildung von Schrift auf eher profane Gründe zurückzuführen ist. Mit der Enstehung größerer Herrschaftsbereiche, etwa der frühen Staaten in Ostasien, Mesopotamien oder Mesoamerika, wurde es notwendig und von Mal zu Mal wichtiger, vergleichbare Aufzeichnungen über jährliche Abgaben, die Zahl der Bevölkerung oder militärische Strukturen zu erheben. Aus 180
den Bildern für solche Daten und Zahlenangaben könnten sich nach und nach zunächst Bildertabellen und in der Folge darauf aufbauend Ansätze von Buchstabenschriften entwickelt haben, wie wir sie aus dem Vorderen Orient kennen. Es wäre zu früh, daraus eine endgültige Antwort im einen oder anderen Sinne abzuleiten. Allerdings bestätigt sich, dass kulturelle Errungenschaften aus dem Zusammenwirken verschiedener Einflüsse entstehen und Zeit zur Entwicklung brauchen. Der genauen Betrachtung der „Biografie eines Lakota-Paares“, wie dieses Bild aus der Sammlung von Prinzessin Therese genannt werden könnte, folgen die Interpretation seiner Einzelszenen und deren Lesung als Gesamttext mit durchaus offenen Stellen und der Möglichkeit von Varianten. Unzweifelhaft aber handelt es sich um ein Kunstwerk; das zeigen die Qualität seiner Ausführung und die Wertschätzung, die solche Malereien in den indianischen Kulturen genossen haben.
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Das Kreuz der Nestorianer: Eine unverhoffte Begegnung an der Seidenstraße
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an stelle sich vor, Kaufmann in einer der Handelskarawanen zu sein, die im 14. Jahrhundert auf dem Weg vom Mittelmeer nach Ostasien unterwegs waren. Die Seidenstraße, wie Ferdinand von Richthofen diesen Handelsweg Ende des 19. Jahrhunderts nennen sollte, war zum größten Teil eher ein Trampelpfad mit einer Länge von fünftausend Kilometern, der in zweihundert Tagen bewältigt werden konnte. Und buchstäblich mitten in der Wüste, nachdem mehr als zwei Drittel der Strecke geschafft sind, erkennt man auf einem Stein am Rande des Weges ein Symbol, das einem christlichen Europäer sehr bekannt vorkommt: das Kreuz Christi. Sicherlich würde man sich plötzlich ein wenig heimisch fühlen in dieser fremden, unwirtlichen Landschaft, in der allenthalben Räuber lauern und Dämonen sich in den Dünen des „singenden Sandes“ verbergen, im täglichen Trott zusammen mit Händlern und Knechten, die Anhänger des Buddhismus, des Islam, des Judentums und anderer Religionen sind. Dieser Stein mit dem Bild eines Kreuzes stammt etwa aus dem 9. Jahrhundert und wurde vor hundert Jahren vom jüdischen Erlanger Forschungsreisenden Gottfried Merzbacher (1843–1926) in der zentralasiatischen Wüste Taklamakan gefunden. Unser erster Blick auf ein solch eindeutig scheinendes, klares Symbol könnte allerdings in die Irre führen. Wäre es denn so abwegig, den Stein um 45 Grad zu drehen und ein X zu erkennen? Ein Multiplikationszeichen? Eine
Steinernes Nestorianerkreuz aus Xinjiang, China, ca. 9. Jahrhundert.
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römische Zehn? Oder noch naheliegender: das chinesische Schriftzeichen für die Zahl zehn, dessen beide Balken dem lateinischen Kreuz entsprechen? Einfache Formen wie Linien, Punkte, Kreise oder Kreuze sind immer wieder anzutreffende Symbole in Mustern alltäglicher Stoffe oder der populären Ornamentik des Kunsthandwerks. Was sie bedeuten oder konkret aussagen mögen, kann nur im historischen Kontext interpretiert werden. In der Tat waren es früher häufig christliche Missionare, die zu voreiligen Schlussfolgerungen neigten. So sahen manche von ihnen in den tibetischen Lamas, buddhistischen Meistern, Nachfolger katholischer Priester und vermuteten in der Darstellung weiblicher Gottheiten ursprünglich christliche Marienfiguren oder in der Verehrung einer zentralen Gottheit Spuren einer christlichen Uroffenbarung, die verloren gegangen ist. Das weltweit anzutreffende Kreuzzeichen bot sich für ähnliche Spekulationen dieser Art von selbst an. Das Bild auf unserem Stein stellt dennoch zweifelsohne das christliche Kreuzessymbol dar. Der Stein wurde gemeinsam mit weiteren, eindeutigen Zeugnissen des Nestorianismus gefunden, einer frühen Richtung des Christentums, die im westlichen Europa kaum Anhänger hatte. Er zeigt die charakteristische nestorianische Kreuzesform mit sich verbreiternden Balkenenden und erinnert daran, dass die frühesten Zeugnisse christlicher Mission Zentral- und Ostasiens von den Nestorianern herrühren. Ihre Präsenz längs des Seidenstraßennetzes bis nach China ist seit dem 6. Jahrhundert nachweisbar und dauerte bis zum Ende der Mongolenherrschaft über China im 14. Jahrhundert an. Die Nestorianer vertraten eine von nicht wenigen Schulen, die in der Nachfolge Christi in den ersten Jahrhunderten nach seinem Tod vornehmlich in Kleinasien miteinander in Richtungskämpfe über die Auslegung der wahren Lehre verwickelt waren. Neben den westlichen Traditionen, die wir heute im weiteren Sinne als das Christentum mit seinen verschiedenen katholischen, protestantischen und orthodoxen Konfessionen kennen, gab es eine Reihe von östlichen Traditionen, darunter die von Nestorius um 430 propagierte Lehre, die kurz danach als häretisch verbannt wurde. Eine der Kernaussagen besteht darin, dass Jesus eine Doppelnatur als Mensch wie auch als Gott gehabt haben soll 184
und demnach leibhaftig als Mensch in den Himmel emporgestiegen ist. Die in den Stein gemeißelte besondere Form des Kreuzes soll an die Auferstehung und Himmelfahrt von Jesus erinnern, greift also nicht das sogenannte Golgathakreuz auf, das lateinische Balkenkreuz des Leidens, an dem Christus gestorben ist. „Nestorianismus“ war in den Augen der Christen des westlichen Abendlandes eine abfällige Bezeichnung für eine Irrlehre, für ein anderes Christentum, das dem Osten gemäß sein mochte und dessen Anhänger jenseits von Kleinasien zu Hause waren. In der Tat etablierte er sich nach seiner offiziellen Trennung von der westlichen Reichskirche 483 in diesen Regionen und vertrat als institutionalisierte „Kirche des Ostens“ oder „Assyrische Kirche“ eine eigenständige Liturgie und Dogmatik. Das nestorianische Christentum zeichnete sich durch ungewohnten Pragmatismus und Offenheit aus, was für die Verbreitung der Religion ausgesprochen förderlich war und erfolgreicher als das im Westen übliche Beharren auf Dogmen. Der Nestorianismus ließ nicht nur geweihte Priester zur Missionierung zu, sondern auch einfache Privatleute wie Händler, die heiraten und das Christentum verkünden durften. Dies begünstigte seine Verbreitung ungemein: Im Handel gehörte das Gespräch zum alltäglichen Umgang, man kam viel herum und miteinander in Kontakt. Konflikte unter den Gläubigen und über Glaubensinhalte, die sonst von als Autorität wirkenden Priestern ex cathedra zu entscheiden waren, konnten gemeinsam beredet werden. Diese grundsätzlich eher pragmatische Haltung der Nestorianer ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass Jesus Christus, wie erwähnt, in seiner doppelten Natur, der menschlichen und der göttlichen, gesehen wurde. Und sicher sorgten die weiten Entfernungen etwa zwischen dem Sitz des nestorianischen Patriarchen in Bagdad und den Anhängern im Fernen Osten zusätzlich dafür, dass die Durchsetzung von Lehrmeinungen nicht strikt zu kontrollieren war. Das frühe Wirken der christlichen Schule des Nestorianismus in China ist durch ein einzigartiges, in Stein gehauenes Dokument schriftlich bezeugt. Es ist die auf 781 datierte Nestorianische Stele aus der ehemaligen kaiserlichen Hauptstadt Chang’an. Unter den Kaisern der Tang-Dynastie (7.–10. Jahrhundert) war Chang’an der östliche End185
punkt der Seidenstraße, ein Ort des Warenaustauschs und ein Zentrum der kulturellen Toleranz gegenüber Einflüssen aus allen Teilen der bekannten Welt. Chang’an, heute Xi’an genannt, ist eine der bekanntesten Touristenattraktionen des Landes, wo nicht nur die TerrakottaArmee aus dem Grab des ersten Kaisers von China (gest. 210 v. Chr.) zu bewundern ist, sondern auch der Stelenwald, eine Sammlung von über tausend gravierten Säulen und Steintafeln mit Bildreliefs sowie gravierten Inschriften. Es handelt sich dabei um philosophische, literarische und religiöse Texte wie auch offizielle kaiserliche Edikte, die so in ihrer historischen, ursprünglichen Form für alle Zeiten bewahrt werden sollten. Zu dieser Sammlung gehört auch die Nestorianische Stele. Laut dem ausführlichen Text der Stele in chinesischer und altsyrischer Schrift hatte Anfang des 7. Jahrhunderts ein Mönch in Chang’an die christliche Lehre verkündet, und es war ihm gelungen, den Kaiser dazu zu bewegen, das nestorianische Christentum als offizielle Religion anzuerkennen. In der Folge schildert die Inschrift die „Verbreitung der leuchtenden Religion aus dem Westen im Reich der Mitte“ und fasst die Grundlagen ihrer Lehre zusammen. Die eindrucksvolle, tonnenschwere Stele war viele Jahrhunderte verschollen und wurde Ende des 17. Jahrhunderts von Jesuiten wiederentdeckt, die dank des Fundes belegen konnten, dass das Christentum bereits mehr als ein Jahrtausend vor ihrer Ankunft in China existiert hatte. Es war für die Nestorianer sicher eine große Auszeichnung, ihren Status in dieser bleibenden Form dokumentiert zu wissen. Stelen von solchen Ausmaßen und diesem Gewicht konnte man natürlich nicht einfach kopieren, geschweige denn überall im Land aufstellen. Doch fertigte man Abreibungen auf Papier an, wie es in China seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. üblich war. Diese konnte man vervielfältigen und leicht verbreiten. Die Technik ist einfach: Man deckt die gravierte Steinsäule mit feuchtem Seidenpapier ab und streicht mit einem in Farbe getränkten Ballen über die Oberfläche, sodass die Vertiefungen als weiße Schriftzeichen oder weiße Linien auf dem gefärbten Hintergrund hervortreten. Dieses Verfahren ist im Übrigen der unmittelbare Vorläufer einer der wichtigsten Erfindungen Chinas, des Buchdrucks, der seine Ursprünge dem Buddhismus verdankt: Wer die buddhistische Lehre 186
verkündet, erwirbt für sich besonders gutes Karma für die Wiedergeburt, und die Verbreitung über den Druck der heiligen Schriften ist im Prinzip unbegrenzt. Zwischen Vorderem Orient und Ostasien wurde der Nestorianismus allgemein als die wichtigste Schule des Christentums anerkannt. Auch seine Ausbreitung in China, wo er während der Tang-Dynastie seine Blüte erlebte, verdankte er seiner bereits erwähnten pragmatischen Ausrichtung, die regionalen und ethnischen Besonderheiten entgegenkam, allerdings auf die Gefahr hin, seine spezifische Identität zu verlieren. So suchten die Nestorianer bewusst die Nähe zur traditionell chinesischen Geistesströmung des Taoismus und verbreiteten ihre religiösen Schriften zusammen mit buddhistischen Sutren; sie übernahmen sogar diesen Begriff, wie etwa das „Sutra von Jesus und Maria“ zeigt. Daher nimmt es wenig wunder, dass die Nestorianer mit den Buddhisten in einen Topf geworfen und in den Strudel ihrer Verfolgung gerissen wurden; so kam um 850 ihr Wirken in China zu einem jähen, wenngleich vorübergehenden Ende. Im 13. und 14. Jahrhundert erlebten die Christen im Weltreich der Mongolen, deren pragmatische Herrscher Religionen gegenüber äußerst tolerant waren, eine kurze Renaissance. Dankbar vermerken europäische Reisende, darunter auch Marco Polo, in ihren Berichten, dass sie auf blühende christliche, sprich: nestorianische Gemeinden gestoßen seien, die ihnen unterwegs Hilfe gewährten. Schon ein, zwei Jahrhunderte später waren es katholische und seit dem 19. Jahrhundert auch protestantische Missionare, die ihre Nachfolge antraten und in Zentral- und Ostasien das Christentum verbreiteten. Heute gibt es weltweit noch rund 150 000 Gläubige innerhalb der Assyrischen Kirche des Ostens, wie sich die Konfession selbst nennt. Doch kehren wir zurück zum Stein in der Wüste. Bewusste Steinsetzungen als Zeugnis der Begrenzung und Inbesitznahme sind in vielen Teilen der Welt anzutreffen. Es handelt sich dabei um ein lapidares Zeichen, das kundtut: „Ich bin hier gewesen, hier habe ich meine Spur hinterlassen und bis zu diesem Ort habe ich meine Herrschaft ausgedehnt!“ König Ashoka von Indien und der erste Kaiser von China ließen beide im 3. beziehungsweise 2. Jahrhundert v. Chr. an den Grenzen 187
ihrer Reiche Säulen aufstellen, die von ihren Eroberungen kündeten. Auch Vasco da Gama dokumentierte auf diese Weise seine Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung, und im tosenden Straßenverkehr des heutigen Hongkong erinnert die eine oder andere Granitsäule mit der Inschrift „City Boundary 1903“ an die Ausdehnung der Stadt während der englischen Kolonialherrschaft. Der Stein in der Wüste weist einen Weg. Wer das eingravierte Kreuz zu lesen versteht, fühlt sich im religiösen Sinne berührt und angesprochen. Wer einen bestimmten Ort erreichen will, ist für jeden konkreten Hinweis dankbar, der ihm zeigt, dass schon andere vor ihm diesen Weg gegangen sind. Im unübersichtlichen, gebirgigen Gelände wie auch in Wüsten und Steppen, die dem Auge keinen festen Halt geben und wo der Wind die Pfade verweht, finden sich immer wieder solche hilfreichen Steinsetzungen, die den weiteren Verlauf des Weges anzeigen. Nicht selten sind die ersten Markierungen unter weiteren Steinen begraben und zu großen Haufen angewachsen – als hätten Vorüberkommende das Bedürfnis gehabt, selbst einen Beitrag zur Wegweisung zu leisten. Das mag zunächst als eine triviale, geradezu kindliche Handlung des Nachahmens erscheinen, verweist jedoch auf tiefere Wurzeln, wenn wir zum Vergleich Beispiele aus anderen Teilen der Welt heranziehen. So finden sich in den Wüsten, Steppen und Hochplateaus von Tibet, der Mongolei und Zentralasien immer wieder große Steinhaufen, Obo genannt, die als markante Zeichen in der eintönigen, wenig abwechslungsreichen Landschaft den Blick auf sich ziehen. Sie markieren Stellen des Übergangs, an denen vorüberkommende Reisende seit Generationen einen Stein deponierten: konkret auffallende, wenn auch geringe Erhöhungen, einen Pass, eine Furt. Den Stein haben sie unterwegs, am Fuß eines Berges etwa, aufgelesen und die ganze Wegstrecke bis zum höchsten Punkt des Übergangs mit sich getragen, um ihn dort abzulegen. Für die Reisenden ist das ein Zeichen des Dankes an die Schutzgottheiten, nachdem sie diese Wegstrecke unbeschadet bewältigt haben, ein sprichwörtlicher Stein der Erleichterung, der einem von der Seele fällt. Mit dieser Handlung wird ein religiöser Ritus vollzogen, wie die aufgepflanzten bunten Gebetsfahnen auf den Steinhaufen und die Opfergaben an ihrem Fuß in Zentral- und Hochasien bezeugen. Es ist 188
ein einfacher, leicht wiederholbarer Ritus, der vermutlich seit Jahrtausenden vollzogen wurde und sich wohl aus diesem Grund erhalten und selbst den veränderten Zeiten angepasst hat. Heutzutage etwa in der in aller Welt von Wanderern nachgeahmten Sitte, solche – nicht religiös konnotierten – Anhäufungen von Steinen an markanten Wegstellen zu errichten. Vor einigen Jahren, auf der Fahrt durch die mongolische Steppe, die über Dutzende von Kilometern auf schnurgerader Strecke verlief, wunderte ich mich über den einheimischen Jeepfahrer, der unvermutet mitten in der Landschaft immer wieder mal hupte. Auf meine Frage, warum er das tue, antwortete er, dass er sich dadurch einfach erleichtert fühle. Nach einiger Zeit verstand ich, dass er sich immer dann erleichtert fühlte, wenn er eine kleine Anhöhe überquert hatte – und immer auch dann, wenn er an einem der großen, mit Gebetsfahnen geschmückten Steinhaufen am Rande der Straße vorbeifuhr, eines traditionellen Karwanenwegs, der nach Karakorum, der alten Hauptstadt der mongolischen Herrscher des 14. Jahrhunderts führte. Die Frage, welchem unter all den Reisenden, Händlern, Soldaten und Pilgern dieser kleine nestorianische Stein von der Seele gefallen sein könnte, ist nicht zu beantworten. Gewiss aber dürfte die Freude jedes Einzelnen, ein weiteres gefährliches Stück des Weges unbeschadet überstanden zu haben, sehr groß gewesen sein.
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Blickkontakt mit einer äthiopischen Madonna
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eradezu irritierend sind die Augen der Madonna und ihrer Begleiter auf den Betrachter gerichtet und schlagen ihn in ihren Bann. Nur der gekreuzigte Christus hat die seinen im Todeskampf geschlossen und scheint doch den Schutzschirm zu verstärken, den die anderen Figuren mit ihren weit geöffneten, in verschiedene Richtungen starrenden Augen bilden. Man fühlt sich unmittelbar angesprochen und einbezogen in die Gemeinschaft der Heiligen. Das zentrale Motiv dieses mit Temperafarben auf Holz gemalten Triptychons ist die heilige Jungfrau Maria mit dem Jesuskind auf dem Schoß. Zu ihrer Linken erkennt man die Kreuzigungsszene, zu ihrer Rechten den wiederauferstandenen Christus als Erlöser, der Adam und Eva stellvertretend für die Menschheit aus den Flammen der Hölle zieht. Im unteren Drittel sind die zwölf Apostel mit dem lehrenden Jesus in ihrer Mitte sowie mehrere Heilige der äthiopisch-orthodoxen Kirche dargestellt. So bekannt uns im Grunde das Thema mit seinen Details ist, so fremdartig berührt uns doch seine Ausführung. Im Allgemeinen bringen wir traditionelle Religionen des afrikanischen Kontinents mit animistisch geprägten Vorstellungen in Verbindung, wonach Tiere, Pflanzen, auch scheinbar leblose Gegenstände, Naturerscheinungen sowie Menschen mit „Seelen“ ausgestattet sind. Die vielfältigen, unterschiedlichen Formen der Verehrung und Anbetung umfassen magische Fruchtbarkeitskulte ebenso wie die hoch entwickelte Tradition des sakralen Königtums. Hinzu kommen der Islam, der sich seit dem 8. Jahrhundert bis südlich der Sahara verbreitet hat, und das Christentum im Gefolge der eu-
Triptychon mit Madonna und Kind, biblischen Szenen und Heiligen aus Nordäthiopien, 17. Jahrhundert.
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ropäischen Kolonisierung. Allzu leicht übergeht man dabei die Tatsache, dass in Äthiopien bereits seit dem 5. Jahrhundert und bis heute eine der blühendsten christlichen Kirchen existiert. Viele grundsätzliche Gemeinsamkeiten verbinden das europäisch geprägte Christentum mit der ÄthiopischOrthodoxen Kirche, manche Unterschiede trennen aber auch. Die Wurzeln dieser Kirche reichen nach biblischer Überlieferung und späteren legendenhaften Ausschmückungen zurück bis in die Anfänge des ersten vorchristlichen Jahrtausends, in die Zeit von König Salomo. Damals soll die Königin von Saba, deren Reich Südarabien und das heutige Äthiopien umfasste, von der sprichwörtlichen Weisheit dieses Königs gehört und ihn, reich mit Schätzen beladen, in Jerusalem besucht haben. Die als besonders schön gepriesene Frau entzog sich den Avancen des Herrschers, der schließlich versprach, sie unbehelligt ziehen zu lassen, wenn sie nichts aus seinem Palast mitnehme. In kluger Voraussicht ließ er zum Abschiedsmahl so scharf gewürzte Speisen servieren, dass die Königin ihren Durst mit Wasser stillen musste und somit ihr Wort brach. Die Frucht dieser Nacht war Menelik, der erste König von Äthiopien. Die eigentliche Bekehrung der Äthiopier zum Christentum erfolgte anfangs des 4. Jahrhunderts durch zwei schiffbrüchige Mönche aus Kleinasien. Im Zuge religiöser Auseinandersetzungen spaltete sich das Christentum im 4./5. Jahrhundert in einen westlichen und einen östlichen, altorientalischen Zweig; Letzterem gehört die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche an. Zu ihr bekennt sich heute etwa die Hälfte der Bewohner des Landes, ein Drittel ist muslimischen Glaubens, der Rest setzt sich aus anderen christlichen Gruppierungen sowie Anhängern des traditionellen Animismus zusammen. In den auf die Christianisierung folgenden anderthalb Jahrtausenden war das Land aufgrund der Islamisierung Nordafrikas von anderen christlichen Kirchen abgeschnitten. Mehrere Versuche islamischer Eroberer, das äthiopische Hochland dauerhaft in Besitz zu nehmen, scheiterten, unter anderem auch dank der Unterstützung durch portugiesische Soldaten im 17. Jahrhundert. Doch auch die damit verbundene Mission der Jesuiten konnte sich nicht gegen die fest etablierte Orthodoxe Kirche durchsetzen. Zu de192
ren regionalen Besonderheiten gehören das Recht auf eine eigenständige Priesterweihe und Bestellung des Klerus, die Pflege einer eigenen Liturgie, die Tradition der charakteristischen Rundkirchen und – bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – die starke Identifizierung mit dem kaiserlichen Herrscherhaus. Es sind darüber hinaus auch unmittelbare Einflüsse afrikanischer Nachbarn zu finden, wie etwa die liturgischen Tanzschritte im Gottesdienst oder die Verwendung kultischer Würdeschirme bei heiligen Handlungen unter freiem Himmel. Dieses Tafelbild ist ein charakteristisches Beispiel der traditionellen Ikonenmalerei Äthiopiens und ermöglicht es in manchen Einzelheiten, die bewegte Geschichte des Landes und seiner Menschen verfolgen. Die Anfänge dieser besonderen Form der Malerei in Äthiopien gehen zurück ins 15. Jahrhundert, als die Herrscher des Landes italienische Maler und Handwerker ins Land riefen und in der Folge eine wahre Flut von Darstellungen der Jungfrau Maria entstand. Diese Tradition ist bis heute lebendig und die Verehrung der Madonna ist einer der stärksten Pfeiler äthiopisch-orthodoxen Glaubens geblieben. Die Tafel unseres Bildes wurde aus einer starken, rechteckigen Holzplatte hergestellt, die man zunächst an den Schmalseiten längs spaltete. Die eine Hälfte bildete die Mitteltafel, die andere wurde in der Mitte auseinandergeschnitten und ergab die beiden Außentafeln. Als „Scharniere“ dienen Schnüre, die die beiden Seitentafeln mit dem Mittelstück verbinden. Die Vorlage dieser Madonna mit dem Kinde kennen wir: Es ist ein Ölgemälde aus der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom, seinerseits vermutlich eine Kopie aus dem 13. Jahrhundert, die nach einer byzantinischen Vorlage angefertigt wurde. Als vervielfältigter Druck fand das Bild im Zuge der Jesuitenmission seit dem 17. Jahrhundert weltweit Verbreitung, von Bolivien bis Japan, von Indien bis Mexiko, und wurde – zum Teil an regionale Stiltraditionen angepasst – immer wieder kopiert: Die Darstellung hatte sich als eine der „Ikonen“ der Madonna schlechthin etabliert. Mit den portugiesischen Jesuitenmissionaren war die Druckvorlage Anfang des 17. Jahrhunderts auch nach Äthiopien gelangt, wo die ursprüngliche Konzeption des Hauptmotivs – die Madonna mit dem Kind auf dem Schoß – im Prinzip unverändert übernommen wurde. Allerdings glichen die Künstler stilistische Details in der Ausführung 193
an lokale Vorlieben an und erweiterten die programmatische Aussage des Bildes um Heilige, die in Äthiopien besonders populär waren. Der erste Eindruck des Triptychons wird von der dominierenden Zeichnung der Augen bestimmt. Solche auffallend markanten Augen sind ein charakteristisches Merkmal der christlich-religiösen Malerei Äthiopiens, das in der Tradition des östlichen Mittelmeers seit frühägyptischer Zeit bekannt und vor allem im islamischen Einzugsbereich bis heute zur Abwehr von bösen Einflüssen populär ist. Vom städtischen Basar bis zum Touristenshop am Flughafen findet man in der Region kaum einen Souvenirladen, der nicht die dekorativen Augenamulette aus blauem Glas verkauft. Eine äthiopische Besonderheit der Darstellung ist der frontale, unverstellte Blick der Figuren, die das Gute repräsentieren. Schlechte Menschen werden im Profil und nur mit einem Auge gezeigt, sodass ihr unheilvoller Einfluss unschädlich gemacht wird. Gegenüber der Mariendarstellung der Vorlage veränderte man darüber hinaus den Faltenwurf der Gewänder, der durchgängig in kräftigen, parallelen Linien gezeichnet wird, so wie auch die Flügel der beiden Maria flankierenden Engel Michael und Gabriel. Diese Form der Darstellung verbreitete sich vom Norden des Landes aus, der ursprünglichen Wiege des äthiopischen Christentums und zugleich das Einfallstor für seine Ausbreitung nach Süden. Umgestaltet wurden auch das nunmehr äthiopische Kreuz auf dem Kopftuch Marias und vor allem die Kleidung der Männer und Frauen, die bis hin zu den bloßen Füßen – selbst beim heiligen Georg, der auf einem Pferd reitet – lokaler äthiopischer Sitte entspricht. Während das Kind ein auf westliche Art gebundenes Buch hält, tragen die Apostel zu Marias Füßen die charakteristischen Handkreuze äthiopischer Priester, mit denen sie segnen und das Böse abwehren. Die Figuren haben kaum individuelle Züge, und ihre Gesichter sind flächig und fast schattenlos gemalt; nur die namentliche Beschriftung sowie die Insignien erlauben ihre Identifizierung. Dem spezifisch äthiopischen Heiligenschatz wurden vier Figuren entnommen: Rechts unten sind der Klostergründer und Reformer Takla Hayamont (Ende 12. Jahrhundert) sowie der heilige Kiros Honorius mit Ewostweros in der Mitte zu sehen. Von Letzterem berichtet die Le194
gende, dass er seinen Mantel im Winde ausbreiten konnte und auf diese Weise wie in einem Boot von Armenien nach Äthiopien gereist sei, um das Land vom Götzendienst zu befreien. Neben diesen Aposteln ist der heilige Eremit Abunä Gäbrä Mänfäs Queddus an der Behaarung seines gesamten Körpers erkennbar, einem üblichen Merkmal der „Wilden Männer“ in Bildern des ausgehenden europäischen Mittelalters. Während diese vier Heiligen ausschließlich aus der äthiopischen Tradition stammen und von Fall zu Fall in die religiöse Malerei integriert wurden, gehört der heilige Georg zum Standardrepertoire der meisten Ikonen dieser Art. Häufig ist sein Platz links unten, wo er zu Pferde im Kampf gegen den Drachen und mit der von ihm geretteten Prinzessin im Hintergrund dargestellt wird. Vor allem dank dieser Tat ist er in der abendländischen Überlieferung bekannt, wenngleich seine historische Existenz entgegen – oder vielleicht gerade wegen – seiner weitverbreiteten Verehrung höchst zweifelhaft ist: Seit dem 3. Jahrhundert wird die Legende kolportiert, dass Georg vielfache, verschiedene Folterungen erduldete, weil er dem Christentum nicht abschwören wollte, und dass in seinem Namen zahlreiche Wunder geschahen. Schon die alten Kirchenväter beklagten diese diffuse Überlieferung und vermittelten den Eindruck, dass es sich beim heiligen Georg um eine hagiografische Konstruktion handle, die Motive des Alten und Neuen Testaments sowie lokale Legenden miteinander vermengte. Nicht wenig mag zu seiner späteren Popularisierung beigetragen haben, dass es zwei verschiedene Schädelreliquien des Heiligen gab, deren Echtheit sowohl Konstantinopel als auch Rom – die beiden konkurrierenden Zentren des Christentums der damaligen Zeit – jeweils für sich beanspruchten. In Äthiopien blieb neben der christlichen Heiligenvita vor allem Georgs Kampf gegen den Drachen bis in die Gegenwart als größte Wundertat lebendig. Nach dortiger Überlieferung verehrten die Einwohner Beiruts einen Drachengott, dem sie alljährlich zwei Schafe und eine Jungfrau opfern mussten. Schließlich drohten die Bewohner der Stadt auszuwandern, sodass der König seine eigene Tochter als Opfer anbot. Georg überwältigte den Drachen, führte ihn am Halstuch der 195
Prinzessin in die Stadt und tötete ihn, woraufhin sich die Einwohner zum Christentum bekehrten. Nach seinem Tode rettet der heilige Georg im 12. Jahrhundert einen jungen Mann, der seinen Namen trug, aus der Hand der Sarazenen. Danach stieg seine Verehrung in Äthiopien immer weiter, vor allem als Helfer gegen die Feinde des Landes. Als im Jahre 1896 italienische Truppen in Äthiopien einmarschierten, kam es zur Entscheidungsschlacht bei Adua. Die äthiopischen Soldaten führten die „Bundeslade“ aus der dem heiligen Georg geweihten Kirche von Adua mit sich und errangen einen überwältigenden Sieg. Nach Berichten auch von italienischen Quellen war dieser Erfolg einem jungen Mann geschuldet, der auf einem Schimmel reitend in die Schlacht eingegriffen hatte und als der heilige Georg identifiziert wurde. Dieses Bild ist ein verbreitetes Wandermotiv – ähnlicher himmlischer Beistand war schon den Spaniern im Kampf gegen die islamische Besetzung zuteilgeworden, als „Santiago“, der heilige Apostel Jakob, auf einem weißen Pferd in die Entscheidungsschlacht gegen die „Ungläubigen“ eingriff. Der Mittelmeerraum und seine Nachbarregionen sind in ihrer religiösen Vielfalt seit Jahrtausenden geprägt von fruchtbaren Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Strömungen wie den altorientalischen und ägyptischen Religionen, vom Einfluss der Steppenvölker Südrusslands, der klassischen Antike, der jüdisch-christlichen Überlieferungen, afrikanischer Nachbarkulturen und des Islam. Ein Teil dieser Geschichte ist die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, deren Entwicklung sich beispielhaft an dieser Darstellung der Madonna mit ihren Begleitern aufzeigen lässt. In sie flossen traditionelle Legendenstoffe und formale Gestaltungselemente aus verschieden Quellen ein und schufen so etwas eigenständiges Neues. Für einen Bittsteller ist diese Ikone eine Botschaft und der Ansprechpartner, an den er sich unmittelbar wenden kann: Als Mutter von Jesus, der Erlösung und Barmherzigkeit verkörpert, zeigt sie den Weg zu ihrem Sohn, symbolisiert durch ihre weit geöffnete, auffallend große Hand im Zentrum des Triptychons, die sie dem Hilfesuchenden entgegenstreckt.
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Vielfalt und Einheit – Spurensuche
Ü
ber diese vermutlich 150 Jahre alte, beidseitig bemalte und mit Schnitzdekor versehene massive Planke aus Kamerun lässt sich nicht viel berichten. Die Unterlagen des Münchner Museums Fünf Kontinente beinhalten keine weitere Dokumentation zur Herkunft oder Bemerkungen über mögliche Vergleichsobjekte. Die Figuren könnten Ahnen in Verehrungshaltung darstellen, ergänzt durch Eidechsen, die für Lebenskraft stehen, während die eckigen Symbole und das kreisrunde Motiv wahrscheinlich Opfergefäße wiedergeben. Dieses Objekt harrt also der Entdeckung seiner kulturgeschichtlichen Wurzeln, kurz: seiner fundierten Erforschung. Dennoch ist die hochformatige rechteckige Holzplanke, die als Hüttenpfeiler gedient haben mag, bereits seit über hundert Jahren in der europäischen Kunstgeschichte präsent. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten junge europäische Künstler – wie der Kreis um Pablo Picasso in Paris oder die Mitglieder der Malervereinigung „Brücke“ in Dresden – die Ursprünglichkeit der ästhetischen Empfindung in exotischen Kulturen entdeckt. Sie fühlten sich von deren Kunst, die bislang nicht als solche wahrgenommen worden war, unmittelbar angesprochen und tief erschüttert. Der Maler Wassily Kandinsky hatte ursprünglich Völkerkunde studiert und besuchte 1911 zusammen mit seinem Kollegen Franz Marc das „Kgl. Ethnographische Museum“ München. Die beiden waren hellauf begeistert von den außereuropäischen Kunstwerken der Sammlung. Zu dieser Zeit arbeiteten sie an der Vorbereitung des Almanachs Der Blaue Reiter, der in Beiträgen verschiedener Künstler neue Sichtweisen und Erfahrungen in Malerei, Theater, Dichtung und Musik propagierte und am Beispiel zahlreicher ethnografischer Bilder und Objekte illustrierte – darunter war auch dieser vermutliche Hüttenpfeiler aus Kamerun. Marc und Kandinsky bezeichneten ihn als „Plastik“ und ließen mit dieser neutralen Bezeichnung erkennen, dass man als Maler die religiösen Hintergründe eines solchen Objektes 197
nicht verstehen muss, um es zu schätzen. Allein beim Betrachten des Pfeilers ist seine ursprüngliche, archaische Formensprache erkennbar, deren runde und eckige Formen sowie Doppelbögen Bildern von Menschen entsprechen. In seinem Beitrag über „Die Masken“ verweist der junge Maler August Macke im Blauen Reiter auf die Vergleichbarkeit unserer an der Wand hängenden Bilder mit solchen geschnitzten und bemalten Pfeilern. Beide sind einander im Prinzip ähnlich, indem sie „die fassbare Form für eine unfassbare Idee, die Personifikation eines abstrakten Begriffes“ darstellen. Für Macke reden die Statuen von den Osterinseln, der Häuptlingskragen aus Alaska und die Holzmaske aus Neukaledonien „dieselbe starke Sprache wie die Schimären von NotreDame und der Grabstein im Frankfurter Dom“. Wenige Völkerkundler der damaligen Zeit hätten solche Bemerkungen geteilt, gewiss jedoch Lucian Scherman, der Direktor des Münchner Museums, der für den Blauen Reiter Fotos von zehn Objekten der Museumssammlung zur Verfügung stellte und in seiner Neugestaltung des Museums 1925 die Synthese von Kunst und Völkerkunde in einer bahnbrechenden Dauerausstellung umsetzte. Als strahlenden Auftakt dazu positionierte er ein außereuropäisches Kunstwerk, einen Buddha Amitabha aus Japan, in den Aufgang des Museums. Der unkonventionelle Zugang von Künstlern zu Objekten anderer Kulturen vermittelt dem Betrachter, wie eben gezeigt, einen neuen Blick und eröffnet zugleich der wissenschaftlichen Forschung weiterführende Perspektiven. Bestimmend bleibt die methodische Auseinandersetzung, die über zwei Jahrhunderte hinweg – solange es die Völkerkunde als vorrangig geisteswissenschaftliche Disziplin gibt – vielfältige Wege gegangen ist und einen reichen Fundus an Erkenntnissen erworben hat, welche weiterhin vertieft oder genauso gut erneut infrage gestellt werden können. Das Thema der Völkerkunde ist der Mensch mit seiner Kultur im umfassenden Sinne: als materielle Kultur, also die konkrete Bewältigung
Vorder- und Rückseite eines Hauspfostens, in Flachrelief beschnitzt und bemalt, aus Kamerun, 19. Jahrhundert.
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des Alltags durch das Schaffen von lebensnotwendigen „Gegenständen“, und als geistige Kultur, nämlich die Erklärung der Natur und ihres meist magisch-religiös verstandenen Einflusses auf die Menschen. In völkerkundlichen Untersuchungen kultureller Phänomene zeigt sich immer wieder, dass diese beiden Bereiche häufig nicht zu trennen sind. Am Beispiel des vorgestellten jemenitischen Brautschmucks vom Anfang des 20. Jahrhunderts lassen sich Stationen der vielfältigen Verknüpfung von historischen Kontakten und kunsthandwerklichen Techniken sowie die Wanderung von magisch-religiösen Motiven verfolgen. Ausgehend von uralten Fruchtbarkeitskulten in Mesopotamien finden sich Bildmotive in späteren jüdischen und islamischen Traditionen sowie der christlichen Renaissance wieder. Diese wurden adaptiert und in den jemenitischen Brautschmuck integriert, den jüdische Kunsthandwerker für muslimische Auftraggeber schufen. Er zeigt also Spuren verschiedener kultureller Einflüsse aus einem Zeitraum von zwei, drei Jahrtausenden, an denen aus späterer Sicht eine Entwicklung erkennbar wird, ein historischer Ablauf, der beschreibt, auf welche Weise der Gegenstand so geworden ist, wie er sich uns heute darstellt. Eine vergleichbare „Spurensuche“ ergibt sich, wenn wir mit Gruppen von Gegenständen konfrontiert werden, die auffallende Gemeinsamkeiten zeigen, von großer Ähnlichkeit sind oder gar im ersten Eindruck gleich erscheinen, obwohl sie von weit voneinander entfernten Orten stammen. Hier geht es nicht um den Gebrauch von Pfeil und Bogen oder die Verehrung der Sonne, die irgendwann fast überall auf der Erde zu beobachten sind, sondern um vielschichtige Zusammenhänge und mögliche historische Kontakte. Ein Beispiel dafür sind die bemerkenswerten Parallelen, die sich an einem bestimmten Typus von übernatürlichen Helferinnen aus Indien, Ostasien und Europa aufzeigen lassen: dem buddhistischen Bodhisattva Avalokiteshvara, der chinesischen Göttin Mazu und der Heiligen Jungfrau Maria des Christentums. Aus völkerkundlicher, religionshistorischer Sicht sind diese Figuren unabhängig voneinander entstanden, sie verkörpern einen verbreiteten Typus, der für Barmherzigkeit und helfendes Eingreifen in höchster Not steht. Doch ergaben sich im Laufe der Geschichte Anzeichen dafür, dass diese Figuren nicht nur unabhängige Vertreter des Typus der helfenden 200
weiblichen Gottheit sind, sondern dass auch ihre Verehrung konkrete Berührungspunkte und wechselseitige Einflüsse zeigen. In Gestalten wie Guanyin, Mazu und Maria wurden früh gemeinsame Züge wahrgenommen und im Sinne der weiteren Verbreitung der buddhistischen Lehre beziehungsweise des Christentums gezielt propagiert. Die Völkerkunde kann aus ihrem enormen Reichtum an vergleichbaren Beispielen plausible Erklärungsmuster schöpfen, wie es zu der einen oder anderen Entwicklung gekommen sein mag. Dass dabei nicht immer eindeutige Antworten gefunden werden, liegt in der Natur der Sache: Ein großer Teil völkerkundlichen Materials beruht auf mündlicher Überlieferung von Völkern, die bis in die jüngste Zeit schriftlos waren und keine historischen Aufzeichnungen in unserem Sinne hinterlassen haben – was im Übrigen nicht heißt, dass sie geschichtslos waren. Daher ist die Völkerkunde auf die Ergebnisse anderer Wissenschaften angewiesen, die sie in ihre Untersuchungen einbezieht, so zum Beispiel aus Archäologie, Geschichte, Sprach-und Religionswissenschaften, Kunstgeschichte, Zoologie oder Botanik. Wir haben uns vorgenommen, anhand einer kleinen Auswahl von Gegenständen den „Spuren“ von Kräften nachzugehen, die diese Objekte in ihrer Entstehung und Wirkung geprägt haben. Gerade weil es sich um einen kleinen Ausschnitt aus einem weiten Feld handelt, wäre es vermessen, daraus allgemeine Schlüsse ziehen zu wollen. Aber selbst eine viel größere Zahl von Gegenständen würde nicht viel weiterhelfen, da der hier verwendete Begriff „Religion“ an sich keine fest definierte Ausgangsbasis darstellt. Es gibt keine umfassende, allgemein anerkannte Theorie der Religion. Wir sehen lediglich ähnliche, vergleichbare Vorstellungen mit möglicherweise gemeinsamen Wurzeln und schließen daraus auf inhaltliche Übereinstimmungen. Hilfreich für das Verständnis der Vielfalt von Religionen, ohne gleich in die eine oder andere Theorie zu verfallen, ist die Wurzel des Begriffs selbst, der auf das lateinische religio zurückgeht und im weitesten Sinne „Bindung“ bedeutet: mit etwas verbunden und damit auch an etwas gebunden sein, im Falle der Religion an Kräfte, die außerhalb unseres Alltags oder Lebens, der unmittelbar erfahrenen Welt liegen, diese aber zu beeinflussen scheinen. Der Glaube 201
an solche Kräfte ist in allen Teilen der Erde anzutreffen. In der römischen Antike wurden sie als Träger von numen bezeichnet; dieser Ausdruck begegnet uns heute in dem Begriff „numinos“, das heißt göttlich, wieder. Im gleichen Sinne sind Wörter wie Mana bei den Bewohnern der Südsee oder Manitu bei den nordamerikanischen Indianern zu verstehen. Hinzu kommen die zahllosen Personifikationen dieser Kräfte, die wir landläufig Götter oder Gottheiten nennen – eine sicherlich notwendige Verallgemeinerung, die der gemeinsamen Ursprungsidee zwar nahekommen mag, aber auch leicht ihre außerordentliche Vielfalt und Unterschiedlichkeit übersehen lässt. Die Verbindung zwischen den Menschen und den Gottheiten ist keine einseitige: Weder ist man diesen Kräften zufällig auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, noch kann man sie nach Belieben steuern. Do ut des („Ich gebe, auf dass du zurückgibst“), lautete im alten Rom die beide Parteien bindende Formel beim Opfern an die Götter. Man muss allerdings auch wissen, wie man mit diesen göttlichen Kräften in Kontakt treten kann, welche die vorgeschrieben heiligen Handlungen sind und wie die Riten korrekt auszuführen sind. Hierüber Bescheid wissen die religiösen Spezialisten – nennen wir sie Magier, Zauberer, Schamanen, Heiler, Wahrsager, Priester oder Meister –, die in traditionellen Gemeinschaften allgemein anerkannt sind und meistens eine herausragende, wenn nicht gar politisch leitende Stellung einnehmen. Zu nennen wären hier etwa der Schamane, der ins Jenseits reist und dem es gelingt, die Seele eines scheinbar Verstorbenen wieder ins Diesseits zu bringen, ein indianischer Medizinmann, der mit einem Kulttanz für reiche Jagdbeute sorgt, oder ein buddhistischer Mönch, der als Vorbild wirkt und so anderen Menschen den Weg zur Erleuchtung weist. In all ihrer Vielfalt definieren sich Religionen grundsätzlich über eine wesentliche Gemeinsamkeit: die Beziehung des Menschen zu Kräften, die außerhalb von ihm selbst liegen. Das betrifft die traditionellen Religionen schriftloser Völker genauso wie die „Weltreligionen“ – Letzteres übrigens eine in eher engen Grenzen brauchbare Kategorisierung. Man muss auch nicht „gläubig“ sein oder Mitglied einer Religionsgemeinschaft, um eine Religion zu verstehen. Sicher ist es von Vorteil, in ihre 202
inneren Mysterien aktiv oder passiv einzudringen, doch als unmittelbar betroffener Zeuge oder gar Teilnehmer verändert sich die Perspektive bis hin zur möglichen Identifizierung mit dem Geschehen, die dessen objektive, wissenschaftliche Beobachtung beeinträchtigen kann. Ritualobjekte, Götterstatuen oder heilige Orte sprechen eine unmittelbare sakrale Sprache. Doch da im Verständnis traditioneller Gesellschaften übersinnliche Kräfte ihre Wirkung nicht selten über ganz gewöhnliche Dinge wie Gegenstände des alltäglichen Lebens ausüben, kann auch deren Betrachtung sehr aufschlussreich sein: Das kann ein Angelhaken sein, ein Schmuckstück, ein Reisstampftrog, ein Bierkessel oder ein Rabe. Ihre besondere Wirksamkeit, ihre magische Aufladung und ihre kultische Funktion ergeben sich aus der religiösen Überlieferung, die in mythischen Urzeiten verwurzelt ist. Dabei zeigt sich auch, dass nicht an jedem Angelhaken eine Insel hängt, Bierkessel nicht überall für schwangere Frauen tabu sind, Sündenstrafregister nicht üblicherweise einen Reisstampftrog bebildern und auch nicht jedes Schmuckstück die Geschichte einer Region durch die Jahrhunderte mit sich trägt. Selbst die weltweit zu beobachtende, auffällige Beziehung des Raben zu Leichen bewirkt nicht überall dort Unheil, wo er gerade mal links vorbeifliegt. Dagegen ist die Frage nach der religiösen Bedeutung von Gegenständen, die ausdrücklich für den Kultgebrauch bestimmt sind, im Allgemeinen leichter zu beantworten, da sie in eine entsprechende Tradition und Verehrung durch die Religionsgemeinschaft eingebunden sind. Doch können auch hier Details aufschlussreicher sein, als es den Anschein hat, etwa wenn wir den langen Weg des Buddha-Bildes von Baktrien nach Ostasien begleiten. Die Darstellung des Buddha beginnt als Variante eines griechischen Philosophen, an den am japanischen Endpunkt nur noch wenig erinnert – allein der Schnurrbart ist ihm in manchen seiner Manifestationen als künftiger „Erleuchteter“ erhalten geblieben. Selbst die vorderasiatisch-hellenischen Sandalen hat er verloren, und die Buddhas, Bodhisattvas sowie die aus Südasien stammenden buddhistischen Heilige gehen nach dortigem Eremitenbrauch barfuß. Seit alters haben sich religiöse Traditionen, deren Spuren zum Teil bis heute erkennbar blieben, miteinander vermischt und bezeugen den 203
Reichtum ihrer vielfältigen Entwicklungen und Veränderungen. Aus Ähnlichkeiten auf Verwandtschaft oder gemeinsame Ursprünge zu schließen ist – wenn überhaupt – nur nach genauer historischer Untersuchung möglich und letztlich auch eine Frage der Definition. Der im Vorderen Orient und im Mittelmeerraum der Antike sehr populäre Gott Adonis musste nach mythischer Überlieferung nach seinem gewaltsamen Tod ein halbes Jahr in der Unterwelt verbringen, um dann ein weiteres halbes Jahr an der Oberwelt zu leben. Alljährlich betrauerten die Menschen seinen Tod und feierten Adonis voll Dankbarkeit, wenn er wieder zu neuem Leben erwachte. Adonis verkörpert die Saat, die gedeiht und zur Ernte geschnitten werden muss, den Samen, der in der Erde vergraben wird, um im nächsten Jahr erneut zu keimen. Wir kennen den Kern dieses Motivs aus dem Christentum: Jesus stirbt am Kreuz, muss drei Tage in der Unterwelt verbringen und wird nach seiner Wiederauferstehung mit großer Freude von den Menschen empfangen. Indes: Eine ähnliche Geschichte, gemeinsame Motive und vergleichbare Riten erlauben keine Schlussfolgerung auf Gesetzmäßigkeiten und machen Adonis und Jesus nicht zu austauschbaren Figuren. Spuren einer verbindenden Tradition zwischen beiden – und anderen Gottheiten der Fruchtbarkeit – finden sich allenthalben, woraus sich jedoch kein Beweis für eine Identität zwischen ihnen ableiten ließe. Spuren haben etwas Geheimnisvolles an sich. Häufig verweisen sie auf ein (noch) ungelöstes Rätsel, zugleich faszinieren sie, denn sie zeigen mögliche Richtungen, weisen unsichere Wege und lassen spontan danach fragen, woher sie kommen und wohin sie wirklich führen. Ersteres ist einfach, wenn wir uns en berühmtesten Fußabdruck der Neuzeit – Neil Armstrongs ersten Schritt auf dem Mond von 1969 – vor Augen halten. Selbst zwei 2000 Jahre alte Dachziegeln verraten ihre Herkunft, da die zwei römische Sklavinnen, die mit ihrer Herstellung beschäftigt waren, den Abdruck ihrer beschuhten Füße im Ton hinterlassen haben, nicht ohne sich mit ihren Namen und den ihrer Herren zu verewigen. Schwieriger ist die Herkunft von 49 Fußspuren zu klären, die jüngst in Happisburgh an der englischen Ostküste durch eine Sturmflut freigelegt wurden: Und doch konnten die Archäologen ihr Alter auf 850 000 Jahre schätzen und sie durch Untersuchungen einer Gruppe von fünf Men204
schen, einem Mann von 175 Zentimetern Größe, einer 3 Zentimeter kleineren Frau und drei Kindern, zuordnen. Bei der Verfolgung religiöser Phänomene versagen erwartungsgemäß wissenschaftliche Methoden, so wenn man die Spuren böser Geister sichtbar machen will, indem man über Nacht Asche auf den Boden streut, wie es auf der philippinischen Insel Luzon bis ins 17. Jahrhundert üblich war. Auch die Geschichte von der Mutter eines mythischen Helden des alten China, von der berichtet wird, dass sie in die Spur eines Gottes stieg und danach schwanger war, bleibt im Legendenhaften. Und selbst wenn sich Vertreter von vier Weltreligionen über eine Fußspur einig zu sein scheinen, sind die Deutungen ungewiss. Am Adam’s Peak in Sri Lanka wird ein großer Fußabdruck als heilig verehrt; er ist das Ziel zahlreicher Pilger aus verschiedenen Teilen der Welt: Nach muslimischer Überlieferung soll dort Adam nach der Vertreibung aus dem Paradies zum ersten Mal seinen Fuß auf festen Boden gesetzt haben, für die Buddhisten ist es ein Symbol des Buddha, für die Hindus der Fußabdruck von Shiva, und die Katholiken sehen in ihm die Spur des heiligen Apostels Thomas, der das Christentum Ende des ersten Jahrhunderts nach Asien gebracht haben soll. Welcher Überzeugung man auch immer zustimmt, diese vier unterschiedlichen Deutungen verbindet die Überzeugung, dass wichtige religiöse Gründerfiguren ihre Spur als konkrete Zeichen auf der Erde hinterlassen haben. Die in allen Kulturen der Erde existierenden Kultobjekte sind direkte Zeugnisse religiöser Traditionen. Doch auch an Alltagsgegenstände, vom Angelhaken bis zur Kaiserrobe, von der Rassel bis zum Brautschmuck können unmittelbare oder überlagert Spuren solcher Traditionen erkennbar sein. Wenngleich sie in den konkreten Einzelfällen auf weit voneinander entfernte, unabhängig Ausgangspunkte zu verweisen scheinen, die sich auf verschlungenen Wegen auf einmal in einem Objekt „begegnen“, bleiben die Beweise dafür, was Vermutung, was Tatsache ist, häufig unsicher. Und so liefern historische Einordnungen und vergleichende Untersuchungen nicht immer eindeutige Ergebnisse, eröffnen aber dem Betrachter ein weites Feld von überraschenden Einblicken in die Vielfalt kultureller Beziehungen. 205
Abbildungsnachweis Seite 51, 59, 94, 160, 177, 198: Swantje Autrum-Mulzer © Museum Fünf Kontinente, Bildarchiv Seite 35, 40, 67, 89, 103, 117, 125, 147, 182: Marianne Franke © Museum Fünf Kontinente, Bildarchiv Seite 75, 80, 155, 190: Alexander Laurenzo © Museum Fünf Kontinente, Bildarchiv Seite 10, 19, 24, 108, 138, 169, 173: Marietta Weidner © Museum Fünf Kontinente, Bildarchiv Seite 133: © Museum Fünf Kontinente, Bildarchiv
Wir danken dem Museum Fünf Kontinente in München für die Bereitstellung der Abbildungen.
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