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German Pages [353] Year 2019
Rainer Marten
Nach denken über uns Philosophische Texte
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495817766
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B
Rainer Marten Nachdenken über uns
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Rainer Marten
Nachdenken über uns Philosophische Texte Mit einem Vorwort von Nikolas Marten Herausgegeben von Lukas Trabert
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Rainer Marten Thinking about Us Philosophical Texts This anthology presents 21 talks and essays which Rainer Marten has written over the past 35 years. The texts present the central themes and theses of his philosophy: the art of living and living together; self-poetisation and religion as »twofold poetry;« finitude and the preciousness of life; exorbitance and the art of thinking; and many more. Successful living together and with one another means that people give each other security, but also set bounds to the other. This is possible when the human being recognises himself sufficiently. The fact that Rainer Marten is applying his philosophy of human togetherness in some of his most recent texts on various walks of life – for example living with relatives suffering from dementia – makes clear that his philosophy has already left the boundaries of academic philosophy and is meaningful and impactful well beyond it.
The Author: Rainer Marten, born in 1928, Professor of Philosophy at Freiburg University. Latest publications at Alber among others: ›Die Möglichkeiten des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion‹ (2005, 32015) (English: The possibilities of the impossible. On poetry in philosophy and religion), ›Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen‹ (2009, 22014) (English: Exorbitance. On the necessity of the unnecessary), ›Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust‹ (2012) (English: Radicality of the mind. Heidegger – Paul – Proust), ›Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben‹ (2013) (English: Finitude. On the drama of life and death), ›Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis‹ (2017) (English: ›The praise of twoness. A philosophical venture‹).
https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Rainer Marten Nachdenken über uns Philosophische Texte Dieser Band präsentiert 21 Vorträge und Aufsätze, die Rainer Marten in den letzten 35 Jahren verfasst hat und in denen er zentrale Themen und Thesen seines Denkens pointiert darlegt: Lebenskunst und Lebensteilung; Selbstpoetisierung und Religion als »doppelte Poesie«; Endlichkeit und Kostbarkeit des Lebens; Maßlosigkeit und Denkkunst; usw. Gelingende Lebensteilung, in der Menschen einander Halt gewähren und einander Einhalt gebieten, gewinnt Gestalt als Folge einer erhellenden Aufklärung des Menschen über sich selbst. Dass Rainer Marten seine Philosophie des menschlichen Einander in einigen der jüngsten Texten an vielfältigen Lebens- und Sinnbezügen erprobt – bis hin zum Leben mit demenzkranken Angehörigen –, macht deutlich, dass sein Denken inzwischen weit über die akademische Philosophie hinaus strahlt.
Der Autor: Rainer Marten, geb. 1928, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion (2005, 2. Auflage 2009), Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen (2009), Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust (2012), Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben (2013), Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis (2017).
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Frontispiz: »Bildnis Rainer Marten«, 1964 Filzstift Transparentpapier 21,7 � 29,5 cm © HELGA MARTEN entnommen aus »Helga Marten: Werkverzeichnis 2 _ Arbeiten auf Papier« edition claeys Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49050-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81776-6
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Inhalt
Nikolas Marten: Nachdenken über ihn
. . . . . . . . . . . . .
9
Lukas Trabert: Über diese Auswahl . . . . . . . . . . . . . . .
13
Die Erkenntnis des Unmenschlichen . . . . . . . . . . . . . .
19
Leben und Vernunft. Thesen zur Ideologie menschlicher Selbsterhaltung und zur Neubestimmung menschlicher Selbstbejahung
35
Die freie Vergeblichkeit des Lebens
. . . . . . . . . . . . . .
57
Lebensführung und Lebensteilung . . . . . . . . . . . . . . .
69
Der Tod und der Philosoph . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Eros und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform . . . . .
101
Menschliche Wahrheit und die konfliktive Verfassung des Lebens
115
Klugheit zum Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Rühren an die Rhythmizität des Lebens. Ein denkkünstlerischer Versuch über den Schlaf
. . . . . . . . 163
Die Bejahung der Erde. Ein denkkünstlerischer Versuch zu Ort und Landschaft . . . . .
193
Endlichkeit, Unendlichkeit und die Frage nach dem menschlichen Maß des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
205
Wahre Hoffnungen? Eine Frage an Hermeneutik und Religion . . . . . . . . . . . .
219
Maßlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
Geistige Radikalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Verschenktes Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269 7
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Inhalt
Was scheitern muss, was nicht scheitern kann . . . . . . . . .
287
Das Leben als Kunstwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
Das letzte Selbst
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Mitwisserschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der endgültige Abschied vom Anderen
327
. . . . . . . . . . . . 337
Publikationsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nikolas Marten
Nachdenken über ihn
Wenn morgens um halb sechs das Schloss der Wohnungstür klackte, dann hatte mein Vater wieder einmal »einen Gedanken gehabt«. Seine Arbeitsräume im vierten Stock, neben dem Atelier meiner Mutter, waren außerhalb unserer Mietwohnung im Hochparterre. Räume mit der geheimnisvollen Aura des Verbotenen. Betretbar für mich und meine beiden älteren Geschwister nur als absolute Ausnahme. Schon aus der Ferne waren die schnellen Synkopen der mechanischen Schreibmaschinenschläge hörbar. Für mich ein Klang wie aus einer schnell gezückten Spielzeugpistole. Immer kurz unterbrochen von dem Klingeln, dass die vollgeschriebene Zeile nun mit einem leisen Rrrratsch in die nächste umbrochen wurde. Manchmal saß ich als Sechs-, Siebenjähriger eine Stunde in dem alten, mächtigen, gemusterten Besuchersessel und schaute ihm beim energischen wie energetischen Tippen zu. Man hatte zu schweigen, auch nicht mit den Beinen zu schaukeln – es hätte das unmittelbare Ende des Besuchs bedeutet. *** Heute ist mir klar, dass in einem Haushalt mit drei Kindern für ihn dieses Areal sein einziger Rückzugsbereich war. Aber davon ahnte ich damals nichts. Ich sah nur Bücher, auch in mir unbekannten Sprachen und Lettern: Altgriechisch, Hebräisch, Latein, Französisch, Italienisch, Englisch. Meist waberte in seinen Räumen auch noch eine bläuliche Nebelschicht. Zigarrenrauch. Herbes Aroma einer fernen Erwachsenenwelt. Durch die Gauben der Dachfenster zeigte er mir immer wieder in der Ferne – während seiner seltenen Schreibpausen – am liebsten die Vogesen und rezitierte die Namen der jeweiligen Höhenzüge, die wir später als Familie nicht selten durchwandern sollten. Aber dann ging es wieder weiter: tacktackakakatacktacktktktktak …pling …rrratsch … auf einer Triumph-Adler. Und wenn es mir mal ruhiger schien, wurden BIC-Kugelschreiber »leergeschrieben«, 9 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Nikolas Marten
wie er das nannte. Enigmatische Hieroglyphen aus Sütterlin und Schreibschrift, die er in Stenogeschwindigkeit aufs Papier brachte. Irgendwie las und schrieb er immer. *** Kaum war ich in der Grundschule, kam am ersten Schultag von der Klassenlehrerin die Frage an jeden Pennäler. »Und was macht Dein Vater?«. Ich wusste es nicht. Er schrieb. Er tippte. Und meine Mutter malte Bilder. In einer ersten Schulklasse kommt man damit nicht weit. Nicht in Worte fassen zu können, was der eigene Vater beruflich machte – ein eigenartiges Gefühl. Ich erinnere das bis heute so genau, da er am Mittagstisch mir eine Erklärung auf den Weg gab, den ich inzwischen Lebensweg nennen mag: »Sag einfach: Mein Vater denkt über das Denken nach«. Die tückische Genialität dieses Satzes hat sich mir erst Jahrzehnte später erschlossen. Was ich jedoch auch als Kind sofort merkte, diese sieben Worte hinterließen bei jedem Adressaten nachhaltige Wirkung: fast immer ein kurzes Schweigen, seltener eine Art fragendes Räuspern. Aber dann war Stille. Atemlose. Im fortgeschrittenen Alter setzte ich dann noch ein »Er ist Philosoph« hinterher. Mehr sagen musste ich nicht. Bis heute nicht. Nicht ein einziges Mal. Die Floskel, dass sein Beruf seine Berufung ist, habe ich nie intensiver erlebt. Spät hat er mir mal erzählt, dass er sich bereits als 16Jähriger, kurz vor Kriegsende entschlossen hatte, das zu tun, was er bis heute praktiziert, Philosophie. *** Die letzte Zigarre – eine Monte Christo – paffte er 1973 in meinem Beisein nach einer Vater-Sohn-Schwarzwaldwanderung in den »Adlerstuben« in Hinterzarten. Auf dem Weg zuvor hatte er mir die Irrungen und Wirrungen der Geschichte Israels und Palästinas nahegebracht. Die Rauchschwaden, der mystische Tabak-Nebel, die bläulichen Mini-Zirrus sind seither aus seinen Arbeitsräumen verschwunden. Was blieb? Natürlich die Schreibmaschine, die randvoll handgeschriebenen Papierstapel, Bücher-Berge oft doppelreihig in den Regalen, die Karteikarten, die Trockenblumen in Keramikkrügen, die Bilder meiner Mutter, die wenigen, aber unübersehbaren Fotorahmen. Aber es blieb auch das: Bitte immer vorsichtig klopfen, das 10 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Nachdenken über ihn
lange Warten auf ein »Ja? Herein«. Auch sein spürbarer Unwille unfreiwillig unterbrochen zu werden, sich aus seinem einsamen Universum voller Gedanken auf das irdisch-familiäre Jetzt einzuschwenken. Das Festhalten eines Gedankens, für ihn wohl immer Prozess, Weg und Ziel in einem, kostet Kraft und verleiht Energie. Eine Inspiration, das an ihm zu erleben. Wenn nun im digitalen Zeitalter seine Konstante der EinwegKugelschreiber und eine alte, oft mühsam mit Ersatzteilen versorgte und reparierte Adler-Schreibmaschine ist, dann bedeutet das eben nicht, dass all die evolutionären wie revolutionären Veränderungen an ihm spurlos vorbeigehen. Im Gegenteil. Eine Diskussion über die Funktionalitäten und sozio-kulturellen Aspekte von »Pokemon Go« mit dem Philosophen Rainer Marten, der nun 90 Lebensjahre hinter sich gebracht hat, dürfte wohl selbst CEOs im Silicon Valley inspirieren – und nicht nur, weil mein Vater nur unweit davon im kalifornischen Mill Valley am 28. November 1928 geboren worden ist. Wenn es also sein »Nachdenken über uns« ist, dann sei mir dieses kleine Nachdenken über ihn erlaubt. Aber eigentlich muss ich es nicht. Denn Paps denkt ja schon wieder übers Denken nach. Oder immer noch.
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Lukas Trabert
Über diese Auswahl
Vor einigen Monaten verließ ich die Marten’sche Wohnung in der Turnseestraße mit einer prall gefüllten Kiste mit Büchern, Sonderdrucken, Kopien und Manuskripten. Damals ahnte ich zwar, dass eine herausfordernde Aufgabe auf mich wartete. Wie schwer es aber sein würde, eine Auswahl aus 16 Monographien und weit über 100 Aufsätzen und Vorträgen zu treffen, wurde mir erst nach und nach klar. Welche Auswahlkriterien würden sich als sinnvoll erweisen? Sollte das gesamte Werk Rainer Martens seit seiner Promotion 1955 berücksichtigt werden, oder sollte der Fokus auf bestimmten Themen und Thesen liegen? Sollte ich mich auf kürzere Texte beschränken, die in sich abgeschlossen sind, oder auch auf Kapitel aus den Büchern zurückgreifen? Deren oftmals programmatische Titel weisen in einen Gesamtzusammenhang, ja scheinen durch eine Art Familienähnlichkeit miteinander verbunden: Der menschliche Tod. Eine philosophische Revision (1987); Der menschliche Mensch. Abschied vom utopischen Denken (1988); Denkkunst. Kritik der Ontologie (1989); Lebenskunst (1993); Menschliche Wahrheit (2000); Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion (2005); Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen (2009); Radikalität des Geistes: Heidegger – Paulus – Proust (2012); Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben (2013) sowie zuletzt Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis (2017). Allein diese zehn Bücher böten Stoff für mehrere Auswahlbände. Weiter gefragt: Sollten die ausgewählten Texte nach inhaltlichen Gesichtspunkten oder chronologisch geordnet sein? Noch anders gefragt: Gibt es Leitmotive, von denen her sich eine Gruppierung der Texte ergeben könnte? Z. B. Lebenskunst und Lebensteilung; die Frage des Menschen nach sich selbst und das Geheimnis, das er sich selbst ist; Selbstpoetisierung und Religion als »doppelte Poesie«; Endlichkeit und Kostbarkeit des Lebens; Maßlosigkeit und Denkkunst
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Lukas Trabert
usw. Oder gibt es gar eine unausgesprochene Mitte, um die sich die Texte versammeln? Vielleicht die Liebe? *** Diese Fragen gingen mir einige Wochen lang im Kopf herum, ohne dass ich eine klare Idee gehabt hätte, wie ich die Aufgabe anpacken könnte. Da erinnerte ich mich an eine Begebenheit, die sich vor gut dreißig Jahren ereignet hat, im Sommersemester 1986. Ich war damals seit zwei Jahren in Freiburg und saß in jeder Vorlesung von Rainer Marten. In der Stadt traf ich einen Philosophiestudenten, der mich, wie es seine Art war, unvermittelt fragte: »Wenn Rainer Marten eine Pflanze wäre, welche Pflanze wäre er dann?« (Vermutlich hatte er zuvor im Uni-Kino Rainer Werner Fassbinders Film »Chinesisches Roulette« gesehen, in dem die Protagonisten sich mit solchen gefährlichen Fragen bis an den Abgrund treiben.) »Dumme Frage«, antwortete ich. »Es gibt keine dumme Fragen«, entgegnete er, worauf sich eine längere Diskussion darüber entspann. In dieser ging es schließlich um eine Typologie des Fragens, um die Weisen, wie Fragen im Allgemeinen gestellt werden – und im Besonderen um die Weise, wie Rainer Marten seine Fragen stellt: scheinbar einfache Fragen, radikale, tiefschürfende Fragen, scharfe, kritische Fragen, vorsichtig sich vortastende Fragen, humorvolle Fragen, rhetorische Fragen, sokratisch-ironische Fragen, heideggerischkuinzige Fragen – kurz: Fragen über Fragen. Inzwischen waren wir in einem Freiburger Biergarten angelangt – und mein Kommilitone kam auf seinen Ausgangspunkt zurück: »Gut, lassen wir offen, ob es nun dumme Fragen gibt oder nicht, jedenfalls kann man aus jeder Frage etwas machen.« Als Beispiel für diese Behauptung erinnerte er an etwas, was wir kurze Zeit zuvor erlebt hatten: Die Vorlesungen Rainer Martens fanden damals in einem Hörsaal statt, der Aquarium genannt wurde, weil man vom Innenhof zwischen den Kollegiengebäuden durch eine große schalldichte Glaswand in ihn hineinsehen konnte. Vor dem Fenster hielt sich ein junger Mann auf, der in den Hörsaal hineinstierte und fortwährend wilde Grimassen schnitt. Nach einer Weile gab Rainer Marten ihm mit einer Geste zu verstehen, er möge doch das, was er zu sagen habe, im Saal zum Ausdruck bringen. Eine Minute später war der Mann an der Hörsaaltür und stellte eine – wie uns 14 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Über dieses Buch
schien – recht verworrene Frage. Auf diese antwortete Rainer Marten so, als habe er auf gerade diese Frage schon lange gewartet. Der Fragesteller war offenbar zufrieden und ging seines Weges, die Vorlesung konnte fortgesetzt werden. Nach einem ersten Hefeweizen war ich nun bereit, mich auf das Spiel einzulassen: »Also, wenn Rainer Marten eine Pflanze wäre, dann wäre er Bambus.« Dass mir diese Antwort eingefallen war, lag sicherlich auch daran, dass ich mich gerade in einem sinologischen Seminar mit chinesischer Symbolik beschäftigt hatte. Als Begründung gab ich an, dass Bambus für eine ganze Reihe von Tugenden steht: für Geradheit und Aufrichtigkeit, für Verlässlichkeit und Integrität, Bescheidenheit und Lauterkeit, für Frische und Ausdauer, Hartnäckigkeit und Widerstandsfähigkeit. Zugleich sei er elastisch und flexibel – er lasse sich biegen, aber kaum brechen. Ja, Bambus habe sich als so unverwüstlich erwiesen, dass er nach der Atombombe auf Hiroshima die erste Pflanze war, die 1946 dort wieder aus dem verstrahlten Boden spross. Das dürfte vor allem daran liegen, fügte ich hinzu, dass Bambus zu den Rhizomen gehört. Das wiederum wusste ich, weil Gilles Deleuze und Félix Guattari in den 70er und 80er Jahren das Rhizom in die Geisteswissenschaften eingeführt hatten. Mit der aus der Botanik übernommenen Metapher des Rhizoms argumentierten sie für antihierarchische, dezentrale, vernetzte Denk- und Lebensstrukturen. Denn Rhizome sind reich verzweigte unterirdische Wurzelgeflechte, bei denen Wurzel und Trieb nicht unterscheidbar sind. Sie können an jeder beliebigen Stelle absterben, wachsen aber dann an anderen Stellen wieder weiter, manchmal auch nach mehreren Jahren. Und beim Bambus gibt es noch eine Besonderheit: Erst am Ende eines Lebenszyklus, der 30 bis 120 Jahre dauert, beginnt der Bambus zu blühen. Dann stirbt er, aber aus dem Rhizom wächst wieder neuer Bambus empor. Bambus wie Rainer Marten, Rainer Marten als Bambus. Das beschrieb, wie wir ihn in seinen Vorlesungen erlebten: seine Gestalt, seine Haltung, seine Sprechweise. Festigkeit vereint mit Flexibilität – diese besondere Qualität des Bambus zeichnet auch Rainer Martens Philosophieren aus, das kraftvoll neue Wege wagt und zugleich nachdenklich und besonnen ist. Wie die Knoten im Bambus kamen uns 15 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Lukas Trabert
andere Merkmale seines philosophischen Stils vor: die Freude an der treffenden, geistreichen Formulierung, die Lust an der Pointe, die Neigung zu zeitkritischen, manchmal auch polemischen Zuspitzungen. Und wenn er in seinen Vorlesungen oder Vorträgen seinem Gedankengang folgte, dann baute er dabei einen geradezu musikalisch anmutenden Spannungsbogen auf und formulierte Sätze, die in ihrer Prägnanz und Eleganz an Denker wie Montaigne oder Schopenhauer erinnern. Ob es hier wohl unterirdische rhizomatische Verbindungen quer durch die Philosophiegeschichte gab? *** Mit dem Denkbild des Bambus vor Augen hatte ich plötzlich die Antworten auf meine Fragen, wie ich bei der Textauswahl vorgehen sollte: Ich beschränkte mich auf eigenständige, in sich geschlossene Vorträge und Aufsätze, vor allem neuere. Chronologisch angeordnet, zeigen sie, wie Rainer Marten seine Philosophie der Lebensteilung entwickelt und in vielfältigen Sinnbezügen lebenspraktisch erprobt. Zugleich machen die Texte in ihrer Abfolge zweierlei deutlich: Erstens, dass Rainer Marten einen charakteristischen, ganz eigenen Ton gefunden hat – wenn ich seine Texte lese, höre ich ihn sprechen. Zweitens, dass sein Denken über die akademische Philosophie hinaus ausstrahlt. Und die Liebe? Sie hat in diesem Buch das letzte Wort: »Wird Lebenszeit festlich, dann spiegelt sich in ihr die Liebe zum Leben. Allein endliches Leben läßt diese Liebe wachsen und gedeihen. Das Fest des Lebens ist ein endliches. In ihm sind im vorhinein auf das Belebendste und Ergreifendste Freude und Schmerz vereint. Die Liebe zum Leben gibt es nicht ohne die Liebe zum Nächsten, die Liebe zum Nächsten nicht ohne die Liebe zum Leben. Für Liebende, die ihr Leben teilen und miteinander alt werden, hält die Endlichkeit des Lebens noch eine besondere Qualität der Lebenszeit bereit: Sie wird feierlich. Die aufdringlicher werdende Gewißheit des Abschieds voneinander verleiht dem Rätsel des Lebens zum Ende hin den Glanz endgültiger Unlösbarkeit.« ***
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Über dieses Buch
Als wir den Biergarten verließen, verabschiedete sich der Bekannte mit den Worten: »Übrigens, die nächste Aufgabe ist noch schwieriger: Wenn Rainer Marten ein Tier wäre, welches Tier wäre er dann?« »Das«, antwortete ich, »sage ich dir beim nächsten Mal.« Als ich nach drei Auslandssemestern zurück nach Freiburg kam, hatte er bereits die Universität gewechselt. Die Frage blieb darum unbeantwortet. Ich glaube, das ist auch gut so, denn ich bin weiterhin der Meinung, dass es dumme Fragen gibt. Mit der Antwort »Bambus« auf die Pflanzenfrage bin ich aber heute, gut dreißig Jahre später, durchaus zufrieden, schließlich steht Bambus dank der oben genannten Tugenden auch für Langlebigkeit, ebenso für Glück und zusammengenommen: für das Glück eines langen, gelingenden – und das heißt für alle Marten-Leser: mit anderen geteilten – Lebens. Dass Rainer Marten mit nunmehr 90 Jahren sein nächstes Buch konzipiert, dürfte niemanden, der ihn kennt, überraschen. Ich freue mich bereits auf das Manuskript.
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Die Erkenntnis des Unmenschlichen
Wenn Eddi Constantin einen verdutzten Zeitgenossen die Treppe hinaufprügelt, dann freut sich das Kinovolk. Von Folterungen detailliert zu lesen, bereitet manchem von uns ein erregendes, lustbetontes Selbstgefühl. Ist das nicht der ›Gipfel‹ – die Erkenntnis des Unmenschlichen!? Eine heillose unmenschliche Welt – wer sie (ein Glücksfall!) nicht so sieht und sehen muß, sollen wir sie dem wertfrei und wissenschaftlich gesichert als Lustangebot ins ›Haus‹ liefern? Bekenne ich, Philosoph zu sein, also die wohl unwirksamste wenn nicht fraglichste Wissenschaft zu betreiben – was trennt mich dann noch vom Anschaffer intellektueller Sadisten? Es wird für mich nicht leicht sein, Ihnen plausibel zu machen, daß es mit dieser Erkenntnis gänzlich und mit dem Unmenschlichen ziemlich anders steht – anders als es diese Unterstellungen wahrhaben wollen. Der Versuch dazu, wie ich ihn dennoch unternehme, gliedert sich in drei Schritte: In einem ersten mache ich die Erkenntnis des Unmenschlichen ›dingfest‹: ich kläre ihren Ort, ihre Zeit, ihre Methode, ihren ›Befund‹ und ihre Wirkung. In einem zweiten bemühe ich mich um eine Selbstvergewisserung dieser Erkenntnis. Sie soll für den Erkennenden als Erkenntnis durchsichtig und bedeutsam werden. Das erfordert, Ihnen die menschliche Wirklichkeit kenntlich zu machen, die von Unmenschlichkeit nicht bloß betroffen werden kann, sondern tatsächlich betroffen und bedroht wird. Obgleich Sie nämlich selber Menschen und sogar selbst von Unmenschlichem betroffen sind, haben Sie diese besondere Wirklichkeit kaum schon als Wirklichkeit durchschaut. Der dritte Schritt schließlich dient dazu, Ihnen Mut zu machen, nicht nur bisweilen Interesse für Philosophie und philosophisches Fragen zu bekunden, sondern dem philosophischen Antworten auch einmal etwas zuzutrauen – ich habe damit die Wirksamkeit der Erkenntnis des Unmenschlichen zugunsten von Menschlichkeit im Sinn. 19 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
I. Um Ihre Erkenntnisbereitschaft und Erkenntnisfähigkeit für das Unmenschliche zu wecken, werde ich nicht Kindsmißhandlungen und üble Verhörmethoden zitieren, wie sie – aktenkundig – überall unter Menschen an der Tagesordnung sind. Unmenschlichkeit ist – überraschenderweise – kein Allerweltsvorkommnis. Unmenschlichkeit als eigene Äußerung des Menschlich-Allzumenschlichen (wie ›wir‹ nun leider, ja auch gerne einmal sind) – das ist eine bloße Redensart ohne Erkenntniswert. Der von Unmenschlichkeit betroffene Mensch ist – wider allen Anschein und entgegen unserem eigensten Gefühl – nicht einfach der einzelne von Menschen geschundene, durch Menschen leidende Mensch. Das klingt vielleicht sophisticated. Wie sollte es denn sonst aufs genaueste sein? Gut. Wir sehen es so: der einzelne von Menschen geschundene Mensch ist von Unmenschlichkeit betroffen. Doch dann haben wir zuvor einen Begriff von ihr. An diesem und jenem einzelnen Leiden erfassen wir sie nicht. Erkennen wir Unmenschlichkeit, dann ist der von ihr betroffene Mensch der diskriminierte, das heißt der von Menschen als Mensch abgesonderte Mensch. Der dem Unmenschlichen ausgelieferte Mensch ist somit der Mensch als Mensch, das heißt es handelt sich mit ihm grundsätzlich um keinen einzelnen Menschen, sondern um die mit einem besonderen Merkmal versehenen Menschen, die von anderen Menschen, die dieses Merkmal nicht teilen und die zudem ein Mehr an Macht haben, in ihrem Menschsein herabgewürdigt werden. Die Erkenntnis des Unmenschlichen nimmt als solche kein einzelnes Ereignis, wie es Menschen faktisch betrifft, in Augenschein, sondern die durch Menschen in Gang gebrachten Entwicklungen, die einen besonderen Unterschied zwischen Menschen hervortreiben. Wir müssen umdenken: Unmenschlichkeit ist kein Phänomen, das sich überall dort zeigte, wo Menschen von ihresgleichen physischpsychisch ›fertiggemacht‹ werden. Eine Lädierung von Menschen durch Menschen, so grausam und tödlich sie sein mag, kann nur – selbst das ist nicht notwendig – Begleitumstand und Folge von Unmenschlichkeit sein, nicht aber diese selbst. Das erkannte Unmenschliche ist allen zuvor eine geistige Realität (freilich eine solche, die sich nicht im Geiste abkapselt, sondern in menschliches Leben und Handeln hineinwirkt). Den mit der Betonung des Geistigen hervorgerufenen Anschein 20 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
von Weltflucht (einer Flucht aus der bedrohten lebenspraktischen Realität des Menschen) nehme ich bewußt auf mich, um desto gezielter Unmenschlichkeit zu erkennen. Allein dieser Erkenntnis nämlich wird es, wenn überhaupt, zu verdanken sein, dem Unmenschlichen wirklich und das heißt wirksam entgegenzutreten. – Wer dagegen programmatisch formuliert: »Keine Humanität ohne Divinität« und entsprechend Unmenschlichkeit an ein gottloses Wesen des Menschen bindet, der verkennt, daß ein religiöses, dem göttlichen Wort entnommenes Verständnis des frommen und gerechten Menschen unmöglich mit der philosophischen Initiation und Tradition erkannter Menschlichkeit (und erkannter Unmenschlichkeit) konkurriert. Selbst dann nämlich, wenn Philosophen etwas Göttliches am Menschen zur Deutung seines ›wahren‹ Menschseins in Anspruch nehmen, tun sie das aus Vernunftgründen. Der Mensch als Mensch ist eine geistige und eine geschichtliche Realität. Werden Menschen diskriminiert, dann hat – grundlegend – eine Auslegung des Menschen als Menschen statt. Die Auslegenden sondern bestimmte Menschen von sich auf eine Weise ab, daß sie diese anderen Menschen für mindere Menschen erklären. Diese Auslegenden sind dabei zugleich die Machthaber. Wer als machtloser Gefangener den KZ-Schergen und ihren Auftraggebern die reine menschliche Niedertracht nachsagt, der diskriminiert gar nicht. Er macht nur – ohnmächtig – seiner menschlichen Verzweiflung Luft. Die Diskriminierenden aber, indem sie herrschen, legen den Menschen anderen Merkmals nicht nur als den vom ›rechten‹ Menschen Abgesonderten aus, sie legen auch Hand an ihn. Diskriminierung von Menschen als Sache der Auslegung des Menschen (sc. des Menschen als Menschen) – das ist die geistige Wirklichkeit des Unmenschlichen. Diskriminierung von Menschen als Sache der Herrschenden – das ist geschichtliche Wirklichkeit des Unmenschlichen. Geschichtliche und geistige Wirklichkeit ziehen sich, wie Sie bemerken, nicht zu einer rein geistesgeschichtlichen zusammen. Diese geschichtliche Wirklichkeit ist stets auch eine herrschaftsgeschichtliche und das bedeutet – traditionell – eine gemeinschafts- und gesellschaftsgeschichtliche. Die diskriminierende Auslegung des Menschen ist als solche festzumachen an dem Gedanken der Ungleichheit des Menschen. Vielleicht wird mancher von Ihnen wach (erst jetzt?), wenn er das Reizwort ›Ungleichheit des Menschen‹ hört. Ich kann beruhigen: gereizte Wachheit ist nicht gefragt. Über die faktischen Unterschiede 21 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
zwischen Menschen nämlich habe ich hier gar nicht nachzudenken – ob man sie nun als natürliche und moralisch-politische auseinanderlegt oder ihnen noch in weiteren Feststellungsbereichen nachspürt. Diskriminierend ist für den Menschen allein die von Menschen ausgelegte und durch ihr Regiment wahrgemachte Ungleichheit des Menschen als Menschen. Dieses Verständnis von Ungleichheit, das sich nicht auf faktische Unterschiede als solche berufen kann, ist die geistige Realität des Unmenschlichen, aufgrund deren es allein seine praktische Bedeutung erlangt. Diese geistige Realität allein macht das Unmenschliche erkenntnisfähig und begründet zugleich seine geschichtlichen Möglichkeiten. Ich könnte Ihnen diese Ungleichheit des Menschen durch ein weiteres Reizwort verständlicher zu machen suchen: durch das Wort Ideologie. Die – diskriminierend erklärte – Ungleichheit ist die maßgebliche Ideologie der Herrschenden. Keine Natur- und Morallehre, auch kein politisches System kann sich in einem verständlichen und akzeptablen Sinne auf Objektivität berufen, wenn es gilt, Menschen zu diskriminieren, das heißt, Menschen nach einem Mehr und Weniger an Menschsein zu sondern, um Herrschaft zu legitimieren und zu sichern. Doch schon das Einbringen eines bloßen Ideologieverdachtes gilt längst selbst als ideologieverdächtig, so daß wir darauf verzichten sollten, die geistige Realität des Unmenschlichen gehörig zu etikettieren. Wie jedoch steht es mit der – zugleich behaupteten – Geschichtlichkeit dieser Realität? Ich antworte mit einer These: Unmenschlichkeit gibt es nicht menschheits- und gattungsgeschichtlich zu erkennen. Die diskriminierende Auslegung des Menschen entdeckt sich als Realität allein in einer besonderen Geistes- und Herrschaftsgeschichte. Sie ist, um es genauer zu sagen, ein lokales geschichtliches Ereignis. Damit wir ihm in seinen Folgen begegnen, müssen wir nicht einmal den Ort wechseln. Unmenschlichkeit – als erkenntnisfähige Realität – ist, wenn Sie mir das große Wort erlauben, eine abendländische Spezialität. Das wird Sie kaum überzeugen. Wie steht es beispielsweise mit der Diskriminierung der Frau? Selbst wenn sie nicht in dem Faktum besteht, daß die Frau zu Hause die physische Überlegenheit des Mannes zu spüren bekommt und ihr die Männerrechtsgesellschaft ein Mehr an Mühe und ein Weniger an Freude zumutet, sondern eben 22 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
in ihrer Herabsetzung als Mensch, dann scheint doch nichtabendländische immer noch gut mit abendländischer Unmenschlichkeit konkurrieren zu können. Die Unterscheidung der Frau vom Manne als Mensch, ihre Einschätzung als ein – im Vergleich mit dem Manne – minderes Wesen, wird bekanntlich nicht im Okzident allein praktiziert. Die vorgenommene Lokalisierung der Unmenschlichkeit wird nur verständlich, wenn wir ihre erkannte geschichtliche Realität (sc. jetzt: eine geistes- und herrschaftsgeschichtliche Realität) genauer als eine dialektische deuten. Die Diskriminierung von Menschen, wie sie die erkannte Unmenschlichkeit kennzeichnet, ist – näher besehen – eine konkret bezogene und partiell gemeinte Infragestellung des Menschen. Bestimmte Menschen und Menschengruppen derart als Menschen in Frage zu stellen, daß – als Antwort darauf – die Frage nach DEM Menschen wach wird, das gibt es allein in unserer durch Philosophie in Gang gebrachten Geschichte. Philosophie, wie sie den Auftrag zur menschlichen Selbsterkenntnis übernimmt, ist jeweils Antwort auf Diskriminierungen von Menschen, und das heißt, philosophisch geurteilt, des Menschen. Das ist die ganze Dialektik: Infragestellungen des Menschen als jeweils neue Realität des Unmenschlichen und Antworten darauf als jeweils neue Realität philosophisch-menschlicher Selbsterkenntnis. Das geschichtliche Ereignis der – unmenschlichen – Infragestellung des Menschen gibt es (überhaupt und jeweils) nur, insofern Philosophie beginnt, sich der Sache des Menschen anzunehmen. Die Erkenntnis des Unmenschlichen ist, stets in eins, Resultat und Initial menschlicher Selbsterkenntnis. Jede philosophische Selbsterkenntnis des Menschen hat somit einen doppelten Aspekt: sie ist Antwort auf die – diskriminierende – Infragestellung von Menschen und ist zugleich Antwort auf die – philosophische – Frage nach dem Menschen. In diesem Zugleich ist mitgesagt, daß die jeweilige Erkenntnis des Menschlichen des Menschen die Unterscheidung des Menschlichen und Unmenschlichen trägt. Der Sache nach geht die Erkenntnis des Unmenschlichen niemals der des Menschlichen voraus. Allein geschichtlich gesehen folgt die je neue Verständigung des Menschen über sich als Mensch auf eine geistig vertretene und praktisch wirksame Diskriminierung von Menschen durch Menschen. Vermutlich geht es Ihnen mit dem, was da als Selbstrechtferti23 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
gung der Philosophie aufscheint, viel zu schnell. Hat sich denn Philosophie je der Frauen, Kinder und Sklaven angenommen, und wenn gar (das Gegenteil scheint ja bisweilen näher zu liegen), war sie dann im Sinne des Humanen wirksam? Die geistige Realität des Unmenschlichen scheint doch, wenn es sie schon gibt, allein in die Geistesgeschichte zu gehören, die – auf der Grundlage einer Abfolge mentaler Akte im je individuellen und zeitgenössischen Bewußtsein – bei aller soziokulturellen Blüte kaum Chancen hatte, dem Menschlichen des Menschen mit einiger Breitenwirkung Vorschub zu leisten. Soll ich Stellen zitieren, wie die bei Platon, da dem Manne als Mann kein Vorzug gegeben wird vor der Frau als Frau (Politeia V 455 d) – Worte ausdrücklicher Nichtdiskriminierung von Menschen? Nein. Wir haben jetzt vielmehr zum Schluß des ersten Teils unserer Überlegungen zu erklären, was denn Philosophie im Erkennen der Realität des Unmenschlichen eigentlich erkennt. Die Auskunft ist einfach: Die grundlegende Diskriminierung des Menschen, die jede treffende Antwort auf sie zu einem philosophischen Geschäft macht, ist die Diskriminierung der Vernunft (sc. der menschlichen Vernunft bzw. des Menschen als eines vernunftbedürftigen und vernunftfähigen Wesens). Die sogenannte geistige Realität des Unmenschlichen ist nämlich als solche, wie Philosophen es sehen, eine unvernünftige Realität: sie setzt das menschliche Vermögen außer Kraft, das, philosophisch geurteilt, einzigartig dazu bestimmt ist, die menschlichen Verhältnisse als menschliche vor den verschiedensten Kräften lebensund handlungsgefährdender Unvernunft zu bewahren. Schönste Institutionalisierungen von Menschlichkeit wie Sittengesetz und Demokratie gelten dann auch als Formen reiner Vernunft – seien diese Formen nun geschichtlich entwickelte oder ›unmittelbar‹ gedachte. (Wir haben übrigens keinen Grund, uns auf diese ›beispielhaften‹ Vernunftformen allzu sicher als Vernunftformen zu berufen. So gibt etwa nicht allein die demokratische Wirklichkeit mit ihren vielfältigen Unmenschlichkeiten zu Bedenken Anlaß, sondern die Philosophie selbst, wenn sie, wie bei Platon, eine ständische Philosophenherrschaft mit polisweiter Triebunterdrückung als ausgesprochene Vernunftform des Politischen behauptet.)
24 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
II. Ist unsere Erkenntnis des Unmenschlichen wirklich eine Erkenntnis? Um darüber ›Gewißheit‹ zu erlangen, sehen wir uns den von der geistes- und herrschaftsgeschichtlichen Realität des Unmenschlichen betroffenen Menschen an. Was ist an ihm betroffen – etwa seine Vernünftigkeit und insofern des näheren seine Moralbereitschaft, sein Demokratieverständnis? Nein. Das gerade kann bei Menschen auch dann intakt sein, wenn sie in ihrem Menschsein bedroht sind. Wo Unmenschlichkeit als Diskriminierung von Vernunft auftritt und dabei gegebenenfalls amoralische und undemokratische Züge zu erkennen gibt, dort ist noch nicht die menschliche Realität zu sehen, die von Unmenschlichkeit bedroht ist. Sittengesetz und Sozialdemokratie sind, soweit sie herrschende und praktikable Vernunftformen sind, Verbindlichkeiten des zur Menschlichkeit bestimmten Menschen, nicht aber Inhalte menschlichen Seins. Diese Vernunftformen sind zwar – womöglich – Antworten (auch Teilantworten) auf Diskriminierungen von Menschen, nicht aber Antwort auf die philosophische Frage nach dem Menschen. Ich meine das ernst: wer beispielsweise schweizerisch-demokratische Spielregeln mißachtet und sich Verpflichtungen, wie sie aus Kants Sittengesetz erwachsen, nicht als solche zu eigen macht, der diskriminiert nicht notwendig Menschen, ja ist vielleicht ›dennoch‹ ein – vernünftiger – Philosoph. Die Erkenntnis des Unmenschlichen als Erkenntnis diskriminierender signifikanter Unvernunft und diskriminierter Vernunft möchte ich deswegen nicht dadurch als Erkenntnis überprüfen, daß ich philosophische Antworten zugunsten der ›allgemeinen‹ Vernunft erörtere (etwa Platons Antwort auf die Sophistik, Kants Antwort auf die dogmatische Metaphysik). Ich kennzeichne zu diesem Zweck vielmehr die menschliche Realität, die durch die Realität des Unmenschlichen betroffen wird. Das erfordert nichts geringeres, als begründet und verständlich vom Menschlichen des Menschen zu reden. Ich möchte dazu als erstes einen Begriff einführen, der es möglich macht, Unmenschlichkeit und Menschlichkeit einheitlich zu betrachten: den der praktischen Realität. Das Unmenschliche als geistige und geschichtliche Realität tritt nie als bloßer Anspruch auf, sondern herrscht und wirkt. Es entnimmt allerdings seine Legitimation nicht einfach dem Faktum seiner ausübenden Gewalt, sondern verbindet sie mit falscher Vernunft, nämlich mit dem besonderen Anspruch auf – höhere – Menschlichkeit. (Das gilt gerade auch für den 25 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
Faschismus, weswegen es unsinnig ist, ihn als angebliche Untheorie philosophisch zu ignorieren.) Das Unmenschliche ist also auch nie eine bloße Auslegung des Menschen als Menschen (sc. eine diskriminierende), sondern hat immer schon praktische Realität. Das Menschliche wieder, so es herrscht (und es herrscht, soweit unser geschichtliches Wissen reicht, nie schlechthin nicht), ist ebensosehr praktische Realität – hat also nichts mit ewiger Utopie oder verborgener Wesensinnerlichkeit zu tun. Als praktische Realität möchte ich all das begreifen, was Menschen in ihrem Leben und Handeln sichert und bedroht, beglückt und verletzt, eint und trennt, was ihre Lebens- und Handlungsbefähigung gründet und vernichtet. Die Spannung der praktischen Realität ist somit die des Menschlichen und Unmenschlichen. Keines von beiden ist als Überstieg von Realität vorzustellen (hinauf in die heile Welt des Menschlichen oder vor das schier nicht mehr Begreifliche des Unmenschlichen). Es sind vielmehr die Pole, zwischen denen jeweils das Glücken und Nichtglücken menschlicher Lebenspraxis in Erfahrung gebracht wird. Drei Grundweisen der praktischen Realität sind zu unterscheiden: die gemeinschaftliche Endlichkeit, die gemeinschaftliche Öffentlichkeit und die gemeinschaftliche Zeitorientierung. Das wird nicht ohne Zumutungen an Ihr gewohntes Verstehen vor sich gehen. Zur Endlichkeit: Der praktische Grundsatz der Endlichkeit lautet: Ich bin nicht alles, ich bin nicht jeder. Was ich aufgrund dieser Beschränkung nicht bin (aber eben auch bin), ist nicht ohne die Anderen zu denken. Die Endlichkeit wird gebildet durch mich und die Anderen, und zwar durch unser wechselseitiges charismatisches Verhalten. Glükkende Endlichkeit ist kein Fatum. Sie gehört der menschlichen Lebenspraxis als eine besondere Gewißheit zu, nämlich als die lebensund handlungsbefähigende Gewißheit, Andere zu bejahen und selbst von Anderen bejaht zu sein, Anderen Zuneigung zu schenken und selbst von Anderen Zuneigung zu erfahren. Zur Öffentlichkeit: Der praktische Grundsatz der Öffentlichkeit lautet: Ich kann nicht alles, nicht einmal all das, was die Anderen können. Das, was ich selber kann, kann ich weder aus mir noch für mich allein. Die lebenspraktische Öffentlichkeit wird durch mich und die Anderen gebildet, indem wir uns – in der praktischen Angewiesenheit aufeinander – einander Vertrauen schenken und unser Selbstver26 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
trauen stärken. In diesem gemeinschaftlichen Bilden von Öffentlichkeit entwickelt sich die lebensbefähigende Gewißheit, einander zu brauchen, voneinander anerkannt zu werden, sich aufeinander verlassen zu können. Zur Zeitorientierung: Der praktische Grundsatz der Zeitorientierung lautet: Ich weiß nicht alles, nicht einmal all das, was die Anderen wissen. Was ich aber augenblicklich weiß, weiß ich nicht für mich und durch mich allein. Zeitorientierung im Sinne einer gemeinschaftlichen Ausrichtung auf künftige lebenspraktische Möglichkeiten führt all das Wissen zusammen, das die gemeinschaftliche Praxis mit begründeten Hoffnungen verbindet. Die Beschränkung des Wissens wird auf diese Weise produktiv. Sie führt zur lebensbefähigenden Gewißheit, daß mir Zeit gelassen ist und ich Anderen Zeit zu lassen vermag, daß wir auf die offene Zeit und ihre lebenspraktischen Möglichkeiten bauen können. Die Bedeutung praktischer Realität für glückende menschliche Lebenspraxis liegt wesentlich an ihrer Verläßlichkeit. Charismatische Verhältnisse, Vertrauensverhältnisse und zeitoffene Verhältnisse als Grundverhältnisse praktischer Realität sind, wie sie Lebens- und Handlungsbefähigung nicht nur ausdrücken, sondern auch begründen, die eigentlich verläßlichen Verhältnisse. Fragen wie »liebst du mich noch?«, »kann ich mit dir rechnen?«, »stimmt das?«, »wird das gehen?« drücken nicht notwendig Zweifel aus, sondern werden gern als ritualisierte Formeln gebraucht, um sich der grundlegenden Verläßlichkeit der lebenspraktischen Realität – wie zur Selbstbestätigung – eigens zu versichern. Es ist, als suchte die lebenspraktische Gewißheit durch einen Bewußtseinsakt nach einem zweiten Weg zu sich selbst. Ist die von mir gezeichnete praktische Realität eine Idylle? Keineswegs. Der Mensch, gesehen als derjenige, der gemeinschaftlich Endlichkeit, Öffentlichkeit und Zeitorientierung bildet, stellt zwar den Gedanken des Menschlichen dar, aber damit nicht den eines – schönen – Phantoms, sondern den der Antwort auf die diskriminierende Auslegung des Menschen. Dieser im Denken erfaßte Mensch als Mensch ist genau die praktische Realität, die jeweils von der herrschaftsgeschichtlichen Realität des Unmenschlichen betroffen ist und die zugleich als philosophische Erkenntnis auf dies Betroffensein antwortet. Die Erkenntnis des Unmenschlichen bewährt sich als solche an 27 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
der Erkenntnis des Menschlichen – und umgekehrt. Unmenschlichkeit in ihrer lebenspraktischen Realität wirkt jeweils auf lebensbefähigende Endlichkeit, Öffentlichkeit und Zeitorientierung ein. Die grundlegende Menschlichkeit dieser Verhältnisse geht ihrer Betroffenheit durch Unmenschlichkeit nicht voraus, da sie als erkannte bereits Antwort auf Diskriminierungen von Menschen ist. Mit Rücksicht auf Menschlichkeit als erkannte Menschlichkeit ist das Betroffensein von Unmenschlichkeit nie bloß möglich, sondern eben wirklich. Unmenschlichkeit wird immer noch falsch gesehen, wenn man sie dabei zu überraschen meint, wie sie in menschliche Grundverhältnisse eingreift, um in ihnen – zugunsten von wie in naiver Freude lebenden Menschen – dies und das zu ›negieren‹. Für die Erkenntnis des Unmenschlichen reicht es keinesfalls aus zu sehen, wie da mutwillig Leben verkürzt und zerstört, Ansehen heruntergemacht, Zukunft verstellt wird. Unmenschlichkeit wirkt – auf der Grundlage ihrer diskriminierenden Auslegung des Menschen – als herrschaftsgeschichtliche Realität auf die lebenspraktische Endlichkeit als Endlichkeit ein (und entsprechend auf Öffentlichkeit und Zeitorientierung je als solche). Charismatische Verhältnisse, Vertrauens- und zeitoffene Verhältnisse je als die Verhältnisse aufzuheben, die sie sind, das allein ist als Werk des Unmenschlichen denkbar und erkennbar. Das praktisch wirksame Nichtgönnen von Zuneigung, Vertrauen und begründeter Zuversicht – das alles bedeutet als Realität des Unmenschlichen, daß Menschen, die sich für sich selbst einzigartig zu Menschen ernennen, über die Anderen richten. Ihr Urteil lautet: Die Anderen sind uns als Menschen nicht gleich. Die praktische Folge dieses Spruchs ist die Lädierung menschlicher Lebens- und Handlungsbefähigung. Wo es zum Beispiel Strafgefangene gibt, die nicht unter willkürlicher Brutalität leiden, sondern unter dem, was ihnen Sühnedogmatiker zugedacht haben, genau dort zeigt Unmenschlichkeit ihre Wirkung. Die Kriminalisierung des Verbrechens führt dazu, im überführten und inhaftierten Gesetzesübertreter einen ›Menschen‹ zu sehen, der als Mensch weniger Wert ist als die Menschen ›draußen‹ – im Freien. So erfolgt dann etwa die Unterbindung heterosexueller Beziehungen nicht aus verwaltungstechnischen Gründen, sondern aus einer diskriminierenden Auslegung des Menschen, die sich gern – zur ideologischen Selbstverklärung – am Gedanken eben der Sühne festmacht. (Verläßt ein durch ›Sühne‹ lebenspraktisch ›ver28 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
krüppelter‹ Mensch die Anstalt, dann gilt der gar noch als ein zum Menschen wiederhergestellter Mensch.) Beliebt ist es auch, den Trost für die Beherrschten und Elenden ins Ewige zu vertagen, während man selbst als herrschender ›Heimischer‹ das Zeitliche genießt. Das große Wort des Predigers Salomon von der Allvergeblichkeit (Martin Luther: »Es ist alles ganz eitel«) läßt sich dann ausgezeichnet zur Selbstverklärung dieser diskriminierenden Herrschaftslüge verwenden.
III. Mit dem dritten und letzten Schritt, so sieht es aus, möchte ich mir nun selber (vielleicht sogar einigen von Ihnen mit) Mut machen und mich für mich selbst ins rechte Licht setzen. Wir Philosophen nämlich stehen mit der von uns betriebenen Selbsterkenntnis nicht geschichtlich-dialektisch in einem bloßen Abwehrkampf gegen den Geist des Unmenschlichen. Jede philosophische Antwort auf eine diskriminierende Infragestellung des Menschen stellt eine geschichtliche Initiative dar, die zur Neubestimmung des Menschlichen führt. Im Zuge der Dialektik von diskriminierender Infragestellung und antwortender Selbstverständigung hat Philosophie keine menschlichen Konstanten zu fixieren, verschanzt sie sich auch nicht hinter ewigen Werten. Die konkreten Infragestellungen verlangen jeweils konkret bezogene geschichtliche Initiativen mit neuen Antworten für neue Möglichkeiten. Nehmen wir an, es gebe sie und es habe sie immer wieder gegeben. Waren sie jemals wirksam? Sind sie es heute? Hat es denn Sinn, gegen die Irrationalität des Bösen (weniger fabulös: von menschlicher Herrschaft) stets neu auf Vernunft zu setzen? Das scheint ebenso realitätsfremd und irre zu sein wie das christliche Liebesgebot samt seiner weltweiten Mission. Doch wir haben ja gar nicht einseitig auf Vernunft gesetzt. Die geschichtlich-dialektische Antwort der Philosophie, wie sie darzustellen war, zeigte zwei Seiten: nämlich die Antwort auf die diskriminierende Infragestellung von Menschen und die Antwort auf die Frage nach dem Menschlichen des Menschen. Allein die erstgenannte Seite der Antwort baut notwendig und maßgeblich auf Vernunft. Die Realität des Unmenschlichen nämlich ist falsche Vernunft bzw. gründet auf falscher Vernunft. Um ihr angemessen entgegenzutreten, ist in 29 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
jedem Falle und allem zuvor Vernunft gefragt. Die Realität des Menschlichen dagegen, das heißt die der geglückten Lebenspraxis, ist, wie ich sie auszuweisen suchte, nicht vorrangig vernunftbestimmt. (Für diesen Teil der Antwort reklamiere ich denn auch, philosophisch ein wenig neu zu sein.) Eine philosophische Antwort auf herrschende Unmenschlichkeit hat nur dann Chancen, als geschichtliche Initiative zugunsten des Menschlichen wirksam zu sein, wenn ihre beiden Seiten gleich stark sind. Der Philosoph muß, so denke ich, heute lernen, den Primat der Vernunft (nicht die Vernunft!) in seinem Selbstverständnis aufzukündigen (zum Beispiel nicht länger eine philosophische Anthropologie mit ›oben‹ Vernunft und ›unten‹ Triebe zu vertreten). Die Vernunft dient dem Philosophen dazu, die geistige Realität des Unmenschlichen auf signifikante Weise nicht zu teilen. Werden wir entsprechend sagen dürfen, daß der Philosoph im Zuge menschlicher Selbsterkenntnis die Realität des Menschlichen auf signifikante Weise teile? Was wäre – gegebenenfalls – das philosophisch Teilhabende, wenn es schon nicht die Vernunft sein soll? Um diese Frage erörtern zu können, führe ich den Begriff des geteilten Lebens ein. Ich verbinde ihn mit der These, daß alles Leben und Handeln auf dem Grunde praktischer Verläßlichkeit ein geteiltes ist. Endlichkeit ist geteilte Endlichkeit (zum Beispiel wechselseitige Zuneigung), wenn sie – als verläßliche – lebens- und handlungsbefähigend ist. Indiz des geteilten Lebens – in seinen kleinsten praktischen Einheiten – ist oftmals die Wendung »weißt du noch?«. Dies kann uns als Anzeige dienen. Das, was im gemeinschaftlichen Bilden von Endlichkeit, Öffentlichkeit und Zeitorientierung und das heißt im Teilen von Lebenspraxis ›geistig‹ erzeugt wird, ist dann am besten als Mitwisserschaft zu kennzeichnen. Sie bedeutet jetzt aber, philosophisch geurteilt, kein bewußtseinsmäßiges Sammelsurium lebensgeschichtlicher Vorfälle, sondern die Kenntnis der praktischen Realität. Durch alles hindurch, was da an Endlichem, Öffentlichem und Zeitlichem praktisch gewußt wird, geht diese Mitwisserschaft auf das, was Menschen als Menschen zum Leben und Handeln befähigt. Das »weißt du noch?«, wie es hier zu hören ist, gehört nicht einzelnen Lebensgeschichten als solchen an, sondern spricht aus der Dialektik von Infragestellung und Selbstverständigung. Es schlägt gleichsam die Brücke zur Realität des Unmenschlichen als dem Grund der philosophischen Initiative menschlicher Selbsterkenntnis. Dies »weißt
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Die Erkenntnis des Unmenschlichen
du noch?« erinnert geteiltes Leben als ein durch diskriminierende Auslegung des Menschen bedrohtes. Die Rede von geteiltem Leben und durch es erzeugter Mitwisserschaft spricht keine Universalien geglückten menschlichen Lebens an, sondern dient Erkenntnissen von allein lokaler Zugänglichkeit. Wie die Diskriminierung des Menschen, so ist auch die Erkenntnis des Menschen als Menschen allein ein – wiederholtes – Ereignis der uns bestimmenden Überlieferung. Selbst dann, wenn diese Überlieferung heute auf der Erde überall bestimmend sein sollte, wären wir immer noch beim Lokalen, nicht beim Universellen. Das führt zu einer weiteren überraschenden These. Gewissen, genauer: der Gebrauch von Gewissen ist eine abendländische Spezialität. Ich meine jetzt kein schwaches Gewissen, das, wie im Neuen Testament bemerkt, seinen Inhaber davon abhält, Opferfleisch zu essen, überhaupt keine einsozialisierten persönlichen Skrupel (deren krönende Nichtbeachtung das schlechte Gewissen ist), sondern das Vermögen, um der Menschlichkeit des Menschen willen verbindlich initiativ zu sein. Die Mitwisserschaft geteilten Lebens ist, philosophisch gesehen, nicht allein Mitwisserschaft geglückten geteilten Lebens, sondern zugleich bedrohten geteilten Lebens. Die Bedrohung des geteilten Lebens wird dabei als die gemeinschaftliche Erfahrung gewußt, daß und wie Menschen, herrschaftsgeschichtlich wirksam, diskriminierend ausgelegt sind. Darum wird sich der Philosoph in seinem Gewissensgebrauch allein auf eine Mitwisserschaft berufen können, die Mitwisserschaft der Realität des Menschlichen und des Unmenschlichen ist. Doch wer von uns ist ein Philosoph? – das fragt zugleich: was ist gegenwärtig die herrschende Infragestellung des Menschen (sc. als Äußerung des vorherrschenden Unmenschlichen)? Sollen wir antworten, es gebe viele akademische und nichtakademische Philosophen? Von wenigen Schul- und Gruppenbildungen abgesehen, versuche jeder von ihnen auf eigene Faust, die Unmenschlichkeit je seiner Zeit zu erkennen und zu beantworten? Kein Philosoph könne sich als Arzt der Kultur verstehen, sondern bestenfalls als Sanitäter im menschlichen Wolfskrieg? Darauf einzugehen, könnte den Anschein erwecken, ich wollte meinen Kollegen nunmehr persönlich kommen. Ich unterlasse es darum. Stattdessen stelle ich Ihnen nochmals den das Unmenschliche erkennenden und auf es antwortenden Philosophen vor. Er ist zum einen bestimmt durch Vernunftgebrauch, insofern jede Diskriminie31 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
rung des Menschen in ihrer geistigen Realität als signifikante Unvernunft auftritt. (Wie allerdings die Geschichte zeigt, nimmt nicht nur die Unvernunft, sondern auch die philosophische Vernunft bisweilen recht unterschiedliche Formen an.) – Der antwortende, vernunftgebrauchende Philosoph ist zugleich bestimmt durch geteiltes Leben. Das ist nicht – für seine Person – individualgeschichtlich gemeint. Allein vom Philosophen als demjenigen, der das Geschäft menschlicher Selbsterkenntnis geschichtlich initiiert, ist genau zu sagen, daß er in der Sache des Menschlichen des Menschen seine Endlichkeit finde, seine Öffentlichkeit und seine Ausrichtung auf geschichtliche Zukunft. (Daß der Philosoph auch lebensgeschichtlich Leben teilt, persönlich von den Zeitverhältnissen betroffen ist und seine eigenen lebenspraktischen Erfahrungen verallgemeinert, ist ebenso wahrscheinlich wie es unzureichend ist, daraus seine geschichtlichen Initiativen zu erklären.) Diese Teilung menschlichen Lebens als philosophische Interessennahme am Menschlichen ist stets der Realität der Unvernunft ausgesetzt. Sie bedroht aber nicht eigentlich den philosophischen Eros in seinem endlichen Bezug zur Sache des Menschen, nicht das philosophische Selbstvertrauen, sich in der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit zugunsten des Menschen zu verwenden, und auch nicht die philosophische Zuversicht, dem geschichtlichen Menschen neue Möglichkeiten zu zeigen. Diese – wiederkehrende – Realität der Unvernunft macht vielmehr den Philosophen in diesen Grunddimensionen menschlichen Lebens und Handelns als eines menschlichen heimisch – sie sind sein geschichtliches Arbeitsfeld. Weil aber dieses durch Geistes- und Herrschaftsgeschichte bestimmt ist, geht er notwendig über einen allein esoterischen Wirkungskreis hinaus. Die Geschichte der praktischen Realität des Menschen ist grundsätzlich offen. Ein Ende der Dialektik, die der Mensch aufgrund diskriminierender Infragestellung des Menschen und antwortender menschlicher Selbsterkenntnis ist, läßt sich nicht absehen. Diese Offenheit der Geschichte bedeutet kein absolutes Abenteuer des Menschen, sondern spricht die jeweils neu errungene Verläßlichkeit gemeinschaftlich teilbarer Zeit an. Wenn es Philosophie gelingt, diskriminiertes menschliches Leben und Handeln im eigenen Erkennen und Initiativwerden so zu teilen, daß Zuneigungs-, Vertrauens- und Zeitverhältnisse aufs neue teilbar werden, dann hat sie menschliches Gewissen auf ihrer Seite. Die von der Realität des Unmenschlichen 32 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Erkenntnis des Unmenschlichen
Betroffenen werden sich – dank der Philosophie – auf Mitwisserschaft menschlicher Selbsterkenntnis, auf Mitwisserschaft der öffentlich ausgetragenen Dialektik des geschichtlichen Menschen und auf Mitwisserschaft neuer lebenspraktischer Möglichkeiten berufen können. So ist es vermutlich doch kein zu großes Wort, wenn wir sagen, daß Philosophie menschliches Gewissen bilde, veröffentliche und erneuere. Verhielte es sich anders, wüßte ich keine Erkenntnis des Unmenschlichen zu behaupten.
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Leben und Vernunft Thesen zur Ideologie menschlicher Selbsterhaltung und zur Neubestimmung menschlicher Selbstbejahung
Leben und Vernunft zusammenzudenken – argumentativ wie appellativ, das ist traditionell und aktuell. Der Gesprächspartner des Platonischen Sokrates weiß sich diesem Gedanken nicht zu entziehen. 1 Dem Hörer von Jürgen Habermas’ Frankfurter Antrittsvorlesung wird es kaum anders ergangen sein. 2 Leben, zumindest das gute, wahre und gelungene, sei vernünftig. Vernunft, zumindest die echte und rechte, sei lebendig. Wer wollte sich davon als Philosoph distanzieren – mit welchen Gründen!? Aristoteles, Kant – es gibt unterschiedliche Ansätze, diese, wie es scheint, den Menschen prägende Konstellation so zu modifizieren und präzisieren, bis sie – Pessimisten und lrrationalisten ausgenommen – theoretisch allgemein zustimmungsfähig wird. Ich sehe die Sache anders. Die Frage von Leben und Vernunft, wie sie sich heute der Philosophie stellt, erfordert keine theoretische Zusammenschau. Schon gar nicht ist eine Feindschaft zwischen beidem ins Auge zu fassen, die im Individuum oder als die verselbständigter Mächte zum Austrag käme. Leben und Vernunft beharren, aufeinander bezogen, in keiner Eindeutigkeit. Ihre Beziehung wird jeweils eigens durch eine verändernde Deutung des Lebens aufgenommen, die auf die Vernunft selbst durchschlägt: als Selbstdeutung. Die Bezugaufnahme von Leben und Vernunft ist jederzeit eine geschichtliche: eine je neue Wendung von Geistes- und Herrschaftsgeschichte. Ich möchte von einer geschichtlichen Dialektik sprechen. Wird nämlich in einer Herrschaft von Menschen über Menschen erkannt, dass sie mit falscher Vernunft auftritt, dann gibt es diese Erkenntnisleistung allein als philosophische. Nur eine Philosophie erkennt, wann menschliches Leben in Frage gestellt und Menschen als Platon, Sophistes 248 e–249 a. Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: J. Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt a. M. 1970, 162 ff. 1 2
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Leben und Vernunft
Menschen von Menschen diskriminiert werden. Erkannte Unmenschlichkeit und d. h. Unmenschlichkeit überhaupt ist eine abendländische Spezialität. Angesichts falscher herrschender Vernunft sieht sich Philosophie vor die Aufgabe gestellt, es mit der praktisch wirksamen Diskriminierung von Menschen aufzunehmen: sie gibt auf die Infragestellung von Menschen als solchen eine Antwort, die den Menschen gleichsam sich selbst zurückgibt. Von der Philosophie erbrachte Antworten auf die Frage nach dem Menschen legen keine Steine zu einem Mosaik philosophischer Anthropologie. Als das geschichtlichdialektische, das Philosophie jeweils ist, bringt sie nichts Universelles und Konstantes hervor. Sie ist jeweils konkret bezogen, lokal engagiert. In der von ihr wahrgenommenen Sicht und Zeit geht sie gegen die erkannte Diskriminierung von Menschen an und ›veröffentlicht‹ sie als signifikante Unvernunft. Sie versteht sich in ihrer Antwort dazu, eine neue, wahrhaft vernünftige Verständigung des Menschen über sein Leben und Handeln als menschliches herbeizuführen. Jede Diskriminierung von Menschen ist grundsätzlich eine Diskriminierung von Vernunft. Darum fällt der Vernunft, wie Philosophie sie verwaltet, Alleinverantwortung für den menschlichen Menschen zu. Wir haben Grund, in Vernunftbildern vom Menschen, wie sie die Philosophie geschichtlich-dialektisch geprägt hat, die geschichtliche Erscheinungsform von Humanität zu sehen. Indem aber Philosophie die Geschichte des jeweils dem Menschen als Menschen Angemessenen als Geschichte der lokalen Auseinandersetzung mit Diskriminierungen von Menschen ›schreibt‹, fördert sie (auch für sich selbst) das Missverständnis, sie habe nicht den geschichtlichen, sondern den zeitlosen Menschen im Sinn: den dislozierten, der – ohne Veränderung (chronos) und kairos – die Verselbständigung der Vernunft repräsentiert. Auf Diskriminierungen von Menschen antwortet sie mit dem Menschen. Verliert und verselbständigt sich Philosophie in dieser theoretisch-universellen Orientierung, dann folgt ihre deutende und gedeutete Vernunft, zum Wesen des Menschen entmachtet, nurmehr sich selbst – ohne sich freilich selber auf die Schliche (Subreption) zu kommen. Um diese Thesen zu erläutern und zu bekräftigten, werde ich in einem ersten Schritt das Verhältnis von menschlicher Lebensform und Vernunftform als ein ›Problem‹ erörtern, das die Vernunft mit sich selbst hat. In einem zweiten werde ich die philosophisch-vernünftige Verständigung des Menschen über sich selbst als geschichtlichen Aspekt der Grundlegung menschlicher Lebens- und Hand36 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
lungsbefähigung darzustellen suchen. Schließlich möchte ich in einem dritten entwickeln, welches gewandelte Verständnis von Leben und Vernunft im Übergang vom ersten zum zweiten Schritt eingeschlossen ist.
I.
Die Selbsterhaltung des Menschen
Selbsterhaltung ist kein unmittelbarer Ausdruck des Lebens – des Lebens im allgemeinen oder des menschlichen im besonderen und einzelnen. Diese Behauptung wäre trivial, wenn sie sich einfach dadurch rechtfertigte, dass Selbsterhaltung Moment einer Theorie des Lebens und nicht des Lebens ›selbst‹ ist. Sie ist bedeutsam, sofern die Theorie der Selbsterhaltung als eine Vernunftform entdeckt wird, die ihre Inhalte qua theoretische Bezüge allein durch Selbstbezug gewinnt. Ich möchte darum Selbsterhaltung – bei all ihrer theoretischen Divergenz – eine Idee der Vernunft nennen, in der Vernunft sich erklärend, verklärend und sogar selbstlos an Lebendiges als solches wendet, um sich damit im Grunde genau auf sich selbst zu beziehen. Das Selbst in »Selbsterhaltung« meint nicht allein die Selbererhaltung von Lebendigem, sondern in eins seine Selbsterhaltung – etwa im Sinne der Erhaltung eines Wer des Lebens. Das Selber (dist. Fremd) des (Sich-)Erhaltens deutet in seiner theoretischen Konzeption bereits auf sich selbst als ein zu erhaltendes und erhaltenes Selbst zurück. Selber sich selbst zu erhalten – diese Vernunftidee einer je eigenen Lebensselbsterhaltung ist mit Vorstellungen von Person und Individuum, Art und Volk (›Blut‹), Gen und Gattung verbunden. Nun ist aber das Selbst menschlicher Lebenspraxis überhaupt nicht so vorgegeben, dass von seiner Erhaltung als Perpetuierung und Konsolidierung seines Faktisch-schon-so-seins gesprochen werden könnte. Der erste Missgriff im Begriff der Selbsterhaltung liegt darin, dass an eine Erhaltung von Lebendigem in seinem bloßen oder erfüllten und geglückten Existieren gedacht wird. Es gibt jedoch gar keine individuellen oder kollektiven Selbste als Inhaber von Leben überhaupt oder gutem Leben, deren lebenspraktisches Interesse auf die Erhaltung eben ihres ›Selbst‹-seins gerichtet sein könnte. Wollen wir ohne falsche Vernunft von menschlichem Selbstsein sprechen, dann ist allein an ein Selbst zu denken, das nicht als Substrat die Zeitgestalt des Menschen stützt, ihm aber auch nichts Ewiges zuschanzt. Es ist das Selbst gemeinschaftlicher Selbstbejahung, die mit ihrer Grundlegung 37 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
von Lebensbefähigung die lebenspraktischen Dimensionen von Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart schafft. Menschliches Selbst lässt sich weder als abstrakte Verkörperung des Lebensinteresses (Wer der Selbsterhaltung) noch als abstrakte Vergeistigung des Vernunftinteresses (Wesen des Menschen) begreifen. Es ist eine Sache je gemeinschaftlicher Gründung von Lebens- und Handlungsbefähigung. In der Dialektik der Philosophie tritt dieses Selbst als Strategem auf: als Gedanke gegen Diskriminierungen von Menschen. Im rechten Verständnis dieser Dialektik haben wir es mit menschlichem Leben als menschlichem Leben zu tun, d. h. in eins mit Leben als Leben und Mensch als Mensch. Selbsterhaltung als Idee der – falschen – Vernunft artikuliert die ›leibhaftige‹ Degeneration und Verschleierung des verselbständigten Vernunftinteresses. Selbsterhaltung repräsentiert so am besten das Grundwort des unreflektierten Solipsismus und der auf diesem Standpunkt vermeinten Interindividualität. In jeder theoriegeleiteten Bestimmung von Selbsterhaltung sehe ich einen Ausdruck der gegenüber dem menschlichen Leben verselbständigten Vernunft – je in einer speziellen Form von Selbstbeziehung. Es wird von besonderer Bedeutung sein zu zeigen, wie Vernunft mit ihrer Idee der Selbsterhaltung des lebendigen Menschen als eines nackt und/oder geglückt Existierenden jeweils beginnt, ihren grundsätzlich instrumentellen Charakter zu verklären oder zu verschleiern. Indem sie sich bezüglich des Lebens verselbständigt, und zwar als Instrument der Erkenntnis der Entwicklung des Lebens, als Instrument der Kritik von Bedürfnissen des Lebendigen und als Instrument der Universalisierung, ist sie bereits auf dem Wege, sich in ihre reine Selbstbezogenheit zu verstricken, um sich zugleich aus dieser als vermeinter Selbstzweck zu ›retten‹. Mit ihrer Idee der Selbsterhaltung versieht sich aber – falsche – Vernunft nicht einfach am menschlichen Leben, sondern stellt es als solches in Frage. Drei geschichtliche Varianten dieser menschlichen (Selbst-)Diskriminierung verdienen besondere Beachtung.
1.
Die Selbsterhaltung menschlichen Lebens
Leben erhält sich, insofern Lebendiges sich entwickelt – das ist die ebenso vernünftige wie wissenschaftliche Sicht von Genetikern. Leben hat in ihr die Bedeutung, auf Herausforderungen des Lebens zu 38 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
antworten. Leben, so sehen es Genetiker, wird durch Kräfte, Ereignisse, Umstände herausgefordert, die mächtig genug sind, Lebendiges – je nachdem – universell, speziell und individuell in seiner Existenz zu gefährden. Lebendiges, das sich nicht allein seiner Herausforderungen annimmt, sondern sich auch gegen sie durchsetzt, überlebt – zumindest in einem Zunächst von einiger Dauer. Die Fremdherausforderung des Lebens wird so vom betroffenen Lebendigen genau als eigene Überlebensforderung gedeutet (ob die ›Eigenheit‹ als Gen, Sippe, Gattung oder sonstwie erfahren wird und agiert). Schon die Rede vom Überleben allein signalisiert den der menschlichen Lebenspraxis selbst fremden und äußerlichen Standpunkt des Genetikers. Überleben – das vermittelt das Bild des Übrigbleibens, des noch einmal (wie vereinsamt auch immer) Fortexistierens. Lebenspraktisch hat jedoch kein Mensch bloßes Übrigbleiben im Sinn. Die Herausforderung zu ›überleben‹ stellt Menschen z. B. vor die Aufgabe, durch eine Zeit zu kommen. Diese Zeit wird – qualitativ – als gemeinschaftlich gebildete, das Durchkommen als durch gemeinschaftliche Praxis geprägtes erfahren. Überleben kommt für Genetiker im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Kompetenz allein als Überlebthaben in den Blick. Evolution als einzig sichere Erkenntnis machen sie an diesem Faktum fest. Der Blick des Evolutionstheoretikers, der ihm den deskriptiven Zugriff auf (Über-)Leben erlaubt, ist retrospektiv, nie prospektiv. 3 Was künftig geschieht, nur soviel ist gewiss, geschieht unter naturwissenschaftlich gesicherten Rahmenbedingungen. 4 Die strikt wissenschaftliche Zukunftslosigkeit des Blicks hat jedoch Genetiker nicht gehindert, sich Sorgen um die Zukunft des Lebens zu machen, ja sie mit Visionen und Wünschen zu befrachten. Die Automatik der Evolution nämlich garantiere zumindest für den Menschen keine Automatik der Selbsterhaltung. 5 Die Evolution des Geistigen löse die des Lebendigen ab. Doch sie sei eben – zukünftig-zielgerecht – nicht gesichert. Die lebenspraktische Besonderheit des Menschen zeichne die MögR. Dawkins, Das egoistische Gen, Heidelberg 1978, 9. M. Eigen/R. Winkler, Das Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall, München 1975, 32. 5 Z. B. Eigen/Winkler, a. a. O. 14: »Der Mensch ist weder ein Irrtum der Natur, noch sorgt diese automatisch und selbstverständlich für seine Erhaltung«. Vgl. C. Bresch, Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel?, München 1977, 247: »Es ist eine Automatik des Systems, die die Menschheit ohne bewußte Entscheidung zu immer stärkerer Vernetzung bringt«. 3 4
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Leben und Vernunft
lichkeit des großen Unfalls vor. Genetiker verwandeln sich unversehens in Prediger (Wandel vom Deskriptiven zum Präskriptiven). Sie fordern die Menschen auf, ihre arteigenen Tugenden zu entfalten: Toleranz, Spielfähigkeit und Kreativität, Altruismus. Der einheitliche Grund dieser Aufforderungen ist die Vernunft. 6 Die reine Vernunftform des Selbsterhaltungsgedankens der Genetik ist dort besonders einsichtig, wo das reale Heute der Entwicklung mit ihrem vorgedachten Ziel vernünftig abgestimmt wird. Der Horizont des Entwicklungsblicks verklärt sich: vollendete demokratische Vernunft erscheint, Toleranz, Friedfertigkeit, Harmonie. 7 Soll auf diese Weise die biologische Evolution von der intellektuellen abgelöst und überholt werden, dann zeigt sich ein Sprung vom Leben zur Vernunft. Leben rettet sich in Vernunft, wird in sie aufgehoben. Das ist nicht mehr Protagoras – technische und politische Vernunft als Mittel des gegen Menschen und Natur gerüsteten menschlichen Lebens. Vernunft ist nun Form und vollendeter Ausdruck des Überlebens. Weil aber Überleben, wissenschaftlich beurteilt, nach wie vor allein heißen kann: Überlebthaben, gerät der Genetiker mit Blick auf den Vernunftsprung des Lebens zu einem neuen Standpunkt. Er sieht ›jetzt‹ vom Ende der Entwicklung her. Leben ist, so gesehen, kein Antworten auf Herausforderungen des Lebens, sondern bedeutet: endgültig Überlebthaben. Freilich lebt kein Mensch ewig, aber die Menschheit als Vernunftganzes ist ›gerettet‹. Leben heißt nunmehr: Harmonieren, einander Tolerieren. Fortpflanzung und was sonst als biologische Form der Erhaltung von Gen, Sippe, Gattung existiert, wird für ›Leben‹ sekundär. Indem der Mensch seine biologische Vergangenheit überwindet, erweist sich sein Leben als organisiert, systematisiert, stabilisiert, integriert. Aus dem biologischen Ich ist ein intellektuelles Wir geworden. Es gibt – lebenstheoretisch – nur diesen Optimismus, diese Hoffnung und Zukunft, weil wir in unserem realen Heute allein auf diese Vernunft setzen könnten. Damit ist der Wechsel vom Ziel- zum Zweckgedanken vollzogen. Ein Ziel, das nicht überholbar und als nichtüberholbares eine Gestalt der Vernunft ist, verbürgt in den Augen der Vernunft eine Selbstreflexion, in der sie sich als End- und Selbstzweck begreift.
C. Bresch, Eigen/Winkler, R. Dawkins. Zum Verständnis des Abschnitts ist die Lektüre von C. Bresch, Zwischenstufe Leben, 247–299 zu empfehlen. 6 7
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Leben und Vernunft
Der Gedanke der Selbsterhaltung des Lebens endet in einer Vernunftkonzeption. Das Selbst des selber sich selbst erhaltenden Lebendigen ist schließlich vollends vernunftnimbiert. Was in der Evolutionstheorie als grundlegende Einsicht auftritt, gibt, aufs Ganze und auf den Grund gesehen, eine Tatsache der Vernunft, nicht der Natur zu erkennen: die Vernunft hat sich verselbständigt. Der große Blick über die Zeiten, wie ihn der Genetiker übt, täuscht sich über die geschichtlich-gesellschaftliche Gegenwart und birgt die Gefahr, den Gedanken der Humanität entweder gänzlich zu verlieren oder nach Eigenart der Forscherpersönlichkeit einzufärben. Die Zufälle der Natur (d. h. die prospektiv grundsätzlich nicht gegebene Determiniertheit der einzelnen Entwicklungen) und die Freiräume menschlicher Lebenspraxis seien, vernünftig gesehen, in Vernunft eingespannt. Wenn dann Prospektik und Prognostik von Genetikern Demokratie, Konzertsäle und Gotteshäuser in das endliche Ziel der Evolution dieser belebten und rationalisierten Erde einschließt, sind wir zwar mit Vorurteilen konfrontiert (z. B. mit dem, dass menschliche Praxis in Gotteshäusern tolerant sei und Toleranz als eine intellektuelle, menschheitserhaltende Grundhaltung fördere), zugleich aber mit einer Bejahung der Verselbständigung von Vernunft zum End- und Selbstzweck von Entwicklung überhaupt.
2.
Die Selbsterhaltung des menschlichen Besitzes
Menschlicher Besitz und menschliches Eigentum sind, wie sie die verselbständigte Vernunft des Selbsterhaltungsgedankens bestimmt, Gewertetes. Es gibt eine – oftmals hinter Irrationalismen versteckte – beschränkt-bürgerliche, d. h. gezielt nicht-weltbürgerliche Vernunft, die die leitenden Besitzinteressen des Bürgers nicht an seinem rechtlichen und physischen Besitz als solchem festmacht, sondern daran, dass Besitz und überhaupt das ›Eigene‹ auf ausgezeichnete Weise zu werten ist. Das Eigene, so sagt diese Vernunft, ist das Beste. Die Wertung sieht sie doppelt begründet: 1) das Eigene verdient am meisten, dass es bewahrt wird; 2) das Eigene taugt einzigartig dazu, bewahrt zu werden, nämlich selber sich selbst zu bewahren. Diese Vernunft gibt es vorherrschend als intrasozial-ständische und intersozial-chauvinistische. Letztere gewinnt auf der Grundlage des Völkischen und Rassischen eine besondere Effizienz im Geistigen und Politischen. 41 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
Ich gebe ein naheliegendes Beispiel. Der Adolf Hitler von Anfang der 20er Jahre hat vorgeführt, wie der beschränkte Wertblick auf das ›Eigene‹ dem allgemeinen Gedanken menschlicher Selbsterhaltung zugehört. Das Eigene – das ist für Hitler die eigene Rasse, das eigene Volkstum: die höchste Rasse (= höchster Kulturträger), das beste Volkstum (= bestes Menschentum). Mit der Erhaltung dieser Werte geht es ihm zunächst einfach um ihre Rein- und Selbsterhaltung. Dann aber wird die Auszeichnung des deutschen Volkes darin gesehen, dass seine Geistigkeit und Kultur optimale Größen sind, dem menschlichen Geschlecht auf dieser Erde seine Überlebenschance nach Möglichkeit zu sichern. 8 Menschlicher Besitz und menschliches Eigentum ist, in dieser ihrer Werthaftigkeit gesehen, auf einzigartige Weise der Mensch selbst, nämlich der Mensch in seiner höchsten, besten und edelsten Ausprägung, und d. h. vom Wertenden aus geurteilt, der Mensch in der Art und Gestalt des Wertenden selbst. Der höchste menschliche Wert ist der selbstwerthafte (= eigenwertige) Mensch als Selbsterhaltungswert. Das Vernunftgebot der Selbsterhaltung in der Blickbahn der beschränkt-bürgerlichen Ideologie der Selbstwertschätzung schließt das Programm der Selbststeigerung ein. Da es Wertlosere wenn nicht schlechthin Unwerte nachzuweisen gilt, muss die Selbstwertschätzung die Selbststeigerung als Absatzbewegung von signifikant Anderen im Blick haben. (Das gilt allgemein für das imperialistische Bürgertum vor dem Ersten Weltkrieg und ist keine Besonderheit des Faschismus.) Die bessere Rasse, das gesündere Volkstum, die blühendere Kultur, das erfolgreichere Schwert – das alles dient dem Autor von »Mein Kampf« als vorgegebene Wertbasis, von der aus die Steigerung ihren Ausgang nehmen kann. Im Zuge der harmlos erscheinenden Rede von geistiger Weiterentwicklung werden Züchtungs- und Ausrottungsprogramme formuliert. Dabei schreckt Hitler nicht vor der christlichen Verbrämung der Selbstwertschätzung zurück: Deutsche seien Ebenbilder des Herrn, Juden Missgeburten zwischen Mensch und Affe. 9 Selbsterhaltung als ideologisches Komplement der Selbstwertschätzung ist eine sich selbst verklärende und verdeckende Vernunftform. Die instrumentelle VerA. Hitler, Mein Kampf, München 1941. u. a. 2. Bd., 430–451. Hitler, a. a. O. 434; 445. Zur fundierten Klärung des Zusammenhangs von Selbsterhaltung und Selbststeigerung siehe H. Ebeling, Selbsterhaltung und Selbstbewußtsein. Zur Analytik von Freiheit und Tod, Freiburg/München 1979.
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Leben und Vernunft
nunft des Bürgers und seines Staates wird verselbständigt und verabsolutiert, und zwar so, dass sie als Natur im Sinne eines vorgegebenen Wertes erscheint. Ich ziele nicht darauf ab, den guten selbstüberzeugten Bürger als Faschisten zu deklarieren, sondern allein darauf, den Autor von »Mein Kampf« als einen von seinem Grundgedanken her typischen, wenn auch in seiner Zielsetzung aggressiven Vertreter bürgerlicher Selbsterhaltungs- und Selbstwertschätzungsideologie nachzuweisen. Wenn im großen – tagträumerischen – Blick eines Genetikers als intellektuelle Zukunft des Menschen die christliche kulturintensive Demokratie aufscheint, dann zeigt sich dem vorurteilsverkrampften und kampfbestimmten Blick Hitlers die Autokratie des deutschen Herrenvolkes. Was diesen Vorurteilen und jenen Tagträumen dennoch gemein ist, lässt sich daraus ersehen, wie in beidem die Vernunft auf sich selbst zurückkommt. Der ›Geist‹ ist in ihnen Grund und Ziel aller menschlichen Selbsterhaltung und stellt insofern gleicherweise den reinen Gehalt menschlichen End- und Selbstzweckdenkens dar. Der Genetiker setzt nur eben beim Geist auf die größtmögliche Toleranz der lebenspraktisch aufeinander angewiesenen ›Geister‹, Hitler auf die absolute Intoleranz der fähigsten Geister der eigenen Art gegenüber allen artfremden. Selbsterhaltung im Horizont der Ideologie der Selbstwertschätzung endet in einer vollendeten Selbstbeziehung der Vernunft. Im absoluten Geist beschränkt-bürgerlicher Selbsterhaltung ist Besitz letztlich allein der werthafte Selbstbesitz lebendigen Menschseins. Die Vernunft des Bürgers ist dabei eine lokale. Sie deckt und verfolgt sein Interesse. Dies ist nicht das Interesse eines Bürgers, wie er demokratischer Bürger und Weltbürger sein könnte. Seine Interessen sind ihm längst zu höchsten Werten geronnen. Er hat sie verklärt. Im absoluten Geist bürgerlicher Selbsterhaltung verklärt sich aller Besitz zur Natur, d. h. zur biologischen Grundlage von Selbsterhaltung und Selbststeigerung – gegen die signifikant Anderen. Kraft, Blut, Rasse, Volk scheinen die biologischen Kategorien der Selbsterhaltung zu sein. In Wahrheit sind es ihre Vernunftkategorien, denn Kraft, Blut, Rasse, Volk als je Eigenes (Martin Heidegger denkt entsprechend an die eigene Sprache) sind – überraschenderweise – das neue Verallgemeinerungs- und Menschheitsfähige. Eine Kraft, ein Blut, eine Rasse, ein Volk, eine Sprache – das alles ist dann als Eigenes wahrhaft universell, wenn das gegenwärtig noch vielfältig Andere nicht mehr zum Geist, zur Herrschaft, ja überhaupt zum Leben zugelassen wird. Die Übergänge von programmatischer Verachtung bis zur program43 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
matischen Ausrottung der von der Selbstwertschätzung genau Ausgeschlossenen sind im intra- und intersozial diskriminierenden Verstand der Selbsterhaltung fließend. Selbsterhaltung im Horizont der Ideologie beschränkt-bürgerlicher Selbstwertschätzung gibt es auch in Versionen, die, wenn überhaupt, nicht auf gleiche Weise einen Selbstbezug der Vernunft zu entdecken geben. Die Betonung der Selbererhaltung liegt dann gerne auf dem Selber: es ist der Mensch, der in seiner Existenz und für seine Existenz auf sich selbst zurückgeworfen ist, sie selber eigens in die ›Hand‹ zu nehmen. Bei aller prätendierten Distanz zu sonstigen neuzeitlichen Auffassungen vom Menschen als genau demjenigen Wesen, das nicht im Schoße Abrahams geborgen sei, es nicht den Vögeln unter dem Himmel gleichtun könne, gilt das auch für Martin Heidegger. Bereits in »Sein und Zeit« ist der Gedanke der Selbstwertschätzung voll angelegt. 10 Geht es Heidegger später nicht mehr allein um individuelle Selbstverwirklichung, sondern um die seinsgeschichtliche Mission des Menschen, dann werden es die Dichter, Denker und Deutschen sein, deren lebendiges Selbst als das eigentlich Bewahrende und zu Bewahrende koinzidiert. Heideggers Option für die Stände in ihrer Gleichursprünglichkeit (im Wortlaut der Rektoratsrede von 1933 gut platonisch: Arbeitsdienst, Wehrdienst, Wissensdienst, sinngemäß in der mittleren und späten Zeit: Landvolk, Handwerker, führende Dichter und Denker) zeigt deutlich die vollkommene Analogie von existentieller bzw. seinsgeschichtlicher und beschränkt-bürgerlicher Selbstwertschätzung. Wollte man Heidegger fragen, warum die Menschheitsmission so und nicht anders zu verlaufen habe, dann bliebe auch ihm nur das zu sagen, was die Vernunft der beschränkt-bürgerlichen Selbsterhaltungsideologie fortwährend auf den Lippen hat.
3.
Die Selbsterhaltung der menschlichen Vernunft
Philosophen, wie sie Vernunft gebrauchen und verwalten, zeigen mitunter besonderes Interesse an der Bewahrung der Vernunft ›selbst‹. Die sei durch ihren – möglichen – Selbstwiderspruch gefährdet. Der Selbstwiderspruch der praktischen Vernunft gefährde die
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M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle/Saale 1927, 15; 42.
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vernünftige Praxis, besser: die vernünftige Gesinnung der Menschen. Immanuel Kant hat in seiner praktischen Philosophie das Selbsterhaltungsinteresse der Vernunft und das des Menschen auf ganz besondere Weise miteinander verknüpft. In der Schrift von 1786 mit dem Titel »Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« schildert Kant seine Sicht vom Weg des Menschen aus der Natur zur Freiheit. Für die Entwicklung der Freiheit aus ihrer ursprünglichen Anlage in der Natur des Menschen bis zur »Entlassung desselben aus dem Mutterschooße der Natur« zählt er einen vierten und letzten Schritt, durch den der Mensch die Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen als solchen erlange. Diese Gleichheit aber bedeutet nach ihm für den Menschen, »selbst Zweck zu sein«. Wenn Kant dem Menschen als physischer Gattung die Erhaltung als Zweck zuerkennt, dann gebraucht er Vernunft, um Natur zu deuten. Spricht er dem Menschen als Vernunftwesen die Vervollkommnung der Vernunft als Zweck zu, dann gebraucht er Vernunft, um Vernunft zu deuten: menschliche Vernunft erklärt sich selbst zum Zweck. Indem sie diesen Zweck zum Selbstzweck erklärt, gibt sie eine Selbsterklärung ab, wie sie anspruchsvoller nicht gedacht werden kann. Der Mensch, der seine vernünftige Natur als Selbstzweck begreift, darf sich, da die Entwicklung des Menschen zu Freiheit und Vernunft in keinem lebens- und gattungsgeschichtlichen Jetzt jemals abgeschlossen ist, niemals damit begnügen, seiner vernünftigen Natur bloß nicht zu widerstreiten. Er muss sie vielmehr auch »befördern«. 11 Nur dann stimmt er mit ihr wirklich zusammen. Das vernünftige Selbstverständnis des Menschen als Selbstzweck verlangt von ihm auch schon, sich auf seinen – objektiven Endzweck zu entwerfen: auf die Idee des höchsten Gutes in der Welt, wie sie aus der Moral hervorgeht. 12 Erst im erreichten Endzweck des Menschen, wie er in einer möglichen (und notwendigen!) neuen Welt realisiert wird, hat der Mensch, wie er – jetzt schon – Selbstzweck ist, seine wahre Vernunftgestalt: die genaue Zusammenstimmung seiner Vernunftnatur mit seiner ganzen Natur, universell gesagt: die genaue Zusammenstimmung des Reiches der Zwecke mit dem Reich der Natur. Der Mensch, insofern er Zweck an sich selbst ist, kann als eigenen
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Kant, GMS, Akademie-Ausg. IV, 422 f.; 430. Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 5.
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Zweck 13 sich nur den setzen, der, vernünftig gesehen, sein lebendiger Endzweck ist: eben die genannte Zusammenstimmung. Sowohl im Gedanken des Menschen als Selbstzweck als auch im Gedanken des Endzweckes des Menschen vertritt Vernunft allein ihr Interesse: sich selbst nicht zu widersprechen, d. h. sich selbst als Vernunft zu erhalten. Dass Vernunft den Menschen einheitlich in der idealen Spannung von Selbst- und Endzweck begreift, ist dem Menschen als dem homo noumenon zuzuschreiben. Der homo noumenon ist der vernünftige Mensch als vernünftiger. Er hat keine andere Qualität als die Gleichheit mit allen anderen Vernunftwesen. Er verfügt über keine andere Handlungsqualität als die, gleich allen anderen Vernunftwesen zu wollen und zu sollen, d. h. zu ›handeln‹. Diese ›Qualität‹ entspricht dem formalen Prinzip der universellen Verträglichkeit des Handelns: ob alle gleichzeitig und gleicherweise immer so handeln können – zumeist einfach nach den heuristischen Prinzipien: »Was wäre, wenn das jeder wollte?« und, wenngleich es empirisch anmutet, »Was wäre, wenn das jeder täte?«. 14 Der Selbstzweck, den Vernunft für das Vernunftwesen Mensch behauptet, ist die Nichtlädierung der Vernunftwesen als solcher untereinander. Der durch Vernunft gesetzte Selbstzweck des homo noumenon ist der Selbstzweck der Vernunft selbst: ihr Nichtwiderspruch mit sich selbst, d. h. ihre eigene Selbsterhaltung. Kant greift althergebrachte Sitten (Dekalog) und praktische (klugegoistische) Lebensregeln nur auf 15, um den ›kategorischen‹ Imperativ ausnahmslos zum Komplizen der Selbsterhaltung der Vernunft zu machen. Wenn damit zugleich die Selbsterhaltung des homo noumenon als des »eigentlichen« und »unsichtbaren« Selbst 16 und mit ihm die Unverletzlichkeit des Menschen als eines bloß moralischen Wesens in Anspruch genommen wird 17, dann sehe ich das für eine bloße Verbrämung des formalen Prinzips des Nichtwiderspruchs der Vernunft an. Die moralische Gesinnung steht im Dienste der Selbsterhaltung der Vernunft – nicht umgekehrt. Es ist Vernunft, die sich – kraft der Koinzidenz von freiem Willen und praktischer Vernunft, von Wollen und Sollen – selber selbst erhält. Der homo Siehe Kant, GMS IV, 433. Siehe u. a. Kant, GMS IV, 422; KpV V, 69. 15 Siehe vor allem Kant, GMS IV, 421–429. 16 Kant, GMS IV, 454–61: KpV V, 162. 17 Siehe u. a. Kant, MS, VI, 429; Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, VIII, 426. 13 14
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Leben und Vernunft
noumenon ist nichts weiter als diese Koinzidenz. Seine moralischen Gefühle sind als die noumenalen, die sie sind, allein nimbierende Reflexe der universalisierenden und universalisierten Vernunft. Die Vorstellung, dass der Endzweck des Menschen (Moralität plus gottgewährtes Glück) mehr sei als Moralität allein, hat im Kantischen Denken allein mythische Funktion. 18 Dem ›lebendigen‹ Gehalt nach ist der moralische Mensch als der Selbstzweck, der er ist, bereits Endzweck des Menschen. Im Gedanken des Selbstzwecks, wie er von der universalisierenden Vernunft nicht nur gefasst, sondern zugleich auf sie selbst angewandt wird, sieht sie sich selber für schlechthin vernünftig an. Sie übersieht dabei, dass sie jeweils allein über ein instrumentelles Verständnis ihrer selbst verfügt und auf die Vorgabe eines fremdgesetzten Wenn angewiesen bleibt. Sich selbst selber für vernünftig zu erklären, dabei von der Zweckorientierung zum Selbstzweck überzugehen mit dem Anspruch, dieselbe Bedeutung von vernünftig durchzuhalten – das ist reine Selbstüberforderung. Den Zweck des Menschen als Tiergattung (die Arterhaltung) als Selbstzweck auszugeben, ist eine zulässige (›passende‹), darum freilich nicht notwendig treffende Interpretation durch Vernunft. Die Arterhaltung des Menschen als Vernunftwesen jedoch zum Selbstzweck zu erklären – dazu hat Vernunft keine Kompetenz. Wer freilich in der Behauptung »das Vernünftige ist vernünftig, weil es vernünftig ist« den berechtigten Anspruch der Vernunft artikuliert sieht, moralisch gesetzgebend zu sein, wird die Selbstverabsolutierung der Vernunft, wie Kant sie übt, notwendig verkennen. Zugleich willigt er darin ein, dass die Aussöhnung von Leben und Vernunft auf eine andere Welt vertagt ist. Wer theoretisch den Kampf ums nackte Überleben proklamiert, denkt an die Weiterentwicklung des Lebens zur Vernunft. Wer den Kampf um das Überleben der Besten theoretisch proklamiert, denkt an die Eliminierung des unwerten und ungeistigen Lebens. Wer theoretisch den ›Kampf‹ um die vernünftigste (›humanste‹) Gesinnung proklamiert, denkt an die Vertagung des wahrhaft vernünftigen Lebens. In allem, wie hierbei Vernunft erklärend, begründend und rechtfertigend auftritt, steht sie in einem bloßen Selbstbezug. Die Selbsterhaltung menschlicher Vernunft in ihrer selbstbezüglichen Setzung des vernünftigen End- und Selbstzwecks macht von Grund Siehe M. Sommer, Kant und die Frage nach dem Glück, in: G. Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, 139; 143 f.
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auf klar, inwieweit auch die Selbsterhaltung menschlichen Lebens und menschlichen Besitzes, wie geschehen, als Formen sich selbst überfordernder und verstellender Vernunft zu deuten sind.
II.
Das Vernunftbild des Menschen
Menschliche Selbsterhaltung (als biologische Tatsache, als Komplement bürgerlicher Selbstwertschätzung und als moralische Aufgabe) gibt zum Schein eine Deutung menschlichen Lebens – seines Entwicklungsstandes, seines Wertes, seiner Ausrichtung und seines Sinnes, stellt aber in Wahrheit je nur eine Form der Selbstbeziehung von Vernunft vor. Das Vernunftbild vom lebendigen Menschen, wie es überlieferte und zeitgenössische Philosophie verschiedentlich zeichnet, ist von dieser kritischen Einschätzung des Verhältnisses von Vernunft und Leben betroffen. Ein Grundmuster des Bildes, wie es sich der philosophisch-vernünftige Mensch als solcher selber von sich selbst macht, ist der Mensch als das Wesen, das der lebendigen Vernunft teilhaftig und in eins des vernünftigen Lebens ebenso – realiter – bedürftig wie – idealiter – fähig ist. In den näheren Ausformungen dieses Grundmusters (z. B. in der Kennzeichnung des Menschen als vernunftgegründeter und vernunftbeherrschter Einheit von Vernunft, Mut und Begierde) möchte ich – entgegen üblichem philosophischen Selbstverständnis – keine Fixierungen menschlichen Wesens sehen, sondern Strategien, sich mit jeweils vorherrschenden Diskriminierungen von vernunftbedürftigen und -fähigen Menschen auseinanderzusetzen. Wenn wir ein durch Vernunft geprägtes Menschenbild als das nehmen, was es in praxi ist: als neue Verständigung des Menschen über sich selbst angesichts einer konkreten Herausforderung durch für falsch erkannte Vernunft, dann muss es nicht verwundern, dass in diesem Bild als dem Niederschlag philosophisch geführter menschlicher Selbsterkenntnis auf jeden Fall Vernunft die prägende, ordnende und also beherrschende Kraft der Gesamtgestaltung ist. Der Irrtum jedoch, in dem man sich gegenüber diesem Bilde zumeist befindet (auch und gerade in der Philosophie selbst), besteht darin, seinen geschichtlich-dialektischen Charakter zu übersehen, es zeithaft zu verselbständigen, um es so in seiner abstrakten Zeitgestalt geschichtslos festzuschreiben. Dieser Irrtum hat zur Folge, dass sich der Vernunftcharakter, wie er in Bildern dieser Art als philosophi48 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
schen Antworten auf Diskriminierungen von Menschen durch Menschen gegeben ist, selber wandelt. Anstatt strategisch gegen falsche Vernunft gerichtet zu sein, stellt sich Vernunft nunmehr in den Dienst ihrer selbst, um auf diese Weise selber falsche Vernunft zu werden. Ich komme damit auf die Vernunftfrage menschlicher Selbsterhaltung zurück. Der lebensfähige Mensch als der sich selber selbst erhaltende (und steigernde) – dieser Gedanke ist (in jeder seiner Ausformungen) das Vernunftbild des Menschen, das sich zuäußerst verselbständigt und von jeglichem geschichtlich-dialektischen Kontext (so es einen hatte) gelöst hat. Der Wissenschaftler mit seinem genetischen Weitblick in die vernünftige Zukunft des Menschen antwortet nicht länger auf die allgemein wissenschaftliche Herausforderung, ›Phänomene zu retten‹, der Bürger mit seiner Selbstwertschätzung nicht auf die politische Herausforderung, die bürgerliche Gesellschaft und den demokratischen Staat zu schützen, der Philosoph mit seinem Selbstzweckdenken nicht auf die moralische Herausforderung, Menschen in den ›leibhaftigen‹ Herausforderungen durch ihresgleichen praktisch-philosophisch beizustehen. Vernunft versteht sich in eins als autonom und autark: sie genügt sich in ihrer – theoretisch-intakten – formalen Selbstbeziehung. Selbsterhaltung als vermeinte wissenschaftliche Erkenntnis, als vermeinte bürgerliche Notwendigkeit und als vermeintlich unbedingtes moralisches Gebot stellt in der Vernunftform, mit der sie auftritt, allemal eine Selbstverklärung der Vernunft dar, in der sie ihre absolute Scheidung von menschlicher Lebenspraxis – theoretisch – überspielt. Selbsterhaltung – als Vernunftideologie ist nicht lebensfern und -fremd, sondern ausgesprochen lebensfeindlich, sofern menschliche Lebendigkeit aus der gemeinschaftlichen Lebenspraxis zu ermessen ist, in der sich Lebensbefähigung bewährt und erneuert. Die Selbsterhaltung der menschlichen Art, die Selbstsicherung und -steigerung eines in bürgerlicher Selbstwertschätzung beschränkten Menschentums, die Selbstbewahrung der Vernunft als des höchsten menschlichen Vermögens vor Selbstwiderspruch – das alles gehört nicht in ein Vernunftbild des Menschen, das dieser sich selbst als Antwort auf Diskriminierungen von Menschen durch Menschen macht, sondern stellt in der Entdecktheit seiner falschen Vernunft selber eine menschliche Herausforderung dar. In der Vernunftideologie der Selbsterhaltung sehe ich so genau die herrschende Diskriminierung menschlicher Lebenspraxis als einer menschlichen. 49 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
Es dürfte kaum eine Zeit gegeben haben, in der man alarmierter und alarmierender nach Vernunft gerufen hätte als in der heutigen. Spätestens seit ein Club of Rome die statistische Gegenwart des Menschen auf groteske Weise zur menschlichen Zukunft fortschrieb, scheint ein neues oder auch altes Vernunftbild des Menschen wahrlich gefragt zu sein. Bei Philosophen führt das dazu, dass sich idealtypische und lebenspraktisch untaugliche Konzepte einer ›praktischen‹, ja eben moralischen Vernunft mehren (Konfliktlösungsstrategien, Optionen für das bessere Argument), die darauf setzen, dass Vernunft moralisch unhinterfragbar, autonom und kreativ sei. Es gibt freilich auch weniger prätentiöse Berufsgenossen, die zur Bewältigung menschlicher Probleme wie der sozialen und ökonomischen einfach den universellen Standpunkt als Beraterstandpunkt anbieten. Mit all dem versteht man sich m. E. überhaupt noch nicht auf die Frage, die mit der Selbsterhaltungsideologie durchgängig gestellt ist. Wegen der in Sachen Mensch unversehens allgegenwärtigen falschen Vernunft legt sich der Versuch nahe, einen Blick auf menschliche Lebenspraxis zu riskieren, der nicht sogleich auf menschliche Vernunft fixiert ist.
III. Das Leben des Menschen 1.
Revision des Verhältnisses von Leben und Vernunft
»Menschlich« hat die doppelte Bedeutung des dem Menschen Eigentümlichen und des ihm Angemessenen. Wird das Menschliche des Menschen in der Vernunft gesehen, dann steht je nachdem im Blick, dass der Mensch Vernunft habe oder zum Gebrauch der Vernunft bestimmt sei. Begreift man den menschlichen Menschen als den vernünftigen, so hat man damit auch schon den – wahrhaft – lebendigen Menschen gedeutet. Das Belebte sei das Beseelte. Der Mensch als Mensch sei artprägend – durch Denkseele belebt. Der lebendige menschliche Mensch sei nicht Tierheit. In diesem Verstande ist menschliches Leben – gut aristotelisch – allein vernünftiges: der am meisten Mensch seiende und schon göttliche Mensch lebt (lebt gut!), indem er absolut vernünftig tätig ist und der reinen Theorie ›nachgeht‹. 19 19
Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 9 1179 a 30 ff.
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Leben und Vernunft
In dieser Konstellation von Leben, Vernunft und Menschlichkeit zeichnet sich klar die Vorstellung ab, dass der Mensch, so er ein Wesen der Entwicklung ist, in der vollkommenen Ausbildung und Einheit der Drei seinen Endzweck habe und, von daher gesehen, ein Selbstzweck sei. Menschliche Lebenspraxis und Menschlichkeit des Menschen sind auf diese Weise bereits in die verselbständigte Vernunft aufgehoben. Wissen wir bei Aristoteles nicht, was der glückselige und vollends lebendige Mensch eigentlich denkt, so wissen wir bei Kant nicht, was der homo noumenon rein als der, der er ist, unter seinesgleichen überhaupt lebenspraktisch tut. Beide Male bleibt uns nur die Vorstellung einer reinen Selbstbeziehung von Vernunft erhalten. Vernunft, wie sie in ihrer verdeckten Selbstbeziehung nachzuweisen ist, nenne ich falsche Vernunft. Sie tritt z. B. als das Vermögen des ›kategorischen‹ Imperativs auf. So gesehen ist sie das reine Universalisierungsprinzip (Prinzip der allgemeinen Nichtlädierung des Wollens und Tuns) und zudem die das reine Universalisierungsprinzip vertretende argumentative Vernunft. Diese Vernunft kann zugleich als Wesensbestimmung des Menschen gedacht sein. Demgegenüber ist richtige (korrigierte) Vernunft als Vermögen des ›hypothetischen‹ Imperativs zu bestimmen. Vernunft verfügt über kein ursprüngliches Wenn. Rationalisiert sie Ziele, dann hat sie diesen gegenüber nie mehr als dienende Funktion. Das Vernünftigste und zugleich Menschlichste, was der so bestimmten Vernunft angesichts des menschlichen Lebens zu tun bleibt, ist einzusehen und zu vertreten, dass von diesem Leben einzigartig nicht zu sagen ist, es sei vernünftig oder es sei nicht vernünftig. 20 Leben ist Maßstab von Vernünftigkeit, nicht Vernunft. Vernunft hat überhaupt kein Recht zu behaupten, es sei vernünftig, vernünftig zu sein. Es ist vielmehr menschliches Leben, das jeweils zielsetzend Vernunft in seinen Dienst nimmt. Sind alle Zwecke rationalisierte Ziele, dann ist genau vom menschlichen Leben weder zu sagen, es habe einen Zweck noch es habe keinen. Durch ihre Indienstnahme erhält nicht Leben, sondern Vernunft einen Sinn. Der Sinnhorizont von Vernunft kann allein ihre eigene Dienstbarkeit sein. Spricht sie dem Einzelnen zu, es sei vernünftig, vernünftig zu leben, dann verkehrt sie Leben (und seine Erhaltung) in reines Vernunftinteresse. Der Sinnhorizont menschlichen Lebens ist aber weder als rational noch als irrational anzusprechen. Hätte Ver20
Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 50.
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Leben und Vernunft
nunft als Vermögen des hypothetischen Imperativs hierzu doch etwas zu sagen, dann verfiele sie nur wieder der Idee, sich selbst zu vermessen: ihren Dienst für den Menschen zu verabsolutieren. Obwohl allein zielrationalisierend, gebärdete sie sich ›kategorisch‹.
2.
Menschlich geteiltes Leben
Leben, das ggf. Vernunft in den Dienst nimmt, ohne mit seinen Zielsetzungen beliebig Unmenschlichkeiten den Weg zu bereiten, erfordert eine neue Verständigung des Menschen über sich selbst. Ich entwerfe im folgenden – thetisch – eine Skizze dieser Verständigung. 21 Meine am weitesten zielende These lautet: Die gemeinschaftliche Lebenspraxis, in der sich menschliche Lebens- und Handlungsbefähigung bewährt und erneuert, ist ihrem Grundzug nach geteiltes Leben. In dem Bewähren hat das geteilte Leben eine Zeitgestalt, im Erneuern ist es augenblicklich. Was sich als Erneuerung menschlicher Lebensbefähigung in augenblicklicher (praktisch-unmittelbarer) Lebensteilung eigentlich vollzieht, deute ich als gemeinschaftliche Selbstbejahung und Gewissensbildung. Was dabei als Selbstbejahung angesprochen ist, darf nicht als ein durch allgemeine Mentalität und Emotionalität initiierter und gesteuerter, schließlich rein im Individuum ablaufender Prozeß der Selbstannahme, Selbstschätzung und Selbstverwirklichung verstanden werden. Gebildetes Selbst und bildendes Selber der Selbstbejahung sind in ihrer Augenblicklichkeit durch und durch Gemeinschaftliches. Selbst und Selber der Selbstbejahung sind kein Subjekt (Ich oder Wir), haben kein Subjekt, und dies schon deshalb nicht, weil es in diesem Bildungsprozess zu keiner Art mentaler Methodische Absicherung und inhaltliche Füllung des Skizzierten findet sich in folgenden Veröffentlichungen: R. Marten, Versuch über die philosophische Bestimmung des Gewissens, in: H. Holzhey (Hrsg.), Gewissen?, Philosophie aktuell, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1975; ders., Glauben als wahrheitsfähiges Handeln, in: Neue Zeitschr. für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 19 (1977); ders., Philosophische Überlegungen zur psychoanalytischen Situation, in: Zeitschr. für Klinische Psychologie und Psychotherapie 26 (1978); ders., Der Philosoph vor der Frage der Folter, in: Frankfurter Hefte 6 (1977); ders., Heideggers Heimat. Eine philosophische Herausforderung, in: U. Guzzoni (Hrsg.). Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980; ders., Bemerkungen zur Positivität des lebenspraktischen Nicht, in: C. Nedelmann/G. Jappe (Hrsg.), Zur Psychoanalyse der Objektbeziehungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980.
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Leben und Vernunft
Selbstgegenwart kommt. Dennoch möchte ich gerade dies Selbst nicht von jeder Art Wissen ausschließen. Auf die Gefahr hin, das Wort zur Äquivokation zu bringen, spreche ich von einem Mitwissen. Was da mitgewusst wird, lässt sich seiner Form nach aus dem bestimmen, was im Bilden des Selbst gemeinschaftlich des näheren (mit-)gebildet wird. Ich verstehe das Selbst der Selbstbejahung als das dimensionierte Ganze menschlicher Lebens- und Handlungsbefähigung. Die grundlegende Dimensionierung dieser Befähigung hat, wie ich es sehe, drei Aspekte – menschliche Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart. Nichts davon darf leer und abstrakt vorgestellt werden, nichts davon ist vorgegeben, nichts davon ist von der Art eines transzendentalen Handlungsrahmens, nichts davon ist an menschlichen Individuen als solchen zu verifizieren. Die Drei stellen vielmehr – gegliedert – das dar, was in der Erneuerung menschlicher Lebensbefähigung jeweils erneuert und sogleich der Bewährung ausgesetzt wird. Endlichkeit ist die des Einen durch den – signifikant – Anderen (kein Mensch ist jeder – lebensbefähigend beendet der Eine den Anderen), Öffentlichkeit ist die des Einen für den Anderen, Gegenwart ist die des Einen und des Anderen (zu unterscheiden als Raum- und Zeitgenossenschaft). Somit ist die gemeinschaftliche Selbstbejahung als eine solche der Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart zu sehen, die gemeinschaftliche Gewissensbildung als die eines durch augenblickliche Bildung von Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart gegründeten Gewissens. Die Rede vom Augenblick ist in diesem Zusammenhang nicht durch Konnotationen wie kleinste Zeit oder Ewigkeit bestimmt, sondern durch die Zugewandtheit des Einen und Anderen zueinander, aus der sich allererst die Perspektiven lebenspraktischer Dimensionen gewinnen lassen. Die augenblickliche Gründung von Lebensbefähigung in der dreigestaltigen Zugewandtheit des Einen und Anderen wird als solche gewusst. Dies Wissen um praktische Gemeinschaftlichkeit schlägt sich aber nicht im je einzelnen Bewusstsein nieder, sondern in der Lebensbefähigung selbst. Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart als grundlegende Dimensionierung geteilten Lebens prägen die Form dieser Mitwisserschaft. Sie gehört zur lebendigen Unmittelbarkeit glückenden Menschseins. Ich sehe keinen Grund, dies Glücken zu tabuisieren. Es besagt schlicht, dass Lebensbefähigung neu gegründet und sogleich bewährt wird. Es stellt keine subjektive Wertung dar, vergeht nicht wie ein Traum, sondern ist die grundlegende ›Tathandlung‹ des Menschlichen. Zugleich ist es lebendige menschliche Selbstgewissheit. 53 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
Die Mitwisserschaft glückenden Lebens gibt lebenspraktische Kriterien an die Hand für die Entscheidung von Menschlich oder Unmenschlich. Jede Diskriminierung von Menschen durch Menschen zeigt sich genau dann in ihrer Unmenschlichkeit, wenn sie, Lebensbefähigung beeinträchtigend, in die Dimensionierung des gemeinschaftlich gebildeten Selbst eingreift. Die ideologisch begründete und praktisch wirksame Verweigerung von lebens- und handlungsbefähigender Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart – genau das ist Unmenschlichkeit. Auf diese Weise vollzieht sich in der gemeinschaftlichen Selbstbejahung und Gewissensbildung die Grundlegung für die Möglichkeit, ein Kriterium für Menschlich und Unmenschlich verbindlich zu gebrauchen. Menschlichkeit ist, so gesehen, kein anzustrebendes Ideal, schon gar keine gegebene Eigenschaft, sondern der lebenspraktisch in jeweils glückender gemeinschaftlicher (Neu-) Gründung von Lebensbefähigung erworbene ›ideale‹ Maßstab zur Beurteilung von Zeitgestalten menschlicher Lebenspraxis als menschlichen. In den augenblicklich gebildeten lebenspraktischen Dimensionen kann sich menschliche Lebensbefähigung zeithaft bewähren oder verlieren. Die Zeitgestalt menschlicher Lebenspraxis beschwört jederzeit die Gefahr ihrer Verselbständigung gegenüber dem gemeinschaftlichen Augenblick und damit die Möglichkeit einer Kehrtwendung gegen die Grundlage menschlicher Lebensbefähigung herauf. Die Ideologie menschlicher Selbsterhaltung bildet kein brauchbares Kriterium für Menschlich und Unmenschlich aus. Das Selbstbewusstsein, wie es die beschränkt-bürgerliche Selbstwertschätzung begleitet, ist sogar in jedem Falle ein ausgesprochen unmenschliches. In ihm zeigt sich eine Verselbständigung gegenüber dem Grund menschlicher Lebensbefähigung. Unmenschlich besagt in diesem Falle nicht mehr und nicht weniger, als dass es auf keiner Mitwisserschaft des an seinen befähigenden Augenblick gebundenen und glückenden Lebens gründet. Um unmenschlich zu sein, muss also die – falsche – Vernunft dieses Selbstbewusstseins gar nicht ›verkrampft‹ (etwa als ›vernünftige‹ Selbst- und Triebbeherrschung), müssen seine gesteckten Handlungsziele nicht ›böse‹ sein. Die Menschlichkeit des Menschen entscheidet sich im AugenBlick des Einen und Anderen, ist jedoch nicht auf ihn fixiert. Lebenspraktisch vollzieht sich jeweils eine Verzeitlichung des Augenblicks der Selbstbejahung. Die augenblickliche Gründung und Erneuerung menschlicher Lebensbefähigung ist, zeithaft gesehen, schon ihre Bewährung. Das Ganze, das lebenspraktisch in den Dimensionen von 54 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
Endlichkeit, Öffentlichkeit und Gegenwart geteilt wird, ist die Zeitgestalt (›Verzeitlichung‹) des lebensbefähigenden Augenblicks. Das jeweilige lebendige Ganze sich bewährender Menschlichkeit ist die im Augenblick gegründete und sich ihm gegenüber nicht verselbständigende lebenspraktische Zeit. Nähere Bestimmungen zeithafter Lebensteilung ergeben sich aus den besonderen Qualitäten der lebenspraktischen Dimensionen. Der Eine und der Andere können Gesichtsfeld und örtliche Bindungen teilen, Zuneigung und Geschmack, lebensgeschichtliche Vergangenheit und neue Lebensmöglichkeiten, Vertrauen und Sprache, Verantwortung und Leid. Die Frage der Menschlichkeit dieser Teilungen von Lebenspraxis ist eine Frage bewahrter Unmittelbarkeit glückenden Menschseins in gemeinschaftlicher Selbstbejahung und Gewissensbildung. Thematisch ist damit die Frage nach der möglichen lebenspraktischen Teilung von Vernunft gestellt.
3.
Menschlich geteilte Vernunft?
Menschliche Lebensteilung, wie ich sie als augenblicklich und zeithaft bestimme, hat keinen Anteil an der Ideologie menschlicher Selbsterhaltung. Diese Bestimmung dient im Gegenteil dazu, die Unmenschlichkeit dieser Ideologie zu kontrastieren. Geteiltes Leben ist darum jedoch keineswegs eine Entfremdungsgestalt der Vernunft, kein pathologisches Pendant zu ihr. Vernunft als Vermögen des hypothetischen Imperativs wird in allen lebenspraktischen Dimensionen, insofern sie zeithaft zur Bewährung gestellt sind, geteilt. Um gemeinsame Ziele gemeinsam als Zwecke zu verfolgen, wird Vernunft unter anderem geteilt bei der Verwendung derselben Verhaltensregeln (Spielregeln usw.), im Gespräch, in der Beratung, im Planen, im Erklären und Begründen. Doch entscheidend für diese Einsicht ist, dass auch falsche Vernunft geteilt wird – in der gemeinsamen Ideologie, dass auch ›kalte‹ Vernunft geteilt wird – in der praktisch wirksamen Diskriminierung von Menschen durch Menschen. Wir können nicht beliebig Platons Gedanken für uns lebenspraktisch realisieren, dass die vernünftige Einsicht ausschließlich gutes (›menschliches‹) Handeln zur Folge hat. Ebenso wenig können wir Kants Gedanken lebenspraktisch realisieren, dass Vernunft moralisch gesetzgebend ist. Vernunft, wie wir sie als Vermögen des hypothetischen Imperativs zu gebrauchen verstehen, verfügt über kein ur55 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Leben und Vernunft
sprüngliches Wenn. Um agieren zu können, ist sie auf Vorgegebenes angewiesen. In ihrer allein dienenden Funktion ist sie grundsätzlich der Unmenschlichkeit, d. h. der Diskriminierung und Läsion des lebensfähigen Menschen als solchen fähig. Allein im Hinblick auf das formalistische Programm ihrer Selbsterhaltung (Prinzip ihres Nichtwiderspruchs) bietet Vernunft für sich das Bild universaler Friedfertigkeit und Verträglichkeit – allerdings ohne jeden Zug menschlichen Lebens. Nimmt man jedoch Vernunft als das, was, zureichend entwickelt, die Triebe beherrscht zugunsten menschlicher Lebensbefähigung, dann muss man sich vorsehen, dies Vernunftbild vom Menschen nicht zum Wesen zu verselbständigen, sondern darauf achten, es als Strategie zu benutzen, z. B. als therapeutische. Der Mensch nämlich ist nicht so, lebt nicht so. Die augenblickliche Grundlegung von Lebensbefähigung erfolgt aus gemeinschaftlicher Lebenspraxis, nicht aber aus individuell ›geglückter‹ Ichstärke, die grundsätzlich für jeden Egoismus und jede Unmenschlichkeit gut ist. Vernünftiger Triebverzicht – das gelingt auch zuzeiten dem Mafioso zu seinem Glück. Die bisweilen vertretene Ansicht, ein ›wahrhaft‹ gesunder, etwa ein ›wirklich‹ therapierter Mensch könne nurmehr gut handeln, versieht sich schon allein an der möglichen Verselbständigung der Zeitgestalt menschlicher Lebenspraxis gegenüber der augenblicklichen Grundlegung menschlicher Lebensbefähigung. Vernunft als Imperativ gehört sicherlich zur Zeitgestalt glückenden menschlichen Lebens. Sofern dies aber fortwährend Gefahr läuft, sich gegenüber dem Augenblick gemeinschaftlicher Selbstbejahung und Gewissensbildung zu verselbständigen und so von ihm zu lösen, ist es auf ausgezeichnete Weise die imperative Vernunft, aus der sich und an der sich diese Verselbständigung vollzieht. Menschliche Gewissenlosigkeit und d. h. Unmenschlichkeit gibt sich nicht als Brachialgewalt zu erkennen, sondern als falsche imperative Vernunft. Es ist dies im Prinzip die Ideologie, die den Menschen, insofern er vernünftig ist, als End- und Selbstzweck setzt, indem sie gegen die Sache des menschlichen Lebens einseitig die Sache ›der‹ Vernunft betreibt (der biologischen, politischen und philosophischen, d. h. der arglos projizierenden, der kalten und der universellen Vernunft). Auf solche Weise wird die verselbständigte Vernunft DAS Indiz des Unmenschlichen. Die Ideologie menschlicher Selbsterhaltung und das ihr zugehörige Selbstbewusstsein sind die maßgeblichen Namen dieses Indizes. 56 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die freie Vergeblichkeit des Lebens
Nach einer alten Rede ist alles vergeblich, das meint nichtig, eitel, umsonst. Die Flüsse, so sie auch ausnahmslos dem Meere zufließen, machen dasselbe nicht voll, rechnet uns jener Prediger vor 1, das Auge, so weit es auch sieht, wird vom Sehen nicht voll, bekommt nicht genug 2. Eine merkwürdige Rechnung: Wir schauen vergeblich, weil die Augen, solange wir wachen und leben und sie voll Licht sind, immer wieder neu sehen – schon Gesehenes und neu zu Sehendes. Doch es kommt noch besser: Alle meine Mühen sind umsonst, weil alles, was ich auch gewinne, einem anderen, der nach mir kommt, zu überlassen ist 3. Resultat: Da ward mir das Leben verhaßt. Denken Sie nur einmal: Sie haben ein Haus in schönster Wohnlage. Es ist gut gedeckt, reich umblüht, froh bewohnt. Da aber kommt, vom Nachdenken geweckt, Haß in Ihnen hoch: Sie können das Haus nicht mit ins Grab nehmen. Die Kinder erben es. Der Haß wider das Leben ist es, weil es die vergeblichen Mühen und Hoffnungen des Lebens sind. Das Leben haßt sich in seiner Vergeblichkeit selbst. Und warum eigentlich? Antwort: Weil es nur Leben ist. Dem Leben wird hier überraschenderweise allein darum seine Nichtigkeit voller Haß nachgesagt, weil es nichts als Leben ist, das aber heißt, weil es als Leben zwar im Augenblick ein Am-Leben-Sein ist, aber auf Dauer kein Am-Leben-Bleiben verspricht. Das Leben wird als vergeblich (lat. frustra) gedeutet, weil es zeitlich und endlich ist und eben selbst nicht Leben bleibt. »Ich kann nichts mitnehmen« – das ist so gut wie alles, was uns dieser frühe Buchhalter des Lebens zum Sinn desselben zu sagen weiß. Mit dem Leben und den ihm eigenen Anstrengungen stehen wir von vornherein und unaufhebbar im Minus.
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Prediger 1,7. Ebd., 1,8. Ebd.,2,18; 21.
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Die freie Vergeblichkeit des Lebens
Man möchte es kaum glauben: Da schallt einem ganzen jüdischchristlichen Abendland die »Vergeblichkeit der Vergeblichkeiten« um die Ohren, dieses »Es ist alles ganz eitel«, und das allein darum, weil einer nicht – zur Unzeit – die Augen voll bekommt und das Haus schultern kann. Noch merkwürdiger aber scheint mir, daß dieser Rechner nicht allein geblieben ist. Nein, bis zum heutigen Tage findet er seine phantasiebegabten Nachfahren. Ich wähle als Zeugen aus der Mitte unseres Jahrhunderts den Philosophen Albert Camus. Hören Sie nur: So trügt uns im Alter eines geruhsamen Lebens die Zeit. Stets aber kommt ein Augenblick, da wir sie tragen müssen. Wir leben auf die Zukunft hin: »morgen«, »später«, »wenn du dazu in der Lage bist«, »wenn du älter bist, wirst du’s verstehen«. Diese Inkonsequenzen sind bemerkenswert, denn schließlich müssen wir ja doch sterben. 4
Das ist doch wieder völlig absurd, was jetzt auch dieser neue Bilanzzieher mit unserer Lebenszeit anstellt. Jedes »morgen«, »später«, »älter« sei eine Fehlkalkulation, so rechnet er uns vor, weil wir ja ohnehin sterben müßten. Sich für morgen beim Zahnarzt anzumelden und für übermorgen mit Irene zu verabreden – welche Inkonsequenz, hören wir ihn sagen, wenn doch ein letztes Morgen ins Haus steht. Unser kalkulierender Philosoph, das wird ganz deutlich, verstünde menschliches Leben allein dann positiv zu bilanzieren, wenn mit überhaupt keinem Tod zu rechnen wäre. »Mein Acker«, sagt Goethe, »ist die Zeit«. Dazu sagt dieser Philosoph nur eins: Das ist das wahrhaft absurde Losungswort. 5 Seine Vernunft ist ganz offensichtlich so programmiert, das Leben nicht anders als vergeblich verstehen zu können, weil es einzig Lebenszeit, nicht aber Lebensewigkeit verspricht. Steigt auch kein Haß in ihm auf, so bekennt er doch, von der Lebenswirklichkeit wegen ihrer Zeitlichkeit und damit Endlichkeit enttäuscht zu sein. 6 Audiatur et altera pars – der Utilitarismus drängt sich auf. In ihm finden wir eine sich seriös gebende Buchhaltergilde vor, die mit nichts anderem beschäftigt ist als mit der positiven Bilanzierung des
Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Reinbek 1961, S. 17. 5 Ebd., S. 59. 6 Ebd., S. 46. 4
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Lebens. Nach der Vergeblichkeit des Lebens als seiner Quintessenz werden wir bei ihr vergeblich suchen. Das Prinzip der Nützlichkeit, wie es Jeremy Bentham in seinem Werk An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (London 1789) erläutert, ist Grundlage und Anfang aller Lebenspraxis, die sich rechnet. Weil es nämlich das Prinzip des größten Glücks oder der größten Glückseligkeit sei, verstehe es sich darauf, den Handelnden einzig auf die Hervorbringung von Gewinn, Vorteil, Freude, Gutes oder eben Glück zu programmieren, Unheil, Leid, Böses oder Unglück aber aus seiner Lebenssicht und seinem Lebenssinn zu verbannen. Wir sind bei dem, was sich die Menschen, über ihre lebensökonomische Situation aufgeklärt, zu ihrem vermeinten Besten am meisten wünschen. Das Prinzip der Nützlichkeit ist das des technischindustriellen Fortschritts, in dem das Prinzip individuellen menschlichen Wünschens lebendig ist. Was aber wünscht sich der so aufgeklärte Mensch eigentlich? Am Ende dies, wie bei unserem utilitaristisch denkenden Zeitgenossen Peter Singer nachzulesen, daß das unwerte menschliche Leben getötet wird, auf daß das werte menschliche Leben – Person für Person – seinen Selbstwert so ausgiebig wie nur möglich genieße. Der Freiburger Mediziner Alfred Hoche, mit dem derzeit eine bekannte Markgräfler Weinkellerei als dem Verfasser lebensweiser Worte wirbt, sollte hier nicht vergessen werden. In seinem Beitrag zu Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920, sieht er die geistig Behinderten für »geistig Tote« mit »Fremdkörpercharakter« an und begreift ihre »Beseitigung« und »Abstoßung« (töten kann man ja bereits Tote nicht mehr) als »(u)nsere deutsche Aufgabe« an. Schon er macht dabei den Begriff des Menschen am Begriff der Person fest. Nur eine Person versteht es, den Wein – wörtlich – »zu den positiven Glücksgütern« zu zählen und »der hohen Gnaden, die er uns zu geben vermag, teilhaftig (zu) werden«. Mit einem Wort: Lebensgenuß, der Lebenswert bedeutet, ist etwas für Personen. Fortschritt kontra Sisyphos, pursuit of happiness kontra heroische Bejahung des absurden Lebens (soweit denn Vernunft, die ihr unüberbietbares Opfer zu bringen meint, überhaupt das Heroische auszuspielen versteht)? Nein, von großem Kontra keine Spur. Hier sind dieselben Rechenmeister am Werk – mit dem Unterschied, daß wir in dem Philosophen, der mit dem Tod nicht kann, einen Bilanzierungspuristen, ja -fundamentalisten vor uns haben, während 59 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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sich die bunte Schar der Utilitaristen als die wahrer Bilanzierungskünstler, wenn nicht Bilanzfälscher präsentiert. Sehen wir nur noch einmal etwas genauer hin. Die vernünftige Welt – so, wie sich das die todverschreckte und lebensfremde Vernunft denkt, kann und will das unsere Lebenswelt gar nicht hergeben. Der befriedigte Wunsch dagegen, das erfolgreiche Glücksstreben – so, wie sich das der nüchterne Kosten-Nutzen-Rechner denkt, gibt das unser durchschnittliches Leben in Fortschritts- und Wohlstandsgesellschaften wirklich immer wieder einmal her. Das ist der ganze Unterschied: Der eine will die Taube auf dem Dach der Ewigkeit, der andere begnügt sich mit dem Spatz in der Hand der Zeit. Dennoch eint beide im letzten die Zeit. Weil nämlich Ewigkeit, wenn überhaupt, jedenfalls zu Lebzeiten nicht zu haben ist, begibt sich die geopferte Vernunft, absurd, wie sie ist, ebenfalls in das Revier der Zeit. Ihre Lustbefriedigung allerdings hat, im Unterschied zu der des Spatzenfangers, klare masochistische Züge: Die eigentlich enttäuschte Vernunft befriedigt sich an ihrer fortwährenden Selbstopferung. Sisyphos als die perfekte, sich selbst Gewalt antuende Selbstbefriedigung. Kann da der Utilitarist mit seinem Sinn für Wunschbefriedigung durch zivilisatorischen Fortschritt wirklich noch vergleichbar mithalten? Wie also sieht der Wiederholungszwang bei den Prinzipiengängern des fortschrittlich genutzten Lebens aus? Ganz offensichtlich brauchen sie den Fortschritt, weil alles, was ihrem Glück dient, einmal genossen, auch schon abgenützt ist. Ein Leben, das allein als zu etwas genutztes und erfolgreiches sich rechnet, braucht die unausgesetzte Veränderung, Erweiterung und Steigerung der Nutzgüter. Der Wiederholungszwang zeigt sich so als Fortschritts- und Neuerungszwang. Eine – vergleichbare – selbstzerstörerische Lust scheint auf. Die so am Fortschritt Partizipierenden haben nämlich nicht nur an allem genug und übergenug, was da Fleisch und Milch, Öl und Gold, Blech und Plastik, Papier und Beton ist, sondern auch an Dreck und Müll, Ozon und CO2, Waffen und Drogen – und dies in ständiger Konfrontation mit relativer und absoluter Armut. Damit das alles so bleibt, ja eben zunimmt (die Fortschrittspartei kann und will nicht anders), hat man jetzt die Feiertage ins Gespräch gebracht: den Pfingstmontag, den so jungen 3. Oktober, das traditionelle Epiphanias. Ein Leben, das sich nicht nahezu, sondern wirklich um jeden Preis – fortschreitend – rechnen soll, bezahlt den Lebensgenuß mit dem Leben selbst. Das ist Hedonie der Selbstzerstörung total – mit der Pointe, daß sie nicht wie die absurde Vernunft im Kopf 60 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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einzelner rein geistiger Selbstüberwinder statthat, sondern Hand an die Lebenswelt selbst legt. Genug davon. Das Bild ist hinreichend klar. Ich lebe, damit ich etwas für mein Leben bekomme: den Lustgewinn pervertierter Vernunft oder den des pervertierten Lebens – das ist sich im Prinzip gleich, allerdings wirklich nur im Prinzip. Nun sind wir ja aber in den Vergleich dieser beiden Lebensbilanzierungsarten wie zufällig geraten. Wollen wir dem jetzt schon nahezu an sein Ende reichenden Jahrhundert gerecht werden, dann fehlen insbesondere noch zwei Positionen, die sich in ihm zeitweise in bestimmten Öffentlichkeiten gegen die vermeinte Vergeblichkeit des Lebens ins Zeug gelegt haben: die Kritische Theorie und die Existentialontologie. Sehen wir uns zunächst das Denken an, das sich auf Kant und Hegel beruft, wie sie durch Marx und Marxismus geläutert sind. Da entdeckt sich, daß die Selbstbefriedigung der vom Leben abgekoppelten philosophischen Vernunft neben der bereits ausgeführten masochistischen auch noch eine tagträumerisch-phantastische Variante hat: Phantastisch sind die Utopien der durch Vernunft und durch nichts als Vernunft geheilten Lebenswelt in der Tat. Doch wo bleibt da überhaupt das Leben? In der historischen Gegenwart und das heißt inmitten des Vergeblichen ist das eigentliche Leben vertagt – ad calendas graecas. Der vernunftkritisch gedeutete Mensch und sein vernünftiger Kritiker leben also eigentlich gar nicht und hätten insoweit auch nichts zu wiederholen, wenn es nicht eben die Kritik der Gegenwart und der Entwurf des historisch Unmöglichen wäre, durch die der Tagträumer vor sich selbst und den Seinen immer wieder neu als redlich und vernünftig brillierte. In aller Öffentlichkeit wiederholt er die Kritik, den Kampf der Vernunft gegen die lebendige Geschichte und jedes gelebte Leben, um so nur seine Enttäuschung zu wiederholen, daß das Leben nicht so ist, wie er es sich denkt – ganz abgesehen davon, daß er es diesseits seines geistig-abstrakten Daseins nicht selten tröstlich versteht, sein intellektuelles Mißvergnügen mit reizendsten Amouren, »bürgerlichem« Kunstgenuß und Immobilienerwerb zu kompensieren. Weil die Geschichte philosophisch erdachter Unvernunft weiter reicht als jedes von kritischen und unkritischen Geistern gelebte Leben, kann das kritische Geschäft eines vermeinten Bewußtseinsveränderers nur das eines Sisyphos sein. Hat er die Kritik wieder einmal auf den »Punkt« gebracht, dann muß er zusehen, wie das Kritisierte ungerührt weitermacht (es wird ja de facto von der Kritik auch gar 61 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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nicht getroffen) und sogar noch einmal zulegt an Affirmation gegenwärtig gelebten Lebens. Die Kritik, wie trefflich sie in des Geistes Augen sein mag, hält nicht – sie hält nicht am Kritisierten und hält auch nicht für den Kritiker, was sie ihm laut oder insgeheim verspricht. Der im Selbstzwang der Utopie Stehende muß seine abgekoppelte kritische Vernunft jeden Tag von neuem mit ihren Haltlosigkeiten beginnen lassen. Der kritische Theoretiker hat einen Bruder im Geiste: den Existentialontologen. Auch dieser setzt auf ein eigentliches Leben, auch dieser sieht es vertagt – mit dem Unterschied, daß sich für ihn die geistigen Dinge nicht theoretisch im Kopf abspielen, sondern der geistige »Einsatz« die geistige Existenz des »Daseins« im ganzen erfaßt. In Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), § 68a, S. 338 heißt es: Er [der Augenblick im aktiven Sinne als Ekstase] meint die entschlossene, aber in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet.
Der Satz ist leichter zu verstehen, als es beim ersten Hören den Anschein hat. Es kommt nur darauf an, sich an den Gedanken der Entschlossenheit zu halten, wie er allem zuvor die Bereitschaft im Blick hat, sich aus der Verlorenheit an die gesellige Gegenwart von Menschen in dem mit ihnen geteilten Leben zurückrufen zu lassen 7 in die radikale Einzelnheit der Existenz. Diese nämlich ist als solche zu keinerlei Was und Etwas entschlossen 8, sondern einzig zu sich selbst: zum eigentlichen Selbstverstehen und Selbstseinkönnen. Und was gibt es da zu verstehen und zu sein? Nichts anderes als das Dasein in seinem endlichen Da! Was für Heidegger das Dasein »eigentlich« kann, ist im wesentlichen dies, daß es jederzeit von seiner Endlichkeit real eingeholt werden und in Nichtmehrdasein übergehen kann. 9 Dieses Der-Fall-seinKönnen wird von ihm in das eigentliche Seinkönnen des Daseins selbst umgedeutet: Das Dasein kann seine Endlichkeit sein, seine Sterblichkeit und Tödlichkeit (mortalité). Das und nur das ist der radikale Sinn der Entschlossenheit: ekstatische Tödlichkeit. Im Wintersemester 1929/30 führt Heidegger dazu weiter aus:
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Ebd., § 60, S. 299. Ebd., S. 298. Ebd., § 47, S. 237.
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Dieses Sichentschließen des Daseins aber zu sich selbst, d. h. dazu, … je das Bestimmte zu sein, was zu sein ihm aufgegeben ist, dieses Sichentschließen ist der Augenblick. 10
Das Dasein entschließt sich, wie Sie inzwischen wissen, zu nichts Bestimmtem. Es entschließt sich vielmehr allein, um nichts als entschlossen zu sein – sc. selbstentschlossen, zu sich selbst entschlossen. Diese Selbstentschlossenheit aber, heißt es jetzt, sei der Augenblick, die Entrückung in die eigenste Tödlichkeit. Wir lesen weiter im Text: Nur im sich Entschließen des Daseins zu sich selbst, im Augenblick, macht es von dem Gebrauch, was es eigentlich ermöglicht, nämlich der Zeit als dem Augenblick selbst. Der Augenblick ist nichts anderes als der Blick der Entschlossenheit.
Fazit: Das Da und Daß des Daseins hält sich selbstentschlossen und seines eigensten einstmaligen Nichtmehrdaseins gewiß im reinsten Daß der Zeit: in der Zeit, die nicht zu zählen ist, in der nichts abläuft, die eben nicht mehr und nicht weniger als die eigenste Zukünftigkeit und Tödlichkeit des Daseins ist. Ja, das ist nun der perfekte Antinihilismus, die vollkommene Sinngebung für Sein und Leben. Wo ist denn aber dabei das zu lebende Leben geblieben? Nein, für des Menschen Leben hat der Da- und Daß-Seinsdenker, wo und wenn es ihm ganz ernst wird, kein zu lebendes Leben, sondern allein den Tod im Sinn – für die eigentlich Lebenden und geistig Existierenden am besten den Opfertod, für die uneigentlich Lebenden und leibhaft Existierenden schlicht die »Vernichtung«. In seiner Parmenidesvorlesung im Kriegswinter 1942/43 verkündet Heidegger: Die höchste Gestalt des Schmerzes aber ist das Sterben des Todes, der das Menschsein opfert für die Wahrung der Wahrheit des Seins. Dieses Opfer ist die reinste Erfahrung der Stimme des Seins. Wie aber, wenn dasjenige geschichtliche Menschentum, das gleich den Griechen zum Dichten und Denken berufen ist, das deutsche, wie aber, wenn dieses zuerst die Stimme des Seins vernehmen muß! Müssen dann nicht hier die Opfer sein, gleich viel, durch welche Ursachen im nächsten sie ausgelöst werden, da das Opfer in sich sein eigenes Wesen hat und keiner Ziele und keines Nutzens bedarf! 11
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Die Grundbegriffe der Metaphysik. GA Bd. 29/30, Frankfurt 1983, S. 224. Parmenides, GA Bd. 54, Frankfurt 1982, S. 249 f.
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Dem Sein und der Wahrung seiner Wahrheit sterben – im Opfertod vereinigen sich die eigenste Tödlichkeit und der eigentliche Tod. Heideggers deutscher Held zieht denkerisch und dichterisch in den Krieg: Darum haben (so schreibt er im Humanismusbrief 12) die jungen Deutschen, die von Hölderlin wußten, angesichts des Todes Anderes gedacht und gelebt als das, was die Öffentlichkeit als deutsche Meinung ausgab.
Die eigentlichen Deutschen gehen geistig in den Tod, wenn denn geistig heißt: entschlossen-ekstatisch die eigenste Tödlichkeit der Existenz des Da auszustehen. Für Leben, das am eigensten Sinn von Sein und Leben vorbeilebt, ist anderes vorgesehen. Ich lese Ihnen das dazu verfaßte Wort aus dem, was Heidegger das »Selbstgespräch des wesentlichen Denkens mit sich selbst« nennt 13, vor. Als ich es selbst zum ersten Mal las, wollte ich nicht glauben, daß es da wirklich steht, und war noch immer überrascht, als ein anderer mir versicherte, daß es das tut. Es lautet: Gibt es aber einen härteren Beweis für die Seinsverlassenhcit als diesen: daß die im Riesigen und seiner Einrichtung sich austobende Menschenmasse nicht einmal dessen mehr gewürdigt wird, auf einer kürzesten Bahn die Vernichtung zu finden? Wer ahnt den Anklang eines Gottes in solcher Versagung? 14
Das ist, in exoterisch gemeinter Namengebung, Heideggers »Beitrag zur Philosophie«, wie er ihn zwischen 1936 und 1938 notiert. Ganz offensichtlich trauert er den guten alten jüdischen Zeiten nach, da ein eifernder, zürnender, rächender, von den Menschen enttäuschter Gott sich noch darauf verstand, eine ganze Stadt, ein ganzes Volk, ja eine ganze Menschheit (sc. mit den »einzigsten« Ausnahmen) zu vernichten. Niemand würdige zur Zeit den Menschen, wie er nicht zuletzt in den westlichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften dem Über den Humanismus (1946), Frankfurt 1949, S. 26 f. Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken (1945), in: M. H., Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat …, hg. von Hermann Heidegger, Frankfurt 1983, S. 38. 14 Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA Bd. 65, Frankfurt 1989, S. 113. Ist dieses Philosophenwort auch sicher ein Wort, über das hinaus kein schrecklicheres gedacht werden kann, so versagt doch hier die Analogie zu Anselm, daß es damit auch schon schrecklicher sei, als daß es gedacht werden könnte. Heidegger hat es gedacht, es paßt genau in sein Gedankenwerk – und dies wohl auch zum immer neu freudigen Erstaunen seiner Jünger. 12 13
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Die freie Vergeblichkeit des Lebens
Fortschritt, nicht aber dem Daß des Seins lebt, der Vernichtung. In dieser Versagung der eigentlichen Würdigung (würdig der Vernichtung) ahnt der Seinsdenker den Gott, subtiler noch: den »Anklang eines Gottes«. Heideggers geistige Abscheu vor dem Menschen als dem massenhaft die Erde bewohnenden Lebewesen gründet in der alten, bis heute nicht aufgegebenen philosophischen Tradition, nach der der eigentliche Mensch der Philosoph ist, weil sie für das eigentliche Selbst des Menschen den Nous (ratio, Vernunft) ansieht. Heideggers neue Variante dieses sich selbst auserwählenden Essentialismus lautet: geistige Existenz qua selbstentschlossen-ekstatische Gewißheit der eigensten Tödlichkeit. Da kann natürlich der Mensch, wie er auf Erden leibt und lebt, nicht mithalten. Der Mensch als Lebewesen (Zoon) ist für den Existentialontologen in sich der massenhafte Mensch. 15 In der philosophischen Leib- und Lebensfeindlichkeit ist das Leibhafte am Menschen prinzipiell der Unwertigkeit preisgegeben, wobei der Übergang von seiner theoretischen Nichtigkeitserklärung bis zur Bejahung seiner praktischen Liquidierung fließend ist. So ruft Augustinus in De bono coniugali (401) aus: Oh, wenn dies doch alle wollten! (utinam omnes hoc vellent 16), – gemeint ist das Aussterben der Menschheit als Konsequenz seiner Abscheu vor Leiblichkeit und Sinnlichkeit, die spät, dafür aber um so heftiger über ihn gekommen ist. Der philosophische Notbehelf, wenn man denn schon leibgebunden leben muß, lautet wie Platon ihn formuliert 17: So nahe wie möglich am Gestorbensein leben … Der Philosoph als der eigentliche Mensch – das ist die in vielen Philosophien konsequente, ebenso ahumane wie inhumane Deutung des Menschen, nur leicht verklärt durch die Emphase eben des Eigentlichen und Wesentlichen. Es ist Zeit, das Thema zu wechseln. Ab sofort spreche ich nicht mehr davon, wie Philosophie gegen die unfreie Vergeblichkeit Zum Schluß seines Dingvortrages (1950) spricht Heidegger vom »Unmaß des Massenhaften des Menschen als eines Lebewesens« (M. H., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 181). Zum Gedanken des Massenhaften (und Riesenhaften) siehe bereits Beiträge (1936–38). S. 379; 399; 314; 441. 16 Zitiert nach Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, S. 135. 17 Phaidon 67e. 15
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Die freie Vergeblichkeit des Lebens
menschlichen Lebens ihre vom Leben abgekoppelten und gegen das Leben gerichteten Lebens-Sinngebungen mobilisiert. Von jetzt an bis zum Schluß hat des Lebens freie Vergeblichkeit das Wort. Das Leben, um das es, menschlich gesehen, geht, ist nicht das gute Leben, das aus der Gewissenlosigkeit des fortschrittlichen Konsumismus, Wirtschaftswachstums und Vitalismus resultiert, schon gar nicht das, was sich in die diversen A- und Inhumanitäten rationaler und existentialer Eigentlichkeit versteigt, sondern das gelingende Leben als das geteilte. Lebensteilung heißt, daß im eigenheitlich geprägten Leben Lebensbefähigung gemeinschaftlich-gesellschaftlich gegründet, bewährt und gestärkt wird. Es geht um Öffentlichkeiten wie die der Intimität, der Kunst, des Gesundheitswesens, der Arbeit, des Sports, der Politik. Gelingendes Leben und das heißt Lebensteilung reicht vom eigenheitlichen Teilen von Tisch und Bett über das von Gesund und Krank, Alt und Jung, Student und Dozent, Arbeiter und Unternehmer bis zu dem von Regierung und Parlament, Katholiken und Protestanten, Polen und Deutschen, ja gegebenenfalls zu dem von Moslems und Christen, Erster und Dritter Welt. Leben, das geteilt wird, zeigt sich in fortwährenden Wiederholungen. Das einander sowie miteinander Sehen und Hören wiederholen sich, das Essen und Trinken, das Schlafen und Wachen, das Feiern und Arbeiten, das einander Lieben und Verlassen. Alles, was sich in gelingender Lebensteilung wiederholt, läßt das Leben ein erfülltes sein: vom Geschirrspülen und Sichrasieren, Einkaufen und Spazierengehen über das Konzerte Geben und Geschäfte Abschließen, Ärzte Besuchen und in die Fremde Reisen, Kulturen Anlegen und Gesetze Erlassen bis zum rechtsstaatlichen Wahlakt und zum Durchsetzen politischer Entscheidungen. In diesen Wiederholungen wiederholt, wenn es gelingt, das geteilte Leben sich selbst. In seinem Erfülltsein und Wiederholtwerden rechnet sich dann aber das Leben nicht: Es ist vergeblich, allerdings frei vergeblich und eben ein in seiner Vergeblichkeit erfülltes. Vergeblichkeit, die keiner Rechnung entstammt, die weder den fehlenden Gewinn einer »guten« noch den einer »schlechten« Tat spiegelt, ist keine Privatangelegenheit. In der freien Vergeblichkeit hat niemand etwas allein mit sich selbst auszumachen. Vergeblichkeit als Erfülltheit und Gelingen des Lebens gibt es allein in dem gelingenden Einander. Ohne den Anderen (bzw. die Anderen) kann niemand auf eine Weise vergeblich leben und handeln, daß darin das Leben sich selbst wiederholte. Nicht der vom Einzelnen auf den Berg 66 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die freie Vergeblichkeit des Lebens
gewuchtete und von selbst wieder herunterfallende Stein ist es, der ein Bild von der lebensbefähigenden und lebensbefähigten Vergeblichkeit vermitteln könnte, sondern eine Hand, die sich der anderen gibt. Gemeinsam zu essen und zu trinken, füreinander abzuwaschen, miteinander zu schlafen, von neuem gemeinsam zu essen und zu trinken – das ist für nicht wenige, die sich zum Nachdenken berufen sehen, der Schrecken des vergeblichen und sinnlosen Lebens, das sie mit Prädikaten wie »absurd« und »uneigentlich« (»alltäglich«) belegen. Genau das aber ist die Erfüllung, wenn nicht das Fest des Lebens. Um dieser Deutung von Vergeblichkeit noch besser folgen zu können, ist es angezeigt, sich vom pejorativen Sinn des Wortes »vergebens«, »vergeblich« vollends freizumachen. Was vergeblich ist, ist unnütz, nichtig, eitel (»leer«). Das gibt das griechische mataios und ebenso das deutsche »vergeblich« zu verstehen. Matazein heißt unnütz denken und handeln. Das noch ungewohnte Lob der Vergeblichkeit wird darum auch das Lob der Unnützlichkeit enthalten müssen. Vergeben bedeutet: unentgeltlich und eben umsonst schenken, unnütz, erfolglos, »vergeblich«, wie es im Mittelhochdeutschen heißt. Vergeben bedeutet: austeilen und verschenken, auch verzeihen, das heißt jemandem etwas schenken, das man von ihm zu beanspruchen hat. Vergeben, verschenkt – das ist die Verwandlung des »Vergeblichen« vom Schicksalhaften und Quasischicksalhaften ins Freie und Poetische. Der Eine oder Andere, indem sie Leben teilen, vergeben und verschenken sich. Das (Sich-)Vergeben und Verschenken ist die Lebensform des lebensteiligen uti et frui, ist die Fruchtbarkeit des Lebens selbst. »Vergebens«, »vergeblich« in diesem anderen Verständnis ist keine Ideologie, keine geistige Einstellung und schon gar kein utopisches Handlungsziel. Es ist die alles überformende Gestalt des erfüllten und sich wiederholenden Lebens. Jede Lebenspraxis ist, auf das Gelingen der Lebensteilung gesehen, ein Vergeben und Verschenken eigenheitlichen Lebens und Handelns. Es kann aber eben auch allein das Leben und Handeln vergebens sein, das nicht ins Leere (vanum) geht, sondern vom je Einen und Anderen angenommen wird. Vergebens zu leben und zu handeln ist somit etwas, das eigens verstanden und gekonnt sein will. Vergeblichkeit als das Grundlegende und Prägende jedes gelingenden menschlichen Lebens kann ihre besondere Nähe zur Lebensteilung von Arm und Nicht-Arm nicht verleugnen. Die ursprüng67 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die freie Vergeblichkeit des Lebens
liche Gebärde menschlichen Einanders ist die des Helfens. Vergeblichkeit, wie sie jeden Zug des Lebens beherrscht, ist allem zuvor helfende Vergeblichkeit. In der Gebärde des Helfens und Aufhelfens wird das Leben von Grund auf gemeinsam bejaht und praktisch in seiner Bejahtheit gewußt. Ist Leben seiner freiesten und zugleich gelingendsten Art nach vergebens, dann trifft das am ehesten und überzeugendsten dasjenige Leben, das sich an Arme vergibt. Die praktische Wahrheit des Lebens »Wir leben vergebens« als seine sich wiederholende Erfülltheit findet in der Lebensteilung von Arm und Nicht-Arm ihre reinste Entsprechung. »Die freie Vergeblichkeit des Lebens« – das war die Ankündigung. Die Abkündigung jetzt lautet, schon etwas erhellender: »Das frei sich verschenkende Leben«. Das ist, wie ich denke, der Vorblick auf eine freie Caritas, die sich nicht zugunsten der Erlangung von Seelenheil rechnet, die nichts mit ostentativen Gaben zu tun hat, die Gelegenheit bieten, einer Öffentlichkeit zu demonstrieren, wie reich und wie fromm man ist. Die freie Caritas gibt es in praxi menschenalt und menschenweit, nur eben im elitären philosophischen Denken nicht. Sie kann die gewissenlose Gewalttätigkeit der Stärkeren gegen die Schwächeren nicht steuern. Sie kann nur ein Zeichen setzen – ein Zeichen der Hoffnung wohl kaum, aber ein Zeichen des Gewissens, eines Gewissens, das das Gewissen des Lebens selbst ist.
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Lebensführung und Lebensteilung
Das Referat, das bereits in den Kongreßakten nachzulesen ist, versehe ich im folgenden mit einem neuen Anstrich. Im Workshop 1 sind uns zwei Begriffe vorgegeben, die wir zueinander in Beziehung setzen, aneinander reiben, füreinander fruchtbar machen und zu einem Ganzen verbinden sollen: die Begriffe Umwertung und Lebensführung. Das eine ist ein geistesgeschichtlicher Begriff, der eine einzigartige Neuerung, ja Revolution zu markieren sucht, das andere ein lebensgeschichtlich gemünzter, der die allgemeine Tatsache festhält, daß Leben, wie es Menschen gelingt, zu führen, zu gestalten und unter Einsatz des eigenen Selbst zu bewältigen ist. Der geistesgeschichtliche Begriff »Umwertung« datiert vom ausgehenden 19. Jahrhundert. Es ist ein Begriff Nietzsches, in dem sich dessen Herausgefordertsein durch Platonismus und Christentum spiegelt. Der lebensgeschichtlich orientierte Begriff »Lebensführung« dagegen, so er nicht einer philosophischen Lebenslehre (Biologie) unseres Jahrhunderts zuzuschreiben ist, läßt sich gut auf das griechische Wort διαγωγή zurückführen, wie es Platon und Aristoteles gebrauchen. Dieses Wort hat darin seinen Reiz, daß es zwar zur Benennung einer vom Philosophen erklärten besten Lebensart taugt, dennoch aber seine lustbetonte Konnotation bewahrt. Synonym unter anderem mit »Guttägigkeit« (εὐημερία), erinnert es, daß zum Ernst geistigen Lebens, soll es vollends Leben sein, gehört, lustvoll seine Tage zu verbringen und eben seine Zeit zu vertreiben. »Umwertung« versteht sich als Umwertung aller Werte, nämlich aller ideologisch gesetzten: gemeint sind Nihilismus und Antinihilismus zugleich. Alles nämlich, was einmal als werthaft galt, ist, so glaubt man es sehen zu müssen, zu nichts geworden. Als Gegenwurf zeichnet sich ein Un-Geheuer ab, das der Träumer ahumaner, wenn nicht inhumaner Zukunft »Übermensch« nennt. Zu einer Art Sphinx verklärt, tituliert er es »Caesar mit der Seele Christi«. Noch in der Mitte unseres Jahrhunderts, exakt im WS 1951/52 wird ein Freiburger Philosoph an diesem Un-Wesen wortstark seinen zukunftsver69 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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meinten Tief- und Geheimsinn festmachen (Martin Heidegger, Was heißt Denken?, Tübingen 1954, 67). Umwertung – dieser Begriff ist heute neu zu besetzen und gegen seinen historischen Ursprung zu wenden: Nihilismus samt Antinihilismus sind selbst das, was umzuwerten ist. Die geschichtliche Freistelle für diesen geistigen Prozeß kann darum »Postnihilismus« heißen. Wie sich alsbald herausstellt, paßt es vorzüglich, dieselbe Freistelle auch schon mit dem Namen »Postmoderne« versehen zu finden. Διαγωγή, wörtlich Durchführung, meint bei Platon als ὅλου βίου διαγωγή die Herausforderung des Menschen, sein Leben so zu führen, daß er es ist, der sowohl selber sich selbst erhält (Plt 274d5) und nicht ein Gott, als auch, daß er die Lebensweise, die er als die vorteilhafteste (λυσιτελεστάτη) bestimmt, selber zu verantworten hat. (Rp I 344e) Selbsterhaltung und Selbstverantwortung sind auch bei Aristoteles maßgebliche Kriterien der Lebensführung des freien, politisch verfaßten Menschen (Pol 8,5 1339b4), wobei er allerdings selbst und gerade für die geistige Lebensweise (in Übersetzungen gerne die »richtige« und »edle« genannt) nicht allein das Gute, sondern auch das Lustvolle reklamiert, weil nur beides zusammen die Glückseligkeit ausmache (ebd. 1339b17; vgl. 3,9 1280b39–1281a3). Ist das Geistige der Lebensführung nicht individualistisch gemeint, sondern wie bei Platons Sokrates, der für die gerechte Gerechtigkeit eintritt, auf indirekte und wie bei Aristoteles, der für die gelingende Politie eintritt, auf direkte Weise politisch, dann liegt keine Notwendigkeit vor, sich von diesem Begriff der Lebensführung prinzipiell zu distanzieren. Es kommt nur darauf an, jetzt dem Nichtindividualistischen einen positiven Namen zu geben und einen positiven Gedanken zu widmen. Lebensführung, so meine These, ist voll und ganz Sache der Lebensteilung: Gelingt menschliches Leben, weil es »richtig« und in einem menschlich besten Sinne »vorteilhaft« geführt wird, dann gelingt es, weil es geteilt wird, und dies nicht zuletzt auf politische Weise. Nachdem die beiden vorgegebenen Begriffe fürs erste bestimmt und die eigene Stellungnahme zu ihnen vorläufig geklärt ist, kommt es darauf an, sie zueinander in Beziehung zu setzen und füreinander fruchtbar zu machen. Ich beginne zu diesem Zweck mit der Umwertung der Umwertung, wie sie bereits vorgezeichnet ist. Dadurch wird es möglich sein, das Konzept gelingender Führung, Gestaltung und Verbringung von Lebenszeit als Konzept von Lebensteilung zu erfassen. Der Nihilismus nämlich, wie er aus antinihilistischer Einstellung 70 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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konzipiert wird, stellt sich dem Gedanken gelingenden menschlichen Lebens, wie er auf den einfachen Gedanken der Lebensteilung zuläuft, entgegen. Zum Konzept des Nihilismus aber gesellt sich, wie schon angedeutet, das der Moderne, das nicht weniger dem Gedanken der Lebensteilung streitig macht, das zu treffen, was dem Menschen als eigenste Möglichkeit zuzudenken ist. Der Gedanke der Lebensteilung (von der Teilung von Tisch und Bett bis zu der von Recht und Ordnung) hat den Anschein des Geschichtslosen. Wie das gelingende Leben idealtypisch gezeichnet wird, sieht es sich als unberührt von der geistigen und materiellen Situation der Zeit an. Diese falsche Sicht wird korrigiert, sobald wir den Standpunkt von Postnihilismus und Postmoderne für den geschichtlichen Ort des Gedankens der Lebensteilung nehmen. Damit aber beginnt auch schon die Rehabilitierung der geschichtlichen Gegenwart als Gegenwart möglichen und wirklichen menschlichen Gelingens. (Anti-)Nihilismus und Moderne haben gemein, Verelendungsgestalten des Geistes zu sein. In beiden Entwürfen des »neuen« Menschen ist menschlicher Geist gleichsam außer Landes gegangen: hat er sich um sich selbst gebracht. Repräsentanten dieser Entwürfe haben ihre geistigen Verfehlungen und Niederlagen dadurch zu kaschieren versucht, daß sie sich (sogleich als ihre Zeit vorbei war) mit dem Prädikat des Unvollendeten versahen: Sie brauchen, so verstehe ich das, noch eine endlose Zukunft, die sich durch kein reales Geschehen beirren läßt. Sowohl die Moderne als auch der Nihilismus sind geistige Gestaltungen, und zu ihrem Besten nichts als das. Vom menschlichen Geist, wie er tätig wird, erwartet man sich eigentlich Selbsterhellung: die Abklärung menschlicher Möglichkeiten und Notwendigkeiten in Anbetracht dessen, sich lebenspraktisch in Gemeinschaft und Gesellschaft selbst als Mensch zu finden. Man muß wohl erst aus Schaden klug werden, um wahrzunehmen, daß das Vermögen des Geistes, Verwirrung (einschließlich Selbstverwirrung) zu stiften, keineswegs geringer ist als sein Vermögen, Klarheit zu schaffen. Das geistige Selbstverständnis von Moderne und (Anti-)Nihilismus hat so weit geführt, daß der Geist, wie er sich vor sich selbst aufführt, nicht mehr er selbst ist: Er hat sich um sich selbst gebracht – zumindest als Vermögen der Klarheit und Redlichkeit. Als Moderne und (Anti-)Nihilismus ihre Zeit hatten, da haben sie den Zeitgeist beherrscht, indem sie die Gegenwart diskreditierten 71 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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und das sacrificium intellectus zur Pflicht des »Intellektuellen« machten. Was beide Ausprägungen selbsternötigten geistigen Selbstopfers gemein haben, ist die Geschichte: die geschichtliche Zukunft und Vergangenheit des Menschen. Diese werden so gedeutet, daß es mit der Gegenwart – so oder so – nichts ist. Daß Menschen auf gelingende Weise in praktischer Absicht einander gegenwärtig sind, wird einheitlich zum Unwesen des Menschen erklärt. Haben Antinihilisten im wesentlichen Zukünftiges im Sinn, etwa die zukünftigen Menschen und Philosophen als die eigentlichen Menschen und Philosophen, dann ist ihre Feststellung des herrschenden Nihilismus doch erst einmal – als Kritik von Gegenwart – retrospektiv orientiert. Populär geworden ist die Formulierung »Gott ist tot«. Das meint: Das Absolute ist nicht mehr. Was sich gegenwärtig noch als maßstabsetzende Möglichkeiten menschlicher Selbstrealisierung zeigt, ist »nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns (die Antinihilisten) ein Vergangenes« (Hegel). In Verkennung seiner poetischen Potenz verleugnet auf diese Weise menschlicher Geist in retrospektiver Einstellung sich selbst. Er erklärt sich zwar für verantwortlich, dies aber allein im Sinne von schuldig: Er sei – in Anbetracht dessen, was geistig geschehen ist – Schuld daran, daß es gegenwärtig mit ihm nichts mehr ist (und auch noch nicht wieder etwas ist). Haben Vertreter der Moderne auch mehr oder weniger kenntnisreich die Geschichte menschlicher Selbstreproduktion als vereint materielle und geistige im Sinn, um für die Gegenwart festzuhalten, daß es mit der »vernünftigen Vernunft« (Marx) nicht nur nichts gewesen ist, sondern man sich mit neuer Qualität um ihre Möglichkeit gebracht habe, dann ist ihre eigentliche Orientierung doch prospektiv. Populär geworden ist die Rede von der Emanzipation: »Der Mensch ist noch nicht zum Menschen emanzipiert.« Kurz: »Der Mensch ist noch nicht Mensch.« Resümieren wir für die Antinihilisten als retrospektive Selbstverleugnung des Geistes: »Das Absolute ist nicht mehr«, dann läßt sich die prospektive Selbstverleugnung des Geistes, wie Vertreter der Moderne sie propagieren, in dem Wort zusammenfassen: »Das Universelle ist noch nicht.« In der Aussage »Gott ist tot« inszeniert sich menschlicher Geist als zutiefst betroffen und bewegt, indem er die höchste Möglichkeit des Geistes, die er außerhalb der Reichweite eigener Möglichkeiten verlebendigt sah, für sich selbst als tot, ja als von ihm selbst getötet erklärt. In der Aussage »Der Mensch ist noch nicht zum Menschen 72 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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emanzipiert« gibt menschlicher Geist sich nicht weniger ergriffen, indem er selber sich selbst die Erfüllung abspricht: das Geistgewordensein des Menschen. Ein Nicht-mehr-am-Leben-Sein und ein Noch-nicht-am-Leben-Sein werden konstatiert, was gemeinsam eines bewirkt: die vollständige, weil doppelsinnige Diskreditierung der Gegenwart als einer geistig wesenhaften. Mit der Gottseligkeit sei es aus und vorbei, mit der Vernunftseligkeit sei es noch nicht so weit. Metaphysik (einschließlich ihrer Kritik) und »rationale« Utopie konvergieren in der Selbstnotzüchtigung des Geistes: Sinn soll gewesen sein, Sinn soll im Kommen sein, nur eben »jetzt« gebe es keinen, ließe sich keiner ergreifen. Ob nun aber Gottes Tod bei Hegel als metaphysisches Gefühl der Neuzeit, bei Nietzsche als biologische Befreiung und bei Heidegger als Vorschein eines »anfänglicheren Anfangs« gelesen, ob die Heraufkunft des Menschen, der ganz Mensch, weil ganz Vernunft ist, von »Intellektuellen« als endliche oder unendliche »Geschichte« erzählt wird, stets flieht der Mensch in geistiger Selbsterregung vor sich selbst, nämlich davor, sich in geistiger und leibhaftiger Gegenwart als zum Leben befähigter Mensch zu erkennen, und dies mit nicht mehr und nicht weniger humanen und inhumanen Möglichkeiten, als sie dem geschichtlichen Menschen seit eh und je vertraut sind. Die Geschichte des Menschen hat kein Ziel – das ist mit einem Wort die Umwertung der Umwertung, die Freigabe des geschichtlichen Menschen, je gegenwärtig vollends Mensch zu sein. Von der Gattungsgeschichte des Menschen bis zur Gesellschafts-, Kultur- und Zivilisationsgeschichte – nichts davon hat ein Ziel. Was sich der Mensch ex eventu und eben retrospektiv als zielstrebige Geschichte konstruiert, kann ein höchst kunstvolles und anregendes geistiges Gebilde sein, hat jedoch als »Es kam, wie es kommen mußte« kein fundamentum in re. Wer aber die Linie durch den Nullpunkt der Gegenwart hindurch weiterführt und eine Zielstrebigkeit »nach vorn« in den Blick faßt, zeigt eine noch weiterreichende Realitätsentfremdung. Mit der Einsicht, daß die Geschichte des Menschen in keiner ihrer Versionen ein Ziel hat, sind alle Geschichtsklitterungen gestrichen, alle Chiliasmen und Eschatologien, von denen es nur allzu gerne heißt, der Mensch (gemeint ist der menschliche Geist) könne nicht ohne sie leben, ganz so, als verstünde er nur dadurch sein eigenstes Sinnen und Trachten, Hoffen und Begehren zu bewahren, daß er sich geistig um sich selbst bringt und als der geschichtliche Mensch, der er ist, verwirft. Mit dieser Einsicht sind aber auch alle erdachten Regu73 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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lativa, die asymptotische Annäherungen auf Ideales in die Wege leiten und auf dem Wege zu halten vorgeben, zu leeren Versprechen geworden. Hat die Geschichte kein Ziel, dann ist jede gegenwärtige Stunde die Stunde des – geschichtlichen – Menschen. Die Kreditierung der Gegenwart macht freilich dieselbe nicht ungetrübt sonnig. Das Humanum (etwa in Art des die Lebensbefähigung wechselseitig gründenden, bewährenden und stärkenden Umgangs von Menschen mit Menschen) versammelt keineswegs den Blick auf sich, wenn sich je gegenwärtig Menschen lebenspraktisch zur Schau stellen. Das Humanum steht weit eher im Schatten. Aber das ist es ja: An dem, wie der geschichtliche Mensch lebt und handelt, geht kein Weg vorbei, wenn Philosophie sich über den Menschen verständigt, um ein Kriterium für die Unterscheidung des Humanen vom Inhumanen zu finden und zu erproben. Die Kreditierung lebenspraktischer Gegenwart schließt die Affirmierung des geschichtlichen Menschen ein, weil es dann erst möglich ist, für das Humanum und gegen das Inhumanum Partei zu ergreifen. Postmoderne und Postnihilismus kennzeichnen in eins die geistesgeschichtliche Gegenwart als die des verabschiedeten neuzeitlichen sacrificium intellectus, wobei das eine und andere »post« allein das Verabschiedetsein als solches fixieren, das neu Eröffnete jedoch unbestimmt lassen. Was aber konnte nun diese Gegenwart zu der geschichtlichen Stunde des Gedankens der Lebensteilung machen? Anders als Wesensentwürfe des Menschen, die gelingendes Menschsein ad calendas graecas vertagen, gründet der Gedanke der Lebensteilung auf lebenspraktischer Erfahrung, zielt er auf sie. Darum ist sein geistesgeschichtlicher Kairos nicht von dem politik-, gesellschafts- und zivilisationsgeschichtlichen Kairos zu trennen. Sehen wir uns freilich die lebenspraktisch relevante geschichtliche Gegenwart an, dann erweist sie sich weit mehr als ein Kairos des Inhumanen denn als ein Kairos des Humanen. Doch das ist Alltag der Geschichte: Das Inhumane gefährdet und hindert das Humane, der Mensch gefährdet und hindert sich selbst in seinem Gelingen. Genau das ist Anlaß und Anhalt, sich je gegenwärtig neu über den Menschen als Menschen zu verständigen. Was heute im Großen und vielfältig auch schon im Kleinen die gesellschaftliche Lebenspraxis prägt und die Gegenwart zur Unstunde von Lebensteilung macht, ist am besten als Neoliberalismus zu kennzeichnen. Nicht Lebenskunst herrscht, nicht Lebensverantwortung 74 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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und Lebensgewissen, nicht die in komplexer und wechselnder Gemeinsamkeit gegründete, bewährte und gestärkte Lebensbefähigung, sondern die absolute Entschränkung aller vitalen Kräfte. Die Menschenwelt ist zum Markt geworden, zu einem einzigen, der als »globalisierter« nicht einmal die Beschränktheit der Ressourcen des Globus zur Kenntnis nimmt, und der nur eine Regel kennt: die Deregulierung, das meint das freie Spiel der stärkeren Kräfte. Wert hat nur, was auf dem Markt besteht und sich im Verhältnis von Produktion und Konsumtion selbst als Wert bestätigt. Dieser Vitalismus bewährt sich als ökonomischer Rassismus: Die Schwachen und Unbrauchbaren, alle für den Markt Wertlosen verschwinden vom Markt, verschwinden als wertloses Leben aus dem Lebens- und Sorgebereich der Vitaleren. Das ist für nicht wenige, die Geschichte nicht wahrhaben wollen, die neue Stunde der Moderne, um in altbekannter Wohlgesonnenheit vom einen vernünftigen Weltstaat zu träumen, blind dafür, daß die betriebene Globalisierung nur die Maximierung und Optimierung partikularer Interessen darstellt. Für Vitalisten wieder könnte es eine neue Stunde des Antinihilismus sein, sich selbst als die Wertvolleren weil Stärkeren und Überlebenderen zu feiern. Nein, diese Geister sind nicht gefragt, angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen des Menschen als Menschen, noch einmal menschliche Selbstverständigung und Selbstbestimmung anzuführen oder ihr auch nur behilflich zu sein. Wie aber steht es mit den vielerseits gepriesenen Kommunitaristen, die nicht auf die Vernunftwerdung des Menschen warten, nicht auf den Übermenschen, die nicht einmal mit den Vitaleren zu sympathisieren scheinen, sondern die einfach mit selbstsicherem Gemeinsinn Hand anlegen, um der gröbsten Misere menschlichen Einanders wenigstens im lebenspraktischen Nahbereich zu steuern? Nein, sie sind nicht auf dem Weg zur Stärkung des Humanum und Schwächung des Inhumanum. Schlicht das Gegenteil wird durch sie bewirkt, wenn doch diese Art von Selbsthilfe nur die Kehrseite des neoliberalen Globalismus ist. Die für das freie Spiel der stärkeren Kräfte nötige Entpolitisierung des Marktes braucht die Privatisierung des »Sozialen«. So arbeitet der Kommunitarismus dem Neoliberalismus in die Hände: Bis ins Bigotte verkehrte »Menschlichkeit« im Kleinen verstellt und fördert zugleich die bis ins Zynische ausufernde Unmenschlichkeit im Großen. Das Inhumanum der Gegenwart sichert sich seine Herrschaft 75 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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nicht zuletzt durch Verführung zur Gewissenlosigkeit, vorzüglich sichtbar in der gewissenlosen Selbstbejahung der Zweidrittel- und demnächst Eindrittelgesellschaft, sichtbar auch im gewissenlosen Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen. Diesem Konglomerat aus selbstgefälligem Konsum und arroganter Macht ist nicht durch moralisch eingefärbte politische Appelle und Programme beizukommen, nicht durch spontane Gewalt. Wenn ihm etwas wie von selbst Abbruch tut, dann ist es gelingendes, ist es geteiltes Leben. Wäre der Begriff nicht von der selbsternannten »moderneren Moderne« (Beck) besetzt, ließe sich gelingendes Leben als gelingende Subpolitisierung deuten. Lebensteilung nämlich macht aus sich selbst die Kreditierung der Gegenwart wahr – sc. in Anbetracht der Möglichkeit des Humanum. Lebensteilung aber ist keine Kopfgeburt, ist niemals Resultat ethischen und politischen Aktionismus, sondern verdankt sich allein gelingendem Leben. Verwendet sich der Philosoph dafür, dann geht es ihm im Interesse des lebenspraktischen Humanum um nicht mehr und nicht weniger als um die Deutung gegenwärtigen menschlichen Gelingens und die Parteinahme für es. Dadurch wird die Wirklichkeit nicht verändert, aber Mögliches aufgezeigt, nämlich die mögliche Gewissenhaftigkeit, Verantwortlichkeit und Erfülltheit heutigen Lebens. Lebensteilung, wie sie der Mensch zu seinem Gelingen braucht, ist gegenwärtig auf vielfältige Weise gefährdet und verwehrt. Bereits die Teilung des Tisches ist nicht garantiert, wird sie gesellschaftlich verstanden. Südamerikanische Theologen sprechen von der Teilung des Brotes als realer Utopie. Sehen wir uns andere problematische Lebensverhältnisse wie die zwischen Autochthonen und Fremden, zwischen Gläubigen und Andersgläubigen an, dann läßt sich eine Inexistenz gelingender Gemeinsamkeit zumeist daran festmachen, daß es die Stärkeren sind, die das Leben nicht mit den Schwächeren teilen, die Reicheren nicht mit den Ärmeren. Aus Aktualitätsgründen legt es sich nahe, das Verhältnis von Jung und Alt vorzuführen, wie es heute eine Herausforderung des Humanum ist. In der BRD erscheint der »Generationenvertrag« als von beiden Seiten gekündigt. Ältere, die bereits in sozialen Besitzständen sind, bleiben untätig, wenn es darum geht, alle Jungen lebenspraktisch davon zu überzeugen, daß sie gesellschaftlich gebraucht sind. Die strukturbedingte Arbeitslosigkeit aber, wie sie systematisch hergestellt wird, bedeutet allgemeine Aussichtslosigkeit. Jüngere wieder, die gut bei Kräften und in Arbeit sind, wollen nicht beliebig für die anwach76 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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sende Zahl von Alten aufkommen. Provokativ formuliert besagt das: Junge treiben Alte zum Gerontozid, Alte treiben Junge zur Gewalttätigkeit. Eine unbekannte Gleichgültigkeit beginnt sich gesellschaftlich zu etablieren, eine unbekannte Gewalttätigkeit. In dieser Lebensteilung gefährdenden und verwehrenden Konstellation von Jung und Alt sind keine Vorschläge der Stärkeren und der vermeintlich Vernünftigeren gefragt, sondern Lebensteilung, und zwar politische. Im ersten und letzten braucht der Mensch gelingende Politie, um sich seinen Bedarf an lebensteiligen Möglichkeiten zu sichern – bis hin zur Teilung von Logos und Pathos, von Tisch und Bett. So nimmt es nicht wunder, daß herrschendes Inhumanum im wesentlichen ein Aufgekündigtsein von Lebensteilung darstellt. Heute ist es der neoliberale Globalismus, der politische Lebensteilung von Grund auf gefährdet, indem er unter dem Vorwand der Entbürokratisierung eine Entpolitisierung betreibt, die, setzte sie sich vollends durch, das Ende des Politischen, das heißt des politisch verfaßten Menschen bedeutete. Politische Lebensteilung – das ist in ihrem Grundzug die Lebensteilung von Regierenden und Regierten. Die Regierenden stellen als solche den allgemeinen Willen dar, der, um politisch wirksam zu werden, sich in der Sache dem eigenheitlich geprägten besonderen und einzelnen Willen der Regierten übereignet. Die Regierten stellen als solche den besonderen und einzelnen Willen dar, der sich formal dem allgemeinen Willen der Regierenden übereignet. Genau das meint politische Lebensteilung: wechselseitige Selbstübereignung von Regierenden und Regierten in Anbetracht lebenspraktisch wirksamen politischen Wollens. Um zum Beispiel das gesellschaftliche Verhältnis von Alt und Jung in lebensteilige Bahnen zu lenken und in ihnen zu halten, braucht der Mensch es, auf gelingende und das heißt lebensteilige Weise regierend und regiert zu sein. Das gesellschaftliche Bedürfnis zu regieren und regiert zu werden ist im strengen Sinne ein vitales: Der eigenheitliche Wille des Jungen, die eigenen Möglichkeiten der Jugend wahrzunehmen, braucht den allgemeinen Willen, um, indem er sich ihm übereignet, die eigenen Interessen in gesellschaftlicher Perspektive am besten wahrgenommen zu sehen. Entsprechendes gilt vom eigenheitlichen Willen der Alten. Beide Lebensalter bedürfen des Regiertwerdens. Gelingende Wechselseitigkeit im Politischen gibt es, wie in der von Aristoteles konzipierten Politie so auch in den gegenwärtigen 77 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Demokratien nicht ohne Verbindlichkeit einer politischen Verfassung. Lebensführung als Führung des geteilten Lebens verstanden erfordert den politisch verfaßten Menschen, wie er durch die Verfassung geeint, als Regierender und Regierter aber unterschieden ist. Lebensteilung ist darum in jeder ihrer Formen ganz von selbst parteiisch: Sie hat immer schon für das Politische Partei ergriffen und gegen die Aufhebung des Politischen. Wie aber heute der Neoliberalismus als Antietatismus den Staat zurückzudrängen und von allen sozialen Aufgaben zu entpflichten sucht, handelt es sich um die durchgängige Deregulierung der gesellschaftlichen Lebens- und Handlungsbedingungen, zum Beispiel um die Deregulierung der Arbeitsbedingungen und der Löhne (Unterbindung von Tarifabschlüssen). Mit dieser Deregulierung soll das gelingende Verhältnis zwischen dem allgemeinen Willen und dem besonderen und einzelnen Willen ausgehebelt werden, um einzig und allein dem stärkeren Willen als dem Willen der Stärkeren die Gestaltung der Verhältnisse zu überlassen. Wird Lebensteilung politisch gesehen, dann heißen die beiden Parteien, die gegenwärtig die politische Auseinandersetzung abstecken, Neoliberalismus und Lebensteilung (Lebensteilung, wie gesagt, in jeglicher Form, sofern sie sich von Grund auf als politische weiß und gibt). Verweigert sich der Restbestand des allgemeinen Willens in Zeiten des Neoliberalismus per se der politischen Lebensteilung, und dies eben zum alleinigen Wohl des Spiels der freien stärkeren Kräfte, dann wird Lebensteilung, die sich auf ihren politischen Grund versteht, zur Partei des Widerstands, zur gezielten Nichtumsetzung politischer Vorgaben. Ihr politischer Kampf ist freilich ein »gehegter«: Er gebraucht keine Gewalt, die das Gewalt(en)monopol des Staates in Frage stellte. Im Gegenteil, mit ihrem Kampf für das Politische setzt sie sich auch für das Gewalt(en)monopol des Staates ein, um politische Lebensteilung neu zu ermöglichen. Nur ein allgemeiner Wille, der politische Lebensteilung konstituiert, vermag der Inhumanität des Neoliberalismus im Rahmen gelingenden Menschseins entgegenzuhandeln. Umwertung – nein, wir brauchen gegenwärtig keine aktualisierten Wert- und Normvorgaben. Lebensteilung bildet und gebraucht für sich selbst ganz von selbst Gewissen. Nur aus gelingendem menschlichen Leben entspringt gelingendes menschliches Leben, nicht aber aus Deklarationen und Verfügungen. Humane Ziele be-
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Lebensführung und Lebensteilung
dürfen humaner Mittel. Gelingen als Ziel bedarf des Gelingens als Mittel. Lebensführung – ja, menschliches Gelingen braucht die Führung geteilten Lebens, wie es von Grund auf ein politisches ist. Soviel zu den vorgegebenen Begriffen, soviel zum selbstgestellten Thema.
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Der Tod und der Philosoph
Der Tod ist dem lebendigen Menschen ein Nächster, ein Intimus. Doch die Beziehung zu ihm ist belastet, und dies so sehr, daß sie sich bis zur Feindschaft verkehrt hat. Der Philosoph ist an der Belastung und Pervertierung der Beziehung maßgeblich beteiligt. Ist er auch beileibe nicht allein schuld daran, daß der Tod dem Menschen als ein seinem Leben Nächster fremd geworden ist, dann kommt ihm doch eine besondere Aufgabe zu, die herrschenden Belastungen der Beziehung aufzudecken. Erst dann wird es möglich sein, zuversichtlich den Versuch zu unternehmen, den Menschen von allen Belastungen seiner Todesbeziehung zu befreien, indem ein philosophischer Entwurf die Intimität des Todes, wie sie menschlichem Leben praktisch eigen ist, neu deutet. Im folgenden sind die ersten drei Punkte der Aufdeckung der Belastungen gewidmet, der vierte und letzte Punkt der Befreiung.
1.
Eine intellektuelle Altlast
Menschen, die mit dem Tod nichts zugunsten gelingenden Lebens anzufangen wissen, sind reich an Zahl und Art. Selber Philosoph, überrascht mich besonders, daß es gerade Philosophen sind, die gedanklich vor ihm kapitulieren. Da sticht zum Beispiel Platon hervor, der ausgerechnet ein »letztes Gespräch« eines zum Tode verurteilten Alten mit jungen Freunden nutzt, um den lebendigen, das meint hier den psychisch und somatisch existierenden Menschen als ein Verhältnis von Gefangenem und Gefängnis zu deuten. Hält der Leib zeitlebens die Seele gefangen, dann bedeutet der Tod natürlich eine Chance: Das Denkvermögen, wie Philosophen es selbstberufen in ihre Obhut nehmen, kommt nach der Ablösung der Seele vom Leibe (das ist der ganze Tod!) erst so recht zu sich: Es kann es selbst sein. (Phaidon) Aristoteles weiß es nicht besser, wenn er den Menschen auf81 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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fordert, doch die Sorge um sein Menschsein, wie es leiblich und endlich ist, fahren zu lassen, um sich ganz auf das Göttliche in sich selbst: auf die Unsterblichkeit zu entwerfen (Nikomachische Ethik X). Weiter läßt sich gar nicht, möchte man meinen, an der dem Menschen eigenen Lebendigkeit und Tödlichkeit (mortalitas) vorbeizielen. Genau das aber ist der »Existentialontologie« vorbehalten geblieben, wie sie sich in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts erstmals zu Wort meldet. Als Ontologe der Existenz auf die Existenzweisen des »Daseins« bedacht, genießt Heidegger mit seinen Gedanken zur menschlichen Endlichkeit selbst in zeitgenössischen Medien hohes Ansehen. Läse man sein Hauptwerk Sein und Zeit (1927) jedoch genauer, käme man um die Einsicht kaum herum, daß gerade er das Unvermögen der Vernunftphilosophie, dem Tod etwas Fruchtbares für das Leben abzugewinnen, noch überholt hat. Für »eigentliches« Menschsein ist bei Heidegger Lebensteilung wie die von Tisch und Bett, von Mühe und Arbeit schlechtweg tabu. »Tod« als »eigenste« Möglichkeit des Daseins – das ist ausschließlich etwas für den radikal Vereinzelten. Der aber sitzt nicht etwa in der Zelle, läuft nicht einsam im Wald herum. Nein, der hält sich gut und gerne unter Menschen auf, geht jedoch geistig auf Distanz zu ihnen, weil er gänzlich auf sich selbst ausgerichtet ist: auf das eigene Nichtmehrdasein als eigenste Möglichkeit. Das ist freilich keine Möglichkeit, die es zu verwirklichen gälte. Nein, die alles überragende Seinsmöglichkeit ist damit gemeint, die es als solche zu bewahren gilt. Die Ausrichtung auf das eigene Nicht-mehr hat allein den Sinn, von ihm her auf sich selbst zurückzukommen, um sich in einem Augenblick geistiger Selbstgegenwart als ganzes Dasein zu verstehen. Das vermeinte Todesverhältnis ist damit, recht verstanden, ein vollkommen isoliertes, selbstbezogenes geistiges Verhältnis, das sich selbst als die eigentliche geistige Existenz auslegt. Spricht darum Heidegger von Todesangst, dann meint er in Wahrheit die Angst vor dem Ergreifen der eigentlichen Existenz. Im alltäglichen Leben nämlich sei »man« ständig auf der Flucht vor der eigensten Möglichkeit. Sachlich angemessener ist es jedoch, Heideggers erdachten Menschenwesen auf der Flucht vor dem Humanum zu sehen: vor gemeinsam zu gründender, zu bewährender und zu stärkender Lebensbefähigung, kurz: auf der Flucht vor Lebensteilung. Der Tod des Anderen ist bei Heidegger in nichts als bedeutsam vorgesehen. Sein Denken kennt kein Sterben, keinen Abschied von Anderen und von 82 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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sich selbst, kein Einem-Anderen- Sterben, keinen Schmerz und keine Trauer. Wer »Positives« in diesem Todesdenken aufspüren zu können glaubt, wird mit dem deutschen Helden vorliebnehmen müssen. Dieser Opferbereite ist in Vorlesungen von 1942 und 1943 mit Blick auf den Rußlandfeldzug dazu erdacht, die Geburtsstunde eines philosophischen Opferlamms zu markieren, das alle menschliche Uneigentlichkeit auf sich nimmt und sich »für die Wahrung der Wahrheit des Seins« opfert. Philosophische Vernunft, wie sie in ihrer Selbstdeutung bei Platon zur Entwicklung einer Lichtmetaphysik führt, sieht für sich keinen Grund, von sich selbst zu lassen. Also bleibt alles am besten licht. Muß gestorben werden, weil alles, was aus Erde ist, am Ende zu Erde wird (Xenophanes), dann gilt das nicht für die lichte Vernunft. Wie sie sich selbst vorstellt, kann es für sie allein licht bleiben. Heidegger hält es mit dem Licht kaum anders, auch wenn er Existenz, nicht Vernunft im Sinn hat. Gemeint ist ja geistige Existenz, und diese, wie schon bei Platon und Aristoteles, als die eines Einzelnen. Für den aber gibt es nur einen Höhepunkt zu denken: den lichtend-gelichteten Augen-Blick des Seins, in dem er seine Zeitlichkeit in die Spitze seiner eigentlichen Existenz zusammennimmt. (Vorlesung Wintersemester 1929/30). Vom Sterbenkönnen wird zwar geredet, aber schon der Ansatz läßt nicht zu, es philosophisch wirklich in Betracht zu ziehen. Wieder zielt das Denken allein auf das – geistige – Licht. Der »Tod« als Seinsmöglichkeit ist eine Möglichkeit geistiger Existenz, die sich als solche lichten Blickes allein für das Licht verwendet. »Finstere Nacht umfing ihn sogleich mit Dunkel die Augen« (Ilias) – nein, genau das kommt für Heideggers Todesgedanken nicht in Betracht. Hat sich die Bauhausideologie vom »neuen Menschen« in der Wohnhausarchitektur dahin ausgewirkt, daß man einzig auf Licht bedacht war, in nichts aber auf lebensbefähigendes Dunkel, so hat Heidegger der Vernunftoption für das Licht noch eine romantischexistentielle nachgereicht: Der eigentliche Mensch soll nicht schlafen. Er sei erweckt, um erweckt zu sein, entschlossenen Blicks, um entschlossenen Blicks zu sein. Ob erleuchtet, aufgeklärt (»illuminiert«), gelichtet oder einfach licht und wach – die hochentwickelten Geister treffen sich darin, dem Tode, wie er Menschen in gelingender alltäglicher Gemeinsamkeit zugehört und begegnet, keine Reverenz zu erweisen.
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2.
Eine religiöse Altlast
Christliche Theologie, wie sie sich von Paulus und Augustinus inspirieren läßt, liest in Genesis (2 u. 3) und Jesaja (53) eine Sünde-TodTheologie hinein. Sie weckt damit Hoffnung auf eine Umkehrung menschlichen Todes-»Schicksals« überhaupt und setzt zugleich Feindschaft zwischen dem Menschen und seinem Tod. Jetzt bedarf es einer Priesterschaft, die Seelenheil vermittelt, was unter Gläubigen die Gelassenheit gegenüber dem Tod schwinden läßt. Das Alte Testament (wie auch die Evangelien) weiß nichts von Todesentfremdung. Todesangst gibt es vorzüglich als Angst vor dem Tod zur Unzeit und vor dem Aussterben des Geschlechts. »Alt und lebenssatt«, wörtlich: »voll der Tage« – das ist die Deutung des Sterbens eines Abraham und selbst eines Hiob. Mit der Sünde-Tod-Dogmatik wird dagegen das Leben so recht zur reinen Veranstaltung eines »in Bedrückung«, »in Betrübnis«: Man läßt den Menschen den Tod als »der Sünde Sold« gleich einer Ur-Schuld austragen, um ihn erst im Tode, der eigentlich keiner mehr ist, der Erlösertat des Gottessohnes teilhaftig zu sehen. Der Tod sei zum Menschen durch die Sünde gekommen (Römerbrief, 1. Korintherbrief). »Ursprünglich« wäre der Mensch demnach überhaupt nicht des Todes gewesen. Daß die paulinisch-augustinische Tradition der Kirche für die Handhabung menschlicher Endlichkeit eine bedeutsame Funktion beschert, ist unbestreitbar. Ein Beleg dafür sind selbst noch gewisse Geldbeschaffungspraktiken für den Kirchenbau. Doch damit verfestigt sich nur die religiöse Altlast, die es dem Menschen verwehrt, des Todes als eines Nächsten innezuwerden, ohne den menschliches Leben nicht gelingt und zu sich selbst findet.
3.
Zeitgenössische Neulasten
Fortschrittlich gesonnene Wissenschaftler, von einigen Philosophen sekundiert, geben sich als Aufklärer von heute und verstehen sich damit als Avantgarde. Wie sie aber voranschreiten, möchten sie die Menschen doch »mitnehmen«. Wie sollten sie auch sonst im Verein mit der ihnen gefälligen Politik die Menschen ihrer Zeit zur methodischen Verantwortungslosigkeit und Gewissenlosigkeit verführen und in ein Verhältnis von Produktion und Konsumtion einweisen, das quantitativ wie qualitativ dem Zuviel verpflichtet ist. 84 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Der Mensch solle, sagt der im Juni 1996 in sein Amt als Präsident der Max-Planck-Gesellschaft eingeführte Zoologe Hubert Markl, statt Angst vor dem Fortschritt zu haben, die Natur aktiv und mit einer positiven Einstellung in seine Obhut nehmen. Darunter versteht er zum Beispiel das Klonen eines Embryos, um »ein gesundes Baby in die Welt zu setzen«, und Sterbehilfe, um nicht »hilflos über die Schwelle zu fallen«. Denn daß die Wissenschaft die Welt verändere und in das Entstehen von Leben genauso eingreife wie in den Zeitpunkt des Todes, ist ihm keines Bedenkens wert, daß Wissenschaft und Technik an der Zerstörung der Natur mitwirken, keine zulässige Perspektive. Solche »affirmativen« Energien setzen neue vitale Kräfte frei, die den Tod des Menschen um sein Belebendes bringen. Freiheit (von der unbeschränkten Freiheit der Forschung bis zur unbeschränkten Freiheit des Marktes) bewährt sich in der Globalisierung und Deregulierung als die aufs neue gestärkte Freiheit des enrichissez vous! Die Reichen jedoch sind eine ganz besondere Zierde derer, die mit dem Tod für das Leben nichts anzufangen wissen. Steht auch im Matthäusevangelium, daß Reiche so gut wie keine Chance haben, ins Himmelreich zu gelangen, und wissen wir bereits aus dem Volksschullesebuch (als ob uns das schadenfroh machen könnte), daß Reiche im Tod wieder mit uns gleichziehen – wer wollte nicht gerne reich sein? Ist es jedoch der Armut eigen, von der Hoffnung zu leben, daß die Lebensverhältnisse sich einmal ändern, dann ist es dem Reichtum eigen, in der Angst zu leben, die Lebensverhältnisse könnten sich einmal ändern. Sehnt sich der Arme nicht selten von »hier« weg, dann setzt der Reiche ganz von selbst auf das Bleiben der Verhältnisse, das eigene »Hier«-Bleiben eingeschlossen. Das hat schon jener von vermeinter menschlicher Nichtigkeit bedrängte »Prediger« des Alten Testaments erfahren: Ich sammelte mir auch Silber und Gold und, was die Wonne der Menschensöhne ist, Frauen in Menge. (Zürcher Bibel) Doch als ich all meinen angeschafften Reichtum ansah, siehe, da war alles nichtig und ein Haschen nach Wind. Es gibt keinen Gewinn unter der Sonne. Muß ich es doch einem anderen, der nach mir kommt, überlassen. Wie für Bloch, den Ontologen des Noch-nicht, der Tod nicht mehr als eine inakzeptable zeitliche Begrenzung der Abarbeitung des Noch85 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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nicht zugunsten des Seins darstellt, so für den Reichen eine inakzeptable zeitliche Begrenzung des Besitzens und Genießens (und Mehrens) von Reichtum. Auch die Jungen (die jeunesse dorée, die Life-style-Generation) könnten als Beispiel für Menschen dienen, die am Tod vorbeileben. Doch man sollte ihnen ihr Lebensalter zugute halten: Für sie käme der Tod zur Unzeit. Der junge Mensch muß nicht verstehen und bejahen können, daß selbst ein junges Leben, das endet und damit Versprechen uneingelöst und Hoffnungen begraben sein läßt, bereits ein ganzes Leben ist. Wenn schon in Anbetracht bedenkenlosen Sichauslebens darauf zu verweisen ist, daß Menschen die lebenspraktische Bedeutung des Todes aus dem Blickfeld gerät, dann ist die herrschende Zeitgestalt dieser Lebensart anzuführen: der Neoliberalismus. Die sich als absolut frei gebärdende Marktwirtschaft eines von Hayek erkennt Menschen nur einen Wert zu, sofern sie auf dem Markt bestehen und sich selbst als Marktwert produzieren. Die schlechtweg freie Marktwirtschaft braucht den Tod nur zur Eliminierung der Schwachen und Unbrauchbaren, deren »Gnadenbrot« ihr per se zu teuer ist. Wir haben es so mit der ökonomischen Variante des auf Ausmerzung bedachten biologischen Rassismus zu tun. Sofern diese Marktwirtschaft ihre Konsequenz nicht sehen will, läßt sich das auch neutraler formulieren: Der Fortschritt selbst, wie ihn Wissenschaft im Verein mit Technik, Industrie und Markt garantiert, samt dem daran angeschlossenen Fortschritt im Pursuit of happiness hat keine Zeit für den Tod, versteht ihn nicht lebensteilig zu brauchen und fruchtbar zu machen. Noch ein Wort zur Medizin ist nötig. Inzwischen ist es nämlich unter Medizinern beliebt geworden, sich selbst als eine ganz besondere Altlast und zugleich zeitgenössische Neulast zu inszenieren. So machen sie für sich geltend, durch ihren hippokratischen Eid bis heute auf nichts als Lebenserhaltung verpflichtet zu sein. Das aber schließe, so ihre einfache Rechnung, die Ignoranz des Todes, mehr noch: die Feindschaft zum Tod ein, beschäme dieser sie doch immer neu in ihrem letzten Unvermögen (als hätte nicht bereits der Chor der Antigone gewußt, daß Krankheiten in die Flucht zu schlagen nicht schon bedeutet, dem Tod entfliehen zu können). Die Apparatemedizin der letzten Jahrzehnte hat zu einer Verschärfung dieser Selbstinszenierung geführt: Lebenserhaltung um jeden Preis!? Mehr noch: Lebensverwertung um jeden Preis!? Inzwischen nämlich überwuchert die 86 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Diskussion der Transplantationsmedizin (Organ-»Spende«) bereits die um das Anlassen oder Abschalten von Apparaten geführte. Läßt man sich jedoch nicht von Koketterien täuschen, dann zeigt sich inzwischen die Palliativmedizin als eine etablierte Institution, die öffentlich das Sterben und Sterbenlassen bejaht und sich um den Tod als konstitutives Moment des Humanum sorgt. Daß die Einstellung, der Tod gehöre zum Leben, sich nicht in jedem einzelnen Mediziner und unmöglich in jeder einzelnen Handlung eines Mediziners niederschlägt, versteht sich von selbst. Sind aber eben die Weichen gestellt, gerade auch einer Medizin, die sich nicht länger kurativ versucht, gesellschaftliche Geltung zu verschaffen, dann sind auf der anderen Seite allein noch die fortbestehenden Gefahren zu benennen, welche die exzessive Vereinseitigung sowohl bestehender als auch vermeinter Lebensinteressen heraufbeschwört. Ich führe exemplarisch eine einzige an: die das Sterben verlängernde Organtransplantation bei sehr alten Menschen. Nachdem es nun einmal Organtransplantationen gibt, besteht die Möglichkeit, daß sehr alte Menschen, die eigentlich am Sterben sind, sich ihre Tage mit Hilfe transplantierter Organe unbedingt verlängern wollen. Sie sind dann im Prinzip bereit, je nach eigenem Vermögen jeden Preis für ein geeignetes Organ zu bezahlen, was gegebenenfalls (und diese Fälle gibt es eben!) den Preis der Tötung eines Organinhabers einschließt (eine ganz neue Form des Kannibalismus). Des weiteren besteht damit die Möglichkeit, daß Transplantationsmediziner ihrem Geschäft nachgehen, wo und wie es sich auch immer anbietet. Das ist keine Verdächtigung, kein Pauschalurteil über eine Zunft, sondern nur wieder die empirisch gesicherte Feststellung einer gegebenen Möglichkeit. Wenn sich nun rechtlich die Vorgabe durchsetzt, daß Organentnahme die Zustimmung des Organbesitzers erfordert, so bleibt doch die Gefahr eines moralischen Zwanges bestehen. Wie der Film »Mutterliebe« im Hitlerdeutschland es deutschen Müttern zwingend nahelegte, Organe für ihre deutschen Söhne (!) frei zu spenden, so könnten postmoderne Gesellschaften Marktschwache bedrängen, doch bitte zugunsten von Marktstarken frei zu spenden, ja zu opfern. Und noch ein letztes Wort zu fortbestehenden Gefahren: Es betrifft die um sich greifende Bigotterie im Argumentieren. So preist man etwa als Errungenschaft medizinischen Fortschritts an, sehr alten Menschen mittels Organtransplantation einen kurzen zeitlichen Zugewinn an ebenso mühseligem wie reduziertem Dasein verschaffen zu können, während die Rufe nach Gerontozid 87 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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immer lauter werden. Genau die aber sollte man nicht überhören, auch wenn sie für die meisten Ohren zur Zeit noch nach einem etwas zu weit gehenden Vorschlag für die Neufassung des »Generationenvertrags« klingen. Das gewinn- und prestigeträchtige Verpflanzen lebender Menschenteile taugt für sich jedenfalls nicht dazu, in die neu aufgelebte Diskussion unwerten Lebens argumentativ einzugreifen.
4.
Der befreiende Entwurf
Geistige und geistliche Einstellungen zum Tode, Thanatologien gleich welcher wissenschaftlichen Herkunft können zwar gelegentlich auf menschliches Todesverhalten Einfluß gewinnen, es jedoch niemals wirklich beherrschen. Todespraxis ist für den geschichtlich-gesellschaftlichen Menschen von eigener Dynamik. Sie ist ungleich bedeutsamer als jede Todestheorie und ungleich stärker als jede Todesideologie. Wird nach Aufdeckung der herausragenden Belastungen der Beziehung des Menschen zu seinem Tod noch ein weiterer theoretischer Versuch unternommen, dann soll dieser sich dadurch auszeichnen, daß er sich so nah wie möglich an gelingender Todespraxis orientiert. Als philosophischer wird er freilich nicht beschreibend verfahren, sondern auslegend: Die Todesbeziehung, wie Menschen sie immer neu gelingend praktizieren, wird neu gedeutet und zu diesem Zweck idealtypisch gezeichnet. Keine utopische Idealisierung hat statt. Es handelt sich allein um die gedanklich-entwerfende, nicht aber abbildende Zeichenart des Philosophen. Die hervorstechenden Konturen des Entwurfs haben die Namen Bedeutsamkeit und Unmißverständlichkeit des Todes, Verläßlichkeit und Vertraulichkeit des Todes, Tod als Grund von Kostbarkeit.
a.
Bedeutsamkeit und Unmißverständlichkeit
Das memento mori, wie es traditionell in Gebrauch steht, entdeckt sich als unversiegbarer Quell menschlicher Selbstbeschämung: Bedenke, daß du bloß ein Mensch bist!
In dem angemahnten Gedenken eigener Endlichkeit, Sterblichkeit und Tödlichkeit (»tödlich« als Prädikat des Lebens selbst und nicht eines lebensbeendenden Werkzeugs) soll die Erinnerung vermeinter 88 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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eigener Niedrigkeit, Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit wachgehalten werden. Das neue memento mori dagegen, das dem Menschen in seinen eigenen Möglichkeiten gerecht wird, lautet: Bedenke, daß du in der Tat ein Mensch bist!
Der Tod nämlich, wie er Menschen praktisch eignet, ist letzter Grund aller Bedeutsamkeit (Signifikanz), zumal der ihres Menschseins. Anstatt sich seiner zu schämen und sich durch ihn selbst zu beschämen, hätte der Mensch Grund, stolz auf ihn zu sein, das heißt sich durch ihn vollends aufgerichtet zu wissen, ohne um seiner Selbstbestimmung willen an etwas anderem Maß nehmen zu müssen, das ihn erniedrigt. Lebend oder tot (das für Apparate- und Transplantationsmedizin interessante Problem des Hirntods gehört nicht hierher) – das ist so eindeutig wie schwanger oder nicht. Im Leben schon tot sein, im Tod neu lebendig sein – nein, vor einer Klärung von Metaphorik und Poesie sollte damit nicht gespielt werden. Der Tod, wie er Grund aller Bedeutsamkeit ist, gibt keinerlei Ambivalenz zu erkennen: So bedeutsam er ist, so unmißverständlich ist er auch. Wäre der Mensch in einem gänzlich unverständlichen Sinne lebendig, nämlich ohne tödlich zu sein, dann »lebte« er ohne jede Bedeutsamkeit. Ist aber der Mensch dank seines Todes sich selbst bedeutsam und dadurch vor allen Transzendenzen gefeit, die seine Selbstbestimmung gefährden, dann sind es sieben Dinge, die im Verein die Bedeutsamkeit seines tödlichen Lebens auf sich ziehen: die sich in der Gemeinsamkeit gelingenden Lebens praktisch auslegende Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Zeitlichkeit, Geistigkeit, Sprachlichkeit, Geschichtlichkeit und – last not least – Teiligkeit (um nicht zu sagen Gemeinsamkeit, Geselligkeit, Umgänglichkeit, Verträglichkeit). Alle sieben Dinge sind allein durch die Tödlichkeit des Lebens bedeutsam, sofern eben im Tode, wie er praktisch zum Leben gehört, menschliche Endlichkeit kulminiert und praktisch zu sich selbst kommt. Legen alle sieben Manifestationen menschlicher Bedeutsamkeit sich untereinander aus, so daß unter anderem von geschichtlicher Leiblichkeit, sinnlicher Sprachlichkeit und, was nicht dasselbe ist, sprachlicher Sinnlichkeit zu reden ist, dann bekommt der Mensch ganz deutlich Kontur und Gehalt. Er legt sich selber auf sich selbst hin aus. Das tödliche Leben bewährt sich als Grund und Ziel der Selbstbestimmung. 89 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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b.
Verläßlichkeit
Das haben wir schon in der Schule gehört: Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln.
Ein kühnes Wort, das uns fast am Kosmos irrewerden ließe, entdeckte es nicht, wie der Mensch theoretisch zwar Stärke, praktisch jedoch Schwäche zeigt. Descartes übt sich in vergleichbarer Phantasie, wenn er, diesmal nach innen gewandt, ein »unerschütterliches Fundament« aufzuspüren trachtet, an dem jeder Zweifel scheitert (2. Meditation). Wer so denkt, hat keinen Sinn für den Tod, auch keinen für das gelebte Leben. Für Leben nämlich, wie es gelingend miteinander gelebt wird, braucht der Mensch nichts Absolutes: nichts absolut – physisch – Festes im All, nichts absolut – theoretisch – Sicheres in sich selbst. Was er jedoch praktisch dafür braucht, ist Verläßlichkeit, weil er (lebensteilig sich selbst überlassen) auch bei sich selbst das finden muß, worauf er sich im letzten verlassen kann, er lebte denn aufs Ganze gesehen halt- und einhaltlos. Worauf aber ist praktisch Verlaß, darauf etwa, daß es wieder Tag und wieder Sommer wird, die Zeitung ins Haus und Irene wiederkommt? Einen absoluten, für die Logik der Kausalität vollends begründeten Verlaß gibt es auf diese Dinge sicher nicht, wohl aber einen verschiedentlich lebenspraktisch bewährten. Ohne alltägliche Erfahrungen großer und kleiner Verläßlichkeit käme niemand von uns über den Tag und die Nacht. Doch aller Reichtum an lebenspraktisch wirksamem Verläßlichen ist für sich allein zu gering, uns bereits mit dem zu versehen, was wir brauchen, um dem Leben von Grund auf zu vertrauen und in Vertrauen gegründet zu leben. Geht es nicht um die Zweifelsfreiheit im Kopf, sondern um die das Lebensvertrauen praktisch gründende Verläßlichkeit, dann geht es um weit mehr als alle gewohnte Verläßlichkeit, um mehr selbst noch als die das Lebensvertrauen begründende Verläßlichkeit der leiblichen Mutter und der Mutter Erde. Im Letzten brauchen Lebende die Verläßlichkeit, wie sie einzig der Tod dem Leben bedeutet, eine Verläßlichkeit, die im gelebten Leben selbst haust, so daß es in seinem gegründeten Vertrauen auf einzigartige Weise nicht fremdzugehen hat. Die Verläßlichkeit des Todes eignet dem Leben gleich einer Selbstverläßlichkeit, wenn denn das Leben Grund hat, im Tode nicht sein ganz Anderes, sein ihm völlig Fremdes zu sehen. 90 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Ist dem Menschen ein Halt gewährt, in dessen Verläßlichkeit das Lebensvertrauen von Grund auf eingebunden ist, dann ist das einzig der Tod, wie er ihm praktisch zugehört und gewiß ist. Der Tod bedeutete aber dem Leben nicht den letzten Halt, bedeutete er ihm nicht zugleich im letzten den Einhalt. Der Mensch, wie er zeitlebens Halt braucht, auch und gerade einen letzten, ist damit bereits auf den Einhalt des Lebens verwiesen. Der letzte Halt und der letzte Einhalt gehören zusammen. Die praktische Gewißheit des letzten Halts ist eben in sich die seines Einhalts im letzten. Nun gibt es, wenn man ihren Bekenntnissen traut, Gläubige, bei denen der Tod keine Chance hat, als letztes Haltgewährendes und Einhaltgebietendes genommen zu werden. Für Juden und Christen etwa ist es vielmehr der Gott, der im Ruf steht, von Geburt an bis zum Zeitpunkt, da die Kräfte schwinden, der Verläßlichste zu sein (Psalm 71). Gott nämlich wird in diesem Glauben als der ganz Andere gewußt, der bleibt: der selber er selbst bleibt (Psalm 107; 2. Mose 3), der in dem, wie er sich dem Menschen bekundet, bleibt: in seinem Willen und seinem Wort, und zwar für immer (Psalm 9; 33; 102; 119). Mit seiner religiösen und poetischen Begabung hat der Mensch ganz offensichtlich in ein geistig-geistliches Verhältnis gefunden, in dem die Sehnsucht lebendig ist, den Tod, wie er dem Menschen eignet, zu überspielen. Der Gedanke Gottes als des Verläßlichsten ist ganz eng an den Gedanken des Todes gebunden. Der Gläubige artikuliert das unter anderem in Bitten, im Tode nicht von Gott verlassen, ja in einem unsterblichen Teil überhaupt vom Tode errettet zu sein (Psalm 6; 16; 33; 56; 68; 118). Dieser Zusammenhang von Todes- und Gottesgedanke genügt um zu erkennen, wie gerade auch der Glaube ein außerordentliches Interesse am Tode hat. Der Tod behält seine volle Bedeutung für das leibhaft-lebendige Leben. Das gläubige Gottesverhältnis ist kein Weg, den Tod zu annullieren, sondern ihm auf ganz eigene geistige und geistliche Weise im Leben zu begegnen und für das Leben ernst zu nehmen. Der Tod gibt dem Menschenleben seinen letzten Halt. Der Gott gibt dem Menschenleben seinen letzten Halt.
Wie der philosophische Entwurf gelingenden Lebens die Lebens- und Glaubenspraxis reflektiert, stellen diese Sätze keine konkurrierenden Behauptungen dar, bedeuten sie keinen Widerspruch. 91 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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c.
Vertraulichkeit
Der Tod als letztes Verläßliches ist für den Lebenden von einzigartiger Vertraulichkeit. Die bedeutsamste Intimität als Lebender unter Lebenden gewinnt der Mensch nicht im Verhältnis zum Geschlecht, schon gar nicht in dem zu Bewußtsein und Vernunft, sondern in dem zum Tod. Der Maler Bacon und der Philosoph Lévinas haben sich mit hoher Sensibilität und Intelligibilität der Verletzlichkeit des Menschen zugewandt. Doch das war nicht der Weg, dem Menschen, der lebt, sein Intimstes zu entdecken. Seine unbestreitbare Vulnerabilität und Fragilität ist genau nicht das, worin er sich selbst erkennt. Menschliches Leben findet vielmehr dann zu größter Vertraulichkeit seiner selbst, wenn es an die praktische Gewißheit des Todes rührt. Sind Einander-Lieben, Einander-Brauchen und Füreinander-Zeithaben die Weisen, wie gelingendes Leben sich praktisch seiner selbst vergewissert, dann sind das genau die Vollzugsweisen von Lebensteilung, die von der Intimität des Todes durchherrscht sind. Es ist der Tod, wie er Menschen näher als alles ist, was unter dieser und jener Gestalt geliebt und gebraucht wird, näher als alles, was sich mit Bestimmtheit vorhaben und erinnern läßt. Die Nähe, die den Tod für das Leben das Vertraulichste sein läßt, ist keine räumliche, aber auch keine gedankliche. Als die praktische, die sie ist, bedeutet sie ein Übereignetsein: Wie der Mensch zeitlebens des Lebens ist, so ist er auch zeitlebens des Todes. Diese Zusammengehörigkeit von Leben und Tod bedeutet aber eben keine Indifferenz. Ist mit dem Superlativ intimus jedes »zwischen« und jede »Distanz« negiert, dann aber auch eine differenzaufhebende Unmittelbarkeit. Intimität ist kein Fall von Koinzidenz. Leben und Tod brauchen einander. Ich nenne darum den Tod den »anderen Anderen«.
d.
Kostbarkeit
Der Tod der Anderen und der eigene Tod, wie sie praktisch gewiß sind, geben der Zeit, die Menschen miteinander und füreinander haben, einen eigenen Wert. Doch der Wert, den Menschen der Zeit zuerkennen, ist von Grund auf ambivalent. »Die Kunst ist lang, das Leben kurz« – von diesem alten Wort ist es für manche nicht mehr weit bis zur Devise »Zeit ist Geld«. Wer aber das »Wuchere mit deinen Pfunden!« allzu wörtlich nimmt, gerät 92 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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lebenspraktisch leicht nicht weiter als bis zum Streß des Lebens. Durch ihn werden nicht zuletzt all die gefangengenommen, die für ihre Lebensmühen Lohn und Gewinn einklagen. Das Leben und mit ihm die Zeit des Lebens verlieren dadurch ihren Selbstzweckcharakter: Sie werden instrumentalisiert. Die Zeit läßt sich jetzt zwar als teuer erfahren, aber sie ist für sich doch allein als angefüllt anzusehen, nicht jedoch als erfüllt. Wird sie nämlich auch noch so teuer gehandelt, so ist sie dennoch für sich ohne jede Kostbarkeit, weil ja das, was man eigentlich für sie zu bekommen trachtet, weiterhin aussteht. Der Tod macht die Zeit kostbar. Er instrumentalisiert sie nicht, sondern gibt ihr selbst einen Sinn. Bestünde die Lebenszeit als endloses Undsoweiter, dann ließe sich alles endlos vertagen, hätte keine Minute, kein Tag und kein Jahr für sich Bedeutung. Ob erlebnisreich oder erlebnisarm, die Zeit, die sich aus der wechselseitig bedeutsamen Tödlichkeit menschlichen Lebens versteht, ist in sich kostbar und erfüllt. Zeit, die kostbar ist, hat ihr Verweilen je in lebenspraktischer Gegenwart von Menschen, die Leben teilen. In der gelingenden Gegenwart des Einen und Anderen in praktischer Absicht gewinnen geteilte Zukunft und Vergangenheit einen eigenen Glanz. Wird darum von der Kostbarkeit der Zeit gesprochen, die die Tödlichkeit des Lebens Menschen lebensteilig beschert, dann ist auch notwendig von der Kostbarkeit lebensteiliger Praxis zu sprechen: Das Leben der Anderen wird kostbar und mit ihm die Anderen selbst; das eigene Leben wird kostbar und mit ihm je der Eine sich selbst. Theorien der Wertschätzung und Selbstwertschätzung vergessen nur allzuleicht, daß es ohne den Tod im letzten keinen Grund der Schätzung menschlichen Lebens und lebendiger Menschen gibt. Wo nämlich an kein erfülltes Verweilen in lebensteiligen Verhältnissen zu denken ist (weil niemand sich selbsthaft in das Einander einbringt und es in praktischer Gewißheit seiner Endlichkeit austrägt), da ist der Eine für den Anderen und für sich selbst praktisch ohne Wert. Wer eine Minute, einen Tag, ein Jahr um das Erfülltsein bringt, indem er Zeit instrumentalisiert oder das Bedeutsamsein von Zeit überhaupt ins Unbestimmte vertagt (so daß es nie einen Grund gibt, sich gerade »jetzt« selber einzubringen), verliert mit dem Sinn für den Tod auch jeglichen Sinn für lebensbefähigende Wertschätzungen. Das Überwältigende und Erschreckende des Todes, das Sichängstigen vor dem Sterben und das Leiden beim Sterben, das Schmerzen93 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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de des endgültigen Abschieds – nichts davon ist in Abrede zu stellen oder auch nur zu bagatellisieren, wenn sich der Blick darauf richtet, die Bedeutung des Todes zu sehen, die er für gemeinsam gelingendes menschliches Leben hat. Den Versuchen, sich diesen Blick selber zuzutrauen, steht freilich nicht selten etwas entgegen, das Menschen sich als Urbestandteil ihres Menschseins einreden, wenn nicht gar einsozialisieren lassen: die Todesangst. Da sollte sich doch jeder, der Todesangst zu haben glaubt, einmal selber frei und genau befragen, ob ihm dann eigentlich Angst vor dem Sterben oder vor dem Totsein zu schaffen macht. Im Selbstzeugnis eines schwedischen Sportlers, der sich (am 27. Dezember 1991 auf dem Flug von Stockholm nach Kopenhagen) vor dem sicheren Absturz und sicheren Tod »wußte«, heißt es: Ich hatte keine Angst, ich akzeptierte den Tod sofort. Ich hatte nur Angst vor der Art, wie ich sterben könnte, Schlag oder Verbrennen … Es sollte nur schnell gehen. (Die Tageszeitung vom 15. Januar 1992, S. 20: »Ich wußte, ich würde sterben.«)
Insistiert man mit entsprechenden Fragen bei Ärzten, Sterbebegleitern, Angehörigen Verstorbener, Seelsorgern, dann geben deren Antworten klar zu erkennen, daß das Zeugnis des Schweden verallgemeinerungsfähig ist. Der Tod selbst in seiner Gewißheit ist es nicht, der an der Schwelle des Wechsels vom Lebendigsein zum Totsein Angst macht. Wie sollte auch der Intimus des Lebenden, der ihm lebensbefähigenden Halt gewährt und Einhalt gebietet, der ihm die Zeit des Lebens und die Partner des Lebens kostbar macht, den Lebenden ausgerechnet im äußersten Augenblick des Lebens verraten? Nein, gerade in der Vollendung des Lebens und Sterbens bewährt sich der Tod in seiner Signifikanz für das Leben ein letztes Mal, nämlich als der Garant für den zum Totsein Wechselnden, ein unwiederbringliches Leben gelebt zu haben.
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Eros und Macht
Als ob sie nicht ohnehin das tragische Geschehen beherrschten, treten Eros und Macht in der Attischen Tragödie auch als eigene Gestalten auf. Doch für was stehen sie? Um etwas, das unter einem allgemeinen Namen vorgestellt wird, eindeutiger und verbindlicher zu verstehen, sehen sich Philosophen gehalten, es auf den Begriff zu bringen und nach Möglichkeit darauf festzulegen, was es seinem eigentlichen Sinn und das heißt seinem wahren Wesen nach ist. »Eros ist eine gottgesandte Manie« – das ist spontan der Vorschlag, den Platons Sokrates macht: als Anfang der Wahrheit über das Wesen des Eros. »Eros ist seinem wahren Wesen nach philosophische Manie« gilt ihm als vollendete Deutung der Wesensbestimmung. Der Macht, soweit sie Menschen üben, um über Menschen zu herrschen, ergeht es bei diesem auf Wahrheit und Wesen geeichten Liebhaber nicht besser: sie sei ihrem wahren Wesen nach einzig den wahren Philosophen (nicht etwa den aufgeklärten Intellektuellen und Sophisten seiner Zeit) zugedacht. Das ist so ganz nach dem Geschmack der bis heute einflußreichen Wesensdenker: Der philosophische Geist entwirft sich rein auf sich selbst – verliebt in nichts als Geistiges, ermächtigt zur Herrschaft über nichts als Geister. Selber Philosoph, denke ich, nein, Eros und Macht, dies einig-uneinige Paar, verdient eine andere Nachdenklichkeit. Eros ist eine anderen Mächten ausgesetzte Macht – das ist es, was Calderon und Schnitzler, Wedekind und Euripides in besonderer Absicht vorführen wollen. Sie lassen dazu Raserei und Vergewaltigung triumphieren, Lüge und Haß, Zerfleischung und Verzweiflung, Bosheit und Erniedrigung. Das alles können und dürfen wir schon jetzt wissen. Wir mögen zwar hoffen, daß das Entsetzen und Erschrecken, selbst wenn es bis zu Ende herrscht, insgeheim an Liebe appelliert, die zu guter Letzt stärker als jede andere Gewalt sein wird. Doch eingeweiht ist noch keiner von uns. Texte, wie Partituren gelesen, taugen nicht zu Initiationsriten. Dazu bedarf es der Bühne und der Couragiertheit aller Beteiligten, sich ganz dem Spiel zu überlas95 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Eros und Macht
sen, während sie wissen, daß es nicht nur, sondern sogar Spiel ist. Das Letzte, was in einer Tragödie zu Wort und zu Gesicht kommt, bleibt Geheimnis des Ensembles, das sich als Einheit von Autor, Text, Regisseur, Dramaturg, Bühnenbildner, Schauspieler und Publikum bei den Aufführungen spontan bildet. Ist das Spiel zu Ende, dann ist das Geheimnis wieder verwaist. Nur ein Gedächtnis, das an dem Begegneten, Erlebten und Mitgestalteten poetisch weiterarbeitet, bewahrt etwas von dem, was die aufs Spiel gesetzte Gewalt der Liebe in ihrer Übermacht und Ohnmacht eigentlich vermocht hat. Noch ist die Bühne dunkel. Das gibt Gelegenheit, sich Gedanken zu machen, worum es eigentlich gehen wird, wenn Eros und Macht sich in Szene setzen, Eros, der schon für sich selbst eine Macht ist, und die ihn bedrohenden Mächte. Die Gewißheit, das Rätsel des tragischen Liebesspiels nicht zur Unzeit entzaubern zu können, läßt sich von diesem philosophischen Versuch in nichts erschüttern. Baut der Rechtsstaat – zumindest de jure – auf drei Gewalten (die gesetzgehende, ausführende und rechtsprechende), dann der Mensch, der wir selbst sind, in praxi auf vier. Sie sind die Mitgift, die für den Einzelnen und die Gemeinschaft sowohl die Herausforderungen des Lebens prägen als auch ihre Bewältigung: Liebe und Tod sind davon die zwei Gewalten, die auch unmittelbar, Freiheit und Wahrheit die zwei, die nur bewußt und gewollt zum Austrag kommen. Anders als die politischen pochen sie nicht auf ihre Distanz untereinander. Jeder der vier ist es geläufig, daß die anderen drei für die eigene Machtausübung bedeutsam sein können. Alles, was sonst durch Menschen für Menschen als Gewalt auftritt – von der Gewalt über die Natur bis zur Staatsgewalt, von den Gewalt der Schönheit bis zu der des Worts, von der des Wollens bis zu der des Begehrens –, findet in Zusammenspiel und Konkurrenz jener vier seinen Ort. Die vier spontan und überlegt agierenden Gewalten bilden nicht allein das Potential, am Haus des individuellen, gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zu bauen. Von ihnen geht nicht weniger die Gefahr aus, es bis in seine Rudimente zu zerstören. Diese Doppelnatur menschlichen Vermögens und Mächtigseins ist nicht etwa ein Manko, nichts, das utopischer Änderungsentwürfe bedürfte, sondern das Marken-, ja Gütezeichen unmittelbarer und reflektierter Lebensart, die das Menschliche zum Austrag bringt. Das aber trägt, wie nicht erst von den Tragödien- und Komödiendichtern zu lernen ist, selbst eine Spannung aus: Menschlich und Unmenschlich. Erfah96 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Eros und Macht
rene Theaterbesucher wissen darum: Der Poesie läßt sich nur poetisch begegnen. Ohne Sinn für Tragik, und das meint: ohne eine Möglichkeit ihrer Bejahung, sollte niemand in Tragödienaufführungen gehen. Machen wir zum springenden Punkt menschlicher Fortune die Befähigung, das eigene und gemeinsame Leben in Ausübung der vier Gewalten zu führen, dann zeigt sich schnell, wie Gewalt zum Guten und zum Schlechten sein kann. Im Griechischen heißen sowohl die gesetzlose als auch die widernatürliche Gewalt bia. In beiden ist die brechende, verletzende, beleidigende, sich vergreifende, mißhandelnde, verwüstende, befleckende, entweihende zu sehen, alles in allem die vergewaltigende Gewalt und übermächtigende Macht. Ihr gegenüber steht die beherrschte Gewalt, die Recht schafft und Ordnung hält, griechisch kratos genannt. Erdenkt sich jetzt der Utopist eine Macht, die dafür sorgt, daß unter Menschen eitel Recht und Ordnung, Schirm und Schutz, Halt und Einhalt herrschen, dann hat er nichts Gutes mit uns vor. Er verleugnet schlicht die geschichtliche Wirklichkeit des Menschen zugunsten einer paradiesischen, in der es zugeht wie in einem Totenreich. Nein, Kratos und Bia sind nicht zu trennen, wenn das Menschliche eine Chance und der Mensch nicht auf ein Kopfwesen reduziert werden soll. Es gibt sie, die rohe und brechende Gewalt, die sich zum Guten gebrauchen läßt, ja gebraucht werden muß. Aber es gibt sie nicht für sich, sondern nur so, daß sie im ganzen eine beherrschte ist. Als ideale Gewalt unter Menschen ist zu denken: soviel Bia wie ohne Unbeherrschtheit möglich, soviel Kratos wie zur Beherrschtheit nötig. Das könnte auch bedeuten: soviel Es wie möglich, soviel Ich wie nötig. Eine Macht, die sich nicht mit anderen mäße, wäre keine. Zur Macht, die ihrer selbst gewiß ist, gehört es, sich keiner Macht unterworfen zu wissen. Unangefochten Macht zu sein – das ist der Selbstzweck jeder Macht. Das gilt auch für die Liebe. Sie mißt sich als Macht, ob unbedacht oder bedacht, ob zum Guten oder Schlechten, mit den anderen drei: mit Tod, Freiheit und Wahrheit. Paulus läßt bekanntlich die Liebe mit Glaube und Hoffnung konkurrieren und gewinnen: sie sei »die größte unter ihnen«. Die Liebe, die sich mit dem Tod mißt, mit Freiheit und Wahrheit, hat dagegen kein Größenproblem. Für sie steht und fällt alles mit der Entscheidung, ob sie zum Guten gelingt. Allein darin liegt ihre selbstgenügsame Größe. Die Liebe zum Guten gibt sich als die belebend-befruchtende, orgiastisch-befreiende und poetisch-verzaubernde. Gegen sie nimmt 97 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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sich die andere, die verzehrend-selbstzerstörerische, trügerisch-verstrickende und hassend-tödliche oftmals als die stärkere unter den Liebesmächten aus. Nun können wir uns auf nichts von dem berufen, was noch im Kairos der Aufführungen an Erfahrungen beschlossen ist. Die menschliche Fortune darf jedoch bereits in Aussicht genommen werden, die darin bestehen wird (so die Aufführungen die Erwartungen erfüllen und übertreffen), daß sich die Ensembles bilden. Diese Zeugnisse poetisch geteilten Lebens, das der Teilung von Tisch und Bett so ungleich nicht ist, genügen, um einfach von Natur aus der bösen Liebe keine Chance gegeben zu sehen, zu schlechter Letzt zu siegen. Die gewalttätig-beherrschte Gewalt hat sich bei allem Übermaß Geschichte gewordener Unmenschlichkeit rein aus sich nachhaltig als die mächtigere erwiesen und verspricht, dies auch in Zukunft zu tun. Das große Wort, daß die Liebe zum Guten stärker ist als die Liebe zum Bösen, kann gar nicht gelassen genug ausgesprochen werden, um nicht an der Erregung derer zu scheitern, die geistig das Elend des Menschen abonniert haben. Spricht es aber in seiner Gelassenheit, so zeigt sich die Konkurrenzsituation der Liebe zum Guten in einem völlig neuen Licht: Sie ist die stärkste aller Mächte, dies aber allein auf der Basis, daß sie es mit den sie bedrohenden Mächten aufnimmt. Sie ist dann stärker als der das Leben verschlingende Tod, wie er ihr in der Gestalt ungebändigten Hasses und unkontrollierter politischer Macht über Leben und Tod entgegentritt, stärker als jede Willkür der Mächtigen, stärker auch als niederkonkurrierende und in Existenznot stürzende Freiheit, stärker schließlich als die schamlos enthüllende und zutiefst beschämende, als die unzeitige und nicht zu bewältigende Wahrheit, um von der Lüge als dem anderen Gebrauch der Wahrheit nicht zu reden. Ihre nachhaltige Stärke beruht, so gedeutet, darauf, daß sie nicht gegen einen Tod, eine Freiheit und eine Wahrheit zum Guten antritt, sondern sich mit ihnen vereint und sie fruchtbar zu machen weiß: den Tod, der lebensbefähigend Halt gewährt und Einhalt gebietet, die Freiheit, die dem Gewissen folgt, die Wahrheit, die der Selbstvergewisserung gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Gelingens dient. Antigone und Gretchen sterben zur Unzeit, auch Romeo und der von Penthesilea in Stücke gerissene Achilles. Daß Liebe im Einandernicht-halten-Können und Sich-entgleiten-lassen-Müssen gelingt, zu spät für das eigene Lebendigsein, vereinsamt, in Wahn und Ohnmacht, gegen eine Welt von Willkür und Verblendung, Haß und Ge98 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Eros und Macht
walt, Distanz und Ignoranz – das ist die Wahrheit der Liebe, die bevorzugt auftritt, sobald sie mit der besonderen Authentizität der Poesie inszeniert wird. Das Scheitern erotischer Beziehungen ist eigentlich banal, weil statistisch in der Überzahl. Die dramatische Poesie jedoch gibt keine Ruhe, bis sie seine Formen und seine Gründe ins Un-Menschliche gesteigert hat. Jetzt dokumentiert es nicht mehr den Alltag menschlichen Unvermögens. Sein Spiel verlagert sich in die Dimensionen des Bösen und Verwerflichen, des Unberechenbaren und Unverfügbaren, des von höher oder von tiefer Gewollten. Sind aber erst einmal die Furien losgelassen, dann ist nicht nur der Banalität des Unglücks, sondern auch der des »kleinen Glücks« jede Basis entzogen. Die raren, kurzen und zumeist reichlich finalen Momente siegreicher Liebe zeigen unmißverständlich, daß das eigentliche Drama der Liebe nicht ihr Scheitern, sondern ihr Gelingen ist. Birgt eine Tragödie kaum die Gefahr, ihren komödiantischen Part zu überziehen oder ihren tragischen Zug zu überzeichnen, dann aber die, zu sicher und zu fest in ihrem offenkundigen oder auch verschwiegenen Zum-Guten zu gründen. Sie muß gegen sich selbst anspielen. Am besten geht sie dabei in Liebesdingen so weit, ihr Gelingen, das sich in Liebe und Gegenliebe aufs Spiel setzt und seiner selbst vergewissert, zu einem Tabu zu machen, das nicht zu brechen, zu einem Geheimnis, das nicht zu enträtseln ist. Jede Inszenierung von Eros und Macht, die durch Bilder und Worte in gequältem Fleisch und Blut zu ertrinken droht, wäre so ein weitsichtiger Weg, die Frucht vom Baum der Erkenntnis mit aller Brutalität und Schamlosigkeit auszukosten, um in Wahrheit nur eines zu schützen: den Baum des Lebens. Der poetische Kult des Unglücks und der unentrinnbaren Verstrickung versähe auf diese Weise die Dienste der Cherubim. Darüber Gewißheit zu erlangen, ist nicht mehr Sache des Nachdenkens, sondern der poetischen Erfahrung.
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Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
Leben und Denken – beides kann mit Blick auf den Menschen als Einheit gesehen werden. Das ist auch genau die Aufgabe, die ich mir hier stelle: die wechselseitige Bedingung von Lebensvollzug und Denkvollzug aufzuzeigen. Als These, schon etwas genauer formuliert, heißt das: Vor aller Mannigfaltigkeit von Lebens- und Denkformen ist an eine initiale Lebensform und eine initiale Denkform zu denken, die selbst noch keinen besonderen Lebensstil und Denkstil erkennen lassen, sondern je dem Leben und Denken vom Anfang her eine einheitliche Form geben. Diese These schließt ein, daß initiale Lebensform und initiale Denkform der Form nach gleich sind. Wer aber lebt schon, wie er denkt? Diese Frage zielt gern auf Philosophen. Welche Enttäuschung hat da zum Beispiel Max Scheler seinem Publikum bereitet. Trifft es die Philosophen jedoch wirklich, daß sie nicht nur im Denken enttäuschen? Doch ist das gar nicht meine Fragestellung: Alle Lebensart und entsprechend alle Denkart liegt außerhalb der Zielsetzung der folgenden Überlegungen. Am Gelingen der initialen Lebensform und der initialen Denkform, den einzig thematisierten, kommt aber selbst ein Scheler nicht schlechtweg vorbei. Damit ist die vorgegebene Einschränkung des Themas noch nicht zureichend abgesichert. Der Hinweis ist nötig, daß eine unterschiedliche Bewertung von Leben und Denken nicht in Frage kommt. Sich dieser zu enthalten, fällt selbst mir schwer. Eigentlich halte ich es nämlich für richtiger zu sagen, daß das Denken dem Leben als daß das Leben dem Denken dient. Ich habe dann freilich die Rechnung ohne die Selbstverliebtheit von Philosophen gemacht, die die Devise »Wir leben, um zu denken«, der anderen »Wir denken, um zu leben« vorziehen – wie etwa Aristoteles in jugendlichem Überschwang. Doch das trägt nicht weit: Wenn es für Einen in letzter Einsamkeit ernst oder in schönster Geselligkeit heiter wird, liegt erfahrungsgemäß selbst Menschen vom Schlage der Philosophen zu leben näher als zu denken. Dennoch möchte ich von keiner Priorität des Lebens gegen101 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
über dem Denken ausgehen. Das wäre ein evolutionstheoretischer Ansatz. Zum Leben des Menschen gehört sein Denken wie zum Denken des Menschen sein Leben gehört: sein leibhaftiges, sein geselliges Leben. Darum ist die Konjunktion »Lebensform und Denkform« ein geglücktes Thema. Es bleibt nur mehr die Aufgabe, dem soweit Geglückten gerecht zu werden, was der angezeigten These nach verlangt, die Konjunktion als – anfängliche – Einheit zu deuten. Noch eine letzte Schwierigkeit bei der Beschränkung des Themas bedrängt mich: die Kulturalität. Lebensform und Denkform im Plural sind jeweils Repräsentanten bestimmter Kulturen. Man erinnere nur an die faustische Lebensform alias die Lebensform ihres Erdichters Goethe, wie Eduard Spranger sie preist, und die Denkformen des Gedankenkreises, wie sie Hans Leisegang als die der faustischen Lebensform adäquate beschreibt. Muß sich das Interesse an einer initialen Lebens- und initialen Denkform nicht überhaupt der menschlichen Kultur verschließen? Nein, die neu zu stellende Frage liegt nicht außerhalb jeder Kultur. Wird jetzt der Mensch auch nicht in seiner kulturellen Vielfalt gesehen, wie sie durch künstlerische und religiöse, nicht zuletzt durch wissenschaftliche, technische und ökonomische Entwicklungen geprägt ist, so bleibt doch eine philosophische Kultur verbindlich, die immer neu den Menschen nachdenklich auf sich selbst bezogen sein läßt. Das philosophische Interesse am Menschen, der wir selbst sind, wie ich es wahrnehme, zielt auf die Form des Lebens und Denkens und auf beider Einheit, die nicht dem Zufall geschichtlicher Entwicklungen ausgesetzt ist. Eben darum spreche ich von initialen Formen. Die Anmaßung ist mir bewußt: die eigene Anstrengung damit für ein Moment der philosophischen Kultur zu erklären. Den Menschen eignet geistige Tätigkeit nicht allein als geschichtlich plazierten, mit »Interessen« befrachteten Individuen und Bürgern, sondern allgemein als Lebewesen. Ebenso gilt: Den Menschen eignet Vitalität nicht, insofern bei ihnen auf bloße »Tierheit« zu erkennen wäre, sondern als geistig tätige Wesen. Unsere Spezialität ist es, als Lebewesen zu denken und als Denkwesen zu leben. Das liegt, wie in der einleitenden These bereits vorweggenommen, darin, daß ein Mensch, der sich zum Menschen entwickelt, Formen des Lebens und des Denkens ausbildet, die für seine ganze Lebens- und Denkart unverzichtbar sind. Gemeint sind Formen, die auch ohne Rücksicht auf den je besonderen und zeitgeschichtlichen Zuschnitt als Formen erkennbar und erklärbar sind. 102 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
Die Weichen für die eigene philosophische Interessennahme sind gestellt. Ich beginne mit der Lebensform, nicht mit der Denkform, da ich es in Revision der Tradition eines Platonischen Sokrates, der als Denkender »so nah wie möglich am Gestorbensein leben« 1 wollte, für dezenter halte, bei aller erhellender Einheit beider erst einmal das Leben dem Denken vorzuziehen. Lebensform – wie der wörtlich so genannte Begriff von Philosophen im einzelnen auch besetzt wird, in jedem Falle signalisiert er, daß das Selbstverständnis menschlichen Lebens aufgekündigt ist. Das gilt nicht nur, wenn Lebensform sich prinzipiell als alternative Möglichkeit vom Plural her versteht. Ich möchte die philosophische Kultur der sich im Reflektieren spiegelnden Selbstentfremdung gerade auch dort lebendig erhalten, wo auf der gewählten Reflexions- und Untersuchungsebene nur eine einzigartige Lebensform in Betracht kommt: die initiale. Sie ist, so Leben gelebt wird, nie nur bloß möglich, sondern notwendig eine wirklich praktizierte. Philosophie steht für die Tatsache, daß menschliches Leben sich selbst eine Frage geworden ist: die Frage seines richtigen Entwurfs und seiner richtigen Führung, ja seiner wahren Bestimmung. In dieser Lebensfrage ist allerdings »Leben« nur insofern von Bedeutung, als das Leben des Menschen im Blick steht: des Homo humanus, sofern er eine Gestalt der Erfahrung, nicht der Utopie ist. Humanus – das läßt aufhorchen. Ja, nicht zufällig stoßen wir, der Fraglichkeit des Lebens auf der Spur, auf die menschliche Bestimmung des Menschen, die es, wenn überhaupt, allein kraft Selbstbestimmung gibt. Der Selbstentwurf menschlichen Gelingens ist dabei keinerlei Willkür anheimgestellt, und das eben macht ihn notwendig zu einem Produkt menschlicher Selbstverantwortung. Es genügt nicht, ein entsprechendes Gelingen selbst in Erfahrung zu bringen. Was dem Menschen als Menschen bestimmt ist, wird von keiner außermenschlichen Kraft und Macht diktiert, sondern entscheidet allein er selbst. Nun scheint der Gedanke der Selbstverantwortung für das Ganze des Darzustellenden nicht nur zu früh zu kommen, sondern in dieser Sichtweise überhaupt unpassend zu sein. Hat die initiale Lebensform, wie ich sie in Aussicht nehme, keine Alternative, dann muß doch wohl die Unterscheidung von Human und Inhuman für sie gänzlich irrelevant bleiben. Gerade das aber sehe ich anders: Der Homo humanus steht bereits mit der initialen, noch nicht kulturell 1
Phaidon 67e.
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spezifizierten Lebensform auf dem Spiel. Frage ich darum auch im Augenblick nach einer einzigartigen Lebensform, die nicht zur Disposition steht, dann tue ich das doch im Rahmen einer philosophischen Kultur, die menschliches Leben selbst in seiner initialen Form zur Frage und Antwort darauf zur Sache menschlicher Autonomie macht. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zeigen sich jetzt schon als Schlüsselbegriffe, um die Praktizität der initialen Lebensform für die Praktizität jeder besonderen, im Prinzip alternativen Lebensform als bedeutsam erkennen zu können: Stünde das Humanum nicht in der initialen Lebensform auf dem Spiel, wäre überhaupt nicht an eine Alternative von Human und Inhuman zu denken. Betreibt Philosophie im ersten und letzten die Verständigung des Menschen über sich selbst, dann weiß sie, daß die Rechtfertigung philosophischen Tuns nur darin bestehen kann, direkt oder indirekt dem Versuch menschlicher Selbsterkenntnis zu dienen. Die Lebensfrage macht hiervon unmöglich eine Ausnahme. Ist sie aber ein Moment philosophischen Strebens nach Selbsterkenntnis, dann kann das nur heißen, daß sie darauf zielt, im Leben Möglichkeit und Wirklichkeit zu erkennen. Nun spricht die Tatsache, daß Leben sich – philosophisch – fraglich geworden ist, nicht für eine bloße Diversifikation der Lebensmöglichkeiten, sondern für die Alternative von Richtig oder Falsch, Gut oder Schlecht. Zielt darum Selbsterkenntnis auf das Humanum, so wird notwendig auch schon seine Alternative relevant: Das sich im Zuge der Verständigung über das Leben problematisierende Leben sucht in seinem wohlverstandenen Interesse nach einem sicheren Kriterium für die Scheidung von Human und Inhuman. Die Alternative von Human oder Inhuman, die für Leben und Handeln nicht nur nicht aufhebbar, sondern überhaupt konstitutiv ist, bedingt eine Lebensform, die ihr stattgibt. Das ist der springende Punkt: Die in Aussicht genommene initiale Lebensform muß einerseits dem Humanum genügen und muß zugleich die Alternative von Human oder Inhuman zum Austrag bringen. Des Rätsels Lösung: Gelingt die initiale Lebensform, nimmt also Leben seinen Anfang, dann hat das Humanum seine »erste Verwirklichung« erfahren, mißlingt sie, dann dominiert das Inhumanum. Wer dagegen Lebensformen entwirft, die einzig und allein das Humanum zulassen, ja in denen das Humanum gänzlich zu sich selbst findet, denkt am Menschen vorbei. Die Menschlichkeit des Menschen lebt bleibend und je augenblicklich von der Möglichkeit des Unmenschlichen. 104 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Menschlichkeit und Unmenschlichkeit haben nirgendwo anders statt als unter Menschen. Die Möglichkeit der Inszenierung des autonomen, in seinen Lebensvollzügen selbstverantwortlichen Menschen setzt demnach eine Lebensform voraus, die für eine lebenspraktische Wechselseitigkeit steht, aus der sich das Gelingen gemeinsamen Lebens, wenn nichts hindert, von selbst ergibt. Besser gesagt: Die Lebensform steht selbst für initiales Gelingen. In gebotener Kürze sei etwas zur Semantik des Humanum gesagt. Ich gehe davon aus, daß Leben in Gemeinschaft eher einen beherrschenden Zug des Humanen hat, das die je eigene Lebensbefähigung eher stärkt, als einen beherrschenden Zug des Inhumanen, das sie eher schwächt. Mit der gesuchten Lebensform steht somit das Zusammenleben im Blick, gelingendenfalls ein selbsthaft geteiltes, mißlingendenfalls ein selbsthaft hintertriebenes. Verstehe ich unter Führung und Gestaltung, kurz: unter dem Vollzug des Lebens den Vollzug des Zusammenlebens (gr. συζῆν, συμβιοῦν), dann ist das die Form, die jeder Gestaltung und jeder Art von Verfaßtheit vitalen menschlichen Verkehrs zugrundeliegt. Ich nenne darum das lebende Ensemble, das die Alternative von Humanum oder Inhumanum, wenn nichts Heteronomes hindert, zugunsten des Humanum austrägt, die initiale Form des Lebens. Das ist die ganze Antwort auf die Frage nach der das Humanum entscheidenden Lebensform: Es ist das Ensemble, das Menschen im Lebensvollzug bilden. Um in dieser Antwort auch wirklich das bislang gesuchte Anfängliche zu erkennen, reicht es zu, sich die beherrschenden Züge des lebenspraktischen in-simul genauer zu vergegenwärtigen. Das lebendige Ensemble bedeutet schon in seiner initialen Form Gegenwart in praktischer Absicht und in praktischem Vollzug: Der Eine und der Andere sind jeder für sich und füreinander praktisch positioniert und bilden gemeinsam eine praktische Situation. Das »Zu-gleich« in seiner Praktizität verlangt das selbsthafte Auseinander des Eines und Anderen. Das von der Praxis, nicht von der Räumlichkeit her zu verstehende Auseinander verleiht dem Einen und Anderen in ihrer Wechselseitigkeit den Charakter der Alterität: Sie sind so positioniert, daß sie einander Andere sind. Sie sind insofern nicht anders im Sinne von andersartig, sondern sind sich darin gleich. Die Alterität, die das lebendige Ensemble generiert und praktiziert, hat so die eigentliche Bedeutung von Einanderheit, nicht aber von Andersheit. Eigenheitlich (zum Beispiel dem Lebensalter und 105 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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dem Geschlecht nach) einander anders oder gleich zu sein, braucht die nicht qualitative, sondern rein praktische Alterität selbsthafter Positionen. Die Alterität in ihrer ersten Bedeutung als Einanderheit wird nicht durch das Spiel aufeinander angewiesener Eigenheiten repräsentiert, sondern durch die Unvertretbarkeit und Unverwechselbarkeit der selbsthaften Positionen, das aber heißt: durch das Zusammenspiel der einen und anderen Freiheit. Freiheit – das ist der Kern einer jeden praktischen Position, das ist, was sich in Position bringt und als Position behauptet. Gelingt darum Einanderheit, so ist das sowohl Grund als auch Ergebnis selbsthafter, eben autonomer Handlungsbefähigung. Frei ist nur das je eigene Selbst, und es ist allein es selbst, sofern es sich dem auf Freiheit gründenden und sich als Freiheitsgebrauch vollziehenden Wechselspiel des Einander verdankt. Ein solus ipse ist, genau bedacht, niemals handlungsfähig. Allein durch praktizierte Alterität und sich wechselseitig bedingendes Selbstsein entdecken sich sowohl Möglichkeit als auch Notwendigkeit von Freiheit und Verantwortung. Soweit die isolierte Darstellung der initialen Lebensform. Ab sofort gilt es, das Einheitsversprechen einzulösen. Was in dieser Absicht vorrangig bedeutsam wird, ist die Eigenart menschlichen Lebens, ein seiner selbst vergewissertes zu sein. Gehört zum Leben als Leben seine Selbstvergewisserung, dann ist auch schon angezeigt, wie Leben und Denken von Grund auf zusammengehen. Was zunächst allgemein für Philosophie als Programm der Selbsterkenntnis erinnert worden war, zeigt sich als »vor«-philosophische Normalität: Das gelebte Leben weiß sich als gelebt. Nur dadurch gibt es einen Grund für die philosophische Kultur menschlicher Selbstverständigung. Sich in praktischer Absicht positioniert zu wissen, ist das initiale Sichwissen, die initiale praktische Selbstvergewisserung. In der Erfahrung praktischer Alterität ist so die Erfahrung praktischer Identität eingeschlossen. Wie aber Alterität hier nicht Andersheit, sondern Einanderheit bedeutet, so Identität nicht Selbigkeit, sondern Selbstheit (gr. αὐτότης). 2 Ein solus ipse dagegen wäre ohne Chance der praktischen Vergewisserung eigener Selbstheit. Die sich praktisch wissende Identität braucht die sich praktisch wissende Alterität und umgekehrt. 2 Im Sinne von Identität siehe Liddell-Scott, A Greek-English Lexicon, 9., vervollständigte Auflage, Oxford 1940, s. v.
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Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
Selbstvergewisserung ist der Grundzug der Selbsterkenntnis. Lebens- und Denkvollzug brauchen sich wechselseitig. Die Darstellung der initialen, jede eigenheitliche Selbstinszenierung tragenden und jede Entscheidung des Humanum austragenden Lebensform führt so ganz von selbst auf den Gedanken einer entsprechenden Denkform. Welche aber soll es denn sein? War der Lebensform, die nicht zur Disposition steht, auf die Spur zu kommen, indem der Vollzug des Lebens mit dem Vollzug des Zusammenlebens gleichgesetzt wurde, so wird bei der Suche nach der initialen Denkform nicht anders zu verfahren sein. Leben als Leben in Gemeinschaft rückt dann ganz von selbst Denken als Denken in Gemeinschaft in den Blick. Gründet Lebensbefähigung in der Gemeinschaftlichkeit des Lebens, so ist auch Denkbefähigung in gemeinschaftlicher Praxis gegründet. Daß vom Leben in Gemeinschaft auf Denken in Gemeinschaft zu schließen ist, führt bereits Aristoteles vor. Ausgangslage ist seine geradezu emphatische Gleichsetzung von Leben bzw. Dasein und Wahrnehmen. 3 Gilt ein biotisch (nicht ontologisch und erkenntnistheoretisch) verstandenes »esse est percipi«, dann hat das bedeutsame Konsequenzen, wenn das Leben ein Leben in Freundschaft ist. Wer lebt, und lebt mit dem Freund, denkt mit dem Freund. Aristoteles im Siebten Buch der Eudemischen Ethik wörtlich: »Offenkundig ist Leben Wahrnehmen und Erkennen, so daß gemeinsam Leben (συζῆν) soviel wie gemeinsam Wahrnehmen (συναισθάνεσθαι) und gemeinsam Denken (συγγνωρίζειν) heißt.« 4
Wird Leben auf diese Weise nach seiner Tätigkeit und als Endziel verstanden, 5 dann ist die Lebendigkeit eines Menschen nicht am Pulsschlag und Atem zu ermessen, sondern an dem, was sein Leben an sich erstrebenswert macht. Seinem eigensten Wissen und Wollen sowie seiner eigensten Praxis nach ist das Leben für Aristoteles das Wahrnehmen und Erkennen. Was das meint, wird erst vollends durchsichtig, wenn er mit der Überzeugung überrascht, daß das erstrebenswerteste Wahrnehmen in Selbstwahrnehmung und Selbsterkenntnis praktiziert wird. Er sekundiert sie durch die Einsicht, derzufolge der Sehende wahrnimmt, daß er sieht, der Hörende, daß er 3 4 5
Nikomachische Ethik IX 9, 1170a 16 ff.; Eudemische Ethik VII 12, 1244b 24. Eudemische Ethik VII 12, 1244b 24–26. Eudemische Ethik VII 12, 1244b 23: κατ’ ἐνέργειαν, καί ὡς τέλος.
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Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
hört, der Gehende, daß er geht: 6 Der Wahrnehmende nimmt seine eigene Tätigkeit wahr, was darauf beruhen soll, daß derjenige, der wahrnimmt und erkennt, selber wahrnehmbar und erkennbar wird. 7 Wahrnehmen der eigenen Tätigkeit und Selbstwahrnehmung gelingen aber, argumentiert Aristoteles, vorzüglich im Wahrnehmen des Freundes als des anderen Ich-selbst, 8 so daß die gemeinsame Lebensund Erkenntnispraxis Endzielrang haben. Propagiere ich Freundschaft als Lebensform und gar als Denkform? Nein, ich nehme – durch Aristotelische Ausführungen angeregt – dieses auf qualifizierter Wechselseitigkeit beruhende Lebensund Erkenntnisverhältnis nur als Beispiel dafür, wie verbindende Alterität in eins als Lebens- und Denkform auftritt: Die Einanderheit der Lebenden ist eben sosehr eine solche der Denkenden wie die der Denkenden eine solche der Lebenden ist. In der Freundschaft zeigen sich die lebenspraktisch generierte Alterität der gemeinsam lebenden Selbste und die denkpraktisch generierte Alterität der gemeinsam erkennenden Selbste als einander bedingend und das heißt als die praktisch selbe Alterität. Nenne ich die Alterität der das Leben Teilenden eine biotische, dann heißt sie als die der das Erkennen Teilenden eine ästhetische (αἴσθησις im Sinne von Wahrnehmung und Erkenntnis). Ich hoffe, das ist zustimmungsfähig: Praktizierte Freundschaft stellt sowohl ein biotisches als auch ein ästhetisches Ensemble dar. Grundzug ist die Generierung der Einanderheit und der Selbstheit. Lebensform und Denkform verlaufen als praktizierte Formen nicht irgendwie parallel, sondern sind einander bedingende Vollzugsweisen des einen und anderen Selbst des Einander. Die Praxis biotischer Alterität und Identität ist von der Praxis ästhetischer Alterität und Identität nicht zu trennen. Das lese ich so auch in Aristoteles hinein. Was aber bei ihm exzeptionell für die Freundschaft gedacht ist, versteht sich für mich als Grundzug jeder gemeinsamen, sich wechselseitig bedingenden Selbst-Generierung. Vorläufiges Fazit: Die initiale Lebensform wie die initiale Denkform ist das Einander. Die gemeinsam Lebenden und die gemeinsam Erkennenden praktizieren als dieselben dieselbe Form. Initiale Lebens- und Denkform spiegeln in ihrer Selbigkeit das menschliche Ensemble, wie es Austragsort des Humanum ist. Selbsthaft vollzogenes 6 7 8
Nikomachische Ethik IX 9, 1170a 29 ff. Eudemische Ethik VII 12, 1245a 4–10. Eudemische Ethik VII 12, 1245a 36–38; Magna Moralia II 15, 1213a 21.
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Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
Leben und selbsthaft vollzogenes Denken sind vereint das uti et frui jedes spontan gelingenden Ensembles. Indem die philosophische Kultur der Selbstverständigung sich des Humanum auf der Basis der Möglichkeit des Inhumanum annimmt, wird Philosophie zum Initianten des Homo humanus. Sie kann das nur, weil in der sich wissenden Alterität und Identität das Leben selbst die für es konstitutive Abständigkeit praktiziert und sich unausweichlich der Möglichkeit der Selbstverfehlung aussetzt. Obwohl ich mich damit in Gefahr begebe, nach meinem Aristotelesverständnis und nicht nach dem, was ich selbst zu verstehen gebe, beurteilt zu werden, bleibe ich noch etwas bei Aristoteles. Der Oberbegriff für Leben und Denken ist beim Autor der Eudemischen und Nikomachischen Ethik Tätigkeit (gr. ἐνέργεια). Wie das Leben in seinem Besten gemeinsame Tätigkeit ist, so auch das Denken. 9 Sind aber Leben und Denken, wie sie einander bedingen und eins sind, auf gleiche Weise synergetisch, dann ist auch – in analytisch trennender Sicht – jede dieser Tätigkeiten in der ihr eigenen Art von Synergie gleichartig. Wer miteinander lebt, lebt gleich (verhält sich homobiotisch). Wer miteinander denkt, denkt gleich (verhält sich homonoetisch). Das ist allein im Sinne der initialen Lebensform und initialen Denkform gesagt. Es ist nicht etwa daran gedacht, daß, wer miteinander lebt, gleich ißt und gleich schläft, wer miteinander denkt, gleiche Vorstellungen entwickelt und gleiche Überzeugungen ausbildet. Das kann sich so verhalten oder nicht. Hier zielt die Überlegung nicht auf bestimmte Gehalte der Lebens- und Denkpraxis (und dies gar als Gehalte gesonderter praxeis), sondern allein auf ihre konstituierenden Momente: auf den Einen und Anderen, die dank der biotisch und zugleich ästhetisch praktizierten Alterität sowie Identität das sind, was sie sind. Das Beispiel der Freundschaft, wie ich es von Aristoteles übernehme, hat hier allein den Vorrang, die ästhetische Alterität nicht anders als die biotische im Sinne der Einanderheit deuten zu können. Erkennt einer im Freund sich selbst, dann ist Solipsismus ausgeschlossen. Wie die selbsthafte Position sich aus der Situation versteht, so das Selbst des Erkennenden aus der Wechselseitigkeit der sich im Freund selbst erkennenden Freunde. Doch ich lasse jetzt die ausgezeichnete Möglichkeit der Freundschaft auf sich beruhen und sehe mir die ästhetische Alterität, die unabdingbar mit der biotischen vereint ist, unter allgemeinen Bedin9
Eudemische Ethik VII 12, 1245b 4; Nikomachische Ethik IX 9, 1170a 6.
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gungen an. Ich kann dann nicht mehr allein, ja nicht einmal in der Regel von einem Einander der sich Erkennenden ausgehen (auch wenn es grundlegend bleibt), sondern habe es auch und eben zumeist mit einem Verhältnis von Erkennendem und Erkanntem zu tun, in dem das Erkannte nicht wie beim erkannten Freund das eigene Selbst ist. Das hat Folgen für die Bedeutung von Alterität und Identität und damit für das Verständnis der initialen Denkform. Die Denkform »ästhetische Alterität« lebt in ihrer Praktizität bzw. Energetik von zwei in sich zusammengehörigen Tätigkeiten: vom Differenzieren und Äqualisieren. Für das Erkennen im allgemeinen genügt es nicht, daß es einen Unterschied zwischen Erkennendem und Erkanntem hervorbringt. Auch zum Erkannten als solchem gehört, daß es ein Unterschiedenes ist. Daß überhaupt nur Eines zu erkennen wäre, das sich von nichts anderem unterscheiden ließe, bringt eigentlich nur Plotins »wirklich Eines« 10 fertig, mit der, wäre es nicht pure Denkkunst, sonst betrüblichen Konsequenz, daß auch der Unterschied von Erkennen und Erkanntsein wegfiele. Doch das Differenzieren reicht nicht zu, um den Grundzug des Erkennens vollständig darzustellen. Das jeweils Differenzierte nämlich ist unmöglich ein in jeder Hinsicht Einzigartiges (man müßte denn wieder zur Denkkunst greifen, die des Absoluten fähig ist). Jedes Erkanntsein eines Erkannten basiert auf der Erkenntnis von Allgemeinem. Unterscheidend zu erkennen vermag darum nur Einer, der sich zugleich auf das Gleichsetzen versteht. Selbst einen Philosophen erkennt man noch am besten dadurch, daß man ihn nicht nur – gut platonisch – signifikant vom Sophisten unterscheidet, sondern eben mit einem Philosophen gleichsetzt. Jemand, der in großer Selbstüberzeugung sich die Chancen der Philosophie für die Zeit nach sich überlegt, stellt sich darin natürlich etwas einzigartig Mögliches vor, ist aber großzügig genug, den künftigen Philosophen, der jenes Einzigartige zu verwalten ausersehen ist, in den Plural zu setzen: »die Einzigen«. 11 Es bleibt Spielraum für gleichsetzendes Erkennen. Sehen wir auf die Tätigkeiten des Differenzierens und Äqualisierens, bekommen ästhetische Alterität und Identität eine andere Note. Jetzt ist nicht mehr von Einanderheit und Selbstheit zu reden, sondern von Andersheit und Selbigkeit. Das gilt nicht nur für die Seite Enneaden 8, 9. Martin Heidegger, Beitrage zur Philosophie, GA Bd. 65, Frankfurt a. M. 1989, S. 43.
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des Erkannten (der erkannten Philosophie als anders gegenüber dem Sophisten und selbig mit sich selbst), sondern auch für das Verhältnis von Erkennendem und Erkanntem. Werden beide Seiten für selbsthaft angesehen, dann hat allein der Erkennende ein eigenes Selbst, während das Erkannte von ihm mit Selbstsein belehnt ist (um mir so einen wichtigen Begriff aus Walter Benjamins Aura-Konzeption für eigene Zwecke anzueignen). 12 Erkenne ich denn aber in einem anderen Philosophen nicht mich selbst? Dieser Einwand ist nicht gänzlich abwegig. Doch ich hatte schon gar nicht mehr einen leibhaften Philosophen im Sinn, sondern einen von Raffael gemalten. Lasse ich den mich anblicken, dann ist die Selbsthaftigkeit des Anblicks durch meinen Blick veranlaßt. Ich sehe etwas, das anders ist als ich, und sehe das Bildnis eines Philosophen, dessen Verständnis sich aus der Praxis der Gleichsetzung ergibt. Jedes andersartig Andere hat Seinesgleichen. Das Differenzieren gelingt nur, wenn auch das Äqualisieren gelingt. Wer sich im übrigen im Spiegel betrachtet, erkennt nicht sich selbst, sondern sieht zum Beispiel sein Gesicht, das sich gegen anderes sich Spiegelndes abhebt und als Gesicht ganz allgemein einem Gesicht gleichsieht. Was er als Spiegelbild seines Gesichtes identifiziert, ist nicht von sich her selbsthaft, sondern wird von dem mit eigenem Blick seinen Anblick Fixierenden mit Selbsthaftigkeit belehnt. Nur so erkennt er es als »dasselbe«. Das Betrachtete ist anders als der Betrachtende, Alterität wird im Spiegelblick nicht als Einanderheit praktiziert, jedenfalls nicht genuin. Das gilt, falls meine Überlegungen greifen, bereits als gesichert: In der Praxis sind Lebensform und Denkform geeint. Nun ist aber die initiale Denkform mit ästhetischer Alterität und Identität sowohl im Sinne von Einanderheit und Selbstheit als auch von Andersheit und Selbigkeit noch nicht hinreichend expliziert. Bislang habe ich nämlich davon abgesehen, daß jedes Erkennen ein deutendes ist. Erkennendes Erfassen und sprachliches Fassen gehen zusammen. Zumeist hat das Deuten Tradition und muß dann im Augenblick des Erkennens nicht eigens inauguriert werden. In jedem Falle aber bleibt es – ob als fiktive Ersttat oder übernommenerweise – ein Werk unvermeidbarer hermeneutischer Freiheit. Jedes Erkennen hat teil an einem freien, nicht willkürlichen Generieren von Wirklichkeit, wobei Sprache, wie sie das Moment des Deutens bewußt macht, auf menschliche GemeinWalter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt a. M. 1989, S. 646 f.
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schaft als Sprachgemeinschaft und eben Erkenntnisgemeinschaft verweist. Alle sprachliche Praxis hat ihre Quelle, wenn auch nicht stets ihr Ziel im Dialog: im Sichmitteilen und Sichverständigen. Erkennen ist erstlich ein gemeinschaftliches, weil Sprechen erstlich ein gemeinschaftliches ist. Gibt es keine Privatsprache, dann gibt es auch keine Privaterkenntnis. Selbst noch die bahnbrechendste Erkenntnis eines Privatdozenten unter einsamer Glühbirne hat unzählige Miterkennende und ist darum auch mitteilbar. Die Sprachlichkeit des Menschen, von Grund auf eine dialogische, entdeckt auf eigene Weise die Lebens- und Denkform »Alterität« (und »Identität). Wurde die initiale Denkform bislang allein als ästhetische aufgezeigt, dann ist es an der Zeit, sie jetzt auch als dialogische kenntlich zu machen. In jeder Erkenntnispraxis fragt es sich, was da zu erkennen ist (um hier vom Wie und Wozu abzusehen), und jede gesicherte Erkenntnis gibt auf diese Frage eine Antwort: Sie sagt (sc. deutend), was erkannt ist. So geht in die initiale Denkform, wie ich sie als Alterität und Identität bestimme, nicht weniger die Praxis des Dialogs als die des Erkennens ein: Erkennen und Erkanntes, Frage und Antwort – das sind die Verhältnisse, die zur Prägung der Denkform führen, die grundlegend für jede Lebens- und Denkpraxis ist. Ich komme abschließend zur Selbstverantwortung. Gibt es zu Lebens- und Denkform in ihrer anfänglichen Einheit keine Alternative, dann heißt das nicht, beider gelingende Praxis sei ganz aus sich selbst gesichert, Leben und Denken, die ihren Namen verdienen, stünden unter keinen Umständen selbst zur Disposition. Sind Lebens- und Denkform Formen der Selbstverantwortung, dann ist diese Auszeichnung darin zu sehen, daß sie das Verhältnis darstellen, das menschlicher Selbstverantwortung nicht nur allererst stattgibt, sondern für sein Gelingen auch erfordert. Das heißt, daß dem Menschen in seinem Leben und Denken die Verantwortung für sein Leben und Denken und mit ihr für die initiale Lebensform und initiale Denkform in ihrer anfänglichen Einheit nur eine selbstübergebene und selbstübernommene sein kann. Mit der lebenspraktischen und denkpraktischen Alterität sowie Identität steht das Humanum auf dem Spiel: die Verantwortung für die Befähigung zum Einander und zu sich selbst. Um aber den Begriff des Humanen erneut nicht zu strapazieren, kann es besser heißen: Das eine und andere Selbst stehen auf dem Spiel. Selbstverantwortung in ihrer ersten Art ist ganz wörtlich zu nehmen: die Verantwor112 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
tung des Selbst für es selbst und durch es selbst, was die Verantwortung für die Einanderheit, ja auch für die Andersheit unabdingbar einschließt. Die einzige Alternative, die sich auf der Reflexionsebene der initialen Lebensform und initialen Denkform zeigt, ist die von Selbsteinsatz oder Selbstvorenthalt, von aktivem Interesse oder aktivem Desinteresse am Einander. Der initialen Lebensform und initialen Denkform nicht zu genügen heißt, keine Einanderheit und – ihr entsprechend – keine Selbstheit zu praktizieren. Mit der Möglichkeit, den Interessen des Einander und des Selbst zuwiderzuhandeln, entdecken sich Lebensform und Denkform als Formen autonomen Rechts. Was es heißt, dem gelingenden Ensemble und dem gelingenden Selbst einen Rechtsanspruch zuzuerkennen, versuche ich im Abschluß am Gedanken des ersten Nützlichen zu verdeutlichen. Im Ersten Buch der Politik erklärt Aristoteles die auszeichnende Sprachlichkeit des Menschen als dazu bestimmt, sich in der Polis gemeinsam (und für die Polis verbindlich) über das Nützliche (gr. συμφέρον) und über das Schädliche zu verständigen. 13 Weil politisch gedacht wird, ist die Bestimmung des Nützlichen und Schädlichen gleichbedeutend mit der des Gerechten und Ungerechten. Gibt es aber ein erstes Gerechtes und Nützliches? Darf ich interpretierend eingreifen, dann kann das erste Gerechte nur die Politie selbst sein. Übersetzt für die gewählte Reflexionsebene und Thematik besagt dies: Die Lebensform und Denkform, wie sie das Gelingen des miteinander Lebens und miteinander Denkens bedingen, sind selbst das erste Nützliche. Das Maß für die Nützlichkeit der biotisch, ästhetisch und dialogisch geprägten Alterität sowie Identität ist dabei das eine und andere unvertretbare freie, sich einander eröffnende Selbst. Nützlich zu sein heißt insofern, zureichender Grund der interrelativen Generierung des lebens- und handlungsbefähigten Selbst zu sein. Wie aber steht es nun mit dem Rechtsanspruch von Lebens- und Denkform, der sich praktisch gegen den Tod in seiner Form als ungeschiedene, sprach- und bewußtseinslose Einheit wendet? Gehen wir vom Selbst aus, das sich einsetzt und damit positioniert, und deuten wir die Positionierung, mit der es Gegenwart in praktischer Absicht und praktischem Vollzug bildet, so, daß es sein Recht auf das Einander und auf sich selbst wahrnimmt, sich also praktisch ins Recht setzt, dann gibt diese Praxis der Einanderheit sowohl das Recht auf 13
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Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform
Alterität und Identität zu erkennen als auch die Selbstverpflichtung zu Alterität und Identität. Stehen Einanderheit und Selbstheit für das erste Nützliche (als das Gute, das Humanum), dann fallen Rechtsanspruch von Lebens- und Denkform mit der Selbstbestimmung des Menschen zusammen. Jede Rede von Normativität muß sich hier als eine metaphorische erweisen. Das Recht, in das sich das Selbst setzt, kann nur, wie es ein Völkerrechtler nannte, 14 das Recht1 sein: das erste Recht, das dem Gesetz zugrunde liegt. Es geht allem Recht2, das sich aus einem Gesetz ergibt, vorher. Der Mensch als Sachwalter des ersten Nützlichen ist keinem Sollen verpflichtet. Er ist der Sachwalter seiner selbst: seiner lebendigen, sich wissenden, dialogischen Einanderheit und Selbstheit.
Hermann Jahrreiß, Größe und Not der Gesetzgebung, in: ders., Mensch und Staat, Köln / Berlin 1957, S. 57–63.
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Menschliche Wahrheit und die konfliktive Verfassung des Lebens
Dass Konflikte unausweichlich sind, ist eine Erfahrung jedes Lebens. Es gilt jedoch, diejenigen Konflikte eigens in Erinnerung zu rufen, die für das Leben unerlässlich sind, sofern es sie zu seinem Gelingen braucht. Sie drängen sich ihm nicht von außen auf, sondern gehören, emphatisch gesagt, zu ihm selbst: zu seiner eigenen Verfassung.
Eigenheiten Auszugehen ist dazu von der Einsicht, dass es Leben von Menschen unter Menschen allein als eigenheitlich inszeniertes gibt, wobei zumeist eine einzige Eigenheit dominiert. Im Damenbecken des Freiburger Lorettobades etwa ist es die der Frau, ob es nun alte oder junge, türkische oder deutsche Frauen sind, die dort verkehren. Die gezielte Trennung vom anderen Geschlecht macht sie, unbeschadet aller individuellen Besonderheiten, gleich, lässt jede Einzelne sich als Eine von ihresgleichen verstehen. Wird dagegen das eine und andere Geschlecht eigens zusammengeführt, wie es in einem Bordell der Fall ist, dann bleibt zwar das Verständnis der Gleichheit des Geschlechts erhalten, nimmt aber in seiner praktischen Bedeutung ab. Ob das Haus der für Männer käuflichen Heterophilie vornehmlich von Christen und Regierungsbeamten oder von Moslems und Kaufleuten frequentiert wird, ist zwar unerheblich: als Besucher sind auch sie, nicht anders als die Prostituierten, alle gleich. Doch der Kairos, den das Haus bereitstellt, lässt eine und nur eine eigenheitliche Bestimmung herrschen: die des Geschlechts in seiner Ungleichheit. Die praktisch überspielten Eigenheiten werden freilich in keinem Falle völlig ausgeblendet. Es macht den Reiz und die Herausforderung eines menschlichen Treffens aus, dass jederzeit mehrere Eigenheiten im Spiel sind, die oft schlagartig ihre praktische Bedeu-
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tung ändern. Trifft Odysseus am Strand auf Nausikaa 1, so begegnet sie ihm als »Mädchen«, »Jungfrau« und »Frau«. Geschlecht, Geschlechtsstatus und Lebensalter zeichnen auf diese Weise eine Eigenheitlichkeit, der gegenüber Odysseus, der Mann, in jedem der drei Aspekte signifikant ungleich ist. Tritt sie jedoch als Königstochter und Herrin in Erscheinung, dann zeigt sich beider gesellschaftlicher Status als vergleichbar, ja gleich. Gibt sie sich wieder als Phäakin zu erkennen (was Fragen wie die nach Land, Stamm und lokalem Rechtsstatus beantwortet), so ist er ihr gegenüber der Fremde und Schutzflehende – eine Ungleichheit wird aufs neue signifikant.
Das Kraftfeld Jede Menschen mit Menschen konfrontierende Gegenwart ist eigenheitlich konstituiert und geprägt. Das gilt unabhängig davon, ob die Eigenheitlichkeit des Einander freundlich oder feindlich, fruchtbar oder nutzlos, dauerhaft oder passager praktiziert wird. Eigenheiten wie Mann und Frau, Türke und Deutscher, Beamter und Kaufmann sind als Kräfte zu denken, die je gegenwärtig ein Kraftfeld bilden, das dreifach beschränkt ist: praktisch-räumlich, praktisch-zeitlich und selbsthaft. Dominiert in praktischer und das meint kairiotischer Gegenwart eine gleiche Eigenheit, so ist das Kraftfeld grundsätzlich von nicht geringerer Stärke als bei Dominanz einer ungleichen Eigenheit. Ungleich oder gleich – Eigenheiten brauchen einander: Sie haben einander nötig und legen es wechselseitig auf ein uti et frui an. Als jeweils selbsthaft positionierte Kräfte praktizieren sie ihr Sichbrauchen so, dass sie dem Kraftfeld, das sie bilden, zu einer Spannung verhelfen, die sich aus den beiden Intentionen des Einander ergibt: dem Auseinander und dem Zueinander. Ausdruck für die trennende Intention ist das Sichmessen der Kräfte, Ausdruck für die einigende Intention das Sichvergleichen der Kräfte. Kämpfen und Sichvertragen (Vertragschließen) gehören intentional zusammen. Das Kraftfeld lebt nicht weniger von der im Sichmessen sich ihrer selbst vergewissernden Alterität des Einen und Anderen als von der im Sichvergleichen sich ihrer selbst vergewissernden Identität des Einen und Anderen, und dies im Zuge der Bewährung des Meinen und Deinen. Vereinnahmt jedoch der Eine den Anderen (zum Beispiel durch Übermäch1
Odyssee 6, 122 ff.
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Menschliche Wahrheit und die konfliktive Verfassung des Lebens
tigung und Vergewaltigung), dann implodiert das Kraftfeld, trennen sich aber der Eine und Andere (zum Beispiel durch Steigerung gegenseitiger Unleidlichkeit bis zum run away), dann löst es sich auf: der Eine explodiert den Anderen (explodieren wörtlich: klatschend forttreiben). Leben ist ein Kräftespiel. Als Agon, der genau kein Krieg ist, kein Versuch nachhaltiger Ausschaltung jeder Kraft des Anderen, basiert es auf der Möglichkeit, jeden Tag neu zu beginnen. Das jeweilige Kraftfeld als Austragsort eines wechselseitigen uti et frui kennt darum kein gespanntes, Kampf und Gegensätzlichkeit praktizierendes Sichmessen, das ohne jedes Sichvergleichen wäre, aber eben auch kein gespanntes, Verträglichkeit und Einigkeit praktizierendes Sichvergleichen, das ohne jedes Sichmessen wäre.
Die Form der Formen Mit Leben als Kräftemessen und Kräftevergleich 2 rückt seine Grundverfassung in den Blick: das Ensemble. Gemeint ist das in-simul des Einen und Anderen: das durch eigenheitliche Kräfte ungleicher und gleicher Art praktizierte Einander. Als initiale Verfassung menschlichen Lebens, die jeder kulturell und gesellschaftlich entwickelten Lebensform zugrunde liegt, ist sie die Form der Formen – sc. der Lebensformen. Wer Lebensform reflektiert, kommt nicht darum herum, ihre Tauglichkeit für das Humanum an der Verfassung zu messen, die einzigartig nicht zur Disposition steht: am Ensemble. Ist mit dem in-simul lebenspraktischen Einanders die initiale Verfassung des Lebens entdeckt, dann stellt sich die Aufgabe, nun auch das initiale Ensemble zu entdecken. Wieder geht es nicht um diese und jene mögliche wechselseitige Selbstinszenierung von Eigenheiten, sondern um das unerlässliche, weil jedem agonalen Kräftespiel zugrundeliegende praktische Verhältnis. Für das lebenspraktisch »nächste« in-simul, ohne das es zu keinen kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen kommt, ist das Hauswesen anzu-
Aristoteles deutet das wache, seiner Wirklichkeit vergewisserte Leben als Wahrnehmen und Erkennen (Eudemische Ethik VII 12 1244b23–26). Entsprechend deutet er das geteilte Leben als gemeinsames Wahrnehmen und Erkennen. Damit trifft er genau nicht das sich seines Gelingens vergewissernde Leben, wie es auf praktizierter Gegensätzlichkeit und Verträglichkeit beruht.
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sehen. Die ungleichen Kräfte, die, wie Aristoteles sagt, das Hauswesen »sogleich« konstituieren, sind Mann und Frau. 3 Das in lebenspraktischer Perspektive Nächste, alle entwickelten Lebensverhältnisse auf das Ensemble von Mann und Frau zurückzuführen, ist jedoch nicht das in der Sache Erste. Ist nämlich jede eigenheitliche Kraft, die im agonalen Sichmessen und Sichvergleichen zum Zuge kommt, eine Form der Gewalt, dann bedarf gelingendes Leben, das auf den Ausgleich der Kräfte, nicht aber auf die Übermächtigung der einen Kraft durch die andere baut, allem zuvor einer politischen Verfassung. Sie allein gibt die nötige Rechtsordnung vor, die es jeder Position im Ensemble zur Pflicht macht, als Rechtsposition wahrgenommen zu werden. Ist die Verfassung menschlichen Lebens von Grund auf eine politische, so ist das initiale Ensemble, das jedem menschlichen Kräftespiel seine Rechte und Pflichten vorgibt, das politische: das Ensemble von Regierenden und Regierten. Gelingende Lebensteilung hat in sachlich angemessener theoretischer Perspektive ihren ersten Grund im gelingenden politischen Ensemble. Kräfte und Gewalten des Menschen, die wechselseitig seiner Lebensbefähigung dienen, sind vorweg einem Gewaltmonopol übereignet. Frauen und Männer, Türken und Deutsche – keine in praktischer Gegenwart dominante Eigenheit kann im Interesse gelingender Lebensteilung für sich ein Gewaltmonopol anstreben. Das ist einzig politischer Gewalt vorbehalten, die sich aus dem gelingenden Verhältnis von Regierenden und Regierten ergibt. Das politische Ensemble ist darum nicht für ein eigenheitliches zu nehmen, das als solches eines unter anderen wäre. In ihm lassen sich vielmehr auf ganz besondere Weise Allgemeines und seine Besonderheiten ausspielendes Einzelnes aufeinander ein. Regierende und Regierte als die eigentlich »Ungleichen« im Politischen 4 sind es, die durch ihre Ungleichheit für eine Gewalt sorgen, die es ermöglicht, jede eigenheitliche Gewalt, die den Ausgleich der Kräfte sucht, ins Recht, jede eigenheitliche Gewalt aber, die nach Übermächtigung strebt, ins Unrecht zu setzen. Das Ungleiche besteht allem zuvor darin, dass die Regierenden eher für die Regierten da sind als die Regierten für die Regierenden. Das hat zur Folge, dass das Verhältnis von Regierenden und Regierten nur dann als fruchtbar und somit als initiales Ensemble anzusehen ist, wenn politische Herrschaft im ersten (und darin freilich auch im letzten) 3 4
Aristoteles, Politik III 4 1277a6 ff. Siehe bei Aristoteles den Kontext der angeführten Stelle aus der Politik.
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als Regiertenherrschaft, dem heutigen Verständnis nach also als demokratische praktiziert wird. In der nicht utopisch entworfenen, sondern formal bestimmten Demokratie sind die Regierenden dazu bestimmt, den Willen der Regierten zu brauchen, um in diesem, wenn überhaupt, den ihren praktisch werden zu lassen. 5 Dieser knappe Hinweis auf die prinzipiell politische Verfasstheit des Lebens kann hier genügen, weil die in Frage stehende Konfliktivität keine politische ist, sondern ausschließlich die Selbstinszenierung von Eigenheiten berührt. Für die Erfassung der Form der Formen des Lebens bleibt der Blick auf die Konflikte eigenheitlicher Kräfte leitend, die es dem Einen und Anderen ermöglichen, im Ensemble wechselseitig die je eigene Selbsthaftigkeit auszubilden. Als sich messendes und sich vergleichendes Einander ist jedes Ensemble praxisdefinit: Es ergibt sich aus den wechselseitigen, aufeinander antwortenden Inszenierungen des einen und anderen Selbst. Die Verfassung des Lebens ist so die des Selbstseins: Im Einander, das signifikant keine Vereinnahmung des Einen durch den Anderen und keine Isolierung des Einen vom Anderen zulässt, gelingen Aneignung und Inszenierung des Selbsthaften, nicht aber gibt es zuvor das eine und andere gelungene Selbst, das bei Gelegenheit, als handle es sich um ein schmückendes Surplus, ein Einander bildet. Das wird einsichtiger, sobald sich die konfliktive Natur des Selbst als Spiegelung der im Sichmessen und Sichvergleichen garantierten und manifesten konfliktiven Natur des Ensembles erweist. Klar ist allerdings schon jetzt, dass jede Aufführung, in der das Ensemble, ja eben das Leben sich selbst aufführt, eine Premiere ist: Das eine und andere Selbst führen sich voreinander und je vor sich selbst ohne Probe auf. Die initiale Praxis des Selbstseins ist nicht vom Charakter solipsistischer und monadischer Selbstbezüglichkeit. Sie ist vielmehr ebenso wechselbezüglich wie selbstbezüglich mit dem einzigen Unterschied, dass der Königsweg zur selbstbezüglichen Alterität die wechselbezügliche Alterität ist, nicht umgekehrt. So bedingen zum Beispiel das Gespräch des Einen mit sich selbst und des Einen mit dem Anderen einander, aber dennoch versteht sich der Autodialog als Spiegelung des Heterodialogs, nicht umgekehrt. Selbst und gerade Zur Problematik der Übereignung, Teilung, Anwendung und Verantwortung von Recht und Gewalt in demokratischen Verhältnissen siehe Rainer Marten, »Politische Lebensteilung«, in: Wolfgang Jäger et al. (Hrsg.), Republik und Dritte Welt. Festschrift für Dieter Oberndörfer zum 65. Geburtstag, Paderborn 1994, S. 223–230.
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das Eigene, das sich Einer zu sagen hat, nimmt am besten den Weg über den Anderen. Mit den Worten des späten Hölderlin an einen Freund, dem er »sein Schwächstes, und sein Stärkstes« zu offenbaren bereit ist: »wenn man […] dem vertrauten Herzen zu sagen sucht, woran man ist, und so auch selber wieder sagen lernt, woran man ist«. 6 Damit aber verlieren die dem Solipsismus verpflichteten Vorstellungen vom Verschwinden des Subjekts ihre Überzeugungskraft. Den Mitgliedern des Ensembles, das heißt den Selbsten als konstitutiven Momenten eigenheitlichen Einanders fehlen zu keiner Zeit die Kräfte und Vermögen, sich ihrer Einanderheit und Selbsthaftigkeit praktisch zu vergewissern. Die Aktualität von Pluralisierung, Flexibilisierung, Dekomposition und Devaluation als Matrix zur Bestimmung von Selbst und Ich, Person und Charakter, Identität und Proprietät ist, wo sie herrscht, die einer modischen Intelligenz, nicht aber die der Lebenspraxis und der sie reflektierenden Philosophie. Ihr nämlich kann es nicht um einen ontologischen Status, sondern allein um den praktischen Vollzug von Selbst und Ich gehen. 7
Das angeeignete und das unangeeignete Eigene Selbstvergewisserungen des Einen und Anderen im Ensemble sind begleitet von der Erfahrung eigener Unvertretbarkeit: Kein Selbst kann die eigene Position eines anderen einnehmen. Zugleich erfahren sich das eine und andere Selbst füreinander und je für sich selbst als unverwechselbar und unnahbar. Der Eine aber hat eine letzte Nähe nicht einmal zu sich selbst, ergreift unmöglich sein ganzes Eigensein, ist niemals sich selbst vollends durchsichtig. Nur von einer, poetisch mit Selbsthaftigkeit belehnten, Zwiebel, »ohne Innerei« und »mehrfach nackt«, lässt sich denken: »sieht ohne Entsetzen / sie sich selbst intern«, um damit freilich nichts anderem als der »Idiotie der Vollkommenheit« zu genügen. 8 Jedes praktisch positionierte Selbst braucht, um wörtlich eine Anleihe bei Sigmund Freud zu machen, das Es als das, wie ich es Friedrich Hölderlin, Brief an Neuffer vom 10. Juli 1797, in: ders., Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe) Bd. 6, Stuttgart 1954, S. 243. 7 »und der Charakter, gleich einem Mantel, im Laufen zu Ende geknöpft« (Wislawa Szymborska, »Ein Leben im Handumdrehen« (1976), in: dies., Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1997, S. 214). 8 Wislawa Szymborska, »Zwiebel« (1976), ebd., S. 210 f. 6
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nenne, andere Eigene, das heißt als das nicht angeeignete. Gäbe es die vollendete Selbstaneignung ohne jeden Rest, dann wäre, mit Freud zu sprechen, alles, was Es war, zu Ich geworden. Es herrschte die absolute Selbstverfügbarkeit, traditionell gesagt: die reine Vernunft. Doch die spätestens seit Platon lebendige Idee eines reinen Vernunftregimentes ist schlechte Utopie: Sie propagiert Möglichkeit und Notwendigkeit der Übermächtigung und Vergewaltigung des Es, seine restlose Vereinnahmung durch Vernunft. Zugunsten des lebendigen uti et frui des Ensembles gilt es jedoch den lebensbefähigenden, weil selbstbildenden Konflikt zwischen dem Einen und Anderen gespiegelt im je eigenen Selbst zu sehen. Was aber den selbstbezüglichen Konflikt in einem positiven Sinne unvermeidlich macht, ist genau das, was praktisch die Unvertretbarkeit und Unverwechselbarkeit jedes Selbst verkörpert: die Freiheit. Das Konzept der Form der Formen menschlichen Lebens kommt nicht ohne das Konzept der Freiheit aus.
Freiheit Freiheit ist hier nicht weiter zu konzipieren als bis zur anfänglichen Praxis des Selbst: sich im konfliktiven Einander und Mit-sich-selbst als Selbst zu generieren und es selbst zu sein. Wie es mit der möglichen Wahl von Lebensformen und von Ausprägungen der eigenen eigenheitlichen Natur steht, kommt so noch gar nicht in Betracht. Mit dem Anfänglichen des Selbst geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die stets nur praktisch zu leistende Unvertretbarkeit, Unverwechselbarkeit, ja Unnahbarkeit seiner selbst, das heißt um seine Aura. Der analytische Ort dieser initialen Freiheit ist die Grenze von angeeignetem und nicht angeeignetem selbsthaft Eigenen. Freiheit beruht auf akkurat dieser Differenz. Wir sind nur frei, sofern wir rational, jedoch niemals vollends rational agieren und uns eigenheitlich inszenieren. Die Aura des unverwechselbaren, mit jeder Praxis seine Einzigkeit wiederholenden Selbst, die sich als Freiheitspraxis manifestiert, gibt es nicht ohne das, was Freud als das Unbewusste zu theoretisieren suchte. Ist das Aneignen von Eigenem in nichts einem erschöpfenden Ausschöpfen eigener Möglichkeiten vergleichbar, dann bleibt es bei Unangeeignetem und im letzten nicht Anzueignendem, soviel auch lebenspraktisch angeeignet und über den eigenen Affekthaushalt bis 121 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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zu einem gewissen Umfang und Grade verfügt wird. Die Reserven des Anzueignenden und die Macht des im letzten nicht Anzueignenden nehmen mit keiner der eigenheitlichen Selbstinszenierungen ab. Gerade derjenige, der sich »in der Gewalt« hat, weiß, worauf sich sein Habitus gründet. Freiheitsgebrauch ist für die Generierung des Einander und des Selbst unumgänglich. Die Konzeptualisierung von Freiheit ist somit nicht weniger in das Konzept der Wechselbezüglichkeit des Ensembles als in das der Selbstbezüglichkeit des Selbst eingebunden. Für das Selbst besagt initialer Freiheitsgebrauch, dass es sich einbringt und einsetzt; sich überhaupt in Position bringt. Das aber heißt auch schon, dass es mit anderem Selbst eine praktische Situation bildet. In dieser Einheit von eingenommener Position und gebildeter Situation vollzieht sich die Selbstvergewisserung der Alterität des Einen und Anderen und die der Identität des je Einen. Das ist die Verfassung des Lebens, wie sie sich als praxis- und freiheitsdefinit erweist. Alterität und Identität haben bei dieser Sicht auf die Form der Lebensformen nicht die Bedeutung von Andersheit und Selbigkeit, sondern die von Einanderheit und Selbstheit. Alterität steht so für die Spannung, die den Einen und Anderen sich sowohl im Widerstreit als auch in der Einigung befinden lässt. Es gibt keine Position ohne eine signifikant andere. Andernfalls gäbe es praktisch keinen Halt, keinen Einhalt; Freiheit verlöre sich ins Grenzenlose. Freiheit braucht den lebensteiligen Partner, der maßgeblich auch Gegenpart ist, braucht den Anderen, wie er auratisch der Unvertretbare und Unnahbare, damit aber gerade Alterität (und Identität) Mitgenerierende und Mitpraktizierende ist. Ließe es sich veranschaulichen, dass der Andere letztlich unnahbar ist, dann hätte es Pablo Picasso getan, wenn er mit zeichnerischen Mitteln Küsse, Umarmungen und Paarungen in höchstmöglicher Verschlungenheit phantasiert. 9 Will man den Freiheitsgebrauch, wie er dem sich generierenden und sich praktizierenden Ensemble eignet, näher analysieren, dann zeigt sich ein wahrer Reichtum an konstitutiven Momenten: – sich in Position bringen und situativ bewahren – sein Recht auf das Einander und auf sich selbst wahrnehmen: sich praktisch ins Recht setzen Siehe »Picasso: Die Umarmung«, Katalog der Ausstellung des Spanischen Pavillons der Expo 2000 Hannover und der Nationalgalerie Berlin, Berlin 2000.
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sich dem Anderen eröffnen, sich ihm übereignen den Anderen freigeben und sich auf sich selbst zurücknehmen sich selbst annehmen und den Anderen als signifikant Anderen annehmen.
Die Grenzen von Erkennen und Verstehen Die Verfassung des Lebens, die sich als freiheitliche selbst schafft und ins Spiel bringt, lässt, was die Ausbildung der jeweils eigenheitlich vorherrschenden Alterität und Identität anbelangt, zwei Momente unterscheiden: das Ästhetische (gemeint ist das Wahrnehmungsund Erkenntnisverhalten des Einen und Anderen untereinander) und das Dialogische (gemeint ist das Verstehens- und Verständigungsverhalten des Einen und Anderen untereinander). In der praktischen Selbstvergewisserung der Einanderheit und Selbstheit gehen wechselseitig bedingte Selbsterkenntnis und wechselseitig bedingte Selbstverständigung zusammen – bis hin zu dem, was nicht erkennend zu erfassen und sprachlich zu fassen ist. Das Unverfügbare und Unbewusste ist es, an dem das Selbst des Einander, das sich auf dem Wege der Selbsterkenntnis und Selbstverständigung weiß, eine sichere, Halt gewährende und Einhalt gebietende Grenze findet. Das Unverfügbare und Unbewusste aber, das jedem gelingenden Ensemble zugehört, wird jeweils sowohl unter den Selbsten als auch im je eigenen Selbst praktisch bedeutsam. Nur so ist es garantiert, dass Alterität und Identität auch wirklich praktiziert und erfahren werden. Im Zusammenspiel von Wechselbezüglichkeit und Selbstbezüglichkeit, wie es das Ensemble auszeichnet, kommen die letzte Unverfügbarkeit des Einen über sich selbst und das letzte Nichtverfügenkönnen des Einen über den Anderen zum Zuge.
Die zwei Konflikte Damit zeichnet sich die Verfassung des Lebens, wie sie im Freiheitsgebrauch gründet, als die eines doppelten Konflikts ab: Selbsthaft angeeignetes Eigenes stößt unter Selbsten an (anderes) selbsthaft angeeignetes Eigenes. Da aber im einzelnen Selbst jederzeit angeeignetes Eigenes auf nicht angeeignetes Eigenes stößt, findet sich der selbstbezügliche Konflikt auch im wechselseitigen. Angeeignetes Eigenes 123 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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kann sich unter Selbsten überhaupt nur im Konflikt begegnen, als es jeweils für sich selbst schon einen Konflikt mit nicht angeeignetem Eigenen austrägt. Kein Konflikt zwischen Selbsten hat statt, ohne dass nicht auf beiden Seiten das Unverfügbare im Spiel wäre. Allein als Mitglied des – konfliktiven – Ensembles vermag das einzelne Selbst sich in seiner eigenen Konfliktivität zu erfahren und dieselbe für sich fruchtbar zu machen. Im Wettstreit und Agon den Konflikt: das Aufeinanderstoßen und Sichschlagen zu sehen, setzt nicht nur die Präsenz des konfliktiven Selbst im wechselbezüglichen Konflikt voraus, sondern nicht weniger die besondere Art von Konfliktlösung: Nicht die Vermeidung bzw. der Abbruch des Konflikts ist das Ziel (man denke an die Konfliktlösungsstrategien der Erlanger Schule), sondern die Lösung des Konflikts durch den Konflikt selbst. Das nämlich ist die einzig mögliche und dabei Erfolg versprechende Zielsetzung eines wechselseitig lebensbefähigenden Agons, sofern die widerstreitenden Kräfte, die in ihm zum Austrag kommen, nicht etwa Unverträglichkeit, sondern die wechselseitige Bedingtheit des uti et frui demonstrieren. Wahrnehmung und Erkenntnis gibt es nicht ohne Undurchdringliches und Unergründliches, Verständigung und Rede nicht ohne Unbesprechbares und Unverstehbares. Das besagt praktisch: Die Möglichkeit von Freiheit basiert auf einer Grenzziehung zwischen dem, was selbsthafter Verantwortung eine Chance gibt, und dem, was sich vom Selbst unmöglich verantworten lässt. Stieße dagegen, wie es sich universell positionierte Vernunftoptionen als möglich und geboten vorstellen, affektfreie Vernunft unter Selbsten auf affektfreie Vernunft, so ergäbe sich kein Konflikt, kein Sichmessen und Sichvergleichen, gäbe es keinen Halt und Einhalt. Ein rein vernünftiges Selbst entdeckte, dass es überhaupt nichts Eigenes, ja ohne mögliche Wechselbezüglichkeit ist. Jedes »ich« als Anzeige eines reinen Vernunftstandpunktes wäre schon kollektives bzw. universelles (vernünftiges), durch und durch Gleichartigkeit artikulierendes »wir«. Vernunft, die rein für sich selbst bestünde und somit konfliktfrei wäre, könnte unmöglich für ein konstitutives Moment der Verfassung des Lebens genommen werden. Wie das Selbst in praxi über Vernunft verfügt, ist sie ein Instrument des Selbst, keine Instanz desselben. Generiert sich das Selbst im Zuge der Generierung des Ensembles selbst, so agiert es aus freien Stücken vernünftig, ohne jedoch, und das ist konstitutiv für seine Freiheit, jemals vollends als Vernunft zu funktionieren, sofern es eben nicht selbst Vernunft ist. 124 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Die Generierung des Selbst wie die des Ensembles bleibt in den lebensbefähigenden doppelten Konflikt eingebunden. Jede frei gebrauchte Vernunft operiert an der Grenze zum Unangeeigneten und nicht Anzueignenden. Sie ist durch diese Grenze nicht nur herausgefordert, sondern auch geprägt. Das versteht sich allein schon aus dem Faktum, dass es Vernunft nicht losgelöst vom Affekt gibt. Die im freien Vernunftgebrauch manifeste Vernünftigkeit des Selbst hat ihren Ort im andauernden Konflikt mit unangeeignetem Eigenen, was voraussetzt, dass dies seine Kraft behält – sowohl im eigenen Selbst als auch in dem des Anderen.
Die Ambiguität von Konflikt Stehen die Parteien des wechsel- und selbstbezüglichen Konflikts fest, dann gilt es, die Natur des Konflikts näher zu klären: seine produktive Ambiguität. Was wörtlich Zusammenstoß bedeutet, besagt nicht erstlich Feindseliges. Was sich im Praktizieren selbsthafter Alterität als Aufeinandertreffen verschiedener Seiten und Pole von kraftvoller Art zeigt, hat nichtsdestoweniger den Zug von Einigung. Wie aber der Zusammenstoß im gelingenden Ensemble und im gelingenden Selbst nicht den Charakter der Übermächtigung hat, so bleibt auch die Einigung konfliktgeprägt: sie bedeutet keine Verschmelzung. Sich als freies Selbst in Position zu bringen und mit einem anderen freien Selbst eine Situation zu bilden, stellt einen Konfliktfall dar. Jede Positionierung eigenheitlicher Kräfte hat die Form praktischer Polarität und Kontrarietät. Wie aber confligere auch Zusammenbringen, zum Vergleich Zusammenhalten, Vereinigen besagt, so sind die Wörter polar/Polarität und konträr/Kontrarietät gleichfalls nicht auf die Bedeutung der widrigen und feindseligen Entgegensetzung festgelegt. (Das gilt im Unterschied zu gr. syngkrousis auch für gr. symbole als Wort für das Aneinandergeraten von Menschen bis hin zur Verlobung.) Wie menschliches Leben als Ensemble verfasst ist, sind in ihm konfligierende, sich polarisierende und konträr agierende Kräfte am Werk, die sich sowohl unter den Selbsten als auch im je einzelnen Selbst miteinander messen und vergleichen. Dass dabei jederzeit die Möglichkeit, ja eben die Gefahr des Feindseligen besteht, liegt auf der Hand. Die primäre Tendenz der Kräfte im Ensemble ist jedoch der Ausgleich, nicht die Übermächtigung und Vergewaltigung 125 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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der einen durch die anderen. Das ist kein Schönreden der Verhältnisse, sondern bestätigt sich in der Erfahrung: Jedes lebensbefähigte Leben, jedes Lebens also, das verspricht, gemeinsam über den Tag und durch die Nacht zu kommen (die notwendigen Einsamkeiten und Abwesenheiten im Miteinander eingeschlossen), basiert auf einem relativen Ausgleich eigenheitlicher Kräfte und Gewalten. Die gelingende Auflösung der Symbiose von Mutter und Kind etwa, wie sie Voraussetzung jeder gelingenden Individuation und Sozialisation, jedes »ich«-sagen-Könnens und jeder Parteinahme im Ensemble ist, vollzieht sich als Kräfteausgleich. Dass die je eigene Intention des einen und anderen Selbst der Kräfteausgleich, nicht die Übermächtigung ist, liegt am Eigen- und Selbstwillen, wie ihn das Selbst um des Ensembles und damit um seiner selbst willen verkörpert. Ist der Übermächtigungswille nicht eben selten das Normale, um nicht zu sagen die Norm, so stellt er doch nichts anderes als eine pervertierte Form des Selbstwillens dar.
Kein Zwischen Wird die fruchtbare Polarisierung eigenheitlich geprägter Positionen als die Praxis ästhetischer und dialogischer Alterität und entsprechender Identität (im Sinne von Einanderheit und Selbstheit) gedeutet 10, dann bedarf es, was das Konzept der Verfassung des Lebens anbelangt, keines Dritten, etwa im Sinne eines Zwischen. 11 Das hier vorgestellte Konzept von Alterität (und Identität) widersteht einer Ergänzung zur Tertiarität. Kein Bühler’sches triadisches Sprachmodell mit seinen ontologischen Implikationen wird für es relevant, 12 keine Vorstellung der kulturellen und sprachlichen Vergemeinschaftung der Erkenntnisfähigkeit als Quasientität. Für das Konzept der Verfassung des Lebens ist maßgeblich, dass das Ensemble in Anbetracht des einen und anderen Selbst nichts Drittes ist. Seine jeweiNähere Ausführungen dazu finden sich in meinem Vortrag »Denkform und Lebensform – Formen der Selbstverantwortung«, in: Denkformen – Lebensformen (Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Hildesheim 3.–6. Oktober 2000), hrsg. v. Tilman Borsche, Hildesheim 2003, und auch schon in meinem Buch Menschliche Wahrheit, München 2000. 11 Zum Problem siehe Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994, S. 293 ff. Vgl. ders., Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990, S. 75 ff. et passim. 12 Karl Bühler, Sprachtheorie, Jena 1934. 10
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lige Aura verdankt ein Selbst dem Gelingen des Einander. Das generierte in-simul ist praxisdefinit. Anstatt dass es zur Bildung bzw. zur Hinzunahme eines Dritten käme, werden Alterität und Identität generiert: im Zuge einer auf Wechselseitigkeit basierenden Praxis der Selbstgenerierung. Würde sich das konfliktive Ensemble in seinem Gelingen auf das Wirksamwerden vorgegebener Normen, Regeln, Verträge und Institutionen berufen (die es zum Glück fraglos gibt) und nicht auf seine Selbstverantwortlichkeit, so versähe es sich an sich selbst: an seiner Art, erstes Von-wo-Aus jeder praktischen Norm zu sein. Die sich Messenden, die ihre Kräfte ausgleichen, schaffen sich selbst Maß und Regeln: Sie brauchen keinen Schiedsrichter. Entsprechend schaffen die sich Vergleichenden selbst ihre Verträge, auch wenn sie dafür ganz selbstverständlich kulturelle und gesellschaftliche Vorgaben nutzen. Was da in der Selbstaufführung des Ensembles und seiner Selbste alles als nützlich hereinspielt, hat keine Kraft, um praktisch als Drittes zu fungieren. Das »Zwischen« ist etwas für die Bühne, das den gar nicht oder nur halb engagierten Zuschauer vorausgesetzt. Da kann sich für den Betrachter zwischen der einen und anderen dramatischen Person im Szenenraum etwas aufbauen: ein »Sound«, ein Schweigen. 13 Sobald aber das Theater voll den Kairos einer künstlerischen Aufführung wahrnimmt und der Zuschauer dem Aufführungsensemble zugehört, gibt es kein beobachtbares Zwischen von dramatischen Personen mehr. Das in-simul lässt jedes Mitglied des Ensembles jedem anderen unmittelbar sein. Der doppelte, weil zugleich zwischen Selbsten und im Selbst ausgetragene Konflikt wird in seiner Ambiguität von Widerstreit und Einigung im Zuge wechselseitiger Selbstübereignung und Selbstzurücknahme, Annahme des Anderen und Selbstannahme ausgetragen. Die ganze praktizierte Ästhetizität und Dialogizität schafft hier nichts Drittes, sondern ist das Mittel, das das eine und andere Selbst und das eine Selbst sich selbst unmittelbar sein lässt: Angeeignetes Eigenes rührt unter Selbsten an angeeignetes Eigenes, während in dem einen und anderen Selbst bereits angeeignetes Eigenes an unangeeignetes Eigenes rührt.
Die Anregung dazu entnehme ich C. Bernd Suchers Besprechung der Aufführung von Jon Fosse, »Das Kind« am Hamburger Thalia Theater im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 21. 12. 2000.
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Fremdheit und Vertrautheit Was sich im Verhältnis, nicht im Zwischen, von Einanderheit und Selbstheit abspielt, lässt sich genauer an dem Begriffspaar Fremdheit und Vertrautheit verdeutlichen, das nicht weniger als Alterität und Identität zur Deutung der sich wechselseitig bedingenden Praxis taugt, die die Verfassung des Lebens formt. Die Möglichkeit, dass ein Selbst in gewichteter eigenheitlicher Praxis mit dem signifikant anderen Selbst äußerst vertraut und eben intim wird, ist nicht rätselhafter als die, dass dies andere Selbst ihm äußerst fremd und eben extim (extimus ist wie extremus Superlativ von exter) wird. Das praktisch »Äußerste« im Sinne des äußerst Fremden verliert sich nicht ins Unbestimmte und Ungewisse, bleibt nicht ohne Erfahrung, sondern gehört in seiner Signifikanz zur Konstitution des je eigenen Selbst. Sich auf dem Weg über den Anderen und mit dem Anderen selbst zu generieren und seiner Identität (Selbstheit) zu vergewissern, ist die Erfahrung eines Äußersten: einer uneinnehmbaren auratischen Position, in der sich die eigene Auratizität spiegelt. Es ist kein Paradox und keine Dialektik, wenn die Begegnung mit dem signifikant Unnahbaren, die die eigene Unnahbarkeit erschließt und bewährt, nicht ohne praktische Intimität zu denken ist. Was könnte einem näher gehen und intimer sein als die äußerste Beschränkung je eigener Freiheit, die in ihrer Art, Halt und Einhalt zu sein, den je eigenen Freiheitsgebrauch ermöglicht, erfordert und in Gang bringt? Mit der eigenen Unnahbarkeit verhält es sich wie mit dem eigenen Tod: Als der andere Andere, wie ich ihn nenne, 14 ist er akkurat das, was das Selbst sich nicht anzueignen, nicht als Position einzunehmen vermag. Doch wie der Tod als unübertrefflich Fremder (Extimus) auftritt, ist er auch schon für den unübertrefflich Vertrauten (Intimus) genommen. Gerade weil er der signifikant »äußerste« Mitspieler ist, wird er als der »innerste« Mitspieler erfahren. Fremdheit und Vertrautheit, wie sie selbsthaft im Einander praktiziert werden, bedingen einander. Sofern aber äußerste Fremdheit schon Intimität bedeutet, äußerste Vertrautheit entsprechend Extimität, schleicht sich in ihr Verhältnis unmöglich ein Drittes ein.
Rainer Marten, Der menschliche Tod. Eine philosophische Revision, Paderborn 1987, S. 77 ff.
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Konzertanz und Solidarität Gehört der Konflikt zum gelingenden Einander, dann kann Solidarität kein ausgrenzendes praktisches Gut sein. Wie Alterität und Identität, Fremdheit und Vertrautheit, so bedingen auch Konzertanz und Solidarität einander. Gewöhnlich appelliert man an Gleiche (Seinesgleichen), die sich als gesellschaftlich Ausgegrenzte und insofern Ungleiche zu solidarisieren hätten: der Arbeiter mit den Arbeitern, die Frau mit den Frauen. Solidarisierungsstrategien legen sich als geeignete Mittel nahe, die eigene gesellschaftliche Lage zu verbessern oder zumindest ihre Schlechtigkeit erträglicher zu machen, sofern eben solidarisch opponiert wird. Das darf aber nicht davon ablenken, dass die für die Verfassung des Lebens eigentlich wirksame Solidarität auf der Konzertanz selbsthafter Freiheit beruht, ob nun vorherrschend ungleiche oder gleiche Eigenheiten im Spiel sind. Selbsthafte Kräfte, die das Ensemble bilden, brauchen den Wettstreit miteinander: Sie haben ihn nötig und machen ihn für sich fruchtbar. Wirksame Solidarität äußert sich nicht in Homologien. Die eigene Position ist zu vertreten, dies freilich unmöglich so, dass sie an der signifikant anderen vorbeizielte, vorbeiredete. Wie das eigene Eigene sich maßgeblich dem anderen Eigenen verdankt, so eben auch die zu vertretende eigene Position. Freiheit gibt es nur zu mehreren. Jeder Freiheitsgebrauch ist direkt oder indirekt Antwort auf Freiheitsgebrauch. Dass aber Konzertanz und Solidarität einander bedingen, geben bereits die selbstbezüglichen Kräfte des Selbst zu erkennen, wie sie in praxi das wechselseitige Sichmessen und Sichvergleichen spiegeln. Unterscheiden wir angeeignete und unangeeignete eigene Kräfte, dann zeigt sich der nicht endende Wett- und Wortstreit der einen mit den anderen, wie er Grundlage und Herausforderung jeder dem Kräfteausgleich gewidmeten Selbstbeherrschung ist. Wer sich mit seinem erotischen Verlangen, mit seinem Mut (wie Odysseus mit seinem thymos) oder mit seinem eigenen Tod autodialogisch auseinandersetzt, hat es nie weniger mit Konkurrenten und Widersachern als mit der eigensten Partei zu tun. Selbstbeherrschung erwirkt nur dann ein lebenspraktisches uti et frui, wenn aus der Konzertanz von Herrschendem und Beherrschtem, Beredendem und Beredetem eine Solidarität beider hervorgeht. Der nous als solidarisch mit der epithymia – das hätte man sich bei Platon gewünscht, am Ende sogar eine Solidarität der epithymia mit dem nous. Doch dessen Sokrates
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hatte ja erst gar nicht die Konzertanz von beidem zugelassen: keinen Wettstreit, sondern nur delegiertes Niederringen. Solidarisch ist dem Bilde nach das, was praktisch keinen Zwischenraum freigibt, sondern vollends zusammensteht. Weil aber solidarische Praxis nicht anders als freiheitlich zu denken ist, kann das »Massive« und »Solide« allein ein situativ gewähltes und gebildetes sein: Es entspringt nicht nur der Konzertanz, sondern gibt ihr auch die der Verfassung des Lebens gemäße Form. Der lebensbefähigende Wettstreit wird zum Vollzug von Solidarität, wie die lebensbefähigende Solidarität mit alteritären Positionen die der miteinander wetteifernden Kräfte ist.
Konflikt mit der Verfassung Damit lässt sich auch der dem Leben abträgliche Konfliktfall formal deuten, der Lebensteilung aufkündigt und Lebensbefähigung untergräbt. Um nicht die Übermächtigung und Vergewaltigung der einen Kraft durch die andere zu wiederholen, sondern die neu gewonnenen Einsichten zu nutzen, soll der Konflikt mit der Verfassung des Lebens an der Aufhebung der Wechselbedingung von Alterität und Identität, Fremdheit und Vertrautheit, Konzertanz und Solidarität demonstriert werden. Versteht sich bei diesen Paaren nicht jeweils das eine aus dem anderen bzw. das eine im Verein mit dem anderen, dann besteht mit dem Ende der Wechselseitigkeit nicht etwa ein jedes isoliert für sich. Vertrautheit zum Beispiel ist ohne Fremdheit nicht mehr von lebensbefähigender Art. Intimität, die sich praktisch ohne ihren Gegenpol weiß, taugt nicht für das lebendige Ensemble. Die Verfassung des Lebens ist außer Kraft gesetzt. Die rein für sich praktizierte und gelebte Intimität, die von keinem Konflikt weiß, ist sicheres Indiz für einen Konflikt mit der Verfassung. Die Kräfte, die sie freisetzt und durch die sie selbst freigesetzt wird, beleben nicht, werden nicht fruchtbar, erneuern sich nicht, weil sie ohne Widerpart ins Leere laufen. Wie der kriegerische und tödliche Konflikt gerade kein »Jungbrunnen« des Lebens ist, so auch das agonfreie Leben nicht. Die Verfassung des Lebens, wie sie conditio sine qua non menschlichen Gelingens ist, braucht das Sichmessen und Sichvergleichen selbsthafter Kräfte, braucht als jeweils ambiguen Konflikt den zwischen angeeignetem Eigenen des Einen und Anderen und den zwischen angeeignetem und unangeeignetem Eigenen des je Einen. Das verlangt, 130 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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wie zu zeigen war, die jeweils neue Initiation der wechselseitigen Bedingtheit von Alterität und Identität, Fremdheit und Vertrautheit, Konzertanz und Solidarität. Die Konfliktivität des der Verfassung entsprechenden Lebens ist keine bloße Bedingung menschlichen Gelingens, sondern dessen vollendete Selbstdarstellung und untrügliche Selbsterfahrung.
Inhumane Toleranz Führt Alterität qua eigenheitliche Andersheit zu lebensbedrohlichen Feindseligkeiten zwischen Kollektiven, dann scheint Toleranz gefragt zu sein. Das nämlich gilt im Sinne eines ungeschriebenen Lebenserhaltungsgesetzes wie von selbst: Es ist besser, sich lebenspraktisch zu ignorieren als sich wechselseitig totzukriegen. Dass aber gegenseitige Toleranz im Sinne beiderseitigen Lebensinteresses »besser« ist als einseitige Unterdrückung und Vernichtung, spricht nicht schon für die Humanität von Toleranz, sondern ist allein Ausdruck dafür, was jenseits der Möglichkeit des Humanum die Wahl des geringeren Übels ist. Der Widerstreit eigenheitlich geprägter Lebensformen, wie er zumal dann leicht zu Hass und Mord führt, wenn er sich auf religiöse und nationale Unvereinbarkeiten berufen zu können glaubt, verleiht der Ideologie der Toleranz, wie Pragmatiker urteilen mögen, große Überzeugungskraft. Doch das pragmatische Urteil erweist sich schnell als bedenklich, ja als falsch. Geraten politisch und kulturell organisierte Andersheiten in lebenspraktische Nähe, die wechselseitige praktische Ignoranz ausschließt, zum Beispiel in Steinwurfnähe, dann zeigt sich die Toleranz als Kategorie des Inhumanen. (Das gilt im Übrigen auch für die aufklärerisch-preußische Variante von durch »Staatsraison« ermöglichter und garantierter Toleranz.) Kollektiv gelebte Andersheiten, die sich lebenspraktisch berühren (wie in Nordirland, Bosnien und Palästina), bedürfen der Praxis einer auf wechselseitigen Ausgleich von Kräften bedachten Einanderheit. Damit wird keine Utopie entworfen, sondern eine unverzichtbare und erfüllbare Bedingung des Miteinanderauskommens benannt: Die Einen und Anderen haben sich zu brauchen, so dass sie füreinander nötig und fruchtbar sind. Andernfalls bleibt ihnen praktisch nichts Besseres, als wechselseitig danach zu trachten, die jeweils andersartigen Kräfte nachhaltig zu schwächen, um nach Möglichkeit eine einseitige Supre131 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Menschliche Wahrheit und die konfliktive Verfassung des Lebens
matie zu erringen und zu erhalten. Lebenspraktisches Gelingen im weitesten Sinne steht Andersheiten, die sich in signifikant unterschiedenen (um jetzt nicht mehr zu sagen: widerstreitenden) Lebensformen manifestieren, allein insoweit offen, als sie sich im Sichmessen und Sichvergleichen wechselseitig als Einanderheiten bewahren.
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Klugheit zum Guten
Der Kluge (ho phronimos) ist nach Aristoteles nicht klug, weil er klug handelt, sondern er handelt klug, weil er klug ist. Er repräsentiert den sittlich hochstehenden Menschen, bestimmt durch die Bereitschaft (Potenz und Intention), sich für die Ziele, die die ethische Tugend vorgibt, einzusetzen. 1 Wir sind überrascht, einen Citoyen vorgeführt zu bekommen, dessen geistige Haltung nahtlos mit seiner ethischen kooperiert. 2 Ohne diese erstaunliche Grundlegung einer Moralphilosophie zu wiederholen, möchte ich Vergleichbares versuchen. 3 Es gilt, eine Klugheit dingfest zu machen, die nichts als Klugheit zum Guten ist. Gibt es auch reichlich Klugheit, die zu anderem als zum Guten taugt, so ist diese nicht nur anders ausgerichtet, sondern auch von anderer Art: In ihrer Vielgestaltigkeit ist sie von der Klugheit zum Guten, in der die initiale Klugheit des Lebens zu sehen ist, grundverschieden.
Nikomachische Ethik (EN) VI 13 1144 a 6–9. Für die »Homologie« von praktischer und dianoetischer Wahrheit ist EN VI 2 1139 a 22–36 besonders aufschlußreich. 3 Ich will es aber Aristoteles gleichtun und keinem anderen Philosophen, weil der Ansatz seiner praktischen Philosophie richtig ist. Zwar findet sich bei ihm die essentialistische Bestimmung des Menschen: Seinem eigentlichen Inneren (en hautôi) bzw. seiner eigentlichen Bestimmung (telos) nach sei er nicht leibhaftig, sondern Vernunft (EN X, 7 1177 b 26–1178 a 8). Geht es jedoch um praktische Fragen, dann ist ihm der Mensch das kluge, nicht das vernünftige Lebewesen. Wird das zoon politikon als das zoon logon echon verstanden (Politik 1, 8, 1253 a 3; 1, 9 1253 a 8–18), so steht damit kein inneres Wesensselbst im Blick, sondern das, was der Mensch in seiner speziellen sozialen Art tatsächlich tut: Er bestimmt gemeinsam (nicht auf Verabredung, sondern aufgrund seiner kulturellen Entwickeltheit) das Zuträgliche und Abträgliche, Gerechte und Ungerechte, das heißt das, was er zu tun und zu lassen hat, weil es der Erfahrung nach für die gemeinsame Lebensbefähigung gut ist, es zu tun und zu lassen. Die drei Ethiken des Aristoteles stellen nichts Geringeres dar als die Reflexion und Selbstvergewisserung menschlicher Klugheit. 1 2
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Klugheit zum Guten
1.
Kluge Klugheit
Klugheitsregeln beanspruchen, bewährte Ratschläge zu sein, wie der Einzelne in den Wechselfällen des Lebens am besten zu bestehen vermag. Lassen wir vorderhand das pro vita der Klugheit allgemein gelten, so fragt es sich doch, was die eigentlichen Herausforderungen des Lebens sind, zuvor noch, wie Leben sich verstehen muß, damit Klugheit für es fruchtbar werden kann. Stehen Lebensformen zur Wahl: leibhaft-lustvolles Leben, ehrenvolles politisches Leben und der Wahrheit verpflichtetes philosophisches Leben, 4 so zeigen sich mit den unterschiedlichen Lebensentwürfen ganz unterschiedliche Selbstdeutungen des Lebens, die nur darin eine Einheit finden, daß es allemal um Optimierung geht: um die der Lust, der Ehre, der Einsicht. Nun ist die Auffassung keineswegs allgemein, daß – unterschiedliche – Lebensformen frei zur Wahl stünden. Die einen verstehen ihr Leben als reine Selbstherausforderung: Was als Leben gelingt, ermessen sie an Form und Gehalt ihrer Lebensentwürfe. Anderen bedeutet ein höchster Wille und höchstes Sein alles: Leben ist für sie im wesentlichen ein Sichfügen und Entsprechen. Wieder andere verstehen Leben als Kampf um den eigenen Anteil, wenn nicht Vorteil: Ihnen zeigt sich im Anderen die eigentliche Herausforderung, weil Beschränkung, ja Beeinträchtigung des Lebens. Je nachdem verstehen sich die Klugheitsregeln in ihrer Provita-Gesinnung als Lebensoptimierungsregeln, Lebensunterwerfungsregeln und Lebensbewältigungsregeln. Was dabei im einzelnen als klug vertreten wird, unterscheidet sich bis hin zum Widerspruch. Soll der Rat, mit dem Handbreviere für kluges Lebensverhalten aufwarten, nicht wegen der Differenz von Lebensformen, Lebensentwürfen, Lebensverständnis und nicht zuletzt aufgrund der wechselnden Launen des Zeitgeistes heillos differieren müssen, so wird nach einer einheitlichen Form des Lebens und der ihr eigenen Klugheit zu fahnden sein, um mit nur einer Zunge sprechen und Rat geben zu können. Noch bevor aber die Form des Lebens kenntlich gemacht wird, bei der Lebensklugheit und Lebensgelingen in praxi geeint sind, stellt sich mit Blick auf die Uneinheitlichkeit des Lebensverständnisses und der für das Leben feilzubietenden Klugheit die Frage, ob es nicht allgemeinste Klugheitsregeln gibt, die in jedem Falle die richtigen sind: im Falle des Hedonisten nicht weniger als in dem des Politi4
Aristoteles: Eudemische Ethik 1, 4 1215 a 35 ff.; EN 1, 3 1095 b 17 ff.
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Klugheit zum Guten
kers und dem des Philosophen, im Falle des durch sich selbst Herausgeforderten nicht weniger als in dem des durch Gott und dem des durch den Anderen Herausgeforderten. Das lustvolle, das ehrenvolle und das sich dem Unveränderlichen widmende erhabene Leben sowie das zu seinem Selbstentwurf, das zu seiner Unterwerfung und das zu seiner Bewältigung unter Fremden und Feinden herausgeforderte könnten dann, so sehr auch die Interessen divergieren, zum je eigenen Nutzen aus einer gemeinsamen Quelle schöpfen. Eine Lebensklugheit entdeckte sich, die niemandem besonders eignet, aber für jeden geeignet ist. Sie hätte auch keine besondere Öffentlichkeit, sondern wäre in allen Öffentlichkeiten, ob durch Politik, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Sport, Entertainment, Krieg, Medien, Diakonie oder Intimität geprägt, gleicherweise zu Hause. Das führt zum heuristischen Begriff einer klugen Klugheit, die auf Distanz zu den besonderen Klugheiten geht, die sich nicht selten als Klugheit ausschließen. Sie hält sich zurück, etwas für klug gelten zu lassen, das nicht jedem Handelnden in jeder Lebenssituation anzuraten ist. Das aber soll ihr für den Augenblick (noch ohne Kenntnis der konstitutiven Einheit von Klugheit und Leben) eigens für klug angerechnet werden. Ihre Widerspruchsfreiheit unter den vielfältigen, oftmals einander widerstrebenden Klugen findet den angemessenen Ausdruck in der Selbstbezüglichkeit: Eine Klugheitsregel, die uneingeschränkt gilt, bezieht sich auch auf das Befolgen dieser Regel und insofern auf sich selbst. Das heißt, das kluge Verhalten muß mit seiner Klugheit selbst klug umgehen. Die Regel »Die Daumenschraube eines jeden finden«, Graciáns Klugheitsregel Nr. 26, 5 ist ganz offensichtlich keiner klugen Klugheit zuzurechnen. Sie taugt keinesfalls für Philosoph und Gläubigen, und wenn ihre Befolgung am ehesten demjenigen Erfolg verspricht, der im Anderen die einzigartige Herausforderung des Lebens erblickt, dann ist es selbst da noch die Frage, ob einer wirklich gut beraten ist, auch nur einmal so zu verfahren, falls Leben doch nicht maßgeblich durch ausschließende (»interdiktorische«) Andersheit 6 und menschenverachtende Feindseligkeit geprägt sein sollte.
5 Baltasar Gracián (1601–1658): Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit, aus dem Spanischen von Arthur Schopenhauer, Zürich 1993, S. 29 f. 6 Ein Beispiel für interdiktorische Andersheit ist der koloniale Diskurs, wie er zum Beispiel einen Rassisten des 18. Jahrhunderts sagen läßt: »So lächerlich die Ansicht scheinen mag, glaube ich doch nicht, daß ein Orang-Utan als Gatte für ein Hottentot-
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Klugheit zum Guten
Wie aber steht es mit einer Regel wie »Nie zu spät kommen«? Kurz vor der Auflösung der DDR soll Michael Gorbatschow ihre Funktionäre gewarnt haben: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«. Was so als Argument auftritt, ist eigentlich nicht mehr als eine Klassifizierung. »Nie zu spät kommen« – daraus spricht unmittelbar die Klugheit erfahrenen Lebens. Wer dieser Regel nicht folgt, handelt unklug und wider die Interessen des sich lohnenden Lebens. Das Leben, unklug, wie er es lebt, bestraft ihn: bringt ihn um den Gewinn. Diätetische Regeln spiegeln lebenspraktisch gewonnene und bewährte Klugheit, wie eben ihre Klugheit sich lohnendes Leben spiegelt. Gibt es ein Zu-spät, dann ist das ein Indiz von Unklugheit des Verhaltens und drohender Bestrafung. Die Steigerungspartikel (»Gradadverb«) »zu« (agan, nimis, (auch extra, praeter, ultra/supra modum), too, troppo) ist allem Anschein nach, wird sie mit »nicht« verbunden, das Leitwort der gesuchten Allgemeinheit kluger Ratschläge, die in keiner Lebenssituation ihren Wert verlieren, und somit das untrügliche Indiz kluger Klugheit. Die Regel »Nie zu spät kommen« stellt eine der möglichen Interpretationen der gänzlich allgemein gehaltenen Lebensklugheit »Nichts zu sehr« (meden agan) dar. Das ist lakonischer Frühstil, wie er für die erste Hälfte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. den Sieben klugen Männern 7 in den Mund gelegt wird. 8 Mit wechselnden Zuweisungen an historische Personen (das zitierte Wort bringt es auf fünf Autoren, 9 die Sieben klugen Männer auf die Zahl siebzehn 10) werden Maximen für das private Leben in Umlauf gebracht, die vor Vertrauensseligkeit im Umgang mit Anderen warnen und den Einzelnen zur Mäßigung anhalten. Das geschieht zu einer Zeit, als Griechenland von Osten her mit dem Dionysoskult in Berührung kommt: mit der enthusiastischen Bejahung des Zu-sehr im Sinnen- und Triebleben. Das »Nichts zu sehr« wird begründet mit der unüberbietbar positiven lebenspraktischen Bedeutung des Maßes: »Alle Gute (das tenweibchen irgendwie entehrend wäre.« Begriffsverwendung und Zitat: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 135. 7 Zu »klug« statt »weise« siehe Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, New York 1952, S. 316. 8 Platon: Protagoras 343 a1-b5. 9 Solon wird genannt, aber auch Chilon, Sodamos, Sisyphos und Pittheus. Siehe Bruno Snell: Leben und Meinungen der Sieben Weisen, München 1943, S. 6 ff. 10 Siehe Fränkel, a. a. O., S. 315.
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Klugheit zum Guten
meint alles sittliche Handeln) hält sich an das rechte Maß«. 11 Ein Wort wie »Maß ist das Beste« 12 ist seinem praktischen Gehalt nach gleichbedeutend mit »Nichts zu sehr«. Besagen das Nein zum Übermaß und das Ja zum Maß lebenspraktisch dasselbe, dann ist mit beidem auch schon die Klugheit genannt, die jedem Leben um seiner selbst willen eignet. Nicht von ungefähr führt Platon das »Nichts zu sehr« mit dem nicht weniger apokryphen, dem Thales zugeschriebenen Wort »Erkenne dich selbst!« an. 13 Das nämlich soll soviel besagen wie »Sei klug!« (sophronei). 14 Das »Halte Maß!« und das »Sei klug!« sind die Kehrseiten derselben Medaille: Das eine Verhalten braucht das andere, spricht aus dem anderen. Hier zeigt sich eine Möglichkeit, nicht einseitig der Klugheit die Funktion zuzusprechen, im Dienste des Lebens zu stehen, sondern auch umgekehrt auf die Bedeutung des maßvollen Lebens für Erwerb und Akzeptanz von Klugheit aufmerksam zu werden. Das maßvolle Verhalten bedarf nicht mehr des klugen Rats als der kluge Rat des maßvollen Lebens bedarf. Anders als Normen, die für die Normengeber selbst nicht selten zur Disposition stehen (Max Scheler!), spiegeln Ratschläge des klugen Klugen das eigene Verhalten. Ratschläge zur Klugheit sind nicht notwendig und nicht einmal erstlich als Appelle von außen vorzustellen. Kluger Rat und maßvolles Leben können einander nicht anders als entsprechen, da beides sich im Leben wechselseitig generiert: Die Erfahrungen, die das gelebte Leben macht, sedimentieren sich zur Klugheit; die Erfahrungen, die Kluge mit eigenem Rat und mit der Akzeptanz von Rat machen, sind Selbstvergewisserungen geführten Lebens. »Dem Gerechten keine Gesetze und dem Weisen keine Ratschläge!« 15 – das ist allein eine Wendung gegen Heteronomie, spricht aber nicht gegen das wechselseitige Sichbedingen von maßvoll Leben und klug Raten. Daß das gelebte Leben und die geistige Instanz des Lebens von Grund auf zusammengehören, zeigt anschaulich ein poetisches Wort aus dem AlFragmente der Vorsokratiker, gr./dt. (ed./trad. Hermann Diels/Walther Kranz), Bd. 1, Berlin 1951, S. 61: kairôi panta prosesti kala. Vgl. Theognis: Elegie 1, 401: meden agan speudein. kairos d’ epi pasan aristos. (»Betreibe nichts zu sehr. Das Maß ist bei allem das Beste«.) 12 Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O., S. 63: metron ariston. 13 Platon: Protagoras 343 b2. 14 Platon: Charmides 164 d3–165 b4. 15 D. Vincencio Juan de Lastanosa: »An den Leser«, in: Gracián: Hand-Orakel, S. 10. 11
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Klugheit zum Guten
ten Testament: »Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus gehet das Leben«. 16 Das Herz ist hier das Von-wo-aus des Lebens und zugleich der Sitz aller Geisteskraft. 17 Wer sein Herz behütet, bewahrt nicht weniger den Grund seines Lebens als den Grund, aus dem er sein Leben führt. »Nichts zu sehr« richtet sich ohne Einschränkung an alles Verhalten. Es gilt somit – selbstbezüglich – auch für das Regelverhalten: für das zugunsten des Lebens geregelte lebenspraktische Verhalten sowie für die es regelnde Klugheit. In dem ebenso klugen wie lebensgemäßen »Halte allemal Maß!« und »Sei allemal klug!« ist darum einsichtigerweise mitgesagt: »Halte nie zu sehr Maß!«, »Sei niemals zu klug!«. 18 Nur so wird die Widerspruchsfreiheit der Klugheit unter Klugen garantiert. Verselbständigen sich Regeln-Vorgeben und Regeln-Befolgen, besteht die Gefahr der Maßlosigkeit im Maßhalten und Zum-Maßhalten-Raten. Daß selbst und gerade das Gute sein Maß braucht und sich der Gedanke des Maßvollen mit dem des Mittleren verbindet, 19 hat in der Neuzeit mit Nachdruck Montaigne erinnert. In seinen Essais (1,30) führt er unter dem Titel Moderation das Wort gegen die allzu heftige Begierde (trop aspre et violant), nicht weniger aber gegen den Exzeß der Tugend, die Gefahr laufe, keine Tugend mehr zu sein. Klug, das heißt lebensklug ist es, nicht zu sehr zu lieben und zu hassen, nicht zu viel zu essen und zu trinken, nicht zu lang zu reden und zu schweigen, nicht zu fromm und nicht zu gut zu sein. Montaigne wählt die Liebesorgien, um an diesem Zu-sehr der Liebe zu demonstrieren, daß es nicht überall angebracht ist, obwohl er es für sich selbst durchaus zu schätzen weiß und auch unterschiedlichen kultuSprüche 4,23 (Luther). Das Herz dichtet, plant, erdenkt, führt Gespräch usw. Siehe zum Beispiel Sprüche 16,1; 9. Kardia wird in der Septuaginta (LXX) synonym gebraucht u. a. mit psyche, dianoia, pneuma, nous. 18 Läßt Euripides den ansonst unflexiblen Achilleus zwischen praktischen Herausforderungen, denen nicht allzu klug (me lian phronein), und solchen, denen mit gehöriger Kenntnis zu begegnen sei, unterscheiden (Iphigenie auf Aulis 924), so zeigt sich darin kein Sinn für kluge Klugheit, die – selbstbezüglich – jedes Allzu-klug ausschließt, nicht aber – klugheitsökonomisch – praktische Objekte nach der Gradualität nötiger Klugheit unterscheidet. 19 Platon: Politikos 284 e; Aristoteles, durchgängig in den Ethiken; bereits Theognis sagt (Elegie 1,335): Meden agan speudein. panton mes’ arista (»Nichts betreibe zu sehr; halt immer die Mitte« (Fränkel, a. a. O., S. 532), wörtlich: »das Mittlere ist von allem das Beste«). 16 17
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Klugheit zum Guten
rellen Umgang mit ihm positiv beurteilt. So wendet er sich gegen das Zu-sehr der Liebe, dies aber eben nicht zu sehr und das heißt nicht absolut. Er erkennt die Ehe für den Ort der »höchstlegitimen«, sich innerhalb der barrières de la raison haltenden Liebe, wie sie nicht nur dem Theologen gefällt, sondern offensichtlich auch lebensbekömmlich ist. Das »seriöse« Vergnügen, das er der Ehe zugesteht, kennt allein eine Wollust, die »einigermaßen klug und vom Gewissen geleitet« ist. Wie er sich aber nicht schlechtweg gegen außereheliche Unmäßigkeiten und Schamlosigkeiten ausspricht, so hält er es auch mit allen anderen Exzessen, zu denen das Leben einen von selbst führt. Die Klugheit wahrt nicht mehr als die rechte Mitte. Damit sie durch extreme Ausschläge nicht beschädigt wird, genügt es, das Mäßige und eben Angemessene im Sinne des Mittleren zu stärken, nicht jedoch zu verabsolutieren. Was Nietzsche als »Aristotelismus der Moral« kritisiert: als »Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass«, 20 hat hier nicht statt. Wie Montaigne wider die Übertreibung der Mäßigung argumentiert, so auch gegen die der Klugheit. Unterstützung findet er bei Horaz und Paulus: »Der Weise verdient den Namen des Verrückten, der Gerechte den des Ungerechten, wenn sie über das hinausgehen, was an Tugend genügt« 21 – das ist das Wort gegen die maßlose Tugend. »Sei nicht klüger (me hyperphronein) als es sein muß, sondern sei klug auf gesunde und lebenskluge Weise (eis to sophronein)« 22 – das ist das Wort gegen die maßlose Klugheit. Frömmigkeit hat ihr Maß. Nur wer sich vor Gott mäßigt, übt sich, wie Paulus meint, in vernünftigem, die Macht des Glaubens klug einschätzendem Gottesdienst (latreia logike). 23 Wer sich dagegen religiöser gibt als alle seines Standes, ist, wie der fromme Standesmann Montaigne urteilt, weder klug noch eigentlich religiös. Auch das Philosophieren, wird es bis zum Exzeß getrieben, wendet sich, ihm zufolge, gegen sich selbst: Es unterdrückt die natürliche Freiheit und bringt von dem schönen, ebenen Weg ab, den die Natur uns gebahnt hat. Gläubigkeit, Nachdenklichkeit und selbst Klugheit erfordern Maß und Mäßigung, bedürfen einer Klugheit, die dadurch aus20 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 198, in: ders.: Sämtliche Werke (KSA), Bd. 5, S. 118. 21 Horaz: Epistel 1 6,15. 22 Römerbrief 12,3. Schon Platon weiß von der Optimierung des phronein durch seine Verbindung mit dem sophronein (u. a. Nomoi IV 712 a). 23 Römerbrief 12,1
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Klugheit zum Guten
gezeichnet ist, daß sie ihrerseits der Verhaltensregel »Nichts zu sehr« folgt. Ich nenne sie, wie angekündigt, die kluge Klugheit. Formal der gerechten Gerechtigkeit entsprechend, die aus dem Recht folgt, das nicht aus Gesetzen abgeleitet wird, sondern Grund der Gesetze ist, gibt es die kluge Klugheit, die sich an Maßen orientiert, die dem Leben nicht von einer Instanz außerhalb seiner selbst vorgegeben, sondern ihm selbst entnommen werden. Die Praxis der klugen Klugheit schließt jede Beeinflussung durch deontologische Vorgaben aus. Das »Nicht zu sehr ›Nichts zu sehr‹« gibt prinzipiell Ausnahmen eine Chance, die, wenn Lebenserfahrung es gutheißt, bis zur Maßlosigkeit reichen können. Sache der klugen Klugheit kann es im übrigen auch sein, bei gewissen Dingen Klugheit erst gar nicht ins Spiel zu bringen. So findet sich im Alten Testament der Rat, dort, wo es um Mehrung des Reichtums geht, sich überhaupt der Klugheit zu enthalten. 24 Klugheit, die klug mit sich selbst umgeht, kennt nicht allein ihr Maß, sondern auch ihren Kairos. Der Rat, auf kluge Weise klug zu sein, wie er im selbstbezüglichen »Nichts zu sehr« als allgemeinster Verhaltensregel angelegt ist, spricht, soweit aufgedeckt, noch immer für das private, sich individuell auf sich selbst entwerfende Leben. Dennoch ist mit dem Vorschein der klugen Klugheit im Ansatz erreicht, das Verhältnis von Klugheit und Leben neu zu deuten. Die kluge Klugheit tritt nicht als selbständige Instanz gegenüber dem Leben auf, um ihm von sich aus zu sagen, was für es gut ist. Darin hat Klugheit nie mit einer als gesetzgebend erdachten Vernunft zu konkurrieren gesucht. Wird nun aber nur dies festgehalten, daß jede Klugheit auf Lebenserfahrung gründet, dann gibt Klugheit, gleich jedem Wissen, noch immer der Möglichkeit statt, sich auch gegen die Interessen des Lebens verwenden zu lassen. Erhält Klugheit, wie sie durch Lebenserfahrungen generiert wird, voll und ganz den Status eines Instruments, so verselbständigt sich die Nutzung der Klugheit gegenüber den Interessen des Lebens. Mit der klugen Klugheit jedoch zeichnet sich eine Desinstrumentalisierung der Klugheit ab. Kluge Klugheit, die sich als Klugheit selbst kontrolliert, indem sie sich auf die Interessen des zu lebenden Lebens abstimmt, läßt sich nicht mehr gut gegen das Leben verwenden. Sprüche 23,4. Nach Prediger 9,11 ist Reichtum keine Sache der Klugheit, weil er sich ausschließlich der Gelegenheit und dem Zufall (kairos kai apantema) verdankt. Siehe dagegen die Bedeutung von kairos als Maß oben Anm. 11. 24
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Klugheit zum Guten
Wenn an dieser Stelle noch nicht zu sagen ist, daß mit der klugen Klugheit deutlich die Klugheit zum Guten im Blick steht, dann ist das nur darum nicht möglich, weil ihr Kairos eben nicht das privat für sich reüssierende Leben ist, sondern, um es vorwegzunehmen, das geteilte Leben. Dann erst zeigt sich kluge Klugheit als geteilte Klugheit. Klugheit zum Guten setzt mit der Desinstrumentalisierung der Klugheit auch ihre Entprivatisierung voraus, was, wie sich herausstellen wird, einer Entprivatisierung und Desinstrumentalisierung des Selbst gleichkommt.
2.
Instrumentalisierte Klugheit
Wie Privatisierung der Klugheit ihre Instrumentalisierung bedeutet, so Instrumentalisierung der Klugheit ihre Privatisierung. Sobald Klugheit für alle Zwecke offen ist, besteht keine notwendige Ausrichtung auf gemeinsames, das heißt lebensteiliges Gelingen, steht kluges Verhalten nicht für wechselseitige Klugheit im menschlichen Einander. Die instrumentell genommene Klugheit taugt nicht zur klugen Klugheit, die Klugheit zum Guten ist. Nicht auf selbstverantwortliche Weise in den Ausgleich der im Wechselspiel befindlichen Kräfte eingespannt, ist sie den selbstischen Interessen eines einseitig positionierten Ich und Wir überantwortet. Klugheit im Dienste selbstischer Einzelner ist auf Rücksichtslosigkeit gegenüber Gemeinschaft und Gesellschaft angelegt. Isoliert, wie sie ist, frönt sie einem einzigartigen Zu-sehr: dem Zu-klug. Selbstische Klugheit steht für privatistisch vollzogene Selbstbezüglichkeit des »Nichts zu sehr«. In ihrer speziellen Selbstreflexion verweigert sie sich der lebensteiligen, sich wechselseitig bedingenden Klugheit. Die Spezialität des Zu-Klugen ist es, für die eigene Klugheit prinzipiell nicht den Anderen in Betracht zu ziehen. Für sich selbst hält er sich an das »Nicht zu sehr ›Nichts zu sehr‹«; nur in Anbetracht des Anderen ist er »zu klug«. Zeigt sich in Klugheit, die klug ist, weil sich in ihr der Eine und Andere treffen, der Partizipationswille, dann in selbstisch kluger Klugheit der Absolutheitswille: für sich und nur für sich klug zu sein und nach Möglichkeit alles allein für sich zu wollen. Jede private Intention ist im Prinzip selbstisch. Wer sich und nur sich verwirklichen, wer sich und nur sich Höherem weihen will, sieht für die großen Momente des Lebens allein die eigenen und nur eigenen Gelegenheiten an, nicht weniger als der, der Andere von vornher141 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Klugheit zum Guten
ein zum Opfer eigener Lebensstrategien bestimmt. Ibsens Peer Gynt ist ein Beispiel dafür. Immer neu sind es die Opportunisten, die sich durch rein instrumentell genommene Klugheit profilieren. Die Gelegenheiten klugen Verhaltens diktieren ihnen allein die selbstischen Interessen, ob sie sich nun klug dem Zeitgeist anpassen, klug den gegenwärtigen Machthabern willfahren oder klug von allen Skrupeln lassen, sobald es die eigene Vorteilnahme verlangt. Sie sind mit einem Wort zu klug, um human zu sein, wenn das heißt, lebensteilig zu agieren. Genau das ist das einzigartige Zu-sehr und eben Zu-klug, das die vollends instrumentalisierte Klugheit selbst erfaßt und von dem her sich Angepaßtheit, Willfährigkeit und Skrupellosigkeit des Opportunisten als Praxisformen ungeteilter Klugheit verstehen. Die Machiavellisierung der rein instrumentell genommenen Klugheit ist unausweichlich. Unter den Händen des erfahrenen Machiavelli wird der Alleinherrscher zur klassischen Gestalt des Opportunisten: Ist er klug, dann beherrscht er die Kunst, sich zu behaupten und an der Macht zu halten. Il Principe taugt so zum Urbild aller um den Einzelnen rein um seiner selbst willen besorgten Verhaltenslehren. Was aber auch immer Machterhaltung als Selbstzweck in der jeweiligen Situation an klugem Verhalten verlangt – wirksame Lüge, straffreien Mord, kalkulierte Grausamkeit –, der Grundsatz, der jeden situationsgebundenen Rat trägt, läßt sich auf die Formel bringen: Sei ja so klug, niemals lebensteilige Interessen zu vertreten oder auch nur zu berücksichtigen, wenn dadurch selbstische Interessen eingeschränkt werden. Kurz gesagt: Sei zu klug, um human zu sein. Allein in diesem unüberbietbar selbstischen Zu-klug ist jede geteilte Klugheit nachhaltig ausgeschaltet. Fragen, wem eigentlich was ein Zusehr (Zu-viel usw.) bedeutete, sind dann fehl am Platze. Es bedarf hier keiner empirischen Erhebungen, um mit Blick auf die Vielfalt von Kulturen und Individuen Unterschiede und Gleichheiten des lebenspraktisch Zuträglichen und Abträglichen kasuistisch zu eruieren. Das Zu-sehr an Klugheit, dessen – formal gedeutete – Spezialität es ist, menschliches Gelingen, das gemeinsamen klugen Verhaltens bedürfte, gezielt zu hintertreiben, nämlich das »Zu klug, um human zu sein«, gibt hinreichend zu verstehen, was einseitige und wechselseitige Klugheit scheidet. Die private und instrumentalisierte Klugheit ist kein Problem des Charakters einer Person, sondern definiert die Autonomie, die das selbstische Selbst praktiziert. Darum genügt es nicht, die Bedeu142 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Klugheit zum Guten
tung der opportunistisch genutzten Klugheit allein für die Klugheit herauszustellen, wenn doch diese Nutzung ebenso bedeutsam für das Selbst ist. Kant hat Klugheit klar von dem geschieden, was seiner Erklärung nach das Vermögen der Selbstbestimmung ist. Klugheit bedeutet für ihn zum einen die Geschicklichkeit, Andere für den Eigennutz zu instrumentalisieren, zum andern die Einsicht, alle eigenen Absichten zum »eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen«. 25 Die Weltklugheit (so der Name jener Geschicklichkeit) verdankt demnach ihren Wert ganz der Privatklugheit (so der Name dieser Einsicht). Die eigentliche Folge der Instrumentalisierung der Klugheit aber bedenkt Kant nicht: die Selbstinstrumentalisierung. 26 Nicht nämlich nur die Anderen werden zu bloßen Mitteln der Existenzoptimierung, sondern auch der Kluge selber für sich selbst. Er kann die Gelegenheiten zugunsten seiner selbst nur nutzen, wenn er sich selbst ausnützt. Wer in selbstischer Absicht sowohl die Behauptung als auch den Genuß seines Daseins zu optimieren sucht, kommt nicht darum herum, sich selbst zum Mittel des von ihm entworfenen und intendierten Zwecks zu machen. Unversehens zeigt sich der von der selbsternannten »zweiten Moderne« propagierte Selbstunternehmer. 27 Es ist der dem Neoliberalismus angepaßte neue Opportunist. Er instrumentalisiert nicht nur Andere und Anderes, sondern allem zuvor und damit grundlegend sich selbst, weil er, auf daß das Leben sich für ihn rechnet, von dem ausgehen muß, was er selbst dafür einzusetzen hat. Jede Fähigkeit, auf die er bei sich zählen kann, die seinem Selbstzweck 25 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS), Akademieausgabe Bd. IV, S. 416 Anm. 26 Habermas gebraucht den Terminus Selbstinstrumentalisierung anders (Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001). Er entwickelt ihn in einem kritischen Diskurs über Gentechnik als gattungsethischen Begriff, der für die Fremdbestimmung des Menschen steht, nämlich des durch gentechnische Eingriffe vorpersonal in seinen Merkmalen Veränderten. Ich dagegen gebrauche den Begriff, um eine Selbstbestimmungsleistung des Einzelnen anzuzeigen: seine Selbstausgrenzung vom lebensteiligen Gelingen. Selbstinstrumentalisierung wird so als Eigenleistung des selbstischen Selbst gedacht, das sich vom Selbst, das sich praktisch jederzeit dem Einander verdankt, signifikant unterscheidet. In der Sprache von Kant und Habermas ist es hier also gerade die Person, die sich instrumentalisiert, nicht aber erleidet Vorpersonales eine »Selbst«-Instrumentalisierung. 27 Siehe Ulrich Beck u. a.: Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1998, die Ausführungen zum Selbst-Arbeiter als dem Unternehmer seiner selbst, dessen Sinn nach »prinzipiell grenzenloser Selbstausbeutung« steht (a. a. O., S. 251 f.).
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dient, mehrt seinen Mittlerstatus. Doch genau besehen hat sich in dem, was ich den pragmatischen Solipsismus nennen möchte, der Zweck bereits initial in seine Vermittlung aufgelöst. Dient die vollends instrumentalisierte Klugheit dem Klugen, selber sich selbst zu behaupten und sich selbst zu genießen, dann hat das Selbst von Selbstbehauptung und Selbstgenuß voll und ganz die Rolle des Vermittelns übernommen und versteht sich selbst überhaupt nicht als finaler Zweck. Wer zu klug ist, um lebensteilig zu handeln, und das Humanum, falls er an es denkt, der List der unsichtbaren Hand 28 überläßt, findet in sich zu keinem Selbst, das Halt gewährt und Einhalt gebietet. Das Selbst der Selbstvermittlung von Daseinsbehauptung und Daseinsgenuß kann nur als rast- und haltloses vorgestellt werden. Es gleicht darin Camus’ Sisyphus, daß es sich in der endlosen Wiederholung seiner zu keinem Halt und Einhalt führenden selbstischen Anstrengungen als »glücklich« versteht. 29 Wird der Klugheit, mit der das selbstunternehmerische Single sich identifiziert, ein Imperativ zugedacht, dann ist es in der Sprache Kants kein moralischer, sondern ein pragmatischer. 30 Was er anrät, 31 zielt auf Optimierung des Daseins. Doch da ist es nicht die mangelnde Allwissenheit, wie Kant meint, die dem Rat seine Zielsicherheit verwehrt, sondern rein die Privatheit. Sie läßt instrumentalisierte Klugheit prinzipiell nicht auf ein Zum-Guten festgelegt sein. Entgegen traditionellen Glücksperspektiven der Philosophie und auch Theologie 32 steht Gutes, das nachhaltiges uti et frui verspricht, keinem privaten Zugriff des rein auf sein eigenes Wohl und Heil bedachten Individuums offen. Klugheit, privat und instrumentell genommen, ist überhaupt nicht zum Guten fähig: zum lebensteiligen Gelingen. Pragmatische Imperative verraten das Problem, das die Selbstinstrumentalisierung dem Selbst verschafft, oftmals durch eine affekAdam Smith: Der Wohlstand der Nationen, 7. Aufl., München 1996, S. 371. Albert Camus: Le mythe de Sisyphe, in: ders., Essais Bd. 2, Paris 1965, S. 103: »Il faut imaginé Sisyphe heureux«. 30 Kant: GMS, S. 417. 31 A. a. O., S. 418. 32 Siehe jüngst Klaus Jacobi: »Philosophische und theologische Ethik. Ein Blick auf Abaelards Dialogus«, in: Philosophisches Jahrbuch 108, Halbband 1 (2001), S. 1–17. Jacobi zeigt die Differenz des Denkens: Der Philosoph denkt das höchste Gut komparativisch und ichzentriert, der Theologe superlativisch und auf Gott fokussiert. Beide (vermutlich steht der Philosoph für aristotelisches, der Theologe für platonisch-platonistisches Denken) sind, wie ich es beurteile, von der Tatsache, daß menschliches Gelingen im lebensteiligen Gelingen zentriert, gleich weit entfernt. 28 29
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tive Tönung. Ob sich in den Ratschlägen, die der selbstisch Kluge sich selbst gibt und geben läßt, dann Sorge und Angst oder Frivolität und Zynismus breitmachen, liegt im Belieben des Zeitgeistes und des Einzelnen. »Sprich nicht zu oft zynisch. Sei es immer« 33 – so spricht der Mann, der sich und Anderen den Rat gibt: »Tue stets, als würdest du das Leben ernst nehmen. Die Klugen halten dich, falls sie es glauben, für vertrauenswürdig; glauben sie es nicht, für klug.« 34 Der Zyniker ist zu klug, um sich den Klugen zu eröffnen. Das Leben ist nicht ernst zu nehmen, weil es den Ernst nicht verdient. Würde er das aber zeigen: die zynische Lebensbejahung als die einzig authentische, dann wäre er unberechenbar, ja er initiierte allgemeine Unberechenbarkeit. Das agonale, auf relativen Kräfteausgleich zielende Leben verlöre alles Regelhafte. Der Einzelne jedoch will in seinem Zynismus die Bodenlosigkeit, dieses »Nicht einmal daran, daß man sich an nichts halten kann, kann man sich halten«, 35 ganz für sich haben. Schließlich will er nicht auf Champagner verzichten, 36 und dazu ist es nötig, daß die Anderen ihn – so oder so – fixieren. Würde er weder für vertrauenswürdig noch für klug genommen, liefe er Gefahr, für nichts als gemeingefährlich eingestuft zu werden: Er geriete selbst in Gefahr. Man muß nicht Zyniker sein, um die erste der privaten Klugheiten in der Selbstverstellung zu sehen. Es genügt, welt- und menschenerfahren zu sein, um das Überleben in einer unversöhnlichen und feindlichen Welt 37 als lebenswährendes Ziel zu begreifen, das immer neu zu erreichen in keinem Lebensaugenblick wahre Selbsteröffnung gestattet. 38 »Ein Krieg ist das Leben des Menschen gegen die Bosheit des Menschen. Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit
33 Walter Serner: Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler, Berlin 1964, 2. Teil Nr. 49, S. 67. 34 A. a. O., Nr. 4, S. 61. 35 A. a. O., 1. Teil Nr. 67, S. 47. 36 A. a. O., S. 11 et passim. 37 Dazu Helmut Lethen: »Die Wiederkehr der ›kalten persona‹ des Jesuiten Gracián«, in: ders.: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994, S. 53 ff. 38 Zu Kants Einschätzung der Selbstverstellung als schlechtweg allgemeinem menschlichen Verhalten siehe Rainer Marten: Menschliche Wahrheit, München 2000, S. 289 f.
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macht sie Luftstreiche, dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen.« 39 Das Spiel muß nicht aufgehen. »(K)ämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringenden Strahlen Apollos«, dann wird selbst noch die höchste Verstellung, die das »nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen« läßt (das ist die Täuschung »durch die Wahrheit selbst«: der »auf die vollkommenste Aufrichtigkeit« gegründete Betrug) aufgedeckt. 40 Gleichwohl zeigt sich aufs neue die Einheit von Instrumentalisierung der Klugheit und Selbstinstrumentalisierung des selbstisch geführten Lebens. Die rein instrumentell genommene Klugheit rät zu uneingeschränktem Selbstvorenthalt. Sich im Verhalten zu Anderen nicht selbsthaft einzubringen, ist in der Tat der einzige Weg, um praktisch nicht mehr und nicht weniger als ein Mittel seiner selbst zu sein. Wer seinen Lebenskampf so zu führen sucht, ignoriert nicht nur, indem er sich jeder wechselseitigen Selbsteröffnung und Selbstübereignung versagt, die Bedürfnisse des Anderen, sondern auch die seiner selbst. Ohne sein Selbst aufs Spiel zu setzen, praktiziert er keines, ist er keines. Eine philosophische Deutung erfährt der sich selbst instrumentalisierende Opportunist in Rortys Konzept des liberalen Ironikers, 41 eine Deutung und zugleich Verstellung. Die Verstellung aber gelingt dadurch, daß der liberale Opportunist (Freiheit ist die Erkenntnis der Kontingenz, das heißt der situativen Ausgangsbedingungen) nicht nur die Klugheit, sondern auch die Moral auf seiner Seite weiß. Was eigentlich richtig und nötig ist, nämlich die Differenz von Klugheit und Moral (wie Kant sie bestimmt und wie sie noch von Habermas für verbindlich genommen wird) zu revidieren, gerät bei Rorty auf den falschen Weg. Anstatt die Einsicht in die Nichtuniversalität des Moralischen zu nutzen und voll auf das jeweils konkrete lebenspraktische Einander zu setzen, behält er zugunsten seines individualistischen Liberalismus die Unterscheidung von privat und öffentlich (gesellschaftlich) bei der Konzeptualisierung des Selbst bei. Zwar ist es nicht mehr, wie etwa bei Habermas, aufgespalten in Vernunft und
Gracián: Hand-Orakel, Nr. 13, S. 19. Die Anregung, Gracián und Serner beizuziehen, hat Lethen: Verhaltenslehren der Kälte, gegeben. Die angeführten Beispiele sind nicht bei ihm zitiert. 40 Gracián: Hand-Orakel, S. 20. 41 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität (KIS), Frankfurt am Main 1989, S. 67–123. 39
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Klugheit zum Guten
etwas, das nicht Vernunft ist, 42 aber es sind doch divergierende Möglichkeiten des Selbst, die für sich bestehen, nicht jedoch lebenspraktisch zugleich zum Zuge kommen. Dadurch wird die Fehldeutung von Selbsterschaffung und Selbstvergewisserung unausweichlich. Wer jede essentiell gegründete, traditionell in einem »wahren« und »göttlichen« Selbst 43 verankerte Deontologie verabschiedet, um Klugheit und Moral wirkliche gemeinsame Sache machen zu lassen, darf die praktische Orientierung des Selbst nicht länger als die Alternative von Privat-oder-öffentlich bestimmen. Da jedoch Rorty Klugheit einmal mehr privatisiert, die Moral jedoch der Gesellschaft zuschlägt, muß er beides für »alternative Anpassungsformen« 44 erklären. Zur Gewinnung und Bewährung von Lebensbefähigung gehört Anpassung – das wäre die dem Entwicklungspsychologen geläufige Vorstellung des zu erstrebenden Gleichgewichts von Akkomodation und Assimilation. Doch jetzt geht es um private oder gesellschaftliche Akkomodation, und dabei vorrangig um die private: Der Kluge erschafft sich selbst, und dazu gehört grundlegend, daß er sich sich selbst anpaßt – keinem Wesen seiner selbst, sondern der Kontingenz seiner selbst. Daß – alternativ – auch soziale Anpassung statthat, entspricht allein dem selbstischen Interesse des klugen Selbst an Abwehr von Grausamkeit. 45 Der (neo)liberalistische Staat ist in erster Linie ein Polizeistaat (Rortys realer Staat hat im Vergleich zu Europa proportional sechsmal mehr Staatsbürger in seinen Gefängnissen: im Jahre 2001 mehr als zwei Millionen), und sei es als Weltpolizeistaat. Ein politischer Gestaltungswille ist nicht vorgesehen. Die wichtigste Funktion eines konkreten Sozialverbandes von Liberalen ist es, das einzelne Mitglied nach Möglichkeit vor allen leidhaften Erfahrungen durch Andere zu bewahren. Sonst aber soll bzw. will der Einzelne ganz sich selbst überlassen sein: seinen idiosynkratischen Wunschträumen 46. Das liberalistisch konzipierte Selbst eignet allein sich Rorty: KIS, S. 121. Siehe jetzt Werner Beierwaltes: Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt am Main 2001. 44 Rorty: KIS, S. 68; S. 121. 45 Rorty wendet sich im übrigen gar nicht gegen jede Art von Grausamkeit, wenn doch der von ihm geschätzte Joseph Schumpeter (KIS, S. 87 f.; S. 93; S. 111) für einen ökonomischen Darwinismus, ja Rassismus wirbt, der deutlich grausame Züge trägt. Dazu Rainer Marten: Menschliche Wahrheit, S. 148 Anm. 4; S. 218. 46 Rorty: KIS, S. 98. 42 43
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Klugheit zum Guten
selbst, sofern es sich nur für sich selbst engagiert. So gedeutet, entwirft sich das sich anpassende opportunistische Selbst rein auf den Zufall seiner selbst: Es erkennt und bejaht seine Kontingenz. Sich auf diese Weise sich selbst anzupassen aber bedeutet Selbstinstrumentalisierung. Das Selbst geht gänzlich in dem kontinuierlichen Prozeß des Sich-sich-selbst-Anpassens auf: Anpassung ist initialer und finaler Lebensvollzug. Der Zweck des Lebens ist seine Vermittlung. Opportunismus wird zum eigentlichen Beruf, ja zur Berufung. Während sich Rorty darauf kapriziert, daß das Selbst keine ontologische, sondern eine praktische Größe ist (was ich auch sage, aber anders verstehe), übersieht er, daß und wie es von signifikant Anderen miterschaffen und mitgeprägt ist. Was bei ihm als private Selbsterschaffung gemeint ist, funktioniert nicht: Das Selbst ist gerade seiner eigensten Art nach hybrid, 47 das heißt alteritärer Herkunft. Für Rortys neoliberalistisch und fahnenstolz (um nicht zu sagen nationalstolz) agierenden Anpassungskünstler erscheint es passend, als prägende Alterität seine kolonialistische Bestimmung in Erwägung zu ziehen, nach dem heutigen Sprachgebrauch seine (unvermeidliche) Erste-Welt-Attitüde (obgleich noch besser von Americanway-of-life-Attitüde zu sprechen wäre). Diese aber hat er nicht aus sich selbst, nicht durch die bloße Abgrenzung gegen andersartig Andere, sondern dadurch, daß er über sich selbst hinausgeht, um vom Anderen her, von dessen Eigenheit Gebrauch machend, zu sich selbst zu kommen. Anstatt vollends privat zu sein und sich tatsächlich allein auf sich selbst zu entwerfen (private Form des Umgangs mit der eigenen Endlichkeit usw.), ist er miterschaffen und mitgeprägt durch den Blick der Dritten Welt auf die Erste, wie er ein Rückblick des Blicks der Ersten auf die Dritte Welt ist. Anders als Rorty es sieht und will, nistet sich in das Selbst seines Opportunisten schon die Verunsicherung der eigenen Überheblichkeit ein. Dieser Verunsicherung aber kann es nicht entgehen, weil der eigene Blick, den es nicht für sich behalten kann, zu einem bedeutsamen Teil auf seiner Spiegelung im Anderen basiert. Die Identität des vermeinten privaten Selbst Die Verwendung des Begriffs der Hybridität stützt sich hier auf die kulturwissenschaftlichen Untersuchungen von Homi K. Bhabha, wie sie in Die Verordnung der Kultur, Tübingen 2000, vorliegen. Hybridität ist für Bhabha der leitende Vermittlungsbegriff, der sich – formal – gegen binäre Gegenüberstellungen und Vorstellungen ursprünglicher Polarität wendet. Er führt programmatisch dazu, Identität auf ihre Alterität hin zu prüfen: sie also nicht innerhalb ihrer Grenzen, sondern prinzipiell grenzüberschreitend zu erfassen und auf ihr »Translationales« hin zu befragen.
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Klugheit zum Guten
macht notwendig Gebrauch von der in seiner Alterität gegründeten Hybridität des Selbst. Die Alterität, die die praktische Situierung eines Selbst ermöglicht und zugleich hervorbringt, läßt das eine und andere Selbst niemals gleich zwei von sich aus einander fremden Selbstidentitäten in Beziehung treten. Der je Eine ist jeweils schon Teil des Anderen. Zum Selbstsein gehören Grenzüberschreitung und eine durch Teilhabe an Andersheit konstituierte Identität. Rorty macht die lebensbefähigende Ironie an dem der Zufälligkeit und Relativität seiner Überzeugungen vergewisserten zivilisierten (!) Menschen fest. 48 Er hätte sie besser an der Hybridität des Selbst festgemacht, ganz gleich, ob kulturelles, politisches, ethnisches oder geschlechtliches Selbst im Blick steht. Für das Selbst nämlich ist es von eigenstem Interesse, die Alterität in sich selbst wahrzunehmen, sie anzunehmen, und so zu erfahren, daß gerade in der ironischen Distanz zu sich selbst 49 bereits der Ernst des Anderen präsent ist: im Falle von Rortys »Zivilisiertem« der von Joseph Schumpeter entlehnte »Barbar«. 50 Das ist bedeutsam für das Konzept der Klugheit. In der Hybridität des Selbst, soweit ausgeführt, zeigt sich nun schon deutlicher an, daß niemand rein für sich klug sein kann. Wer überhaupt klug ist, ist, jedenfalls zum Teil, auch schon durch und für den Anderen klug. Das aber besagt für Rortys Konzept eines sich sich selbst anpassenden und sich selbst instrumentalisierenden Opportunisten, daß es kein mögliches Konzept eines klugen Selbst ist.
3.
Gemeinsame Klugheit
Private Klugheit, wie sie zu klug ist, um human zu sein, ist nicht allein auf ihre mangelnde Nachhaltigkeit hin gesehen unkluge Klugheit, weil Klugheit zum Schlechten, sondern sie ist das von ihrem Ansatz: vom selbstisch verwalteten Selbst her, das sich nicht der gelingenden Wechselseitigkeit von Selbsten verdanken kann und will. Rorty: KIS, S. 87; S. 111; S. 121. Das hybride Handlungssubjekt bei Bhabha (Die Verortung der Kultur) und in seiner Aufnahme durch Salman Rushdie (The Ground Beneath her Feet) gewinnt seine lebenspraktische Kraft maßgeblich durch ironische Selbstdistanz, wie sie seine Selbstspaltung (der Andere im eigenen Selbst) und Selbstdoppelung (das eigene Selbst im Anderen) nahelegen. 50 Rorty: KIS, S. 87. 48 49
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Klugheit zum Guten
Entsprechend ist gemeinsame Klugheit nicht erfolgsdefinit, um sich als Klugheit zum Guten zu erweisen. Dank der in ihr herrschenden Wechselseitigkeit klugen Verhaltens geht sie, ohne dabei allgemeinen, jeweils mental präsenten verbindlichen Regeln folgen zu müssen, wie von selbst klug mit sich um, jetzt aber ganz im Sinne einer Klugheit zum Guten. Was aber die mögliche und nötige Gemeinsamkeit einer Klugheit zum Guten angeht, so reicht sie nie weiter als die eines konkreten endlichen, sich selbst generierenden Ensembles. Behauptete man, das Ensemble sei älter als die Individuen, die es bilden, ließe sich das, wie es scheint, leicht widerlegen. Individuen kommen von da und dort zusammen, um ein Ensemble zu bilden. Wie sollte da zu zweifeln sein, daß sie es sind, die zuvor existieren? Wer jedoch so für Evidenz wirbt, operiert mit einer untauglichen Veranschaulichung: mit der von Substanzen in einem durch Abstraktion steril gemachten Raum. Der »Raum« des Ensembles ist aber je nachdem ein kultureller, politischer, ethnischer, geschlechtlicher. Es ist darum besser vom Selbst als vom Individuum zu reden, da es in seiner Art, Pol des Handelns zu sein, keinen möglichen Anlaß und Anhalt für Abstraktion bietet. Sogleich wird die fragliche Behauptung plausibler: Die Geschlechtsdifferenz zum Beispiel, wie sie in einem dominant geschlechtlichen Ensemble ins Spiel kommt, ist »älter« als die Repräsentanten des Differenten. Das Ensemble, und nur es, ist Ursprungs- und Austragungsort der Differenz, nicht das Differente. In diesem Sinne wird es geradezu zwingend zu sagen, das Ensemble sei »älter« als das eine und andere sich eigenheitlich inszenierende Selbst. Keine Vorgängerschaft in einer die Ereignisse ortenden Zeit ist gemeint, auch keine ontologische bzw. essentielle, wohl aber eine reflexive und hermeneutische: Durch die Selbstvergewisserung des gelingenden Ensembles versteht das Selbst, das praktizierender Part des Ensembles ist, auch sich selbst als gelingend, nicht aber versteht sich – umgekehrt – das Gelingen des Ensembles gleicherweise durch das Gelingen des Selbst. Nicht anders als die Vergewisserung gelingenden Selbstseins vollzieht sich die Vergewisserung gelingenden Klugseins gemeinsam in Wechselseitigkeit. Wie Generierung und Aneignung des Selbst eine Gemeinschaftsleistung sind, so auch der Erwerb der Klugheit. Auch »Schaden« (error), soll er klug zum Guten machen, muß sich wechselseitig bedingen und belangen. Die initiale Klugheit ist Klugheit zu mehreren. Wie sie nur zu mehreren zu erwerben ist, so ist sie auch nur zu mehreren zu prakti150 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Klugheit zum Guten
zieren: zu mehreren nämlich, die einander im Klugsein entsprechen. Damit es überhaupt Kluge und Klugheit gibt, hat sie sich im eigenheitlichen Einander wechselseitig zu bedingen. Jeder Selbsteinsatz gleicher und ungleicher eigenheitlicher Kräfte, der zu einem lebensbefähigenden relativen Ausgleich der Kräfte führt, bedeutet, daß Klugheit aufeinander antwortet und ein Kairos zum Guten, das heißt zum gemeinsamen uti et frui wahrgenommen wird. Der zum Guten Kluge tritt niemals als pragmatischer Solipsist auf, um seine und nur seine Interessen, Wünsche und Träume zu verfolgen. Er kann darum nicht tolerant sein, wenn das heißt, lebenspraktisches Einander-Brauchen gezielt auszuschließen. In jeder Gegenwart in praktischer Absicht ist er Moment eines sich generierenden und differenzierenden Ganzen. Anstatt die Privatklugheit eines sich instrumentalisierenden selbstischen Selbst zu praktizieren, ist er Part der gemeinsam-ganzheitlichen Klugheit eines Ensembles: eines In-simul sich gemeinschaftlich aufführender und einander brauchender eigenheitlicher Kräfte. Praktisch zeigt sich gemeinsame Klugheit als aufeinander Abstimmen sich einander bedingender Selbste eines konkreten endlichen (wenn auch gegebenenfalls global operierenden) Ensembles, potentiell als sedimentierte mitwisserschaftliche Erfahrung lebensteiligen Gelingens. Gemeinsam-ganzheitliche Klugheit vereint verbindlich (»akkordiert«) lebenspraktisches In-simul und manifestiert so das Gewissen gelingenden Lebens. Was in sich wechselseitig bedingender Klugheit geteilt wird, sind mit den Erfahrungen eines gelingenden Miteinander zugleich die einer die signifikante Differenz (zum Beispiel der Kultur, des Geschlechts) übergreifenden Äqualität des Selbst: Der je Eine erfährt sich bezüglich des Anderen partiell als von seiner (des Anderen) Art, das heißt im wörtlichen Sinne als sui generis. Dank seiner Hybridität ist jedes Selbst in sich anders und insoweit grenzüberschreitend gleich mit anderem Selbst. Gehören zur Selbstgenerierung der das Ensemble bildenden Selbste Selbstübereignung sowie Selbstannahme und Selbstvergewisserung je eigener Eigenheit und Andersheit (Hybridität), dann sind Privatheit und Selbstinstrumentalisierung des Selbst ausgeschlossen. Sich selbst anders und in sich über sich selbst hinaus zu sein – das ist die stets neue Herausforderung, das Klugsein gegenüber Anderen auf Klugheit gegenüber sich selbst (und auf Distanz zu sich selbst) zu gründen, das Klugsein gegenüber sich selbst entsprechend auf Klugheit gegenüber Anderen (und auf Gleichheit mit Anderen). 151 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Klugheit zum Guten
Wer nicht versteht, als »Zivilisierter« mit dem »Barbaren«, das meint als Selbst der Ersten Welt mit dem Selbst der Dritten Welt in sich selbst ebenbürtig ins Gespräch zu kommen, entsprechend als Frau mit dem Mann in sich selbst und als Individualist mit dem Sozialisten in sich selbst, ebenso aber auch als Frau mit der Frau im Manne, als Selbst der Ersten Welt mit dem Selbst der Ersten im Selbst der Dritten Welt und als Individualist mit dem Individualisten im Sozialisten, hat keine Chance, Klugheit (sc. gemeinsame Klugheit zum Guten) zu praktizieren. Wer nur instrumentalisierte Klugheit zu kennen meint, muß sich das zweimal sagen lassen: Klugheit miteinander füreinander und für sich selbst gründet nicht nur in gleichen bzw. gemeinsamen Erfahrungen, sondern auch in partieller Gleichartigkeit, wobei derjenige Part in dem Einen und Anderen als gleichartig gefragt ist, der jeweils in einer konkreten praktischen Situation dominiert. Die Hybridität je eines Selbst ist für den Einen und den signifikant Anderen in praxi das erste Einigende, nicht die Einheit des Ortes, der Zeit und der Ereignisse samt der sich daraus ergebenden Gemeinsamkeit der Wahrnehmungen und Erfahrungen. Klugheit ist nicht die Führungskraft, die dem zielgerichteten Handeln immer dann die nötigen Schritte angibt, wenn die Umstände nicht mehr die übliche Moralität der überkommenen Mores (»unsere Praktiken«) 51 zum Zuge kommen lassen. Klugheit trägt vielmehr von ihrem Ersterwerb und ihrer Erstpraxis her der Hybridität des Selbst, die seine Generierung durch das Einander widerspiegelt, Rechnung. Wachheit, wie sie Klugheit auszeichnet, untergräbt jeden einseitigen Anspruch auf Authentizität: Ich bin für Andere ganz von selbst dadurch offen, daß die Trennungslinie der Andersheit, die ein praxisrelevantes Selbstverhältnis allererst ermöglicht, sich als trennende, vereinende und überschrittene bereits durch mich selbst zieht. Wer dennoch auf selbsteigener Authentizität besteht, gibt sich je nachdem als Ego-, Klan- und Fahnenfundamentalist: unfähig und unwillens zur Lebensteilung. Gravierende Beispiele für diese Unfähigkeit und Unwilligkeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind die durch unilaterale politische, ökonomische und kulturelle Bestrebungen belasteten Verhältnisse von Israelis und Palästinensern, von den USA und islamischen Staaten. Hier zeigt sich von keiner der Seiten auch nur ein Vorschein aufeinander antwortender Klugheit, obgleich die in den 51
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Blick zu nehmende Praxis nichts Utopisches ist. Das größte Hindernis, mit der Klugheit zum Guten zu beginnen, liegt nicht in der gegenseitigen Unkenntnis, sondern im Überlegenheitsgefühl und Auserwähltheitswahn zumindest auf einer der beiden Seiten. Die gezielte Verweigerung lebensteiligen Gelingens operiert dabei vornehmlich mit jeder Klugheit zum Guten widersprechenden kulturell-religiösen, ethnischen und politischen Selbsteinschätzungen. Es liegt an der Kontiguität 52 dieser Verhältnisse, das heißt: an dem zeitlichen und auch räumlichen Zusammentreffen von in praxi Unverträglichem, daß sie sich nicht mit der Zeit von selbst bessern. Allein wenn das Bedürfnis herrschte, einander zu brauchen, käme Klugheit in ihrer initialen Form beiderseitig ins Spiel. Klugheit ist nicht erstlich eine Frage zureichender Kenntnisse und richtigen Vernunftgebrauchs, sondern menschlichen Gelingens. Gemeinsam-ganzheitliche Klugheit ist auf einander wechselseitig sich bedingendes Gelingen geeicht, in jedem Falle auf das von geschlechtlich, ethnisch, politisch und kulturell zu lebender und zu praktizierender Alterität. Klugheit zum Guten setzt für jedes Selbst (für das dominant kulturell oder sonstwie geprägte) eine Geschichte gelingender Ensemblebildungen voraus, wie sie auch allein in einem gelingenden Ensemble praktisch wirksam werden kann. Die integrative Kraft der Ensemblepraxis erschöpft sich dabei nicht in einem Mitwissen und Mittun. Zu ihr gehört grundlegend, und dies dank der ursprünglichen Hybridität des Selbst, ein Mitsein (partielle Mitidentität). Soll angesichts herrschender Kontiguität initiale, sich wechselseitig bedingende Klugheit eine Chance haben, dann ist es an den Unverträglichen, ihre gewachsene, so oder so geartete Mitidentität wahrzunehmen, was einem Akt von Selbstüberwindung, keineswegs von Selbstverlust gleichkäme. Der Gebrauch der Klugheit und das heißt die Aktualisierung ihrer Wechselseitigkeit beruht auf dem Verhältnis des Einen und Anderen als einem dialogischen. Läßt Serner den Klugen im Anderen nichts als Verstellung, Verrat und Gefahr wittern, Gracián den Klugen in jedem Anderen den Feind sehen, so entdeckt gemeinsam-ganzheitliche Klugheit, wie Klugheit nach Klugheit fragt und auf Klugheit antwortet, wie Klugheit auf und aus Klugheit folgt. Besinnt sich Bhabha hat Humes Begriff der Kontiguität in diesem Sinne neu besetzt. Siehe Die Tageszeitung vom 10. Oktober 2001, S. 16: Bericht über die Live-Schaltung zur Harvard-Universität, Cambridge Mass., vom Berliner Haus der Kulturen der Welt.
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Klugheit zum Guten
Klugheit im Einen und Anderen als die des Ensembles auf sich selbst, dann ist sie ein Gespräch der Mitwisser des Gelingens mit sich selbst. Das Selbstgespräch, das das hybride, zur Selbstironie bereite Selbst am weitesten zu sich selbst auf Distanz gehen und doch am intensivsten sich auf sich selbst sammeln läßt, ist nicht das des Kenntnisreichen und im Vernunftgebrauch Geübten, sondern das des Klugen. Das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten im Autodialog ist die Art des Klugen, sich in sich seiner Alterität zu vergewissern: seiner eigenen Andersheit und Einanderheit. Der Autodialog des Klugen ist als Autodialog bereits Heterodialog. Das aber bedingt einsichtigerweise, daß auch der Heterodialog als solcher bereits von der Art des Autodialogs ist: Wer mit sich selbst spricht, spricht auch schon mit dem Anderen; wer mit dem Anderen spricht, spricht auch schon mit sich selbst. Sich aus der Unverträglichkeit wechselseitiger Präsenz (Kontiguität) zu lösen, ist somit als Initiation des Dialogs zu verstehen (Dialog der Kulturen, Geschlechter usw.), der gelingendenfalls beides ist: Heteround Autodialog. In kriegerischen Auseinandersetzungen sinkt das Gewicht je eigener Hybridität tendenziell gegen Null. Die Selbstlüge selbsteigener Authentizität nimmt überhand. Wo dagegen einander Fragen gestellt und Antworten gegeben werden, zeigt sich anfängliche gemeinsame Klugheit.
4.
Klugheit zum Guten und universalistische Moral
Selbstische Klugheit handelt nach dem Motto »Sei zu klug, um für lebensteiliges Gelingen zu optieren«, lebensteilige Klugheit nach dem Motto »Sei nicht zu klug, um selbstisch zu sein«. Das selbstbezügliche »Nichts zu sehr«, wie es klug zum Guten ist, heißt seinem Gehalt nach »Nichts ohne den Anderen (selbst und gerade das Eigene nicht)«: In der zum Guten tauglichen Selbstbezüglichkeit der Klugheit bezieht sich kein Kluger selbstisch reflektierend auf sich selbst, sondern antwortet der eine Kluge dem anderen. Klugheit als initiale und lebensteilige ist je die eines Ensembles. Wie aber ein solches als konkretes und endliches praktiziert wird, zeigt es sich signifikant unterschieden von der erdachten universellen moralischen Gemeinschaft. Die Sache mit der Klugheit zum Guten nimmt demnach formal folgenden Weg: (1) »Zu sehr« deutet die Erfahrung des Abweichens vom bewahrten Maß (vom Angemessenen und Richtigen). 154 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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(2) »Nichts zu sehr« formuliert den initialen und allgemeinsten Klugheitsrat, dies aber so, daß es sich nahelegt, ihn für das selbstische Prinzip zu nehmen. (3) Selbst »Nicht zu sehr ›Nichts zu sehr‹« leitet noch selbstisches Handeln und erweist sich als Rat zum Schlechten, wenn es zwar Leben und Erfahrungen respektiert, aber doch für Zwecke der vorzüglich um sich selbst Besorgten instrumentalisiert und privatisiert wird. (4) Kluge Klugheit führt nur dann nicht zu einer Potenzierung des Selbstischen, wenn sich ihre Selbstbezüglichkeit aus der Beziehung kluger Selbste ergibt. Erst wechselseitig praktizierte Klugheit garantiert die Einhaltung des – in diesem Falle sprachlosen – »Nicht zu sehr ›Nichts zu sehr‹« als Praxis der Klugheit zum Guten. Jede eigene Klugheit ist klug zum Guten, wenn sie an der Klugheit des Anderen Halt und Einhalt findet und für das Einander fruchtbar wird. Wer Eigenes dadurch konkret faßbar werden läßt, daß er am Tische Fleisch verteilt, 53 praktiziert den Nomos nur dann im Sinne der Teilung von Tisch und eben Leben klugerweise, wenn das Zuteilen (nemein) die eigene Klugheit eines jeden Tisch- und eben Lebensgenossen spiegelt. Um klug zu sein, das meint klug zu handeln, kann es keiner »Nöthigung des Willens« 54 bedürfen, einer universellen Gemeinschaft der Klugen angehören zu wollen, da es unmöglich eine solche Gemeinschaft gibt. Klugheit, die nicht mit Eigenheiten liiert wäre, gibt es nicht. Denkt man sich dagegen eine universelle moralische Gemeinschaft des Eigenheitslos-Beliebigen, der anzugehören man eigens wählen oder unterlassen kann, 55 dann hat man eine von der Affektbesetztheit und jeweils endlichen Situiertheit des Lebens ausgegrenzte Vernunft im Sinn, nicht aber Klugheit, wie sie in menschlichem Gelingen wirksam ist. Doch nicht einmal die Zulassung der Klugheit zur Moral bringt Philosophen zwingend von der Ansicht Gerhard J. Baudy: »Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches. Eine ethologische Studie über die Tischordnung als Wurzel sozialer Organisation«, in: Burkhard Gladigow / Hans G. Kippenberg (Hg.): Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, München 1983, S. 131–174. 54 Kant: GMS, S. 416 ff. 55 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main 1994, S. 89. Neuerdings wieder Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Bei beiden ist das Konzept des universell nicht-widersprüchlichen Wollens nicht weniger utopisch als bei Kant (GMS, S. 435), nur daß dieser noch davon ausgeht, ein moralisches Reich sei »möglich« und die moralische Anstrengung bestehe darin, den Menschen dafür »tauglich« zu machen. Fast möchte man das für einen Zug von Realismus in Kants insgesamt impraktikabler Moralphilosophie ansehen. 53
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ab, daß es eigentlich die Vernunft sei, der menschliches Handeln überantwortet ist. Das liegt dann daran, daß sie die Zulassung nur unter einer entsprechenden Bedingung erteilen. So wird etwa dem klug Handelnden konzediert, daß sein Handlungsziel nicht von dem des unter einem moralischen Anspruch Handelnden differiert, vorausgesetzt, er versteht sich als vernünftig. 56 Das Schlüsselwort der Argumentation heißt hier »die besten Kräfte, die man hat«. 57 Gemeint sind die Kräfte, durch die ein Individuum sich selbst begreift. Nicht einmal der Plural »Kräfte« kann es spannend machen: Selbstverständlich soll es die Vernunft sein, die für die besten Kräfte eines jeden steht, womit sie auch schon das ist, wodurch und als was ein selbsthaftes Individuum sich selbst begreift. Zwar wird so dem Wort nach, wie zuvor bei Rorty, die Trennung von Klugheit und Moral aufgehoben, dies aber um den Preis, daß mit der Klugheit nun auch die Moral gänzlich an das Individuum delegiert ist. Hatte der kritische Standpunkt Rortys gegen Kant und Habermas dem Selbst als Vernunft keine Chance mehr eingeräumt und die Frage, ob wir in einer moralischen Gesellschaft leben, für unmöglich begreifen lassen, 58 so lebt jetzt im konkret gemeinten Individuum das alte Vernunftwesen wieder auf. Nicht mehr Rortys quirliger Opportunist zeigt sich, sondern aufs neue die abstrakte Edelgestalt und vermeinte graue Eminenz des Vernunftmenschen. Das Konzept eines Individuums mit nicht-hybridem Selbst operiert mit einer realitätsfremden Alterität. Das Individuum ist allein mit dem Kopf bei den Anderen: Es begreift seine Angewiesenheit auf sie; es weiß, daß ohne sie nichts wäre. 59 Der Andere dient so zu nichts mehr, als den eigenen Mangel an Autarkie zu manifestieren, nicht aber die einzige Möglichkeit eines lebenspraktischen uti et frui. Damit ist auch die Chance verspielt, Klugheit sowie »Moral« in der Praxis des Einander zu orten. Vernunft ist nicht aus sich klug. Sie erschließt ein Geflecht von Wenn-dann-Beziehungen, ohne jedoch selbst etwas vorzuschreiben, es sei denn Konsequenz. Wer dennoch glaubt, sie täte es, wenn man sich nur vernünftig verhalte, greift realitätsfremd auf die Gleichsetzung von Selbst und Vernunft zurück. 60 Entgegen dem Ansinnen 56 Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 366. 57 A. a. O., S. 365–367. 58 Rorty: KIS, S. 107. 59 Gerhardt: Selbstbestimmung, S. 385. 60 Siehe a. a. O., S. 366.
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Kants und aller heutigen Moraluniversalisten stellt der kategorische Imperativ den reinen Selbsterhaltungssatz der Vernunft dar: Sie macht sich mit ihm einzig und allein für sich klar, daß sie keinen Selbstwiderspruch übersteht. Der Mensch, der sein Leben unter Menschen verbringt, kann die Vernunft des kategorischen Imperativs unmöglich für eine moralische Instanz nehmen, er wollte denn in der logischen Konsequenz bereits Moral ausmachen. 61 Vernunft, als isoliertes Vermögen vorgestellt, braucht keine Klugheit, kann und will keine gebrauchen, wohl aber braucht Klugheit Vernunft: Der kluge Rat ist seinerseits vernunftberaten, wenn das heißt, daß der Kluge, der Rat gibt, die Schritte, die zum angestrebten Ziel führen, soweit berechenbar, richtig berechnet hat. Der kluge Rat ist vernunftberaten, nicht vernunftbestimmt. Vernunft ist ein Instrument der Klugheit. Konsequenzen kann sich Einer für sich allein überlegen, während er zum Klugsein Andere braucht – angefangen mit dem Anderen in sich. Das niemals abstrakt-universell und vollends gleichartig, sondern jederzeit konkret-endlich und voller Andersartigkeit vorzustellende Ensemble von Klugen ergibt sich gleich dem geteilten Leben von selbst. Die »Entscheidung«, klug zu handeln, ist bereits in der initialen Lebensform wirksam: im sich generierenden und sich praktisch bewährenden Ensemble, das das eine und andere Selbst seine Andersheit entdecken und seine Einanderheit gewinnen läßt. Wer als selbstisch Kluger und Unverträglicher unversehens eine Chance der Klugheit zum Guten wahrnimmt, indem er dialogisch agiert und die gewachsene Mitidentität bejaht, stellt das Von-selbst des Ensembles der Klugen nicht in Frage. Er ist es vielmehr, der sich praktisch auf die Vorgängigkeit und Anfänglichkeit gemeinsamer Klugheit besinnt. Das Selbstische aufgebend, läßt er das zu, was von selbst ist. Wollte man das, was im Dialog der Klugen untereinander und im Dialog des Klugen mit sich selbst abläuft, als »praktischen Diskurs« gegen den »rationalen Diskurs« abheben und für abseits des Kognitiven ansehen, weil man angesichts praktischer Entscheidungen nur
Hannah Arendt möchte Kant (und zuvor Sokrates) Glauben schenken, daß Denkund Moralprinzip »die gleiche allgemeine Regel« darstellten: Sei konsequent und widersprich dir nicht, weder im Denken noch im Handeln! – als wenn die mit selbsthaftem Einssein durchgestandene Konsequenz im Folgern und Wollen entscheidend der Einsicht und ihrer Umsetzung Vorschub leisten könnte, was für die Einen und Anderen in einer konkreten Situation klug und gut ist. Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, München/Zürich 1982, S. 53 f.
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auf Meinungen und Überzeugungen baute, 62 so verstünde man seine eigene Sprache und sein eigenes Tun nicht. Da die Vernunft sich selbst nichts zu sagen hat, sie sagte sich denn ihr eigenes formales Einmaleins auf, kann rationaler Diskurs nur meinen, daß eine konkrete Praxis von Frage, Antwort, Annahme oder Ablehnung der Antwort, wie es unter Sprachkundigen und Nachdenklichen üblich ist, die Logik der Rede und des Denkens nicht zuschanden werden läßt. Der praktische Diskurs, das ist im Einzelfalle die Überlegung, was klugerweise zu tun und zu lassen ist, beruht eo ipso auf Erkenntnissen und Erfahrungen, verfährt eo ipso logisch. Nur herrscht in ihm eben kein Interesse der Vernunft (das es nur schlecht-erdachterweise als Selbsterhaltungsinteresse gibt), sondern das Interesse einer besonderen Andersheit und endlichen Einanderheit, einen Kairos zum Guten (sc. zum Guten des Ensembles) wahrzunehmen. In dieses Interesse ist das Interesse integriert, daß klar gesprochen und klar gedacht (zum Beispiel kalkuliert) wird. Man muß nicht auf Aristoteles zurückgehen, um – gegen Kant – das Verhältnis von Klugheit und Vernunft wieder ins Lot zu bringen, weil jede praktische Situation, in der Menschen mit mehr Lebensweisheit und Verstand als Glück etwas in Bewegung setzen, das eher zum gemeinsamen Guten als zum beiderseitigen Schlechten auszugehen verspricht, ein Zeugnis dafür ist, wie Vernunft im Praktischen unverzichtbare Dienste tut. Im übrigen ist hier die Rede von rationaler Willensbildung (Habermas) 63 irreführend. Vernunft (sc. nicht die erdachte, sondern die allgemein in Gebrauch genommene) kann einen gegebenen Willen in seinem Wollen beraten: kann das, was er im ganzen will, in einzeln zu wollende Schritte transformieren, kann ihn aber nicht bilden und das heißt generieren (Kant spricht vom Gründen und Hervorbringen). 64 Diese Fehleinschatzung hängt mit der irrtümlichen Ansicht zusammen, Vernunft sei der Königsweg zur Erkenntnis des Guten: »Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft […] den Willen bestimmt.« 65 Das jedoch nötigt dazu, den Willen (sc. den »guten«) gänzlich in praktische Vernunft aufgehen zu lassen. 66
Siehe Ronald Beiner: »Hannah Arendt über das Urteilen«, in: Hannah Arendt, Das Urteilen, S. 173 f. 63 Beiner: »Hannah Arendt über das Urteilen«, a. a. O., S. 174. 64 Kant: GMS, S. 396 et passim. 65 Kant: GMS, S. 413. 66 Kant: GMS, S. 412: »so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft«. 62
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5.
Klugheit zum Guten und unilaterale Globalität
Der klügste Einwand gegen unilaterale Globalität und damit gegen die eine Weltmacht, nicht weniger gegen das eine Weltreich, ergibt sich aus der Praxis der Klugheit selbst: Es läßt sich nur zu mehreren, weil nur wechselseitig klug sein. Unilaterale Globalität, wie sie die heute einzig verbliebene Weltmacht übt, 67 ist rein in sich eine Verunmöglichung kluger Praxis. Die Ideologie dieser Globalität ist natürlich klug genug (im Sinne selbstischer Klugheit zum nachhaltig Schlechten), diesen Tatbestand zu verklären. Das geschieht allem zuvor durch die Usurpation der Moral. Wer stark genug ist, global wirksame Macht unilateral durchzusetzen, muß, wenn es um Legitimation geht, darauf bestehen, der allein Gute zu sein. Diese nur konsequente Usurpation schließt notwendig die Privatisierung und Instrumentalisierung und, wie die Dinge stehen, die Profitabilisierung der Moral ein. Der unilateral operierende Neoliberalismus, der nur zum Schein in gleichberechtigte, gleich starke und gleich profitable Märkte aufgespalten ist, beschert der global einzigartigen Macht auch den global einzigartigen Profit. Das muß nicht auf Dauer gutgehen, da niemals auszuschließen ist, daß sich Kairoi der Klugheit zum Guten ergeben bzw. hergestellt werden, die, falls wahrgenommen, von globaler Macht- und Marktbedeutung sind. Der Augenmerk auf das Ende des – einzigen – Imperiums 68 ist das eine, der auf den Neubeginn global Unilaterale Entscheidungen der US-Regierung unter Bush II gegen die jeweils Mitinteressierten betreffen z. B. Raketenabwehr, globale Erwärmung, Internationalen Gerichtshof, Überprüfung biologischer Waffen, umfassendes Abkommen über Atomwaffentestverbot, Verbot von Landminen, Geldwäsche. Siehe Martin Woolacott: »lt is still America against the world, war or no war. Hopes of the growth of a new multilateralism are exaggerated«, in: The Guardian vom 30. November 2001, S. 8. – Rorty nennt die Bekämpfung des Internationalen Gerichtshofs und die Aufkündigung der Kyoto-Protokolle »töricht«, plädiert aber im gleichen Atemzug für unbedingte »westliche« Unilateralität, auch wenn dadurch, wie er zugibt, die Umwelt »vermutlich« nicht zu retten ist: »Unser Ziel sollte es vielmehr (anstatt eines Dialogs der Kulturen, R. M.) sein, den Planeten zu verwestlichen […] Durchsetzung westlicher Werte – und sei es mit militärischen Mitteln«. Siehe »Krieg und Frieden und der Westen: Der Philosoph Richard Rorty steht im Streitraum der Berliner Schaubühne Rede und Antwort«, Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 20. November 2001. 68 Siehe Claus Koch: »Noten und Notizen. Die flache Stimme der europäischen Politik«, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. September 2001, S. 20; ders: »Noten und Notizen. Der Untergang des amerikanischen Imperiums«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. Oktober 2001, S. 18. 67
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Klugheit zum Guten
wirksamer Konkurrenz der andere. Politik, auch und gerade als dominant ökonomische, ist nur dann nachhaltig möglich, wenn ihre Machtverhältnisse von Grund auf bilateral bzw. multilateral sind. Wie Menschen niemals ein »allgemeiner Frieden« des Verstehens beschieden ist, sondern immer ein Bürgerkrieg des Verstehens herrschen wird, 69 und zwar um des Verstehens willen, so wird es auch immer neu politische Konkurrenz geben, und zwar um der politischen Bedürfnisse des Menschen willen. 70 Unilaterale Globalität ist eine Fehlform von Politik, Kultur und Moral, weil Fehlform von Identität. Die staatliche, wirtschaftliche, kulturelle und ideologische Identität der einzigen, unilateral agierenden Weltmacht verklärt sich selbst, indem sie sich für schlechthin verallgemeinerungsfähig ausgibt. In Wirklichkeit ist die für alle in Aussicht gestellte »beste« Lebensform nur sehr wenigen zugänglich, und diesen wenigen auch nur dann, wenn sie mit äußerster Vitalität auf privatisierte und instrumentalisierte Klugheit setzen. Die weltweit ausgelobte Identität, die – bewußt oder unbewußt – auf den lebenspraktischen Ausschluß jeder Alterität zielt, ist auch darum ein aussichtsloses, wenn nicht selbstzerstörerisches Unterfangen, da es die Alterität in der Identität selbst übersieht. Sagt Aristoteles, der Mensch sei von Natur aus politisch, dann heißt das auch schon, neu gedeutet, daß er von Natur aus multilateral ist: Als politisches und sprachliches Wesen um seine Selbstherstellung und Selbstbestimmung besorgt, braucht er die Konkurrenz, 71 Rainer Marten: »Zum Problem einer koine eirene des Verstehens«, in: ders.: Existieren, Wahrsein und Verstehen, Berlin 1972, S. 351 ff. 70 Thesen, daß die Kultur auf dem Globus irreversibel unilateral geworden und selbst unter der Etikette »Islam« nurmehr die europäisch-zivilisatorische des global wirksamen und allgemein gewollten Neoliberalismus sei (Martin Burckhardt: »Wie war der Himmel so blau. Das Schisma von Wert und Würde und die Ökonomie des Schreckens«, in: Lettre Heft 55, IV/2001, S. 17–22), beschreiben zwar bis zu einem gewissen Grad und Umfang erfahrbare Realität, sagen aber nichts über die in diesem »Zustand« angelegten Prozesse aus. Globale Unilateralität der Kultur hat keine Chance, nachhaltig zu sein. Das Wiedererstehen der Konkurrenz, und sei es durch Differieren der »einen« Kultur, ist nach Kenntnis der Geschichte menschlicher Mentalität, Vitalität und Kreativität unvermeidlich. Die Hybridität der »einen« europäischen Kultur, z. B. ihr zugleich aufklärerisches und romantisches Erbe, gibt einer makellosen und sicheren Einheit keine Chance. 71 Die Thematisierung von Ganzheit und Symbiose einerseits und von Konkurrenz andererseits, wie sie die biologischen Ansätze von Karl Ernst von Baer (1792–1876) und Charles Darwin (1809–1882) unterscheidet, findet im philosophischen Konzept geteilten Lebens keine Entsprechung: Konkurrenz unter den Partnern eines Ensem69
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Klugheit zum Guten
braucht er Macht und Gegenmacht, braucht er den Bürgerkrieg des Verstehens: braucht er Klugheit – sc. kluge, sich wechselseitig bedingende Klugheit zum Guten.
bles ist für sein Gelingen von vitaler Bedeutung. Sie allein läßt die eigenheitlichen Kräfte sich miteinander messen und, wie für das In-simul nötig, zum – relativen – Ausgleich bringen. Geteilte Klugheit hebt nicht die Agonalität des Lebens auf. – An eine Konkurrenz unter Ensembles ist im übrigen nicht zu denken, da die Tatsache der Konkurrenz bereits für ein In-simul der Konkurrierenden spricht. Zu bedenken ist jedoch die allgemeine Praxis, daß in sich Konkurrierendes mit anderem in sich Konkurrierendem (»eine« Kultur mit »einer« anderen, »eine« Firma mit »einer« anderen) in Konkurrenz tritt.
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Rühren an die Rhythmizität des Lebens Ein denkkünstlerischer Versuch über den Schlaf
I Hat einer nicht Angst vor dem Totsein, so hat er zumal keine Angst davor, nicht zu wachen, sondern zu schlafen. Wer ruhig schläft, tief schläft, eben wirklich schläft, kann zwar ganz nah am Wachen (Aufwachen) sein, und ist doch durch etwas davon geschieden, das der Wachende nicht kennt. Sich daran zu erinnern, geschlafen zu haben – das ist unabweislich möglich, auch wenn einer nicht jedes Mal sicher weiß, ob er gerade geschlafen hat oder nicht. 1 Ganz unmöglich ist es jedoch, das Schlafen zu erinnern, das Nichtwachsein. Nun ist freilich der Schlaf von Träumen durchwirkt. Träume sind erinnerbar, sind wissbar. Sie sind der einzige indirekte Zugang des Wachenden zum eigenen Schlaf. Wer einen Traum erinnert, weiß, dass er zur Traumzeit geschlafen hat. Oder dürfen wir etwa nur sagen: er weiß, dass er geträumt hat? Nein, wer träumt, schläft während des Träumens. Selbst wenn er vom Schlafen träumen sollte, könnte er, genau besehen, nur träumen, dass er träumte, nicht aber träumen, traumlos zu schlafen. Auch der geträumte Traum reicht nicht zurück in das Schlafen, gründet kein Wissen, kein wissendes Selbsterleben des Schlafens. So etwas gibt es nicht. Ein Albtraum etwa, da er der Traumphase zugehört, kann erinnert werden, ein Pavor nocturnus dagegen, da er dem Tiefschlaf zugehört, nicht. Wer aus dem Schlaf zurückkommt ins Wachsein, ist für gewöhnlich gestärkt. Er fühlt sich gegebenenfalls ausgeschlafen: wach und unternehmungslustig. Der Wachende erfährt so, dass der Schlaf ihm etwas vermacht. Und er schläft ja auch nicht nach Belieben ein, Von dieser praktisch-situativen ist die generelle Frage unterschieden, ob es überhaupt sichere Merkmale für die Unterscheidung des Wach- und Schlafzustandes gibt. Platon, Theaitetos 158c: »es ist ausweglos, welches Kennzeichen (tekmêrion) nötig ist, um aufzuzeigen, ob wir schlafen oder wachen«. Descartes, Meditationen über die Erste Philosophie I: »dass nie durch sichere Merkmale (certis indiciis) der Schlaf vom Wachen unterschieden werden kann«.
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Rühren an die Rhythmizität des Lebens
sondern sucht eigens seinen Schlaf, regelt ihn: die Schlafzeiten und die Schlaforte – die Umstände seines Kairos. Der Wachende weiß, dass er beizeiten den Schlaf braucht. Der Schlafende dagegen weiß nichts davon, dass er beizeiten das Wachsein braucht. Zwar kann ein gekonnter Einschläfer in sich das Interesse am Aufwachen programmieren. Es ist dann nicht die Natur mit ihrer Zeituhr, die rein von sich aus zu dem Moment führt, da das Bewusstsein von neuem zu herrschen beginnt. Der Entschluss, früh aufwachen zu wollen, kann in den Schlaf eingebracht werden. Im Innersten des Schlafenden, so lässt sich das bildhaft vorstellen, bleibt ein Funke am Glimmen, dem ein Zeitmaß einwohnt, das zur rechten Zeit den Anstoß zum Wiederlicht-Werden des Bewusstseins gibt. Wer andere beobachtet, die schlafen, sei es bei Tag mit natürlichem oder des Nachts mit künstlichem Licht, wird, zumal wenn der Andere einer ist, mit dem er ›schläft‹, nicht behaupten, er hätte dabei jemals etwas in den Gesichtern gesehen, wie es bei Leichnamen aufscheint: die Macht des Endgültigen, die Majestät des Todes. Selbst wenn ein Gesicht sich ruhig zeigt, nicht zuckt, nicht sichtbar der Atem geht, wird man nicht selten von einer Bewegtheit, vielleicht sogar von einer Regression ins Selig-Kindliche, nicht Animalische, sprechen wollen. Je jünger das Gesicht und farbfrischer sein Oberflächenglanz aussieht, umso mehr lebt der Schlafende. Allem zuvor zeigt sich, auch bei Älteren und Alten, ein Mienenspiel, eine Gestik der Seele, die das Antlitz eines Leichnams nicht kennt. Wacht er auf, so wechselt er vom Schlaf-Leben ins Wach-Leben. Ruht jedes Wahrnehmen und Denken, hat auch kein Träumen statt, ist der Schlafende ganz im Schlaf, sollen wir dann von ihm halten, er vegetiere nur mehr, so dass sich der gesunde und tiefe Schlaf als eine Regression ins Animalische verstünde? Aristoteles denkt in diese Richtung, wenn er vom Schlafenden zwar gelten lässt, dass er lebt, dies allerdings nicht im wahren und eigentlichen Sinne von Leben. 2 Wirklich zu leben heißt für ihn wahrzunehmen und zu denken. Nicht wenig spricht dafür, es so zu sehen. Der Schlafende ist nicht handlungsfähig, er kann für das, was er gegebenenfalls tut (wenn er zum Beispiel mit ersichtlichen Folgen den Arm bewegt), nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ist für Aristoteles der Schlafende nur ein möglicher lebendiger Mensch, weil einer, der aufwachen kann, 2 Protreptikos, in: Aristoteles, Fragmenta selecta, gr., (ed. W. D. Ross) Oxford 1955, Fragment 14, 49 f.
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Rühren an die Rhythmizität des Lebens
nicht aber ein wirklich lebendiger, dann hält er es mit dem Schlafenden wie mit dem Samen: Der menschliche Same ist möglicher Mensch. 3 Der Schlafende, der nicht eigentlich lebt, ist demnach nicht eigentlich Mensch, nicht einmal eigentlich Mann oder Frau. Er hat ja keine Chance, irgendwelche Eigenheiten selbsthaft zu vertreten. Gibt es keine Selbstvergewisserung des Schlafenden, keine Erfahrung des Im-Schlaf-begriffen-Seins und keine bewusste Steuerung des Schlafes, dann scheint kein Anlass zu bestehen, den Schlafenden menschlich für voll zu nehmen. Vergeblich versucht der Held von Prousts Recherche, sich wachen Bewusstseins zu sagen »Je m’endors«. 4 Nein, der Eintritt des Schlafes ist kein Moment der Wachheit. Den Schlaf, den der Mensch braucht, findet er, wenn die Umstände des Lebens für das Leben förderlich sind, ganz von selbst. Nun scheint aber die Gegenwart, wie sie der zivilisatorische Fortschritt gestaltet, vom Schlaf nicht viel zu halten, um so auf ganz eigene Weise der philosophischen Ansicht zuzuarbeiten, die im Schlaf kein eigentliches Leben sieht. Lärm hat schon immer den Schlaf des Menschen gestört, zum Beispiel der Lärm, den die Kutschen mit ihren Rädern auf dem groben Pflaster der Gassen machten. In der Gegenwart jedoch ist die Überreizung menschlicher Sensorien geradezu systematisch organisiert. Im Verbund mit psychischer Überbelastung führen so die Umstände modernen Lebens beim Einzelnen vielfach dazu, ihn keine hinlängliche Befriedigung seines Schlafbedürfnisses finden zu lassen. An ein geregeltes Von-selbst des Schlafes ist dann nicht mehr zu denken. Das sieht ganz nach einer Verschwörung gegen den Schlaf aus: Die vom Fortschritt geprägten Verhältnisse nehmen wenig, ja zu wenig Rücksicht auf das Schlafbedürfnis des Menschen. Philosophie wieder, wie sie in der für die Verständigung des Menschen über sich selbst Maßstab setzenden Tradition den vernunfttätigen Menschen favorisiert, sieht im Schlaf nichts, was für das ›Wesen‹ des Menschen bedeutsam wäre. Der Schlafende schließlich lässt uns nichts davon wissen, wie er es mit dem Schlaf hält, falls ihm denn überhaupt ohne Bewusstheit ein Verhältnis zu sich selbst möglich ist. Das alles scheint keine gute Ausgangslage zu sein, um philosophisch etwas über den Schlaf auszumachen, das den Schlafenden dabei entdecken ließe, im Schlaf eine eigene, womöglich sogar wesentliche Möglichkeit wahr3 4
Metaphysik Θ 7, 1049a2; vgl. De anima B 1, 412b27. Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. 1, Paris 1987, 3.
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Rühren an die Rhythmizität des Lebens
zunehmen. Nun können die Bedrohungen des Schlafes, wie sie lebenspraktisch allgegenwärtig sind, im Interesse der durchzuführenden Reflexion ohne Bedenken beiseite geschoben werden. Wer dem auf der Spur ist, was der Schlaf dem Menschen sein kann und ist, und dies auf nichts als nachdenkliche Art, ist nicht gezwungen, sich von umstandsbedingten Verunmöglichungen des Schlafes aufhalten zu lassen. Selbst der Anspruch philosophischer Tradition, den menschlichen Schlaf zwar als notwendig, aber als unwesentlich zu erkennen, lässt sich ohne lange Diskussion für unverbindlich erklären, indem die Präferenz der Vernunfttätigkeit für die Deutung menschlichen Lebens als eine petitio principii aufgedeckt und damit außer Kraft gesetzt wird. An seine Grenze scheint dagegen das eigene Vorhaben bereits in seinem Beginn dadurch zu stoßen, dass vom Schlaf ›selbst‹ nichts zu wissen ist, es sei denn, wir sähen für unser philosophisches Deutungsbedürfnis eine Möglichkeit der Befriedigung, wenn wir uns an das hielten, was wir seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts durch medizinische Versuche über REM-Phasen und heute durch die Hirnforschung über den Schlaf wissen.
II Philosophie wird immer an Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung interessiert sein, sofern diese den Erfahrungshorizont erweitern und sichern, von dem ihre Nachdenklichkeiten ausgehen und auf den sie zurückkommen. Selber teilnehmen wird sie an diesen Forschungen nicht. Fragt sie sich, wie sie in Anbetracht des Schlafes vorgehen will, so können für sie Natur- und Humanwissenschaften überhaupt keine Alternative darstellen. Nun hat Philosophie sich seit alters immer wieder darin versucht, nicht etwas beliebig auszudenken, wohl aber frei zu erdenken. Verstellt sie sich ihr Erdenken nicht dadurch, dass sie hinzuerdenkt, es sei keines, dann ist sie sich im Klaren, im nachdenkenden Denken die Grenzen des auf empirischer Basis Erkennbaren und Wissbaren zu überschreiten. Das, wohin keines Menschen Erfahrung reicht, so eminent etwa gerade das Erkenntnisinteresse an Essentiellem und Idealtypischem, überhaupt an Utopischem und Ewigem im Allgemeinen und Einzelnen sein mag, bewährt sich seit alters als Spielstätte des Erdichtens und Erdenkens. Ist zu vermuten, dass der Schlaf für den Menschen weit mehr bedeutet, als die Wissenschaft zu wissen bekommt, dann 166 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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ist das für die Philosophie ein Signal, sich des Schlafes denkkünstlerisch anzunehmen. Nur so kann sie den Versuch unternehmen, den Schlaf des Menschen als ein Geheimnis seiner selbst so weit offen zu legen, dass er sich darin auf ganz neue Weise selbst erkennt. 5 Der Schlaf bleibt dann zwar einer Selbstvergewisserung des Schlafenden, die ihren Maßstab an Möglichkeiten der Bewusstheit nähme, unzugänglich, dies aber eben so, dass diese Unzugänglichkeit mit Bedacht übersprungen wird. Das Erdenken, das dem Menschen etwas eröffnet, worin er sich selbst findet, liefert keinen Ersatz, keine bloße Entschädigung für irgendwelches Wissen, sondern überholt das Wissbare durch den Ebenenwechsel des Verstehens. Unmögliches wird dadurch möglich, dies freilich um den Preis, dass Denkkunst ernst genommen wird, und zwar als Kunst, als Poesie. Dornröschen schläft. Die Heiligen Drei Könige in Autun, von Giselbertus in Stein gehauen, schlafen. Die von Goya visionär gestaltete träumende Vernunft schläft. Nein, die poetische Zuwendung zum Schlaf, wie sie dem Philosophen möglich ist, will und kann weder Märchen noch Mythen erinnern oder verfassen, will und kann auch nicht mit bildender Kunst konkurrieren, um den Menschen nach Möglichkeit die Bedeutsamkeit seines Schlafens zu erschließen. Übt Philosophie sich in Äquidistanz zu Geistes- und Naturwissenschaften (Mittelstraß), dann hält sie in ihrem Erdenken entsprechend Distanz zu den Künsten des Wortes und der Sinne (bildende Kunst und Musik). Heraklit war der erste philosophische Schlafdichter: Der Mensch berührt in der guten Zeit der Nacht ein Licht, sobald sein Augenlicht erloschen ist. Lebt er, so berührt er im Schlaf den Toten, wacht er, so berührt er den Schlafenden. 6
Das poetische Hauptwort ist hier »berühren«. Man stelle sich nur die Berührungsreihe vor: Wachen – Schlafen – Totsein. Zweimal tritt das Berühren auf, ganz so als ließe sich dies Bild gleichartig für eine intime Nähe von Wachendem und Schlafendem und für eine solche von Schlafendem und Totem gebrauchen. Doch bereits bei der Hinführung zu diesem Bild spricht Heraklit vom Berühren:
Selbsterkenntnisse sind insofern nicht wissenschaftlicher Art, als in ihnen das Vermögen der Selbstbestimmung eine maßgebliche Rolle spielt. 6 Heraklit, Fragment B 26 (Fragmente der Vorsokratiker, gr./dt., ed./trad. Hermann Diels/Walther Kranz, Bd. 1, Berlin 1951), eigene Übersetzung. 5
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Der Mensch berührt in der Nacht ein Licht: Er fasst, das heißt zündet eines an.
Nacht ist hier euphemistisch mit »freundliche Zeit« (euphronê) angesprochen. Sobald das Augenlicht erloschen ist, ohne dass das Lebenslicht erloschen wäre, macht der soeben Schlafende auch schon eine neue Erfahrung: Er zündet sich – im Berühren – ein Licht an (phaos, das Wort für Tageslicht). Das ist reine Denkkunst: Der Mensch schläft, indem es für ihn licht wird, und dies notwendig dank eines ganz anderen Lichts. Die Kette ist damit um noch ein Glied reicher und nun vollzählig geworden: Der Wachende rührt an den Schlafenden. Der Schlafende rührt an ein Licht. Der Schlafende, der lebt, rührt im Licht des Schlafes an den Toten. Fast ist man geneigt, in dieser erdachten Verkettung noch weiter zu gehen: Der Tote rührt an ein Licht, zündet sich ein Licht an, das gegenüber dem wundersamen Licht des Schlafenden ein ungleich wundersameres wäre. Doch Heraklits Erdenken nimmt einen anderen Weg: Den Wachenden ist Welt die eine und gemeinsame. Von den Schlafenden aber wendet sich jeder (von der gemeinsamen) ab in eine eigene. 7
Das Bild ist eingängig: Meint die Schlafwelt die Traumwelt, 8 dann verbindet sich diese eigene Welt mit keiner anderen eines Schlafenden und Träumenden. Für Heraklit ist es die des Irrationalen: Das Denken brauche die allen gemeinsame Welt; 9 die bloß eigene sei der Wahrheit nicht fähig. 10 Halten wir uns jedoch an die Reihung Wachen – Schlafen – Totsein, wie sie im Bild des Umschlagens vorgestellt wird – eins schlägt ins andere um (Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes) 11 –, so ist Schlafen nicht notwendig mit Träumen gleichzusetzen. Wir könnten nunmehr dem Schlaf einen eigenen Lebensbereich zuerdacht sehen, den der Einzelne ganz für sich allein absteckt, da er sich eben nicht als Selbst aufgibt. Traumlos hätte er ein unbewusstes Für-sich-Sein. Wer einen Schlafenden mit wachen Augen beobachtet, sieht ihn in der einen und gemeinsamen Welt der Wachenden. Zwar kann er sich fragen, wo er jetzt wohl ist,
Heraklit, Fragment B 89, ebd., eigene Übersetzung. Das so zu verstehen liegt nahe, da Heraklit davon spricht, dass wir im Schlaf zu reden und zu handeln glauben; vgl. Fragment B 73, ebd. 9 Heraklit, Fragment B 112, 113, 114, ebd. 10 Heraklit, Fragment B 129, ebd. 11 Heraklit, Fragment B 88; vgl. Fragment B 21, ebd. 7 8
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wenn er ihm entrückt erscheint, anfänglich vergleichbar der Fremdheit eines Toten. Dennoch entdeckt er eben gerade nichts, das dem Schlafenden als Eigenes zuzusprechen wäre. Wie aber in der Dichtung seit dem Gilgameschepos Tote um ihr Totsein wissen, so könnte Philosophie sich fragen, ob nicht der Schlafende um seine Eigenwelt als Schlafender weiß.
III Heraklit hat für die Deutung des Schlafenden das Totsein ins Spiel gebracht. Die thematische Vorgabe für diesen Versuch geht aber noch weiter. Sie lautet »Liebe, Schlaf und Tod«. Bei Heraklit findet sich im Gedanken des Schlafes keine Nachbarschaft zu dem der Liebe. Wird nun von mir erwartet, einen philosophischen Weg zur thematischen Trias zu finden, dann stellt sich für die Denkkunst eine ganz neue Aufgabe. Wie aber soll ein Erdenken mit ihr beginnen? Was nämlich hält es von purer Willkür ab und bringt es dazu, seine künstlerische Freiheit von der ›Sache selbst‹ in die Pflicht nehmen zu lassen, um mit dem, was es schließlich bei- und hervorzubringen weiß, auch wirklich zu überzeugen? Ist das maßgebliche Kriterium für philosophische Sachlichkeit die fruchtbare Bemühung um die Bestimmung des Humanum, dann muss sich der denkkünstlerische Versuch über den Schlaf, der zugleich ein entsprechender Versuch über Liebe und Tod ist, an diesem Kriterium messen lassen. Philosophen sind keine gelernten Dichter. Erdenken sie etwas, so versuchen sie sich an einem Sachbezug, der sich in Anbetracht von Erfahrungen, Tatsachen und geläufigen Wahrheitsbedingungen von Aussagen gezielt Freiheiten herausnimmt. Es muss nicht die altehrwürdige diretissima zu einem ›Ursprung‹ und ›Wesen‹ des Schlafes sein, was sie die Grenzen alltäglichen Verstehens und wissenschaftlichen Erkennens überschreiten lässt. Im gegebenen Fall könnte zunächst die Tendenz ausreichen, das Schlafen dem Wachen als menschliche Möglichkeit gleichzustellen. In der Bereitschaft eines Menschen, schlafen zu gehen und einzuschlafen, manifestieren sich auf ganz besondere und dabei höchst unspektakuläre Weise Lebensvertrauen und Lebensbejahung. Der Einschlafbereite ist willens und fähig, dem Rhythmus des Lebens zu folgen. Dieser ist nicht strikt an den Rhythmus des Tag- und Nachtwechsels gebunden, aber doch in der Regel von ihm geprägt. Gibt es bei Tieren den Nacht- und Winter169 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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schlaf, aber auch den Schlaf, der sich allein nach der Zeitlänge bemisst, ein Schlaf, wie er etwa für Mäuse pro Tag gute zwanzig Stunden erfordern kann, für Giraffen dagegen keine zwei, 12 so herrscht bei Menschen deutlich der Nachtschlaf vor. Maßgeblich bleibt freilich auch dabei der Rhythmus des Lebens: Wachen und Schlafen, Schlafen und Wachen. Dass im Alten Testament bei der Aufzählung dessen, was in der großen Ordnung der Zeit (chronos) jeweils im Wechsel seine Zeit (kairos) hat, 13 der Wechsel von Wachen und Schlaf fehlt, könnte bedeuten, dass Wachen und Schlafen nicht immer als ›Ding‹ (pragma) verstanden werden, das eigens zu tun und zu lassen ist. Man stellte dann beides als eine Art von Selbsttätigkeit vor. Wird aber die Basistätigkeit des Wachens von Philosophen als die des Wahrnehmens und Denkens bestimmt, dann lässt sich jetzt daran denken, auch dem Schlaf eine Basistätigkeit zuzusprechen, selbst wenn ›Tätigkeit‹, anders als beim Wachen, zur Metapher werden muss. Natürlich, wer schläft, ›tut‹ etwas: Er schläft. Doch das kann die erfragte Entsprechung nicht sein. Die bisherigen Überlegungen legen es vielmehr nahe, dem Schlaf übertragenerweise eine ganz eigene Tätigkeit zuzuerkennen: das Vertrauen und das Bejahen. Es sind dann bewusstlose Formen davon zu denken, denen eine gerichtete Orientierung fehlt: nicht Vertrauen in das Leben, nicht Bejahung des Lebens könnten sich äußern, sondern der Schlaf wäre der reine bzw. vollkommene Ausdruck dieses Vertrauens und Bejahens. In ihm hätte beides seine Erfüllung. Zeigen sich bei der Bereitschaft zum Schlafen Lebensvertrauen und Lebensbejahung, dann ist noch zu präzisieren, dass das eine wie das andere der Wiederkehr des wachen Lebens gilt. Beides reicht notwendig über den Schlaf hinaus, um im Schlaf seine Erfüllung zu haben. Erst der Gedanke der Wiederkehr des Lebens in der Form des wachen Lebens kann der Bereitschaft zum Schlafen das Lebensvertrauen und die Lebensbejahung ablesen. Das gibt nun aber auch den Anstoß, die eigene Bedeutung und Möglichkeit des Wachseins neu zu überdenken. Sind mit der Bereitschaft zum Schlafen das Vertrauen in die Wiederkehr des wachen Lebens und die Bejahung dieser Wiederkehr bezeugt, so sind entsprechend mit der Bereitschaft zum Wachen und das heißt zur tätigen Ergreifung des Lebens auch schon das VerSiehe Carl Zimmer, »Finding out what dreams are made of«, in: The New York Times/Süddeutsche Zeitung vom 21. Nov. 2005, 11. 13 Prediger 3,1 ff. 12
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trauen in die eigene Endlichkeit und die Bejahung dieser Endlichkeit verbunden. Die Zeit der wachen Tätigkeit und mit ihr die Zeit des freien und verantwortlichen Lebens im weiten Rahmen der belebenden und lebensschädlichen Ereignisse sind auf ein Ende geeicht, sowohl auf ein tägliches als auch auf ein Ende überhaupt. In provokativer Kürze besagt das: Die Bereitschaft zum Wachsein steht unter dem Signum der Endlichkeit des Lebens, die Bereitschaft zum Schlafen unter dem seiner Wiederkehr. Der Wachende, ist er auf kluge Weise klug, 14 verabschiedet sich zur rechten Zeit von den Herausforderungen und freien Möglichkeiten des Tages in den Schlaf. Zum Schlafen fähig und des Schlafens bedürftig flieht er nicht das wache Leben, missachtet er nicht das nur ihm Vorbehaltene und Aufgegebene, sondern bejaht es vielmehr. Indem er sich schlafen legt, zeigt er sich gewillt, ausgeschlafenerweise ins wache Leben zurückzukehren. Wie er sich selbst zu verstehen scheint, wacht er nicht, um schlafen zu können, sondern schläft er, um wachen zu können. Doch gerade das wäre zu einseitig gesehen. Auch der Wachende ist auf den Wechsel aus: Er braucht das Ermüden, das Enden jedes Mühens und sich Verantwortens, braucht, dass das Schlafbedürfnis sich meldet. Wie es die Endlichkeit des Tages und der Nacht bedingt, dass stets das eine dem anderen folgt, so gibt es Schlafen und Wachen ebenfalls allein im Wechsel. Endlich, wie das eine und das andere ist, bedingen sie einander. Das aber macht sie lebenspraktisch gleich bedeutsam, was für das Schlafen freilich leichter gesagt als gezeigt ist. Für die Zeit des Schlafes ist der Schlafende sich selbst genug: Er schläft, um zu schlafen. Verhält es sich so, dann ist der Schlaf dem Schlafenden nicht eingeräumt (›erlaubt‹) als bloße Erholungspause für einen eigentlich zum Wachsein Bestimmten. Ein jeder hat ein Recht zu schlafen. Indem einer es sich nimmt, hat er nichts anderes zu tun im Sinne, als zu schlafen. Das Recht zu schlafen gehört zum Recht auf Leben, das mit der geglückten Geburt gesetzt ist, auf ein Leben, das sich im Wechsel von Wachen und Schlafen hält. Geglückt ist aber eine Geburt, wenn mit ihr das Geborene in das lebensteilige Miteinander aufgenommen ist. Das eigene Recht auf Schlaf, wie die Gemeinschaft es praktisch anerkennt, spricht dafür, Schlaf für eine eigene, selbsthaft wahrzunehmende Möglichkeit des Lebens zu neh14 Siehe Rainer Marten, Klugheit zum Guten, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Klugheit, Weilerswist 2005, 155–180.
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men. Wer einem anderen den Schlaf raubt, zum Beispiel aus Absicht der Folter, verletzt allein schon ein schlechtweg allgemeines Lebensrecht. Der sich dem Schlaf Hingebende aktualisiert die Vermögen des Vertrauens und Bejahens, die sich auf die Wiederkehr des (wachen) Lebens verstehen. Er weiß, dass er sich anschickt, etwas zu tun, das rechtens ist, und weiß nach dem Schlaf, dass es rechtens war. Ist Schlaf auch etwas Naturnotwendiges, kann er einen überfallen, ohne dass noch eine Chance bestanden hätte sich gegen ihn zu wehren, so hat der Mensch nach Möglichkeit den freien Umgang mit ihm kultiviert. Wer gelingend schläft, weiß vor und nach dem Schlaf von sich selbst, dass er im Schlaf keinen Planungen und Programmen hinterherläuft, keinen Ausständen des Geliebt- und Gebrauchtseins, sondern sieht sich im Schlaf eine eigene Gestalt des Lebens annehmen, die in ihrer Notwendigkeit frei zu ergreifen ist. Wer sein Lebensrecht auf Schlaf zugunsten des geteilten und eigenen Lebens wahrzunehmen vermag, denkt sich seine Schlafenszeit als eine erfüllte. Philosophen bestreiten das. Sobald ihre Option rein die der Vernunft ist, bedeutet ihnen Schlaf nicht mehr als eine Auszeit für den Menschen, der auf dem Weg zu seiner – philosophisch entworfenen – Bestimmung ist. So will etwa der Ontologe des Noch-Nicht, Ernst Bloch, auf dem Wege vom Nichts zum Sein, und das meint auf dem Wege zur Heimat, in der der Mensch noch nie war, denselben ausschließlich als den Wachenden sehen, der für dieses Ziel unentwegt arbeitet und kämpft, ohne dem Schlaf und gar dem Tod seine Stunde zu gönnen. 15 Da sieht der um den Schlaf als eigene Lebensmöglichkeit Wissende in Odysseus weit eher einen Gefährten, ist dieser doch auf eine ganz andere Weise in seine Heimat unterwegs: Der Weg zu ihr ist nicht nur ein Weg zurück, sondern auch ein Weg ganz im Schlaf. Dieser erdichtete Schlaf könnte für den zu erdenkenden Schlaf heuristisch genutzt werden. Was nämlich Odysseus da ergreift, ist ein »nicht aufweckbarer, lustvollster, dem Tode nächster« Schlaf. 16 Die wundersame Übertreibung, dass er nicht aufweckbar (nêgretos) ist, ergibt den belebenden Widerspruch von »lustvollster« und »dem Tode nächster« Schlaf. Taugte er dazu, den tiefen Schlaf zu deuten, dann müsste auch die Auslegung, dass der Schlafende für die erfüllte Zeit
Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen I. Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, Frankfurt a. M. 1961; ders., Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1971. 16 Odyssee 13,75 ff. 15
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des Schlafes sich selbst genug ist, nicht weiter befremden, im Gegenteil. Sofern der Schlafende für die Zeit des Schlafes kein anderes Bedürfnis hat und befriedigt als das des Schlafes, ist er gut als derjenige anzusehen, der sich in reiner Selbstgenügsamkeit übt. Der Tag des Wachens zeigt sich gelingendenfalls als die Zeit der multilateralen Autarkie: Nur eine aufeinander abgestimmte Mehrzahl vermag mit Erfolg für das zu sorgen, was für den Einzelnen innerhalb eines endlichen Ganzen von Partnern für das Leben nötig ist. Die Nacht des Schlafes dagegen zeigt sich als die Zeit der unilateralen Autarkie. Muss der Wachende lebensteilig tätig sein, um mit anderen in wechselnden Ensembles sein lebensnötiges Genügen zu erwirtschaften, so gleicht das Selbstgenügen des Schlafenden einem Geschenk: Er ist rein bei sich selbst, muss für das Selbstgenügen keine Tätigkeiten entfalten, braucht dazu keinen anderen. Ließe sich dem Schlafenden ein lebendiges Vertrauen und Bejahen zudenken, dann müsste es das unmittelbare Selbstvertrauen und Sich-selbst-Bejahen sein. Der Versuch gegenüber der Allbedeutsamkeit der Wachzeit für das Leben die eigene Bedeutung der Schlafzeit zu betonen, läuft Gefahr, den Schlaf in seiner Zeitlichkeit zu verselbstständigen. Die Zeit des Schlafes ist aber als Zeit überhaupt nicht ohne die Zeit des Wachens zu verstehen. Formulieren wir, als wäre es eine weitere Variante im Sinne von Prediger 3, dass der Schlaf seine Zeit hat, dann verstehen wir Zeit als Kairos: Der Schlaf hat sein Zeitmaß, und er hat es als eine Gunst der Zeit. Der Schlaf nämlich verdankt das Maß seiner Zeit dem Rhythmus des Lebens. Die Zeit des Lebens ist durch und durch rhythmisch. Insofern ist die Ansicht am Ende doch irreführend, der Schlafende versinke in der Zeit des Tiefschlafes in unilaterale Autarkie. Bleibt im Schlaf das Vertrauen in das Wiedererwachen und die Bejahung des Wiedererwachens auf unbewusste Weise wach, dann ›rührt‹, um Heraklits Wort zu verwenden, der Mensch im Schlaf an die Rhythmizität der Lebenszeit. Wer sich zum Schlafen legt, weiß eher darum, dass er sich der Rhythmik des Lebens übereignet, als derjenige, der wach in den Tag geht. Als Odysseus sich am Heck des Schiffes, wo sein Bett bereitet war, zum Schlafen niederlegte, hatte sich seine Schlafbereitschaft bereits mit dem Wissen verbunden, sich schlafend der Heimat zu nähern. Bleibt unilaterale Autarkie zwar notwendig ein Aspekt des philosophisch zu erhellenden Tiefschlafes, so bricht doch in diesem der Schlafende keineswegs das Verhältnis zu den Erwartungen neuen Wachseins ab. Erdenken wir dem schlafenden Odysseus eine praktische und unbewusste Gewissheit 173 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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zu, dann ist es die, zu einem Wachsein unterwegs zu sein, das das eigene Land und die eigene Frau endlich wieder vor Augen bringt. 17 Herrscht bei Menschen gewöhnlich Leben vor, das ganz auf das Leben und nicht auf den Tod eingestellt ist, so überwiegt bei ihnen auch das Wachen, das sich ganz auf das Wachen entwirft, nicht aber auf das Ermüden und Einschlafen. Beim Schlafbereiten wird man aber nicht sagen, dass er in der Regel nichts als den Schlaf im Sinn habe. Es ist ganz überwiegend das Neue-Kräfte-Gewinnen und Wiedererwachen, das ihn leitet, den Kairos des Schlafes wahrzunehmen. Wie freilich das Sich-Hingeben in den Schlaf Lebensvertrauen und Lebensbejahung manifestiert, ist nun auch zu denken, dass der Schlaf mit den Lebenskräften zugleich jenes Vertrauen und Bejahen stärkt. Odysseus erwacht dann nicht, um nachträglich festzustellen, dass sein Vertrauen in die ›Geleiter‹ als Behüter seines Schlafes begründet war. Nein, es ist das Lebensvertrauen gemeint, das im Vollzug des Lebens selbst gründet, was, wie die Odyssee exemplarisch zeigt, maßgeblich durch lebensteilig geleitetes Unterwegs bestimmt ist.
IV Wer den Schlaf für eine Auszeit des Lebens und für eine Auszeit des Einander nimmt, versieht sich am Grundrhythmus des Lebens: am Wechsel von Wachen, Schlafen und Wachen, von Dasein, Wegsein und Dasein. Die von ihm ins Auge gefasste Eindimensionalität des Lebens bedeutete eine Verselbstständigung des Wachbewusstseins und des Sich-gegenwärtig-Seins, wie sie – negativ – die Gestalt des ewigen Lebens und der ewigen Liebe prägt: Beides kennt keinen Rhythmus. Versteht sich das Leben alles Lebendigen (der zôa) aus seiner Zeitlichkeit und dabei aus der Rhythmizität und nicht etwa Linearität der Lebenszeit, dann stellt sich mit dem Begriff des ewigen Lebens, der ewige Wachheit einschließt, einmal mehr das Problem, ob er nicht für eine contradictio in adiecto steht: Der Begriff des Ewigen widerspricht dem Begriff des Lebens. So wird es in der Stadt der auf ewig Seligen nie mehr Nacht: Die »wesentliche Sonne«, die niemals untergeht, strahlt. 18 Wer hier seine »Ruh« findet, schläft nicht etwa, Odyssee 13,42. Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, in: Sämtliche poetische Werke (ed. Hans Ludwig Held), 3. Auflage, München 1949, Nr. 9, 270. 17 18
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sondern gibt sich »tausendfacher Lust« hin. 19 Da hier alles »dauert«, und zwar in seinem besten Stande: »(in) seiner Blüt«, 20 ist jeder Wechsel ausgeschlossen. »Da sitzen sie zu ewger Zeit (!) […] Und werden niemals müde«. 21 Wer ins »ewge Bett« versinkt (Bett als Metapher für die Metapher Vaters Schoß), liegt in »ewger Lust« und »ewigem Genießen«. 22 Nach den Erfahrungen von einander Liebenden ist ewige Lust nicht weniger eine contradictio in adiecto als ewiges Leben. Es ist nur konsequent, dass ihre unio mystica die Seligen »selbst die ewge Sonne« sein lässt. 23 Der Wechsel von Wachen, Schlafen und Wachen, von Vereintsein, Getrenntsein und Vereintsein ist die Gestalt und auch der Garant der Zeitlichkeit des Lebens in seiner Alltäglichkeit. Die Rhythmik aller Tage spiegelt den großen Rhythmus des Lebens, den Wechsel von Leben und Tod. Der Schlaf als Manifestation der rhythmischen Zeitlichkeit des Lebens erinnert so den Tod. Nun scheint aber, anders als der Wechsel von Nacht und Tag, der Wechsel von Tod und Leben allein poetisch zu haben zu sein: in der Poesie des Mysteriums der Auferstehung von den Toten zu einem ganz anderen Leben oder in der des Todes als des Durchgangs zur Wiederkehr des Lebens derselben Art. Wie aber bereits der Schlaf die unilaterale Autarkie des Schlafenden nicht zu etwas Absolutem werden lässt, sondern in ihm, unbewusst, die selbsthafte Ausrichtung auf Wachsein und Lebensteilung gewahrt bleibt, so stellt das Leben, wird an den Wechsel von Leben und Tod gedacht, erst recht nichts Solipsistisches vor. Im Wechsel von Leben und Tod ist das Jungsein und Altern gegenwärtig, das Geborenwerden und Sterben. Im lebensteiligen Ganzen versteht sich der Wechsel von Leben und Tod als der von Geburt und Tod: Die einen sterben, die anderen werden geboren; der Großvater stirbt, der Enkel bezieht sein Zimmer. Wer dem Schlaf nicht sein Recht einräumt und als eine eigene Form des Lebens anerkennt, die ebenso bedingend für die wache Form des Lebens ist wie die wache für die schlafende, stellt sich Leben fälschlich arrhythmisch in planer Verlaufsform vor. Das wäre Leben, das Schlaf und Tod von sich auszuschließen suchte, unfähig, beides frei als notwendig anzuerkennen
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Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, ebd., Nr. 10, 270. Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, ebd., Nr. 34, 274. Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, ebd., Nr. 56, 284. Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, ebd., Nr. 141 f., 308. Angelus Silesius, Die ewigen Freuden der Seligen, ebd., Nr. 144, 309.
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und als lebensbefähigend zu erkennen. Ist nämlich der Tod auch keine eigene Form des Lebens, so doch sein Garant. Er ist dies für das geteilte Leben, indem er neuem Leben stattgibt, und für das eigene, weil er es ein zeitliches und endliches und damit überhaupt Leben sein lässt. Der Rhythmus von Wachen und Schlafen, von Dasein und Wegsein lässt auch das Lebensvertrauen nicht unberührt. Der Wache und der Multilateralität der Autarkie seines Lebens Bewusste braucht ein distanziertes Verhältnis zu Lebensvertrauen und Lebensbejahung, da er beides zu praktizieren und das heißt aufs Spiel zu setzen hat. Sobald jedoch für ihn der Kairos des Schlafes wiederkehrt, beginnt die Distanz zu schwinden. Wer sich dem Schlaf hingibt, praktiziert kein begründetes und begründbares Vertrauen mehr, so sehr er auch zuvor für wache verlässliche Hüter seines Schlafes gesorgt haben mag. Die Bedingungslosigkeit wird für ihn spürbar, mit der das Leben fordert, sich dem Leben hinzugeben: seiner Rhythmik. Ist er auch nicht übermächtigt vom Schlaf, 24 sondern ist er es selbst, der sich schlafen legt, so können wir doch für den Eingeschlafenen unmöglich mehr sagen, als dass für ihn Lebensvertrauen und Lebensbejahung neu ihre Unmittelbarkeit gewonnen haben. Es ist, als herrsche ein unausgesprochenes Einverständnis mit dem Wechsel der Zeiten. Ein Vorschein dieser Unmittelbarkeit ist darin zu sehen, dass, legt sich einer von sich aus zum Schlafen, ein Vertrauen praktiziert wird, das sich nicht auf Erfahrung beruft. Im Unterschied zum begründeten Vertrauen nenne ich es das gegründete: Es kennt keinen möglichen Vertrauensbruch, weil es im Lebensvollzug selbst gründet. Seine Praxis besagt nichts anderes, als dass sich das Leben seiner selbst sicher weiß, das heißt seiner Zeitlichkeit und Rhythmizität. Auch die Lebensbejahung wird im Übergang zu jener Unmittelbarkeit und Unbewusstheit von einer begründeten zu einer gegründeten. Das ungesprochene Ja entspringt ebenso dem Lebensvollzug selbst. Rührt der Schlafende an die Rhythmizität des Lebens, so kann von ihm doch nicht gesagt werden, dass er sich des Wechsels von Wachen, Schlafen und Wachen, von Dasein, Wegsein und Dasein praktisch vergewissere. Dieses RührenDas Unfreiwillig-in-den-Schlaf-Fallen des total Erschöpften, das Ohnmächtigwerden des Gefolterten, das Wachkoma und anderes Vergleichbares stellen einsichtigerweise keine Szenarien vor, die Gelegenheit böten, die Gedanken zum gelingenden Schlaf zu illustrieren. Sehr wohl aber können diese durch Unfreiheit geprägten Formen des Zum-Schlafen-Kommens, zumal wenn Unmenschlichkeit im Spiel ist, jenes Gelingen kontrastiv verdeutlichen.
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an ist nur als unmittelbares zu denken: Er ist des besagten Wechsels praktisch gewiss.
V Sind Wachen und Schlafen erst einmal als gleich bedeutsam gedacht, sofern keines mehr als das andere im rhythmischen Wechsel die Zeitgestalt des Lebens zeichnet, dann ist es an der Zeit, das Schlafenkönnen als ein eigenes Vermögen und das meint als ein konstitutives Moment der Lebenskunst zu bestimmen. Zum Schlafenmüssen als Naturphänomen gesellt sich das Schlafenkönnen als Kunstphänomen. Den Schlaf finden, sich ihm hingeben – das ist, den Schlafenkönnenden vorausgesetzt, nie nur von Notwendigkeit, sondern stets auch aus Freiheit. Solange freilich der Schlaf für sich allein erörtert wird, ohne dass mit innerer Konsequenz auch Liebe und Tod in den Blick treten, ist die Dominanz des Naturgeschehens für das Verständnis von Schlaf kaum zu brechen. So gilt es denn, gut platonisch, noch einmal von vorne anzufangen, 25 um den Schlaf nicht mehr einseitig als Naturbedürfnis, sondern im Verein mit Liebe und Tod als eine Herausforderung der Lebenskunst zu nehmen. Schlafen ist, wie die Erfahrung lehrt, ein Bedürfnis, und dabei, wie man es allgemein versteht, ein ganz und gar natürliches. Das aber verdeckt, dass Schlafen, wie der Mensch seiner bedarf, in einem Vermögen gründet, das den Menschen frei über sich verfügen und sich frei zum Leben in seiner rhythmischen Zeitlichkeit verhalten lässt. Philosophen haben das anders gesehen. Für Platon und Aristoteles etwa, die mit ihren Vernunftoptionen ganz auf die wachen Tätigkeiten der Seele fixiert sind, ist Schlafen ein lästiges Bedürfnis. Sie künden mit dieser Einschätzung zwar an, dass sie es beim menschlichen Schlaf nicht erstlich auf Natur, sondern vielmehr auf Freiheit ankommen lassen wollen. Genau das aber führt sie zu keinem Gedanken von Schlafkunst, sondern am liebsten ganz vom Schlaf weg. Schlafen nämlich sei zwar notwendig, aber der Mensch schlafe bei weitem mehr als nötig. 26 Zählen Platon und Aristoteles beim Nachdenken über das Lebensnötige als erstes Nahrung auf, dann kommt ihnen 25 Platon hat den wiederholten Anfang, der anders anfängt, methodisch genutzt: Parmenides 152b; Theaitetos 151d; 164c; Politikos 264b; 268d. 26 Platon, Nomoi VII, 808bc; Aristoteles, Protreptikos, ebd., Fragment 9,38 f.
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Schlaf als gleich ursprüngliches Bedürfnis überhaupt nicht in den Sinn, auch nicht in der weiteren Reihung der Bedürfnisse. Man rechnet offensichtlich Schlafen gleich dem Atem und dem Verrichten der Notdurft zu den physiologischen Selbstverständlichkeiten des Lebens. Dabei hätte es dem Gedanken der natürlichen Autarkie 27 gut angestanden, um die Autarkie der Schlafbedürfnis-Befriedigung ergänzt zu werden. Das Neugeborene in seinem Nach-Uterusstadium hat nicht nur an der Brust der Mutter sogleich das, was es als Säugling benötigt (so weit geht die Bestimmung der natürlichen Autarkie bei Aristoteles), sondern hat in seinem neuen Zuhause auch sogleich das, was es, wie ich es nennen will, als Schläfling braucht. 28 Das Neugeborene braucht den Schlaf nicht weniger als die Nahrung. Das gelingende Verhältnis von Mutter und Kind geht in dieser Früh-, ja Erstzeit 29 auf im Wechsel von Stillen und Gestillthaben, Gestilltwerden und Gestilltsein. Kann das Neugeborene sogleich, ohne es erst lernen zu müssen, saugen und schlafen, so bedarf die Rede von der Kunst des Schlafes einer Erklärung. Nicht das in seinem Selbst gänzlich durch die Mutter Gehaltene, sondern erst der an spontaner Bildung lebensteiliger Ensembles Beteiligte ist fähig und willens, das Schlafbedürfnis dem Bedürfnis einer Kunst zu überantworten.
VI Um mit Schlafkunst keine falsche Fährte zu legen, die auf eine individualistisch orientierte Lebenskunst zielte, eine Kunst, die sich darin üben mag, richtig zu atmen und überhaupt alles mit sich und für sich Aristoteles, De generatione animalium IV 8, 776b8; vgl. Politik 1 8, 1256a30–b10. »In den ersten vier Wochen nach der Geburt führen die Säuglinge ihren fötalen Schlafrhythmus einfach fort. Alle zwei bis vier Stunden wachen sie auf, bleiben dann eine halbe oder auch zwei Stunden wach, um dann wieder Traum und Tiefschlaf zu finden.« In der Regel schlafen sie innerhalb vierundzwanzig Stunden sechzehn Stunden. Siehe Ulrich Rabenschlag, So finden Kinder ihren Schlaf, Freiburg 2001, 47. 29 So ist zu reden, um nicht über das einzigartige Geschehen der Geburt hinwegzugehen und in den ersten drei Lebensmonaten nichts anderes als eine Fortsetzung des Uterusstadiums zu sehen (u. a. Bernhard De Rudder). Setzt sich in der ersten Trimens auch vieles aus der intrauterinen Zeit fort, hat etwa das Neugeborene noch kein eigenes Blut, während es das Blut der Mutter abbaut, so rechtfertigt das nicht, biofundamentalistischen Theologen gleich, die lebenspraktische Bedeutung der Abnabelung, des ersten Atems, ja eben des Auf-der-Welt-Seins theoretisch zu überspielen. 27 28
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selbst, soweit als psychosomatische Funktionseinheit verstanden, richtig zu machen, sind nun endlich künstlerische Möglichkeiten zu erwägen, die dem Schlaf im Verein mit Liebe und Tod eine humane Deutung geben. Am besten sollte der Schlaf selbst, bislang monadisch erörtert, den Übergang zu einer triadischen Erörterung von Liebe, Schlaf und Tod finden lassen. Da aber legt es sich nahe, mit der in der Sprache bereits geübten und bewährten poetischen Praxis den Anfang zu machen und Schlafen als Metapher zu nehmen: sowohl für Lieben als auch für Totsein. Übertragungen wie diese nämlich, so steht zu erwarten, erhellen nicht zuletzt auch das, was mit dem Wort eigentlich bzw. vorherrschend gesagt ist. Findet sich aber ein Band, das Liebe, Schlaf und Tod sachlich verbindet, so ist es sogar angezeigt, die Möglichkeit zu sondieren, ob nicht etwa Lieben und Totsein es sind, die entdecken, was Schlafen eigentlich heißt und ist. 30 Mit Lieben und Totsein wird Schlafen auf ganz Unterschiedliches übertragen. Entsprechend ist das unterschieden, was zu diesen Übertragungen Anlass gibt, ja sie überhaupt ermöglicht. Heißt Schlafen Lieben, dann steht mit Schlafen die Teilung der Intimität des Bettes im Blick. Heißt Schlafen aber Totsein, dann hat es die Übertragung zunächst einmal auf die Leblosigkeit des Schlafenden abgesehen, wie sie sich in seiner Regungslosigkeit und Wahrnehmungslosigkeit äußert. Freilich zeigt sich trotz dieser auffälligen Unterschiede auch Gleiches: Der Schlafende liegt im Bett. Der Liebende, der ›schläft‹, liegt im Bett. Der Tote, der ›schläft‹, liegt im Grab bzw. in der Erde als seinem Bett. So wird im Griechischen zum Beispiel eunê für Bett, Ehebett und Grab gebraucht, klinê für Bett und Grab, koitê für Bett und vor allem für Ehebett und überhaupt Liebesbett. Kann dieser Metapherngebrauch der nachdenklichen Erschließung des Schlafes als einer ausgezeichneten menschlichen Möglichkeit von Nutzen sein? Der doppelte metaphorische Gebrauch von Schlaf hat vielfältigen sprachlichen Ausdruck gefunden, der, um nur »entschlafen« (Luther) 31 und »Beischlaf« zu nennen, Gemeingut ist. In letzterem Deutet Heidegger die letzte Brücke, zu der die Sterblichen immer schon unterwegs seien, als die Brücke, die die Menschen »zuletzt als die Sterblichen auf die andere Seite kommen« lasse, dann schafft er einen Prototyp der Inversion des Metaphorischen. Erst diese letzte Brücke gibt für ihn Brücken, die über Flüsse führen, eigentlich als Brücken zu verstehen. Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 153 f. 31 Psalm 13,4: »dass ich nicht im Tode entschlafe«, wörtlich: dass ich nicht einst in den 30
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Falle wird Schlafen zu Liebesgenuss (katheudeton en philothêti). 32 Obgleich Lieben akkurat etwas anderes als Schlafen ist, wird beides von dem, der mit der Metapher vertraut ist, leichthin zusammen gesehen und gemeinsam beurteilt: »Bei allem gibt es eine Sättigung, auch beim Schlaf und beim Liebesgenuß«. 33 So schläft (heude) Zeus in den Armen der Hera denn auch »bezwungen von Schlaf und Liebesgenuß«. 34 Mit der anderen Übertragungsmöglichkeit von Schlaf verhält es sich vergleichbar. Obwohl Totsein eben gerade kein Schlafen ist, keine für ein und denselben Tag absehbare Abwesenheit vom Wachsein, rückt doch beides zusammen: Von Erschlagenen etwa wird gesagt, dass sie gottverlassen »im Grabe schlafen« (katheudontes). 35 Soweit ihr Gebrauch »das Gemeinsame« im Blick hat, handelt es sich nach Aristoteles um »gute« Metaphern. 36 Ganz korrekt zeigt sich das am Lager und an der Lage: Der Tote und der Liebende liegen, wie es die Schlafenden tun. Auch die Nacht ist ihnen gleich bedeutsam: Dem zu Tode Stürzenden wird es Nacht um die Augen. 37 Nacht ist es gleichfalls, zumindest wie die Metapher es will, wenn die Liebenden miteinander schlafen. Das Schlaf- und Nachtlager dient, je nach dem Kairos, ebenso als Liebeslager. Entsprechend liegt einer, wenn es die Stunde ist, auf den Tod, um als Toter vom Lager, das dem Schlafen, Lieben und Sterben diente, weg in sein Totenlager gelegt zu werden: in das Grab, die Kultur der Erd- und Liegendbestattung vorausgesetzt. Wie Menschen es praktisch halten, verbindet sich mit Schlafen, Lieben und Sterben dasselbe Lager und einschließlich des Totseins dieselbe Lage, gehört zu Schlaf, Liebe und Tod die Zeit der Dunkelheit. Im Mythos wird der Schlaf als der leibliche Bruder des Todes erdichtet. 38 Die Dichtung steigert das noch, indem sie beide für Zwillingsbrüder erklärt. 39 Doch sie sind, genetisch geurteilt, keine gewöhnlichen Kinder. Ihre Mutter ist die Nacht, 40 aber Vater haben sie Tod schlafen werde (hypnôsô); 1. Korintherbrief 15,6: »sind entschlafen« (ekoimêthesan). 32 Odyssee 8,313. 33 Ilias 13,3 13, eigene Übersetzung. 34 Ilias 14,3 53, eigene Übersetzung. 35 Psalm 88,6. 36 Aristoteles, Poetik 1459a7. 37 Ilias 5,310. 38 llias 14,231. 39 Ilias 16,672. 40 Hesiod, Theogonie 213.
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keinen. Die Nacht hat sie geboren, ohne mit jemandem geschlafen zu haben (ou tini koimêtheisa). 41 Schlaf und Tod werden so in engster Verwandtschaft erdichtet, was es mythischer Poesie nicht verwehrt, im Schlafen (Liegen – koiman geht auf keisthai zurück) auch das Lieben zu sehen. Auf bemerkenswerte Weise ist das in der Erzählung von Endymion der Fall. Dieser schöne Jüngling, ein Spross des Zeus, erhält von seinem Vater das ewige Leben, allerdings in der Form des ewigen Schlafes. 42 Das verkehrt alles: Einzigartigerweise bedeutet ewiger Schlaf nicht Tod. Kein Wunder, dass er als Liebesschlaf erdichtet ist. Selene, die in den schönen Schlafenden verliebt ist, steigt jede Nacht herab, um ihn zu küssen (berühren) und mit ihm zu schlafen. So zeugt Endymion in seinem ewigen Schlaf fünfzig Töchter. Er schläft aber im Berge der Vergessenheit (aus dem Bergnamen Latmos, eines Berges in Karien, wird Lathmos, von lêthê, das Vergessen). Auch sein Schlaf wird etymologisch gedeutet: als der – in veralteter Übersetzung – »beschleichende« (von endyô). 43 Heißt zu schlafen für Aristoteles, ohne jede »Energie«, also vollends untätig zu sein, 44 so lässt der zeugende und empfangende Schlaf genau das Gegenteil verstehen. Das gibt der Metapher, wird sie noch als solche gehört, ihre poetische Spitze. Schlafen Ares und Kythereia zusammen (koimêthênai), so tun sie das ausdrücklich, um sich zu erfreuen. 45 Zeus wieder zeugt, indem er bei Ponopia (Aigina) schläft (koimato), das heißt sie liebt, vier Söhne. 46 Es muss freilich kein Mythos sein, damit einen Mann zu haben heißt, mit einem Mann zu schlafen (koiman). 47 Tut Liebe zu zweien im kulturellen Empfinden gut daran, sich keinem Dritten zu enthüllen, nicht im Blick und nicht im Wort, 48 dann versteht sich Schlaf als Metapher für Liebe geradezu als sittlicher Euphemismus. Zwar sind mit Nacht und Lager deutlich kulturell übliche Bedingungen der geschlechtlichen Vereinigung angesprochen, aber von der Liebe ›selbst‹ ist nichts gesagt und entdeckt, im Hesiod, Theogonie 213. Platon, Phaidon 72bc; Aristoteles, Nikomachische Ethik X 8, 1178b20. 43 Friedrich Lübker, Reallexikon des classischen Alterthums, Leipzig 1867, 306. 44 Aristoteles, Nikomachische Ethik VIII 6, 1157b8. 45 Odyssee 8,292–295. 46 Pindar, Isthmien 8,23. 47 Siehe Herodot, Historiae III,68,3. 48 Siehe Ilias 14,334 ff.: Hera, die fürchtet, sich schämen zu müssen, fragt Zeus: »Wie wäre es, wenn einer der ewigen Götter uns beide im Schlaf beschaute?« (eigene Übersetzung). Zeus verspricht daraufhin, sie (und ihn) mit einer Wolke zu umhüllen. 41 42
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Gegenteil. Als Schlaf gedeutet, ist sie wie von der Nacht umhüllt. Beim Tod sieht das anders aus. Für den Blick der Überlebenden ist es kein bloßes Bild. Die Sache scheint getroffen zu sein. Wer tief schläft, ist gleich dem Toten für keine Ansprache zu erreichen. 49 Soll Schlaf dennoch nicht den Tod ›selbst‹ sagen, auch nicht ein ziemlich genaues Bild von ihm geben, und dies dann natürlich ohne Beachtung der unvergleichlichen Dauer von Schlafen und Totsein, sondern ein Euphemismus für ihn sein, der auf trostreiche Weise seinen ganzen Schrecken zurückhält, wie er Trauernde und auch dem Tod Nahe befällt, dann muss ein Unterschied von Schlaf und Tod eigens bemerkbar werden. Das geht notwendig bis an die Grenze, dass das Totsein des Toten rhetorisch weggeredet wird, ohne dass man dafür Auferstehungs-Gewissheiten in petto hätte. So hört sich auf rührende Weise trostreich die Aufforderung an: »Sage o Mensch, dass Popilia schläft. Nicht nämlich kommt es den Guten zu, dass sie sterben, sondern sie haben einen süßen Schlaf.« Diese im Original griechische Inschrift auf einem römischen Grab des 2. Jahrhunderts n. Chr. gebraucht »schlafen« ganz offensichtlich als Euphemismus für »totsein«. Das Mädchen ist tot. Spielt der ›Mensch‹, der Trauernde, die Poesie aber mit, so ist es gar nicht tot, sondern schläft. 50 Nicht weniger rührend hört es sich bei Claudius in Der Tod und das Mädchen an, wenn nach den Abwehrversuchen des Mädchens der Tod zu ihr sagt: Gib deine Hand, du schön und zart Gebild! Bin Freund und komme nicht zu strafen. Sei guten Muts! Ich bin nicht wild, Sollst sanft in meinen Armen schlafen! 51
Auch an Schillers Wallenstein lässt sich denken, wenn er ihn verdeckt-verdeckend sagen lässt: »Ich denke einen langen Schlaf zu tun.« 52 Freilich spricht aus dem »langen Schlaf« nichts Besänftigendes mehr. Der Ernst des Endgültigen zeigt sich an. Überhaupt nicht euphemistisch ist dagegen Luthers »Der Tod ist mein Schlaf worGilgamesch vor dem Leichnam seines Freundes Enkidu: »Now what is his sleep that has seized [you?] / You’ve become unconscious you do not hear me«. The Epic of Gilgamesh, trad. (aus dem Akkadischen) / introd. Andrew George, London 2003, 65. 50 Siehe Gerhard Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Bd. 3, Nachdruck 1950 der 1. Auflage, Stuttgart 1938, 436 (eigene Übersetzung). 51 Matthias Claudius, Asmus omnia secum portans oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, Hamburg 1775. 52 Friedrich Schiller, Wallensteins Tod V,6. 49
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den«. 53 Es ist ein Wort, das vom Glauben an Christi Sieg über den Tod lebt. Für den Gläubigen, der seine eigene poetische Leistung verkennt und das Geglaubte gänzlich realistisch nimmt, ist Schlaf unmöglich eine Metapher für Tod, sondern wird zur ursprünglichen Wahrheit: Der Tote bleibt nicht tot, ja er ist gar nicht tot. Er wird aufgeweckt werden und vom Lager aufstehen (auferstehen) zum ewigen Leben; der Ungläubige dagegen, wie dem Gläubigen zu glauben geheißen, zur ewigen Schande (oneidismos, aischynê). 54 Für den Gläubigen des rechten Glaubens besteht keine Alternative des Auferstehens oder Nichtauferstehens, auch keine des ewigen Lebens oder der ewigen Schande. Er glaubt, was als Tod gilt, mit Recht als seinen Schlaf, weil er vom Gesetz des Todes befreit ist. 55 Damit aber ist ewiges Leben versprochen. Durch Gottes Macht, wie sie geglaubt wird, sind die Toten Wesen, die in der Erde schlafen, also gar nicht wirklich tot sind. Für sie gilt, zu etwas ganz anderem gestorben zu sein als zum Totsein. 56 Das Nachdenken über den Schlaf versteht das Wort, so es für Tod steht, jedoch ausschließlich als Metapher. Es hält sich somit an sachliche Entsprechungen und erhofft sich durch die Übertragung nichts tröstlich zu Empfindendes. Absicht ist auf keinen Fall eine sprachliche Verklärung, die das Totsein eines Toten gänzlich anders, und eben nicht als Totsein verstehen will. Wer als Toter ›schläft‹, ist tot. Löst Agamemnon mit einem Schwerthieb ins Genick dem Iphidames die Glieder, 57 dann vermag der Schlaf, den der Getötete daraufhin schläft (koimêsato hypnon), nicht vom Totsein des Toten abzulenken. Die poetische Verdeutlichung, dass es sich um einen erzenen Schlaf handelt, wäre sachlich nicht nötig gewesen. Dieses Prädikat benennt sowohl seine Festigkeit, sein ewiges Währen, erinnert aber auch die Art der Tötung. Schläft wiederum ein Myrtilos, der ins Meer und dabei in den Tod gestürzt ist, im Meer, 58 so wird auch diesem Totsein durch die Metapher nichts genommen. Es ist, so nennt es
Martin Luther (1524), in: Evangelisches Gesangbuch, Karlsruhe 1995, Lied Nr. 519. 54 Daniel 12,2. 55 Römer 8,2. 56 Siehe dazu auch Matthäus 72,12; Johannes 11,11; 1. Korintherbrief 15,20; Epheserbrief 5,14. 57 Ilias 11,240 f. 58 Sophokles, Elektra 509. 53
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Platons Sokrates, »wie ein Schlaf« (hoion hypnos), der ohne Wahrnehmung und Traumbild ist. 59 Beim Lieben taugte nicht einmal das »wie«, um der in Gebrauch gekommenen Metapher gerecht zu werden. Das Bett und die Nacht gleichen in nichts dem Tun der Liebenden, sie begünstigen es allein.
VII Nicht Bett (Lager) und Dunkel sind es, die das Nachdenken über Liebe und Tod auf der Spur der Schlafmetapher belassen, sondern Vertrauen und Sich-Hingeben. Geht es um Schlafen, das eine Kunst ist, so können keine materiellen Bedingungen und Umstände des Schlafes den erhellenden Vergleich tragen. Das vertrauende SichHingeben ist nun aber auch kein erlerntes Können, das sich einmal besser, einmal schlechter bewährt. Es geht um den Einsatz des Selbst. Schlafkunst findet ihre philosophische Deutung nicht in Einschlafpraktiken, ebenso Liebes- und Todeskunst, als Schlafkünste genommen, entsprechend nicht in Praktiken der Verführung zur Hingabe und Bewältigung der Sterbensangst. Allein das sich dem Schlaf, dem Widerliebenden und dem Tod Hingeben stehen zum Vergleich an, und dies maßgeblich mit Blick auf die Eigenart des herrschenden Vertrauens. Wie alles Hoffen, seinem zureichend bedachten Grund und Ziel nach, dem Leben gilt, 60 so auch alles Vertrauen. Der Lebenskünstler in den Varianten des Schlaf-, Liebes- und Todeskünstlers ist es, der in seinem Vertrauen, wie es dem Schlaf, dem geliebten Anderen und dem Tod gilt, durchgängig Lebensvertrauen manifestiert. Es ist jeweils ein Vertrauen, das im Leben selbst gründet: in seinem gelingenden Vollzug. Wer dagegen weiß, dass andere seinen Schlaf bewachen und behüten werden, ist sich zwar eines begründeten Vertrauens sicher, damit jedoch eines Vertrauens, das ihn gerade nicht als Schlafund Lebenskünstler fordert. Gute Absichten anderer vermögen nichts über das Leben in seiner Rhythmizität, woraus allein Lebensvertrauen sich schöpft. Nicht anders verhält es sich mit dem Vertrauen in das Platon, Apologie 40de. Siehe dazu Rainer Marten, Wahre Hoffnungen? Eine Frage an Hermeneutik und Religion, in: Ingolf U. Dalferth / Philipp Stoellger (Hg.), Zur Hermeneutik des Außerordentlichen, Tübingen 2007.
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Leben, wie es in den beiden Schlafkünsten herrscht, die es im übertragenen Sinne sind. Der Schlaf, in dem Liebeskunst den Einen sich mit dem Anderen vereinen lässt, zeigt wechselseitiges Vertrauen, für das kein anderer Grund zureicht als das Leben selbst. Das sich einander Hingeben und Übereignen schafft den miteinander Schlafenden eine Intimität, in der jede reservatio ipsius aufgehoben ist: Sie haben sich gemeinsam aufs Spiel gesetzt. Was sie ergründen, ist Leben in seiner lebendigsten und belebendsten Art. Kein Begründen reicht in dies Ergründen. Liebeskunst, die dazu führt, im Miteinander je selbsthaft des Anderen zu sein, ist keine Ars amatoria, wie Ovid sie als – männliche – Gewinnstrategie vorführt, 61 ist auch nicht die freie Kunst der illegitimen Liebe, das heißt der Liebe als Selbstzweck, wie sie in der Gestalt der Cortegiana, Kurtisane, Konkubine, Maitresse, Grande Amoureuse, Grande Cocotte, Femme entretenue professionell betrieben wird. 62 Anstatt berechnend zu verfahren, um sich eines je eigenen Gewinns zu versichern, geben die Liebenden einander frei, so dass eine Freiheit die andere erwirkt. Ist der süße Schlaf, wie er Odysseus ohne bewusstes Glücks- und Lustempfinden angedichtet wird, als Zustand geglückter Selbstvergessenheit eines Einzelnen vorzustellen, so ist dem Liebesschlaf eine Selbstempfindung zuzudenken, die gerade durch Wechselseitigkeit geprägt ist, eine Empfindung, die nicht nur die einer Bewusstheit, sondern auch die einer Unmittelbarkeit ist: als die des Lebens selbst. Wie Schlafkunst so ist auch Liebeskunst kein l’art pour l’art. Die mit einander Schlafenden bilden kein Ensemble, das sich selbst genügt. Was zunächst nach bilateraler Autarkie aussieht, verlangt in Wirklichkeit über sich hinaus. Das wechselseitige Vertrauen, das im Spiel der Liebe seinen Grund im Lebensvollzug selbst erfährt, befreit das Leben auf eine Weise zu sich selbst, dass es an sich selbst Interesse nimmt, ob nun ein Zeugungs- und Empfängnisvorgang statthat oder nicht. 63 Jede erotische Intimität, die als LeOvid, Liebeskunst, lt.-dt. (ed./trad. Niklas Holzberg), München/Zürich 1985, Buch 1, V. 453: Hoc opus, hic labor primo sine munere iungi (»Dieses tut not, hier bemüh dich: Nichts schenken und doch mit ihr schlafen«); V. 490: Qua potes ambiguis callidus abde notis (»Hülle, wenn möglich, in schlau täuschende Zeichen sie [deine Worte] ein«). 62 Siehe Werner Sombart, Liebe, Luxus und Kapitalismus. Über die Entstehung der modernen Welt aus dem Geist der Verschwendung, Taschenbuchausgabe nach dem Text der 2. Auflage von 1922, Berlin 1992, 75 f. 63 Für Philosophen mit reiner Vernunftoption zeigt sich freilich nur ein Zerrbild des 61
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bensteilung gelingt, regeneriert, ohne dass es dem Einen und Anderen bewusst werden muss, das Vertrauen in das Leben: in das geteilte, in das eigene und in das Leben überhaupt. Das Vertrauen, das Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft ermöglicht, ist im besten Falle ein begründetes. Ein solches hat Gorgias im Sinn, wenn er von dem, der des Vertrauens beraubt ist, sagt, ihm sei das Leben nichts wert. 64 Wird aber das Bett geteilt, gelingt Liebeskunst als Lebenskunst, dann herrscht gegründetes Vertrauen, das, angefangen mit der Teilung des Tisches, alles lebensteilige Verhalten durchherrscht. Vertraut der zum Schlafen Bereite dem Wechsel von Wachen, Schlafen und Wachen, dann der zur Liebe Bereite dem Wechsel von Getrenntsein, Vereintsein und Getrenntsein. Er hat keine ewige Vereinigung im Sinn, sondern sieht das Erwachen aus dem Liebesschlaf und das erneute Auseinander voraus. Wie er im Lieben das Leben ergründet, rührt er an die Rhythmizität des gelebten Einander. Nicht neben dem Liebes- und Schlafkünstler, sondern im Verein mit ihnen ist der Todeskünstler der dritte herausragende Lebenskünstler. Seine schöpferische Kraft gilt dem Leben, sofern es seine Endlichkeit und Tödlichkeit braucht. Erst der Tod, darum der ›andere Andere‹ genannt, 65 ergänzt den Halt, den der Lebende in nahen, ihm zugeneigten Anderen findet, und gibt ihm die letzte lebensbefähigende Festigkeit. Der Todeskünstler übt seine Kunst im Leben und zugunsten des Lebens aus. Wie einer, der lieben kann, sich dem geliebten Anderen, und einer, der schlafen kann, sich dem Schlaf hingibt, indem das Vertrauen, das im Vollzug des Lebens gründet, an den je eigenen Wechsel der Zeiten rührt, so vertraut der sich auf den Tod Verstehende der Tödlichkeit des gelebten Lebens sowie dem großen Wechsel von Leben, Tod und Leben. Er liebt den Anblick junger Menschen, um ihre Jugend zu bejahen und im Gegenzug das eigene Altern und Alter. Naht der Tod, ist die Stunde des Todes da, so sieht sich der Todeskünstler nicht anders als während des ganzen Lebens gefordert. Was Lebensinteresses, wenn sie für in Liebe miteinander Schlafende so beschränkt wie nur möglich eine Art von Recht und Gesetz des Lebens zum Zuge kommen lassen. Siehe Platon, Phaidros 255e-256a. 64 Gorgias, Fragment B 11,2, in: Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Berlin 1951, S. 299, Z. 17; vgl. Z. 8. 65 Rainer Marten, Der menschliche Tod. Eine philosophische Revision, Paderborn 1987, 78 f.
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an seiner Kunst latent war, manifestiert sich nun konkret. Bekannt ist die Erfahrung, dass einer so stirbt, wie er gelebt hat. TodesanzeigenSeiten schmücken sich mit dem Wort Leonardo da Vincis: »So wie ein gut verbrachtes Tagwerk einen angenehmen Schlaf gibt, so gibt ein wohl angewandtes Leben einen heiteren Tod«. Man muss dann nicht notwendig, wie es zuvor Marc Aurel und danach Nietzsche taten, auf einen heiteren Tod den Akzent legen. 66 Es genügt, dass der Übergang vom Leben zum Tod sowohl für den Sterbenden als auch für die, denen er stirbt, in einer Wechselseitigkeit der Stärkung von Lebensund Todesbejahung gelingt. Die Tödlichkeit des Lebens wird bejaht, weil (kausativ und durativ) das Leben bejaht wird: das eigene, das mit anderen geteilte und das, das ›weitergeht‹. Der Todeskünstler, wie ich ihn denke, lebt von der praktischen Gewissheit, dass sich im Tode das Leben erfüllt. Seine Bejahung des gelebten Lebens ist ungetrübt. Zum Todesschlaf bereit, sagt er sich, ungesprochen, vorweg: »Ja, das war das Leben, das war sein Sinn!« Er kennt keine offenen Rechnungen, keine Versäumnisse, nichts, was seinem Vermögen als Lebendem versagt geblieben wäre. Einzig die Mitwisserschaft geteilten Lebens bewegt ihn, die sich zum – schweigsamen – Gewissen des Lebens sedimentiert hat. So bewährt sich sein Todesvertrauen durch und durch als Lebensvertrauen. Wie es im großen rhythmischen Wechsel des Lebens gründet, ist es niemals diskursiv, sondern von derselben Unmittelbarkeit, wie sie der Tod als Intimus des Lebens ist. Im Übrigen: Es versteht sich von selbst, dass der Todeskünstler keineswegs auf der ›Sonnenseite‹ des Lebens gelebt haben muss, um so zu agieren, wie es hier gedacht ist. Die Metapher des Todesschlafes schließt aus, dass der Todeskünstler für den Tod als das eigene Nichts bereit wäre. Wer Metaphern gebraucht, sollte sich allerdings vor doppelter Poesie hüten. Sie nämlich erdichtet, die poetische Metapher sei nichts Poetisches. Lässt das Bild des Todesschlafes an Allein-sein, Einsamkeit, Vereinzelung und Im-Dunkel-Sein denken, dann ist sich der doppelte Poet beim Toten schon einer Art von Leben und Selbstsein sicher, das dem Toten in Wirklichkeit nicht zukommt. Der Poet sollte darauf bestehen, dass seinen Gebilden nicht anders als poetisch begegnet wird. Die Poesie des Todesschlafes eröffnet das aber als Möglichkeit allein Lebenden, die andere tot wissen, oder denen unter ihnen, die Zu Marc Aurel siehe Selbstbetrachtungen II, 3,3 et alibi, zu Nietzsche: Sämtliche Werke (KSA) Bd. 10, München 1980, 594; Bd. 11, München 1980, 355.
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sich auf den nahenden eigenen Tod einlassen. Ein realistischer Vorschlag zum Verständnis von Totsein steckt nicht in ihr. Niemand kann für sich tot sein, niemand für sich den Todesschlaf schlafen. Tot ist einer allein für die, denen er gestorben ist. Darum ist, genau bedacht, einer auch nur solange tot, als er jemandem tot bzw. von jemandem als im Todesschlaf liegend poetisiert ist. Die ›Realität‹ des Todesschlafes ist in nichts die der Physiologie, Chemie und Physik, sondern einzig die der Poesie.
VIII Wer sich dem Schlaf hingibt, um zu schlafen, tut dies in Wahrheit, um sich zu stärken – in der Regel für neue Arbeit: Schlaf, du Labsal aller Wesen, du lieblichster aller Götter, du Herzensberuhiger, vor dem die Sorge flieht, der du vom harten Tagwerk ermattete Glieder erquickst und zu neuer Arbeit stärkst. 67
Dem Schlafen eignen so die wesentlichen Merkmale des Übergänglichen, die niemanden im Schlaf seine Erfüllung finden lassen: in seinem Genuss als dem Wahrmachen seiner Notwendigkeit. Dennoch degeneriert der Schlaf nicht zur reinen Funktion, zum Mittel für Regeneration, ja Rekreation der Lebenskräfte. 68 Nur in der Schlafkunst
So spricht Iris zum trägen Schlaf, der ermattet inmitten einer Höhle auf einem Bett von Ebenholz, das mit dunklen Daunen gefüllt und mit schwärzlichen Laken bedeckt ist, ruht. (Ovid, Metamorphosen 11,623 ff.). Ein Hirnforscher kann natürlich das, was dem Menschen gut tut, auf Neuronen übertragen: Der Schlaf erlaube den Neuronen, sich von einem harten Tag des Lernens zu erholen. (Giulio Tononi, University of Wisconsin; siehe New York Times/Süddeutsche Zeitung vom 21. Nov. 2005, S. 11) Allerdings gelte für Neuronen analog das politische Gesetz: Es zählt nicht, wer du bist, sondern wen du kennst. Neuronen verstehen sich daraus, womit sie sich verbinden (synapse), was ihr Netzwerk ist. (J. Allan Hobson, The dreaming brain, New York 1988, 172). 68 In seinem zweiten Buch zum Thema Schlaf (Sleep, New York 1969, dt., Schlaf. Gehirnaktivität im Ruhestand, Heidelberg 1990) bestimmt der Psychiater und Neurobiologe Hobson als die beiden Funktionen des Schlafens das Einsparen von Energie und das Verarbeiten von Information. Sowohl beim Energiemanagement als auch beim Informationsmanagement entsteht während des Schlafes ein Verlust, der durch einen Zuwachs während des Wachzustandes kompensiert werde: »Wir kontrollieren die Köpertemperatur im Schlaf nicht, um sie später besser kontrollieren zu können«. »Wir nehmen keine neue Information auf, um die bereits erworbene dauerhaft spei67
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zeigt sich ein Sich-Hingeben- und Vertrauenkönnen, 69 das sich vergleichsweise in der Liebes- und Todeskunst wiederfindet. Die Einsicht, dass zum Alltag des Lebens nicht weniger das stärkende Schlafen als das ermüdende Wachen gehört, reflektiert sich in den Metaphern vom Liebes- und Todesschlaf: Der sich in den Schlaf gebende Liebende setzt im Lebensvertrauen nicht gänzlich auf Intimität, sondern bejaht bereits neue Trennung. Der zum Todesschlaf Bereite setzt im Lebensvertrauen unmöglich auf ein absolutes Nicht und Nein von Leben, sondern bejaht über das endende eigene Leben hinaus das der am Leben Bleibenden und neu ins Leben Kommenden, ganz so, als lebte er etwa in Enkeln weiter. Wer als Lebender der dreifachen Rhythmizität des Lebens zu entsprechen vermag, reüssiert auf dreifache Weise als Schlafkünstler. Seine Künste eint, vergleichsweise, das Vermögen sich gegründeten Vertrauens frei und ohne Vorbehalt hinzugeben: als Wachender dem Schlaf, als Liebender dem Schlaf mit dem Geliebten, als Lebender dem Schlaf des Todes. Zusammen genommen haben die drei Künste die Chance, dem Lebenden die Kairiotizität des Lebens in ihrer Ganzheit zur praktischen Gewissheit zu bringen. Einem dreifachen Schlafkünstler wäre so die Mitwisserschaft des Lebens als die seiner Kairoi im Ganzen zu eigen. Sein Lebensvertrauen fände, je nach der Gunst der Stunde, in jedem der drei großen Rhythmen des Lebens seinen Grund. Lebenskunst lässt in keiner ihrer Varianten, gerade auch in Schlaf-, Liebes- und Todeskunst nicht, Leben zu etwas Verfügbarem und Beherrschbarem werden. Im Gegenteil, diese Kunst garantiert, dass Leben ein Geheimnis bleibt. Das ist kein zu großes Wort, um nicht im Unklaren zu lassen, welche Art künstlerischen Schaffens hier eigentlich statthat. Leben ist an und für sich kein Geheimnis. Alles lässt sich erklären, zumindest im Prinzip. Der Wechsel von Tag und Nacht und die Fortzeugung von Lebendigem geben wissenschaftlichem Erklärenkönnen keine Rätsel auf. Als ein Geheimnis kann Leben allein Werk der Poesie sein. Genau dafür steht das Wort Kunst in chern und um später neue Information besser aufnehmen zu können.« (J. A. Hobson, Schlaf, ebd., S. 204). 69 Nennt man den ganz normalen Schlaf gefährlich, weil in ihm die Temperaturkontrolle aufgegeben wird, die Wachsamkeit verloren geht und Denkfehler sowie Fehlurteile unterlaufen (J. A. Hobson, Schlaf, ebd., S. 195), dann steht damit nichts im Blick, was das gegründete Vertrauen, wie es dem Schlaf zuzudenken ist, herausfordert.
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Lebenskunst, wenn sie doch erklärtermaßen nicht als das Vermögen von Selbstverwirklichung und Lebensbewältigung gemeint ist. Nicht nur der Metapherngebrauch sorgt dafür, dass poetisch verfahren wird, sondern ganz allgemein die Kunst. So ist eben auch die Kunst des stärkenden Schlafes ihrer eigensten Art nach Poesie. Wie das vertrauende Sich-Hingeben gedacht wird, nämlich im vollendeten Vollzug als reine unbewusste Unmittelbarkeit, endet für das Nachdenken jeder wissende und bewusste Zugriff. Das ist der Augenblick des freien, von der gedachten Sache geleiteten Erdichtens. ›Gründen im Leben selbst‹, ›rühren an die Rhythmizität des Lebens‹ – das ist treffende Poesie. Nur Poesie weiß, wie Schlafkunst praktisch verfährt. Im Moment ist es darum zu tun, durch den Gedanken des Geheimnisses die philosophische Schlafdichtung zu vervollständigen. Rührt der Lebenskünstler an die Rhythmizität des Lebens, dann ist genau darin, wie es jetzt gedacht und gesagt sein soll, sein schaffendes Verhältnis zum Geheimnis zu sehen. Nur für den wird Leben zum Geheimnis, der es versteht, sich auf seine zyklischen Vollzüge einzulassen, in denen es sich selbst wiederbelebt. Das Geheimnis, an das jeder der Schlafkünstler auf eigene Weise rührt, ist nichts anderes als das Leben selbst: das Leben im Kreis seiner Wiederbelebung. Die Metaphern des Liebes- und Todesschlafes gewinnen so noch einmal neu an Bedeutung: Was die drei Schlafkünste in ihren Möglichkeiten des vertrauenden Sich-Hingebens genauer eint, ist das Rühren an das Geheimnis des Lebens. Der ermattende Liebesschlaf muss nicht neues Leben erzeugen, um sich als stimmige Metapher auszuweisen. Er rührt bereits dadurch an das Geheimnis des Lebens, dass sich in ihm die gelebte Liebe wiederbelebt. Der Todesschlaf wieder, wie ihn Lebende dichten, rührt schon allein darin unfehlbar an das Geheimnis des Lebens, dass sich mit jedem Tod eines Alten Leben, das weitergelebt wird, verjüngt.
IX Drei praktische Gewissheiten sind es, die das Leben im Vollzug seiner Teilung sich seines Gelingens gewiss sein lassen: die Gewissheit, von anderen geliebt zu sein und andere zu lieben, die Gewissheit, von anderen gebraucht zu sein und andere zu brauchen, die Gewissheit, von anderen und von sich selbst einmal endgültig Abschied zu nehmen. Jeweils ist es ein Kairos des Schlafes, der die Möglichkeit er190 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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öffnet, diese Gewissheiten wirksam werden zu lassen. Findet das verschwiegene Gewissen des Lebens einen Weg, sie zu verstehen zu geben, so spricht es sich am vernehmlichsten in den Sehnsüchten aus, wie sie die drei Schlafvermögenden als Schlafbereite und Schlafbedürftige verkörpern: der Müde, der sich nach nichts mehr als nach dem Schlaf sehnt; der Getrennte, der sich nach nichts so sehr als nach der nächsten Nähe des geliebten Anderen sehnt; der Alte, Hinfällige und Lebenssatte, der sich nach nichts anderem als nach dem Tod sehnt. Ist das natürliche Schlafbedürfnis des Menschen, das metaphorisch gedeutete eingeschlossen, je einer Kunst überantwortet, dann ist es Kunst, die frei den Impuls der Sehnsucht aufgreift und den Schlafbedürftigen sich dem je besonderen Wechsel des zeitlichen Lebens überantworten lässt. So sind es die Schlafkünste, die die großen Sehnsüchte der Lebenden zusammenhalten und erfüllen. Die Kunst nicht weniger als die rhythmische Natur des Lebens sorgen dafür, dass diese Übereignung niemals einsinnig geschieht. Jede Sehnsucht zielt, wie es das Gewissen des Lebens will, über das Ersehnte hinaus. Wer nach nächster Vereinigung verlangt, bejaht schon die folgende Trennung; wer sich ganz dem Schlaf hingeben will, bejaht schon den neuen Morgen; wer nichts anderes mehr als den Tod sucht, bejaht schon das Leben, das bleibt und das weiterhin gelebt wird. Die Sehnsucht will nicht gebändigt sein. Wie die Künste der Liebe, des Schlafes und des Todes ihr die je nötige Bahn schaffen, wird sie zur Kraft, die den Sinn des Lebens im Leben und über das Leben hinaus offen hält.
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Die Bejahung der Erde Ein denkkünstlerischer Versuch zu Ort und Landschaft
Küstenlandschaft, zersiedelte, mit dem Beton der Schlafstädte durchwachsene Landschaft, Flusslandschaft, Landschaft von der Autobahn, vom Flugzeug aus gesehen, Parklandschaft, Stadtlandschaft, Industrielandschaft, Arkadien – wovon wollen, wovon sollten wir reden? Dürfen wir, metaphorisch, im Gesicht einer alten Frau als in einer Landschaft lesen, das vom Liebesspiel zerwühlte Bett als Lakenlandschaft sehen? Ich habe mich entschieden: für eigene Erfahrungen und die von Künstlern. Ländliche Landschaften im Südwesten Frankreichs, im mittleren Italien, in ganz Jütland sehe ich selbst. Beim Villenbesitzer auf der Terra ferma Venedigs glaube ich dabei zu sein, wenn er ins Weite blickt, lasse mir durch bedeutende niederländische Zeichner und Maler die Augen öffnen und schaue mit Goethes junger Fürstin von einer Anhöhe mit dem Teleskop in Sonnenuntergänge. Mit einem Sprung über gängige Deutungen des Schönen und Erhabenen hinweg habe ich auch Paris im Blick, weit über das Benjamin’sche hinaus bis an die Ränder, deren Menschen marginalisierende Art uns Goytisolo im Fest der Anderen zu sehen gelehrt hat. Mein Blick ist nicht ahistorisch, aber historisch relativiert. Ich nenne ihn einen denkkünstlerischen: Landschaft wird mit Blick auf Landschaft neu erdacht, um sie für ein Nachdenken über den Menschen zu erschließen. Soziologisches und Politisches kommt dabei nicht in Betracht. Das Nachdenken über Landschaft ist, wie ich Sie zu überzeugen suche, mit Recht voll und ganz dem poetischen Vermögen des Menschen gewidmet. Mit einer frühen, uns vertrauten poetischen Selbstauslegung des Menschen mache ich denn auch den Anfang. Der Mythos von Adam und Eva erzählt ihre Geschichte ambivalent: als Strafe und als Vorsichtsmaßnahme. Für den Beginn der Sesshaftigkeit wird die Frau in ihrer Natur gezeigt: sie hat Beschwerden in der Schwangerschaft und gebiert mit Schmerzen, der Mann bei der Bewältigung des Alltäglichen; bei Feldarbeit, die voller Mühsal ist. Beides dient zur Darstellung der Bestrafung. Dem Mann wird sein 193 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Bejahung der Erde
Erdboden (LXX: gê) eigens verflucht; mühevoll soll er leben, bis er wieder zur Erde zurückkehrt, von der er genommen ist. Hören Sie sich das an: Der Mensch, selber von Erde, bearbeitet zeitlebens die verfluchte Erde, um am Ende zur Erde zurückzukehren. Der Mensch hätte es, wie er poetisch sich selbst deutet, auch anders haben können: ohne Gebären und ohne Feldarbeit – im Garten Eden! Aus dem aber wird er verwiesen, und jetzt kommt die andere Version, aus Vorsicht: Er soll keine Gelegenheit haben, auch noch verbotenerweise vom Baum des Lebens zu essen. Dann nämlich wäre er gottgleich. Der Mensch, der ja kein Gott ist, ist der Mensch der Erde: Er führt sein Leben auf ihr und dank ihrer, und dies Leben schlägt selbst den Bogen von Erde zu Erde. Wie in der Genesis Erdenleben als selbst gemachtes Schicksal gedeutet wird, hat es unabdingbar und unabänderlich den Doppelsinn: auf der Erde und von ihr zu leben, zugleich: aus der Erde zu kommen und in sie zurückzugehen. Lebt der Mensch, so ist er lebendige Erde. Das ist es, was Adam und Eva, über ihr neues Dasein aufgeklärt, zu wissen bekommen: Ihr Ort ist die Erde – der Erdboden, der Acker, die Stätte der Fortzeugung und des Heimgangs. Zeitlebens auf ihr zu Hause, wissen beide nichts von Landschaft. Wer sein Land bebaut, kennt sein Feld. Wer Kinder gebiert, kennt sein Haus und seinen Garten. Landschaft tritt nicht in den Blick. Um Landschaft sehen zu können, ist ein poetischer Sinn erforderlich, und für diesen zumeist ein gesellschaftlicher Rang, der sowohl für Sensibilisierung als auch für Befreiung von täglicher Mühsal steht. »Die Landschaft ist lieblich und voller Reiz für die, deren Herzen für sie offen sind« – wer solches Freunden mitzuteilen hat (ich zitiere aus einem Brief Petrarcas), verbringt sein Leben »in völligem Seelenfrieden, weit weg von jeglicher Unruhe, Lärm, Sorgen und bring(t) (s)eine Zeit mit Lesen und Schreiben zu und dank(t) Gott«. 1 Der Weg zur Landschaft führt über den Park. Venetianer, die es nach der Terra ferma zieht, interessieren sich für Landwirtschaft, Gartenbau, eben für Kulturen, die dazu ausersehen sind, ihren Wohnsitz zu umgeben. Die feste Grundlage dazu ist eine Villa mit Park, am liebsten an einem Wasser oder auf einer Höhe gelegen. Für versierte Augen gehört Landschaft zum Reizvollsten und Anrührendsten, das dem Gesichtssinn als dem lustvollsten aller Sinne entgegenkommt. Parks gehen in Landschaft über. Erst können es Park1
Zitiert nach Michelangelo Muraro, Die Villen des Veneto, München 21987, 116.
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landschaften sein, dann aber auch das durch Abhängige bebaute Land bis hin zur, wie Kultivierte und Zivilisierte es generös nennen, reinen Natur, was den Homo poeticus einlädt, ja verführt, seinen Blick auf Landschaft weilen zu lassen. Dazu taugt jedoch kein ›lässiger Blick‹. Spontaneität ist im Spiel, so dass im Blick auf sie Landschaft ein Ereignis ist, das erlebt und erfahren wird. Landschaft braucht Distanz zur Scholle, zur Krume, braucht den Hochstehenden, sei er Grandseigneur, Gelehrter oder Poet samt seiner über der Mühsal alltäglicher Lebensbewältigung stehenden Entourage. Kultivierte Geselligkeit in großen Häusern und Parks ist beste Ausgangslage für eine Begegnung mit Landschaft. Versteht auch der von den Mühen des Lebens Geplagte sie gelegentlich zu sehen, dann ist das dem Feierabend und Feiertag vorbehalten. Wer Ort und Landschaft thematisiert, hat vermutlich im Sinn, das Wort »Ort« gleich dem Wort »Landschaft« einem elaborated code zugehören zu lassen. Sensibilität, wenn nicht Spiritualität, auf jeden Fall Poesie sind doch wohl gefragt, wenn es darum geht, etwas von einem Ort zu verstehen, der mit einer Landschaft verbunden ist. Napoleons »Treueste der Getreuen« in ihrem verzweifelten Ende bei Belle Alliance hatten in keiner Landschaft gekämpft, und gerade auch dann keine wahrgenommen und erfahren, als die Stunde gekommen war, ›ins Gras zu beißen‹. Nein, der Erdboden war ihnen, fern jeder Anmut, noch bei weitem unseliger als der verfluchte dem ackerbauenden Adam. Wie aber wäre es, an einen Ort wie den zu denken, an dem aus Saulus Paulus wurde? Pilger und Historiker, die auf den Spuren des Paulus reisen, verfügen, so darf man annehmen, über einen entwickelten Sinn für Landschaften. Sie hätten dann noch über ihr unmittelbares Interesse an Paulus hinaus sicher auch Sinn für Orte, die vor Zeiten als Kultstätten dienten, überhaupt für Orte mit einer besonderen Aura. Es könnte aber auch einfach Natur mit Gestein und Gewässer, Licht und Dunkel, Ödnis und Fruchtbarkeit sein, die einen Ort auszeichnet. Nein, ich möchte »Ort« im Titel »Ort und Landschaft« ganz anders verstehen. Wie ich Landschaft erdenke, ist ein, und nur ein Ort für sie bedeutsam. Er ist dann so zu denken, dass er in jeder Landschaft allgegenwärtig ist, als wäre er die Seele der Landschaft. Sie könnten mich jetzt auf dem Weg zu einer Metaphysik der Landschaft sehen. Doch das wäre der Sache nicht angemessen. Anstatt Wirklichkeit ins Übernatürliche zu verlagern, deute und nutze ich Möglichkeiten der Poesie, um Überlegungen zur Landschaft mit solchen zum Humanum zu verbinden. Bedarf ein Land, um sich 195 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Bejahung der Erde
als Landschaft zu zeigen, der Poesie, dann ist zu fragen, woran sich Poesie eigentlich hält, wenn ihr dies Werk gelingt. Heuristisch versteht sich diese Frage am besten als die nach dem, was eigentlich das die Landschaft alles in allem Belebende und Beseelende ist. Um die Schwierigkeit zu sehen, sich eine rechte Vorstellung von dem Verhältnis der Seele zum Beseelten zu bilden, ist ein spekulatives Wort von Meister Eckhart hilfreich: »Mîn lîp ist mêr in mîner sêle, dan mîn sêle in mînem lîbe sî.« 2 Das ist hermeneutisch gewagt, aber doch deutungsträchtiger als Aristoteles’ eindeutige Bestimmung der Seele als dem Stoff einwohnende (wörtlich: inseiende) Form (eidos enon). 3 Die Seele gibt eher dem Leib statt, als der Leib der Seele. Das besagt nun für uns, indem ich die Umkehrung der gewohnten Vorstellung vollende: Der Ort gibt der Landschaft statt, nicht die Landschaft dem Ort. Daraus folgt nicht etwa, dass keine Landschaft so weit reiche wie ihr Ort. Kommt Landschaft nicht länger als etwas in Frage, das ›größer‹ als ihr einer allgegenwärtiger Ort wäre, so ist derselbe nun nicht etwa größer als die Landschaft, der er stattgibt. Ort und Landschaft messen einander nicht im Quantitativen, weil Seele und Beseeltes, wie ich analogisiere, das unmöglich tun. Sie merken längst, ich bin nicht nur dabei, sondern habe es schon getan: das gesuchte Beseelende im Ort zu finden. Ist nach bewährtem Verständnis Seele das Belebende und Beseelende, so ist nunmehr Ort als das gedacht, was je einer Landschaft ihr ›Leben‹ gibt, Leben als Metapher für das, was ihre Poesie möglich macht. In jeder Landschaft gibt ihr einer, allgegenwärtiger Ort ihrem poetischen Anblick statt, ja nimmt wie von selbst an dem Spiel der Poesie teil. Landschaften sind Inszenierungen ein und desselben Ortes. Den Ort, der für alle Landschaften derselbe ist, gibt es, wie er ihnen stattgibt, allein als einen inszenierten. Landschaften sind, um Ihnen den Zielpunkt meiner Auslegung nicht länger vorzuenthalten, das aufgeführte Theater der Erde. In der Landschaft, deren Ort die Erde ist, wird die Erde selbst zur Poesie. Ist, aus dem Paradies vertrieben, für Adam und Eva urplötzlich die Erde der neue Ort, an dem und mit dem sie ihr sesshaftes Leben beginnen, dann ist für alle, die privilegiert sind, sich ihr nicht in existenzieller Sorge, sondern heiteren und poetischen Sinnes in Muße 2 Josef Quint (Hg.), Meister Eckharts Predigten Bd. 1, Stuttgart/Berlin 1936, 161 (= 10. Predigt: In diebus suis placuit deo et inventus est iustus). Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologiae 1 q.8a. 1 ad 2. 3 Vgl. Metaphysik Z 11, 1037a29.
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Die Bejahung der Erde
zuzuwenden, die Erde der in seinen Inszenierungen stets von neuem überraschende Ort, sich selbst zu erfahren. Nicht nur Adam und Eva, auch der Villeneigner, der weit ins Land sieht, und der Reisende, der seine Augen nicht satt bekommt, sind auf dem Wege aus Erde zu Erde, sind im wörtlichsten Sinne Erdenwesen. Ihre Distanz zur alltäglichen Sorge und Getriebenheit hat ihnen freilich die Reflexion nicht nur möglich, sondern auch nötig gemacht. Die Inszenierungen der Erde sind keine reinen Selbstinszenierungen, sondern brauchen den zur Poesie Privilegierten. Wir haben uns Landschaften deswegen ebenso sehr als Selbstaufführungen der Erde wie als Selbstaufführungsereignisse des Homo poeticus zu denken. Durch den Variationsreichtum der Landschaften können den einen und anderen ganz unterschiedliche Sichten dazu bringen, sich selbst zu erfahren, ja sich selbst in ästhetischen Begegnungen für den Augenblick neu zu erfinden, und dies alles zu dem Zweck, sich seiner Erdennatur praktisch zu vergewissern. Der Mensch darf nicht Knecht, er muss frei sein, um sich selbst zu erfahren und frei, nicht gezwungen, seine Einheit mit der Erde zu feiern. Die Selbstinszenierungen der Erde, die es ohne Anteil des Sich-selbst-Erfahrenden nicht gäbe, sind Feste. Fällt über Nacht Schnee auf eine Landschaft, so dass sie am Morgen ganz neu erscheint, so ist das als Schneelandschaft still und weiß und kalt gewordene Land nicht weniger ein Fest zu schauen, als es die fruchtbaren Gärten und kunstvollen Parks an der Brenta sind. Gleiches gilt von der Wüste. Man muss nicht Camus und Chatwin gelesen haben, um sich den außerordentlichen Augenblick vorstellen zu können, den solch eine Erdaufführung für einen bedeutet, der sich angesichts ihrer neu selbst erfährt. Landschaft als Gemeinschaftsprodukt von Erde und freiem, sich zu sich selbst verhaltendem Erdenwesen – das ist, denke ich, die Grundlage, um dem Nachdenken über Ort und Landschaft den rechten Halt zu geben. Spreche ich darum von Selbstinszenierungen der Erde, dann ist dieser Gebrauch von »selbst« nur vertretbar, wenn das Selbst des Sich-selbst-Erfahrenden als konstitutiv für jene Selbstinszenierung mitgedacht ist. Nur durch den Homo poeticus als freies Erdenwesen vermag die Erde der Ort zu sein, der sie als Ort der Landschaft ist: der Ort eines außerordentlichen poetischen Ereignisses. Die Erde braucht den Menschen, um sich als Landschaft zu inszenieren, der Mensch braucht die Erde, um sich in der Begegnung mit Landschaft selbst zu erfahren. Als Landschaft inszeniert, gewinnt die Erde für das Auge ihre 197 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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höchste Möglichkeit, belebend, ja beseelend zu sein, und in Entsprechung der Poet des Auges die höchste Möglichkeit, sich als Wesen der Erde zu bejahen. In jeder Landschaft liegt somit praktisch ein Ereignis der Aufklärung. Das Verhältnis von Mensch und Erde erreicht im Landschaftsblick jenen Moment, der alle Zwänge verschwunden sein und voll die Freiheit herrschen lässt. Aufklärung, die sich als die des eigenen Selbst vollzieht, wirkt befreiend. Es bleibt nicht ununterbrochen dabei. Was sich in freien Momenten als Landschaft entdeckt, wird auch wieder zu Land, das zu Sorge und Mühe nötigt und so das Leben unfrei macht. Doch die Momente der Freiheit wirken nach, bleiben im Selbst bewahrt. Gedeiht eine Kultur so weit, dass Landschaftserfahrung für eine ganze Population die Regel ist, dann ist die Befreiung allgemein: Die Bejahung, aus Erde zu sein und in sie zurückzukehren, wird auch im Nachhinein nicht mehr übertrumpft durch den dumpfen Zwang zur Aussichtslosigkeit, die auf der Einsicht beruht, im Letzten nicht mehr und nicht weniger als ein Wesen der Erde zu sein. Landschaft ist wie eine Begrüßung: Die Erde begrüßt den Poeten und der Poet die Erde. Der Grußwechsel, zu dem jede landschaftliche Inszenierung der Erde führt, macht, dass die Erde den Poeten in Stimmung versetzt und der Poet die Erde. Wie aber auch immer im Besonderen und Einzelnen das Gestimmtwerden und Gestimmtsein ausfällt, in jedem Falle stimmt ein Landschaftsereignis, in dem ein freies Wesen der Erde sich als solches erfährt, dasselbe nachdenklich: nachdenklich über sich selbst. In jeder Begegnung mit Landschaft ereignet sich der Ort der Erde und der Ort des freien Selbst als der Ort ihres gemeinsamen Auftritts. Angesichts der Landschaft treibt keine Sehnsucht den Menschen, verstanden als freies Erdenwesen, über sich hinweg. Er ist mit seinen Sehnsüchten bei sich selbst angelangt. Für den Moment ist jedes Fernweh gestillt. Bleibt dem Schauenden die Landschaft Landschaft – auch den anderen Tag und das andere Jahr –, dann kann es dieselbe Landschaft sein, die das Fernweh, das sich stets neu regt, auch stets neu stillt. Der Poet verwächst mit einer Landschaft, wie etwa George Sand mit der Berry. Die Landschaft wird das Zuhause: der Ort des Selbst. Wie die Landschaft, so ist auch der Ort praxisdefinit: Ohne die ihn selbst ergreifende Poesie eines Freien gäbe es keinen Ort, der seiner Nachdenklichkeit Halt verschafft. Eine alte Frage lautet: »Woher kommst du, wohin gehst du?« Sie zielte auf das Völkische: »Von welchem Volk bist du, zu welchem gehst du?« Verstehen wir jedoch 198 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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die Frage als an das freie Erdenwesen gestellt, dann gibt jedes gewonnene und bewahrte Zuhause die Antwort, jede momentane und gegebenenfalls andauernde Inszenierung der Erde. Die Antwort lautet in freier Selbsteinsicht: »Ich komme von meiner Entstehung aus der Erde her und gehe so weit, bis ich in die Erde zurückkehre«. Die festliche Bejahung, ein Wesen der Erde zu sein, diese vollendete Lebensbejahung gründet auf der Einsicht in die Geburtlichkeit und Tödlichkeit des Lebens. Die gestimmte Nachdenklichkeit geht nie daran vorbei, kann und will nicht daran vorbeigehen, dass Leben seine Zeit hat. Das Faszinosum der Landschaft hat zum geistigen Kern das Faszinosum der Zeitlichkeit des Lebens. Landschaftsinszenierungen arbeiten mit Horizonten, das heißt mit begrenzenden Linien. Reiht sich auch, wie Reisende es erfahren, Landschaft an Landschaft, so ist doch jede Landschaft, soweit mit einem, und nur einem Blick erfasst, eine endliche. Dass es sich so verhält, liegt an der Blicksituation und den mit ihr für den Blicknehmenden verbundenen unverrückbaren und ihn erhellenden Wahrheiten. Es sind ihrer zwei. Die eine ist in der Aussage gefasst: »Ich bin jetzt hier«, die andere in der Aussage: »Ich bin geboren und ich werde sterben«. Weil es zu jeder Zeit des Lebens, an jedem seiner Orte und unter allen Umständen gilt, dass ich jetzt hier bin und meine Geburt hinter mir, den Tod vor mir habe, hat das, was mich in meiner Freiheit fordert und in meiner Nachdenklichkeit stimmt, einen Horizont. Jeder Ort der Erde, den mein poetisches Selbst miterschafft, entdeckt die für das freie Erdenwesen relevante Endlichkeit der Erde. Die Nachdenklichkeit des Selbst verbindet diese Entdeckung mit der Selbstvergewisserung eigener Lebensendlichkeit sowohl als praktisch räumliche wie auch als praktisch zeitliche. Landschaftsereignisse sind selbstgewisse Stationen auf dem Wege aus Erde zu Erde. Die Bejahung, Erdenwesen und Lebewesen zu sein, will und kann es nicht anders. Jeder Grußwechsel von Erde und freiem poetischen Selbst im Landschaftsblick bekräftigt die Verbindlichkeit der irdischen Bestimmung. Es ist kein Wunder, dass religiöse Poesie sich Gott ubiquitär denkt. Hat auch seine Epiphanie je ihren Ort (er geht da und dort vorüber, griechisch: parerchesthai), so ist er doch selbst nicht zu orten, es sei denn eben, dass er überall ist. Religiöse Poesie, von der Maxime gelenkt, zwischen Mensch und Gott bei aller Ebenbildlichkeit größtmögliche Alterität herrschen zu lassen, könnte nicht besser verfahren. Wer keine Seh- und Seinsgrenzen auf der Erde und nicht 199 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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einmal über die Erde hinaus kennt, ist wirklich der ganz Andere zum Menschen. Wie er kein Ende sieht, weiß er auch kein Ende zu finden. Er ist unfähig, unterwegs zu sein, sich selbst zu bedenken und mit der Erde die Selbstbejahung und Selbsterkenntnis zu feiern. Für die Gott in verborgener Poesie zugedachte Existenz lässt sich kein Sinn erdenken. Gott, wie ihn christliche Theologie zu fassen hat, lebt und existiert ohne Sinn. Dächte religiöse Poesie daran, ihn zu instrumentalisieren, indem ihm der Sinn zuerkannt würde, den Menschen zu erschaffen und seine Belohnungs- und Strafgewalt über ihn auszuüben, dann wäre aus dem Gott des Wunderglaubens und Glaubenswunders ein Gott des Kalküls geworden, etwas, das menschlicher Vernunft unterliegt. Nein, der Mensch ist es, der in seinem Dasein und Leben nach Sinn sucht und Sinn braucht. Er findet ihn aber, so er sich recht versteht, jeweils in der durch den Horizont erfahrenen Endlichkeit seines Blicks. Sein Sinn ist nichts anderes als die Erde, wenn er doch kraft seiner freien Nachdenklichkeit das Erden- und Lebewesen ist, das einzigartig sich frei zur Erde als dem verhält, dem er seinen Ursprung, sein Unterwegs und sein Ziel verdankt. Wie reich ein Landschaftsblick auch im Einzelnen sein mag, seine eigentliche Zäsur ist der Horizont. Nicht an den ins Auge fallenden Gestalten und Gehalten kommt die Nachdenklichkeit maßgeblich zu sich selbst, sondern am Horizont. Der Einstimmung auf das Erdenleben und seine Endlichkeit fehlte ohne die Trennung von Himmel und Erde und das heißt ohne die Grenze zwischen sichtbarer Endlichkeit und sichtbarer Unendlichkeit der eigentliche Anstoß. Schaue ich vor mir auf einen anderen Menschen, so fordert das nicht notwendig mein poetisches Selbst. Im Anderen sehe ich nur dann meine Endlichkeit, wenn ich eigens erfahre, dass er meinem Blick Halt gibt und Einhalt gebietet: Ich erfahre signifikante Alterität. Handelt es sich nicht um jemanden vom Rang eines Liebsten, dann erweist sich in jedem anderen Falle der Landschaftsblick als ungleich tauglicher zur ästhetischen Vorschule des endlichen Lebenssinns: Ich sehe strichgenau die Endlichkeit meines Blicks, und ich sehe sie als ein Ereignis, das Erde und ich selbst gemeinsam zeitigen. Die Landschaft führt so wie von selbst auf das, was dem, der unterwegs ist, seinen Sinn gibt. Man stelle sich eine Landschaft vor, die, eben noch grün, über Nacht weiß wird. Die Stimmung ändert sich, die Selbstnachdenklichkeit, der Bezug zur eigenen Endlichkeit, der Horizont erscheint in einem anderen Licht, aber der Sinn bleibt. Wollte man ihn den Sinn des Lebens nennen, so hätte man doch zu präzisieren, dass 200 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Bejahung der Erde
das Leben der Erde zugehört und sie es ist, die die Antwort auf die Sinnfrage birgt. Im Spezialfall hat freilich der Blick auf den Anderen das Potential zur Konkurrenz mit dem Blick auf die Landschaft. Sehe ich es dem Anderen als seinen Sinn an, dass ich nicht dieser Andere bin, so ist das eine Reflexionsleistung, die der gleichkommt, welche die Erde als Sinn begreifen lässt. Das Wort: »Und die zwei werden sein ein Fleisch« 4, das Adam und Eva gilt, entdeckt eine eigene Möglichkeit, im Fleisch des Leibes die Erde und im einzigartig Anderen die irdische Bestimmung zu sehen. Die Begrüßung von Selbst und Erde im Anblick des geliebten Anderen steht an Festlichkeit ihrer Begrüßung im Anblick der Landschaft sicher nicht nach. Sinn kann nur das brauchen und haben, das sich frei im Unterwegs weiß. Um Sinn nötig und möglich zu machen, aber auch selbst zu geben, muss die Erde in Bewegung geraten, in eine Bewegung allerdings, die sich selbst reflektiert. Für diese höchst spezielle Bewegung ist das Selbst des Homo poeticus vonnöten. Nur er ist fähig, das Woher kommst du? und Wohin gehst du? frei und sicher zu beantworten: seinen Weg von Erde zu Erde – markiert durch die Vergewisserungen der Endlichkeit, das heißt durch das Ich, Jetzt und Hier, das sich in seinem Horizont spiegelt. Wo der Blick nicht ins Weite führt, sondern in der Enge haftet, wohnt der Sesshafte. Haus und Garten sind es, Dorf und überschaubare Stadt, die Schutz und Geborgenheit gewähren. Hier wird gebraucht, was zum Schließen und Verschließen taugt, was geschlossen und verschlossen werden kann. Von der ›Welt‹ abgesondert und mit allem vertraut, stößt kein Blick das Selbst an, sich der Frage nach sich selbst zu stellen. Allenfalls Kinder wissen in Haus und Garten dunkle Ecken aufzuspüren, die sie erste Versuche der Selbstpoetisierung unternehmen lassen. Anders als offene Landschaft ist das, was sesshaftes Wohnen schützend eingrenzt, nicht primär poetisch. Am ehesten sind es Großstädte, zu Landschaften gewachsen, die der vereinten Inszenierung von Erde und Homo poeticus stattgeben. Da ist es jedoch nicht der Flaneur, der poetisch zur Form aufläuft. Der geht ja auf dem Weg durch die Passagen nicht in die Weite und Fremde, sondern sieht sich in allem nur selbst – ohne jede Attitüde von Selbstaufklärung und ohne jeden Willen dazu. Wird aber in Großstadtlandschaften die Marginalisierung des Menschen erfahrbar, die Ferne und Fremde von Mensch zu Mensch, bricht sich in ihnen das Gefühl der Verlorenheit 4
1. Mose 2,24.
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Die Bejahung der Erde
und Sinnlosigkeit beherrschend Bahn, dann kann Poesie gefragt sein, die es genau unter diesen Bedingungen versteht, der Bejahung von Erde und Leben Form und Gehalt zu geben. Ich denke an eine Poesie wie die des Argentinischen Tangos. Wer, emphatisch gesagt, ins Leben und in die Welt geht, verlässt die Schutzräume, wie sie das Woher bereithält. Zur Poesie genötigt und vom Willen zur Poesie beseelt ist nur derjenige, der sich aus der Enge des Vertrauten befreit, um sich im Offenen und überraschend Neues Bereithaltenden zu entfalten. Ob jener jungen, von Goethe erdichteten Fürstin schon entsprechende poetische Kompetenz zu eigen ist, wenn sie äußert: »Und so reiten wir wenigstens hinaufwärts, und wäre es nur bis an den Fluß, ich habe große Lust, mich heute weit in der Welt umzusehen« 5 – bleibe dahingestellt. Von einem erhöhten festen Ort aus ins Weite zu sehen, erfüllt aber in jedem Falle Bedingungen poetischer Erd- und Selbsterfahrung, wie den Ausbruch aus der Unmittelbarkeit häuslicher Gemeinschaft und das Befreitsein von den Zwängen alltäglicher Lebensbewältigung. Wer, wie es Erziehungsromane schildern, in die Welt geht und sich auf den Weg des Lebens von Erde zu Erde macht, muss fähig und willens sein, fremdzugehen. Landschaft, in deren Anblick Erde und Selbst einander begrüßen, muss befremden, und mag sie noch so anmutig sein. Nur jenseits von Tür, Tor und Fenster, Einfriedung und Mauer ist der Poet gefragt, stellt sich die Sinnfrage, weil da der Blick sich so bis zum Horizont weitet, dass der Blickende auf sich selbst als Wesen der Erde zurückkommt. Der Mensch, in seiner sinnlich-geistigen Lebendigkeit dazu bestimmt poetisch zu sein, ist in offener Landschaft zu Hause, nicht in zum Schutz verschlossenen Räumen. Darum sind auch, wie gesagt, Haus und Stadt, anders als Landschaft, nicht primär poetisch. Mit der Sensibilität und Intelligibilität eines Künstlers Landschaft zu erfahren und dabei insgeheim die Erde selbst mit der Kunst zu belehnen 6, sich als Landschaft zu inszenieren, scheint jeweils Sache eines Einzelnen zu sein. Landschaftserfahrer, wie Bruce Chatwin, sind Einzelgänger gewesen. In Wirklichkeit ist jeder Landschaftsblick ein geteilter, ob ein anderer neben einem steht oder nicht. Alle poetischen Selbsterfahrungen, die sich besonderen Landschaften und StimJohann Wolfgang von Goethe, Novelle, Hamburger Ausgabe, Bd. 6, München 1996, 495. 6 Siehe dazu Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire (1939), in: W. B., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a. M., 646 f. 5
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Die Bejahung der Erde
mungen und einzelnen Begrüßungsfesten von Erde und Selbst verdanken, sind Kulturerfahrungen. Die songlines, wie Chatwin ihnen auf der Spur ist, eröffnen Landschaft als kulturell geprägten Geschichtsraum: die Wege der Ahnen, die Herkunft von den Ahnen und die Teilhaberschaft an Erde mit ihnen. Das genügt, um sich praktisch gewiss zu sein, dass jeder Schritt aus dem Woher ins Wohin ein von Grund auf geteilter ist. Landschaft, wie sie erfahren wird, ist zudem stets kulturell geprägter Sprachraum: Die Sprache poetischer Selbstbejahung und Selbsterkenntnis angesichts von Landschaft mag noch so sehr eine ad hoc neu erfundene sein, so ist sie doch auch schon immer alt und praktisch bewährt, da Sprache sich nur im Rahmen gesprochener und verstandener Sprache neu zu erfinden weiß. Zwei Dinge sind es, die das Gelingen eines Lebens entscheiden: das Einander-Brauchen und das Einander-Schätzen. Ein Leben gelingt nicht allein, nicht ohne Balance von Alterität und Identität. Darum lässt auch Landschaft, die von der Erde beseelt ist, keine Reflexion zu, die nicht andere einbezöge, die – gegenwärtig oder abwesend – das Woher und Wohin mitbestimmten, mittrügen und an der eigenen Sinngebung partizipierten. Die vollendete Poesie der Landschaft ist eine geteilte. Malt Ruisdael eine Landschaft, dann zeigt sich oftmals ein großer, ja übergroßer Himmel und ein eher verschwindendes schmales Stück Erde. Nicht jeder Maler, der im Flachland arbeitet, sieht und zeigt das so. Erst ein Maler des großen Himmels stößt uns eigens auf die Frage, was denn eigentlich mit dem Himmel ist, wenn allein die Erde der Ort und Landschaft ihre sichtbare Aufführung sein soll. Ohne Himmel gäbe es keinen Horizont. Es scheint unabweisbar, dass in der Landschaft auch der Himmel zur Aufführung gelangt. Nun ist freilich am Himmel, paradox ausgedrückt, viel Erde. Die Wolken gehören deutlich der Erde zu, auch der Wind, der Regen, der Schatten werfende Sonnenschein, nicht zu reden von Vögeln und von Menschen gemachten Flugkörpern. Allein das makellose Blau könnte eine Ausnahme bilden und was sonst das aufwärts gerichtete Auge im Blick kein Ende finden lässt. Aber genau das ist es: Das jeweils endliche Stück Erde, das eine Landschaft entdeckt, braucht ganz offensichtlich das Unendliche des Himmels, um das zu sein, was es ist. Konsequenterweise stellt sich die Frage, ob der Himmel, wenn er Mitinszenierer von Landschaft ist, nicht auch zu dem gehört, was Landschaft beseelt. Sie ist durch die Nachfrage zu erweitern, ob nicht der Himmel vielleicht sogar einen größeren Anteil an der Beseelung der 203 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Die Bejahung der Erde
Landschaft hat als die Erde. Der Mensch, so möchte man meinen, sollte froh und dankbar sein, solange es die Erde bleibt, die ihn hält: Sie schützt seine Endlichkeit, bewahrt vor dem Fortriss ins Unendliche, erhält ihm die Tödlichkeit des Lebens und hält so das Schicksal unendlicher Lebendigkeit fern. Poesie könnte das anders sehen. Adam und Eva haben, damit ihnen die Gelegenheit verwehrt bleibt, unsterblich zu werden, auf der Erde ihren Ort nehmen müssen. Ein Zurück in ein ganz Anderes ist nicht vorgesehen. Paulus, Augustinus und Pascal haben den Mythos jedoch anders gelesen. Ihnen zufolge ist die Erde signifikant nicht der Ort des Menschen, es sei denn der Ort seiner Trübsal und Bedrückung (thlipsis). Wenn ich die Poesie der Drei, welche die verborgene Poesie christlichen Glaubens repräsentiert, in aller Kürze deute, dann lässt sich die unilaterale Wertschätzung des Himmels als Referenz an die eigene poetische Freiheit verstehen, keinem Zwang des Von-Erde-zu-Erde zu folgen, sondern in dem kühnsten aller Bilder die Freiheit auszumalen, aus der die Bejahung der Erde und der gemeinsame Auftritt mit ihr lebt. Der Ausblick, dass das Poem der Landschaft kein Woher und Wohin kennt, das zur Bestimmung der Endlichkeit nicht das Unendliche bräuchte, ist aber für sich befreiend genug, jedenfalls für die Möglichkeit der Freiheit der Poesie. Anders als Haus, Garten und Kleinstadt ist Landschaft nicht verschließbar. Sicher, auch sie hat ihre Pforten, denken Sie nur an die Burgundische und die Ungarische Pforte. Da sind es jeweils Berge, die es eng werden lassen, und Flüsse, die die Enge in ihrem Nicht-allzu-eng geschaffen haben und zur Freiheit nutzen. Diese Pforten sind offen und bleiben offen, wenn nichts Außerordentliches geschieht. Die Antwort ist damit erbracht. Der Himmel, wie ihn die Landschaft braucht, gehört zur Erde. Wird er in verborgener Poesie absolut gesetzt, dann ist es am Homo poeticus in der speziellen Art des Homo religiosus, seinen irdischen Heimgang für einen Heimgang in den Himmel zu nehmen: ihn so zu glauben, zu erhoffen, ja seiner praktisch gewiss zu sein. Der Homo religiosus ist darum aber nicht davon auszunehmen, wenn es abschließend in erhellender und nicht entzaubernder Deutung von Landschaft heißt, dass ihr Anblick dem Homo poeticus zeitlebens immer neu die Möglichkeit gibt, sich zur Erde als dem Leben spendenden, unterhaltenden und wieder bergenden Ort, kurz: als des Lebens Sinn zu bekennen.
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Endlichkeit, Unendlichkeit und die Frage nach dem menschlichen Maß des Lebens
1.
Lob der Endlichkeit: Wir brauchen den Tod
Endlichkeit macht das Leben übersichtlich. Wir sehen bis zum Horizont – vom Gesichtspunkt des Lebens aus niemals weiter. Wo sich Erde und Himmel im letzten treffen und trennen, spricht unüberhörbar das ›Aus Erde bist du, zu Erde wirst du‹ der Genesis. Der Himmel gehört zeitlebens zur Sicht der Erde, aber niemand von uns wohnt in ihm. Der Tod hält das Leben in Spannung. Ohne ihn wäre es langweilig im wahrsten Sinne des Wortes. Bedient sich freilich der Tod, um einzutreten, scheußlichen Elends und schierer Unerträglichkeit, so schadet das seinem Renommee nachhaltig. Man bekommt Angst vor ihm und merkt nicht darauf, nicht eigentlich vor dem Totsein, seiner unerfahrbaren Dunkelheit und Einsamkeit Angst zu haben, sondern vor den nicht vorhersehbaren Umständen des Sterbens. Doch das sind äußerliche Reden. Endlichkeit und Tod gehören weit inniger zu uns. Vom Leben zu sagen, es sei nur um den Preis des Todes zu haben, reicht nicht. Das könnte noch daran denken lassen, man bezahlte damit zu viel dafür. Nein, das Leben braucht den Tod, um fruchtbar und genießbar zu sein. So gäbe es ohne ihn keine kostbare Zeit. Alles ließe sich vertagen. Nichts hätte seinen Kairos. Seit alters poetisiert der Mensch sein Leben als Geschick, zumeist als übles. Doch selbst Pandora, wörtlich: die Allbeschenkte, weil alle Gottheiten etwas zu ihrer Wesensbildung beigesteuert haben, ist mit dem, was sie tut, zwar nach Hesiod, nicht aber, wie wir uns selbst verstehen, die Mutter all unseres Übels. Hebt sie nämlich den Deckel ihrer Büchse und lässt alles heraus bis auf die trügerische Hoffnung, dann dient das Bild allein der Deutung des geschichtlichen Menschen. Genau so sind wir: Uns suchen Krankheiten und Schmerzen heim, wir altern und sind des Todes. Was für uns älteste Lebenserfahrung ist, bringt Poesie uns neu als übles Geschick bei. Sie übt, provokativ gesagt, Verrat an uns, indem sie behauptet, es müsste gar nicht so um 205 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
uns stehen. Wir könnten wie Götter im Himmel leben, mühe-, leidund alterslos, an Gelagen uns erfreuend, in Besitz alles Gewussten, und wenn es ans Sterben ginge, würden wir vom Schlaf übermannt. Auch das ist alt: Menschsein als Strafe. Der erste Satz der Negativen Poesie aller Kulturen lautet: Der Mensch ist kein Gott, der dann den Zusatz erhält: Er hätte ihm gleich sein können, wenn er nicht gefehlt hätte. Steht es so, dann bedarf es in der Tat einer neuen Erde, eines neuen Menschen, selbst eines neuen Himmels. Doch bleiben wir beim Alten. Dann sind Geschick und Fehl beiseite zu lassen und von unserem Leben zu sagen, es gebe nichts Beglückenderes und Schwereres.
II.
Wir brauchen einander
Sehen wir uns nur näher unsere Endlichkeit an: Wir leben nicht ewig – Wir sind nicht überall – Wir sind nicht alles – Ich bin nicht jeder – Wir wissen nicht alles – Wir vermögen nicht alles –
Im Sinne der Wir-sind-kein-Gott-Poesie ist das ein gebündelter Strauß von Negativität – ein reines Gegenbild zur Positivität Gottes, in eigener Lesart eine stimmige Selbstauslegung des Menschen: Wir gehören in die Zeit und auf die Erde, vor allem aber verweist uns unsere Endlichkeit aufeinander. Wir brauchen uns, die Erde und die Zeit. Ein entsprechendes Brauchenkönnen wird unsere Lebenskunst bestimmen. Endlichkeit, die uns zum Leben befähigt, ist Halt und Einhalt, ist dabei nie das eine ohne das andere. Sie lässt uns nicht in das Bodenlose eines unendlichen Raumes und einer unendlichen Zeit abstürzen, nicht in einen unendlichen Autismus des Wissens und Könnens, der uns unendlich einsam machte – moi tout seul. Man klagt über die zeitliche Endlichkeit des Lebens, nicht vergleichbar über die räumliche. Dabei wäre als die gravierendste zu nennen, dass ich nicht jeder bin. Wir haben ›andere Götter neben uns‹, nicht verdammenswerterweise, nein, wir brauchen sie. Heißt Endlichkeit Halt und Einhalt, dann ist der Andere die erste Endlichkeit. Urbild: der Säugling an der Mutterbrust, Bild einer vollkommenen Symbiose, und doch zeigt sich gerade in ihm schon die Spur 206 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
der Erfahrung gelegt, selbst nicht jeder und alles zu sein. Das vollkommene Zueinander lebt vom Auseinander. Mutter und Kind brauchen sich. Sie gewähren einander Halt, gebieten einander Einhalt: Ich bin – mein Lebensglück! – nicht jeder. Die Endlichkeit des Selbstseins ist an lebenspraktischer Bedeutung nicht zu übertreffen. Es ist wie ein Wunder: Ein Leben, auf anderes bezogen, findet zu sich selbst. Auge in Auge, Hand in Hand, Lippen an Brust, Mund an Mund – das ist die nächste und doch am weitesten tragende Endlichkeit, in der Leben, gemeinsam und einzeln, sich genießt und für sich fruchtbar wird. Selbsthafte Endlichkeit, die ich zur ersten erkläre, hat die natürlichen Gestaltungen von Jung und Alt, Stark und Schwach, Männlich und Weiblich, Lebendig und Tot. Auch letzteres, ein asymmetrisches Verhältnis, ist zu nennen, da es keine Gegenwart gibt, in die nicht gelebtes Leben, in der Form des abgeschiedenen, in zu lebendes Leben hineinstünde. Der Ursprung des Zeitverstehens liegt in den Erfahrungen des Getrennt- und Zusammenseins, in dieser Rhythmik des Einander, die klug genug ist, die Rhythmik der Zeiten nicht zu missachten, die vorgegeben ist, angefangen mit den Tageszeiten und dem Wechsel von Tag und Nacht, endend bei der Zeit, dass der Eine lebt und der Andere tot ist. Zeit ist eine praktische Größe, wenn Zeit zu haben heißt, füreinander und für sich selbst Zeit zu haben, Zukunft und Vergangenheit zu haben – gemeinsam und für sich. Sich auf Zeit zu verstehen heißt, den Kairos wahrnehmen zu können. Nicht von ungefähr hat die schon erwähnte kostbare Zeit in selbsthafter Endlichkeit ihren Grund. Sie ist es, die zeitlicher Endlichkeit erst ihr Gewicht gibt. Endlichkeit, sprich Tödlichkeit, betrifft allem zuvor das Einander. Den Tod für den Intimus zu nehmen, der er einem selbst ist, wäre ohne Umgang mit dem zeit-endlich Anderen nicht möglich. Die Sorge um die Tödlichkeit des Anderen – der Mutter um die ihres Kindes, des Freundes um die seines Freundes – geht der Eigensorge vorher, ja gibt erst den Anstoß, sich selbst als einer zu wissen, der des Todes ist. Die Spiegelung der Selbste im Einander ist für den wachen Blick nie weniger eine der Tödlichkeit als der Lebendigkeit. Endlichkeit lässt sich nicht kompensieren. Viele Freunde, viele Kinder, nein, Endlichkeit ist nicht dadurch überwindbar, dass man weitere Endlichkeiten an die eigene anstückte. Mit einer Anleihe bei den Sprüchen des Alten Testaments ist sie das Herzstück des Lebens zu nennen: Aus ihr geht es hervor. Im Teilen von Tisch und Bett, Wort und Blick, Erinnerung und Hoffnung bewährt sich Endlichkeit als Quell des Lebens. 207 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
Was soll, wird man sich fragen, nach so viel Lob der Endlichkeit noch für die Unendlichkeit übrigbleiben. In der Tat, ihre Thematisierung wird schwierig, wenn doch mit ihr die Parole der Ungreifbarkeit und Unabsehbarkeit ausgegeben ist. Das erste Kapitel von Baudelaires Le poëme du haschisch ist überschrieben »Le gout de l’infini« (Der Geschmack des Unendlichen). 1 Unendlichkeit als Inbegriff krankhaften Verlangens, der Sehn-Sucht im wahrsten Sinne des Wortes. Da treibt es keinen in ferne Länder oder gar nach Hause zurück. Das Hier und Jetzt will er sprengen, als könnte er bedingungslos existieren. Wen dies Verlangen erfasst, will nicht mehr er selbst sein. Unendlichkeit verspricht so die Selbstauflösung des Lebens: Ich werde alles, ich werde Gott. »Welch entsetzliche Vermählung des Menschen mit sich selbst!«, entfährt es Baudelaire. Unendlichkeit – das bedeutet für den irdischen Standpunkt die Sprengung des Horizonts: Erde und Himmel berühren nicht mehr einander. Der Himmel wird alles und der Blick verliert sich in unabsehbare Bläue. Unendlichkeit wird als Fähigkeit erfahren, die eigene Endlichkeit zu schauen, als methodisch freigesetzte Halt- und Einhaltlosigkeit. Unendlich, im Griechischen wörtlich: grenzenlos, sind bei Homer und Hesiod sowohl Erde als auch Meer. Beides zeigt sich als unabsehbar. Der Horizont verspricht kein Ende, sondern neue Horizonte gleicher Art. Freilich haben, anders als Philosophen und Theologen, Dichter gewusst, dass kein Wort absolut beim Wort zu nehmen ist. Sie halten es mit dem Verständlichen, nicht mit dem Absoluten. Versinkt Odysseus in einen »nicht aufweckbaren« Schlaf, 2 dann wacht er naturgemäß beizeiten wieder auf. Dem Unendlichen ergeht es nicht besser: »Und Gott goss unendlichen Schlaf auf mich herab« 3, einen so ›süßen‹, dass er den Helden erst am nächsten Abend wieder verließ. Der unendliche Hellespont hat seine Grenzen, der unendliche Schlaf. Das ist die Sprache der Erde: unendlich als Emphatikon, das heißt als die Verstehensanweisung, sich ein Endliches von geradezu ungeheurer Art vorzustellen. Meint man aber ›wirklich‹ Unendliches, dann halte man sich nur an parallele Geraden, die sich im Unendlichen schneiden. Mathematica docet: Unendliche Parallelen wären keine Parallelen. Damit ist der Gedanke des Unendlichen nicht etwa schlechthin abgewiesen. Wie transfinite Mathematik eine geistige Herausforderung 1 2 3
Baudelaire, C., Le poëme du haschisch, 347–387. Homer, Odyssee 13, 75 ff. Homer, Odyssee 7, 286.
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Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
bleibt (man denke nur an die Erwägung einer unendlichen Anzahl von Primzahlpaaren), so kann das Unendliche, das im Prinzip jedes Verstehen übersteigt, doch auch zu einem Verstehen anleiten. Ein Pianist, der gut über Musik zu reden versteht, schreibt: »[Das Publikum] weiß, dass die Musik nicht das ist, was es hört, sondern ein Punkt im Unendlichen, den der Interpret zu erreichen versucht.« 4
III. An Gott sein Maß nehmen Endlichkeit, Unendlichkeit – nun kommt es zum eigentlichen Thema, dem sich dieser Beitrag stellt: zum Maß des menschlichen Lebens. Es wurde hier, wie Gourmets es mit dem besten Stück auf dem Teller machen, für zuletzt aufgehoben. Dieses Maß nämlich wird von der Versuchung befreien, im Verhältnis des Endlichen und Unendlichen die Qualitäten Abgemessenheit und Unermesslichkeit gegeneinander auszuspielen, indem es nicht dem Erkennen dient, sondern dem Handeln. Wer hat die Maße der Erde gesetzt, fragt Gott Hiob, 5 und die Frage ist eine Warnung vor menschlicher Anmaßung. Nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge, er ist nicht einmal das Maß seiner selbst, sondern Gott (wie der späte Platon Protagoras korrigiert). 6 Viel spricht für den ersten Satz aller Negativen Poesie 7 ›Der Mensch ist kein Gott‹, wenn der Mensch sich am Absoluten messen soll. Da nämlich muss er einsehen, dass es bei ihm kein unverrückbares Maß gibt, sondern alles in Umstände, Situationen, individuelle Charaktere verspannt ist, wo nur das Mehr oder Weniger zählt, das Größer oder Kleiner, Stärker oder Schwächer, Länger oder Kürzer. Wenn Hufeland in seiner Kunst, das menschliche Leben zu verlängern (Jena 1796) von einem Alter von 200 Jahren für den Menschen meint, dass es »gar nicht unter die Unmöglichkeiten gehört« 8 und damit als angemessene Möglichkeit in Anschlag bringt, hat er schon eine absolute, sofern maximale und optimale Größe im Sinn, da er ja, wie er Rosen, C., Lampenfieber, 99. Hiob 38,5: tis etheto ta metra autês (The old Testament in Greek according to the Septuagint, Bd. 2, hg. von H. B. Swete, Cambridge 1922, 591). 6 Platon, Nomoi IV 716e. Vgl. Platon, Theaitetos 152a; Kratylos 386a. 7 Zur Einführung des Begriffs siehe Marten, R., Die Möglichkeit des Unmöglichen, 39 u. ö. 8 Hufeland, C. W., Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, 101. 4 5
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Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
deutlich macht, eigentlich überhaupt nicht aus dem Leben scheiden möchte. Nein, da ist es schon besser, am Absoluten Maß zu nehmen, um sich klarzumachen, dass menschliches Leben nichtig ist: Es ist nicht ewig und damit nichts. Von jüdischer und griechischer Poesie bis zu Pascal und Camus reicht das Verständnis, dass zeitliches Leben nicht eigentlich Leben ist. Gemessen an göttlicher Allmacht ist der Mensch nur ohnmächtig, gemessen an Gottes Wissen nur unwissend. Die Maßlosigkeit des Absoluten schlägt auf das Relative zurück. Misst sich der Mensch an Gott, dann wird aus der maßlosen Hoheit Gottes die maßlose Niedrigkeit des Menschen. In allen Aspekten seiner Endlichkeit sieht er sich als Nichts gemessen. Sein Leben, wie lange es auch währt, gilt nun ohne Unterschied als maßlos kurz. Sagt Hiob, der Mensch sei kurzen Lebens, schwinde dahin wie ein Schatten und habe nicht Bestand, 9 so ist kurz als absolutes Prädikat verwandt. Bei der Maßlosigkeit Gottes bleibt dem Menschen in poetischer Konsequenz nichts anderes übrig, als sich selbst mit maßloser Nichtigkeit zu überhäufen. Dem Erdichten menschlichen Maßes gleicht sein Erdenken. Philosophen setzen seit alters auf eine Vernunft, die Papst Benedikt XVI. mit christlicher Religion römisch-katholischen Bekenntnisses aufs engste verknüpft sieht. Zwar sei in Christus der Logos Fleisch geworden, aber eben der Logos, der für Nous steht, sei das philosophische Äquivalent für das religiös gemeinte Göttliche. Erdenkt sich Philosophie den ›angemessenen‹ Menschen, dann ist ihr erstes und letztes Exempel stets der Philosoph: Eigentlich sei der Mensch zum Denken bestimmt, eigentlich sei er Vernunft. Das liest sich nicht immer so mitreißend wie beim jungen Aristoteles (Protreptikos) und so abgeklärt wie beim mittleren Platon (Phaidon). Sich den Leib wegzuwünschen, gehört aber wesentlich zur philosophischen Art, sich um Maximierung und Optimierung einer Möglichkeit des Humanum zu bemühen. Selbst der Schöpfer des Kategorischen Imperativs weiß die erforderliche Achtung der Vernunft nicht ohne »Demüthigung«, das meint »intellectuelle Verachtung« der Sinnlichkeit durchzusetzen. 10 In ihrer Maßlosigkeit zeigt sich Philosophie der Religion ebenbürtig. Freilich geht sie nicht vergleichbar direkt auf ein höchstes, den Menschen absolut überragendes Wesen zu, sondern sieht sich zumeist dann am Ziel, wenn sie das Göttliche im Menschen ortet. Der Ver9 10
Hiob 14,1 f. Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, 75 f.
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Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
nunftteil gilt ihr dann als Maß des ganzen Menschen. Maßloser Leibund Lebensverachtung ist damit Genüge getan. Das Erdenken des Humanum übt sich nicht nur in der erdachten Befreiung vom Leiblich-Sinnlichen, sondern auch, man denke nur an Rousseau, in der von Kultur und Zivilisation. Durch Absonderung aller Kunst und Konvention wird in strikter Naivität ein ursprünglich gemeinter Naturzustand wiederhergestellt: der Mensch ohne alle geschichtsträchtige Verderbnis. Wie aber reine Vernunft keine Lebensform ist, so auch reine Unschuld nicht. Wer sich kein lebensuntaugliches Ideal erdenkt, sondern ein lebendiges Vorbild wählt, muss achtgeben, nicht sogleich wieder auf dem Weg reinen Erdichtens zu sein. Der bloße Akt der Vorbildnahme leitet bereits die Idealisierung ein. Noch ehe christliche Märtyrer, Halbgöttern gleich, für Mittler zum Höchsten genommen wurden, haben antike Helden gezeigt, dass der Unterschied zwischen Realität und Dichtung in lebenspraktischer Sicht fließend ist. Alexander, der Große genannt, hatte sich Achill zum Vorbild genommen, den schönsten und tapfersten jener sagenhaften Krieger vor Troja, Sohn einer Göttin. Dem hatte es jedoch zur Unsterblichkeit nicht gereicht, denn da gab es die berühmte verwundbare Stelle. Das muss Alexander, der immer ›größer‹ wurde und nun auf Proskynese bestand, in den Sinn gekommen sein, als er zum Vorbild Herakles wechselte, der, stärker noch als Achill, es bis in den Olymp schaffte. Nicht nur verdeckte, auch offenkundige Poesie nimmt des lebendigen Menschen Maß am schlechtweg Unmöglichen: an der Unsterblichkeit. Die Frage nach seinem Maß beliebt der Mensch mit unüberbietbarer Maßlosigkeit zu beantworten. Ganz offensichtlich glaubt er, seiner Endlichkeit sei am besten gedient, wenn sie an der Unendlichkeit Maß nimmt. Doch es geht auch anders, im Ernst: es kann nur anders gehen.
IV. Der Mensch würdigt den Menschen Um darauf einzustimmen, dass es sich mit des Menschen Lebensmaß gänzlich anders verhält, sei ein kurzer Umweg gewählt: das Problem der Menschenwürde. Kein Mensch, so sei behauptet, ist an sich würdig. Man meint zwar, sein Vernunftteil verleihe ihm Würde. Doch den gibt es nicht so rein, wie man ihn meint. Zudem bleiben dann die ausgeschlossen, die noch nicht und die nicht mehr über Vernunft verfügen. Dann hätte man sich besser statt der Geistigkeit an seine 211 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
Tödlichkeit gehalten. Janusz Korczaks These, dass jedes Kind Recht auf einen eigenen Tod habe, ist wohl eine wichtige Einsicht in die Belange der Humanität. Würde, so die These, ist praxisdefinit. Werden Jahre der Frau, des Kindes ausgerufen, dann sind das Aufrufe, sie zu würdigen – als Menschen. Würdig ist, wer gewürdigt wird. Menschenwürde anders zu fixieren, ist gut und richtig für Gesetzgebung und Politik, taugt aber nicht philosophisch. Die grundlegende These zur Neubestimmung des Menschenmaßes ist damit entdeckt: Es lässt sich nicht theoretisch fixieren, sondern ist praxisdefinit. Das führt zurück zur gelobten Endlichkeit. Die Urzelle menschlichen Lebensmaßes ist das praktizierte Einander. In ihm treffen sich das eine und andere Selbst, die ihre Identität nicht in Charakter und Person, sondern in der Freiheit finden. Freiheit gibt es nur zu zweit, zu dritt. Ein Handeln ohne Halt und Einhalt könnte nur Willkür sein. Klugheit, die sich nicht mit anderer Klugheit abstimmen kann, taugt nicht zur klugen Klugheit. Freiheit ist eben nicht von Verantwortlichkeit zu trennen. Eine Handlung vor anderen und vor sich verantworten zu können, heißt, zu ihr frei zu sein. Wie sich im Einander das eine und das andere Selbst und die eine und andere Freiheit treffen, wird wechselseitige Verantwortbarkeit unausweichlich. Nun ist allerdings das Leben agonal. Auch ohne dass ihnen eigens ein Siegerwillen einsozialisiert worden wäre, rufen Kinder nach einem Wettlauf bereits im Kindergarten triumphierend: ›Ich bin Erster, ich bin Erster.‹ Leben, das ein Handeln ist, kommt einem fortwährenden Sichmessen gleich. Nicht nur Ausbildung und Beruf sind ein einziger Concours, sondern, sieht und hört man genau hin, überhaupt jede Begegnung, die vom Einen und Anderen verlangt, sich zu inszenieren. Gespräch, Liebe, Spiel – überall stehen der Eine und Andere im Wettbewerb. Konkurrenz, wie wir wissen, ist wirtschaftlich dann erfolgreich, wenn der Eine den Anderen in schöpferischer Zerstörung niederkonkurriert. Ein liberalistisches und neoliberalistisches Sichmessen beruht auf der Idee der Vorteilnahme für sich selbst, die ›befiehlt‹, auf andere und anderes allein insoweit Rücksicht zu nehmen, als es dem eigenen Vorteil dient. Dieses Handeln ist – programmgemäß – durch und durch selbstisch. Das Sichmessen dagegen, das nicht nach kapitalistischer Art maßlos bleibt, sondern aus sich selbst zu menschlichem Maß findet, ist selbsthaft. Anstatt willens und fähig zu sein, sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen, die das eigene ›Selbst‹ opulent werden lassen, das fremde dagegen marginalisieren, gewinnen 212 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
im selbsthaften Sichmessen die beteiligten Selbste durch Wechselseitigkeit ihre Kontur. Wie sie einander beenden und formen, werden sie fruchtbar füreinander. Wer sich Halt gewährt und Einhalt gebietet, indem er sich in Freiheit miteinander misst, wird in jeder der lebensteiligen Formen, in denen es geschieht, dem Humanum Gestalt verleihen. Anstatt dasselbe vertagt zu sehen und seinetwegen auf eine biologische Höherentwicklung des Menschen oder – geistig-geistlich – auf ein eschatologisches Ereignis zu setzen, ist es überall dort in Gegenwart und Alltag wahrzunehmen, wo Lebensteilung für eine Weile gelingt. Endet das reine Behütetsein der frühen Kindheit und geraten Kinder erstmals auf der Straße unter Kinder, kann man beobachten, wie sie sogleich damit beginnen, einander zu vergleichen und zu messen. Damit ist der Weg der Maßfindung beschritten – des Maßes der Güte, nicht der Länge des Lebens.
V.
Gemeinsam Gewissen erwerben
Es scheint verwunderlich zu sein und ist doch genau so zu sehen: Im alltäglichen Einander-Messen beginnt die Gewissensbildung. Wer sich nicht selbstisch und betrügerisch mit anderen vergleicht, sondern im agonalen Einander selbsthaft engagiert ist, so dass es für beide Seiten fruchtbar wird, schafft gemeinsam an dem, was zum Stoff des Gewissens wird. Berufliches, politisches, sportliches, geselliges, liebendes Miteinander – jede Form von Lebensteilung mit ihrem Zug des Agonalen ist eine Form der Maßfindung. Mag sich gemeinsames Gelingen auch noch so gering ausnehmen, so ist doch das Maß, zu dem praktizierte Endlichkeit dabei jeweils findet, akkurat das, was den großen Namen des Humanum verdient. Dieser Name ist schon deswegen zu Recht gegeben, weil mit jedem Moment lebensteiligen Gelingens neu der Grund menschlicher Gewissensfähigkeit gelegt ist. Wenn ich die Gewissenstheorie in einen Satz fassen darf: Gewissen, wie es dem Einzelnen praktisch eignet, ist sedimentierte Mitwisserschaft lebensteiligen Gelingens. Was anderes sollte auch die Maßgabe des Handelns sein, als bereits Gelungenes unter neuen Bedingungen zu wiederholen? Das Humanum als das in praxi gefundene und immer neu zu findende Maß des Menschen ist nicht zuletzt Sache des praktischen Gedächtnisses, aus dem das Handeln seine Rechtfertigungsgründe bezieht. Gewinnt nun je eigene Selbsthaftigkeit im 213 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
lebensteiligen Einander-Messen Kontur und Profil, dann gewinnt das Selbst nicht zuletzt in Anbetracht seines Gedächtnisses an Form. Ein Selbstbild formt sich, das in die Vergangenheit reicht und sich zugleich nach dem neu zu lebenden Leben hin orientiert. Da die Formierung, ja Generierung des Selbst im Sichmessen geschieht, gibt es kein Selbstbild ohne andere Selbste. Als individualistische Selbstspiegelung ist es nie gegeben. Die Züge, die maßgeblich in ihm hervortreten, sind nicht die eines Ich-selbst, auch nicht die eines Wir-selbst, sondern die des gelingenden Einander. Die selbsthafte Endlichkeit ist es, die mit wechselseitiger Generierung und Formierung des einen und anderen Selbst und seines Bildes, wie es dem einen und anderen präsent ist, zum Ort der Gewissensbildung wird. Das Lob der Endlichkeit wird dadurch noch einmal überholt: Sie ist der Ort menschlicher Maßfindung, weil sie Maßgebung ist, kurz: des menschlichen Maßes und damit Ort des Humanum. Wie Heraklit von der Sonne sagt, sie sei jeden Tag neu, so ist auch das Maß menschlichen Lebens jeden Tag neu. Das verhält sich aber unausweichlich so, weil es sich dabei um praktische Größen handelt, die jeden Tag im Verkehr des Menschen untereinander neu zu ermessen sind, und, lebensteiliges Gelingen vorausgesetzt, auch tatsächlich neu ermessen werden. Das meint natürlich nicht, dass sich des Menschen Maß unter Menschen mit jedem Tag ändere, so dass es völlig unzuverlässig und unberechenbar wäre. Heraklits Sonne ist mit jedem neuen Tag eine minimal andere: Sie hat einen um einen Tag veränderten Tagesstand und scheint auf um einen Tag älter Gewordenes. Nicht anders verhält es sich mit der Praxis des Gelingens und der Mitwisserschaft: Die Veränderung vom einen zum andern Mal ist in der Regel gering und kaum merklich. Es liegt am Leben, dass das Humanum nicht als Lebloses zu fixieren ist. Praktische Situationen mögen vergleichbar sein, sobald sie aber nach dem Gewissen fragen, sind sie jeweils etwas Neues und Singuläres.
VI. In das Leben hineinkommen – aus dem Leben herauskommen Nun wartet auf nicht wenige von uns eine Zeit, da die Sonne nicht mehr so recht neu werden will mit dem neuen Tag. Noch sind wir nicht aus dem Leben, wohl aber aus dem Agon gerissen: Wir messen uns nicht mehr mit anderen, können es nicht mehr. Schlimmer noch: 214 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
Wir können uns geistig wie körperlich nicht mehr aufrecht halten. Hinfälligkeit und heilloses Siechtum regieren. Das verbliebene Leben ist nicht mehr auszuhalten. Das reine Erbarmen ist angezeigt. 11 Wer nicht an den Tod als Strafe glaubt, ein schweres Sterben wäre in diesem Falle als Strafanteil wohl mitzuglauben, wer nicht Paulinisch das Leben zumindest auch als Thlipsis begreift, als Bedrückung, die gerade recht ist, um sich in die Nachfolge Christi zu schicken, der ist frei, sein Gewissen zu befragen, und damit frei für das Humanum des Todes. Da sich sein Gewissen lebensteilig gebildet hat, weiß er, dass die Nächsten offen oder insgeheim sein Gespräch mit dem Gewissen teilen. Es ist ja ebenso wenig ein universelles wie ein absolut individuelles, wohl aber eines, das sich unzählig vielen, mit anderen gelebten praktischen Situationen verdankt. Das Gewissen kennt keine Prinzipien und keine Gebote; erkennt keine an. Es ist autonom, genauer: lebensautonom. Darum ist jeder Gedanke, mit eigener und fremder Hilfe aus dem Leben zu scheiden, den das Gewissen erwägt, vorweg legitim. Ist der, der das Leben nicht mehr aushält und den es nichts anderes mehr spüren lässt als seine Unerträglichkeit, nicht mehr fähig, in eigener Lebens- und Sterbenssache seinen Willen kundzutun, dann sind die Nächsten, die sein Gewissen teilen, berechtigt, die anstehende Entscheidung zu fällen. Der Ansicht, dass unbedingt der Leidende selbst in seiner causa zu hören sei und ohne ihn ja nichts geschehen dürfe, liegt ein zu eigenen Zwecken instrumentalisierter Solipsismus zu Grunde. Auch die radikale ›Jemeinigkeit‹ des Todes ist Ideologie. Wer stirbt, stirbt jemandem. Der Tod eines Menschen, der eigene und der eines anderen, ist in jedem Falle eine lebensteilige und soziale Angelegenheit. Ist die Bitte, vom Tode erlöst zu werden, recht verstanden, eine zuhöchst spirituelle, denn wie soll das mit rechten Dingen zugehen – ein Leben ohne Tod?, so ist die Bitte, vom Leben erlöst zu werden, in der Regel eine geradezu leibhaftige. Es ist die Bitte um den Tod – der Tod selbst als Heiland und Erlöser verstanden. Man lese im Alten Testament nur Jesus Sirach, um sich daran erinnern zu lassen, wie reich da das Wissen um den Tod als Erlöser zu Wort kommt. Nun ist, was die Geburt anbelangt, der Kaiserschnitt in Mode Als ich einen meiner liebsten Universitätslehrer ein letztes Mal sah und fragte, wie es ihm ginge, antwortete der christliche Mann: »Herr Marten, es geht mir ganz hundssaumiserabel.« Vierzehn Tage später hörte ich, er sei gestorben. Er war zu seinem Schwiegersohn gefahren, einem Arzt.
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Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
gekommen, damit die Frau die ihr von Gott zugedachten Gebärschmerzen umgehe. Nachdem der Mann die ihm zugedachten Mühen auf dem Acker schon längst hinter sich gelassen hat, stellt sich bei zunehmendem Älterwerden von Frau und Mann immer drängender die Frage, ob nach der Erleichterung der eishodos (Eingang) ins Leben nicht auch die exhodos (Ausgang) aus ihm um den Anschein des Durch-ihn-bestraft-Seins zu bringen ist. Der Kaiserschnitt für das Aus-dem-Leben-heraus ist gefragt, der Kaiserschnitt für das Jenseits.
VII. Der Tod wird zum Feld der Poesie Mit diesen praktischen Erwägungen ist der Tod ›selbst‹, auf den sich der Beitrag eigentlich zentriert, etwas ins Abseits geraten. Endlichkeit – sie wurde am gelingenden Einander demonstriert, daran, wie wir einander Halt und Einhalt sind. Doch dazu taugt ja auch, wenn nicht noch mehr, vorzüglich der Tod, weswegen man ihn den ›anderen Anderen‹ nennen könnte. Als das dem Leben Gewisseste gewährt er dem Leben den sichersten Halt. Keine kopernikanische Wende lässt uns in Abgründe stürzen. Auf den Tod ist Verlass. Doch mit seinem Eintreten, so müssen wir es uns denken, endet alle Endlichkeit: Kein Einander hält uns mehr und eben auch kein Tod. Der hält nur den Lebenden, nicht den Toten. Was das Gewisseste war, ist zum Ungewissesten geworden, nicht die von Heidegger groß geredete Ungewissheit seines Wann ist gemeint, die wir nie anders als ein Gnadengeschick erfahren, sondern die gänzlich unausdenkbare Ungewissheit des ›Was dann?‹. Ist mit dem Eintreten des Todes für den soeben noch von ihm Gehaltenen kein Halten mehr, dann haben wir ihn uns wohl als der Unendlichkeit übereignet zu denken. Nun ist, umgekehrt als es der unselige Dreizeiler eines Herrn von Zedlitz (1790–1862) will, den man neuerdings in Todesanzeigen immer häufiger Kant zuschreibt: Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, ist ja nicht tot, er ist nur fern, tot ist nur wer vergessen wird –
ein Mensch nur solange tot, als an ihn gedacht wird. Um tot zu sein, muss er jemandem tot sein. Weil er das für sich selbst nicht kann, müssen es andere für ihn tun. Der Tod ist so ein Tor zum Vergessen und Vergessenwerden, zum endgültigen:
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Endlichkeit, Unendlichkeit und das menschliche Maß des Lebens
Wenn der Wind darüber geht, so ist sie ›die Blume‹ nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. 12
Doch ›zunächst‹, für den Lebenden, ist der Tod nicht das Tor zur Lêthê, sondern zur Poesie. Keine Leinwand ist unbefleckter, kein Kompositionspapier klangloser und kein Konzeptpapier sprachloser als das, was sich mit dem Tode für das Dichten und Denken eines Lebenden auftut.
Literaturhinweise Altes Testament, gr. (Septuaginta), 3 Bde., hg. von H. B. Swete, Cambridge 1925, 1922, 1912. Baudelaire, C.: Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Paris 1961. Ders.: Le poëme du haschisch, in: ders., Œuvres complètes, hg. von Claude Pichois, Paris 1961, 347–387. Homer: Odyssee, gr., hg. von Thomas W. Allen, 2 Bde., Oxford 1954, 1951, dt., übersetzt von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg 1958. Hufeland, C. W.: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Makrobiotik, hg. von K. E. Rothschuh, Stuttgart 1975. Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie Textausgabe Bd. 5, Berlin 1968. Marten, R.: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion, Freiburg 2005. Platon: Platonis opera, hg. von Ioannes Burnet, Oxford 1964. Rosen, C.: Lampenfieber, in: Lettre 79 (Winter 2007), 99.
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Psalm 103,16.
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Wahre Hoffnungen? Eine Frage an Hermeneutik und Religion
Wir seien das ganze Leben immer voller Hoffnungen, hält Platons Sokrates im Philebos als Tatsache fest. 1 Das ist wohl wahr. Sind aber diese mancherlei Hoffnungen, ob konkret oder vage, mit Herzblut versehen oder nebenbei geäußert, nicht alle nur Spielarten, ja Zuträger der einen, die das Leben eines jeden von uns bewegt: der Hoffnung des Lebens? Gibt es mehr als diese Hoffnung, kann es überhaupt eine andere geben, die wirklich für uns zählt? Der Lebendige will lebendig sein. Leben will leben. Ausnahmen sind bekannt. Spräche aus Leben nicht selbst die Hoffnung des Lebens, so bliebe das Leben stumm, verstünde es sich selbst nicht. Es wird Ihnen nur recht sein, wenn ich das Buch Genesis zum Beispiel nehme. Diese bildreiche Selbstauslegung menschlicher Lebensteilung als Teilung von Geschlechtlichkeit und Arbeit markiert mit der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies als dem Aufbruch in sein Eigenes den Ursprung des Hoffens. Mit der Eigenverantwortung des Lebens hat die Hoffnung des Lebens ihren Einzug gehalten. In der mythologisierenden Verständigung über sich selbst beginnt die Wahrheit über den Menschen, die er selbst verantwortet. Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben. Der Schöpfungsbericht lässt daran keinen Zweifel. Diese Vertreibung ist ein autonomes, religiöser Poesie zu verdankendes Faktum. Gehen nun aber, wie der Mensch sich die Erkenntnis seiner ebenso trennenden wie vereinigenden Geschlechtlichkeit poetisch aneignet, Urmann und Urfrau der paradiesischen Welt verlustig, weil sie vom Baum der Erkenntnis aßen? Nein, das war nur der Anlass. Der wahre Grund dafür ist die Sorge, sie könnten ein zweites Mal Verbotenes tun und auch noch vom Baum des Lebens essen. Dann nämlich wären sie »wie wir« 2: wären sie Götter und hätten am ewigen Leben teil. Das ist an
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Platon, Philebos 39e 5. Gen 3,22.
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Wahre Hoffnungen?
Dramatik nicht zu überbieten: Des Menschen Selbstauslegung ist beherrscht vom Nicht ewigen Lebens. Seine erste Antwort auf »Was bin ich?« heißt »Kein Gott!«. Die Selbstpoetisierung des Menschen, folgt man ihrer Dramaturgie, könnte wahrer nicht sein: Er lebt, aber er lebt nicht ewig. Die Flamme des zuckenden Schwerts hält ihn für immer davon ab, eine Frucht zu genießen, wodurch jedes Nein, Nicht und Niemals für ihn getilgt wäre. Er wird durch das, was ihm versagt ist, nicht verflucht. Das werden von Gott nur Schlange und Acker, die auch er selbst verflucht. Aber schwer gemacht wird ihm das in Eigenverantwortung gelebte Leben: der Frau das Gebären, dem Mann die Arbeit. Zeitliches Leben ist schwer, ewiges ohne Mühe. Das ist, unausgesprochen, die Geburt des Prinzips Hoffnung. Leben ist das Stichwort der Genesis, das bedeutsamer und zweideutiger nicht sein könnte, um den sich selbst Deutenden für immer in der Spannung zu halten, er selbst und doch nicht er selbst zu sein. Ab sofort lernt er, sich auf die Hoffnung zu verstehen, genau dann er selbst zu sein, wenn er nicht mehr er selbst, nämlich nicht mehr von der Schwere des Lebens gezeichnet ist. Der lebendige Mensch lebt, ja, er lebt, wie es uns unser Realitätssinn sagt, wirklich, und das meint, wie wir es selbst erfahren, leibhaftig: das Verhältnis zum eigenen Leib als Konstitutivum des Verhältnisses zu sich selbst. Wer sich jedoch durch die Genesis aufgeklärt sieht, weiß, dass er nicht das Leben lebt, das religiöser Poesie vorschwebt. Er weiß sich auf die Erde zurückverwiesen, um sich auf ihr zu mehren und sie zu bebauen, vor allem aber, um ihr, weil aus ihr genommen, wieder zurückgegeben zu werden: dust to dust. Poetisiertes schwereloses Leben vermag der Mensch allein als Hoffnung zu leben. Es ist das Leben, das den Tod nicht kennt und jeder Lebenserfahrung widerspricht. Ewiges Leben – das ist für den bon sens des Lebenskundigen eine exzellente contradictio in adiecto. Im Begriff des Lebens unterscheiden sich die Geister: die gläubigen und die, die von keinem Glauben, die hoffnungsvollen und die, die von keiner mit Glauben verbundenen Hoffnung Gebrauch machen. Für den, der mit dem Hoffnungsglauben lebt, wie ihn das Neue Testament zeichnet, gibt es das, wie Bultmann unter Heideggers Einfluss sagt, eigentliche Leben zu verstehen, die eigentliche ζωή: die göttliche und unzerstörbare. Der zwischen das »eigentliche« und das »uneigentliche« getriebene Keil trennt das gegenwärtig gelebte und das in einer nicht-zeitlichen Zukunft zu lebende. Urplötzlich macht der
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Wahre Hoffnungen?
Glaube aus Leben, das so gar nicht das des Menschen ist, ein Gut der Hoffnung. 3 Sie hören schon Paulus mit seiner Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt, 4 die sich geduldet, 5 die nur darum nicht bloße Hoffnung ist, weil sie die des Glaubens ist. Ohne sie wäre der Glaube tot. 6 Wankt der Glaube nicht, so birgt die Hoffnung ein Wissen. 7 Wir, wir Gläubigen, wissen (οἴδαμεν), dass wir nach diesem Leben ganz anders wohnen werden – in einem ewigen Haus in den Himmeln. Der Begriff des Lebens, in widersprüchliche Spannung versetzt, ist eine Fundgrube für das Verständnis von Hoffnung. Anstatt nur zu erkennen, dass sie auf Gedeih und Verderb mit dem Glauben verbunden ist, entdeckt sie auch den Grund, warum und wozu Menschen dazu gebracht werden, überhaupt zu hoffen. Paulus übernimmt es, für eine bis jetzt zweitausendjährige Glaubensgeschichte zur grundlegenden weltlichen Motivation der Glaubenshoffnung die ϑλίψις zu machen: das gegenwärtige Leben als ein in Bedrängnis, Bedrückung und Angst gelebtes. Gehad Mazarweh, ein palästinensischer Psychoanalytiker, antwortet auf die Interviewfrage der »Badischen Zeitung«, ob der Zorn über die dänischen Karikaturen 8 spontan oder gesteuert sei: »Beides. Die Masse der einfachen Menschen in arabischen Län3 R. Bultmann, Art. ἐλπίς, ἐλπίζω, in: G. Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 2, Stuttgart 1935, unveränderter Nachdruck 1954, S. 515–520; 525–530. 4 Röm 5,5. 5 Röm 8,25. 6 1 Kor 15,19 f. 7 2 Kor 5,1. 8 Ein Zeichner stellte am 30. September 2005 in der dänischen Zeitung »JyllandsPosten« den Propheten Mohammed als grimmige Gestalt mit einem Turban in Form einer Bombe mit brennender Zündschnur dar. Auf der Bombe war das islamische Glaubensbekenntnis zu lesen. Das Blatt gab an, die Meinungsäußerungsfreiheit testen zu wollen. Muslimische Länder haben auf diplomatischem Weg und durch Sanktionen reagiert. Vier Monate nach der Veröffentlichung der Karikaturen kam es zu zum Teil gewalttätigen Protesten in diesen Ländern. Am 25. Oktober 2006 hat das Stadtgericht von Arhus die Verantwortlichen der Zeitung »Jyllands-Posten« wegen der Publikation der insgesamt zwölf Mohammed-Zeichnungen freigesprochen. Das Gericht sah es nicht als erwiesen an, dass die Karikaturen und deren Begleitartikel die Kläger auf irgendeine Weise beleidigt hätten. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass sich einzelne Personen durch die Karikaturen gekränkt fühlten, aber dies bedeute nicht, dass die Zeichnungen kränkend seien oder die Absicht hatten, Muslime herabzusetzen (vgl. Neue Zürcher Zeitung, 20. 2. 2006, Nr. 42, S. 2; 27. 10. 2006, Nr. 250, S. 5).
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Wahre Hoffnungen?
dern ist so verelendet und entrechtet, dass das Einzige, was ihnen bleibt, der Glaube ist, an den sie sich klammern. Wenn man das Letzte, was man hat, bedroht sieht, reagieren Menschen sehr heftig.« 9 Reagiert Paulus vielleicht auch »sehr heftig«, wenn er, aufs Ganze gesehen, doch nur argumentiert: Gäbe es diesen Glauben und diese Hoffnung nicht, wäre das Leben nicht wert, gelebt zu werden. Wie aber keine Notwendigkeit besteht, dass es im Leben gerecht zugeht, so muss es auch nicht unbedingt als lebenswert erfahren werden. Die Frage stellt sich, ob Glaube und mit ihm Hoffnung ihren Grund in der Schwere des Lebens haben, so dass von der »Geburt der Poesie himmlischen Lebens aus der Unerträglichkeit der Fakten irdischen Lebens« zu reden wäre. Die nicht nur für die Politik, sondern auch für den Glauben auf Dauer bedeutsame Spaltung in Arm und Reich gibt Gelegenheit, dieser Frage nachzugehen. Menschen, wie sie sich gesellschaftlich einander überantworten, auch ausliefern, sind in praxi nicht gleich. Wären sie es, so könnten sie es mit der Beantwortung der Frage, die sie durch und für ihr Leben sich selbst sind, ganz allgemein und dabei »dialektisch« halten: In dem Wissen, dass ihr Leben mit dem Tod »beantwortet« wird, steckt auch schon das Wissen, dass die »Antwort« auf die Tödlichkeit des Lebens nur das Leben selbst sein kann – es bewusst miteinander leben zu wollen. Beides hat seinen Kairos. Trägt diese Dialektik, dann haben die ihr Leben Teilenden eingewilligt, dass die Kairoi einander bedingen: Das Leben braucht nicht weniger den Tod als der Tod das Leben. Nun sind aber Menschen, wie sie gesellschaftlich mit einander zu tun haben und voneinander abhängen, nicht gleich. De facto herrscht unter ihnen nicht zuletzt das Oben und Unten, das Reich und Arm. Das lässt das Verhalten zum Leben und selbst das zum Tod grundverschieden sein. Was den einen ihre Angst, ist den anderen ihre Hoffnung. Die sich ängstigen, klammern sich an die Gegenwart, die hoffen, setzen dagegen auf Zukunft. Angst ist die affektive Grundhaltung des Reichen, Hoffnung die des Armen. Ist für Wohlhabende und Mächtige Zukunft das Wort der Angst, dann für Entrechtete und Elende das Wort der Hoffnung. Die einen ängstigen sich, dass die Zeiten sich ändern, denn das wäre zum Schlechten; die anderen dagegen hoffen, dass sie sich ändern, denn das wäre zum Guten. Der Reiche braucht eigentlich keine Hoffnung. Ihm genügt das ängstliche Bewahren und die Angst, die sich im Nie9
Badische Zeitung, 18. Februar 2006, S. 13.
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Wahre Hoffnungen?
genug-Haben spiegelt. Seine Ängste sind ganz konkret. Damit kann die Hoffnung des Armen nicht aufwarten, zumindest nicht ohne weiteres. Für ihn gibt es ja eigentlich nichts zu hoffen. Menschenalt und menschenweit sind politische und ökonomische Verhältnisse so angelegt, dass es bei struktureller Armut bleibt. Nun verbindet christliche Religion jedoch den Hunger des Armen nach Bäckerbrot sogleich mit dem nach himmlisch Manna und Engelsbrot, 10 die am Leib zu spürende Armut mit der geistlichen. 11 Das soll und kann zur Hoffnung des Armen werden, die ihn auf ein ganz anderes Leben hoffen lässt, ein Leben, das nicht nur ohne Armut und Ungerechtigkeit, sondern auch ohne Tod ist. Genau das sei in der Form der Glaube Abrahams gewesen, »der gegen Hoffnung auf Hoffnung hin glaubte«. 12 Wer gläubig hofft und sich selbst ganz der Hoffnung anvertraut, hat sich von jeder rational begründeten Hoffnung abgewandt, zugleich von jeder auf das »Fleisch« zielenden, weil diese gottlos motiviert sind. Das dem Gläubigen zugesagte eigentliche Leben verlangt, dass er im uneigentlichen mit aller Macht gegen das Fleisch agiert. Ziel ist die Abtötung der Fleischlichkeit und Geschlechtlichkeit und überhaupt die des auf Erden gelebten Lebens, das nur seine Trübsal adelt. Wäre zum Beispiel eines Kranken große Hoffnung die Wiedergenesung, dann verfehlte er die Hoffnung des Gläubigen um eine ganze Welt. Paulinische Hoffnung ist ganz und gar pneumatisch, was besagt, dass sie – geglaubterweise – ganz in Gottes Macht steht. Sie wissen das alles besser als ich: Hoffnung, die über alles Hoffen des gelebten Lebens hinausgeht, ja im Widerspruch zu allem steht, was sich in ihm und für es erhoffen lässt, kann nur eschatologisch gemeint sein. Hoffnung, die als Erfüllung das Bild eines »von Angesicht zu Angesicht« mit dem, der nicht nur ewig lebt, sondern aus dem auch alles Leben hervorgeht, entwirft, hat kein zeitliches Futur. Freilich: Im lebendigen Glauben beginnt diese Hoffnung bereits zu wirken, entfaltet sie lebenspraktisch relevante Kräfte, stärkt sie den Glauben nicht weniger als sie der Glaube stärkt. Doch jetzt kommen wir endlich zu unserem Thema: Ist diese Hoffnung denn auch eine wahre? Versteht sie sich etwa wegen ihres einzigartigen Anspruchs als die einzigartig wahre? Steht, wie es Hebräer 11,1 ver-
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Ps 78,24 f.; Joh 6,31–33. Mt 5,3. Röm 4,18: »ὅς παρ’ ἐλπίδα ἐπ’ ἐλπίδι ἐπίστευσεν«.
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Wahre Hoffnungen?
spricht, christlicher Glaube tatsächlich für die Wirklichkeit des christlich Erhofften? 13 Um die Wahrheitsfrage auf den Weg zu bringen, wähle ich, sicher etwas überraschend, Heideggers Sein und Zeit. In dieser 1927 veröffentlichten Arbeit ist der Hoffnung eine dreiviertel Seite gewidmet. Sie wird dort, in Abhebung gegen Furcht und Bangigkeit, als eine der erhebenden und erheiternden Stimmungen angeführt. Lesen wir dann aber, wie diese Stimmung den Gestimmten nicht von sich selbst abschweifen, sondern auf sich selbst Bezug nehmen lässt (Hoffen sei ein Für-sich-Erhoffen), wird sie zu einer Sache des eigenen Seins: »Der Hoffende nimmt sich gleichsam mit in die Hoffnung hinein und bringt sich dem Erhofften entgegen.« 14 In dieser phänomenologisch gemeinten Deutung scheint unversehens eine Wahrheitsmöglichkeit auf: »dem Erhofften entgegen«. Falls nicht Annäherung statthat, so stimmt jedenfalls die Ausrichtung: Hoffen als Bezugaufnahme zum Erhofften. Es gibt das Erhoffte, auch wenn es nicht gegenwärtig und sichtbar ist. Seine Gegebenheitsweise ist die eines künftigen Ereignisses, das als erhofftes an gegenwärtiges Hoffen gebunden ist. Der Hoffende, der Bezug zu ihm aufnimmt, und zwar kraft eigener Zukunftsfähigkeit und der Fähigkeit, dem Gegenwärtigen etwas genau entgegenzusetzen, hat selbst für den truth-maker einzustehen. Das heißt freilich nicht, dass wir mit dem selbsthaften Bezug des Hoffenden zum Erhofften auf eine epistemische Wahrheitsmöglichkeit gestoßen wären. Schon gar nicht ist dabei an Seherkunst zu denken, die bei Aristoteles Hoffnungswissenschaft heißt. 15 Heideggers Dasein betreibt mit seinem erhebenden Hoffen keine Mantik. Wie aber rechtfertigt sich dann ein »dem Erhofften entgegen«? Wie kann der Hoffende sicher sein, »richtig« Stellung zu beziehen und sich keiner Fata Morgana und keinem Hirngespinst zuzuwenden? Heideggers Antwort darauf zeigt sich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Wort »Last« im letzten Satz des der Hoffnung gewidmeten Absatzes richten. Spricht Heidegger 1922 noch vom Le13 Vgl. H. Köster, Art. ὑπόστασις, in: G. Friedrich (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 8, Stuttgart 1969, S. 586. Nach dem Johannesevangelium ist das Gottesreich für den Gläubigen schon (ἤδη) wirklich, ist das ewige Leben verbindlich zugesagt (3,18.36; 5,24; 11,25 f.). 14 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001, S. 345. 15 Vgl. Aristoteles, De Memoria 1 449b 12: »ἐπιστήμη ἐλπιστική«. Gemeint ist Divination als Erwartungswissenschaft.
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ben, dass es seinem Wesen nach schwer 16, dann in Sein und Zeit vom Dasein, dass es seinem Wesen nach eine Last sei. Hoffen, wie es aus seinem Geworden- 17, ja Geworfensein im Hoffenden selbst entspringt, sei auf Last bezogen. Hoffen ist kein Einfall des Daseins, sondern gründet, wie Heidegger es nennt, in seinem Wie: im Dasein als Last. Die Wahrheit der Hoffnung ist somit eine Frage der Spannung zwischen der durch seinen Ursprung geprägten Wesenhaftigkeit des Daseins und seiner durch sie bedingten Ausrichtung auf das wesenhaft Künftige. Die Hoffnung ist wahr, die, ich gebrauche Heideggers stärkstes Emphatikon, die eigentliche Herkunft und die eigentliche Zukunft des Daseins verbinden. Nun ist aber der Lastcharakter des Daseins dadurch gekennzeichnet, dass der »geworfene Grund seiner selbst« 18 das »Sein zum Tode« ist. 19 Sie ahnen nicht, nein, Sie erkennen, wie Hoffnung für Heidegger ganz selbstverständlich Lebenshoffnung ist: Der Hoffende wendet sich gegen den Tod und gegen die Last des Daseins. So kann sein zu entwerfendes »Entgegen« nur das Leben sein, das keine Last, damit aber auch keinen Tod kennt. Ich sage das so frei, weil ich mir sicher bin, dass der Gedanke der Last in Sein und Zeit wie auch zuvor der der Schwere des Lebens die Paulinische ϑλίψις erinnert, die Bedrängnis und Bedrückung, die ganz und gar »pneumatisch« als Heils- und Erlösungsbedürftigkeit erfahren wird. Diese Sicherheit gründet sich vor allem auf Heideggers Vorlesungen zum Galater- und zu den beiden Thessalonicherbriefen im Wintersemester 1920/21. Wollen wir hier bei der Idee einer wahren Hoffnung bleiben, dann muss es entweder mit Paulus die durch den voller Leidenschaft gelebten Glauben zu rechtfertigende Wahrheit (also keine Wahrheit von Für-wahr-Gehaltenem, sondern die der gläubigen Existenz) oder die in der Entschlossenheit des Daseins gegründete sein, eines Daseins, das ganz es selbst und selbst ganz sein will: seine ganze, ihm eigenste Möglichkeit. Die kurze Einlassung zum »Phänomen« Hoffnung in Sein und Zeit, die auf den ersten Blick seine Bedeutung für menschliche Existenz zu minimalisieren scheint, hat, mit einigem Spürsinn, die Praxis Vgl. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (»Natorpbericht«), hg. v. H.-U. Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 238: »Das faktische Leben hat den Seinscharakter, daß es an sich selbst schwer trägt.« 17 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA, Bd. 60, Frankfurt a. M. 1995, § 25 (Das »Gewordensein« der Thessalonicher). 18 M. Heidegger, Sein und Zeit, s. Anm. 14, S. 345. 19 Ebd., S. 344. 16
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des Erhoffens als eine ganz spezielle Wahrheitsmöglichkeit entdecken lassen. Doch warum sich an Texte halten, in die die uns leitende Frage eher hineinzulesen ist, wenn es andere gibt, die expressis verbis wahre Hoffnungen (ἐλπίδες ἀληϑεῖς) vorführen. Ab sofort hat Platons Sokrates das Wort. Er ist Zeuge dafür, dass es Hoffnungen gibt, die den Hoffenden unmöglich sich selbst betrügen lassen. Wer hofft, so lernen wir aus Platons Philebos, setzt entgegen, setzt auf das Gegenteil. Das Wogegen der Hoffnung ist Gegenwärtiges, dessen Gegenteil im Künftigen liegt. Die Hoffnung aber wendet sich gegen die Gegenwart, insoweit dieselbe für Schmerz steht, für das Empfinden von Unerträglichem. Hoffnung wendet sich stets der Lust zu, so dass, im Sinne einer Vorlust (προχαίρειν), Hoffnung bereits selber lustvoll ist. Im Bilde von Hunger und Durst ist Gegenwart die schmerzvolle Leere, so dass Hoffnung ganz allgemein auf lustvolle Erfüllung zielt. Dem gegenwärtigen schmerzhaften Zustand einen künftigen lustvollen entgegenzusetzen, dessen Eintritt unter Aufhebung des gegenwärtigen erhofft wird, verlangt Erinnerungsvermögen. Wer von der Löschung des Durstes nichts weiß, könne aus dem rein körperlichen Empfinden des Durstes zu keinem Hoffen gelangen. Die Bedingung, sich erinnern zu können, schafft ein Problem: Will denn nicht jeder, der schöne und gute Hoffnungen hat, in eine Heimat gelangen, in der er noch nie war? Bereits der Sokrates des Phaidon überholt den des Philebos: Dort nämlich, wohin der Tod den Menschen führt, erhoffe er, die Frucht seiner besten Bemühungen zu erlangen, selbst und gerade seiner philosophischen, indem an dem ganz anderen Ort aus der Liebe zur Weisheit die Weisheit selbst wird. Der Philosoph erhofft, wie Sie hören, in Abgeschiedenheit von allem Leiblichen die rein seelische, Paulinisch: die pneumatische Weisheit. Das Schongesehen- und -erlebthaben des Erhofften als Bedingung des Hoffenkönnens darf darum nicht überstrapaziert werden. Schmerzen etwa gegenwärtige Unbildung und Ungerechtigkeit, so ist eine künftige Bildung und Gerechtigkeit zu erdenken. Soll jetzt noch Erinnerungsvermögen gefragt sein, dann könnte das allenfalls Platons spekulative Wiedererinnerungstheorie abdecken. Zurück zum Philebos. Um lustvoll Künftiges schmerzhaft Gegenwärtigem entgegensetzen zu können, muss die Gegenwart richtig diagnostiziert werden. Jeder empfundene Schmerz ist zwar tatsächlich ein Schmerz, aber darum nicht schon notwendig ein dem Wahrheitsvermögen verbundener. Nur wem sich mit Blick auf Gegen226 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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wärtiges Wahres in die Seele einschreibt, kann wahre Urteile bilden. Entsprechend verhält es sich mit Bildern, die in die Seele eingezeichnet werden. Nur eine Seele, die nicht durch Trugbilder verschattet ist, kann Bilder der Hoffnung vorgeben, die darstellen, was zum Guten taugt. Wie Sie bemerken, sind wir dabei, die Frage nach der Wahrheit von Hoffnungen nicht mehr allein, und nicht einmal erstlich als theoretische, sondern weit mehr als praktische zu begreifen. Treffend urteilen zu können, ist und bleibt Voraussetzung, dass Hoffnungen nicht fehlgehen. Allem zuvor aber muss mit der gewollten Wende vom gegenwärtigen zum künftigen Zustand auch wirklich bedacht sein, was zum Guten und Besten ist, nicht für den Hoffenden als Einzelgänger im Eigeninteresse, sondern als Partner einer Gemeinschaft, die sich in ihrer sittlichen, gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit selbst verantwortet. Hat das Wort »Hoffnung« die Bedeutung von Erwartung, die auch Befürchtung sein kann, abgestreift, um nunmehr für eine auf Lustvolles gerichtete Zukunftsorientierung verwandt zu werden, dann scheiden sich im Hoffen die Geister. Was die Schlechten für sich als Gutes erhoffen, ist in Wahrheit schlecht. Das aber heißt: Ihre Hoffnungen sind falsch. Sie beruhen auf falschen Urteilen über das Gute und Schlechte, das Lustvolle und Schmerzliche. Theoretische und praktische Falschheit fallen zusammen. Die Guten müssen es also sein, die mit dem Erhoffen von Gutem auch wahre Hoffnungen hegen. Der wahrhaft Hoffende habe gut und gerecht zu sein – diese Maximalforderung verwundert bei Platons Sokrates nicht. Doch er legt noch einmal nach: Erst der Gottesfürchtige und Gottgeliebte sei es, der die »sittliche« Voraussetzung für einen Inhaber wahrer Hoffnungen erfüllt. Wahre Hoffnungen hegt, wer aufgrund wahrer Erkenntnisse schmerzhaft Gegenwärtigem lustvoll Künftiges richtig entgegensetzt. Nein, das genügt nicht mehr. Wer wahr hoffen will, hat als Guter Gutes zu erhoffen – für Gute. 20 Wir seien das ganze Leben hindurch stets voller Hoffnungen. 21 Wahrheit ist dabei aber nur dann im Spiel, wenn der Hoffende sich dem Humanum, ja dem Divinum verpflichtet weiß. Das ist vergleichbar der Konzeption, mit schönen Reden Schönes im Schönen zu erzeugen. Vgl. Platon, Symposion 210a-b. 21 Platon, Philebos 39e 5. 20
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Pflicht – könnte das das Stichwort sein? Sah es bei Heidegger so aus, als müsse niemand eigens in der Stimmung der Hoffnung sein, um Verantwortung für die eigene Existenz zu übernehmen, so scheint jetzt Hoffnung zu bezeugen, dass einer sich allen Ernstes und voller Eifer für die eigene menschliche, ja göttliche Bestimmung verwendet. Verhält es sich wirklich so, dann möchte man wohl gerne wahre Hoffnung zur höchsten Sache menschlicher Freiheit und damit, gut nach Kant, zur ersten Pflicht »gegen sich selbst« machen. Hätte Kant hier das Schlusswort, so käme es für das Hoffen allein darauf an, dass der Gegensatz zu gegenwärtiger Inhumanität mittels auf ihre Reinheit bedachte Vernunft erdacht wäre. Alle, die entsprechend zeitliche oder endzeitliche Utopien entwerfen, wären auch schon die wahrhaft Hoffenden. Wie es Gutmenschen gibt, so auch Gutdenker, die auf unterschiedlichste Weise, nicht selten einander widersprechend und bekämpfend, das für den Menschen zu erhoffende Gute bestimmen. Jedes Gutdenken ist sich dabei sicher, die Palme der guten Gesinnung und des besten geistigen Engagements für das Humanum zu verdienen. Nein, Platon ist hier kein Gutdenker. Er macht wahre Hoffnung nicht zur Sache guter Gesinnung und das Erhoffte nicht zu einem Vorausgewussten. Weiß für ihn wahre Hoffnung nicht, ob es wahr ist, was sie hofft, ob etwa im ganz anderen Dort der Gott selbst es ist, der uns befreit, so dass uns, bar jeder Torheit des Lebens, alles ungetrübt und wahr ist, 22 so macht sie das auch nicht zu einem Postulat. In dem Hoffen spricht sich allein das Vertrauen aus, dass es sich so verhält. Für den, der in all seiner Wachzeit nach der Bestimmung des Menschen fragt, trennt sich das Hoffen vom Wissen. Er versucht sich in Antworten, die sich unmöglich mit Wissen verbinden, wohl aber mit Vertrauen, auch Glaube genannt. Es ist Zeit, selbst die Sache zu übernehmen. Natürlich verstehe ich es nicht besser als Paulus, Heidegger und Platon. Anders als in den Wissenschaften ist in der Philosophie der Spätere nicht schon der Wissendere. Allerdings traue ich mir zu, einen Gedanken ins Spiel zu bringen, der eine ganz neue Perspektive schafft: den einer sehr speziellen Poesie. Er dient dazu, sowohl die Verantwortung neu zu deuten, die der Mensch für sein Hoffen hat, als auch den Nutzen, den es seinem Leben und Handeln bringt. Ich habe vor, den Ausdruck »wahre Hoffnungen« positiv zu besetzen. Das lässt es geraten sein,
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Platon, Phaidon 67 a-b.
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mich einleitend mit der Falsifizierbarkeit von Hoffnungen auseinanderzusetzen. »Gekämpft, gehofft und doch verloren« steht in Todesanzeigen, die zum Ausdruck bringen wollen, dass der Verstorbene einer nicht akzeptierten tödlichen Erkrankung erlegen ist. Oftmals hat er sein Hoffen mit dem Beten verbunden. Beten ist die Sprachform des hoffenden Hilfeersuchens, das sich an höhere Mächte, wenn nicht an die geglaubte höchste Macht richtet. Kant empfiehlt das Beten. Helfe es nichts, so sei kein großer Aufwand umsonst getrieben worden, helfe es, so sei der Gewinn nach der Kosten-Nutzen-Rechnung groß. Ein nettes Beispiel arroganter Vernunft. Ein Historiker verfährt da distanzierter: »Als die Pest nach Athen kam«, schreibt Thukydides, 23 »vermochte die Heilkunst und keine sonstige Kunst etwas dagegen. Was sie aber durch Beten in den Tempeln und an den Orakelsitzen und sonst noch verwandten, war alles unnütz, so daß sie schließlich davon abließen und vom Übel besiegt wurden.« Heute führt man langjährige klinische Studien durch, um nachzuweisen, dass es Kranken, für die gebetet wird, nicht besser geht als Kranken, für die nicht gebetet wird. 24 Konkrete Hoffnungen, wie sie in Gebeten geäußert werden, sind prinzipiell falsifizierbar. Unnütz gehofft ist falsch gehofft. Gilt das aber nicht gerade auch für »wahre« Hoffnungen, wie wir sie, durch Platons Philebos angeregt, verstanden? Hoffnung auf Gerechtigkeit etwa, geht sie nicht zu allermeist ebenso ins Leere wie die Hoffnung auf Neuaufteilung des Bodens? Nein, wahre Hoffnungen sind nicht falsifizierbar. Sie sind von vornherein nicht auf eine Weise konkret, dass der Gang der Zeit über sie entscheiden könnte. Einmal artikuliert, bleiben sie bestehen, sind sie doch verbunden mit der Sicht des Humanum, in der der Mensch sich selbst zu erkennen glaubt. Kann Platon sich eine konkrete Hoffnung denken, die ihrer Erfüllung gewiss ist, eine ἐλπίς φανερά, wenn etwa für den Durstigen evident ist, dass er sein Bedürfnis befriedigen können wird, 25 dann meint sichere Hoffnung nichts anderes als sichere Erwartung. Ist eine Frau sichtbar »guter Hoffnung«, dann erhofft sie kein Kind, sondern erwartet eines. »Eine Hoffnung, die man sieht«, sagt Paulus, »ist keine HoffThukydides, Historiae II, 47. The American Heart Journal (April 2006). Vgl. B. Carey, Medical study questions the power of prayer, in: International Herald Tribune, 1. April 2006. 25 Platon, Philebos 36 a. 23 24
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nung; denn was einer sieht, weshalb hofft er es noch?« 26 Hoffnungen, die sich mit einer philosophisch-theologisch entworfenen oder aus dem Glauben selbst erwachsenen Bestimmung des Menschen verbinden, haben, verstehen sie sich recht, prinzipiell eine eschatologische Ausrichtung. Messianische Hoffnungen, die von zeitlicher Nähe geprägt sind, sehen sich verständlicherweise immer neu zur Geduld ermahnt. 27 Das Hoffen wird zu einem Erharren 28 und eben Ausharren. Messianische Hoffnung als Naherwartung ist ein Selbstmissverständnis des Glaubens. 29 Religiöser Glaube wird durch kein Zeitereignis und Zeitnichtereignis auf die Probe gestellt. Die prinzipielle eschatologische Ausrichtung hat für den Gläubigen den Sinn, schon zeitlebens dem Willen Gottes übereignet zu sein, den er nicht ergründen kann, so dass alles, was zeitlich geschieht, ohne dass er es versteht, im Glauben sein Hoffen bedienen kann. Bultmann zitiert Jesaja 25,9: »An jenem Tage wird man sprechen: Siehe da, unser Gott, auf den wir hofften, daß er uns helfe! Das ist der Herr, auf den wir hofften«, wenn er schreibt: »Ist Gottes erwartete Hilfe zunächst die aus konkreter Not, 30 so wird sie immer mehr als die eschatologische Hilfe gedacht, die aller Not ein Ende macht«. 31 Das geschieht, so deute ich es, in der Zunahme des Sichselbstverstehens des Glaubens. Entsprechendes gilt auch für das religiöse Gebet, das nicht falsifizierbar ist. Die Hoffnung auf Regen, wie sie eine Bittgangsprozession zelebriert, ist keine wahre. Das religiöse Gebet sieht es nicht auf eine Erprobung seiner Wirksamkeit in der Zeit ab, sondern versteht sich als ein erfülltes Glaubensereignis, weil es nicht mehr und nicht weniger als die gelebte Bekundung seines Vertrauens in den Willen Gottes ist. 32 Röm 8,24; vgl. Hebr 11,1. Röm 5,4 f. et alibi. 28 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, s. Anm. 17, S. 95 f., 145, 149, 151. 29 Nach Mk 9,1 (Bultmann: »kein echtes Jesuswort«) hat Christus allerdings selbst auf die Nähe des Gottesreichs gesetzt. 30 Vgl. Ps 12,6 ff. 31 R. Bultmann, Art. ἐλπίς, ἐλπίζω, s. Anm. 3, S. 520. 32 Soweit das Gebet aus Furcht, Hoffnung und Zuversicht hervorgeht, weil der Gläubige auf die Güte Gottes, und das heißt auf die Bewilligung des Erbetenen setzt, ist es konkret orientiert (vgl. F. Heiler, Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, unveränderter Nachdruck der 5. Auflage, München 1969, S. 351 f.). Daran ändert auch nichts, wenn das »echte« Gebet als ein »wirklicher« Umgang mit dem in seiner Realität unmittelbar präsenten Gott gedeutet wird, sein »Wunder« also nicht in seiner Erfüllung liegen soll (ebd., 489–495). Die Beto26 27
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Alle Hoffnungen, so meine These, die sich auf eine gerechte, friedfertige, befreite, ja heile und erlöste Menschenwelt richten, sind Produkte autonomer philosophischer und religiöser Poesie. Es ist ein weiter Begriff von Poesie, den ich hier einführe. Nicht nur alles zugunsten des Humanum Erdichtete, sondern auch alles entsprechend Erdachte wird für ein Werk der Poesie genommen. Hat ein Denken im Sinn, den Menschen auf sein ganz allgemeines und endgültiges Gelingen hoffen zu machen, dann sollte es jeden Anschein vermeiden, dabei rein argumentativ zu verfahren. Gilt das Versprechen der völligen Veränderung des Bestehenden, dann hat der Realitätssinn schon abgedankt. Sobald Menschen auf ein Bestes vom Range der letzten Erlösung hoffen, herrscht Poesie, sowohl vonseiten der Hoffenmachenden als auch vonseiten der Sich-Hoffnung-machen-Lassenden. Sie sind dann freilich auf eine Weise poetisch, die sie verleugnen lässt, poetisch zu sein. Spätestens mit Platon 33 kommt es im Denken zu einer geradezu gewollten Verkennung der Macht der Poesie. Die Einschätzung setzt sich durch, Poesie sei bloß Poesie. Kein Wunder, dass man sie als philosophisch und theologisch Denkender für sich selbst verleugnet. Ich setze dem ein großes Sogar entgegen: Poesie ist das einzigartige Vermögen des Menschen, bei dem es in Fällen seiner gelingenden Ausübung dazu kommen kann, dass der Poet nicht mehr recht weiß, was er tut. Ich habe damit im Gegensatz zum »bloß« Fiktiven keine bestimmte Form der Inspiration im Sinn. Der Künstler behält für sein Tun die Verantwortung, auch wenn er sich in seltenen Fällen eher geführt als führend erfährt. Kreidet Platon den Dichtern, wie er es ausführlich in der Politeia tut, die Fiktion an, dann folge ich ihm nicht. Kritisiert er aber, wie er es im Ion tut, ihre Verantwortungslosigkeit als Inspirierte, dann bin ich ganz auf seiner Seite. Die Anrufung der Musen für sich genommen praktiziert bereits das, was ich doppelte Poesie nenne: Der Dichter dichtet ein Gedicht und erdichtet vorweg, es gar nicht selbst zu dichten, sondern darin nur willen- und nung des »Realismus« in allem Umgang mit Gott (ebd., Vorwort zur 5. Auflage von 1923) beruft sich zwar auf ein Bedingungsverhältnis von Gebet und Glaube, geht aber doch am Problem des nicht enttäuschbaren und nicht falsifizierbaren (»unnützen«) Gebets vorbei. Zugleich entdeckt das Bekenntnis zum Realismus, selbst wenn es dem Gläubigen »Innerlichkeit« belassen will, exemplarisch doppelte Poesie. 33 Heraklit ist wegen des fragmentarischen Charakters seines Werks hierzu nicht näher zu befragen. Vgl. aber sein Fragment B 42, in: Fragmente der Vorsokratiker, hg. u. übers. v. H. Diels/W. Kranz, Bd. 1, Berlin 1951.
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absichtslos einer ungleich höheren Wort- und Bildmacht als der verfügbaren eigenen zu dienen. Überlege ich es zugunsten des Dichters, so könnte sich in dieser poetischen Selbstverleugnung ein Gespür dafür äußern, selbst nicht zureichend zu wissen und darüber zu verfügen, was eigentlich der Grund und die Kraft sind, die ihn dichten lassen, und was eigentlich die Wirkung ist, die von seinem Gedicht ausgeht. Doch schon der Dichter, der weiß und zugibt, Fiktives zu schaffen, der also nicht doppelte, sondern einfache Poesie betreibt, hat eher das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, nicht bloß, sondern sogar zu dichten. Wenn ich darum das Hoffenmachen, wie es in Philosophie und Religion unternommen wird, für nichts anderes als poetische Unternehmen erkläre, so hat diese Aufklärung kein Entzaubern im Sinn, wohl aber ein Erhellen. Nun scheint für Hoffnungen, deren Quell das Vermögen der Poesie ist, jede mögliche Wahrheit auf der Strecke zu bleiben. Doch das scheint nur so. Wir werden uns zu fragen haben, ob nicht die Selbstübereignung an »äußerste« Lebenshoffnungen, die sie für die praktische Orientierung des Lebens dominant werden lassen, ihnen eine eigene Wahrheit verleiht. Da ich die Ehre habe, auf dieser Tagung zu sprechen, ist es wohl angebracht, das, was ich mit praktischer Wahrheit und doppelter Poesie im Sinn habe, nicht monologisch zu entwickeln, sondern mich dazu mit einem Theologen auseinanderzusetzen. Meine Wahl ist auf Wolfhart Pannenberg gefallen, der ganz offensichtlich als ein Spezialist doppelter, nicht über sich selbst aufgeklärter Poesie auftritt, indem er die Zukunft des Glaubens der Zukunft realer Ereignisse überantwortet. Wie er in der 1988 erschienenen Schrift Metaphysik und Gottesgedanke, 34 auf die ich mich ausschließlich beziehe, ausführt, sei das Reich Gottes gegenwärtig real. Ebenso sei die Auferstehung der Toten gegenwärtig real. Beides sei freilich allein unter der Voraussetzung wahr, dass die Zeit diese Realitäten auch wirklich beschert. Pannenberg operiert hier mit dem Begriff der Antizipation als dem der realen Vorausaneignung. Sie wird von ihm real genannt, und ist es doch nicht. Dem kann ich nicht folgen. Das Wort real gibt unmöglich diese Spaltung her, die er ihm zutraut, es sei denn, ein Poet verantwortete eigens diese extreme Ambiguität. Trete nämlich, hören Sie nur!, trete nämlich die eschatologische Zukunft nicht ein, so sei die Antizipation als gemeinte reale 34
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Vorausaneignung der Zukunft »nur [!] prophetischer Enthusiasmus« gewesen. 35 Für einen unaufgeklärten Teilhaber der doppelten Poesie ganz konsequent, schiebt er dem prophetischen Enthusiasmus ein »nur« davor, weil ihm ein »sogar« überhaupt nicht vorstellbar ist. Ich halte das logisch und in seiner religiösen Konsequenz für bedenklich. Der Glaube wird für falsifizierbar erklärt. Das erinnert an Moritz Schlick, ein Mitglied des Wiener Kreises, der das Abwarten als Verifikationsmethode empfahl. Pannenberg wörtlich: »Die Wahrheit dieser Antizipation hängt an der noch ausstehenden Zukunft«. 36 Ausstehen aber kann als mögliches Reales allein Zeitliches, das gegebenenfalls in der Zeit eintrifft. Selbst wenn daran gedacht wird, dass der Tod eines Menschen aussteht, so steht er als ein Ereignis in der Zeit aus. Eschatologische Ereignisse sind jedoch nicht zeitlich vorstellbar, wenn auch als zeitliche reich zu bebildern. 37 Die Zukunft des Ewigen mit der Zukunft von Zeitlichem gleichzuschalten, ist ein folgenschwerer Kategorienfehler, denn er stellt den Nachweis des Ewigen unter zeitliche Bedingungen, anstatt bei der einfachen spekulativen Feststellung zu bleiben, dass die Ewigkeit immer schon gegenwärtig ist – das metaphorische Verständnis einer Gleichzeitigkeit von Zeit und Ewigkeit vorausgesetzt. Christus sei »realiter« auferstanden, dies aber nur, falls in der Zukunft (!) die allgemeine und eben reale Auferstehung von den Toten statthabe. Solange die »Zukunft« der Ewigkeitsereignisse aussteht (und das tut sie naturgemäß in realer Zeit, realistisch geurteilt, immer), sei Christus der reale Garant einer allgemeinen realen Auferstehung. Erfolge diese aber nicht (der Theologe hält also eine Position für möglich, die ein solches Nichtereignis zu einem konstatierbaren macht), sei Christus auch nicht ihr realer Garant gewesen. Er ist dann gar nicht real auferstanden. Eine zweitausend Jahre bewährte Glaubenspraxis wird so – mithilfe eines uneingestandenen Kategorienfehlers – leichthin zur Disposition gestellt. Aus dem Glauben ein per definitionem ungesichertes Für-wahr-Halten zu machen, bringt ihn in Abhängigkeit von ihm prinzipiell epistemisch nicht Verfügbarem. Stünde es mit dem religiösen Glauben so, könnte nur dringend empfohlen werden, ihn nicht zu glauben. So kann die Aufklärung über Ebd., S. 70. Ebd., S. 69. 37 Die Versuche, Gott »selbst« via Mensch-gewordener-Sohn zu verzeitlichen, halte ich für einen Irrweg. 35 36
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Glauben, in Wahrheit doppelte religiöse Poesie zu sein, anstatt ihn um sein Geheimnis zu bringen, ihm seine Möglichkeit bewahren. Darum sei eigens behauptet: Religiöser Glaube ist poetisch – Poesie ist sein Schatz, seine Kraft, ist jenes Über-sich-selbst-Hinaus, in dem einer mehr vermag, als er von sich als einem Vermögenden weiß. Religiöser Glaube, mit religiöser Hoffnung verbunden, die in menschlicher Not gründet, ist seinem Gehalt und seiner Praxis nach Poesie – das ist die einzige Wahrheit über diesen Glauben, zu der ein Mensch fähig ist, der besonnen urteilt und klug zum Guten ist. 38 Die Jungfrauengeburt Jesu ist nicht bloß, sondern sogar Poesie. (Wenn in den USA 83 %, 91 % der Christen und 47 % der Nichtchristen, an die jungfräuliche Geburt Jesu und 28 % an die Evolution »glauben« 39, dann veranschaulicht das nur, wie schief die Sache mit dem Glauben läuft, wenn man ihn zu einem einsozialisierten Für-wahr-Halten und zum unverantwortlichen sacrificium des Sinnes für Realität macht.) Die Auferstehung Christi ist nicht bloß, sondern sogar Poesie. 40 Diese Aufklärung ist der einzige Weg, den Glauben vor jeder entzaubernden und für jede erhellende Nachdenklichkeit über den Glauben zu retten. Ein religiöser Glaube, wie ihn Pannenberg mit einem für möglich gehaltenen Verfallsdatum versieht, ist des Glaubens nicht wert. Die Realantizipation sei immer mehrdeutig, ja, bis zum Ende der Tage soll das so sein, bis wir, so weit geht die ihren Dichtungscharakter verleugnende Dichtung, mit der Erde enden. Der Glaube wäre dann allzeit allein auf Probe möglich. Pannenberg ist so kühn, die Echtheit und mit ihr die Verlässlichkeit Gottes zu einem Casus der Empirie zu machen. Der seinen Glauben reflektierende Theologe und Bewusstseinstheoretiker wörtlich: »ihre (sc. der Antizipation) wahre Bedeutung hängt ab vom künftigen Ausgang des Erfahrungsprozesses«. 41 Vgl. R. Marten, Klugheit zum Guten, in: W. Kersting (Hg.), Klugheit, Weilerswist 2005, S. 155–180. 39 Vgl. R. Marten, Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion, Freiburg / München 2005, S. 174. 40 Merkwürdigerweise erklärt Bultmann in der Entfaltung seines Entmythologisierungsgedankens die Vorstellungen von Gottesherrschaft und eschatologischem Drama für mythologisch, das heißt für poetisch, nicht aber die Heilstat Gottes, die er in Christus getan hat, weil das eschatologische Ereignis, das Jesus ist (»ein echtes Paradoxon«), sich mit dem geschichtlichen Ereignis der Predigt Jesu verbinde. R. Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie. Das Neue Testament im Licht der Bibelkritik, Gütersloh 61984. 41 W. Pannenberg, s. Anm. 34, S. 70. Vielleicht hat Pannenberg 1 Kor 15,12–19 vor sich: Paulus scheint von der Möglichkeit zu sprechen, dass Predigt (κήρυγμα) und 38
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Problematisch ist hier von vornherein, das Bewusstsein alias Realitätssinn mit der Supervision des religiösen Glaubens zu betrauen. Wie das Ende der Tage erzählt wird, gibt es da nichts zu erfahren. Als eschatologisches Ereignis hat es, wird das Poem genau studiert, in der Ewigkeit statt. Für den Unvorbereiteten komme der Messias wie ein Dieb in der Nacht. Natürlich erweckt das Vorstellungen, dass man ihm begegnen, ihm entgegengehen könne, weswegen schwäbische Bauern, eingedenk Offenbarung 16,15, ihre Kleidung stets am Ostrand des Ackers ablegten, um keinen Umweg machen zu müssen. Wirklich vorbereitet sind aber nur die, bei denen der Messias wie ein Licht auf Licht trifft. 42 Um gegen alles Ansinnen von Realerfahrung den Glauben zu bewahren, lässt es sich gut auf die Poesie des apostolischen Theologen Paulus zurückgreifen und auf die des Lukas- und Johannesevangeliums. Die Söhne des Lichts 43 sind nicht von dieser Welt. Sie sind nicht mehr im σάρξ, sondern ganz im πνεῦμα, ja sie sind πνεῦμα; »Jetzt aber seid ihr Licht im Herrn, wandelt als Kinder des Lichts« 44 – kein Vater, das Licht hat sie erzeugt. Wenn das nicht Poesie ist, nötige Poesie, um das, was noch eine ganze Welt über das »Außerordentliche« hinausliegt, im Bild zu erfassen. Mir sind kein Verstand und keine Vernunft vertraut, die sich hier Empirie vorstellen könnten. Alle Maßstäbe der Zeit sind vernichtet. Wie soll noch aus futurum praesens werden, wenn die Sterne vorn Himmel gefallen und die Kräfte des Himmels erschüttert sind? 45 Sind aber die Sterne mit gewaltigem Getöse vergangen und die Elemente in der Gluthitze aufgelöst, 46 dann ist auch von der Erde und den Werken auf ihr nichts mehr zu finden. 47 Ein Glaube, der erst am Ende der Tage erfahren soll, ob er leer war oder nicht, ein Glaube auf Abruf also, ist kein Panzer mehr, wie er von Paulus als Kleidung des Gläubigen für das Ende der Glaube leer sind. Doch das scheint nur so. Das κηρύσσειν, das Luther mit »predigen« übersetzt, ist – mit Austin zu sprechen – performativ, nicht konstativ: Die proklamierte Heilsgeschichte, die einzigartig von der »Predigt« der Auferstehung Christi getragen ist, ist als solche bereits Heilsgeschehen. Paulus stellt hier genau nicht die Auferstehung zur Disposition, sondern (1 Kor 15,20) macht sie zum Fundament gelingender Glaubenspraxis. 42 Vgl. 1 Thess 5,5. 43 Vgl. 1 Thess 5,5: »υἱοὶ φωτός«; Lk 16,8: »υἱοὶ τοῦ φωτὸς«. Vgl. Röm 13,12. 44 Eph 5,8: »τέκνα φωτὸς«. 45 Vgl. Mt 24,9.35. 46 Vgl. 2 Petr 3,10. 47 Vgl. ebd.
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Zeit erdichtet wird, die Hoffnung des Heils kein Helm mehr. 48 Das sind keine bloßen Ausschmückungen, sondern Deutungen. Der Glaube hat seinen Sitz, wie es biblische Vorstellung ist, im Herzen, nicht im Kopf. Der Glaube selbst ist es, der den Glauben im Herzen schützt: Er ist der Thorax seines eigenen Quells und Vermögens. Paulus übertreibt nicht, sondern bleibt im Bild, wenn er mahnt, die Waffen des Lichts anzuziehen, so der einzigartige Tag naht. 49 Sie verstehen: Ich will und kann, als Philosoph eingeladen, niemandes Glauben retten und schon gar nicht für Glauben missionieren, sondern ihn allein vor einem groben Missverständnis seiner selbst bewahren, dies allerdings in der Voraussicht, ihn überhaupt zu erhellen. Nur so wird es möglich, dass der Gläubige für seinen Glauben selbst Verantwortung übernimmt. Er stünde dann dazu, dass Gehalt und Praxis des Glaubens religiöse Poesie sind, die für sich weiß, dass die Verleugnung seines poetischen Charakters selbst eine poetische Höchstleistung ist. Auf Einladung des Theologen Traugott Koch habe ich vor dreißig Jahren an der Universität Regensburg einen Vortrag zum Thema »Glauben als wahrheitsfähiges Handeln« gehalten. 50 Koch hatte damals zurückgefragt, ob ich den Titel mit oder ohne Fragezeichen meinte. Ich entschied mich für ohne. Das hätte ich auch diesmal so halten können. Wie es die Wahrheit des Glaubens gibt, so auch die Wahrheit der Hoffnung. Ich sage das nicht leichthin, weil man etwa gewohnt ist, von der Wahrheit der Kunst zu reden. 51 Nein, die Wahrheit von Hoffnungen ist eine ganz eigene Art von Poesie, wohlgemerkt Poesie. Von wahren Hoffnungen zu reden rechtfertigt sich unmöglich dadurch, dass sie mit künftiger Realität übereinstimmen. Die berühmte Diskussion der Wahrheitsfähigkeit von Zukunftsaussagen, wie Aristoteles sie führt, lese ich mit dem Ergebnis, 52 dass sie der Wahrheit nicht fähig sind. Die Aussage »Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden« wird nicht andern Tags wahr oder falsch, sondern ist weder wahr noch falsch. Möchte jemand mit guten Gründen klarmachen, dass er für morgen fest mit einer Seeschlacht rechne, dann soll er, zugunsten einer wahren Aussage, doch besser behaup-
48 49 50 51 52
Vgl. 1 Thess 5,8. Vgl. Röm 13,12. R. Marten, Glaube ab wahrheitsfähiges Handeln, in: NZSTh 19 (1977), S. 95–107. Vgl. z. B. M. Proust, À la recherche du temps perdu, Bd. 1, Paris 1987, S. 433 f. Für Näheres vgl. R. Marten, Menschliche Wahrheit, München 2000, S. 358 ff.
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ten: »Nach allem, was wir heute von den Vorkehrungen auf beiden Seiten wissen, wird es morgen so gut wie sicher zu einer Seeschlacht kommen.« Sagt einer dies nach bestem Wissen und Gewissen, dann ist die Aussage wahr: Sie trifft den gegenwärtigen Stand des Wissens von gegenwärtigen Veranstaltungen und ihren höchstwahrscheinlichen Folgen für den anderen Tag. Lassen wir also die Vertagung der Wahrheit einer Hoffnung ganz aus dem Spiel. Existiert eine wahre Hoffnung, dann existiert mit ihr ihre Wahrheit. Die Zeit verrinnt, und ich habe mir Ihnen gegenüber eine extreme Beweisschuld aufgeladen. Lebenshoffnung – wie kann die hoffende Entgegensetzung zum gegenwärtig geführten und weiterhin zu führenden Leben, die auf eine ganz andere, nicht zeitlich zu erfahrende »Zukunft« und eben auf das ewige »Leben« setzt, wahr sein? Meine höchst erklärungsbedürftige Antwort lautet mit einem Satz: Die gläubige Hoffnung auf das ewige Leben ist wahr, weil der Gläubige aus ihr lebt. Das ist freilich nur für den Fall zu verstehen, als Sie mir auch die poetische Deutung dieses »leben aus« abnehmen. Die Hoffnung auf das ewige Leben ist nämlich so erdichtet, dass nicht der Gläubige es ist, der sie erdichtet, sondern dieser ist es vielmehr, der sich in ihr als ganz neu, ja eben als neuer Mensch erdichtet erfährt (Nicht bloß, sondern sogar erdichtet!). Hoffen auf ewiges Leben erhält seine Ausdauer, Stärke und Wahrheit durch poetische Selbstübereignung: Was sich für den Gläubigen als Poesie ereignet, dem übereignet er sich. Er antwortet auf Poesie selber poetisch. Die Selbstübereignung, in der sich Poetisiertwerden und Poetisieren unter extremer Spannung vereinigen, ist der Moment, in dem religiöse Hoffnung selbsthaft wird: Das Selbst, von Hoffnung durchdrungen, übernimmt Verantwortung für die Hoffnung. Das hat zur Konsequenz, dass die Wahrheit der Hoffnung nicht irgendwo außerhalb ihrer selbst ihre Legitimation zu suchen hat: Religiöses und dem Religiösen verwandtes Hoffen ist keine Stimmung, kein Bewusstseinszustand, sondern poetische Praxis. Für den Gläubigen kommt es so weit, dass er eher noch das eigene leibhafte Leben zur Disposition stellte, als die Hoffnung, aus der er und in der er lebt, und die das gelebte Leben um einen ganzen Himmel überholt. Das ewige Leben, sowohl als versprochenes als auch als erhofftes, existiert im Glauben. Wo sollte es sonst existieren? Selbst und gerade der das ewige Leben Verheißende existiert im Glauben. 53 Wo 53
Wie nicht zuletzt an Anselm zu demonstrieren ist (vgl. R. Marten, Die Möglichkeit
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Wahre Hoffnungen?
sollte er sonst existieren? Und ist er, wie die Theologie weiß, überall, ist er etwa »nichts anderes« als der Himmel, 54 so ist das eine Tatsache philosophisch-theologischer Poesie, die für gewöhnlich auf poetische Weise ihre poetische Natur verdeckt. Was sollte es anderes sein? Auf diesem Weg des Gedankens der Selbstübereignung an die den Menschen ganz neu erdichtende Poesie ist weiterzugehen, wenn die Frage der selbsthaft praktizierten Wahrheit gläubigen Hoffens eine hinlänglich erhellende Antwort finden soll. Zum Schluss ein Geständnis: Ich habe über die poetische Wahrheit der Hoffnung auf ein ganz anderes Leben referiert. Meine eigene Sache wäre es aber gewesen, denjenigen Hoffnungen nachzugehen, die sich im gelingend geteilten Leben auf dieses selbst richten.
des Unmöglichen, s. Anm. 39, S. 124–141), sind Versuche, eine theoretische Bedeutung der Existenz Gottes zu konstruieren, zum Scheitern verurteilt. Eine »bewiesene« oder »erwiesene« Existenz Gottes gibt für den Gläubigen keinen Sinn. Sie hat für ihn allein praktische Bedeutung. 54 Vgl. Cusanus, De non aliud, Kap. 2.
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Maßlosigkeit
Wer dabei war, hat’s gesehen, gehört: Da hat die österreichische Nobelpreisträgerin diesen zu Habenichtsen gewordenen Kleinanlegern gestern Abend vor Premierenpublikum so richtig heimgeleuchtet. Armleuchter sind’s, noch unter die Marke des Nichts Gefallene, ja eben Hereingefallene. Das Geld ist alle, doch damit nicht genug: Sie stehen im Soll. Mir gefällt das, in Form und Gehalt, wie Elfriede Jelinek eine gewichtige Wahrheit mit lustvoller Distanz und hellhörigem, luzidem Sprachwitz dramatisiert. Die Verführten sind nicht weniger die Helden der Krise als die Verführer. Erst die Aufdeckung ihrer Komplizenschaft läßt sie uns im Chor vernehmen: Wir sind der Kapitalismus. Die Wirtschaftskomödie gefällt nicht nur, sie geht auch unter die Haut, wenn ihr ungewollt der Sprung vom Kapital zum Glauben gelingt. Hat nämlich der Kapitalist sein Kapital verloren, dann gleicht er dem Gläubigen, der seinen Glauben verloren hat. Der aber hätte weit lieber sein Leben verloren, und so hält die Jelinek mit der von ihr erwarteten Maßlosigkeit dem Kapitalisten vor, warum er denn nach selbstverschuldetem Verlust seines Liebsten nicht Hand an sich lege. »Wer groß denkt, muß groß irren« ist eine »Erfahrung«, die Martin Heidegger beim »Denken« gemacht haben will. Kleindenker und Kleinirrer wären nämlich unfähig, die nötige Führung durch die von ihm erdachte Weltnacht zu übernehmen. Diese Kleindenker gleichen jenen Kleinanlegern: Deren Handeln ist des Handelns nicht wert. Nur wer groß anlegt und sich groß verspielt, ist dazu ausersehen, die nötige Führung des real existierenden Kapitalismus zu übernehmen. Er ist es ja, der auf Kosten aller gerettet und groß belohnt wird: vor, während und nach der Krise. Im Oktober 2009 hat der Bildhauer Stephan Balkenhol auf dem Forum Romanum, der Wall Street des antiken Rom, einen fünf Meter hohen Torso aus Zedernholz aufgestellt: einen Mann ohne Unterleib, ohne Manneskraft, Sinnbild des Menschen von der Antike bis heute, der immer mehr haben will, sempre più, um doch nur im Geld, 239 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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das ihn in harter Prägung umgibt, zu versinken. Wieder stehen die willig Verführten im Blick mit ihrer täppischen Gier nach Mehr. Ein bedeutsamer Hinweis: Der Kapitalismus schafft nicht nur Arme und Entrechtete. Er braucht auch Verlierer in den eigenen Reihen. Groß gewinnen kann längst nicht jeder. Das aber ist nicht dem Spiel des Zufalls überlassen, sondern systemisch bedingt, gehört ja auch der groß Denkende, wie Heidegger das nennt, zu den »Seltenen«, was ebenfalls systemisch bedingt ist. Mit ihrer aufklärerischen Macht entwirft Kunst ein Bild vom Capitalism Now und seiner vermeinten Krise: die Stückeschreiberin in Worten, der Bildhauer figürlich. Beide eint, daß sie eine Sicht eröffnen, die keine Anklage und moralische Verurteilung enthält, kein Wissen, wie alles anders und besser würde. Sie machen das, was gegenwärtig die polit-ökonomische Szene beherrscht, dramatisch anschaulich, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Leere, in der der zum Homo oeconomicus verdammte Homo humanus haust, wird sichtbar. Die Methode des Philosophen, zu erhellen und aufzuklären, soweit ich dafür einstehe, ist eine andere: Sie dramatisiert nicht, sondern stellt Fragen, die durch Nachdenken eine Antwort finden können. Fragen, die erfolgreich sein sollen, bedürfen der genauen Positionierung des Fragenden. Welcher Standpunkt aber ist es, von dem aus der Kapitalismus befragt, wenn nicht in Frage gestellt werden kann? Was meinen Sie? Verstehen Sie überhaupt den Ansatz, daß ein Fragender, einer also, der bekundet, etwas nicht zu wissen, einen Standpunkt haben muß? Wer bereits heute weiß, wie es mit dem Menschen auf der Erde, die Katastrophe abwendend, besser werden könnte, also nicht eigentlich fragt, sondern Antworten erteilt mit fraglichem Wahrheitswert, katapultiert naturgemäß sein Wissen in die Zukunft und denkt dabei an eine dereinst global wirksam werdende politische Vernunft oder einfach an Ingenieurintelligenz. Ich dagegen optiere für das, was bereits heute gelingt. Um meine Option zu teilen, müssen Sie nur in sich selbst stehen, das heißt einen Stand einnehmen, in den Sie ein mit Anderen auf vielfältige Weise geteiltes Leben versetzt hat und immer neu versetzt: Sie sind gebraucht und brauchen Andere. Sie sind füreinander fruchtbar. Nur wenn es so mit Ihnen steht, können Sie auch sinnvoll, das heißt lebensrelevant fragen. Es ist die alltägliche und unscheinbare Art des gelingenden Humanum, auf die sich einer beruft, der Klarheit über etwas gewinnen 240 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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will, das lebenspraktisch für ihn bedeutsam ist. Da wir alle hier über diesen Standpunkt verfügen, können wir den Kapitalismus gemeinsam zur Rede stellen. Was wir ihn zu fragen haben, ist von vornherein klar: Wir wollen wissen, wie er zu dem von uns innegehabten Humanum steht. Wie sehen Sie es: Steht ihm die Maßlosigkeit tatsächlich ins Gesicht geschrieben, dieses Immer-mehr, wie es aus den Maximen der Gewinnmaximierung und unabsehbaren Vermehrung des Kapitals spricht? Als ersten Gewährsmann dafür, daß es sich genau so verhält, habe ich den Politiker und Historiker Xenophon aufgespürt (etwa 450–354 v. Chr.), der in seiner Schrift Oikonomikos, zu deutsch Der Haushälter, ausführt, was zu seiner Zeit eine gute Vermögensverwaltung ausmacht. Als das A und O guten Wirtschaftens erkennt er die Nutzung des Vermögens. Das setzt voraus, daß jede politisch und ökonomisch relevante Person Vermögen hat. Vermögen beruht auf Besitz. Besitzt jemand eine Flöte, so zählt sie nach Xenophon zum Vermögen, sofern sie gebraucht wird. Dazu bestehen zwei Möglichkeiten: sie zu bespielen oder zu verkaufen (wörtlich: zu versilbern). Versteht sich der Besitzer nicht auf dies Entweder-oder, so ist sie kein Teil seines Vermögens. Nun zählt zum Besitz alles, was einer hat. Hat jemand Feinde, so »besitzt« er sie. Das aber stellt den guten Vermögensverwalter vor die Aufgabe, sie zum Teil seines Vermögens zu machen. Xenophons Lösungsvorschlag überzeugt: Verwüstet der Feind das Land rings um die Stadt, so kann der Vermögende billig Land erwerben, wenn Kleinbauern nicht abwarten können, bis neugepflanzte Rebstöcke und Olivenbäume wieder Früchte tragen und Gewinn bringen. Grundstücksspekulation hält Xenophon für eine vorzügliche Art der Vermögensnutzung. Nicht der lebenspraktische Nutzen, sondern allein der ökonomische gilt somit als empfehlenswert. Die Vermehrung siegt über den Genuß. Der bessere Vermögensverwalter bespielt die Flöte nicht, sondern versilbert sie, um das Geld, wenn nicht in Grund und Boden, dann am besten in ein Seedarlehen anzulegen, die im frühen griechischen Bankwesen spekulativste und gewinnträchtigste Anlageart. Für das ländliche Idyll gemeinsamen Vermehrens schafft Xenophon das Wort »zusammenvermehren« (synauxein): Bauer und Bäuerin sollen ihr Vermehrungspotential natürlich, mehr aber noch ökonomisch nutzen. Leibliche Kinder sind zwar wichtig für das hilfsbedürftige Alter, wichtiger aber noch sind die Kinder des Kapitals, in diesem Falle die Erweiterung des Grundbesitzes (gr. tokos hat die Bedeutung von Kind und Zins). 241 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Maßlosigkeit
Aristoteles, zwei Generationen jünger als Xenophon, hat die Geldwirtschaft aufs schärfste bekämpft – mit philosophischen Waffen. Die Natur, so denkt er es sich, habe es mit dem Wirtschaften eigentlich anders gemeint. Seiner Natur nach sei Geld dazu da, die Tauschgeschäfte in der größer gewordenen Polis zu erleichtern. Die Selbstvermehrung des Geldes dagegen, dieses Wunder, daß aus Geld Geld wird, sei wider die Natur. Weil die durch die Unnatur des Geldes ermöglichte ungehemmte Vermehrung des Reichtums den Staat gefährde, möchte er die im 6. Jahrhundert v. Chr. aus dem Osten nach Griechenland gekommene Geldwirtschaft am liebsten wieder abschaffen. Doch achten Sie nur einmal auf sein feinsinniges Gespür für menschliche Entfremdung, wenn er am Beispiel des Schusters die neue ökonomische Unnatur demonstriert: Anstatt den Schuh zum Anziehen zu machen, wird er jetzt gemacht, um ihn auf den Markt zu schicken. Nein, belächeln Sie das nicht. Die Alternative verdeutlicht einen gewichtigen Unterschied: Die eine Produktion folgt dem menschlichen Bedürfnis, Schuhe zu tragen, die andere dem ökonomischen, Produkte abzusetzen. Der Schuster, der für den Markt produziert, ist für Aristoteles dem Arzt vergleichbar, der seinem Beruf in Zeiten der Geldwirtschaft nachgeht, um Geld zu verdienen, nicht um zu heilen. Das tut er nur nebenher. Ein philosophischer Wink, dem niemand folgt, niemand. Im Gegenteil. Nicht Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie zu schaffen, ist Motor des modernen Kapitalismus. In Worten des österreichischen und späteren Harvardökonomen Joseph Schumpeter: »(N)eue Bedürfnisse (werden) den Konsumenten von der Produktionsseite her anerzogen (…), so daß die Initiative bei der letzteren liegt.« Schumpeter hat das Reizwort von der »kreativen Zerstörung« geprägt. Das eigentlich Bedeutsame daran ist, daß er mit ihm das Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung trifft: Sie ist notwendig rücksichtslos. Äußerst sich Präsident Barack Obama jüngst voll Unmut, er habe sich nicht zur Wahl gestellt, um »einem Haufen Bonzen an der Wall Street zu helfen«, dann redet er populistisch, aber am Wesen des Kapitalismus vorbei. Längst sind seine Akteure zu systemischen Wesen mutiert. Natürlich sind das alles Leute mit »Eigenschaften«. Doch die zählen nicht, sieht man auf ihre Funktion, die wirtschaftliche Entwicklung nach Möglichkeit am Galoppieren zu halten. In seiner bahnbrechenden Arbeit Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1. Auflage 1911, 2., verbesserte Auflage 1926, hat Schumpeter das auf überzeugende Weise deutlich gemacht: Der 242 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Unternehmer, dem es maßgeblich auf die Durchsetzung »neuer Kombinationen« anzukommen habe, das meint auf Innovationen um der Innovationen willen, ist für ihn keine psychologisch und moralisch zu beurteilende charakterliche Größe, sondern, tut er sein Sach’, eine ausschließlich systemische. Das Leitmotiv seines Handelns, das Immer-mehr, formuliert Schumpeter nach dem Leitspruch der spanischen Armada: Plus ultra. Den typgerechten kapitalistischen Unternehmer leite keinerlei hedonistisches Interesse, treibe kein Lustgefühl. Er widme seine »ganze Kraft dem Erwerb weiterer Gütermengen« ohne jede Absicht auf ihren Genuß. Sein Wille ist so ein rein agonaler: »Erfolghabenwollen des Erfolges als solchen wegen«. Auch ein Bankier wie Josef Ackermann versteht es, versteht sich so. Als Praktiker kann er das nur nicht so redlich bezeugen wie Schumpeter in seiner Theorie. Der Bankier weiß, daß er der gesellschaftlichen Akzeptanz von Unternehmer und Unternehmensführung seinen Zoll zu zahlen hat. So spricht er von Wachstum, das Wohlstand für alle verspreche, von Gewinn, der allein erlaube, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen und Steuern zu zahlen. Dabei hat er im Sinn, mit seiner Bank zu den besten zu gehören und mit ihr, bei aller »Risikomoral«, maximalen Gewinn zu erwirtschaften. Seinem systemischen Selbstverständnis nach ist der Staat für den Unternehmer, nicht der Unternehmer für den Staat da. Gegenüber dem Klartext des Bankiers nehmen sich Plädoyers für einen »sozialverträglichen«, ja gar einen »emotionalen« Kapitalismus, die sich zur Zeit wieder mehren, zumeist verklärend aus. Daß ein real existierender wie auch jeder nicht real existierende Sozialismus keine dem Menschen bekömmliche Alternative zum Kapitalismus darstellt, ist inzwischen den meisten, auf die es ankommt, klar. Damit aber ist dem Irrtum, daß es im Kapitalismus selbst eine Alternative gibt, Tür und Tor geöffnet. Ich sage das so hart, obwohl es ja für einen dem Leben und der Lebenswelt bekömmlicheren Kapitalismus nicht nur tagträumerische, sondern auch machbare Vorschläge gibt. Zu vermuten, daß der zum Homo oeconomicus der Neoliberalen pervertierte Mensch wieder zu einem gestandenen Homo politicus werden könnte, ist jedoch unter den herrschenden globalen Bedingungen abwegig. Langfristig zumindest wird sich der Kapitalismus mit Erfolg gegen staatliche Regulierung wenden, mit ebensolchem Erfolg aber staatliche Intervention fordern, wenn es nicht um die Rettung von ökonomisch Überholtem geht, sondern um die von ökonomisch Tauglichem, das, wie Schumpeter es formuliert, »durch se243 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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kundäre Umstände, Rückwirkungen, Zufälle gefährdet erscheint«. Dann geht es um die Stützung durch Kreditgewährung, um nichts sonst. Den enthemmten Kapitalismus international, ja global durch verbindliche Abkommen politisch zu steuern, durch einen Weltstaat gar, und dies mit sozialer und ökologischer, das heißt mit moralischer Kompetenz, ist schlechte Utopie. Ob die Wuppertaler mit ihrem »Faktor 10« zum Zuge kommen, der für ein Zehntel des Energieeinsatzes den gleichen Wohlstand verspricht, ob es vernünftig ist, Energie weit höher zu besteuern und mit dem Steuerertrag die Rente der Angestellten zu bezahlen, deren Arbeit sich dadurch um 20 % verbilligte, entscheidet sich unter den gegebenen polit-ökonomischen Bedingungen danach, ob es gut oder schlecht für grenzenloses wirtschaftliches Wachstum ist. Sich für Demokratien eine politische Vernunft zu erdenken, die, von der Vernunft des Kapitals abgekoppelt, über der Freiheit der Wirtschaft stünde, ist schlechte Abstraktion. Interventionistische Politik, die, der Wiederwahl dienlich, Industriebetriebe entgegen dem ökonomischen Gang der Dinge vor dem Konkurs zu retten sucht, nennt Ackermann freundlich einen »rückwärts gewandten Ansatz«. Geht es aber um »das Gerede, man brauche strikte Regeln, um den Kapitalismus zu bändigen«, dann weiß der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Robert A. Mundell im Dezember 2009 dazu nur bündig zu sagen: »Das ist schlicht Müll«. Ist der Kapitalismus einmal global am Zuge, dann ist die Hoffnung auf eine »gerechte« Marktwirtschaft, altmodisch gesagt, eine falsche. »Preise sind in einer Marktwirtschaft das Ergebnis von Knappheiten [die sich im übrigen durch Spekulation auch künstlich herstellen lassen], nicht von Gerechtigkeitsüberlegungen«. Ich weiß solche Klarstellungen eines Bankiers philosophisch mehr zu schätzen als die Muß-Logik eines Alternativökonomen, daß die Umstellung auf den sozialverträglichen Kapitalismus unvermeidlich sei, nicht weniger die Umstellung des Gesellschaftsvertrags auf eine klimagerechte Zivilisation. Diese appellative Behauptung eines notwendigen Ziels ohne konkrete Wegbeschreibung mag politisch brauchbar sein (wer von uns hätte nicht schon einmal Sympathie für Attac gehabt?), für den philosophischen Versuch, sich mit dem Kapitalismus auseinanderzusetzen, ist sie es auf keinen Fall. Schmerz und Wut angesichts dessen, was sich alles infolge menschlichen Wirtschaftens auf der Erde tut, brauchen keine als Antidepressiva verkauften Placebos. Der kürzlich verstorbene Alternativökonom Jörg Huffschmid 244 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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schreibt im Vorwort zur Neuauflage seines Buches »Politische Ökonomie der Finanzmärkte« 2002 unter dem Titel »Eine andere Welt ist möglich«: »Zur aktuellen neoliberalen und zunehmend gewaltförmigen Ausrichtung im Interesse einer Minderheit von Reichen und Finanzanlegern gibt es Alternativen. Zu ihnen gehört es, die Finanzmärkte nicht als Exekutoren einer über der Gesellschaft stehenden anonymen Gesetzmäßigkeit zu akzeptieren. Die Aufgabe besteht darin, sie als Instrumente einer vernünftigen wirtschaftlichen Ordnung zu regulieren und in eine demokratische Entwicklungsstrategie einzubetten.« Wer so schreibt, hat seine Rechnung nicht mit den mächtigsten global agierenden Industriestaaten gemacht, schon gar nicht mit dem durch sie praktizierten Kapitalismus. Vor allem aber hat er seine Rechnung nicht mit uns gemacht, mit uns und unserer Lebensform. Wenn Kapitalismus eines nötig hat, dann sich selbst. Ohne rigiden Kapitalismus funktioniert der Kapitalismus nicht. Die Boni beschneiden, verzockte Banken auf den Weg der Tugend, das heißt der Versorgung der Wirtschaft mit Krediten zurückzuzwingen, eine Steuer auf Finanztransaktionen, Tobin-Steuer genannt, einzuführen – nein, all diese propagierten Langsammacher, ob sie Parole bleiben oder örtlich umgesetzt werden, heben den einen und ungeteilten Kapitalismus nicht auf, der in allen Phasen seiner durch Aufschwung und Abschwung rhythmisierten Machtzunahme manifestiert, daß er weiß, was er für sich nötig hat. Sollten Sie argwöhnen, daß ich Ihnen den einzig möglichen, weil alternativlosen Weg des Wirtschaftens zeige, der doch angesichts der immer weiter aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich, mehr noch wegen der fortschreitenden Zerstörung der Lebenswelt sich als Sackgasse abzeichne, dann kann ich Sie schnell beruhigen: Sie selbst sind es, die sich längst in dieser Sackgasse wohnlich eingerichtet haben. Kapitalismus ist eine Lebensform, und zwar eine, die wir mitformen. Ich will damit auf keinen Clou hinaus, sondern nur deutlich machen: Wir alle sind Kapitalisten. Nein, ich meine nicht das, was Huffschmid anwidert: Ich denunziere uns nicht als gierige Kleinaktionäre, die sich um schnelle Schnäppchen betrogen sehen, wie wir es gestern neu von Elfriede Jelinek hörten, auch nicht als Fondsmanager, die nun als Idioten dastehen, selbst wenn einige von uns mitgemischt haben sollten. Ich tue das generell nicht, weil diese Verlegung aufs Persönliche an der Sache vorbeizielt. Wie immer es mit einem von uns sittlich, charakterlich, gefühlsmäßig und triebhaft be245 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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stellt sein mag, so ist doch unsere kapitalistische Lebensform eine systemische. Die Inszenierung unseres Alltags durch Arbeit und Feier, Geldverdienen und Geldausgeben, Handy- und Autonutzung, Wasser- und Energieverbrauch ist uns so gewohnt wie nötig. Das läßt uns vergessen, daß wir das einer Not verdanken, die der Kapitalismus an sich selbst hat, der wir damit zugleich dienen. Wie er sich selbst braucht, zeigt er seine Not, immer neu Unnötiges in Nötiges umzuwandeln. Nein, ich will Sie nicht aus Ihrem Cayenne oder Smart schubsen, Ihnen nicht die Fleischration kürzen und das Licht dimmen, sondern will Sie nur an Ihr verdrängtes Wissen erinnern, daß Sie vollintegrierte Mitträger des kapitalistischen Systems sind. Angenommen, Sie schmeißen kein Brot weg, benützen kein Flugzeug für den Urlaub, tragen das Hemd einen Tag länger, ein Systemausstieg, das wissen Sie selbst, ist damit nicht erreicht. Doch ich kann Sie entlasten, zumal moralisch: Als Mitträger des Kapitalismus spreche ich Sie als systemische Individuen an. Diese Entlastung der Person gilt auch für Sie als politische Parteigänger. Wie auch der Einzelne von Ihnen gewählt haben mag, der Ausgang der letzten Bundestagswahl ist demokratisch-systemisch entschieden worden: durch Mehrheit. Der aber war, ökonomisch-systemisch geurteilt, ein Volltreffer. Der Ausverkauf des Staates, den Erhard Eppler an dieser Stelle vor kurzem beklagt hat, wird nun noch besser betrieben, weil genau im Sinne der maximal möglichen wirtschaftlichen Freiheit. Soweit wir der Demos, das Volk sind, das an der Macht ist, gehören wir dem politischen System zu, das nun, ökonomisch-systemgerecht, die alten und neuen Privatisierungen wie Deregulierungen bejaht. Wir tragen es mit, daß Museen und Universitäten primär nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu verwalten sind. Sah man eben noch den dem Neoliberalismus dienlichen Staat, von Thomas Hobbes dazu angeregt, ganz auf Sicherheit zentriert, das meint auf Polizei und Gefängnisse, um alles wegzusperren, was sich gegen die Unerträglichkeiten kapitalistischen Wirtschaftens zur Wehr setzt, so ist auch hier die Privatisierung massiv in Gang gekommen. Müssen wir es nicht bereits für möglich halten, daß die progressive Entstaatlichung des Staates schließlich zur Privatisierung der drei politischen Gewalten führt? Das Funktionieren des Zusammenspiels von Exekutive, Legislative und Jurisdiktion würde dann nurmehr nach seinem ökonomischen Erfolg beurteilt. Auf diese Weise spiegelte sich der Kapitalismus im »Staat« als in seinen Selbstregulierungskräften. Wirtschaft und Staat, Geschäftemachen und Politik koinzidierten. 246 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Nachdem ich die politisch möglicherweise brauchbare Zielsetzung eines humaneren Kapitalismus, wie ich hoffe, philosophisch an die Wand gefahren habe, ist es möglich, aber auch nötig geworden, sich in der Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus neu zu orientieren. Dazu haben wir uns nur auf uns selbst zu besinnen, auf die Lebensform, sofern sie nicht die systemisch-kapitalistische ist. Das aber ist unsere alltägliche Form lebendigen Gelingens: Wir bedingen einander, wie wir miteinander leben und füreinander fruchtbar sind. Anstatt den besseren Kapitalismus als Zielvorgabe zu nehmen, ist es die andere Freiheit. Darf ich simplifizieren, nicht aus Zeitdruck, sondern der Überschaubarkeit der anstehenden Sache wegen, dann haben wir es in unseren unterschiedenen Lebensformen maßgeblich mit der einen und anderen Freiheit zu tun: im kapitalistischen Gebaren mit einer selbstischen, im lebensteiligen mit einer selbsthaften. Der Kapitalismus kann und will Freiheit nicht anders als zum eigenen Vorteil nutzen. Jedes systemkonforme, ja systemförderliche Mittel ist recht, um im Vermehren des Eigenen der Erste und Beste zu sein. Jeder Hinweis darauf, auf diese Weise den größtmöglichen Reichtum für alle zu schaffen, ist ein Stück ebenso nötiger wie lästiger Öffentlichkeitsarbeit. Wer glaubt, mit den Ölsandbaggern in Kanada und den Erdölpumpen im Nigerdelta ins Reine zu kommen, weil sie für den Wohlstand aller arbeiten, der wird auch daran glauben wollen, daß die polit-ökonomische Sicherung eines kontinuierlichen Zahlungsstroms vom Süden nach dem Norden sich nicht weniger günstig für den Süden als für den Norden auswirkt. Wer den Tisch mit Anderen teilt, zum Beispiel den Frühstückstisch, übt sich in einer Freiheit zu mehreren. Sie ist überhaupt nur Freiheit, sofern in ihrem Ensemble die eine auf die andere abgestimmt ist. Von ihr wird nicht Gebrauch gemacht, um vor dem Anderen sich seinen Teil zu sichern, das heißt nach Möglichkeit das Ganze. Jeder Eigensinn, der aus der Vereinzelung heraus agiert, ist ihr fremd. Sie beruht auf der im Umgang miteinander erworbenen Mitwisserschaft, daß jedes starke und mit sich einige Selbst sich einem gelingenden Einander verdankt. Das Problem der Freiheit, so meint man, liege darin, daß es sie in Mehrzahl gebe, somit Freiheit auf Freiheit stoße und jeweils die eine die andere behindere. Das Gegenteil ist der Fall. Freiheit, die für sich die einzige sein will, ist ihrer bewußten Vereinzelung nach notwendig selbstisch. Im Prinzip soll ihr nichts entgegenstehen, weswegen sie 247 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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sich maßlos gebärdet. Ganz anders die Freiheit zu mehreren. Sie zeigt Freiheit in der Form eines nicht erzwungenen, sondern freien Sichselbstmäßigens: Um selber frei zu sein, bedarf es des Anderen, weil der Freiheitsgebrauch des Einen und Anderen einander bedingt. Die leibhafte und die nicht leibhafte Präsenz von Anderen mit ihrem fortwährenden Wechsel von Ensemblebildungen ist für uns nötig, damit wir einander Halt, auch Einhalt sind. Der Andere muß kein Freund sein. Es genügt, sich seiner als Partner eines gelingenden Ensembles auf Zeit praktisch vergewissern zu können, etwa bei einem Brötchenkauf oder einer Taxifahrt. In beiden Fällen zielen lebensteilige Momente darauf ab, einen Ausgleich von Geld und geldwerter Leistung zustandezubringen. Anstatt nun aber beim Bäcker und im Taxi nur kapitalistische Maßlosigkeit am Werk zu sehen (die Bäckereifiliale eines Konzerns, der sich dem Niederkonkurrieren des anderen verpflichtet weiß, das Taxi einer Firma, die die anderen vom Markt zu verdrängen sucht), haben wir guten Grund, auf das menschliche Gelingen zu achten, das im Verhältnis von Käufer und Verkäufer, Fahrgast und Fahrer sich in der Regel ergibt. Keiner fühlt sich und ist vom Anderen beengt. Regeln, die in ihrem beiderseitigen Verhalten gelten, werden nicht als Zwänge von oben und außen erfahren, sofern sie in entsprechenden Situationen gemeinsam ausgebildet worden sind. Folgen Regulierung, Ordnung und Gesetzgebung dem Modell lebensteiligen Gelingens, dann zeigt sich in ihnen keine Einschränkung, sondern der Ausdruck der Freiheit. Das Pursuit of happiness, wie es, verfassungsmäßig garantiert, dem Capitalistic way of life als Pfadfinder dient, formuliert, als Lebensleitspruch gelesen, einen Selbstwiderspruch: Es gibt eine Handlungsmaxime für die Gesellschaft vor und spaltet sie damit auch schon. Die durch es in Aussicht gestellte Lebensform ist prinzipiell nicht verallgemeinerungsfähig, insofern es von einer Gesellschaft des Vorteil nehmenden Selbst ausgeht. Halten Sie es mit mir, daß lebensteiliges Gelingen die klarste Manifestation des Humanum ist, dann sind Ihnen auch die Augen dafür geöffnet, daß der Capitalistic way of life prinzipiell den Zugang zum Humanum verbaut. Die Lebensform der geteilten Freiheit zeigt an sich selbst, wie es unter uns menschlich zugeht. Das geschieht inmitten des herrschenden Plus ultra – ohne Anleihe bei Utopischem. Jeder von uns kann vom Vorteil nehmenden Selbst zum Anteil nehmenden wechseln und umgekehrt, vermitteln lassen sich beide Lebensformen jedoch nicht. Darum habe ich Ihnen auch keinen Weg 248 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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zur Verbesserung der Verhältnisse vorzuschlagen, komme ich Ihnen mit keinem Müßte und Sollte. Dennoch ist mein Verweis auf alltägliches Gelingen nicht ohne Hintersinn. Was da so klein und unscheinbar daherkommt, muß gegenüber dem Großen und Alternativlosen des herrschenden Plus ultra seinen Ministatus nicht notwendig beibehalten. Das Partner-Selbst, das den Anderen braucht, diesen Homo convivens in uns zu beachten und zu schätzen, dem Profit-Selbst dagegen, das allein auf Vorteil gegenüber Anderen geeicht ist, diesen Homo avarus in uns, Verdacht entgegenzubringen – damit beginnt bereits die Probe, ob nicht doch die Chance besteht, daß sich auf lange Sicht die Lebensform der Freiheit zu mehreren gegen die der maßlosen Freiheit durchzusetzen vermag. Dem, daß sich die Liebe zum Leben am Ende als stärker erweist als der Wille zum Ressourcenverbrauch um ihres Verbrauchs willen, widersetzt sich allein die Binnenlogik des Neoliberalismus, nicht aber die für die Widersprüche des Lebens offene Logik der geteilten Freiheit. Part angel, part devil – nein, diese simple Theologie greift hier nicht. Geht es um uns selbst, und das tut es, dann behalten wir den Standpunkt, von dem aus wir uns beurteilen, uns selbst vor. Was Maßlosigkeit anbelangt, ist Kapitalismus nicht ohne Konkurrenz. Nein, ich habe nicht das Komatrinken im Sinn, diese traurig-trostlose Selbstverlorenheit zumeist Jugendlicher in den Alkoholexzeß. Um von Konkurrenz zu reden, bedarf es der gleichen Augenhöhe. Dazu eignet sich nichts besser, als sich von den äußeren den inneren, von den irdischen den himmlischen Reichtümern zuzuwenden. Ich wechsle vom Kapitalismus zur Religion. Auch sie scheint es maßgeblich mit Freiheit zu tun zu haben, wenn sie doch gleichfalls den Staat bemüht, ihr dieselbe zu sichern. Der Freiheit des innerlichen Menschen, an Höheres, als er selbst ist, zu glauben, für sein Tun und Lassen ein Gewissen auszubilden, ja nach Draußen zu gehen und sich öffentlich zu seinem ganz besonderen, spirituell geprägten Inneren zu bekennen, ist im Grundgesetz, das die Grundrechte festsetzt, ein eigener Artikel (Nr. 4) gewidmet: Religiöser Glaube und religiöses Bekenntnis sei unverletzlich und das heißt als Freiheit garantiert. In diesem Falle freilich entläßt der vom Staat geschützte Freiraum Menschen nicht in ein ungehemmtes Treiben. Das lassen schon die Religionen selbst nicht zu. Nun eint aber monotheistische Religionen im Grunde nur eines: die bedingungslose Unterwerfung des Gläubigen unter den Willen einer höchsten Macht. Sollte damit individuelle Freiheit nicht schlechthin negiert sein, so ist sie 249 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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jedenfalls mit der des selbstischen Individuums unvergleichbar (was nicht ausschließt, daß ein Kapitalist religiös ist und ein Frommer zu den Neoliberalen tendiert). Vertrackt ist nur, daß Religionen in dem, was ihnen am wichtigsten ist, in ihrem Gottesverhältnis, einander nur in der Form, nicht aber im Gehalt gleichen. Selbst dann, wenn es, offen oder geheim, derselbe Gott wäre, dem sie vertrauen, so könnte doch die Verschiedenheit ihres Glaubens in Theorie und Praxis fundamentaler nicht sein. Wer den eigenen Glauben nicht teilt, ist ein Irrgläubiger, ja Ungläubiger. Sie merken schon: Hier ist nicht Freiheit das eigentliche Problem, sondern Wahrheit. Doch halten wir inne: Wie soll ausgerechnet in die Religion Wahrheit kommen? Wie soll gerade der spirituelle Mensch über Erkenntnis und Wissen verfügen? Kein Zweifel, wir sind bei den Wundern. Religiösen Glauben gibt es nur, sofern es Wunder zu glauben gibt. Das Wunder religiöser Wahrheit kann aber seine Herkunft nur dort haben, wo das Wunder sich als die Unhinterfragbarkeit selbst artikuliert. Genau das geschieht in der Offenbarung: Gott eröffnet sich dem Menschen, überzeugt ihn von sich, ohne sich mit ihm gemein zu machen und auf begreifbare Weise zu vergegenwärtigen. Aber aufgepaßt: Das absolute Wunder einer Religion ereignet sich nicht in ihrer Offenbarung, sondern wird im Glauben an sie vollbracht. Das Hervortreten Gottes aus der Verbergung ist ein Glaubensereignis. Liest man das jüdische Alte Testament, das christliche Neue Testament, den Koran, dann ist stets mehr vom Glauben als von Gott die Rede. Theologie, eher Glaubens- als Gotteslehre, vermittelt dem Gläubigen, was er als absolut verbindlich und wahr zu glauben hat. Doch nun zur religiösen Maßlosigkeit. Sie liegt im GeistigGeistlichen. Das Absolute, wie es den Homo religiosus in seinem Glauben herausfordert, überfordert ihn maßlos. Nur so trifft es ihn. Der zu glaubende Gott, angefangen mit dem absoluten Wunder seiner zu glaubenden Offenbarung, verlangt dem Glauben ab, das schlechthin Unbegreifliche zu glauben, das heißt in seiner Unbegreiflichkeit als unverrückbar wahr zu begreifen. Das religiös beanspruchte Absolute ist, was menschliches Begreifen anbelangt, das schlechthin Maßlose. Das Wunder, das der Glaube austrägt, macht ihn zur geistig-geistlich gelebten Maßlosigkeit. Das spricht nicht gegen die mögliche Einfalt des Frommen, der in Gemeinschaft mit seinesgleichen seinen Glauben praktiziert. Prallt aber, was sich aus der Nachbarschaft von Populationen mit unterschiedlicher Kultur und Religi250 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Maßlosigkeit
on seit alters wie zwangsläufig ergibt, ein absoluter Wahrheitsanspruch auf den anderen, dann gerät das Leben der jeweils Andersgläubigen nicht selten in Gefahr. Ich nehme an, Sie setzen Ihre Hoffnung auf den Dialog. In der Tat, man spricht vom Dialog der Religionen. Nun sind, seit Platons gelungenen Inszenierungen, Dialoge dazu da, in dem, was geistig und geistlich strittig ist, zu einer Übereinkunft zu finden. Konkurrieren jedoch drei Wunderglauben miteinander um das wahre Wunder, dann setzt ein einheitliches Ergebnis voraus, daß zwei der Konkurrenten aufgeben. Papst Benedikt XVI. gehört zu denen, die die Binnenlogik eines fundamental ergriffenen Glaubens begriffen haben. Hier kann es in Sachen Wahrheit keinen Relativismus geben. Es geht um nichts weniger als das Absolute. Das aber steht für eine, und nur eine Wahrheit. Auch jüdische und muslimische Glaubenslehrer, vermute ich, sehen das so. Geben Gläubige, wie vielfach bezeugt, eher ihr Leben als ihren Glauben preis, dann setzen sie noch viel weniger im Gespräch mit Andersgläubigen den eigenen Glauben aufs Spiel. Aber was sagen sie denn dann einander? Benedikt XVI. gibt ein Beispiel. Er lobt andere Religionen wegen ihrer Offenheit für Transzendenz. Im gleichen Atemzug erklärt er sie – wörtlich – für vorchristlich und adventlich. Das heißt, er sieht sie, ob sie es selber merken oder nicht, auf dem Wege zur einzig wahren Religion, der er selbst vorsteht: In ihr allein sei der göttliche Logos in Gottes Sohn Fleisch geworden. Könnte ein Philosoph zwischen den Religionen vermitteln? Nein, wenn sich ihre Repräsentanten, jeder für sich, als einzig rechtgläubig verstehen, ist das unmöglich. Jeder selbstbewußt Rechtgläubige nämlich entwickelt eine Form, er selbst zu sein, die in ihrer Maßlosigkeit keine Kräfte der Selbstmäßigung zuläßt. Diese Entwicklung ist nicht notwendig, und ist doch folgerichtig, sofern der Fromme dank der Binnenlogik seines Glaubens in ihm das einzig wahre Fundament menschlichen Lebens erkennt. Nun mag ihn der Philosoph vorsichtig darauf verweisen, daß der truth-maker seiner absoluten Wahrheit nicht erkennbarerweise auf Erden, sondern geglaubterweise im Himmel zu orten ist. Das aber, versteht er sich recht, kann ihn nur bestärken, nämlich im Glauben. Wäre das, was er glaubt, »hier« nachzuweisen, sähe er sich um den Glauben gebracht – wir wissen: um den Wunderglauben. Religiöse Orthodoxie, die sich auf absolute Wahrheit und damit auf universelle Verbindlichkeit des eigenen Bekennens und Handelns beruft, läßt den Gläubigen einen besonderen Begriff vom eigenen 251 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Maßlosigkeit
Selbst gewinnen. Verfährt er in seinem Gottesbezug, als enteignete er sich seines Selbst, so entnimmt er seinem Einzig-im-Recht-Sein den Anspruch, Andersgläubige in ihrem Selbstsein zu vereinnahmen. Habe ich dem Exekutor des ökonomischen Plus ultra ein Vorteil nehmendes Selbst nachgesagt, so möchte ich beim religiösen Fundamentalisten von einem vereinnahmenden sprechen. Der religiöse Usurpator glaubt, in höchstem Auftrag jedes andere Selbst in Beschlag nehmen und seines geistig-geistlichen Andersseins berauben zu müssen. Jede Mäßigung seines Anspruchs käme ihm als Glaubensverrat vor. Die Binnenlogik des Glaubens steht so der Binnenlogik des Kapitals an Maßlosigkeit nicht nach. Daraus resultiert, daß die Bedrohung lebensteiligen Gelingens in geteilter Freiheit durch fundamentalistisch gehandhabten Glauben keine geringere ist als die durch rücksichtslos gehandhabtes Wirtschaften. Bringe ich Formen ökonomischer und religiöser Maßlosigkeit, die für unser Leben relevant sind, kritisch zur Darstellung, dann tue ich das als Anwalt der Maßlosigkeit. »Maßlosigkeit im lebendigen Verhalten und Handeln ist so alt wie der geschichtliche Mensch. Sie gehört zu seiner Natur und Kultur.« So beginne ich mein Buch über Maßlosigkeit, um fortzufahren: »Im Fühlen, Denken und Wollen, Schaffen und Gestalten feiert sie nicht weniger ihre Triumphe als im Wünschen und Begehren. Was wären Lieben und Hassen, Genießen und Leiden, Hoffen und Verzweifeln ohne die Möglichkeit, darin maßlos zu sein? Werden politische und ökonomische Macht, sinnliche Lust und religiöse Innerlichkeit, wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische Gestaltung zur Leidenschaft, so ist all das der Maßlosigkeit ausgesetzt.« Wir sind maßlos. Zu unserem Glück sind wir das freilich nur, wenn die gelebten und belebenden Maßlosigkeiten sich nicht verselbständigen. Um menschlichem Gelingen zuzugehören, haben sie zu ihrer Mäßigung zu finden. Was eine Balance von Maßlosigkeit und Mäßigung bedeutet, ergibt sich jeweils aus der Situation und nie für immer. Das Verhältnis von ungestüm und bedächtig, von chaotisch und geregelt ist ein freies, das an der Freiheit zu mehreren Maß nimmt. Mäßigung, die von außen und mit Zwang kommt, führt, falls sie überhaupt gelingt, zu nichts Fruchtbarem. Mäßigung ist nur dann konstitutives Moment lebendigen Gelingens, wenn sie der Maßlosigkeit selbst entspringt. Rituale sind eine Form religiöser Selbstmäßigung. So verbinden gebärdengeprägte Dank- und Hilfsgebete mit dem Glauben und Hof252 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Maßlosigkeit
fen, das in ihnen zum Ausdruck kommt, keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Der Güterproduzent und Geldverleiher wieder, der es den Umständen abzutrotzen versteht, auf Bedürfnisse einzugehen, die er nicht selbst hervorgebracht hat und die zu befriedigen er im Interesse des Wohlbefindens, nicht des Wohlstands von Anderen erkennt, manifestiert ein Wirtschaften, das prinzipiell auf Selbstmäßigung hin angelegt ist. Keine Binnenlogik einer Ökonomie kommt hier zum Zuge, die die Zwänge der Innovation um der Innovation willen und des Wachstums um des Wachstums willen hervorbringt. Religiöses und wirtschaftliches Leben zeigen auch unter heutigen Bedingungen im Pendelschlag von Maßlosigkeit zur Mäßigung und zurück Möglichkeiten menschlichen Gelingens. Das letzte Wort hat die Kunst: die Bühnenkunst – das aber nicht, weil es sich in diesem Hause so gehörte, sondern weil es dem Philosophen ein Finale eröffnet, das alle Kritik fahren läßt und sich in reiner Zustimmung ergeht. Diese verheißungsvolle neue Einseitigkeit überzeugt freilich nur, wenn wir zuvor in unserem Verständnis von Ensemble umdenken. Die Rede von Schauspieler- und Musikerensemble hat dann nicht länger das Sagen. Das Ensemble, das die Bühnenwirklichkeit prägt, ist von anderer Aktualität und Weite. So bilden bei der Aufführung eines Bühnenstücks nicht allein die Schauspieler das In-simul, das heißt das gegenwärtige gemeinsame Handeln. Mitgegenwärtig und konstitutiv für das In-simul sind nicht weniger der Stückeschreiber und der Regisseur mit seinen Mit- und Zuarbeitern, die Zuhörer und Zuschauer samt dem Kritiker, der unter ihnen sitzt, Intendanz und Dramaturgie nicht zu vergessen, ja auch nicht die Verantwortlichen für das kulturelle Engagement der Stadt. Wir alle sind Spieler, wenn das heißt, daß sich jeder von uns in seinen lebendigen Belangen aufs vielfältigste inszeniert. Doch das ist richtig zu verstehen: Wie sind nicht bloß, sondern sogar Spieler. Als was wir uns inszenieren, das sind wir. Eine stillende Mutter kommt nicht darum herum, eine Inszenierung zu sein, ein kontrollierender Schaffner ebenfalls nicht. In diesem Augenblick inszenieren Sie sich als Zuhörer (der eine so, der andere anders) und ich mich als Vortragender. In den lebensteiligen und lebensgestalterischen Zeiten des Tags und der Nacht sind wir von Augenblick zu Augenblick in wechselseitigen Inszenierungen vereint. Darum ist auch umzudenken bei der gern angestellten Prüfung, ob ein aufgeführtes Bühnenstück dem ausdrücklichen und unausdrücklichen Anspruch auf gesellschaftliche Relevanz gerecht wird, sei es, daß er vom Stück ausgeht, sei es, daß er 253 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Maßlosigkeit
an es herangetragen wird. Ob Ibsens »Baumeister Solness« oder Jelineks »Die Kontrakte des Kaufmanns« aufgeführt werden, jeweils liegt es am großen Aufführungsensemble dieser Stücke, daß sich in ihnen höchst aktuell die Gesellschaft selbst aufführt, und dies als exemplarisches Ereignis gelingender oder mißlingender Lebensteilung. Ob die Bühne drei Wände hat, oder, den Mitspielstatus des Publikums verändernd, vier, was immer auf ihr vor sich geht, zeigt ein Zusammenspiel ausgelassenster Maßlosigkeit und gelassenster Mäßigung, ob laut oder leise, heiter oder ernst. Soweit die Aufführung etwas vorn Nerv des Lebens trifft, gelingt das Spiel. Keine Stille kann zu still sein, um nicht aus sich selbst zurück zur Mäßigung zu finden, in der sich die Kräfte aller wirksam Mitspielenden sammeln und aufladen, um sich aufs neue dem Wagnis des Maßlosen auszusetzen. Im Prinzip kann auf der Bühne kein Schrei zu schrill, kein Wort zu derb, kein Ohr zu grün sein, um, aufs Ganze gesehen und gehört, nicht einer Balance auf Zeit von Maßlosigkeit und Mäßigung zuzugehören. Wie das Ensemble die Dramatik des aufgeführten Lebens gestaltet und erfährt, ist es ein Ensemble von Freiheiten. Die Freiheit zu mehreren zeigt dabei ihr ganzes Können, sich ihrer wechselseitigen Abgestimmtheit praktisch zu vergewissern. Löst sich das Ensemble einer Aufführung wieder auf, so wäre es das deutlichste Zeichen, daß sie gelungen war, wenn die künstlerisch in Szene gesetzte Maßlosigkeit dominant in Erinnerung bliebe. Gemeint ist die Maßlosigkeit in Wort und Geste, Beherzt- und Verzagtheit, Analyse und Argument, wie sie die Mitspieler, ob konzeptiv, aktiv oder passiv, als Meister der Mäßigung zeigt: als sie Mitgestaltende und Miterfahrende. Für Philosophie gibt Bühnenkunst, exemplarisch für Kunst, das Vorbild, wie menschliches Gelingen, so es am Verhältnis von Maßlosigkeit und Mäßigung hängt, aufs dramatischste immer neu wirklich sein kann. Und was ist jetzt mit dem Kapitalismus und seiner unmäßigen Maßlosigkeit? Ja, den haben wir. Wir selbst leben ihn, gestalten ihn und, um es an dieser Stelle sachgemäß zu sagen: Wir inszenieren ihn. Wir alle. Anrührende, auch beeindruckende Ausnahmen heben den Allquantor nicht auf.
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Geistige Radikalität
Geistige Radikalität baut formal auf ausschließendem Entweder-Oder auf. Sie läßt kein Grau, kein Lau zu, kein »So geht es auch«. Wo immer sie zu Hause ist, zeigt sich ein Riß, der nicht zu nähen, ein Unterschied, der nicht zu vermitteln ist. Ihr »Wurzelhaftes« steckt in ihrer Entschiedenheit, die sich im Leben als Vorentschiedenheit erweist. Es zeichnet ihren Charakter aus, Anderen stets usurpatorisch zu begegnen. Ihr erster Zugriff ist ein sprachlicher, dem in der Regel Taten folgen. »Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich« 1 – nein, dies so rein gemeinte und doch Zwietracht säende Wort ist zu früh zitiert. Sprachliche Anmaßungen, mit denen geistige Institutionen an die Öffentlichkeit treten, sind keine Kriegserklärungen. Man gibt sich einladend. Die sprachlich-gedankliche Inbesitznahme der Wahrheit ist als Geschenk gemeint, das anzunehmen als das Natürlichste und Plausibelste erscheinen muß. Dichtung und Wahrheit, Wahrheit und Lüge – das ist die Konjunktion, die geistige Radikalität wie mit einem Schlag spaltet und so die Urform ihres Entweder-Oder hervorbringt. Dem Philosophen Bertrand Russell sagt sein »robuster Sinn für Wirklichkeit«, daß es in Wirklichkeit keinen Hamlet gebe, sondern allein Shakespeare, der diese Gestalt erdichtet hat. Das ist Usurpation: Wahr ist allein das, was epistemisch zu verifizieren ist. Dichtung und Wahrheit sind demnach absolut getrennt. Wo käme auch Wissenschaft, die als methodisch-epistemischer Fangarm unseres lebenspraktisch bewährten Realitätssinnes fungiert, hin, wenn sie in ihrem eigensten Interesse Dichtung als wahrheitsfähig zuließe? Ein Wissenschaftler mag Geige spielen und Gotteshäuser aufsuchen, aber er tut das dann als musisch und religiös Begabter, nicht als Wissenschaftler. Wissenschaften, die auf Empirie als dem ersten und letzten Grund ihres Wissens bestehen, sind radikal: Wer es mit seinen geistigen Kräften anders halte, 1
Matthäus 12,30.
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Geistige Radikalität
habe nichts mit ihnen gemein, gehöre nicht zu denen, die wirklich zur Wahrheit fähig sind. Verzichtet der Wissenschaftler auf das Wort Wahrheit, weil es ihm allzu beladen vorkommt, dann hält er es mit der Wirklichkeit, mit der wirklichen, versteht sich. Nun geben sich Wissenschaftler zwar als eifrige, aber doch friedliche Leute. Was sie der Technik und dem Markt an für den Menschen selbstzerstörerischen Möglichkeiten vorgeben, liegt für sie außerhalb ihrer Verantwortung. »Kreuzzüge«, die Wissenschaftler untereinander führen, enden zumeist mit einem Fortschritt der Wissenschaft. Was theoretisch wie praktisch nicht für neue Untersuchungsanordnungen, Forschungen und Wissensaneignung taugt, erledigt sich in der Wissenschaft mit der Zeit von selbst. Da verhalten sich Philosophie zumeist und Religion stets in ihrer Radikalität anders. Wissenschaften usurpieren, im Bild gesagt, nichts anderes als den Kopf, gemeint sind Verstand, Realitätssinn, bon sens, gesunde Sinne. Ist einer »mit Leib und Seele« Wissenschaftler, um sich so mit seinem Beruf, ja seiner Berufung zu identifizieren, dann bekennt er sich zu Klarheit und Genauigkeit. Philosophie, sofern sie nicht mit Wissenschaft und rationaler Aufklärung paktiert, sondern maßgeblich Gott und Göttliches ins Spiel bringt, verlangt, wie auch Religion, deutlich mehr. Zwar schwören beide nicht, zumindest nicht initial, dem Verstand ab. Worauf sie sich aber eigentlich verlegen, sind Herz und Seele. Das Ganz-Andere ihrer Usurpation läßt sich allein schon an der Weise kenntlich machen, wie sie universell die menschlichen Köpfe für sich beanspruchen. Sie belangen den Intellekt, weil der allein dazu taugt, das sacrificium intellectus auf sich zu nehmen, das sie ihm notwendig abverlangen. Verstand und Vernunft sollen sich unterwerfen. Herz und Seele sind es, die volle Dominanz fordern. Sie tun das nicht willkürlich, sind sie sich doch traumwandlerisch sicher, Unmögliches vermögen zu müssen. Wenn nicht ohne Wissen, dann doch ohne es offen zu bekennen, sind sie von vornherein auf Seiten der Poesie. Was gesicherter Erkenntnis zufolge unmöglich ist, kann für theologische Philosophie und Religion möglich sein. Derart radikal dem robusten Wirklichkeitssinn zu widersprechen, verlangt von beiden nicht, ihre sinnlich-geistige Mitgift zu vergewaltigen. Das Mögliche und Unmögliche anders einzuschätzen, ist elementar für ihre Entschiedenheit. Gibt es für sie kein Zaudern, Abwägen und Sichberaten, dann ist das keine Charaktereigenschaft des geistig Radikalen. Das Wahre und Wirkliche und insofern auch das Mögliche »ganz 256 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Geistige Radikalität
anders« einzuschätzen, verdankt sich keinem Starrsinn, sondern der »ganz anderen« ausschließenden Alternative, die der Urakt geistiger Radikalität ist. Kants Kritiken verfolgen die Absicht, das den menschlichen Vermögen Mögliche vom Unmöglichen zu scheiden, um ihnen ihre »gerechten Ansprüche« zu sichern, ihre »grundlosen Anmaßungen« aber auszutreiben. Sollen Philosophie und Religion möglich sein, dann könnten sie nur auf Vernunft gründen, 2 theologische Philosophie und historische Religionen können jedoch unmöglich den Aufklärer dort das Sagen haben lassen, wo es – emphatisch – um die wahre Bestimmung des Menschen geht. In ihren Augen, so ist das zu deuten, fehlt Kant die dafür nötige geistige Radikalität. Anstatt Vernunft als Leitvermögen und Letztbestimmung des Menschen in Frage zu stellen, macht er sie selbstbezüglich: Es sei vernünftig, vernünftig zu sein. Der Mensch komme seiner Pflicht nach, wenn er Vernunft darin erhalte, nichts als sie selbst zu sein. Die Kritik an Kants Vernunftkonzept, die eine Kritik an Alltagsverstand, Realitätssinn und Wissenschaft einschließt, spricht Kant einen radikalen Begriff vom Menschen ab. Kant gibt in der Tat ein Musterbeispiel für Denken, das nicht radikal ist. Zeigt es sich im Praktischen rigoristisch, dann fehlt ihm doch Radikalität, die alles Vertraute, Bewährte und Einsichtige über den Haufen wirft, um etwas für zuhöchst möglich, ja eben wirklich und notwendig zu erklären, das, nach geläufiger Art zu urteilen, unmöglich ist. Bei Kant handelt es sich entweder um eine durch rigides Denken bedingte Fehleinschätzung des praktisch Tunlichen und Möglichen oder um die Fiktion eines Regulativs für das Handeln, das mit seiner der Rationalität geschuldeten Universalität praktisch nicht als vollends umsetzbar gemeint ist. Das gilt nicht nur für sein Lügenverbot, das als Vernunftgesetz keine Ausnahme zulassen kann, 3 sondern auch für sein Konzept des von ihm »kategorisch« genannten Imperativs, das wider alle Erfahrung und wissenschaftliche Kant, »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, in: ders., Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (im folgenden AA), Bd. VI, Berlin 1900 ff., 115. 3 Kant, »Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen«, in: ders., AA VIII, 425–430. Kants Argumentation, daß Wahrheit, die das ausgewählte Opfer dem Mordwilligen preisgibt, durch Zufall vor ihm schützen, die Lüge, die es vor ihm schützt, durch Zufall ihm preisgeben kann, ist das Gegenteil eines Bravourstücks »reiner« Vernunft. 2
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Erkenntnis eine reine, zum Beispiel von Emotionen absolut getrennte Vernunft voraussetzt. Daß er sich mit seinem Konzept des praktisch Möglichen (und Notwendigen) übernommen hat, zeigt sich besonders deutlich, wenn er versucht, die Freiheit, die gänzlich im mundus intelligibilis beheimatet ist, im mundus sensibilis wirksam werden zu lassen. Daß Kant in seinem Denken allenfalls radikal erscheint, es aber nicht ist, beweisen Radikale wie der Philosoph Heidegger und der Theologe Paulus: Sie vertun sich unmöglich bei dem, was in ihrem Sinne möglich ist, aber Kant vertut sich. Selbst wenn Kant als theologiefreier Philosoph die Wahrheit der Religion usurpiert, wird er nicht wirklich radikal: »Das Kennzeichen der wahren Kirche ist die Allgemeinheit und ihre nur auf eine einzige Art mögliche Bestimmbarkeit.« 4 Was für den Christen das in Jesus Christus fleischgewordene Wort Gottes ist, 5 ist für Kant die reine Vernunft. Die formale Gleichheit beruht auf der Universalität des Anspruchs: Es ist einzig Christus, der den Menschen erlöst; es ist einzig reine Vernunft, in der der Mensch seine Bestimmung findet. Predigt die Religion das »ganz andere« Leben, das von den Bedingungen einer rationalen Bewältigung erlöst ist, dann der rationale Aufklärer die Vervollkommnung rationaler Selbsterhaltung, die in der Selbsterhaltung der Vernunft kulminiert. Darin liegt keine Spur von geistiger Radikalität. Sie entdeckt sich auch nicht, wenn die formale Gleichheit noch weiter verfolgt wird. Kant versteht sein Vernunftkonzept, religiös formuliert, adventistisch: Alle historischen Religionen sind im besten Falle Vorformen seiner Vernunftreligion, in die sie aufgehen müssen, um wahre Kirche zu sein. Entsprechend hält die Römisch-Katholische Kirche alle Religionen, die Sinn für Transzendenz ausbilden, für adventistisch – dazu bestimmt, in der einzig wahrhaft »katholischen« Römischen Kirche aufzugehen. 6 Dieser Anspruch, auf der Erde das einzige Tor zum »neuen Menschen« zu verwalten, ist radikal, der für menschenmöglich gehaltenen praktischen Vernunft das Wort zu reden, ist es dagegen nicht. Wird Kants Konzept der Vernunftreligion, die alles »Statuarische«, das meint alle partikulare Gestaltung von Verordnungen aufhebt, als radikale Religionskritik verstanden, dann von denen, die sich Kant, »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, 115. Johannes 1,14. 6 Cardinal Joseph Ratzinger, »Culture and Truth: Some Reflections on the Encyclical Letter Fides et Ratio«, in: Sensus Communis 5 (2004), Nr. 2–3, 283–286. 4 5
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Geistige Radikalität
in ihrer eigenen Radikalität durch rationale Gegenargumente auf absurde Weise verkannt sehen. Kants wahre Kirche ist ja nichts anderes als der Kategorische Imperativ in religiöser Verbrämung. Wer von Gott vollbrachte Wunder braucht, um, vom Göttlichen überwältigt, zum Glauben gebracht zu werden, dem wird Kants Hantieren mit Vernunftutopie und Vernunftideal reichlich bieder vorkommen. In christlicher Religion, auf jüdischer basierend, braucht der Gläubige den unberechenbaren und gerade darin verläßlichen Gott, den deus absconditus, 7 der ihm radikal Neues verspricht, nicht aber die universelle Einfalt einer reinen Vernunft. Der christliche Glaube als »statuarischer«, der den eigenen Gottesdienst zur »obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen« macht, ist in Kants Augen ein »Religionswahn«, den er als »die Täuschung« erklärt, »die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichbedeutend zu halten«. 8 Selbst wenn seine Vernunft sich im Kontext dazu versteigt zu wissen, daß Gott selbst Kants »allgemeine Weltreligion« als die »wahre, alleinige« fordere, bleibt er nur der Logik seines Konzepts treu. Der christlichen Wunderbotschaft hat er zu Recht nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. »Sichtbare« und »historische« Religion, wie Kant sie nennt, sowie eschatologische Philosophie, lassen den Menschen sich nicht mit Vernunft identifizieren, die sich der Bewältigung des Lebens unter Menschen verschrieben hat, sondern versprechen ihm das »Licht« der ganz anderen Wahrheit und des ganz anderen Lebens, fordern von ihm, sich Gott zu übereignen, dem »Sein selbst« zu entsprechen. Wie Jesaja sagt, geht es um einen neuen Himmel und eine neue Erde, 9 wie Paulus sagt, um einen neuen Menschen, 10 wie Heidegger sagt, um einen in »ein anderes Wesen« gewiesenen Menschen. 11 Geistige Radikalität macht ihr Unverständliches allein insoweit verständlich, als mit dem Neuen das Menschenrelevante von gänzlich anderer Art werden soll. Die Emphase des wahren Menschen zielt stets auf sein wahres Selbst. So wird denn auch die radikalste ausschließende Alternative Jesaja 45,15. Kant, »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, 168. 9 Jesaja 65,17. 10 Epheser 4,24; Kolosser 3,10. 11 Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), in: ders., Gesamtausgabe (im folgenden GA) 65, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt/M. 1989, 491. 7 8
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Geistige Radikalität
dem Selbst angetragen: es selbst oder nicht es selbst zu sein. Der geistig Radikale aber braucht die Selbstradikalisierung in der Form einer absoluten Differenz in sich, um das emphatisch wahre Selbst zu konstituieren, das so etwas wie die Identität mit seiner Wesensbestimmung meint. Konzepte von Aristoteles und Heidegger können das veranschaulichen. Wie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik insistiert, ist das Göttliche im Menschen sein eigentliches Selbst, das er am liebsten für den ganzen Menschen nehmen möchte. Weil aber Mensch und Gott sich als sterblich und unsterblich unterscheiden, lautet für wahres Selbstsein die Devise notwendig »athanatizein«: 12 Alles wahrhaft vernünftige Mühen hat der Unsterblichkeit zu gelten! Heidegger dagegen sieht in Sein und Zeit die Herausforderung wahrhaften Selbstseins darin, sich des eigenen Todes als der »eigensten eigentlichen Möglichkeit« anzunehmen. 13 Entsprechend lautet seine Devise für wahres Selbstsein »Sein zum Tode«. Schon 1919 verweist er auf den Baum des Lebens. 14 Zu ihm ist dem Menschen der Zugang und damit die Unsterblichkeit für immer verwehrt. Dem Selbst in seiner Eigentlichkeit bleibt nichts, als des Todes zu sein. Weder »Sein zum Tode« noch »athanatizein« sind taugliche Lebensrezepte. Aber darauf hat es geistige Radikalität auch nicht abgesehen. Auf Unsterblichkeit oder auf Tödlichkeit entworfen – die Radikalisierung des Selbstseins führt nicht zu gleichen Resultaten. Auch Kant bestimmt das »eigentliche Selbst«. 15 Er ortet es im Intelligiblen, wo eine von Sinnlichkeit unabhängige Vernunft Normen setzt. Als wäre er ein Chamäleon, paßt sich der Mensch gänzlich dieser Verortung an, um rein »als Intelligenz« eigentliches Selbst bzw. als »Wille« in Koinzidenz mit reiner praktischer Vernunft zu sein. Das ist eine ideale, keine radikale Selbstdeutung. Kant braucht das Konstrukt eines reinen Vernunftwesens, das dank reiner Geistigkeit auch frei zu rein vernünftigem Handeln ist, um wenigstens versuchsweise zu erklären, wie die einzig zur Selbsterhaltung der Vernunft freie Freiheit im Sinnlichen zur Wirkung kommen soll. Die einzige, die poeti-
Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7, 1177b33. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2001, 302. 14 Siehe Verf., Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust, Freiburg (u. a.) 2012, 23 ff. 15 Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders., AA IV, 457–458; 461. 12 13
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sche Möglichkeit, Unmögliches möglich zu machen, kann und will er nicht wahrnehmen. In theologischer Philosophie und monotheistischer Religion, nicht ganz so eindeutig in den Götterdichtungen Homers und Hesiods, liegt der Radikalisierung des Selbst der Grundsatz menschlicher Selbstpoetisierung zugrunde: »Ich bin kein Gott« – als Auszeichnung des Menschen. Diese absolute Differenz schafft das Maß, an dem sich zu messen die höchste Möglichkeit der Selbstdramatisierung ist. Das Selbst ist so das geistige Ich in seinem durch Selbstdifferenzierung möglich und nötig gewordenen Selbstbezug. Deutet es sich als Denkseele, 16 als reine praktische Vernunft, 17 als gläubiges Herz, 18 als »das nackte ›Daß‹ im Nichts der Welt«, 19 dann ist das Drama der Selbstentzweiung in Gang gesetzt. Geistige Radikalität hat sich ihres fundamentum inconcussum vergewissert, sobald sie beim wahren und authentischen Selbst angelangt ist. Wahrheit und Authentizität im emphatischen Sinne sind die bevorzugten Prädikate der Selbstadelung im Zuge der Selbstpoetisierung. Am Maßstab der Selbstentzweiung gemessen, lebt geistige Selbstadelung von Diffamierung und Diskriminierung, die intrahumane und interhumane Gestalt annimmt. Die Entzweiung im Menschen und unter Menschen hat sich als die von Licht und Dunkel gedeutet, von Wahrheit und Lüge, Gut und Böse, als die von Adligem und Gemeinem, Reinem und Unreinem, als die des Selbst, das um sein eigentliches Selbstsein kämpft, und des Selbst, das vor ihm flieht. Das Radikale am Geist ist, daß er auf der Unversöhnlichkeit des entzweiten Selbst besteht. Tritt bei Kant ein »doppeltes Selbst« auf: des Selbst des geistigen und das des sinnlichen Menschen, 20 dann mag er dem inneren Ankläger eine noch so große moralische Macht zudenken, er inszeniert damit doch allein das Gewissen, das sich als Sachwalter der reinen Vernunft aufführt. Im Verhältnis von anklagendem und sich verteidigendem Selbst geht es nicht eigentlich dramatisch zu. Das Idealische reicht nicht weiter als das Bestreben der Vernunft, rein sie selbst zu bleiben. Um Radikalität zu demonstrieren, hätte es schon Platon, Phaidon, Politeia; Aristoteles, De anima. Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 412: »[…] so ist der ›an sich gute‹ Wille nichts anderes als praktische Vernunft«. 18 Römer 10,10. 19 Heidegger, Sein und Zeit, 276–277. 20 Kant, »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 438–439. 16 17
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bedurft, daß Vernunft, und wäre es nur für einen außerordentlichen Moment, mehr leistet, als sie zu leisten vermag. Das tut sie zum Beispiel bei Schelling, wenn sie gelingend mit dem zu tun bekommt, »was schlechterdings außer der Vernunft« ist. 21 Dazu fehlt Kants Philosophie das Theologische, das aus »Gott« mehr machte als das dem homo noumenon zugedachte höchste Vernunftregiment. Radikale Philosophie ist theologisch, wenn auch nicht notwendig religiös. Treibt Kant die von ihm vorgenommene Scheidung des Intelligiblen und Sinnlichen allein zu Idealisierungen im Bereich des Menschlichen, dann verlangt die theologische Scheidung von Mensch und Gott die Transzendenz menschlicher Rationalität. Auch wenn theologische Philosophen, anders als Heidegger, nicht zu Propheten eines Gottes werden, tragen sie wie von selbst dafür Sorge, das eigene Denken poetisch zu verklären: Es sei eigentlich die Sache Gottes. In großer Klarheit erkennt das Aristoteles, wenn er bei dem Versuch einer Höchstbestimmung von Wissenschaft die notwendige Doppelung begreift: Es ist die Wissenschaft Gottes und hat Gott zum Gegenstand. 22 Der denkende Mensch konkurriert nicht mit Gott; er bleibt sterblich. Aber für Augenblicke vermag er es Gott gleichzutun. Das Wissen von Gott beruht beim theologischen Philosophen nicht allein auf der Kenntnis erdichteter Götterwelten und auf der Evidenz religiöser Praxis, sondern wesentlich auf seinem eigenen poetischen Entwurf, der darin besteht, menschliche Denkart so weit zu treiben, daß sie das Vermögen des Menschen übersteigt. Der Versuch, ein Denken zu denken, in dem sich der Mensch als Denkender selbst überbietet, gibt sich bei Aristoteles als geglückt. 23 Obgleich es der Philosoph ist, der dies Denken denkt, ist, wie durch ein Wunder, das Denken Gottes gedacht. Das als unüberbietbar gedachte sich selbst denkende Denken wird von Aristoteles als der sich selbst denkende Gott bestimmt. Dieser hat keine anderen denkenden Götter neben sich, sondern in der Ewigkeit und Glückseligkeit seines Denkens allein den denkenden Menschen in seiner Zeitlichkeit. Alles, was dem Philosophen zur Vervollkommnung des als zuhöchst gut und glückhaft Gedachten in den Sinn kommt, schanzt er ihm zu (im
Schelling, »Einleitung in die Philosophie der Offenbarung. 8. Vorlesung«, in: Schellings Werke, hrsg. von Manfred Schröter, 6. Ergänzungsband, München 1954, 147–174. 22 Aristoteles, Metaphysik, Λ 7, 1072b18–28. 23 Ebd. 21
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Sinne einer chance, eines Glücksfalls): die vollkommene Lust, den vollkommenen Adel, die vollkommene Tätigkeit, das vollkommene Leben. Kein Ideal ist entworfen, keine Utopie. Das Denken selbst ist es, das sich radikal positioniert. Es läßt die Frage nicht zu, ob denn Gott wirklich als der sich aufs lustvollste und edelste ewig sich selbst Denkende ist. Das Denken ist es, das in seiner Radikalität für die Wahrheit dieses Gedankens einsteht. Das ist im Sinne einer erhellenden, nicht entzaubernden Aufklärung so gesagt. Aristoteles selbst gesteht es sich nicht ein, mit seiner Denkkunst (Noetik) eine besondere Art von Poet zu sein. Philosophie als Theologik, als Wissenschaft von Gott und vom Göttlichen – das ist die ganz andere Wissenschaft mit ihrer ganz anderen Wahrheit. Hat Denkkunst einmal die Grenze des dem poesielos forschenden Menschen Unmöglichen überschritten, dann ist dem Denken jede Sicherheit genommen, zwischen sich und dem Gedachten zu unterscheiden. Im Denken des Denkens Gottes wird das Denken selbst göttlich. Das hat den unendlichen Vorzug, ganz von selbst nichts als wahr zu sein. Die Behauptung wiederholt sich, daß im radikalen Denken das Denken selbst die Wahrheit ist. Theologische Denkkünstler pflegen nicht notwendig denselben Denkstil. Selbst wenn sie, ohne es zu merken, ihr Künstlertum entdecken und das Denken für zweckfrei erklären, kann es unterschiedlich geprägt sein. Ist es bei Aristoteles ganz auf erkennendes Einsehen angelegt, dann bei Heidegger auf Fragen und Staunen, das sich von jedem Erkennenwollen distanziert. In seinem Anspruch, philosophisch wahrhaft radikal zu sein, wie er ihn im Alter von dreißig Jahren erhebt, 24 überschreibt er alle Radikalität dem Fragen, das nichts als Fragen und in die Fraglichkeit heben, aber nichts wissen und keine Antwort haben will. Die radikal geistige Existenz ist die radikal fragende. Eigentliches Denken ist Fragen, eigentliches Fragen ist Denken. Sagt Heidegger später, daß das Fragen die Frömmigkeit des Denkens sei, 25 dann steht keine fromme Person als Fragen stellendes Subjekt im Blick, sondern das Seinswesen Mensch, Dasein genannt, das einzig mit dem »Sein selbst«, 26 mit dem, »daß es ist und zu sein hat«, die Frage seiner eigenen Existenz stellt, die mit der Deutung der
Heidegger, »Zur Bestimmung der Philosophie«, in: ders., GA 56/57, Frankfurt/M. 1999; ders., »Grundprobleme der Phänomenologie«, in: ders., GA 58, Frankfurt/M. 1993. 25 Heidegger, »Die Frage nach der Technik«, in: ders., GA 7, Frankfurt/M. 2000, 44. 26 Heidegger, Sein und Zeit, 12. 24
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eigensten eigentlichen Möglichkeit als »Sein zum Tode« keine Antwort, sondern ihre gedankliche Form findet. Nimmt Heidegger später die Bestimmung des Fragens als der Frömmigkeit des Denkens ausdrücklich zurück, dann nicht, um seiner Radikalität zu entsagen, sondern um sie zu überbieten. Jetzt nämlich überschreibt er sie dem Hören, ohne jedoch das Fragen aus dem Blick zu verlieren. Wer fragt, redet in der Regel zuerst. Geht es aber, neu bedacht, wesentlich um »Zuspruch«, dann gehört ihm das Primat des Redens. Mit fast siebzig formuliert Heidegger in unverkennbar denkkünstlerischer Tonart: »Daß das Fragen nicht die eigentliche Gebärde des Denkens ist, sondern – das Hören der Zusage dessen, was in Frage kommen soll.« 27 Auch bei Heidegger trägt radikales Denken den Unterschied von menschlichem und göttlichem Selbstsein aus. Anders aber als bei Aristoteles messen sich Mensch und Gott bei ihm nicht miteinander, sondern kooperieren. Der Denkende braucht den Gott, der Gott den Denkenden. Nur er ist Wegbereiter einer möglichen Epiphanie Gottes. Die poetische Kraft des ganz anderen Denkens, das hier ein eschatologisches ist, läßt Heidegger diesen Gott als »letzten« bestimmen und offensichtlich als deutschen erwarten. Theologische Philosophen, die sich als Poetae absconditi radikal geben, sind nicht gefährlich. Wer ihnen folgt, mag Emotionen bis zum Haß auf Andersdenkende aufbauen, aber daraus wird kein tödlicher Haß. Erst wenn sich Religion des theologischen Denkens annimmt und aus dem Phrontisterion Kirche wird, entdeckt geistige Radikalität das Potential der Gefahr für Gut, Leib und Leben. Bekennte sie sich zu ihrer Poetizität, ginge keine Gefahr von ihr aus. Doch jede Glaubenswahrheit glaubt ja, die einzige allen Glaubens, weil die absolute zu sein. Missions- und Universalitätsanspruch sind ihr eingeboren. Sie gibt mit Verbindlichkeit vor, wie bei Strafe der Hölle und schon »irdischer« Verfolgung zu leben und zu denken ist. »Kriege« unter philosophischen Schulen, in die sich kein religiöses Bekenntnis einmischt, können allenfalls geistige Opfer fordern. Der schlimmste Fall, das lebendige Opfer, tritt nicht ein. Anstatt sich jedoch der Opfer radikalisierter Glaubenskriege zu erinnern, ist es für die Deutung dieser Radikalität überzeugender, sie als die einer Religion einsichtig zu machen, die sich ihrer Orthodoxie vergewissert. Nichts eignet sich dazu besser als die Theologie des Paulus.
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Heidegger, »Das Wesen der Sprache«, in: ders., GA 74, Frankfurt/M. 1959, 175.
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Paulus erdenkt den Christusglauben in seiner absoluten Notwendigkeit. Predigt Jesus in den Evangelien die Notwendigkeit, ihn für den Messias zu nehmen, dann verfährt er appellativ mit einem Konzert von Versprechungen (Schatz im Himmel) und Drohungen (unlöschbares Feuer), mithin ohne zwingendes Argument. Selbst Hinweise, daß er Prophezeiungen erfüllt, bewegen einen Israeliten nicht notwendig dazu, an ihn zu glauben. Paulus dagegen läßt ihm keine Chance, in Jesus nicht den Christus zu sehen, vorausgesetzt freilich, er teilt Paulus’ Lesart der Genesis und Deutung der Kreuzigung Jesu. Braucht Heidegger, um die radikal ersonnene Seins- und Denkgeschichte in Gänze aufzuzeichnen, nicht mehr als den »ersten« und den »anderen« Anfang, so könnte er Paulus nachgezeichnet haben, der nur den ersten und den zweiten Adam braucht, um die ganze Glaubens- und Heilsgeschichte zu zeichnen. Beginnt bei Heidegger der erste Anfang so gut wie unmittelbar mit dem Abfall von sich selbst, um sich im zweiten und letzten Anfang »ursprünglicher« zu wiederholen, so beginnt bei Paulus die Menschengeschichte mit dem Sterblichwerden durch die Sünde Adams, um mit dem Versprechen ewigen Lebens durch die Erlösungstat Christi zu enden. Sein Sühnetod muß geglaubt werden, um vom Tod als Sündenstrafe erlöst zu werden – das ist der Grundsatz des Theologen Paulus. 28 Mit seiner ganz anderen Lesart der Genesis kreiert er Erbsünde und Erbtod, das größte Wunder christlichen Glaubens, wie Pascal notiert, um den Gläubigen Gott gleich (homoion) werden zu lassen: Er stirbt gleich ihm und erlangt gleich ihm ewiges Leben. 29 Der Tod, der allein Sündenstrafe war, ist nicht mehr. In ihm ist der »letzte Feind« besiegt. Ins künftige Leben (zôê) als eigentliches und ewiges einzutreten, das versprechen auch die Evangelien dem Christusgläubigen. 30 In der christlichen Botschaft spricht sich durchgängig eine radikale Neuorientierung des geistigen Menschen aus. Doch nur Paulus gelingt es, alle Menschen ohne Ausnahme argumentativ mit seinem Poem von der menschlichen Urschuld in die Notwendigkeit des Christusglaubens einzubeziehen, nicht nur das Kind in der Wiege, ein Urbild der Unschuld, sondern auch alle Menschen, die vor Christus, ja vor
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Römer 3,25. Römer 6,5. Matthäus 7,14; 19,17.
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dem Propheten Jesaja gelebt haben. Damit ist für Christen der Grund gelegt, keine andere Religion als wahr akzeptieren zu können. Wissenschaft kann auf den Begriff der Wahrheit verzichten. Sie besteht allein darauf, »für realitätsgerechtes, zutreffendes und damit zuverlässiges Wissen und Können zu sorgen«. 31 Religion kann dagegen nicht auf das Prädikat verzichten, wahr zu sein. Wahrheit aber, die ohne epistemischen Zugang ist, gehört, im Bilde gesagt, weniger dem klaren Kopf als dem heißen Herzen. Sie steht der Sünde entgegen, deutlicher noch dem Bösen. Nun hat die absolute Wahrheit für den Christusgläubigen zwei Seiten: die praktische und die theoretische. Die Wahrheit des gelebten Glaubens erfährt im Gottvertrauen ihre Selbstverifikation. Die Wahrheit des bekannten Glaubens sieht sich dagegen fälschlich der Rechtfertigung ausgesetzt. Ist ein wissenschaftlicher Satz prinzipiell wahr oder falsch, dann ist ein Bekenntnis wie das der Jungfrauengeburt prinzipiell weder wahr noch falsch, da es sich um ein Wunder, das heißt um einen poetischen Glaubensverstärker handelt. Vom Gläubigen aus geurteilt, kann freilich sein Bekenntnis prinzipiell nicht wahr oder falsch, schon gar nicht weder wahr noch falsch, sondern nur wahr sein. Doch er meint es ja auch nicht als etwas durch den Realitätssinn Verifizierbares. Mit seiner Wahrheit ist der Gläubige radikal von seinen Kenntnissen aus Alltag und Wissenschaft getrennt. Er ist ganz woanders. Für den Gläubigen ist Wahrheit das Wort für den wahren Glauben, Unwahrheit das für Unglauben und Sünde. Besser noch: Das wahre Wort ist das Wort Gottes, das falsche Wort das des Satans. 32 Das Wort Gottes tröstet, das des Satans verführt. Der Glaube hat darum die alleinige Option, der Wahrheit des Glaubens zu vertrauen, was im Neuen Testament allem zuvor besagt: der Gerechtigkeit Gottes. Zu ihr gehört es, unbegreiflich zu sein. Mit Gott ist nicht zu rechten (Hiob!); er hat sich für nichts zu rechtfertigen. Der Glaube ist es, der das, ohne es zu wissen, so will, weil das allein ihn unerschütterlich macht und seine Wahrheit unverhandelbar. Geistige Radikalität mit Universalitätsanspruch widerspricht demokratisch gegründetem Miteinander. Jedes Plädoyer für Demokratie ist darum ein gesprochenes oder ungesprochenes Wort gegen den Absolutheitsanspruch von Religion. Geistige Radikalität, wie sie ReHubert Markl, »Wissen ist Macht«, in: ders., Wissenschaft gegen Zukunftsangst, München, Wien 1998, 247–248. 32 2. Thessalonicher 2,9–12. 31
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Geistige Radikalität
ligionen innewohnt, kann allein dann für das Humanum fruchtbar werden, wenn sie sich ihrer innersten Natur nach als eine Möglichkeit der Poesie begreift. Das wäre das Fest der Religionen, wenn sie die menschliche Wahrheit ihrer Radikalität miteinander teilten, daß nämlich ihr jeweiliger Absolutheitsanspruch von Natur aus ein gleichberechtigter ist: religiöse Radikalität als eine Höchstform menschlicher Selbstpoetisierung.
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I. Hilfe steht nicht hoch im Kurs. Hilfsarbeiter, das sind ungelernte, niedrig bezahlte Kräfte mit der geringsten Sicherheit des Arbeitsplatzes. Küchenhilfe, Haushaltshilfe – Helfen unterscheidet sich vom eigentlichen Machen und Können. Hilfstruppen (lat. auxilia), das waren in den römischen Provinzen ausgehobene Fußsoldaten; gegenüber Legionären waren sie Soldaten geringeren Rechts. Die Kindersoldaten der nationalsozialistischen Kriegsverbrecher hießen Flakhelfer. Diese fünfzehn- und sechzehnjährigen Gymnasiasten konnten zwar schon etwas Mathematik und taugten deshalb dazu, den Zünder der Granaten sowie Seite und Höhe der Geschütze einzustellen, aber der meist asthenische Körperbau war nicht geeignet, bei großem Winkel die über dreißig Pfund schweren Granaten zu laden. Dazu bedurfte es ein oder zwei russischer Kriegsgefangener pro Geschützstand. Der Sold betrug im Übrigen 50 Reichspfennige pro Tag, der aber nicht ausbezahlt wurde, da diese Minderjährigen für den selbständigen Umgang mit Geld noch nicht reif waren. Auch Filme für Erwachsene durften sie nicht sehen. – Beihilfe ist kein Teil des Gehalts, Nachhilfe kein Schulunterricht, Aushilfe bloß zeitweilige Vertretung. Aber da gibt es noch etwas ganz anderes, den Schrei nach Hilfe in höchster Not: »Zu Hilfe!«, »Au secours!«, auch einfach »Hilfe!«. Im griechischen Wort für Hilfe, das häufig in der Septuaginta, spärlich jedoch im Neuen Testament Verwendung findet, steckt noch der Schrei. Hê boêtheia, die Hilfe, hê boê, der Schrei. Hilfe heißt demnach wörtlich: auf den (Hilfe-)Schrei herbeieilen. Das entdeckt ihren Wesenszug: Hilfe ist nötige Hilfe. Wie auch die Kompetenzen verteilt sind, entscheiden zu können, was »wirklich« hilft, in jedem Fall hat das erste Wort zur nötigen Hilfe der, der sie wirklich braucht. Hilfe ist nichts Aufzuzwingendes: Sie muss gefragt, muss erforderlich sein. Gebraucht Luther im Neuen Testament das Wort helfen, dann dient es der Übersetzung der griechischen Wörter mit der Bedeutung 269 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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retten, heilen, nützlich sein. Das liegt am Schreien. Vom Schrei der Auserwählten des Tags und des Nachts zu Gott nach Gerechtigkeit abgesehen (Lukas 18,7), wird im Neuen Testament nicht um Hilfe geschrien. Den einzigartigen Schrei Jesu am Kreuz (Markus 15,34) deuten Theologen nicht als Schrei um Hilfe, sondern als Schrei nach Gott selbst. Im 1. Buch Samuel findet sich dagegen ein anschauliches Beispiel erschriener Hilfe. Die frommen Israeliten mit dem Vertrauen in den von ihnen geglaubten Volksgott (nicht der Schöpfergott ist ihr Gott, sondern ihr Gott ist der Schöpfergott!) schreien zu ihm in der Not, in die sie die Übermacht der Philister bringt. Gott, wie gläubig berichtet wird, erhört den Schrei, »verwirrt« die Feinde Israels, so dass die Israeliten sie schlagen und vertreiben können. Samuel, ihr Anführer, errichtet an der Stelle, an der er geschrien hat, einen Stein: den Stein der Hilfe (Lithos tou boêtou). Hilfe, das ist der erhörte Schrei.
II. Was wir vom Helfen und von der Hilfe lernen, ist nahtlos auf das Geben und die Gabe zu übertragen. Das Geben braucht das Nehmen, braucht den, der die Gabe nötig hat, der nach ihr verlangt und sie dankbar annimmt. Im Sprachspiel des Altgriechischen spielt das Verhältnis von Geben und Nehmen eine bedeutsame Rolle. Drei Formen stechen hervor: das Geben und Nehmen des Logos, das Geben und Nehmen des Rechts (gr. dikê) und das Geben und Nehmen der Liebe, Liebe im Sinne von Gunst (gr. charis). Dabei zeigt sich ein Dreierschema. An erster Stelle steht das Verlangen, das Nötighaben, an zweiter das Auf-das-Verlangen-Eingehen durch entsprechende Gaben, an dritter das prüfende Annehmen, prüfend nämlich, ob das Gegebene auch dem Verlangten und Benötigten entspricht. Beim Geben und Nehmen des Logos haben wir es mit dem Antworten und dem Prüfen der Antwort zu tun. Der erste Schritt ist das Fragen, das ist das Den-Logos-Fordern. Erst das Dreierschema gibt den Blick vollends frei, dass Geben und Nehmen ein interaktives Geschehen ist. Die Interaktion wird initiiert durch ein gezieltes Wissenwollen und Wissennötighaben. Schweigt der Gefragte, obwohl er weiß, wonach gefragt ist, kommt die Interaktion nicht zustande. Selbst wenn er nach bestem Wissen und Gewissen antwortet, kann das Inter der Interaktion noch fragil, wenn nicht ausstehend sein. Das ist der Fall, wenn dem, 270 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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der gefragt hat, die Antwort nicht passt und er sie nicht annimmt. Erst wenn beide übereinkommen, dass mit der Antwort das Verlangte gegeben ist, schließt sich das Inter zum Kreis. Wir wechseln zur Dikê: Recht fordern heißt anklagen, Recht geben richterlich urteilen, die Strafe aussprechen, Recht nehmen das Urteil akzeptieren, die Strafe annehmen. Erst dann ist der Kreis des Rechts geschlossen und jeder Schritt als rechtens anerkannt. Doch nun zur Charis, Caritas, Charité, wie sie nicht nur für die erotische Zuwendung des Einen zum Anderen und für das erotische Einander von Bedeutung ist, sondern auch für die helfende Zuwendung zu denen, die Hilfe nötig haben. Wer Gunst erfleht, nach Gunst verlangt, hat es nötig, dass ihm etwas gegönnt, gewährt wird. Die Milde, wie sie zur milden Gabe und zur Mildtätigkeit gehört, ist es, wonach er verlangt, das meint die Freigebigkeit. Keinen Lohn klagt er ein, keinen Verdienst. An das »Umsonst« appelliert er, das wörtlich meint, etwas »für ein So«, für ein Nichts tun. Das schließt nicht aus, dass sein Verlangen und Flehen eigenen Wert hat, er mit ihm etwas einbringt. Das ist sogar nötig und zum Glück unumgänglich. Es nötig haben, dass einem etwas gegönnt und gewährt wird, ist ein Realbefund, der sich nicht in seiner Tatsächlichkeit erschöpft, sondern selbst etwas ist, das Charis hervorruft, was voraussetzt, dass es selbst Züge der Charis trägt. Mildtätigkeit, Wohltätigkeit, Freigebigkeit – das ist kein Laster, das sich durch ziel- und planlose Verschwendung hervortäte. Für Aristoteles ist es eine Tugend. Sie hält nicht nur die Mitte zwischen Verschwendung und Geiz, sondern ist sich auch ihres Ziels gewiss: der Hilfe. Der Wohltäter bedarf der Bedürftigen, um sich als Wohltäter erweisen zu können. Doch er hält auch allein die für bedürftig, denen zu helfen für ihn ein Gewinn ist. Und was wäre der Gewinn? Für Aristoteles liegt er in der gelungenen Hilfe. Doch die gilt eben nicht planlos jedem Menschen, der nach Hilfe ruft, sondern allein dem, dem zu helfen für ihn ein Gewinn ist. Kriterium dafür ist die wechselseitige Freundschaft. Ohne Empathie gibt es für ihn kein gelingendes Helfen. Genau deswegen trägt der Bedürftige auch schon Züge der Charis, ja der Philia, der Freundschaft. Macht er sich auch mehr für den Gebenden als den Nehmenden stark, so überwiegt die Einsicht, dass Geben und Nehmen auf Gegenseitigkeit beruhen.
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III. Nun ist für den Dreischritt von Um-Gunst-Bitten, Gunst-Gewähren und Gunst-Empfangen selbst und gerade dann, wenn in ihm wechselseitig Empathie herrscht, ein Kalkül maßgeblich, die Goldene Regel: Was du willst, das Andere dir tun, das tue auch ihnen. Menschen, sofern sie aufeinander angewiesen sind, tun nach Aristoteles gut daran, einander nützliche Freunde zu sein. Nur so ist es zu verstehen, dass es allein Freunde sind, die in Fällen der Not sich als Gebende und Nehmende unterscheiden, dabei aber einander bedürfen, der Eine, um Wohltäter zu sein, der Andere, um Wohltaten zu empfangen. Die Rechnung geht dahin, dass der heute Notleidende der Wohltäter von morgen sein kann, der heute Wohltätige der Notleidende von morgen. Doch dieses Kalkül, so vernünftig und pragmatisch es sich anhört, ja so unverzichtbar es für eine Grundlegung von Ethik zu sein scheint, funktioniert nicht. Das Leben ist es, das da nicht mitmacht. Was für verfassungsmäßige Ordnungen taugt, dass zum Beispiel in Demokratien im Prinzip aus jedem Herrschenden wieder ein Beherrschter werden können muss und aus jedem Beherrschten ein Herrschender, hat in dem sich frei gestaltenden lebensteiligen Leben keine Chance. Das gelebte Leben ist es, das diese plausibel erdachte Regel nicht funktionieren lässt: sie nicht will, ja eben nicht braucht. Nun scheint aus dem Do-ut-des, dem »Gib, damit dir gegeben wird!« kein Entkommen zu sein. So ist etwa die christliche Botschaft voll davon. Lesen Sie aufmerksam das Matthäusevangelium, dann werden Sie bemerken, wie die Aufforderung zum Messiasglauben jedes Mal mit der Lockung verbunden ist, Gewinn davon zu haben. Gibst du hier etwas, erhältst du einen Schatz im Himmel. Der wird noch dadurch ausgelobt, dass er nicht verloren gehen, nicht von Motten zerfressen werden kann. Ja, die Jünger sind so frei, Jesus direkt zu fragen, was sie eigentlich davon hätten, ihm nachzufolgen. Seine Antwort: das Himmelreich. Aristoteles nennt so etwas Ungleichheit (anisotês). Sie herrscht, wenn Freunde ungleich sind. Für die fromme Gabe in Gestalt des durch Mitleid und Gehorsam gegen Gott motivierten Almosens gibt Gott dem Geber eine Wohnung im Himmel. Das ist eine unverhältnismäßige, ja eben maßlose Belohnung, schon weil sie auf zwei Ebenen erfolgt, die um einen Himmel verschieden sind. Danken Kinder, wie Aristoteles es sieht, den Eltern die von ihnen erhaltene Liebe dadurch, dass sie nun ihrerseits lieb zu den eigenen Kindern sind, dann hat zwar nicht Wechselseitigkeit der Lie272 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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be statt, aber es handelt sich um die gleiche Art von Liebe. Doch Gottes Lohn für eine Tat in der Zeit liegt in der Ewigkeit. Dort kann ihn niemand, der in der Zeit lebt, abholen. Das aber ist Sache des Christusgläubigen, wie er einerseits mit dem »allein aus Gnade« (sola gratia) und »allein aus Glauben« (sola fide) und andererseits mit dem »Gib-auf-Erden-damit-du-etwas-im-Himmel-bekommst« zurechtkommt. Die religiöse Sicht der Dinge kann uns jedoch darauf stoßen, dass mit dem Geben und Nehmen kein alltägliches Miteinander unter vielen praktiziert wird, sondern es bei ihm, emphatisch gesagt, ums Ganze geht.
IV. »Jetzt möchte ich auch einmal etwas von meinem Leben haben« – so hört man Leute eine Rechnung aufmachen. Was sie in Rechnung stellen, sind Aufwand und Anstrengung für die Lebensbewältigung. Es kostet sie etwas, so verstehen sie sich, ja es kostet sie ziemlich viel, um über den Tag und durch die Nacht und wieder über den Tag zu kommen. Diese Kosten möchten sie nicht ersetzt, sondern vergolten haben. Das Leben muss sich lohnen. Nicht das Am-Leben-Sein sei der Lohn des Lebens, ja sein Geschenk, sondern zu leben stelle den Kostenfaktor dar, weil es die Selbsterhaltung verlange. »Wenn ich mir schon die Mühe mache, zu leben, dann will ich auch etwas davon haben.« Das Leben als Lust und Event ist keine Erfindung der Jetztzeit, falls es denn das ist, was unser vermeinter Lebenskünstler im Sinn hat, der sich auf keine Vergeltung im Himmel verlässt, sondern will, dass Leben Leben vergilt, pathetisch gewendet, dass Lebenswonnen die Lebensmühen vergelten. Nicht nur Lebensmühen lassen sich in Rechnung stellen, sondern auch Lebensopfer. Kindersoldaten der Ayatollahs, die ihren Nötigern vertrauten, sahen mit ihren Schlüsseln um den Hals die unglaubliche Möglichkeit vor sich, durch Opfer des eigenen ein ganz anderes Leben zu erlangen, ein unglaublich wunderbares. Wie selbstverständlich wurde ihnen die Formel des Do-ut-des eingebläut, als die plausibelste Form, mit dem eigenen Leben Gewinn zu machen. Da scheint sich wieder einmal die Erfahrung zu bestätigen, dass Altruismus die fruchtbarste Form des Egoismus ist. Will ich unendlich Großes und Schönes für mein Leben haben, dann opfere ich es für Gott und Vaterland. Doch der Mensch wäre nicht Mensch, setzte er nicht 273 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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auf ein noch weit fraglicheres Lebensopfer. Gilt es nicht einem – höchst problematischen – eigenen Gewinn, sondern Höherem, Größerem und Bedeutenderem als der Mensch, dann kündigt sich in dem Opfer etwas an, das größer ist als alles, was sich rechnerisch, und sei es in metaphorischer Rechnungsführung, als Lohn verstehen lässt. In geistiger Begleitung nationalsozialistischer Kriegsverbrechen während der Schlacht um Stalingrad notiert Martin Heidegger für seine Parmenidesvorlesung im Wintersemester 1942/43: [D]ie Stimme der künftigen Stimme und Bestimmung des Menschentums […] wird nur dort erfahren, wo Erfahrung ist. Die Erfahrung aber ist in ihrem Wesen der Schmerz, in dem das wesenhafte Anderssein gegenüber dem Gewohnten sich enthüllt. Die höchste Gestalt des Schmerzes aber ist das Sterben des Todes, der das Menschsein opfert für die Wahrung der Wahrheit des Seins. Dieses Opfer ist die reinste Erfahrung der Stimme des Seins. Wie aber, wenn dasjenige geschichtliche Menschentum, das gleich den Griechen zum Dichten und Denken berufen ist, das deutsche, wie aber, wenn dieses zuerst die Stimme des Seins vernehmen muß! Müssen dann nicht hier die Opfer sein, gleichviel, durch welche Ursachen im nächsten sie ausgelöst werden, da das Opfer in sich sein eigenes Wesen hat und keiner Ziele und keines Nutzens bedarf! 1
Ausrufezeichen, kein Fragezeichen. – Ich wähle diese Zumutung aus vergangener Zeit, um einen Geschmack davon zu geben, wozu ein Geist, der sich seiner eigenen Radikalität ergibt, fähig ist. Das geschichtliche Menschentum, das zu seiner geschickhaften Bestimmung unterwegs ist, verlange Opfer. Nun sind für diesen Philosophen aber allein die zum Dichten und Denken berufenen Griechen und Deutschen fähig, ein Menschentum auszubilden, eben das Griechentum und das Deutschtum. In diesem Sinne waren die Griechen die ersten, die sich den Namen Mensch verdienten, und werden die Deutschen die letzten sein. Jetzt, 1942/43, ist es an ihnen, sich zu opfern. Hitler hat, wie wir wissen, zu dieser Zeit die 6. Armee samt Heerscharen von Russen der Vernichtung preisgegeben. Doch nein, man darf diesen Philosophen, falls man ihm ein paar Schritte folgen will, mit seinen Gedanken nicht in die Realgeschichte eindringen sehen. Heidegger ist ausschließlich bei Seinsgeschichte und Seinsgeschick. Die aber hat im Erdichten und Erdenken und nirgendwo sonst statt. Das macht sie freilich nicht besser und verständlicher, aber wir lernen dadurch doch einen Opfergedanken kennen, der im Opfer 1
Heidegger, M. (1982), 249 f.
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kein Ziel und keinen Nutzen sehen will, nichts also, das sich in Rechnung stellen ließe, der aber doch der Gedanke einer Erfüllung ist, und zwar einer geschickhaften. Die soll darin liegen, dass der »Mensch«, der deutsche ist gemeint, seine Bestimmung findet in der Wahrung der Wahrheit des Seins. Sie kennen diese Macht nicht. Ich kenne sie auch nicht. Gibt es in den Märchen Menschen, die Tierstimmen Menschenverständliches entnehmen, so soll es in der Philosophie offensichtlich Deutsche geben, denen durch die Stimme eines numinosen Wesens, das Sein genannt, Deutschenverständliches zuteilwird. Was sollte es für entsprechende Seinsverständige Sinnmächtigeres geben, als sich der Macht dieses Wesens auszusetzen und dies nicht nur im Denken, sondern mit dem eigenen Leben. Da erfüllt sich »deutsches« Leben in den blutigen Eiswüsten Stalingrads. Ist das nicht ein erstaunlicher Gedanke für uns heute: ein Opfer rein um des Opfers willen, und dies in Verbindung mit dem rätselhaften Verstehen einer rätselhaften Stimme? Doch nein, gehen wir dem nicht weiter nach. Das war genug an geistiger Befremdung, um verwandelt zu dem zurückzukehren, der da in der Mitte des Lebens von dessen Kostendeckung in den Tag zu träumen beginnt. Wer das, was er für das Leben einbringt, vergolten haben will, hat das Leben verfehlt, es versteht sich: das gelingende. Lebensmühen in Rechnung zu stellen, ist ein individualistisches, ja solipsistisches Unterfangen. Nun gut, auf der wilden Pirsch der starken Einzelgänger, die selbstisch allein ihren Interessen leben, als wären es wirklich nur die ihren, macht einer gern die Erfahrung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Hätte er jedoch darauf geachtet, wie Austausch im Sprachlichen, Erotischen, Ökonomischen, Politischen und Rechtlichen vonstattengeht, wäre ihm die Einsicht unausweichlich gewesen: Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Mögen all die, die den von Milton Friedman mit Worten inaugurierten Neoliberalismus 2 gesellschaftlich in die Tat umsetzen, auch noch so kraftvoll beweisen, dass sie mehr in Rechnung stellen und bezahlt bekommen als sie verdient haben, selbst diese krassesten, die gesellschaftliche Balance gefährdenden, ja aushebelnden Individualisten holen sich ihre Lebenskraft in Sphären der Geselligkeit. Auch vierzig Jahre forcierter, den Menschen missbrauchender Kapitalismus haben es nicht ver-
Für den diskutierten Zusammenhang genügt es, eine seiner Arbeiten anzugeben: Friedmann, M. (1975) bzw. (1979).
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mocht, uns aus unserem ursprünglichen Zuhause zu vertreiben: aus dem mit Unseresgleichen geteilten Leben.
V. Findet Lebensteilung unter Gleichen und Ungleichen statt, so ist doch fundierend für lebensteiliges Gelingen das Miteinander von Ungleichen. Die Vielfalt der unser gemeinsames Leben prägenden Differenzen ist bunt: Mann und Frau, Jung und Alt, Gesund und Krank, Arm und Reich, Regierend und Regiert, Heimisch und Fremd. Doch man muss aufpassen, nicht beliebig fortzufahren. Masse und Elite, auch hoher IQ und niederer IQ, nein, das wären genau nicht meine Themen. Lesen wir in der Genesis von dem, der Himmel und Erde schuf, dann hat dieser Schöpfer nicht allein durch Befehle wie »Es werde Licht!« gewirkt, sondern auch durch Scheiden und Unterscheiden (gr. diachôrizein): Er schied Licht und Finsternis, die oberen und unteren Wasser des Chaos, Tag und Nacht. Wollten wir in einem mythologischen Neuversuch uns über unser Entstehen poetisch, nicht wissenschaftlich selbst aufklären, dann könnten wir dazu gut die Vorgabe der Genesis nutzen. Es müsste dann heißen: Das Leben des Menschen entstand durch die Unterscheidung von Mann und Frau, Alter und Jugend, Stark und Schwach. Diese naturgegebenen, vom Menschen nicht wegzudenkenden Unterscheidungen sind von erstaunlicher definitorischer Kraft. Anders als das totgerittene Animal rationale, das uns sagen möchte, was wir spezifisch sind, indem es uns vom Tier absondert und mit dem als Vernunft entworfenen Gott verbindet, spricht aus den Differenzen von Mann und Frau, Alter und Jugend, Stark und Schwach unmittelbar etwas vom Geheimnis des Lebens: von seiner Geburtlichkeit und Tödlichkeit, von seiner Selbstbejahung in der Geschlechtlichkeit, von seiner Angewiesenheit aufeinander wegen unterschiedlicher Vitalität. Was ist der Mensch? Antwort: Der Mensch ist männlicher und weiblicher Mensch, alter und junger, kräftiger und hinfälliger Mensch. Die Frage »Was ist der Mensch?«, die Frage also, die der Mensch sich selbst ist, ist unbeantwortbar. Das ist kein unwirscher Hinweis auf eine Unmöglichkeit, sondern die Einladung, der Unbeantwortbarkeit eine bestimmtere Form zu geben. Mann und Frau, Alt und Jung, Stark und Schwach sind Anfänge einer theoretischen Formgebung der immer neuen und damit für immer 276 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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offenen Frage des Menschen nach sich selbst. Sie konturieren das Nichtwissen um uns, emphatisch gesagt: das Geheimnis, das wir uns selbst sind. Mann und Frau, Alt und Jung, Stark und Schwach sind Figuren des Gebens und Nehmens, wie es sich im Zeichen des Einander-Brauchens vollzieht. Diese Unterschiede zu leben, sind Höchstformen des Lebensvollzugs. Sie sind dabei genau keine Formen des Tausches, nichts von der Art eines »Wie du mir, so ich dir«. Es wird nicht Gleiches mit Gleichem vergolten. Die Unterschiedenheit herrscht, was das Einander-Nötighaben und Füreinander-Fruchtbarsein intensiviert. Anstatt dass eine Kosten-Nutzen-Rechnung möglich, ja erforderlich würde, herrscht im partnerschaftlichen Gelingen die reine Freigebigkeit. Sicher, wir alle sind Spieler – in jeder unserer Eigenheiten. Jedes Geben und Nehmen ist ein inszeniertes und damit ein Akt freier Selbstübernahme. Es gibt kein bestes, durch eine absolute Norm gesteuertes Verhalten im Einander, und dies zum Glück, da wir sonst, schlecht-utopisch, Automaten wären. Jedes gelingende Miteinander des Unterschiedenen ist eine freie Neuinszenierung, die durch ihre Besonderheiten und Einzelheiten überrascht. Freiheit gibt es allein zu mehreren, wie sich in den aufeinander antwortenden Inszenierungen zeigt. Mit dieser Freiheit ist aber unabdingbar das Umsonst verbunden, der Fehl des einseitigen Kalküls. Zu welchen Zeiten und unter welchen Umständen es auch immer zu gelingenden Wechselbeziehungen von Ungleichen kommt, stets wächst die gemeinsame Erfahrung, dass all das umsonst ist. Das gemeinsame Gelingen im unterschiedlichen wechselseitigen Verhalten lebt davon, dass keiner etwas in Rechnung stellt, das über das einfache Gelingen hinausginge. Finden Mann und Frau, Alt und Jung, Kraftvoll und Hinfällig zugunsten ihrer Nöte, ihrer Freuden und der Intervalle in der dramatischen Aufführung des geteilten Lebens zusammen, dann geben sie der Unbeantwortbarkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist, nicht nur eine Form, sondern versehen sie auch mit Gehalt. Mitwisserschaftlich erfahren die Partner genauer das, was nicht zu wissen ist. Die Freude, die die Einen und Anderen miteinander haben, ist nicht weniger ein Rätsel als die Not, die sie mit-einander haben. Das Wort Rätsel ist hier nicht zu hoch gegriffen, selbst das Wort Geheimnis nicht. Denn all das, was sie erfahren und was mit ihnen geschieht, ergibt keine Sinngebung, die einem Entwurf gliche, der über das Gelungene (und Misslungene) hinausginge. Mit diesem Argument hole ich endlich das Thema meines Vortrags ein: 277 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Verschenktes Leben
»Verschenktes Leben«. Leben, das sich interaktiv in seinem Umsonst erfährt, ist verschenktes Leben. Im lebensteiligen Einander besteht Ungleiches nicht auf seinem Eigenwert, sondern verschenkt sich, gibt sich hin. Was könnte Leben aus freien Stücken gemeinsam Anderes, Besseres tun? Lebt der Mensch mit ganzem Einsatz und reiner Freigebigkeit seine lebensrelevanten Differenzen, dann ist das nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Markierung des Rätsels Mensch.
VI. Im Leben das eigene Leben zugunsten seiner Teilung zu verschenken und Leben für Leben hinzugeben, ergibt sich aus dem gemeinsamen Gelingen von selbst. Das Leben selbst motiviert dazu, dass einer Leben verschenkt. Verfolgt man jedoch die traditionellen und noch heute für wert befundenen Überlegungen, wie es dazu kommen soll, dass Menschen umsonst Menschen helfen, also ohne Gewinnversprechen zu ihrer Hilfe motiviert sind, dann findet sich ein Von-Selbst ausgespart. Im Unterschied dazu setzt man im Wesentlichen auf Emotion und Vernunft, anders gesagt, auf Mitleid und Moralgesetz. Zeigt sich Armut in der Gestalt von Bettlern und Obdachlosen öffentlich in der eigenen Stadt, dann scheint Mitleid gefordert zu sein, um sich als Nichtarmer oder Nicht-so-Armer den Armen hilfreich mitteilen zu können. Doch Mitleid ist kein probates lebensteiliges Verhalten. Asymmetrisch, wie es ist, wird es nicht selten als Beleidigung erfahren, nicht davon zu reden, dass es sich gerne aus vorweggenommenem Selbstmitleid speist. Gehen wir von dem Faktum der Armut aus, nicht von Programmen ihrer Bekämpfung und Beseitigung, dann werden wir auch nicht in den Trost einstimmen, den ein evangelisches Kirchenlied, von einem Barockdichter getextet, den Armen zujubelt: »Armut hier macht dorten reich«. 3 Für den Augenblick soll das Wort aus dem Matthäusevangelium (26,11) Recht behalten: »Die Armen habt ihr ja allezeit bei euch«. Nun heißt es im Grundgesetz Artikel 14, Absatz 2: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Doch weit eher als die Deutschen scheinen die Amerikaner dieser Pflicht aus freien Stücken, ohne Gesetz nachzukommen: Milliardäre, die ihre 3
Sigmund von Birken (1653), in: Evangelisches Gesangbuch (1995), Lied Nr. 384.
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Microsoft- und Monsanto-Aktien behalten und nachhaltig den durch Thatcher und Reagan politisch auf den Weg gebrachten Kapitalismus pflegen, diese Überreichen spenden Milliarden für Wohltätigkeit. Nein, nötige Wohltätigkeit soll nicht dem Belieben der Reichen überlassen bleiben. Sie bedarf einer politischen Lösung. Amerikanischer Kommunitarismus ist die Kehrseite und die Stütze eines Kapitalismus geworden, der systemisch das Humanum verletzt. Soweit es Sache der Kommunen ist, sich um die Armen zu kümmern, sind nicht Reiche gefragt, sondern Streetworker und Sozialbürgermeister, denen per Gesetz und dank Steuereinnahmen hinreichend Mittel zur Verfügung stehen, nicht das Nötigste, sondern wirklich das Nötige zu tun. Nachdem bei uns jeder in Erfahrung bringen kann, dass die sozialen Berufe deutlich unterbezahlt sind, ist der für die Lebensteilung mit den Armen nötige politische Wille klar vorgezeichnet. Anders als der Unterschied von Mann und Frau ist der von Arm und Reich nicht wechselseitig fruchtbar und belebend. In Ländern, in denen nicht nur die Reichen, sondern mit ihnen die ganze herrschende Kaste jegliche Lebensteilung mit Armen verweigert haben, sind es Theologen gewesen, die sich in einer helfenden Gemeinschaft mit den Armen versuchten. Dabei war es die Befreiungstheologie eines Leonardo Boff, die am weitesten in dem Versuch ging, den Schrei zum Himmel, der die Ungerechtigkeit und Unerträglichkeit menschlicher Verhältnisse, wie sie Menschen für Menschen herstellen, beklagt und anklagt, für die Gesellschaft hörbar zu machen. Doch Rom zwang Boff zur Aufgabe. Eine in praktischen Dingen überraschenderweise noch immer hochgehaltene Philosophie ist es, die nicht nach dem Herzen fragt, weder nach dem Herz der Reichen noch nach dem der Theologen, um unter Menschen das Nötige zu regeln: die Philosophie Kants. Ist die von Giotto gemalte Caritas in der Arenakapelle von Padua nach den Worten Prousts eine Charité sans charité, weil ihre Gesichtszüge jeder Liebenswürdigkeit ermangeln, so ist das, was sich Kant erdenkt, das unter Menschen einzig alles nach Möglichkeit zum Guten wendet, eine Güte ohne Güte. Kants einleitende Formulierung des einen moralischen Gesetzes, das noch heute die ethische Diskussion beherrscht, von ihm kategorischer Imperativ genannt, hat folgenden Wortlaut: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«. 4 Die hier 4
Kant, I. (1968), 421.
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angesprochene Allgemeinheit ist die der Vernunft und das meint die der Vernunftwesen. In jeder nur denkbaren praktischen Situation wisse allein Vernunft um den besten Weg zum Guten, weswegen Menschen, die ihrem vermeinten Wesen nach Vernunft sind, nur uniform handeln könnten bzw. sollten. Damit ist der ominöse allgemeine, auch neutral genannte Standpunkt erfunden. Wie speziell und singulär auch eine praktische Herausforderung wäre, sie dürfte auf keinen Fall speziell und singulär beantwortet werden, sondern ausschließlich, und dies ohne jede emotionale Regung, schlechtweg allgemein. Kant hat sein geniales, freilich nicht in Praxis umsetzbares Vernunftkonzept 1785 veröffentlicht. Im Jahre 1789 erschien Jeremy Benthams Hauptwerk Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, das dem Menschen ein gänzlich anderes moralisches Verhalten empfiehlt. Kennt man den Inhalt, dann wundert es einen nicht, dass Bentham sich politisch-ökonomisch durchgesetzt hat, nicht Kant. Bentham verficht den utilitaristischen Individualismus. Alles praktische Recht geht vom Individuum aus, nicht von der Vernunft. Das freie Spiel der Kräfte sei gefragt, kein Sollen, das durch eine abstrakte Instanz bestimmt ist. Die Vielheit der individuellen Interessen und Freiheiten hat mit dem Kapitalismus weltweit das Rennen gemacht, nicht die Einheit des neutralen, entindividualisierten Standpunkts. Das Individuum repräsentiert das Leben, dies freilich in fataler Einseitigkeit. Bentham hat grundsätzlich solipsistisch argumentiert, ohne Sinn für die Fruchtbarkeit und die Erfordernisse eines lebensteiligen Vollzugs. Deswegen kann man mit Kant den American way of life gut von außen kritisieren, dass er nicht verallgemeinerungsfähig sei, was er im eigenen Land bereits von selbst demonstriert, sofern die meisten Amerikaner gar nicht an ihm teilhaben. Aber diese Kritik kommt eben von außen, ohne Verständnis dafür, wie gelingendes Leben gelebt wird. Dass es dem Leben eigen ist, sich in seinem Besten und zuäußerst Möglichen zu verschenken, von dieser Einsicht sind Kant und Bentham gleich weit entfernt.
VII. Der Leiter einer größeren Freiburger sozialen Einrichtung für Alte, Demente und Sterbende sagte mir einmal, dass von den Sterbenden am meisten »zurückkäme«. Das klingt nach Rekompens, nach Lohn 280 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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und Entgelt. Ja, das klingt nicht nur so, das ist es auch, aber es ist ein Lohn, der nicht mit der Entlohnung des Pflegenden durch Geld oder Schatz im Himmel konkurriert, sie schon gar nicht ersetzt. Die handfeste Entlohnung der Pflege, die nicht zu knapp sein darf, da zur Stärkung des Lebens nicht zuletzt die Freuden des Lebens gehören, greift nicht in eine gelingende Beziehung von Pflegendem und Gepflegtem ein. Das Sich-Hingeben in die Pflege und das Sich-Dreingeben in das Gepflegtwerden schaffen ein Belohnungssystem eigener Art. Es ist eine Belohnung, die sich nicht messbar nach oben oder unten korrigieren, die sich vor allem nicht einseitig einstecken lässt. Bedeutsam ist auch, dass sie nicht vertagt wird, sondern unmittelbar erfolgt. Kein »Gib, damit dir gegeben werde!« hat statt, kein »Wie du mir, so ich dir«. Diese Vereinigung von Hin- und Dreingabe verbannt von selbst jede Kalkulation. Das Wunder aber, wenn in gelingender Sterbebegleitung professionelle und selbstlose Hilfe zusammenfallen, darf man nicht strapazieren. Ein Wunder kann keine Pflicht und keine Selbstverständlichkeit sein. Dass Professionalität und Selbstlosigkeit in diesem außerordentlichen Fall zusammengehen, wird am ehesten dann möglich sein, wenn dem Pflegenden keine Sorgen zusetzen, wie er mit den Seinen über den Tag kommen soll. In der Pflege von Sterbenden geschieht genau das, was das lateinische otium nennt. Man übersetzt mit Muße, meint aber eigentlich die Befreiung vom Alltäglichen, von seinen Geschäften und Sorgen. In diesem Falle trägt die Freiheit so weit, dass Leben sich wechselseitig als sichverschenkendes erfährt. Das unüberholbare Umsonst hat statt, ein in Gemeinsamkeit erfülltes Leben. Dass sich diese Erfüllung gerade in dieser Pflege ereignen kann, ist kein Zufall. Das verschenkte Leben steht im Verbund mit seiner Endlichkeit.
VIII. Biologen vermitteln uns die Einsicht, dass »Organismen in Bau und Funktion für ein dauerhaftes Leben unzureichend organisiert sind, das ist: sie altern.« Mit Fehlerhaftigkeit und Fehleranfälligkeit will der Naturwissenschaftler dem Lebendigen nicht alle Schande nachsagen. Nein, er findet das gut, ja eben notwendig, weil nur so Flexibilität gewährleistet ist, die Anpassungen an wechselnde innere und äußere Bedingungen ermöglicht. »Die Endlichkeit eines Organismus unter Einschluß des Menschen ist« für ihn »nicht nur physiologisch, 281 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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sondern auch genetisch vorgegeben«. 5 Altern und Sterben, heißt das, gehört zum Leben, weil zum Leben neues Leben gehört. Lebensreproduktion braucht die Endlichkeit des Lebens. Schon in den Entstehungsmythen, in denen sich der Mensch selbst auslegt und über sich selbst aufklärt, herrscht das Wissen vor, dass Lebenszeit nicht linear, sondern kreisförmig verläuft. Das Leben des Einzelnen beschreibt einen Halbkreis: aufsteigende Linie, Kulmination, absteigende Linie; das Leben der Gattung einen Kreis. Weit mehr als der menschengefertigte Koloss von Rhodos, eines der sieben Weltwunder, oder als die natürlich entstandene Farbenvielfalt der Rhododendren gibt das Altern Anlass zum Staunen. Das ist doch ungeheuer: einen Säugling zu sehen, einen jungen Menschen, und ausgerechnet diesem blühenden Leben ist es vorbehalten, zu altern und schließlich aus der Welt des Lebendigen und Sichtbaren zu verschwinden. »Von Erde zu Erde«, wie es die Genesis sagt. Doch wie steht es mit der Akzeptanz, gar mit der Bejahung, mehr noch, mit dem Staunen? In einem Interview über »Älterwerden« bemerkt Geraldine Chaplin: »In Amerika werden ältere Menschen als Beleidigung empfunden.« 6 Alle lassen sich liften und »falsche Körperteile anmontieren«. Die Handlungsgemeinschaft von Alternden und Sterbenden mit den sie Pflegenden und Begleitenden sieht das anders, sofern ihr Blick auf Helfen und Geholfenwerden gerichtet ist, nicht aber auf den Lebensprozess als Schaulaufen der Schönen und Hässlichen. Ich wage die These, dass Altern und Sterben unter Menschen nicht nur der Caritas bedarf, sondern für sich selbst eine Gunst ist. Wir dürfen altern, wir dürfen sterben. Die Gunst, zu leben, nämlich ins Leben gekommen zu sein, ist eins mit der Gunst, aus dem Leben wieder zu scheiden. In diesem Gang alles Lebendigen liegt für den Menschen die Selbstauslegung vorgezeichnet, dass Leben sich dann am besten versteht, wenn es sich als ein zu verschenkendes weiß. Wer sein Leben als Geschenk nimmt, weiß, dass es kein zu behaltendes, sondern ein zu verschenkendes ist. Wie er aber dieses Wissen praktiziert, gibt er eine bedingungslose Bejahung des Lebens zu erkennen, des Lebens und seiner endlichen Möglichkeiten. Leben, das sich verschenkt, schenkt sich dem Leben. Niemals verwendet es sich dabei Zitiert aus an mich gerichteten Briefen des Humangenetikers Ulrich Wolf vom 12. und 24. Januar 2012. 6 Süddeutsche Zeitung vom 31. März / 1. April 2012. 5
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individualistisch für sich selbst. Dies Verschenken ist allein als Interaktion möglich. Die Interagierenden müssen dabei nicht von vergleichbarer Lebenskraft sein. Bei der Symbiose von Mutter und Kind ist es die Mutter, die für die Selbsthaftigkeit des Kindes einsteht. Genau das aber macht sie nicht zur Einzeltäterin. Das Kind ist auf seine Weise voll mit im Spiel. Entsprechend sind das in der Altenpflege und Sterbebegleitung auch die Alten und Sterbenden. Erst beim Augenzudrücken endet die Interaktion. Der Individualist, der im Buch Prediger des Alten Testaments zu Wort kommt, kann im Leben nur die »Vergeblichkeit der Vergeblichkeiten« (mataiotês mataiotêtôn) sehen. Zu spät merkt er, dass er vergeblich Güter angehäuft hat, weil er nichts davon in den Tod mitnehmen kann. Nun meint es die deutsche Sprache gut mit uns, dass sie mit dem mittelhochdeutschen Gebrauch von vergeblich und vergeben genau das vorgibt, was ich heute mit dem Wort verschenken zu deuten suche: das Nachsichtige und Verzeihende wird damit angesprochen, das Unentgeltliche, ja eben das Umsonst, aber auch das Hingeben und Schenken, zum Beispiel sich zur Ehe hingeben oder auch die Strafe »schenken«, das ist das Vergeben und Verzeihen. Das Leben ist vergeblich, ja, es ist freie Vergeblichkeit, wie sie sich in jeder Form von Lebensteilung wechselseitig bewährt.
IX. Nein, ich predige nicht heile Welt. Wer jetzt mit dem Wagen nach Hause fährt, muss sogleich damit rechnen, dass der Andere ihm die Vorfahrt nimmt. Das Recht des Rücksichtsloseren lauert überall. Wir sind so. Wer von uns wäre nicht immer wieder einmal auf den eigenen Vorteil bedacht? Es ist nicht Usus, dass Menschen im vielseitigen Verkehr untereinander, der ihren Alltag prägt, einander als Sichverschenkende begegneten. Das ist nicht einmal »auf dem Lande« der Fall (schon gar nicht dort, hätte ich am liebsten gesagt). Sollen etwa Pflege- und Palliativstationen als heile Welten innerhalb der großen heillosen Welt gesehen werden, und dies noch vor einem verliebten Tango? Von Pflegenden ist zu hören, dass sie ihre Alten und Sterbenden zu lieben beginnen und sich auf die Arbeit mit ihnen freuen. Sie berichten sogar, von den Gestorbenen in ihren Zimmern Bilder aufzuhängen. Die Demenzstationen als Asyl des Humanum – kann das die Wahrheit sein? Sie werden sich wundern, ich sage nicht nein. 283 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Freilich sage ich auch nicht uneingeschränkt ja. Was als »Ethik der Gabe« zu bedenken ist, kann keine normative Ethik sein. Niemand ist in die Pflicht zu nehmen, sich an Hilflose zu verschenken. Die hier gesammelten Beiträge bedeuten aber die Chance, auf freies Umsonst, auf freie Vergeblichkeit aufmerksam zu machen, die keine Utopie ist, sondern ein fundamentum in re hat. Nun ist es dem Menschen eigen, sich nicht nur ein Paradies zu entwerfen, das für alle Zeit vertagt ist, sondern auch paradiesische Verhältnisse anzukündigen, die sogleich einträten, wenn wir uns nur nach unseren besten Möglichkeiten verhielten. Die großen Paradies-sofort-Prediger von heute arbeiten mit zwei Wundern. Das eine lautet: »Es gibt keine Konkurrenz mehr unter Menschen«, das andere: »Es gibt keine Kriege mehr unter Menschen«. Das erste Wunder ist ein Versprechen allseitiger Allmende, sprich »Gemeinwohlökonomie«, das zweite ein Versprechen allseitiger Herrschaftsfreiheit, sprich Anarchie. Allmende, zum Beispiel gemeinsame Almwirtschaft – das ist in der Tat eine dem Menschen bekömmliche Ökonomie. Anders aber, als es die von der Wirtschaftsnobelpreisträgerin Elinor Ostrom Inspirierten in naiver Ideologie verkünden, steckt in ihr kein Weltrettungspotential. 7 Damit es dem Gemeinwohl Amerikas diene, wird sich um das Pentagon herum keine Allmende bilden, die Waffenproduzenten mit denen vereinte, die Waffen in Gebrauch nehmen, und gar denen, die durch ihren Gebrauch leiden. Auch die Ausbeutung der Schätze, die an den Polen unter dem nicht mehr ganz so ewigen Eis liegen, wird mit Sicherheit nicht im Sinne weltweiten menschlichen Gemeinwohls erfolgen, weil Energiegewinnung um jeden Preis, wie es ihre Natur ist, Rücksichtnahme ausschließt. Noch ein Wort zum anderen Wunder, zur Kriegslosigkeit dank Anarchie. Meine Sympathie gehört der Occupybewegung – ihrer Praxis, nicht aber ihrer Ideologie, wie sie der brillante David Graeber eher spielerisch vertritt. Anarchie geht schon in kleinsten Gruppen nicht für mehr als ein paar Momente gut. Als Institution von Dauer, und dies für komplexe soziale, politische, ethnische und religiöse Gebilde, ist Anarchie ohne Zweifel eine schlechte Utopie. Das freie Sichhingeben in der Pflege Bedürftiger kennt keinen Impuls, sich als weltweite Lösung des Humanum ins Spiel zu bringen, und doch steckt in ihm mehr, als dass es allein in Pflegeheimen seine Realisierung finden könnte. Was nämlich in einem Pflegenden als 7
Helfrich, S. (2009). Felber, C. (2010).
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Sichverschenkendem wirklich wird, ruht als Potential in jedem von uns, ja nicht allein als Potential. Träte nicht überall im zwischenmenschlichen Verkehr das freie Umsonst zutage, gäbe es überhaupt kein menschliches Gelingen. Als Philosoph ist es nicht meines Amts, spezielle soziale Veränderungen durch politische Kräfte einzufordern. Ich kann aber daran erinnern, welche an Wunder grenzenden Möglichkeiten im Menschen liegen, wenn sein Handeln beweist, dass nicht jederzeit alles seinen Preis haben muss. Und an was erinnere ich damit? Es ist die jeden Tag neu sich bewährende Wahrheit, dass Menschen im gegenseitigen Sichverschenken dem Humanum zur Gegenwart verhelfen und ihm Zukunft eröffnen. Dieses Schlusswort sagt nichts über die Rettung der Welt, sehr wohl aber etwas über unser Ja zum Leben – und zum Tod.
Literatur Evangelisches Gesangbuch (1995). Karlsruhe: Evangelischer Presseverband für Baden e. V. Felber, Christian (2010): Gemeinwohl-Ökonomie. Das Wirtschaftsmodell der Zukunft. Wien: Deuticke. Friedman, Milton (1975): There’s no such thing as a free lunch. Glen Ridge, New Jersey: Thomas Horton & Daughters. Friedman, Milton (1979): Es gibt nichts umsonst, übersetzt von Isabel Mühlfenzl. München: Verlag Moderne Industrie. Heidegger, Martin (1982): Parmenides, GA Bd. 54. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Helfrich, Silke / Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) (2009):Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter. München: Oekom Verlag. Kant, Immanuel (1968): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Kants Werke, Akademie-Textausgabe Bd. IV. Berlin: de Gruyter.
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I. Auf dem Montenero nahe Livomo sind eine Unmenge von Votivtafeln zu bestaunen. Boote gehen unter, selbst Dampfer mit rauchenden Schornsteinen. Der Einzelne, der in Wort und Bild davon berichtet, hat Schiffbruch erlitten, ist, im wörtlichen Sinne, gescheitert. Aber er wurde gerettet. Er dankt dafür – höheren Mächten. Zu scheitern bedeutet offensichtlich nicht notwendig Unheil. Ein Unglück war passiert, nicht mehr, nicht weniger. Der Apostel Paulus berichtet, er habe dreimal im Leben Schiffbruch erlitten, aber nur sein Koautor berichtet, es hätten welche in ihrem Christusglauben Schiffbruch erlitten (1 Tim 1,19). Die gehörten ins Feuer, ins bleibende Unheil. Das lässt uns eine Frage an die Dankbaren vom Montenero stellen: Wäret ihr nicht gerettet worden, sondern ertrunken, hätte dann das Schiffbruchunglück Unheil bedeutet? Es könnte ja sein, dass ihnen im Kampf ums Überleben der Glaube geschwunden wäre: ein Schiffbruch im Schiffbruch. So wären sie, wie es ihr Glaube vorsieht, nicht nur zu Tode gekommen, sondern »obendrein« in die Hölle geraten. Auf diese Frage eine verlässliche Antwort zu geben, in dieser Sache endgültig Klarheit zu schaffen, muss scheitern. So weit reicht menschliches Vermögen nicht, auch das poetisch-religiöse nicht. Der Mensch verlässt mit seinen sinnlichen, geistigen und geistlichen Fähigkeiten unmöglich sich selbst. Das kann er nicht nur nicht, das hat er auch überhaupt nicht nötig. Die Grenzgänge sind es, die Menschen zu ihrer höchstmöglichen Form finden lassen, Grenzgänge im Bilden und Dichten, im Empfinden und Einbilden, im Sehnen und Suchen, im Glauben und Hoffen. Doch schon wieder stellt sich die durch das Thema vorgezeichnete Frage ein: Können Grenzgänge scheitern? Bevor wir uns an so etwas Delikates heranwagen wie scheiternde Dichter, scheiternde Liebende, scheiternde Hoffende, sollten wir herauszufinden versuchen, ob es für den Menschen nicht auch lebenspraktisch Bedeutsames gibt, das jeden Schiffbruch ausschließt. 287 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Die Geretteten vom Montenero haben ein Schiff aus vielen möglichen Gründen genutzt, der zumeist angestrebte Nutzen war aber sicherlich, ein Schiff zu nutzen, um von einem Hafen über das Wasser zu einem anderen Hafen zu gelangen. Mit dem Schiffbruch des Schiffs ist dieses Unternehmen, die Überfahrt, und zwar die sichere und pünktliche, gescheitert. Mit diesem Unglück ist ganz offenkundig etwas gescheitert, das über die geplante Benutzung des Schiffes hinausgeht. Aber damit ist ja, wie ersichtlich, nicht »alles« gescheitert. Das lässt vermuten, dass in diesem Nicht-Alles eine Fährte zu dem aufzunehmen ist, was nicht scheitern kann.
II. Ein Reiseplan ist gescheitert, das Leben gerettet. Für Lebensrettung zu danken, schließt ein, das Leben zu bejahen. Könnte daraus folgen, dass im Falle der Nichtrettung das Leben gescheitert wäre? Wer das positiv in Betracht ziehen wollte, müsste sich über die Konsequenzen seiner Fallbeurteilung im Klaren sein. Er urteilte nämlich notwendig allgemein, dass in jedem Ableben das Scheitern eines Lebens offenkundig würde. Der Tod wäre dann der berühmt-berüchtigte Eisberg, sichtbar zwar, aber nicht in seinem wahren Ausmaß, an dem jedes Lebensschiff mit dem Ende des Lebens zerschellte. Zu leben hieße, zum großen und endgültigen Scheitern verurteilt zu sein. Mit den Plänen und Vorhaben seines Lebens zu scheitern ist eine gängige Rede und ein ebenso gängiges Geschehen. Das Vorhaben, einen Achttausender zu ersteigen, trägt das natürliche, weil durch die Natur des Menschen gegebene Risiko des Scheiterns in sich. Haben einen beim Erreichen des letzten Basislagers die Kräfte verlassen und ist noch genügend Besonnenheit vorhanden, die Umkehr anzutreten, dann ist im Falle der heilen Heimkehr mit dem Scheitern des vollendeten Aufstiegs nichts wirklich Schlimmes geschehen. Ein vergänglicher Ruhm ist verpasst, eine heilbare Kränkung des Ehrgeizes durchzustehen, vielleicht auch eine Wettschuld zu zahlen. Ein scheiternder Rettungsversuch wiegt da, was das Gewicht des Lebens anbelangt, ungleich schwerer. Wer als guter Schwimmer einen Untergehenden nicht zu retten vermag, wird daran tragen, ganz abgesehen von denen, die um den Untergegangenen trauern. Doch selbst ein misslungener, eben ein gescheiterter Rettungsversuch, ein Versuch der Rettung von Leben, zeigt, dass Leben bejaht und höchstbewertet 288 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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wird. Das ist ein klares Nein zu der Ansicht, Leben beweise eigentlich nur dies, dass es am Ende scheitert. Es gibt Theologen, mit denen ich ausführlich diskutiert habe, die bei der Behauptung bleiben, dass jemand, der die Unerträglichkeit späten, hinfälligen Lebens selber abkürze, indem er sich selbst den Tod gibt, mit seinem Leben gescheitert sei. Sie sagen damit nicht, der Tod seines Lebens bedeute sein Scheitern, sondern dieser spezielle Selbsttod. Ich möchte hier dieses heikle Thema nicht ausdiskutieren, sondern allein mutmaßen, was die Theologen des Näheren im Blick haben. Gilt ihnen Leben als Geschenk, dann könnte ihnen Selbsttötung als letzte Undankbarkeit erscheinen, zumal ihnen ja nicht der Gedanke zuzutrauen ist, dass ein Geschenk wie das Leben sich am Ende als Danaergeschenk erweisen könnte. Nein, die Theologen können mit der Rede vom Scheitern, streng verstanden, allein das Scheitern des Glaubens im Sinn haben. Wer gläubig lebt, müsse, so werden sie es sehen, auch in Zeiten der Hinfälligkeit und Lebensunerträglichkeit sein Vertrauen bewahren, dass ein höchster Wille es unendlich besser weiß, was für sein Leben gut ist, als er selbst. Dass ein Gläubiger seine eigene Zwiesprache mit dem Höchsten hält und in ihr zu hören bekommt, dass er in dieser außerordentlichen Lebenssituation in Absprache mit den Seinen seinem eigenen Willen folgen darf, sollte, denke ich, die Theologen dazu bewegen, ihren Standpunkt, dass jeder Lebende, der sich den Tod gibt, ohne Ausnahme mit seinem Leben gescheitert sei, zu überdenken. Dass die höchste Macht, die das Leben schenkt, im Falle seines erflehten Endes auch die ist, die allein die Befugnis hat, den Tod zu schenken, kann im Einzelfall doch leicht den Charakter einer unmenschlichen Probe annehmen. »Was ist der Tod? Das Verhängnis des uns alle beherrschenden bösen Willens.« So fragt, so antwortet im Alter von dreißig Jahren der Theologe Karl Barth. 1 Im Grunde zitiert er nur den Apostel Paulus, der vom Tod des Menschen als dessen letzten Feind weiß (1 Kor 15,26). Ist der Tod das Ende des Lebens, dann, so halten es diese Christusgläubigen, siegt die Sünde und eben der Tod. Das Leben, das den Tod verdient und auch tatsächlich mit dem Tod endet, scheitert im Lichte dieser religiösen Sicht moralisch. Es bleibt bei der Sünde Adams, bleibt beim »alten Menschen«. Lässt man die spezielle Theologie weg und hält sich nur an den Gedanken, dann ist die Sache äußerst einfach: Leben sei seinem Wesen nach Leben. Daher gelinge 1
Karl Barth, Der Römerbrief, hg. von Hermann Schmidt, Zürich 1985, 191.
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allein das Leben, das am Leben bleibt. »Nun ist aber über das alte dumpfe Sterbenmüssen das neue, höhere, kräftigere Lebenmüssen gekommen.« 2 Jedes ungläubige Leben scheitert: Es stirbt. Das gläubige Leben feiert dagegen mit Christus den Sieg über den Tod. Denn Christus sei mit seinem Opfertod der »Tod des Todes« geworden. Der physische Tod wird zum Tor für das ewige, für das eigentliche Leben. Ist für die Philosophie der Lebensteilungskunst der Tod kein Widerspruch des Lebens, kein Feind, sondern gehört er zum Leben, dann stößt die von Paulus initiierte christliche Todesfeindschaft, die den Tod als Ende des Lebens für ein Scheitern des Lebens erscheinen lässt, doch zu der wichtigen Frage an, ob es ein Scheitern des Lebens gibt. Nicht der Gläubige ist gefragt, sondern der Nachdenkliche.
III. Ich gehe vom gelebten und zu lebenden Leben aus, das sein Gelingen im Geteiltsein des Lebens manifestiert, und dies in allen seinen Inszenierungen im Politischen und Ökonomischen, Künstlerischen und Religiösen, Spielerischen und Erotischen. Damit ist die Frage nach dem Misslingen gestellt und auch schon genauer ausgerichtet. Friedensbemühungen scheitern, Ehen, die Resozialisierung, ja nicht selten bereits die Sozialisierung. Doch bekanntlich hat alles zwei Seiten. Da erhält die eine Seite die Chance, den Erbfeind endgültig zu besiegen; der eine Ehepartner hat seine wahre große Liebe gefunden und verabschiedet sich froh vom ersten Versuch; der mit Hass auf die Gesellschaft Freigewordene will sich auf keinen Fall in sie einfügen und der wie von Geburt an Unangepasste will seinen ganz eigenen Weg gehen, von keinem sittlichen Mittelmaß beengt. Betrifft ein erklärtes Scheitern eingegangene bzw. einzugehende menschliche Beziehungen, dann ist als Erstes zu klären, wer hier mit welchem Recht etwas für gescheitert erklärt. Hatten wir schon beim religiösen Glauben gesehen, wie einseitig die Erklärungen des Scheiterns sein können, dann lassen sich auch sogleich Beispiele aus der Philosophie dafür beibringen. Legt man etwa Kants Erfindung des kategorischen Imperativs als Messlatte von Moralität jedem moralrelevanten menschlichen Verhalten zugrunde, dann scheitert die Menschheit insgesamt an der Moral. Zum Glück tut sie das nicht, sobald man 2
Ebd., 192.
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hinreichend erkannt hat, dass Kants einzigartige Erfindung im Bereich der praktischen Philosophie nur einen Haken hat: Sie ist als Gesetz des Handelns schlechtweg impraktikabel. Gelingendes Leben ist eine Ensembleleistung. Misslingt eine gemeinsame Aufführung analog einer musikalischen, etwa die Aufführung der Teilung des Tisches beim gemeinsamen Mahl, dann scheitert die Ensemblebildung im hic et nunc, in raum-zeitlicher Überschaubarkeit. Schrille Misstöne sind zu hören, verbal fliegen die Fetzen, aber es besteht nicht notwendig die Gefahr, dass die Ensemblebildung mit denselben Menschen ein andermal erneut nicht gelingt. Sollte das dennoch der Fall sein, dann werden die Verantwortlichen schon aus Lebensklugheit nach den Regeln der Lebenskunst neue Formationen bei der Teilung des Tisches bilden. Sollte freilich ein Kind mit dem täglichen Familientisch nicht einverstanden sein und, was sein Gemüt anbelangt, sich schlecht behandelt fühlen, aber noch zu jung sein, um aus der Familie auszubrechen, dann kann sich in der vom Kind aus geurteilten gescheiterten Ensemblebildung, ein Urteil, das dann die erwachsenen Tischgenossen in der Regel teilen, schon etwas ergeben, das im Nachhinein »unglückliche Kindheit« heißt. Nicht das kindliche Leben, die Kindheit, ist gescheitert, sondern die Ensemblebildung bei Tisch, so dass im Ganzen von einem Scheitern des Ensembles von Erziehenden und Zu-Erziehenden gesprochen werden kann. Bei dem großen Kinderarzt Bernhard de Rudder (1894–1962) ist in seinem Buch Erzogene über Erziehung, in dem er über seine Schulprobleme berichtet, gut nachzulesen, welche lebenspraktischen Folgen es haben kann, wenn bei den für das Aufwachsen wichtigen Ensemblebildungen etwas missrät. De Rudders Werdegang ist ein Beispiel dafür, dass das Scheitern von für die Entwicklung des Einzelnen bedeutsamen Beziehungen nicht schon das Leben scheitern lässt. Doch er ist vielleicht der Beweis für noch weit mehr. Zeigt er nicht, wie es vielleicht zum Leben gehören könnte, sozusagen systemrelevant für es wäre, dass ein Scheitern dieser und jener Beziehungen, auch ein Scheitern dieser und jener Vorhaben es durchzieht? In diesem Falle gehörte Scheitern zu dem, worin Leben sich über sich selbst belehrt. Scheitern gehörte zu dem, was die Lebensbefähigung in gegebenen Fällen stärkt und eben nicht notwendig schwächt.
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IV. Es gibt krankhafte Melancholie und kreative. Ich halte eine vergleichbare Unterscheidung beim Scheitern für angebracht. Es gibt das fatale Scheitern, das Scheitern, das wie ein Unglück von außen hereinbricht, das kränkt und krank macht, und das kreative, wie es Künstler herausfordert, in den eigenen Anstrengungen nicht nur nicht nachzulassen, sondern sie eher noch zu erhöhen. Marcel Proust ist hierfür ein herausragendes Beispiel. Sein Leben, das ist das Leben, wie er es als Autor und Held seines Romans dichterisch zu formen versteht, ist seiner inhaltlichen Betonung nach ein sich dramatisch wiederholendes Scheitern – ein Scheitern des Künstlers auf dem Weg zur Vollendung seiner Kunst. 3 Proust kokettiert nicht, wenn er seinem künstlerischen Scheitern künstlerisch Ausdruck verleiht und damit ein Hauptwerk der Kunst des 20. Jahrhunderts schafft. Es ist ihm Ernst damit, künstlerischer Ernst, wenn er sein Scheitern als treibende Kraft seines Künstlertums erfährt, ja erleidet. Das Scheitern hat seinen Ort im Gewohnten und Gewöhnlichen. Nur durch seine Berufung zum Künstler erfährt der Künstler diesen Ort als unerträglich, der sonst der der Geborgenheit, weil Vertrautheit ist. Die Entdeckung des eigenen Scheiterns ist die Ersttat des Künstlers, um auf dem Weg zum plus réel zu sein, zu der Wirklichkeit, die nicht die eine Welt des Menschen sprengt, aber, wie es für die Kunst möglich und nötig ist, überhöht. Immer wieder sind es Angst, Langeweile und Gewohnheit, die ihn als ungewollte Mitgift des Alltags einholen. Aus ihr resultieren Mutlosigkeit, das Gefühl des Mittelmäßigen, lähmende Gleichgültigkeit, ja ein Gefühl der Bedeutungslosigkeit des Lebens und der fatalen Auslieferung an den Tod. Das alles sind reale Erfahrungen, nichts Imaginatives. Nur weil es Realität ist, wird es zur Orientierung auf das plus réel, das es zu schaffen gilt, was auch das Glück der Kunst einschließt, das ohne Verwandtschaft mit dem Lebensglück ist, wie es die Lebenswelt der von ihm als Material der Kunst genutzten »höheren Kreise« mit ihren Exzessen, angesiedelt zwischen Banalität und Frivolität, bietet. Das Ungenügen, das Prousts Künstler, der Autor
Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, hg. von Jean-Yves Tadié, 4 Bde., Paris 1987–1989; dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übersetzt von Eva Rechel-Mertens und hg. von Luzius Keller, Frankfurt a. M. 1997.
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und Held in einem ist, an sich hat, ist unabdingbarer Teil der Form und des Motivs seines Schaffens. Die Aufführung eines Kunstwerks »fällt durch«. Ein der Öffentlichkeit überantwortetes Kunstwerk wird von der Kritik »verrissen«. Diese Ereignisse stellen das Kunstwerk als Werk der Kunst in Frage. Behalten diese Ereignisse Recht, dann sind künstlerische Vorhaben als künstlerische gescheitert. Nicht jeder, der im Ausgang der Jugend die eigene Empfindsamkeit zu Versen formt, hat das Zeug zum Dichter. Kunst dagegen, die, einer Berufung folgend, als Kunst auf dem Weg zur Kunst ist, scheitert unmöglich als Kunst. Alles Scheitern, das Proust in seinem Werk zur Aufführung bringt, sind Kunstereignisse, ist gelingende Kunst. Das Kriterium für Kunst ist dabei das plus réel. Nur einer Kunst, die als Kunst Maßstäbe setzt, gelingt die Überhöhung der Wirklichkeit der Welt, gelingt Kunst. Künstler sind notwendig Grenzgänger. Sie loten die Grenzen des Menschenmöglichen aus, was aus der Perspektive des Gewohnten und Gewöhnlichen sich gerne als etwas Unangemessenes und Ungemäßes ausnimmt, in Wirklichkeit aber nur die Maßlosigkeit der Kunst zu erkennen gibt, die sich ihr Mäßigendes rein aus sich selbst erschafft, durch keine Regel und keine Norm von außen geleitet. Das ist der erste wichtige Fund: Kunst, auf dem Wege zur Kunst, kann unmöglich scheitern. Beenden Krankheit und Tod die Möglichkeit, als Künstler auf dem Weg zur Kunst zu sein, und dies beim Versuch, der eigenen Berufung zu folgen und zum großen Finale der Kunst zu gelangen, dann bedeutet der vorzeitig zu Ende gekommene Weg kein Scheitern. Das bis dahin geschaffene Werk zeigt nicht die Züge eines Schiffbruchs. Auch unvollendete Kathedralen sind Kathedralen. Um die groß geratene Behauptung, dass Kunst auf dem Wege zur Kunst unmöglich scheitert, akzeptieren zu können, muss man auf den Unterschied von künstlerischem Projekt und Gang der Kunst achten. Natürlich können sich künstlerische Vorhaben als nicht ausführbar erweisen. Wer, wie die Baumeister von Beauvais, die Gesetze der Statik missachtet, muss mit seinem Projekt scheitern. Sie hatten das Prinzip künstlerischer Überhöhung, das auf Qualität setzt, zu sehr als eine Sache der Quantität verstanden. Zum Glück war der einhundertfünfzig Meter hohe Teddybär im Central Park von Claes Oldenburg als Konzeptkunst gemeint. Auch seine Ausführung hätte schief gehen können. Nein, der Weg der Kunst zur Kunst ist es, der Kunst unmöglich scheitern lässt. Proustkenner halten vermutlich längst einen Einwand parat, 293 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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einen sehr triftigen: Proust habe Glück gehabt. Ihm ist auf seinem Weg der Berufung etwas widerfahren, worüber sein Wille, sein Verstand und seine Vernunft nicht verfügten. Proust spricht von Zufall (hasard), und wir sehen, dass er den Glücksfall meint. Was wäre Kunst Großes, wenn sie nicht ein Wagnis wäre, wenn es nicht des Glücks bedürfte, des berühmten Glücks des Tüchtigen? Aber das ist es eben: Wer als Künstler auf dem Weg zur vollendeteren Künstlerschaft seiner Berufung folgt, geht den Weg des Glücks. Wie ein Maler mit seinem Ernst und seinem Können Glück haben wird, seine Sichten zu finden, seine Farben, so hat auch der Schriftsteller Glück, der entsprechend verfährt: Er wird die künstlerische Expression für seine künstlerische Impression und wessen es sonst für sein Gelingen bedarf, mit Glück finden. Glück, wie es der Künstler braucht, ist kein launischer und bizarrer deus ex machina. Der Weg der Kunst ist ein Weg des Glücks, was Hölderlins Wort nicht aufhebt, dass Kunst und Sinnen Schmerzen von Anbeginn gekostet haben. Kunst glückt. Dass Prousts Held auch das Glück der Kunst an sich selbst erfährt, das alles überwogende Wohlgefühl, wenn urplötzlich und damit außerhalb der Zeit sich die Einheit einer gewesenen und einer gegenwärtigen Empfindung einstellt, hat seinen guten Grund. Es ist das Glück rein des Künstlers, nicht etwa einer Stolz empfindenden Person. Jetzt, in diesem Augenblick, macht nicht Geld glücklich, kein Blick ins Weite, keine Anerkennung, sondern der Glücksmoment der Kunst. Die beiden Möglichkeiten gehören zusammen: Kunst auf dem Wege zu sich selbst kann unmöglich scheitern; der Weg des Künstlers zur vollendeteren Künstlerschaft ist unmöglich ohne Momente künstlerischen Glücks. Dabei gibt es nicht allein die extraordinären Momente, sondern auch die ordinären. Welcher Künstler kennte das nicht, dass bei der Arbeit im Unbewussten ein Glücklichsein spricht. Bei der Sache, bei der Arbeit der Kunst zu sein, das ist das latente Glück, das den Künstler, der seiner Berufung folgt, begleitet. Der Weg der Kunst ist kein pursuit of happiness. Das ist er schon darum nicht, weil er nichts von dem Individualistischen hat, das angelsächsische Philosophie diesem Glücksaufruf eingepflanzt hat. Das Individuum verfolgt hier nichts als seine Interessen, welche es auch sein mögen, die es seiner Individualität nach gebiert. Der Künstler dagegen, wenn er sich auch, wie im Falle Prousts, vereinzelt ausnimmt: Der Romancier im Eck des Zimmers, im Eck seines Bettes, bei künstlichem Licht, ist vom ganzen Reichtum der Kunst umgeben. Sein Gewissen ist es, sein künstlerisches Gewissen, das ihm die Präsenz 294 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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der künstlerischen Mitwisserschaft einbringt, der Mitwisserschaft derer, die die Kathedrale zu Amiens bauten, der Mitwisserschaft eines Debussy und eines Rembrandt. Kunstschaffen, auch in größter Einsamkeit, ist immer öffentlich. Sucht der Romancier Proust nach dem angemessenen Ausdruck, dann spricht in ihm eine reiche, aus vielen Quellen gespeiste Sprachkultur, sprechen Dichter und Memoirenschreiber, sprechen auch die Charaktere, die er in seinem Roman zur Aufführung bringt, mit all ihrem ihnen vom Künstler zugesprochenen Geist und Ungeist. Sieht er die Front der Kathedrale von Amiens, wie er sie erinnert, samt den die Sicht besetzenden Empfindungen, dann sehen die Augen anderer und vibrieren die Empfindungen anderer mit. Ein abstrakt verstandener Solipsismus ist im künstlerischen Schaffen unmöglich zu verifizieren.
V. Künstler müsste man sein, um unmöglich zu scheitern, um unmöglich ohne Momente des Glücks zu sein – so hört sich das an. Ja, so ist es auch gemeint. Wir alle sind Künstler. Dazu bedarf es nicht, professionell Maler und Bildhauer, Wort- und Tondichter, Tänzer und Schauspieler, Sänger und Orchestermitglied zu sein. Leben ist selbst eine Kunst, erfordert eine Kunst: die Lebenskunst. Ob es der Einzelne weiß oder nicht, jeder übt sie, ob gut oder schlecht. Damit kommt auch schon ein zweiter gewichtiger Fund in den Blick: Ist Leben eine Kunst, dann kann auch das Leben unmöglich scheitern, kann auch das Leben unmöglich ohne Momente des Glücks sein. Was am Anfang noch fraglich war, hat sich auf dem Umweg über den Gedanken der Kunst entschieden. Wie bei der Kunst gilt: Im Leben können Projekte scheitern, nicht aber das Leben, das lebenskünstlerisch auf dem Wege zu seinem Lebens- und Kunstwerk ist. Um zu erproben, wie weit sich für Lebenskunst der Vergleich mit den Künsten führen lässt, soll die Frage gestellt werden, ob Leben, das eine Kunst ist, einer Berufung folgt. Eine Berufung (vocation), ist sie keine erdichtete, die sich auf Übermenschliches beruft, kann nur vom Menschen selbst ausgehen, allerdings nicht vom Menschen, wie er sich vorfindet, sondern wie er sich entwirft, und zwar lebenskünstlerisch entwirft. Auch in der Lebenskunst bedarf es, sofern sie Kunst ist, der Überhöhung, des plus réel. Das Leben muss über sich hinausgehen, was in einer der Sichten 295 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Prousts besagt: über seine Banalität und Frivolität, um sich in seinen eigenen Möglichkeiten zu erfahren. Leben ist nicht nötig. Wer nicht zum Leben gekommen ist, wird nicht vermisst. Das Unwort in Tageszeitungen »Wir hätten dich sonst sehr vermisst« ist wirklich ein gedankenloses Wort. Damit Leben Kunst ist, hat es sich selbst zu ernötigen und sich damit für sich selbst und für andere wertvoll zu machen. Wem es neu ist, vom Leben zu lesen, das eine Kunst ist, zu lesen, dass es einer Berufung folgt, dem steht eine neue Erfahrung bevor. Wer nämlich sein Leben künstlerisch überhöht und dies gewissenhaft tut, das heißt im Hören auf das Gewissen der Lebenskunst, der versteht plötzlich auch, dass er sich diesem Ruf nach Überhöhung, wenn er Künstler ist, zu unterwerfen hat. Sich durch das Leben in die Pflicht nehmen zu lassen – das ist eine andere Form der Bejahung des Lebens, als dem individualistischen pursuit of happiness zu folgen. Der Glücksverfolger in der »Neuen Welt« unterwirft sich keiner Pflicht, folgt keiner Berufung, kennt kein künstlerisches Gewissen. Die Probe ist damit gemacht, wenn auch der Darstellungsökonomie zuliebe großteils thetisch: Die Berufung zum Leben als einer Kunst ist eine Selbstberufung. Sie schafft einen Handlungsraum, der durch Überhöhung und Unterwerfung markiert ist. Um diese Überhöhung nicht als bloßes Wort mit geringer Deutungskraft stehen zu lassen, sei ein kleiner Hinweis gegeben: Die Überhöhung zielt auf den Ernst des Lebens und sei es auf den Ernst seines Spiels. Da menschliches Leben von Natur und durch gesellschaftliche Entwicklung gesellig ist – angefangen mit der Teilung von Tisch und Bett bis hin zur Teilung von Rechten und Pflichten –, ist Leben, wenn es Kunst ist, geteilter Ernst. Die Überhöhung des Lebens und die Unterwerfung, die besagt, sich vom Leben gewissenhaft in die Pflicht nehmen zu lassen, vollzieht sich notwendig immer neu auch in geteilten, das heißt frei aufeinander eingehenden und aufeinander abgestimmten Handlungen. Lebenskunst setzt als Kunst keinen Akzent auf die Selbstverwirklichung des Einzelnen, sondern auf die Lebensteilung. Leben als Kunst ist nicht möglich ohne gemeinsamen Ernst, gemeinsame künstlerische Mitwisserschaft und gemeinsame Momente des Glücks. Welche Form dabei auch das Glück annimmt, maßgeblich ist, dass es ein Glück der Kunst ist, ein Glück gelingender Überhöhung und Unterwerfung, ein Glück der Lebensteilung. Was immer in den heute gängigen Diskussionen zum Glück des Lebens im Einzelnen ausgemacht wird, grundsätzlich sind es Deutungen des für den Ein296 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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zelnen mit Glück Erreichbaren. Das Scheitern, ob ausdrücklich gemacht oder nicht, ist stets mit in der Rechnung. Das als glückbringend und glücklich machend Anvisierte kann ausbleiben, möglicherweise für ein ganzes Leben. Halte ich dagegen, dass Leben als Kunst unmöglich ohne Momente des Glücks, zumal nicht ohne Momente geteilten Glücks sein kann, dann wird dadurch Glück unter lebenden Menschen nicht inflationiert. Das Verständnis des Glücks ist ein anderes. Um es zu wiederholen: Es ist das Glück der Kunst, es ist der geteilte Ernst, und sei es der Ernst des Spiels, es ist die geteilte Überhöhung und Unterwerfung. Die Kunst, die sich selbst ernötigt und ihrer Selbstberufung folgt, kann unmöglich scheitern. Das Leben, das mit sich selbst Ernst macht und seiner Selbstberufung folgt, kann unmöglich scheitern. Das genügt dem Philosophen für die Kurzfassung: Leben kann nicht scheitern. Kunst kann nicht scheitern. Ist das, was nicht scheitern kann, so umfassend, dann wird es spannend, was nun als das bestimmt werden soll, was scheitern muss. Selbstverständlich sind nicht kleine Dinge gefragt, bei denen man schon von weitem sieht, dass es »so nicht geht«. Wer mit nassen Streichhölzern Feuer machen will, wird scheitern. Nein, Gewichtiges ist gefragt, das Menschen seit alters bewegt, auch gerade als etwas, das sie zu erreichen und eben zu vermögen glauben, das aber, wie ausgeführt werden soll, als Vorhaben scheitern muss.
VI. Das Menschenmögliche ist das Menschenmögliche – das soll die Ausgangslage sein, um das in den Blick zu bringen, was unmöglich ist, auch wenn der Mensch noch so sehr darauf setzt, dass es nicht nur irgendwie möglich, sondern als Wirklichkeit geradezu die Bedingung seines wahren Menschseins ist. Es geht um den Selbstüberstieg des Menschen. Bislang war nur von Überhöhung die Rede, vom plus réel. Jetzt aber geht es um die – emphatisch – wahre Wirklichkeit, die in keinem Verhältnis mehr zu der des Realitätssinnes stehen soll, sondern als Wirklichkeit etwas ganz anderes ist. Heidegger spricht in seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) an einer Stelle von einem »echten« Scheitern. 4 Philosophen nutzen bei 4
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001, 178.
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der Darstellung dessen, was ihnen besonders am Herzen liegt, gerne Wörter, die, einer namentlich genannten Sache beigelegt, besagen wollen, dass man jetzt so bei der Sache ist, wie sie einzigartig ihren Namen verdient. Zu diesem Zweck stehen Platon etwadie emphatischen Ausdrücke »wirklich« (ontôs) und »wahrhaft« (alêthôs), am weitaus meisten aber »selbst« (auto) zur Verfügung. Das Schöne selbst: Jeder Platon-Kenner versteht, die Idee der Schönheit ist angesprochen, die im Reich der Ideen allein geistige und für alle Geister vollkommen gleich und vollkommen unvermischt, mit keinem Gran Hässlichkeit also verbundene seienderweise seiende (ontôs ousa) Schönheit. Im wesentlichen dient dem Philosophen ein Emphatikon dazu, der Unterscheidung von wahrhafter Bedeutung und nicht wahrhafter Bedeutung Ausdruck zu verleihen. Junge Mädchen, Vögel, Sonnenuntergang, nein, nichts davon ist wahrhaft schön. Mit der wahrhaften Bedeutung erfindet der Philosoph die reine Bedeutung. Demnach ist wahrhaftes Schönsein allein dem »Schönen selbst« vorbehalten. Kein Wunder, dass man sich über Philosophen wundert. Heidegger verfährt im Prinzip nicht anders. So ist etwa die eigentliche Wahrheit für ihn nicht die, die in Alltag und Wissenschaft dem Realitätssinn als Orientierung dient, das ist die Wahrheit, die einer wahren Aussage zugehört und für die ein truth maker auszumachen ist. Nein, die eigentliche Wahrheit sei die des Seins, nicht die des Urteils, eine Wahrheit, die er genauer als Unverborgenheit verstanden haben möchte. Vielleicht ist eine solche gar nicht möglich 5, aber das tut hier nichts zur Sache, weil nur zu klären ist, wofür der Philosoph ein Emphatikon nutzt. Ein in Sein und Zeit reichlich gebrauchtes ist das Emphatikon »echt«. Weil man in Heideggers Sicht alles entweder richtig oder falsch verstehen kann, nämlich entweder in seinem von ihm erdachten echten Sinne oder im Sinne des gemeinen Menschen, des »man«, ist im Kontext der Rede vom echten Scheitern von der echten Erfassungsart des eigentlich Seienden die Rede, vom echten Hörenkönnen, echten Verstehen, Auslegen und Mitteilen, von ursprünglicher und echter Wahrheit, aber eben auch vom bloß vermeinten Echten, wie etwa das »man« das volle und echte Leben, das echte lebendige Leben einschätzt. Nicht jeder kann scheitern, das heißt, nicht jedes Scheitern verdient auch schon seinen Namen. Scheitern kann hier für Heidegger nur der, der sich selbst in seinem 5 Siehe Rainer Marten, Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust, Freiburg 2012, 44 ff.
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Dasein ernst nimmt, nicht aber der gemeine Mensch, der flüchtig und »schnell« lebt und immer schon bei Neuem und Neuestem ist. Ich folge nicht Platons »selbst« und Heideggers »echt«, sehe aber doch in der Differenzierung eines jeden »Dinges« 6 eine gute Möglichkeit, zu unterscheiden, was für ernsthaftes Nachdenken von Interesse ist und was nicht. Und darauf will ich hinaus: Es gibt eine große, für den Menschen bedeutsame Unmöglichkeit, die, in eine Möglichkeit zu wenden, für ihn ein notwendiges Scheitern bedeuten muss. Dabei aber könnte sich ein Doppeltes ergeben: Es wäre nicht nur unumgänglich, dass er scheitert, sondern er suchte auch insgeheim dieses Scheitern, weil er es für das Ausspielen seiner höchsten Möglichkeiten braucht. Wieder bin ich beim Künstler, beim Künstler als Grenzgänger. Jetzt aber nicht mehr allein bei ihm als demjenigen, der der Überhöhung, des plus réel, fähig ist, sich also den Grenzen des Menschen nähert, sondern bei dem, der wirklich an seine Grenzen stößt. Das ist nicht mehr das Scheitern, wie es Proust in der Recherche zur Aufführung bringt, das zum Weg des Künstlers gehört, nämlich, wie zu erinnern, als Form und als Motiv seiner Berufung zu folgen, sondern jetzt gerät ein Scheitern in den Blick, wie es der Schriftsteller nicht erfährt und auch nicht braucht, wie es aber sehr wohl den Anstrengungen des religiösen Menschen zugehört, die stellvertretend für ihn in Theologie und theologischer Philosophie unternommen werden. Wer über Gott redet, sagt mehr, als er zu verstehen imstande ist, und er sagt das auch. Der Theologe, der, dem Wortsinn nach, das Wort Gottes im Munde führt (über Gott spricht und sich des Wortes Gottes annimmt), übernimmt sich prinzipiell. Das lässt sich auch so sagen: Theologen und theologische Philosophen suchen das Scheitern und scheitern auch in der Tat. Sie tun das freilich nicht einem Schiffe gleich, das auf einen Felsen zusteuert, um absichtlich einen Schiffbruch herbeizuführen. Nein, sie wollen von dem, was sie suchen, gar nichts wissen. Sie verklären von Anfang an ihren Versuch, zu scheitern, für Andere und für sich selbst, indem sie ihn als erfolgsmöglichen und erfolgsnotwendigen darstellen. In dieser Absicht, wohlgemerkt, in dieser sich selbst verklärenden Absicht, fordern sie von sich selbst den Selbstüberstieg: Das Geistige, sagen sie sich, kann und muss mehr vermögen, als es vermag. Ebenso sprechen sie dem SpiriIm Sinne von gr. pragma, wie es in Koh 3 in der Septuaginta gebraucht wird, nämlich für »Dinge« wie Lachen und Weinen, Umarmen und Sich-Meiden.
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tuellen Möglichkeit und Notwendigkeit zu, das zu vermögen, was es nicht vermag. Die Grenze des Menschen, die auch seinen höchsten Fähigkeiten gesetzt ist, wird damit praktisch für durchlässig genommen. Ich sage das nicht wie Kant, der mit seiner »Kritik« die Vernunft sich über sich selbst aufklären und eben über ihre Grenzen klar werden lässt, um fest entschlossen bei der Vernunft und dem zu bleiben, was sie kann. Nein, ich folge der Verklärung, um der Bedeutung des verklärten Scheiterns, wie sie für die Scheiternden gegeben sein muss, eine eigene Deutung zu geben. Wird die Grenze des Menschen im Bereich seiner höchsten Fähigkeiten praktisch für durchlässig genommen, dann kann sich ja das entsprechende geistige und geistliche Handeln nicht anders als sich vollziehender und vollzogener Grenzüberschritt verstehen. Die erhellende, nicht aber entzaubernde Aufklärung besagt in diesem Falle, dass der geistige und geistliche Mensch als der Meister religiöser Poesie, der er ist, die Verklärung des Scheiterns des Selbstüberstiegs braucht. In der Art und Weise, wie er sie fruchtbar zu machen versteht, finden sich Höchstformen menschlicher Selbstpoetisierung und mit ihnen das Anrührendste und Bewegendste, das menschlichem Gemüt widerfährt. Wenn diese Aufklärung sagt, dass Versuche, letzte Grenzen zu überschreiten, scheitern müssen, dann rät sie nicht von diesen Versuchen ab, sondern zeigt vielmehr, inwiefern sie zu bejahen sind. Der Mensch braucht, im Ausloten seiner geistigen und geistlichen Fähigkeiten, die Abdankung derselben, was sich mit dem Glauben verbindet, den Sprung über sie hinaus wagen zu können. Wie Theologie und theologische Philosophie das Geistige und Geistliche künstlerisch handhaben, erhalten sie, ohne dass ihnen das vollends bewusst würde, den Status der Kunst. Damit aber gehören sie, wie alle Kunst, einem Kreis von Berufenen an, die auf dem Weg, ihrer Berufung zu folgen, unmöglich scheitern können. Das ernste Spiel der Überhöhung und Unterwerfung hat statt. Was sich in diesem außerordentlichen Fall als ein Zu-Hoch der Überhöhung und Zu-Tief der Unterwerfung ausnimmt, verdankt sich dem einzigen menschlichen Vermögen, Unmögliches möglich zu machen: der Poesie – hier freilich der verklärten, der sich als Poesie nicht wissenden und sich als Poesie nicht zeigenden Poesie. Das Zu-Hoch der Überhöhung und das Zu-Tief der Unterwerfung sind in den Aufführungen der von Gott redenden geistigen und geistlichen Kunst nicht etwa bloß erlaubt, sondern vielmehr geboten – als unverzichtbare Formgebung für ihr Werk. 300 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Es ist von bedeutendem lebenspraktischem Vorteil, im Leben scheitern zu dürfen. Wer eine Aufgabe in Angst und unter Drohung übernimmt, nicht scheitern zu dürfen, wird sich ungleich schwerer mit ihr tun, als einer, der von außen und innen die Freiheit hat, sie als zu groß und zu schwer für sich zu erfahren. Scheitern dürfen – das ist ein für gelingendes Leben fundierender Entlastungsfaktor. Das große Spiel in Sachen menschlichen Scheiterns gehört allerdings dem Zusammenspiel von unmöglichem und notwendigem Scheitern. Das leuchtendste Profil verdankt der Mensch seinen Grenzgängen als Künstler. Zu seiner Erfahrung der eigenen Grenze gehört es, dass er sich auf beiden Seiten von ihr heimisch weiß. Dass er dabei nicht sich selbst verliert, verdankt er dem Ernst und dem Spiel der Kunst. Menschliche Kunst bleibt menschliche Kunst. Dass sie nicht nur an ihre Grenze geht, sondern auch einzigartig über sie hinaus, tut sie mit dem stillschweigenden Vorbehalt der Kunst. Die Selbsterkenntnis, die der Mensch an Sich-selbst-Erhellendem nicht überbieten kann, ist seine Erkenntnis, Künstler zu sein.
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I. Ein langes Leben ist leicht erzählt: Geborenwerden, Aufwachsen, Leben Weitergeben, Altern, Sterben. Veranschaulichen wir uns diesen Lebensgang als Halbbogen, dann liegt seine Kulmination im Leben Weitergeben. Nun, nicht jeder hat Kinder: Nicht jeder kann, nicht jeder will Kinder haben. Doch wenn wir über Leben reden, es versteht sich: über menschliches, dann können wir über den Einzelnen, der sein eigenes und einziges Leben lebt, nicht die Anderen vergessen, mit denen er wie notwendig oder eher zufällig Momente und Zeiten seines Lebens teilt, mehr noch, wir können das Menschengeschlecht nicht außer Betracht lassen, wie es uns seit den frühen Hochkulturen Wissen um den geschichtlichen Menschen zuspielt. Wir hier sind Repräsentanten der heutigen Gestalt des geschichtlichen Menschen und Exempel weitergegebenen Lebens. Die Kurzform des Lebenshalbkreises heißt Geburt – Liebe – Tod –, der in Wahrheit ein ganzer Kreis ist, weil Leben weitergeht. Im Kreisen des Lebens zeigt sich keine Natur des Lebens, die den einzelnen Menschen und den Menschen im Ganzen übermächtigte. Von Anbeginn greift der geschichtliche Mensch gestalterisch in den Rhythmus des sich wiederholenden Lebens ein. Wie ein Einzelner wacht und schläft und wieder wacht, wie in Ethnien gelebt, gestorben und neu gelebt wird, ist reich geformt, ist voller Kultur. Von Beginn der Staatsgründungen und Gesetzgebungen, der Totenkulte und Götterverehrungen an zeigt sich der Mensch in der Gestaltung des Lebens als Künstler. Doch der Verweis auf manifeste Formen menschlichen Künstlertums könnte falsch verstanden werden, entdeckt er doch nicht, worin seine initiale Herausforderung besteht. Für mich als Philosophen ist der Mensch nicht schon Künstler, weil er im Zusammenleben zu ganz eigenen Formen findet, weil er Musikinstrumente gebraucht und religiöse Rituale vollzieht. Nein, es ist ungleich
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Das Leben als Kunstwerk
Bedeutenderes im Spiel, was im Nachdenken über menschliches Leben notwendig zum Gedanken der Kunst führt. Der Mensch, seit er sich seiner selbst als Mensch bewußt ist, sieht sich mit einer Frage konfrontiert, die darin ihr besonderes Gewicht hat, daß sie sich ganz von selbst stellt und für jeden, der sich ihr stellt, als unbeantwortbar erweist: Woher und Wohin, Warum und Wozu? Heute meinen nicht wenige um den Menschen Bemühte, darunter auch eine gute Anzahl von Philosophen, es komme zugunsten gelingenden Lebens an erster Stelle auf Lebensberatung an, darauf, wie man sein eigenes und einziges Leben am besten bewältigt, ja am meisten von ihm hat. Doch diese Ratgeber unterschätzen die Dringlichkeit und Unnachgiebigkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist. Natürlich muß der Durst gestillt, der Leib geschützt, das Düstere aufgehellt, der Friede im Kleinen und Großen gesichert werden. Dennoch ist die Priorität, die das Leben von selbst setzt, eine andere. Die Unbeantwortbarkeit der Frage, die das Leben des Menschen als die Frage seiner selbst stellt, will geformt sein. Das aber ist die Forderung des Lebens nach Poesie. Kunst ist kein Beiwerk, keine läßliche, wenn auch erfreuliche Zugabe, sondern eine Notwendigkeit für gelingendes menschliches Leben.
II. Nichts kam, wie es kommen mußte. Der Mensch, der Auto fährt, den Psychiater aufsucht, sich über Facebook austauscht, der, wenn Sie es lieber anders hören, Liebesbriefe schreibt, aus Gottesglauben Hexen verbrennt, sich auf der Bühne selbst verspottet – nichts davon mußte so kommen. Es gibt ja nicht einmal etwas mit guten Gründen anzuführen, das den Menschen notwendig gemacht hätte. Das gilt auch für Erich und Ilse. Daß gerade diese beiden zur Welt kamen und jetzt tatkräftig im Leben stehen, ist ohne Notwendigkeit so gekommen, von der Teilhabe an einem ins Detail gehenden Weltplan nicht zu reden. Das ist keine gute Ausgangslage für die, die der Frage des Menschen und ihrer Unbeantwortbarkeit gerecht werden wollen. Was aber macht der fragende und nachdenkliche Mensch, wenn ihm sein klarer Blick auf die Welt und auf sich selbst genau jenen festen Halt verwehrt, den ihm die eigene Notwendigkeit gäbe? Antwort: Er erdenkt und erdichtet sie. Philosophen und Dichter im alten Griechenland haben das reichlich getan. Sie lassen selbst Götter gegen 304 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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die Notwendigkeit vergeblich kämpfen. Ja der Philosoph Parmenides (um 500 v. Chr.), nachdem er Unmögliches als möglich erdacht, gibt ihm auch noch das Siegel der Notwendigkeit: Das unentstandene und unvergängliche Sein sei durch die mächtige Notwendigkeit aufs festeste in seinen Grenzen gehalten. Nein, ich stifte Sie nicht zum philosophischen Phantasieren an. Die Notwendigkeit, die unser Leben hält, ist eine unmittelbare: Sie ist rein für uns selbst und stammt ganz aus uns selbst. Die erste Forderung nach Poesie im Leben ist die Poesie der Notwendigkeit. Mit ihr beginnt das Leben als Kunstwerk. Der Mensch, der sich selbst als Mensch bestimmt, legt sich zuallererst als notwendiges Wesen aus. Wem es gelingt, bewußt oder unbewußt, der innersten Forderung nach Formung der Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage nachzukommen, entwickelt auch schon in sich die Überzeugung von der Notwendigkeit seines Lebens – notwendig für Andere und für sich selbst. In einer der frühen Selbstauslegungen und eben Selbstpoetisierungen teilt der Schöpfergott dem Menschen seinen Part im Schöpfungsganzen zu: Er hat den Auftrag und mit ihm die Notwendigkeit, Herr der Erde und all dessen zu sein, was auf ihr ist. Der Mensch ist gebraucht als Herr. Wie sollte er die Notwendigkeit seiner Existenz kräftiger und souveräner zum Ausdruck bringen? Sie merken, wir haben nichts biologisch Notwendiges vor uns. Der Zeit nach nehmen die Notwendigkeiten den ersten Rang ein, die zur Erhaltung der Vitalität gehören, der Sache nach aber die Notwendigkeit, die der Mensch für sich selbst erdichtet. Das Geistig-Poetische ist die erste Sorge des geschichtlichen Menschen. Er ist in Frage gestellt, weil er sich selbst in Frage stellt. Das fordert in ihm den Künstler heraus. Wer seinem Leben kraft inwendiger Poesie Notwendigkeit verleiht, ergänzt die Erzählung des Lebens, die sich an das Bild eines Halbkreises hält: Die Kulmination hat jetzt zwei Namen – zum »Leben-Weitergeben« gesellt sich das »Ein-Kunstwerk-Schaffen«. Der Poet der Notwendigkeit bejaht das Leben, sieht sich gehalten, es künstlerisch fruchtbar zu machen. Darum gilt es sich zu hüten vor all denen, die das Leben zu kurz erzählen. Sie sprechen vom Entstehen und dann sogleich vom Vergehen, vom Geborenwerden und auch schon Sterben. Anaximander (610–546 v. Chr.) ist berühmt für seinen Spruch, der von etwas handelt, das nicht anders geschehen kann und darf:
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Das Leben als Kunstwerk
Und aus welchem das Werden ist des Wirklichen, zu diesem wird auch das Vergehen …
Jetzt folgt griechisch kata to chreôn – die Einen übersetzen »nach der Notwendigkeit«, die Anderen »nach der Schuldigkeit«. Beides ist richtig. Der notwendige Gang der Zeit wird hier als ein Rechtsvorgang verstanden: Was es wagt, aus dem Nichtsein ins Sein zu treten, macht sich straffällig. Die Strafe, die sogleich erfolgt, ist das Wiederins-Nicht-Sein-Übergehen-Müssen. Eine starke Logik: Wer aus dem Mutterleib hervorkommt, bezahlt seine Schuld, jetzt dazusein, damit, daß er einst wieder weg ist. Nur so walte die Zeit, die alles gerecht macht. Der Apostel Paulus steht dem nicht nach, wenn er die Erbsünde erdichtet und jedes Neugeborene für mitschuldig an Adams Sündtat erklärt, wofür es mit dem Tode bestraft sei. Ob Anaximander oder Paulus, ob, im 20. Jahrhundert, Karl Barth oder Martin Heidegger – jeder, der den lebendigen Menschen für ursprünglich schuldig erklärt, hat sich von der Poesie der Notwendigkeit ausgeschlossen, die den Grund für das Leben als Kunstwerk legt. Für Menschen, die ihr Leben als Schuld verstehen und sich der Notwendigkeit unterwerfen, diese Schuld abzutragen, ist der Zugang zum menschlichen Künstlertum in der Regel verbaut, es sei denn, ihre Schuld sei zwar ein Spielen mit dem Ernste, dabei aber ein Spiel der Poesie, das von jeder logischen Zwangshaftigkeit befreit. Dem Leben, das Einer mit Anderen und mit sich selbst lebt, Notwendigkeit zu verleihen, geschieht unscheinbar. Beginnt Einer, ob er es merkt oder nicht, sein Leben ernst zu nehmen, so hat er damit die Spur der Poesie der Notwendigkeit aufgenommen. Das ist nicht der Ernst des Lebens, auf den Erzieher vorbereiten möchten. Es ist ein Ernst, in dem sich Einer lebenspraktisch unmittelbar und in voller Offenheit als er selbst gefordert sieht. In den Minuten, Stunden und Tagen dieses Ernstes ist für alles Tun und Lassen die reine Selbstverantwortung, für alles Erkennen und Empfinden die Wahrheit zu sich selbst gefragt. Das setzt ungeahnte Kräfte im Menschen frei, die ich die schöpferischen, die künstlerischen nenne. Eine ganz neue Freiheit tut sich auf: die Freiheit zu sich selbst, zu der allein der Mensch fähig ist, der sich in seinem Leben mit Anderen und mit sich selbst als notwendig erfährt. Denken Sie nur einmal, welchen Impuls das der eigenen Lebensbefähigung gibt, nicht allein zu erfahren, daß Andere Einen brauchen, sondern seiner selbst gewiß zu sein, sich selbst zu brauchen. Genau diese Gewißheit bringt den Einzelnen nicht auf 306 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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den Weg solipsistischer Vereinzelung, sondern auf den des zu teilenden Lebens. Im Ernst der Selbsthaftigkeit verdampft alles Selbstische. Jedes selbsthafte Engagement lebt von der Alterität in ihrer doppelten Gestalt: Der Andere ist ein Anderer und er ist anders. Nur eine Forderung ist vorweg an den tauglichen Anderen gestellt: Er hat sich selbst notwendig zu sein, gerade auch er.
III. Ihnen in nuce die Genese des Selbst vorzuführen, wie sie sich einem Wechselspiel mit anderem Selbst und einer Doppelung des eigenen Selbst verdankt, hieße vor Psychosomatikern Kohlen nach Newcastle upon Tyne zu bringen. Aus der Frühzeit philosophischer Verständigung des Menschen über sich selbst gibt es aber etwas vorzutragen, das die Fragen des Selbst berührt, uns aber schon zielgenauer Materialien sammeln läßt, die für das Schaffen des Lebens als Kunstwerk tauglich und nötig sind. Ich denke an Aristoteles (384–322 v. Chr.), der ein besonderes Augenmerk darauf hatte, in menschlichem Leben stets das Zusammenleben zu sehen. Aristoteles hielt sich für Indizien menschlichen Am-LebenSeins nicht an Atem und Pulsschlag. Für ihn mußte das Selbst im Spiel sein. Dies aber äußert sich in selbsthaften Tätigkeiten, wir können auch sagen Wirksamkeiten (gr. energeiai). Was hat er dabei im Sinn? Haben wir an etwas wie Jagd und Handwerk zu denken? Nein, seine durchgängigen Beispiele sind Wahrnehmen und Erkennen, und das hat seinen Grund. Auch paßt es gut zu dem Versuch, im lebendigen Menschen nicht den mehr oder weniger gut funktionierenden psychosomatischen Apparat zu sehen, sondern den Künstler, dem seine Kunst zur Notwendigkeit geworden ist. Wird gefragt, wodurch und worin sich eines Menschen Identität und Alterität eigentlich gründet, vollzieht und bewährt, dann antwortet Aristoteles: allem zuvor im Wahrnehmen und Erkennen. Sofern der Mensch zusammenlebt, ist sein Wahrnehmen und Erkennen stets auch ein Zusammenwahrnehmen und Zusammenerkennen. In dieser Gemeinsamkeit kommt nach Aristoteles das zum Ausdruck, was jedem lebenden Menschen als Lebensverlangen und Lebenswille eingeboren ist: der Wille, wahrzunehmen und zu erkennen. Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang wörtlich davon, daß Leben eine Art von Erkennen ist (gnôsin tina). Der Wille, am Leben zu sein, ist 307 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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der Wille, zusammen wahrzunehmen und zu erkennen, vor allem aber sich selbst wahrzunehmen und zu erkennen. Damit kommt Lust ins Spiel (gr. hêdonê). Lebenswille ist eins mit Lebenslust; der Wille, wahrzunehmen und zu erkennen, ist eins mit der Lust am Wahrnehmen und Erkennen. Das auf künstlerische Weise ernste Leben geht mit dem lustbetonten Leben ein Bündnis ein. Was für ein Sinn für Kunst: Lebenswille in den Formen des Willens, wahrzunehmen und zu erkennen, wird nicht instrumentalisiert für biologische Selbsterhaltung, sondern demonstrativ in der Möglichkeit vorgeführt, daß Lebenwille, der sich als Lust entdeckt, am Leben zu sein, sein Genügen in sich selbst hat. Leben, um zu leben, und zu nichts sonst; wahrnehmen und erkennen, um wahrzunehmen und zu erkennen, und zu nichts sonst. Ist das Kunst? Ja, das ist Kunst, wenn doch das Leben wie das Wahrnehmen und Erkennen Tätigkeit und Wirksamkeit ist, die das, was zu leben, das heißt wahrzunehmen und zu erkennen ist, mithervorbringt. Das Selbstgenügen, dieses l’art pour l’art, das Aristoteles uns vorführt, ist kein Ruhen im DAO, wie es der Daoismus als Vollendung des Wegs in den absoluten Solipsismus und die absolute Einheit von allem rühmt, sondern ist im Gegenteil ein Bild lustvollen Zusammen-am-Leben-Seins mit klarer Ausprägung von Identität und Alterität. Das nehmen wir von Aristoteles mit: Wahrnehmen und Erkennen sind als Weisen des Lebens Möglichkeiten des gesteigerten Lebens, des Lebens nämlich, das es versteht, das Am-Leben-Sein schöpferisch zu feiern – ein leuchtendes Gegenstück zum weltabgewandten Ruhen in sich selbst, nicht weniger zum selbstisch der Welt zugewandten Pursuit of happiness. Ist das Leben gefragt, warum es lebt, dann läßt Meister Eckhart es antworten, daß es ohne Warum lebt, »in dem, daz es sich selber lebet«. Das Leben braucht keine Begründung. Ist Leben am Leben, dann lebt es sich selber. Das aber läßt den Menschen nicht etwa zum Zuschauer seines Lebens werden. Das »selber« des Lebens ist sein lebendiges Selbst, das keine Begründung braucht, keine Rechtfertigung. Braucht es aber keinen begründenden Grund, dann doch sehr wohl einen gründenden. Leben, das auf künstlerische Weise sich selbst notwendig geworden ist, weiß sich gegründet. Diesen Grund unerschütterlich zu nennen, wäre zu gewagt. Dafür ist menschliches Leben zu fragil und allzuleicht dem ausgesetzt, was es – poetisch – Schicksalsschläge nennt. Dieser eine gründende Grund, den das Leben hat und braucht, ist das Vertrauen. In jedem Moment bewußten Lebens wird Leben gewagt, aufs Spiel gesetzt – genau das ist prakti308 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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ziertes Lebensvertrauen. Dabei ist das Leben dem Lebenden kein Gegenüber, dem er vertraute. Nein, das Leben selbst ist praktiziertes Lebensvertrauen. Nichts Fremdes lauert da irgendwo, um es mißbrauchen und erschüttern zu können. Wird Leben in seinem tiefsten Grunde, der für seine geistigen Kräfte nicht erreichbar und verfügbar ist, erschüttert, verliert das schaffende Leben seinen Boden, dann zwingt das zu dem Gedanken, daß in diesem Falle das Selbst um sich selbst gebracht ist. Ich überlasse es Ihrer Phantasie, sich auszumalen, wie da Einem zumute sein mag. Wer im Vertrauen lebt, kennt keinen Sinn des Lebens, braucht keinen. Er läßt sich ganz von selbst (sua sponte) und das heißt aus freien Stücken auf das zu lebende Leben ein. Neugier mag im Spiel sein, ein Sehnen und Begehren (das kai pothêô kai maomai der jungen Frauen in Sapphos Dichtung), ein Erwarten und Hoffen – doch all das sind allein mehr oder weniger klare Zeichen des zum Wagnis des Lebens befreienden Vertrauens. Das gibt Gelegenheit, ohne Ideologie von Emanzipation zu sprechen: von der Freigabe aus dem umfangenden Behütet- und Geborgensein der frühen Selbstwerdung. Es ist ein Akt, der sich dem gelingenden Wechselspiel von Freiheiten verdankt. Diese Emanzipation erfordert die Selbstbefreiung des daraufhin Emanzipierten, dies aber nicht ohne Freigabe durch die, aus deren Obhut es sich befreit, um das Wagnis des Lebens selbsthaft einzugehen. Ist Einem das Leben notwendig geworden, braucht er Andere wie auch sich selbst, dann zeigt sich Emanzipation als gelungen. Die eigene Freiheit kommt jetzt im Wechselspiel all der freigegebenen Freiheiten zur Wirkung, die im Miteinanderleben Partner auf Zeit werden. Damit ist individualistische Freiheit, wie sie Ideologen des Liberalismus fordern, ausgeschlossen. »Eigene« Freiheit gibt es allein im Zusammentreffen und Zusammenwirken mit Freiheiten Anderer. Anstatt im »Anderen« noch länger eine Einschränkung der eigenen Freiheit zu sehen, wird er als konstitutiv für sie erfahren. Wozu ist aber eigentlich der Emanzipierte im Spiel der Freiheiten frei? Was wirkt er? Eine spezielle Freiheit wie Pressefreiheit und freie Arztwahl kann nicht gemeint sein. Wozu braucht sich der Mensch, der sich zu brauchen versteht, wohin treibt den sich notwendig Gewordenen seine Notwendigkeit? Sich frei auf das Leben einzulassen, um es zu leben – schön und gut. Aber ist das alles? Führt das schon dazu, daß aus dem Leben ein Kunstwerk wird? Der Theologe Karl Barth zitiert ein christliches Stoßgebet aus dem 19. Jahrhundert, in dem es heißt: »Gott bewahre uns vor der Gemeinheit der 309 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Gesinnung, der es so recht ist auf Erden, die es nicht anders und besser haben will …«. Nein, ich predige keine menschliche Selbstzufriedenheit, folge freilich auch keinem Klischee von der unheilen Welt, das ein Bild vom Menschen entwirft, in dem nichts mehr von dem zu erkennen ist, was und wie wir sind. Sobald es der Künstler im Menschen ist, der sich auf das Leben einläßt, um es zu leben, gibt es kein Selbstgenügen des Lebens mehr, das der Huldigung eines Status quo gleichkäme. Wer voller Lebensvertrauen sein Leben aufs Spiel setzt, indem er es lebt, mutet dem Wirken seiner Freiheit ungleich mehr zu als ein Fortspinnen seiner Alltäglichkeit und Allnächtlichkeit. Das Vertrauen, in dem Freiheit gründet, schafft keine Vertrauensseligkeit, sondern wirkt als treibende Kraft, die das Leben zu nichts anderem treibt als zum Leben, was nur heißen kann, daß sie das Leben an seine Grenzen treibt, wenn nicht, so es möglich wäre, über sie hinaus. Leben, das sich im Vertrauen wagt, entwickelt in sich einen Impetus, der es zum Äußersten anstachelt. Zum Künstler, gerade auch zu dem des Lebens, gehört das Ungestüme der schöpferischen Unzufriedenheit. Wenn Mystiker in Ost und West seit alters Ruhe und Gelassenheit predigen, heute tun es sich als Therapeuten der Moderne Versuchende, dann zielen sie, so unterschiedlich auch ihre Zielvorstellungen sein mögen, am Leben, das ein Kunstwerk ist, vorbei. Das ist schon darum unausweichlich, weil sie alle der Solipsismus eint, die Ausrichtung auf das eine, ganz mit sich selbst beschäftigte Selbst, ob es nun die Ruhe im All-Einen sucht und findet oder, wie Ernst Tugendhat es für sich will, den Frieden mit sich selbst. Wer dagegen sich selbst braucht, braucht auch Andere. Im Leben bis ans Äußerste zu gehen und Grenzgänger zu werden, ist das Gegenteil vom Auskosten des Lebens. Wer das Leben künstlerisch aufs Spiel setzt, jagt nicht von Event zu Event, äußert keine Lebensgier. Das Sichübersättigen und Zerstreuen mag zwar für manchen als der einzig begehbare Weg erscheinen, der Tristesse des Lebens zu entgehen – eine künstlerische Formung der Unbeantwortbarkeit der Lebensfrage geschieht dadurch nicht. Zählt für den Schaffenden jede Stunde, so weiß der von der Langweile des Lebens Heimgesuchte in der Tat mit seiner Lebenszeit nichts Besseres anzufangen, als sie totzuschlagen. Mag auch der Nichtkünstler fortwährend seine Nerven überreizen, um, wie er meint, etwas vom Leben zu haben, so gelingt ihm bei all seinen Unternehmungen kein einziger wahrer Augenblick des Lebens, der der eines gesteigerten Lebens wäre, das über sich hinauswill. Dichter wie Proust und Handke nehmen 310 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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zum Prüfstein der authentischen Momente des Lebens die Wahrheit des Empfindens, die mit der Herausforderung verbunden ist, als Künstler den wahren Ausdruck für das Empfundene zu finden. Dem kann ich nur zustimmen. Übersteigt jedes Kunstwerk die vorgegebene Wirklichkeit, dann zeigt sich im wahren Empfinden der Königsweg, das künstlerische Vermögen in sich zu nutzen und zu steigern. Das steigert zugleich das Unverwechselbare des Eigenen im Ensemble der für ihr Leben frei Verantwortlichen. Haben mystische und mystisch inspirierte Tugenden wie Verhaltenheit das erklärte Ziel, im Zuge meditativer Individuation alle Individualität zum Verlöschen zu bringen, dann sorgt der Impetus, der den zum Sicheinlassen auf das Leben Freien durchherrscht, im Gegenteil für eine Steigerung und Stärkung eigener Unverwechselbarkeit.
IV. Kunstwerke brauchen Öffentlichkeit. Schon in ihrem Entstehen sind sie fortwährend in Zwiesprache mit ihr. Spricht man heute mit Recht von Kunstbetrachtern und Musikhörern als Mitschaffenden, so ist die Öffentlichkeit im Falle des Lebenskunstwerks von ganz besonderer Art: Sie ist ein Ensemble von Gleichen, wenn das heißt von Künstlern und Grenzgängern, die ihr Werk nie anders als miteinander schaffen. Die Stärkung und Steigerung des eigenen Lebens in seiner Wahrheit und Echtheit verfährt ebenso notwendig wie frei lebensteilig. Die Öffentlichkeit des Lebens als Kunstwerk ist die der Mitwisserschaft, weil Mittätigkeit. Das bis an die Grenzen des Möglichen gesteigerte Leben ist nicht das kultivierte und verfeinerte. Nein, keine Klassengesellschaft zeichnet sich ab: hier Künstler, dort Banausen. Formal zu unterscheiden sind für mich allein Menschen, die sich selbst notwendig geworden sind, und die, die es nicht sind. Die einen arbeiten an der Gestaltung der Unbeantwortbarkeit der Lebensfrage, und dies nie anders als mit vollem Einsatz, denn ohne den läßt sich keine Kunst schaffen, die anderen arbeiten nicht daran. Etwas hindert sie, das einzige Leben als einzigartige Chance wahrzunehmen, schöpferisch zu sein. Das spontanere und offenere Leben, das wachere und sensiblere, das wahrere und unverwechselbarere, ja eben das gesteigerte Leben verändert das Verhältnis zu den Anderen, die an dem eigenen Leben mitwirken: Sie rücken näher und ferner. Das ist kein Paradox. Die 311 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Stärke des anderen Selbst wird spürbarer, seine Eigenmächtigkeit, was einerseits die Nähe, andererseits die Unnahbarkeit spürbar macht. So ist mit der Steigerung des Lebens die miteinhergehende Steigerung der Gemeinsamkeit nicht alles. Auch die Mitwisserschaft weitet sich aus, das gemeinsame Wissen um Gelingen und Mißlingen, um das, was einander gut tut und was nicht. Ohne diese Mitwisserschaft bildete sich kein Gewissen, denn welche andere Quelle sollte es haben als die Zeiten gemeinsam gelebten Lebens mit ihren gleich erfahrenen Höhen und Tiefen, Längen und Kürzen, ja eben mit ihrem Gelingen und Mißlingen. Die Bildung des Gewissens und die Ausbildung der Fähigkeit, durch Abstimmung der Freiheiten gewissenhaft zu handeln, ist nicht schon ein Letztes. Alle Grenzgänger streben nach einer Überschreitung der Grenze, auch wenn das unmöglich ist. Ja, passen Sie auf: Das Unmögliche ist notwendig mit im Spiel, wenn Leben als Kunstwerk gelingen soll. Das praktisch Unmögliche aber ist, über sich selbst hinauszugehen. Jeder Selbstüberstieg, jede Transzendenz bleibt ein Traum, bleibt, wie ich lieber sage, Poesie. Genau dies Unmögliche muß gewagt werden, wenn sich Leben in höchstmöglicher Steigerung aufs Spiel setzt. Will ich Sie nicht in gläubige Höhen und mystische Tiefen entführen, dann kann sich das nötige Wagnis an nichts Besserem bewähren als an der Unnahbarkeit auch des nächsten Anderen. Er wird jetzt als die unüberschreitbare Grenze erfahren, als das, was zwar dem eigenen Leben als einem eigenen Halt gibt, zugleich aber eben auch dem Lebensausgriff ins Grenzenlose Einhalt gebietet. Wer über sich selbst hinauswill, muß über den Anderen hinaus. Da aber wendet sich auch schon Unmöglichkeit in Möglichkeit: Ich übertreibe die Nähe und verlagere mein Selbst in den Anderen. Damit ist seine Unnahbarkeit überspielt. Indem ich ihn mit meinem Selbst belehne, bin ich er selbst. Das ist nicht Aristoteles, der sagt, daß ich im Freund mich selbst sehe, weil er mein anderes Ich bzw. mein anderes Selbst ist. Wie ich den Selbstüberstieg darstelle, geht es jetzt beim Anderen nicht um das andere, sondern um das eigene Selbst. Ist das denn aber möglich? Kann ich für mich wirklich selbstlos werden? Ja, das ist möglich, was für das Verstehen freilich erfordert, Kunst und Wissenschaft nicht durcheinanderzubringen. Selbstverständlich hat der Selbstüberstieg, mit dem sich das Selbst dem Anderen überantwortet, nicht zur Folge, daß der Sichübersteigende nun das Subjekt der Empfindungen des Anderen wäre. Wie Kunst das Unmögliche vermag, zeitigt sie keine physiologischen Resultate. Die Belehnung des Ande312 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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ren mit dem eigenen Selbst ist vergleichbar der bildenden und inszenierenden Kunst, die auf der Leinwand und auf der Bühne ein Mehr an Wirklichkeit schafft, eine Überhöhung, die die Welt verändert, indem sie ihre Wirklichkeit steigert, die aber nicht die Welt verläßt und in eine andere Welt wechselt. Die lebenskünstlerische Selbstlosigkeit, die dem Anderen das eigene Selbst anvertraut, ist eine Steigerung des Miteinander, das heißt des Anderen und seiner selbst im Wechselspiel. Wechselseitig im Anderen das eigene Selbst zu wissen, ist ein Krönungsstück des Lebens als Kunstwerk, ist praktisch wirksame Poesie. Wenn Sie diesem neuartigen Gedanken folgen, dann gibt es jetzt auch schon die nächste poetische Konsequenz: In der vollendeten Selbstlosigkeit wird die höchste Form der Selbsthaftigkeit erkennbar. Transzendenz ist in Philosophie und Religion gewöhnlich ein Traum, den ein Selbst rein für sich selbst zu seinen eigensten Gunsten träumt. Jetzt aber zeigt sich ein Selbstüberstieg, den es nicht anders als wechselseitig gibt. Um es derb zu veranschaulichen: Im Anderen hat das eigene Selbst nur Platz, wenn der Andere seinerseits mit seinem Selbst aufgebrochen ist. Wird gefragt, woran denn erkennbar ist, daß eine künstlerische Selbstübereignung gelingt, dann ist nur auf das Faktum zu verweisen, daß in dem Wechselverhältnis des Einen und Anderen die Motivation herrschend geworden ist, das Wohlergehen des jeweils Anderen für wichtiger zu nehmen als das eigene. Die höhere Wirklichkeit, die die Lebenskunst schafft, ist die höhere Menschlichkeit. Alles selbstische Verhalten ist im Wechselspiel der Selbstlosen bzw. der alteritär Selbsthaften von selbst ausgeschlossen, so daß die Stärkung und Steigerung, die so das Leben erfahrt, eine Stärkung und Steigerung des Lebensvertrauens und der Lebensbefähigung ist. Selbstübereignung, wie sie dem Willen entspricht, im Leben das Äußerste für das Leben zu wagen, ist ein charismatischer Akt. Schon das schließt aus, im Gedanken des Lebens als Kunstwerk den Ansatz zu einem Gesellschaftsmodell zu erkennen. Die Glieder eines Verfassungsstaates insgesamt als eine Ansammlung von Freunden zu sehen, wäre nicht einmal schlechte Utopie, sondern schlicht Unsinn. Das Leben so anzunehmen und ernst zu nehmen, daß einem für das Werk des Lebens fortwährend das Wort aus dem Johannesevangelium gegenwärtig ist »Ich muß wirken, solange es Tag ist«, taugt nicht zur allgemeinen Lebensdevise. Nicht jeder hat die dazu erforderliche künstlerische Begabung, nicht jeder ist wach für den Kairos künst313 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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lerischer Selbstberufung und Selbsternötigung. Und dennoch steckt in dem Gedanken des Lebens als Kunstwerk, wie er sich für das Humanum engagiert zeigt, etwas, das jeden Menschen angeht, weswegen es doch prinzipiell jedem Menschen, entgegen dem soeben Ausgeführten, zuzutrauen ist, sein Leben zu einem Kunstwerk zu machen.
V. Sich selbst nötig zu werden, ist kein allgemeines Muß, keine »Pflicht gegen sich selbst«, wie es für Kant die Lauterkeit ist. Der Ernst des Lebens unterliegt keinem Imperativ der Vernunft, auch keinem Imperativ des Glücks. Kunst bleibt ein Wagnis, zu dem niemand aufzufordern oder auch nur einzuladen hat. Die Berufung zu ihr kann nur Selbstberufung sein. Jede Nötigung von außen widerspräche der der Kunst innewohnenden humanen Kompetenz. Kunst, die das Unmögliche wahrmacht, ist von Natur aus gefährlich. Das plus réel der Kunst ist ein Mehr an Wirklichkeit, nicht als Wirklichkeit. Wer poetische Höchstleistungen zum Ausgangspunkt in eine andere Welt macht, verrät die Kunst. Ihr ungeschriebenes Gesetz ist das von der Einheit der Welt. Erwirkt sie das Unmögliche, dann verläßt der Mensch doch nicht sich selbst, wechselt er nicht in eine ganz andere Welt. Kunst ist die Möglichkeit des Menschen, am weitesten zu sich selbst auf Distanz zu gehen. Was sich dabei als mögliche Stärkung und Steigerung des Humanum anzeigt, beschwört zugleich seine mögliche Gefährdung herauf. Entsagt Kunst ihrem Selbstbewußtsein als Kunst, dann wird aus dem durch sie ermöglichten Unmöglichen verbindliche Wirklichkeit. Das Gestalten verfestigt sich zu einem Behaupten. Aus gelungener Distanzierung zu dem, was und wie wir sind, festigen sich Thesen des A-Humanen, die leicht in Thesen des In-Humanen übergehen. Daß Kunst nicht bloß, sondern sogar Kunst ist, darf niemals mit dem Verlust des Bewußtseins bezahlt werden, daß Kunst Kunst ist.
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VI. Geht Leben wechselseitig von einem mea res agitur zu einem sua res agitur über, dann ist es durch Kunst ein anderes geworden: Es ist von höherer Wirklichkeit. Schließt diese jetzt Banalität und Frivolität aus, auch Langeweile und Gleichgültigkeit, dann führt sie doch nicht zu Hochmut und Überheblichkeit. Lebenskunst diskriminiert nicht, bildet kein Forum, auf dem sich Publikum beschimpfen ließe. Führt in der Selbstlosigkeit gründende neue Selbsthaftigkeit zu höherer Lebenswirklichkeit, dann ist mit dem Leben selbst etwas geschehen, das keine Profilierung gegenüber anders gelebtem Leben braucht. Es hat ein neues Bewußtsein seiner Endlichkeit gewonnen. Muß im Wechselspiel sich übereignender Selbste die Tödlichkeit des Lebens notwendig an Bedeutung gewinnen, dann geht es nicht mehr um das pure Am-Leben-Sein, dem Aristoteles eine gewisse natürliche Süße nachsagt, sondern um in wechselseitiger Zuneigung gelebtes Leben, das einen nur schwer benennbaren Wert in sich selbst hat. Liegt die Krönung des neuen Bewußtseins von der Endlichkeit des Lebens in dem neuen Bewußtsein von der Kostbarkeit der Lebenszeit, dann ist im Leben selbst eine Verantwortlichkeit geweckt, die endlichen Möglichkeiten seines Gelingens gemeinsam wahrzunehmen. Ein neuer Ernst wird gegenseitig spürbar, kein lastender, sondern ein strahlender und beflügelnder. Ich bin versucht, mich des vorreligiösen Gebrauchs des Adjektivs heilig zu bedienen: Es ist ein heiliger, glücklicher Ernst, der den Wert, den das Leben in sich selbst gewonnen hat, am besten benennt. Wer gemeinsam mit dem Tod lebt, und dies zur rechten Gelegenheit mit jenem Ernst, lebt nicht länger profan, was wörtlich heißt: lebt nicht vor dem heiligen Ort, sondern an ihm. Der Tod ist wirklich der erstaunlichste Gesell des Lebens. Er ist es, der am sichersten die Unbeantwortbarkeit der Frage, die der Mensch sich selbst ist, garantiert. Damit ist er aber auch der erste Promotor aller Kunst, die sich dazu herausgefordert sieht, dieser Unbeantwortbarkeit Gestalt zu verleihen. Der Tod als Partner des Lebens hat im Unterschied zu lebenden Partnern die Eigenart, nicht austauschbar, nicht verabschiedbar zu sein. Er ist auch intimer als alles, was Freundschaft und Liebe vermögen. Sein Status als unübertrefflicher Intimus sichert ihm aber auch eine Sonderrolle unter Freunden und Liebenden zu: Der Tod des Anderen, wie er als gewiß und jederzeit möglich gegenwärtig ist, wird wichtiger als der eigene, weil die Intimität der Lebenden die je eigene 315 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Intimität des Todes von ihrer Vereinzelung befreit. Gerade im Zusammenleben von einander Nächsten gewinnt die Tödlichkeit des Lebens die größte Stärke ihrer verbindenden Kraft. Ist der Tod der Schlüssel zur Unbeantwortbarkeit der Menschenfrage, dann ist er es, der das Nichtwissen verwaltet, das das Leben trägt, ja nicht nur trägt, sondern steigert. Wird, wie es Besinnungsaufsätze tun, nach dem Sinn des Lebens gefragt, dann ist ein höherer und tieferer gefragt, als sich methodisch aufspüren läßt. Gibt aber das französische sens d’une étoffe vor, was mit Sinn des Lebens angesprochen sein soll, »Sinn« wie der »Strich« des Lodens, dann gehört zum Sinn des Lebens nie das Leben allein, sondern ebenso der Tod. Das Leben ist als Leben ebenso zukunfts- wie todwärts gerichtet. Wer als Künstler zu erwirken versteht, daß ihm sein Leben und mit ihm er sich selbst notwendig wird, der versteht sich auch darauf, daß ihm die Endlichkeit des Lebens ein Leben lang eine freie Notwendigkeit ist, nicht anders als der Eintritt des Todes selbst, wenn er an der Zeit ist. Vollzieht sich ein Tod als Abschied, dann ist es ein Abschied von Anderen, zumal Nächsten, nicht zuletzt aber ein Abschied von sich selbst. »Ich brauche mich nicht mehr« – nein, das weiß kein Toter zu sagen, da er, ohne Selbst, für sich unmöglich tot zu sein vermag. Daß einer tot ist, wissen nur Lebende. Was sie da aber wissen, ist immer neu das unser Leben tragende Nichtwissen, das uns die große Möglichkeit eröffnet, das Leben als Künstler zu wagen.
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I. »[…] sie säen nicht, sie ernten nicht, […] und euer himmlischer Vater ernährt sie« 1 – so gesehen ist Demenz willfährige Einkehr in Gottesglauben. Selbsterhaltung ist ein Wort der Aufklärung: Der Mensch sei es, der sich durch Aktivierung selbsthafter Kräfte selbst erhält, kein ihn überragendes Wunderwesen tue das für ihn. Doch ist jeder Mensch gleich Mensch? Lassen geistige Kräfte nach, geraten sie in Verlust, dann ändert sich der Charakter des von Menschen geteilten Lebens nachhaltig. Die Partnerschaft mit Anderen, die lebensteilig aktiv sind, zeichnet sich für den in seiner Geisteskraft Geschwächten immer weniger durch Eigenaktivität aus. Passivität hat begonnen zu überwiegen und weiter zuzunehmen. Sehen wir nicht auf seinen möglichen Glauben, sondern auf sein wirkliches Leben, dann ist er der Mitmenschlichkeit übereignet, ob er das will und weiß oder nicht. Wie aber steht es dann um das Selbst mit seinen Kräften? Wie die abgründige Geschichte von Hiob, dem Menschen, den Gott dem Teufel überlässt, erzählt wird, steht dem Gegengott alles an Hiob zur Disposition, einzig und allein »er selbst« (autos) nicht 2. Was hat dieser erdichtete Gottesgedanke mit dem Selbst im Sinn: die reinste Individualität, das eigentliche Sein des Menschen, die erste und letzte Lebendigkeit? Der aus Wien stammende amerikanische Psychoanalytiker Frederick Wyatt, der auch in Freiburg gelehrt hat, erklärt als Ziel von Folter, die Menschen Menschen antun, die Sprengung des Selbst. Das gesprengte Selbst, so hat er es gemeint, ist weder bei sich selbst noch nicht bei sich selbst, das heißt außer sich. Nein, es sei zerstört, unfähig, in irgendeiner Weise über sich selbst zu verfügen. Das ist Selbstlosigkeit der grauenhaften Art, ungewollte totale
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Matthäus 6,26. Hiob 1,12.
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Das letzte Selbst
Willfährigkeit. Jeder Widerstand ist gebrochen. Widerstand – das ist das Wort. Was Positivisten im 19. Jahrhundert zur Definition von Wirklichkeit taugte, gewinnt hier einen aufschlussreichen Sinn: Der Demente verfügt über das Wider, und zwar selbsthaft. Die eine streichelnde Hand mag er, gegen die andere hat er etwas. Sie ist ihm zuwider. Das Selbst macht sich bemerkbar. Der Psychologe wird erklären, was alles hier im Spiel ist. Für philosophisches Überlegen genügt die Feststellung, dass Selbstbewusstsein und Selbstgefühl manifest werden. Das Selbst des Dementen zeigt sich als unzerstört, allein die Aktivierung seiner Kräfte hat eine gravierende Modifikation erfahren. In Dichtungen von Gott und Teufel, die den Menschen vor die Entscheidung seiner selbst stellen, ist »Ich widerstehe« das große Wort. Nun ist der Demente kaum dazu ausersehen, letzte Entscheidungen zu treffen. Gibt er Präferenzen zu erkennen, so sind sie, von der Pflege her gesehen, zumeist tolerabel. Auch hat er sich nicht »seelisch zu bewähren, wie etwa jene in Aigues-Mortes gefangen gehaltene Hugenottin, die in achtunddreißig Jahren mit den Fingernägeln in die Steinmauer groß RESISTER ritzte und so ihre Unbeugsamkeit bewies. Er hat keine Langzeitstrategien, keinen Sinn für ferne Zukunft. Sein zeitliches Selbst ist ein gewandeltes. Ist er wach und sieht klar, dann reicht die Wachheit kaum über Gegenwart und vergegenwärtigte Vergangenheit hinaus, unbeschadet möglicher Vorfreuden und Ängste im Naherwartungsfeld. Ist er wach und sieht verklärt, dann regiert in ihm steuerlos das Erinnerungspotential. Fest in ihm ist allein das Widerstand Leistende, die noch bestehende Selbsthaftigkeit, die bis zur ausdrücklichen Selbstwertschätzung reichen kann. Was ihm Kräfte gegen ungewünschte und nicht gelittene Zumutungen verschafft, ist identisch mit dem, was ihm an ihm selbst Halt gibt. Der Demente wirft sich nicht weg, er hält sich: an sich selbst, an alles, von dem er spürt und weiß, dass es ihm Wert gegeben hat und gibt. Indem er es (noch) versteht, mit seinem Selbst an seinem Selbst Halt zu finden, bewahrt er es. Dieses Bewahren hat die Aktionsform des Zulassens und Widerstehens. Der Demente erfährt Pflege, hat Besuch. Er hat Erinnerungsstücke an sich, einen Ring etwa, hat Erinnerungsstücke um sich, wie es Photographien und eigene Möbel sind. Befindet er sich, etwa bei Mahlzeiten, in Gemeinschaft, dann hat er Selbste um sich, denen er mit unterschiedlichem, auch wechselndem Für und Wider begegnet. Es müssen nicht Freundschaften und Feindschaften sein, was sich 318 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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herausbildet, auch nicht totale Gleichgültigkeit, so wird doch in jedem Falle die Gefühlswelt belebt. Zuneigung und Abneigung sind Zeichen selbsthaften Lebens. Teilt er sich mit, dann schöpft er aus dem Gewesenen. Phantasien können dabei dominieren, niemals aber sind es Visionen, die sich in einem geistigen Vorweg durch Zukunft leiten lassen. Spielen die geistigen Kräfte des Selbst unbewusst und eben willkürlich mit Erinnerungen, dann ist die Aktionsform des Selbst die der Wiederholung, freilich nicht die einer regelrechten, sondern die einer ungewollt verklärten und verspielten. Wiederholen erweist sich so als ein selbsthaftes Sich-an-sich-selbst-Halten des Dementen. Es wäre falsch, den an Demenz Leidenden für menschlich vereinsamt zu erklären. Solange er im Geringsten selbsthaft agiert, sind andere Selbste im Spiel, die ihn herausfordern und ihm dazu verhelfen, sein Selbst zu bewahren. Sollte Demenz eine Form annehmen, die den geistig Entkräfteten und Verwirrten keine Zuwendung mehr wahrnehmen ließe, dann wäre er auf einem letzten Weg – nicht auf dem zum Ende des Lebens, wohl aber auf dem zum Ende des Selbstseins. Der eigene Selbstwert, der sich im Haltfinden an sich selbst bestätigt, lässt sich nicht in totaler Vereinsamung und Vereinzelung bewahren. Zu Selbstgefühl und Sich-selbst-Wissen gehören zwei: das Selbst und das Selbst, zu dem es sich verhält. ldentitätsbewusstsein verlangt innere Alterität. Wer nichts Anderes mehr als Anderes erfährt, dem schwindet, so denke ich, die Individualität, das Gespür für jede Eigenheit, selbst für die eigene Lebendigkeit. Der Mensch braucht den Menschen – diese in praktischer Sicht einzig bedeutsame Antwort auf die Frage des Menschen nach sich selbst ist von bleibender und durchgängiger Wahrheit. Ein Mensch, der in nichts mehr Menschen zu brauchen versteht, ist nicht tot, aber er lebt nicht mehr als ein Mensch, der um dieses »als« weiß und für es einstehen kann. Ich denke ihn mir als einen, der nicht mehr fähig ist, sich zu wiederholen und an sich selbst irgendeinen Halt zu finden.
II. »Und es wird sein in den letzten Tagen«, sagt der Gott, »ich werde ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch, und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, und eure Jugendlichen werden Gesichter sehen, und eure Ältesten werden Träume träumen« – die 319 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Apostelgeschichte 3 zitiert den Propheten Joel 4, der im 4. Jahrhundert v. Chr. große Ereignisse für Israel ankündigte. Die Alten und Ältesten prophezeien nichts, was in der Zukunft liegt, haben auch keine Visionen, die auf schöpferischen Kräften beruhen, sondern sie träumen, und zwar, wie der innere Akkusativ eigens festhält, träumen sie Träume. Was der Prophet für die Letztzeit des Volkes als Weltgericht ankündigt, passt gut für die späten Tage der Dementen: Sie träumen. Träume sind keine Visionen, keine utopischen Entwürfe. Sie bewegen sich im Gewesenen, aus dem sie mit aberwitzigsten Aufmischungen zurückkommen. Diese Träume haben nichts von Tagträumen, in denen Menschen gerne, auf ihre Zukunft bedacht, sich selbst überschätzen. Es sind wirklich Träume, Träume, die keine Deutung brauchen, weil selbst die treffende für den Geträumthabenden nicht mehr relevant werden könnte. Sieht der Träumende wachen Auges auf dem leeren Nachbarbalkon eigene Enkel spielen, so ist das kein Tagtraum, auch keine Vision, sondern ein Spiel des vereint klaren und verklärten Geistes: Das Gesehene wird, in wörtlicher Doppeldeutigkeit, mit Traumbildern versehen. Eure Ältesten werden Träume träumen – nehmen wir das als ein Wort, das den Dementen gilt, dann spricht sich darin das Recht eines jeden Menschen auf Demenz aus. Die Wege, die sich menschliche Lebendigkeit bei den »Ältesten« sucht, die Lebenskräfte und mit ihnen das Selbst zu schwächen, sind ein in die Lebens- und Todesbejahung eingeschlossener Teil des Lebens und Sterbens. Die Kunst, etwas dagegen zu unternehmen, dass die Lebendigkeit diesen Weg geht, ist von Natur aus in ihrem Vermögen beschränkt. Regen sich Menschen auf, ja werden sie ungehalten, wenn jemand sie nicht mehr erkennt und »wirres Zeug schwätzt«, dann ist ihnen nahezulegen, in die Schule des Lebens zu gehen, wie sie im Alter die Schule der Endlichkeit ist, sind sie doch einfach lebensignorant. Beginnt ein Gehirn, es mit den Synapsen anders zu halten als das Gehirn eines Menschen, der im Vollbesitz seiner sinnlichen und geistigen Kräfte ist, dann wird unübersehbar, wie die Endlichkeit des Lebens beginnt, ihren Anspruch mit Nachdruck zu vertreten. Es ist spannend zu beobachten, was der Natur alles einfällt, den Weg zur Vollendung der Endlichkeit des Lebens zu gestalten und mit dem Siegel der Unumkehrbarkeit zu
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2,17. 3,1.
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versehen. Das sagt kein Zyniker und auch kein Fatalist. Ist Pubertät ein ebenso aufregendes wie beruhigendes Zeichen, dass die Reifung eines Jugendlichen einen Sprung macht, so ist die Phase des Verlustes geistiger Präsenz vergleichbar ein Zeichen, dass die Endlichkeit eines Alten einen Sprung macht in Richtung ihrer Vollendung. Beginnende und fortgeschrittene Geistesabwesenheit kann, zumindest für die um den Dementen Besorgten, anschaulich zur Vorschule eigener endgültiger Abwesenheit werden. Ist der Tod dem Leben lebenslang sein treuester Intimus, näher als jeder Nächste, so wird die Zeit der Demenz für den Dementen und für den, der sie begleitet, zu einer Zeit, in der das Leben, mehr oder weniger bewusst, auf den Tod als seinen unüberholbaren, oftmals verdrängten Intimus zugeht: Leben und Tod werden einander Freund. Lebensbejahung geht fließend in Todesbejahung über. Todeswillige Helden und martyriumwillige Gläubige instrumentalisieren den Tod, wenn sie ihn »suchen«. Der Demente, der sich willfährig pflegen lässt, von kleinen Pros und Contras gegen die Sorgeentourage abgesehen, ist weder willens noch fähig, den Tod zu instrumentalisieren. Zukunft, zumal absolute jenseits der Zeit, ist für ihn keine Option. Sein verbliebenes geistiges Selbst schöpft aus dem Gewesenen, die gelegentlich praktizierten Für und Wider im lebensteiligen Leben gehören ganz der Gegenwart. Die Erwartung der Mahlzeiten, des morgendlichen Lichts und des abendlichen Dunkels, der Physiotherapie – alles gehört der Ausdehnung der Gegenwart zu: dem Heute. Auch wenn in leichteren Stadien der Demenz sich einer auf einen Besuch freuen kann, der in einer weit ferneren Zeit liegt, als es ein und zwei Tage sind, denkt er nicht planend voraus. Rasendes Geschehen, das sich in Träumen des Dementen abspielt, hebt erst recht nicht den Stillstand der Zeit auf, in dem er lebt. Wird zur Aufmunterung des Gemüts für Abwechslung gesorgt – ein Hund wird vom Besuch mitgebracht, ein Lied vorgesungen –, dann bilden diese Belebungen Intervalle im Jetzt. Das Nunc stans wird nicht durchbrochen, die Zukunftslosigkeit bleibt erhalten. Endlichkeit, wie sie vom Dementen gelebt wird, hat nicht das in ihr liegende Versprechen, das Ende, im Auge, zumal nichts, was über das Ende hinausläge.
III. Ein Mensch, der sein Leben anzunehmen, ja zu übernehmen versteht, lebt nicht vegetativ dahin. Wir sagen dann, dass er sein Leben führt. 321 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Mit dem Führen ist der Weg- und Zeitcharakter des Lebens angesprochen. Bleibt auch das erste Woher und das letzte Wohin für den Menschen eine Frage, die er zwar gestalten, aber nie beruhigen und zu einem Ende bringen kann, so hat sein Führen – ebenso notwendig wie wirklich – ein Weg- und Zeitwissen, das ein Woher und Wohin einschließt: eine vergangene und eine künftige Präsenz. Haben Philosophen den Menschen, um seinem Weg eine Bestimmung zu geben, aufgeteilt, zum Beispiel in Göttliches und Tierisches, Geistiges und Triebhaftes, zumeist noch in ein Drittes, dazu ausersehen, das Zweigeteilte zu vermitteln, dann war es stets der »höhere« Teil, zum Beispiel die Denkkraft gegenüber der Triebkraft, welchem die Führung zugedacht wurde. Ob ein Bild oder ein Rossegespann der Veranschaulichung dienten, der dafür zu erdenkende Führer sollte nie ein anderer als das sein, was im Lateinischen mens heißt: Denkkraft, Vernunft, Verstand (esprit, intelligence, penser, pensée). Ein Leben zu führen heißt, es in Bewegung zu setzen. Dazu bedarf es der Impulse, der Motivationen. Gehört, wie Philosophen es sehen, alle Führungskraft den geistigen Kräften, die die nichtgeistigen bändigen, dann liegt im Geistigen selbst der erste Impuls und die erste Motivation, das Leben zu führen. Sigmund Freuds an Platon orientiertes Wort »Wo Es war, soll Ich werden« kommt so zu Ehren, der Anspruch, zugunsten gelingenden menschlichen Lebens die entfesselte Urkraft des Es gänzlich unter das Joch der Vernunft zu zwingen. Doch das geht nicht auf. Der Sinn des Lebens, sein Bewegungssinn, bestünde dann nämlich darin, vernünftig zu sein, um vernünftig zu sein. Die Denkzeiten aber sind vorbei, in denen man das Selbst des Menschen mit seinem vernünftigen Teil identifizierte. Nein, zu diesem Selbst gehören nicht weniger Sinnlichkeit und Leiblichkeit. Darum wäre es vorschnell, ja falsch, dem Dementen, je nach Grad seiner Demenz, Lebensführungskräfte abzusprechen. Der, weil auch hinfällig, an das Bett »gefesselte« Pflegebedürftige ist nicht ohne jede Selbstheit und Führungskraft. Gelerntes soziales Verhalten etwa geht nicht ohne weiteres verloren, wenn die Möglichkeit schwindet, selbsthaft voll über das eigene Verhalten zu verfügen. Spuren von Selbstheit und Individualität finden sich allein schon in dem, »wie einer sich aufführt«. Jedes sich unterscheidende Verhalten ist Zeichen von geführtem Leben, ist Lebenszeichen von Impuls und Motivation, von verbliebenem Selbstwertgefühl. Auch positive emotionale Schübe wie die »helle« Freude über einen Besuch lassen, zumal wenn sie in einem »luziden Intervall« zu gesti322 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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schem und selbst sprachlichem Ausdruck finden, die Selbsthaftigkeit des Dementen zum Vorschein kommen.
IV. Sieht man auf die Häufigkeit von Demenzerkrankungen und auf die Lebenszeit, die sie in Anspruch nehmen, so entwickelt sich Demenz zu einer Lebensform – ein Spezialfall des Alters als Lebensform. Wird nicht der Versuch unternommen, die Alten das Alter vergessen zu lassen, indem man sie zu falschen Jugendgefühlen verführt, sondern wird Alter akzeptiert als Endphase des Lebens, dann verdient es den Titel »Schule der Endlichkeit«. Das gilt freilich auch für jede schwere Erkrankung, bei der aus Erfahrung einer Heilung nur geringe Chancen einzuräumen sind. Diese Angebote, noch einmal zur Schule zu gehen, können freilich ausgeschlagen werden. Es sind Angebote der Zeit, einer Zeit, die man auch anders vertun kann. Wem jedoch der Tod kein Feind ist, sondern eine innerste Gewissheit seines Lebens, der hat die Chance, sich mit der Endlichkeit seiner lebenskräftigen Möglichkeiten anzufreunden, und dies eben genau zu der Zeit, da sich ihre Abnahme erfahren lässt. Resultat ist kein rührseliges Eintauchen in die Stimmung der Vergänglichkeit. Nein, es gilt zu lernen. Als Hauptlehre wird sich dabei immer neu herausstellen, dass die Zeit kostbar ist: die Zeit der Gemeinsamkeit, die Zeit des Schauens und Hörens, des Lesens, überhaupt die Zeit des Wach- und Am-LebenSeins. Wie aber steht es mit dem Dementen, kann er überhaupt noch lernen? Das ist der kritischste Punkt des nachdenklichen Zugangs zu dem, wie es mit dem Dementen in unserer Lebenswelt steht. Er ist ja unmöglich als isoliertes Individuum zu sehen. Demenz als Lebensform ist eine Form gemeinschaftlichen Lebens. Angesichts des Immer-älter-Werdens der Menschen in prosperierenden Gesellschaften, das die Lebensform des Alters neu gewichtet, hat auch die Gesellschaft neue Erfahrungen zu machen und neu zu lernen, wie Leben mit den Alten und im Spezialfall mit den Dementen zu teilen ist. Während verfahrene fundamentalistische Ansichten dazu führen, sich der lebenspraktischen Frage der Selbsttötung zu verweigern, wächst für die immer größer werdende Zahl der Alten die Gefahr, aus der Gesellschaft eliminiert zu werden. Programme des SchnellerSterbens sind vorauszusehen, um ein Mehr an Lebenslust den Lebensstarken zu sichern. Es gibt keine Garantie, dass die religiös ge323 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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prägte Kultur, sich um stark geschwächtes Leben zu sorgen, ja ihm Sinn zu verleihen, als herrschende überlebt. Darum ist die Gesellschaft gefragt, die Gesellschaft im Ganzen, ob zu ihren Lebensformen, und das heißt zu ihrer Lebenssinngestaltung, die Dementen gehören. Es ist keine Frage, ob sie dazu bereit ist, wenn die Bereitschaft meinte, sich irgendwelchen moralischen Normen verpflichtet zu fühlen. Nein, in dieser Frage hat gesellschaftliche Lebensteilung aus sich selbst »normativ« zu werden. Es geht nicht um Pflicht, nicht um Neigung, sondern um Sinn: Gehört es gesellschaftlich zum gelingenden und erfüllten Leben, lange und immer länger mit Alten zu leben, die geistig abwesend und verwirrt sind? Ist diese besondere Schule der Endlichkeit, die Demente und die sich um sie Sorgenden nie anders als gemeinsam besuchen, eine für die Lebens- und Todesbejahung fruchtbare? Sind diese Fragen geklärt, dann spielen demographische Erkenntnisse und ökonomische Bedenken keine Rolle mehr.
V. Reicht schon ein Mensch zeit seines Lebens nicht ganz in seine eigenen Tiefen, kennt niemand von Grund auf sich selbst, so ist die Nichterreichbarkeit des Dementen etwas unvergleichlich Befremdenderes. Sind sinnliche Fähigkeiten erhalten, dann bleiben das Auge-zu-Auge und die Stimme im Ohr bedeutsam. Nicht selten nimmt die Bedeutung des Tastsinns zu. Wie aber Liebende die Erfahrung machen, dass leibliche Innigkeit dem Anderen nicht jede Ferne nimmt, ja dass gerade die nächste leibhafte Nähe die letzte Unnahbarkeit des Anderen spüren lässt, so kann auch die liebevollste Pflege und ihr entsprechendes Gewährenlassen nicht die Kluft verschwinden machen, die sich im Umgang miteinander immer neu auftut. Dass Menschen, die geistig »auf der Höhe« waren, mit einem Male nicht mehr recht und schließlich überhaupt nicht mehr auf den bewährten Wegen zu erreichen sind, bleibt eine außerordentliche Erfahrung, auch wenn es gesellschaftlich zu einer nicht mehr zu übersehenden Erscheinungsform des Menschen geworden ist. Hat Philosophie den Menschen in seiner Besonderheit als Lebewesen nicht nur als ein mit geistigen Fähigkeiten ausgestattetes, sondern mehr noch als ein zum Gebrauch und zur Vervollkommnung dieser Fähigkeiten bestimmtes Wesen gesehen, dann muss sie doch in Staunen geraten, gerade dieses dabei zu sehen, wie es sich zunehmend dem 324 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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Abbau und Verschwinden seiner geistigen Kräfte hingibt, bevor es von dieser Erde geht. Platon und Aristoteles hatten Schwierigkeiten, den Schlafenden für einen vollgültigen Menschen zu nehmen, wenn dessen Wesen, die Vernunft, doch das Wachsein verlangt. Was wäre ihnen erst zum Dementen eingefallen? Das berührt nicht genau die Frage lebenswerten Lebens, wie sie Alfred Hoche 5 und seine Mitstreiter gestellt haben, sondern die des der Philosophie werten Menschen, die freilich, wird im Denken die eigentliche Lebendigkeit gesehen, auch die Frage des lebenswerten Lebens ist. Nun ist aber menschliche Würde nichts Essentialistisches, sondern eine Sache der Praxis. Kant hat die Bestimmung der Menschenwürde auf den falschen Weg gebracht, als er sie in der reinen, durch keinen Affekt beeinflussten Vernunft gegeben sah. Nichts aber hat aus sich Würde und Wert, nicht einmal das Gold. Zu Würde und Wert gehört die Schätzung, eben die positive Wertung und Würdigung. Menschliche Würde ist – zum Glück – praxisdefinit. Der Demente wäre für die philosophischen Heroen Platon, Aristoteles und Kant würdelos, wertlos. Die Schätzung von Menschen kann nur eine gesellschaftliche und gemeinschaftliche sein. Wird Demenz zunehmend, ja ist sie bereits Lebensform, dann ist das eine Demonstration der Würdigung von Dementen. Lebensformen sind Formen der Lebensteilung. Wie die Lebensteilung von Eltern mit Kleinkindern ist auch die Lebensteilung von Pflegenden mit Gepflegtwerdenden und Angehörigen mit ihren Erkrankten nicht eigentlich eine asymmetrische, sondern eine durchaus wechselseitige, wobei die eine Seite beide Seiten übernimmt: Die Eltern belehnen das Kleinkind mit Selbsthaftigkeit, die Pflegekräfte und Angehörigen von Dementen die Dementen. Indem sie Hilfsbedürftigen die nötige und das heißt auch die in Zuwendung, ja in Liebe erfolgende Hilfe angedeihen lassen, würdigen sie die, denen sie helfen. Diese Würde ist eine echte Nimbierung: Nicht nur die Kleinkinder, sondern auch die Dementen strahlen in die Augen ihrer Lebenspartner zurück. Sterben Demente, dann hängen Helfer nicht selten Bilder ehemaliger Schützlinge in ihrem Zimmer auf. Für total Hilfsbedürftige ist die Würdigung durch Helfer das letzte, durch Belehnung erwirkte Selbst. Ganz zuletzt erst weicht das eigene Selbst des Gepflegten, wenn er so gut wie kein eigenes Ver-
5 Karl Binding/Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920.
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halten mehr zeigt. Genau dann aber verlöscht das Selbst nicht vollends. Im Gegenteil, es wird als belehntes noch einmal groß und strahlend – dank Lebensteilung.
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Mitwisserschaft
I. Wer neugierig darauf ist, was ihm nach seinem Tod passiert, sollte sich beizeiten klarmachen, dass er diese Neugier allein bei Lebzeiten befriedigen kann. Nach einem Tod passiert nichts mehr, das für den vom Lebendigsein ins Totsein Übergegangenen erlebbar wäre. »Nach dem Tode« – das ist allein eine Sache für Lebende, das verlangt von ihnen den Visionär, den Dichter. Traut sich einer es zu, dies Verlangen zu erfüllen, dann fängt er an, mit Dingen zu leben, die nicht erlebt und nicht erlebbar sind. Hält er es dann, was das Übliche ist, mit einer Religion, deren visionär-dichterisches Vertrauen es ist, dass der ins Totsein Übergegangene eine höhere Wirklichkeit erlangt hat, als sie auf Erden realisierbar ist, dann wird er zum Mitschaffenden an religiöser Poesie: Er teilt mit anderen ein über das gelebte Leben hinausreichendes Vertrauen und Glauben. Gläubige einer Religion sind sich darin einig, dass sie dem Rätsel menschlichen Lebens einen besonderen und einzelnen Ausdruck verleihen. Sie lösen das Rätsel nicht, aber sie gestalten es. Das gemeinsame Schaffen an nicht Erlebbarem, das keinen anderen Nachweis seiner Wahrheit kennt und will als den der gläubigen Poesie, lässt jeden Mitschaffenden zum Teilhaber an einem Geheimnis werden: am Geheimnis des Menschen, das in seinem Leben liegt. Gelebte Religion entdeckt so eine alles Wissen alltäglicher Lebensbewältigung übersteigende Mitwisserschaft: Das Leben ist ein Geheimnis, ein bleibendes, aber nicht nur dies, es ist ein in seiner unauflösbaren Rätselhaftigkeit eigens zu gestaltendes. Religion ist nicht die einzige, aber die älteste Poesie, fruchtbar mit dem Geheimnis des Menschen umzugehen und für ein gesteigertes Leben zu nutzen. Das Wissen um das Geheimnis des Lebens ist ein gänzlich anderes als das im Alltag gebrauchte und von der Wissenschaft erstrebte, ist es doch das Wissen eines Nichtwissens, das auf erstaunlichste Art aktiv ist. Nichts gegen das Wissen des Alltags und der Wissenschaft: 327 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Mitwisserschaft
es ermöglicht Leben, ja, es rettet Leben. Das Leben, als Geheimnis gewusst, ist eine nicht geringere Wirklichkeit als die, für die der Realitätssinn einsteht, es ist nur eine ganz andere: eine poetisch geschaffene. Als erste menschliche Mitwisserschaft und Grundlegung menschlicher Solidarität ist die Gestaltung des gewussten Nichtwissens und eben des bleibenden Geheimnisses des Lebens die Mutter aller Kultur und allen Kultes. Die erste, poetisch gegründete Solidarisierung des Menschen, wie sie Religionen gelingt, hat von Anbeginn an die Gefahr gezeitigt, durch fundamentalistisches Gebaren ihren allgemeinen Anspruch zu verspielen. Dass ein Volksgott keine anderen Götter neben sich dulden will, ist verständlich. Doch jeder, der eines Gottesglaubens ist, hat zu lernen, dass der, der eines anderen Gottesglaubens ist, auch einen anderen Gott hat, und dies mit Recht. Weil dies gerade in heutigen Zeiten noch nicht als das Zuwissende und Zupraktizierende gesichert ist, ist es angebracht, eine dem Menschen jeder Kultur und jeden Kultes gegebene Möglichkeit, das Geheimnis des Lebens fruchtbar zum Austrag zu bringen, aufzuzeigen. Es ist die Möglichkeit der zur Religion signifikant anderen Poesie: Das Rätsel des Lebens nicht dadurch zu gestalten, dass aus ihm ein ganz anderes Leben gemacht wird, das für keinen Menschen erlebbar ist. Es ist die andere Poesie gegenüber der religiösen: die Lebenspoesie. Hier und jetzt, im gemeinsam gelebten Leben, ist menschliche Solidarität poetisch zu gründen. Es ist die Kunst, das Leben mit Anderen zu teilen. Sie versieht menschliches Leben nicht mit dem strahlenden Schein einer anderen Welt, sondern nutzt ihre künstlerische Kraft, die faktische Zufälligkeit und Sinnlosigkeit des Lebens in seine Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit aufzuheben. Sie greift zu diesem Zweck auf keine Ideologie zurück, sondern bewährt sich unmittelbar als die Kunst gelingender Lebensteilung.
II. Menschen wissen umeinander, weil sie miteinander leben. Sie wissen dabei Wichtiges und Unwichtiges, Gutes und Schlechtes, und dies mit unterschiedlicher Eindringlichkeit und Genauigkeit. Kein Mensch verfügte über ein gesundes Selbst und wäre lebenstüchtig, wüsste er nicht um seine Mitwisserschaft mit Anderen, philosophisch gesagt: mit anderen Selbsten. Es sind die Nahen und Nächsten, von denen 328 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Mitwisserschaft
einer weiß, dass sie um ihn wissen, und sie sind es natürlich auch, von denen er weiß. Dabei ist es aufs Wunderbarste so eingerichtet, dass niemand einen Anderen bis auf den Grund kennt, bleibt er doch ein im Letzten sich selbst Unbekannter, sich selbst Überraschender, wie er immer wieder neu erfährt. Gemeinsam leben und erleben, gemeinsam sehen und hören, fühlen und schmecken – das sind alles andere als Bagatellen. Nur so bildet sich Mitmenschlichkeit, nur so bildet sich Mitwisserschaft im Guten und Schlechten, um Beiläufiges und Lebensentscheidendes. Ist die den Menschen solidarisierende Mitwisserschaft am Geheimnis des Lebens als poetisch gegründete eine geistig-geistliche, dann die am gelebten Leben eine natürlich gegründete leibliche. Die Rede von »leiblich« geht hier von der Vorstellung aus, dass die natürlich Nahen und Nächsten die »Angehörigen« sind – die Angehörigen des einen Stammes, des einen Klans, der einen Familie, die einen Leib bilden. Beide Formen der Mitwisserschaft gehören zusammen. Geistig-geistliche Mitwisserschaft wäre, um einer Unterscheidung Kants einen neuen Sinn zu geben, ohne leibliche leer, leibliche Mitwisserschaft ohne geistig-geistliche blind. Die poetische Solidarisierung, hätte sie nicht ihre Wurzeln in der menschlichen Natur, wäre ein reines Gedankending ohne fundamentum in re, die leibliche Solidarisierung, hätte sie nicht ihre Überhöhung durch Poesie, machte Mitmenschlichkeit zur geist- und kunstlosen Sache faktischer Verwandtschaft.
III. Meinhard von Pfaundler (1872–1947), der Nestor der deutschen Kinderheilkunde, fragte, wenn man ihm ein krankes Kind vorstellte, als erstes: »Wo ist die Mutter?« Menschen sind primär keine Einzelwesen, sondern Gemeinschaftswesen. Wer vom Menschen primär als von einem Einzelnen ausgeht, hat es, genau besehen, mit einem psychosomatischen Organismus, um nicht zu sagen Apparat, zu tun. Doch das organische Leben eines lebenden Menschen ist nicht das Leben, das er lebt, das er gegebenenfalls führt. Für das nämlich ist es konstitutiv, dass es das Leben eines Selbst unter Selbsten, eines Menschen unter Menschen ist, eines Selbst mit Selbsten, eines Menschen mit Menschen. Braucht ein Mensch Hilfe, zum Beispiel ärztliche, dann ist neben dem Arzt und für den Arzt auch immer ein Naher 329 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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und Nächster aus dem Kreis der Angehörigen gefragt, das ist die Mitmenschlichkeit in ihrer »leiblichen« Ausprägung. Für das kranke Kind ist als die von Natur aus Nächste die Mutter gefragt, bei hilflos gewordenen alten Menschen, denen nicht mehr aufzuhelfen ist, die also nicht mehr curativ, sondern allein noch palliativ versorgt werden, sind es Pflegekräfte und ärztlich Versorgende, gegebenenfalls auch allein Angehörige. Da aber ist nun im Falle von fortgeschrittener Demenz das Erstaunen, wenn nicht das Erschrecken groß: Aus dem Nahen und Nächsten ist ein Ferner, ja Fernster geworden. Genau darüber ist nachzudenken, wie dieses Erstaunen und gegebenenfalls Erschrecken in eine neue Art von Nähe zu überführen ist. Das geschieht durch Übernahme von Verantwortung für den Hilflosen und seine Einbeziehung in die eigene Selbsthaftigkeit. Wie der Philosoph urteilt, reicht die Verantwortung der Angehörigen für den Hilflosen weiter, als sie es wissen und sich vorstellen können, weiter auch, als es die heutige Rechtsprechung zulässt. Dank der gelebten Mitmenschlichkeit und Mitwisserschaft haben die für den Hilflosen verantwortlich gewordenen Angehörigen damit das Recht erworben, Fragen, die sich für und mit dem Hilflosen stellen, selbst im Rückgriff auf die Mitwisserschaft, gewissenhaft und das heißt verbindlich zu beantworten. Damit rückt der Autonomiebegriff ins Visier. Das Selbst in der Rede von Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung versteht sich nicht von selbst. Das ist bedeutsam für die Frage, was der Hilflose »selbst« will, der vielleicht beizeiten seinem Willen, der in der Zeit seiner Unfähigkeit, einen eigenen Willen zu erklären, Kraft und Geltung haben soll, Ausdruck gegeben hat. Das Selbst eines Menschen, so deute ich es, ist kein einsames und vereinzeltes, das irgendwo und irgendwie in einem lebenden Menschen steckt. Jedes menschliche Selbst lebt von und mit der Selbsthaftigkeit anderer Selbsten. Ich zitiere gerne den Satz aus der »Großen Ethik« des Aristoteles (384–322 v. Chr.): »(W)enn wir unser Gesicht sehen wollen, sehen wir in den Spiegel, wenn uns selbst, auf den Freund, denn er ist, wie wir sagen, das andere Ich (heteros egô).« Doch halt, wie sieht denn ein Freund aus? Und gleich noch eine weitere Frage: Ist nicht jeder andere Mensch, weil ein Ich-sager, ein »anderes Ich«? Ein Freund muss sicher nicht freundlicher aussehen als andere, mir unbekannte Menschen. Ein Freund hat kein spezielles Haar, keine spezielle Haut. Sehe ich meinen Freund Pauli und, damit gebe ich Aristoteles voll recht, mich selbst, dann erkenne ich zunächst einmal nur, dass es der Pauli ist. Dieses Erkennen und Wieder330 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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erkennen rührt aber bereits an unsere Geschichte, die wir miteinander haben, an unsere Freundschaftsgeschichte: an unser Kennenlernen und Sichnäherkommen, an unsere gemeinsame Arbeit, unsere gemeinsamen Wege und Unternehmungen, an Stunden gelingender menschlicher Nähe. Aber bereits die Begegnung selbst hat ihre Auszeichnung vor anderen Begegnungen, denn wie ich den Pauli sehe und wiedererkenne, merke ich, dass sich unmittelbar Freude eingestellt hat. Ich sehe den Pauli nicht nur, sondern ich freue mich, ihn zu sehen. Er ist kein beliebiger anderer Ich-Sager, sondern ein ausgezeichneter, ausgezeichnet durch reiche Mitwisserschaft und deren Qualität. Aristoteles unterscheidet Freunde ersten und zweiten Grades. Die zweiten Grades haben ihre Auszeichnung darin, dass sie einander brauchen. Füreinander nützliche Freundschaften sind nicht nur nichts Anrüchiges, sondern etwas überaus Erfreuliches. Das Leben wird durch sie reicher und nicht selten auch leichter: Man kann sich aufeinander verlassen. Man findet Hilfe aus Freundschaft. Man erfährt den Menschen von seiner besten Seite. Freunde ersten Grades heben sich dennoch dagegen erheblich ab. Sie sind einander Freunde um ihrer selbst willen. Da haben wir wieder das Selbst, dieses durch den Umgang mit anderen Selbsten Entwickelte und Gereifte. Was wir Individuation und Sozialisation nennen, ist Lebensgeschichte von größter Dramatik und Tragweite. Wirkt an ihr Freundschaft ersten Grades mit, dann sind die ihr zugrunde liegenden selbsthaften und selbstbildenden Vollzüge mit Sicherheit Gelungenes. Dem Freund ersten Grades entspricht der Angehörige, der mit dem hilflos Gewordenen eine Geschichte hatte, stark genug, gemeinsam Gewissen zu bilden. Dieser Angehörige ist am nächsten daran zu wissen, was der geistig unerreichbar Gewordene braucht und will. Das Selbst, mit dem er ihn belehnt, lässt ihn die Selbstverantwortung für den übernehmen, der von sich aus nicht mehr selbsthaft zu handeln weiß. Gewissen, das sich in den hellen Augenblicken gemeinsam gelebten Lebens einander Nächster bildet, ist weder ein schlechthin allgemeines (Kant) noch ein radikal vereinzeltes (Heidegger). Gewissen ist in jedem Moment seiner Bildung ein geteiltes. Das macht Angehörige, die dem, für den sie Verantwortung übernehmen, um seiner selbst willen nahe waren, moralisch auch dazu berechtigt, für das Selbst eines nicht mehr Selbstbestimmungsfähigen, wie es der fortgeschrittene Demente ist, zu sprechen.
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IV. Angehörige, die den Dementen, der ihnen einst um seiner selbst willen nahestand, nicht mehr als den erreichen, der er war, durchleben die Schule der Endlichkeit. Ihren Nächsten, mit dem sie Lebensgeschichte geschrieben und mitwisserschaftlich das Gewissen lebensteiligen Gelingens gebildet haben, gibt es nicht mehr. Zwar lebt er, aber als ein gänzlich anders Gewordener, dessen Ferne nicht auslotbar ist. Durchleben sie diese Schule mit Erfolg, dann wissen sie, dass der aus nächster Nähe in fernste Ferne Gerückte ein Recht darauf hat, jetzt nicht mehr erreichbar zu sein. Wo Wissen und Können keine Macht mehr haben, den Wegen der Natur in die Quere zu kommen, die sie wählt, die Endlichkeit des Lebens wahrzumachen, da hat der Angehörige auch kein Recht mehr, sich entrüstet zu zeigen, dass der ihm nahe Demente ihn überhaupt nicht mehr kennt. Ich gehe so weit, ihm sogar das Recht abzusprechen, voller Schmerz zu wollen, dass die Natur das wieder rückgängig macht und der jetzt Ferne ihm wieder nahe wird. Das ist ja wie eine Mutter, die das Kind nicht abstillen und aus der Symbiose entlassen will, die doch gelingen muss, wenn aus dem Kleinkind ein selbsthafter Mensch werden soll. Ist es so weit, dass ein naher Angehöriger den Dementen mit Selbstsein belehnt, dann ist es das eigene des damit Belehnten geworden, freilich ist es nicht mehr dasselbe, das ihm als Nichtdementen eigen war, aber es ist doch ein echtes eigenes, das nicht mit dem des Beleihenden koinzidiert. Mit dem Selbst gibt ihm der nahe Angehörige eine eigene Widerständigkeit, die auf Anderheit und Andersheit beruht. Jetzt erst kann der Belehnende als Sorgender und Pflegender von einem Eigenen des zu Umsorgenden und zu Pflegenden ausgehen, von ihm her denken und handeln. Ein Wunder ist geschehen: Jetzt kann sich der Angehörige im Selbst des Dementen als einem anderen Selbst selbst sehen, ist es doch, mit Aristoteles gesprochen, sein »anderes Ich«. Die Belehnung war ja kein Belieben. Die Mitwisserschaft war im Spiel und mit ihr das Gewissen für lebensteiliges Gelingen. Der Demente hat seine Unbegreifbarkeit verloren. Er ist wieder da, und dies als der, der sagen kann, was er will und was er braucht. Das gemeinsam erworbene und gebildete Gewissen macht es möglich.
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V. Der vollends Demente ist weg und ist doch da – das ist kein Paradox. Als der, der er von sich her war, ist er für immer weg; als der, der dank des Angehörigen seine Wünsche und Bedürfnisse selbsthaft vertritt, ist er bis zu seinem Ende da. Das Zwiegespräch mit ihm hat im Angehörigen statt. In ihm geht es ebenso um gerade anstehende, drängende als auch mit einer gewissen Weitsicht um letzte Dinge. Ich kann mir solch ein Gespräch bei all seinem Ernst unmöglich als ein verbissenes vorstellen. Immer wieder einmal werden es Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes begleiten, und dabei weit mehr an belebend als an bedrückend Erlebtem. Ist der Demente von ruhiger, freundlicher Art, lässt einen der Umgang mit ihm den eigenen Gleichmut bewahren, dann, so denke ich es mir, wird das mit ihm geführte Zwiegespräch nicht selten beim Angehörigen ein Lächeln zeitigen, ein Dank- und Glücksgefühl. Überfordert für den Moment die Sorge und Pflege nicht, ist es vielmehr Zeit für Besinnlichkeit und Zugewandtheit, dann wird das Zwiegespräch, das der Angehörige in Gegenwart des Dementen in sich mit ihm führt, frei für Phantasie und Nachdenklichkeit. Der Angehörige steigt dann nicht in die Träume ein, die den Dementen überkommen, um sie etwa mitzuträumen, was nicht gut möglich ist, sondern er fängt an, die mitwisserschaftlich verwahrte Geschichte noch einmal neu zu erzählen und zu gestalten. Dabei geht es nicht um nachträgliche Aufhellung des Erlebten. Die neue Erzählung und Gestaltung, wie sie das Zwiegespräch des Angehörigen hervorbringt, tritt nicht mit den Träumen des Dementen eine Reise in die Vergangenheit an. Alles ist auf die endgültige Zukunft ausgerichtet, auf das Ende. Die Schule der Endlichkeit hat einen klaren Lehr- und Lernplan, der alles Vergangene und Gegenwärtige auf die letzte Zukunft ausrichtet. Es ist, als schriebe der Angehörige mit seinem besinnlichen Zwiegespräch einen Besinnungsaufsatz. Die aber sind in dieser Schule von letzter Gültigkeit. Niemand wird sie korrigieren. Wir sind wieder beim Rätsel des Lebens, das dem Angehörigen die Chance bietet, es zu gestalten, nicht notwendig originell, aber jedenfalls es mitzugestalten, wenn er dazu nur die Kraft und das Verlangen hat. Vollends Demente werden in der Schule der Endlichkeit in den Fächern Phantasie und Nachdenklichkeit behandelt. Einbildungskraft und Denkkraft sind gefragt, dem Leben angesichts seines Endes, das oft bedrückend ist, um nur dies zu sagen, seine eigene Notwendigkeit 333 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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und seinen eigenen Sinn zu geben. Lernziel ist dabei nicht, Trost zu finden und gar die Endgültigkeit des Geschehens zu entkräften. Emotional wird das Zwiegespräch des Angehörigen in Gegenwart des Dementen über die letzten Dinge, wie sie beide betreffen, zu einer Gratwanderung zwischen Dunkel und Licht, zwischen abgrundtiefer Verzweiflung und befreiendster Erlösung. Der Angehörige, der die Kraft findet, Phantasie und Nachdenklichkeit zu nutzen, dem Rätsel des vergänglichen Lebens eine Gestalt zu geben, der wird, so sehe ich es, in seiner schöpferischen Arbeit immer wieder Schmerz und Dank zusammenführen. Je mehr er in seinem Gestalten das Rätsel des Lebens bejaht, je mehr bejaht er auch das Leben in seiner Endlichkeit.
VI. Wer einen Angehörigen, dessen Nähe er um seiner selbst willen suchte, sorgend und pflegend, aber auch besinnlich und nachdenklich begleitet, der führt die Mitwisserschaft um gelebtes Leben und die Mitwisserschaft um das Rätsel des Lebens zusammen. Altern, Hinfälligwerden, die geistige und körperliche Verfügung über sich selbst verlieren – diese Schule der Endlichkeit, die der auf eigene Weise mitbesucht, der einen selbstlos gewordenen nahen Angehörigen mit Selbstsein belehnt, ist nicht zuletzt eine Schule der Aufklärung, genauer: der Gegenaufklärung, dazu geeignet, die Verteufelung von Alter, Krankheit und Tod zu beenden und dem Menschen das Menschsein zu retten. Darf der Philosoph einmal kurz die Sprache der Händler nutzen, dann hat das Leben (des Menschen) seinen Preis: Leben gibt es nur um den Preis des Todes, aber auch nur um den Preis der Beschwernisse des Alters. Trennt der Tod Menschen, die sich die nächsten waren, dann gibt es Leben nur um den Preis des Schmerzes. Das hat zusammengewirkt, dass bereits in alten menschlichen Kulturen sich die Ansicht gefestigt hat, der Preis für das Leben sei eigentlich zu hoch. Daraus wurde gefolgert: Lieber kein Menschsein, wenn es nur dieses Menschsein gibt. Ich könnte mich jetzt mit Religionen anlegen, die es so halten. Doch ich beschränke mich zur Demonstration menschlicher Selbstverwerfung auf einen Mythos. Der Götter- und Titanendichter Hesiod (um 700 v. Chr.) erzählt ihn. Es geht um die Bestrafung des Menschen durch den höchsten der olympischen Götter, durch Zeus, der den Menschen das Feuer nicht gönnt, das Prome334 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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theus, ein Titanensohn, ihm wider den Willen des Zeus gebracht hat. Und man höre und staune: Er bestraft sie mit nichts anderem als mit Krankheit, Alter und Tod. Zeus lässt die Götter ein Kunstwesen schaffen, die Pandora, wörtlich: die von allen Göttern begabte, die, von männerbetörender Schönheit, dazu ausersehen ist, über die Menschen die größten Übel auszugießen, als da sind Alter, Krankheit und Tod. Demenz als Strafe, wohl eingebettet zwischen Alter und Tod als Strafen. Die Selbstauslegung des Menschen durch mythische Aufklärung hat hier, wie es in religiösen Selbstauslegungen üblich ist, nichts Besseres zu tun, als unser vergängliches Leben, wie es Menschen seit alters, heute und in Zukunft leben, für eine Strafe zu erklären. Angehörige eines Dementen, die dessen Zustand betroffen macht und die sich herausgefordert sehen, helfend einzugreifen, sind gut beraten, wenn sie Selbstauslegungen des Menschen wie diese von Hesiod erzählte entschieden zurückweisen. Der Preis für menschliches Leben, das nicht schlechtweg unerträglich geworden ist, ist nie zu hoch und ist schon gar niemals Strafe. Der Mensch hat nichts Höheres und Größeres als sein Menschsein, das Krankheit, Alter und Tod einschließt. Demenz in der Familie macht die Wahrheit nicht schal, dass die Momente gelingend geteilten Lebens, die so gut wie jedes Leben kennt, weil es sonst nicht lebensfähig wäre, das Leben zu einem Fest machen. Wer Leben, wie es gelebt wird, für ein Übel ansieht, das eine gerechte Strafe ist, verfehlt sein Geheimnis. Er missbraucht in meinen Augen die Freiheit geistiger und geistlicher Kunst. Der vollends Demente ist kein Anlass und Anhalt, einmal mehr das Leben zu schmähen. Im Gegenteil, er bietet die Chance, in Erneuerung der leiblich-geistigen Mitwisserschaft den Bund des Menschen mit seinem Leben zu festigen und zu feiern.
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Der endgültige Abschied vom Anderen
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Kaltwerden
Sterben – das heißt Kaltwerden, Versteifen, Erstarren, ja eben Lebloswerden. Es ist so ganz eine Sache des – endenden – Lebens. Ist das Leben gewichen und der Tod eingetreten, dann ist es mit dem Leben vorbei. Der Mensch, der soeben noch lebte und jetzt tot ist, ist präsent als Leichnam, als kalter, regloser Körper. Der Wissenschaftler, der bestimmt, was Leben ist, sieht das gelassen. Leben erkennt er im bewegt sich erhaltenden Organismus, Tod im Verfall und Zerfall des Organismus. 1 Im toten Körper herrscht ein Zustand, den keine organismische Selbsttätigkeit mehr aus dem Gleichgewicht bringt. Sicher, Leben als sich erhaltendes Leben ist für ihn positiv besetzt, Tod als zerstörtes Leben negativ. Doch beides gilt ihm als gleich objektiv und gleich gültig. Für den Nächsten dagegen ist der Mensch, der soeben noch lebte und ihm jetzt gestorben ist, ein Stück eigenen Lebens. Kälte empfindet er und in ihr den Fehl der Wärme. Die Wärme des Anderen ist weit mehr als allein die einer Temperatur. Es ist die Wärme des Lebens, das zusammen gelebt wird, des einander zugewandten, miteinander kooperierenden, sich aneinander reibenden Lebens. Der erlebte Fehl des jetzt Toten gibt ihm eine eigene Qualität. Durch ihn wirkt er belebend, das Leben steigernd, und dies gerade auch dann, wenn es der Schmerz des irreversiblen Wegseins des Anderen und Getrenntseins von ihm ist. Der Tod eines Nächsten, der nicht unmittelbar zum eigenen Lebensende führt, sondern als Schmerz erlebt und ausgetragen wird, kann auf geradezu unheimliche Weise fruchtbar wirken. Er macht die Kostbarkeit der Lebenszeit und mit ihr die des Lebens spürbar, den als Glücksfall erlebten Zufall, über-
1 Erwin Schrödinger, Was ist Leben? Die lebendige Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, 2. Aufl., München 1951 (Orig. What is Life? The Physical Aspect of the Living Cell, Cambridge 1944), S. 98–104.
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haupt am Leben zu sein und das Leben mit einem jetzt Toten zusammen gelebt und geteilt zu haben. Der Naturwissenschaftler sieht im lebendigen und im zerfallenen Organismus je ein isoliertes Objekt. Braucht der lebende Organismus Luft und Nahrung, steht er also in einem Austausch, der über seine Körpergrenzen hinausweist, so befreit das den Wissenschaftler doch nicht davon, den Lebenden wie den Toten als etwas zu nehmen, das ein Ganzes ist. Er braucht keine Umweltforscher und Soziologen, schon gar keine Philosophen, um zu bestimmen, was Leben ist und was Tod. Der Philosoph dagegen, für den es zum Menschsein gehört, im Leben und auch im Sterben den Anderen zu brauchen, sieht in dem jetzt zum Leichnam Gewordenen anderes als der Naturwissenschaftler. Ihm geht es um den beteiligten Blick der Sterbebegleiter, Angehörigen und Nächsten. Im Einbeziehen von Sterbenden und soeben Gestorbenen in das Miteinander erkennt er einen Eckstein menschlicher Kultur. Die körperliche Wärme des Lebenden und die Kälte des Toten gehen im lebensteiligen Umgang mit Sterben und Tod unmittelbar ins Metaphorische über. »Wärme« und »Kälte« werden zu Leitwörtern des von Leben und Sterben betroffenen und sich darüber verständigenden Menschen. Der Anblick des Leichnams strahlt die reine Unmittelbarkeit aus. In seiner noch frischen Leblosigkeit zeigt er sich reglos, aber auch blick- und sprachlos. Doch es wird keine Kälte spürbar, die dem Nahen und Nächsten als eisige Distanz zu Herzen ginge. Nein, der Tote erscheint wie nimbiert, versehen mit dem Glanz des Endgültigen und Unwiderruflichen. Es ist jene »Majestät« des Todes, seine unheimliche und zugleich faszinierende Erhabenheit. Zeigt der Anblick des Toten keine Zerstörung durch Krieg oder Unfall, keine letzte Auszehrung und Ausmergelung, sondern ein stilles, wie überglänztes Gesicht und von Sterbebegleitern zusammengeführte Hände, dann begegnet im Toten fast noch der Gewesene, wenn auch als gänzlich Entrückter, fast, denn der Tote ist kein Mensch mehr, mit dem Leben zu teilen wäre. Er ist nicht mehr warm. Sagt Heraklit, Leichname verdienten mehr als Mist, daß man sie wegwirft, 2 und der Jesus des Matthäusevangeliums, daß man Tote ihre Toten begraben lassen solle, 3 dann sind das keine Verunglimpfungen der Toten, sondern ge2 Heraklit, Fragment B 96, in: H. Diels / W. Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, Bd. I, Berlin 1951, S. 172. 3 Matthäus 8,22.
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sunde, vor falschem Kult bewahrende Worte. Der einem gestorben ist, kann ja nicht länger im Leichnam gesucht werden. Zu dem kalt gewordenen vormals Nächsten, wie er als Leichnam präsent ist, kann nach dem Abschied das Verhältnis nur ein kaltes sein, kein warmes. 4
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Jemandem sterben
Wer verträglich, ja, was gar nicht so selten ist, in wechselseitiger Zuneigung alt wird, weiß, daß Einer vor dem Anderen sterben wird. Menschlicher Tod ist generell ein soziales Ereignis. Dazu bedarf es nicht notwendig einer stabilen Verbindung. Zu keiner Lebens- und Sterbenszeit ist Einer ein absolutes Single. Auch der Ungeselligste teilt sein Leben mit Anderen, schon weil niemand absolut autark ist. Das erste Bedürfnis eines Menschen bleibt allezeit der andere Mensch. Das ist keine Spezialität der Hilflosigkeit am Anfang und Ende des Lebens, sondern ist zeitlebens der Fall. Allein schon Sprachlichkeit demonstriert Eingebundenheit in Geselligkeit. Mag er auch vorzugsweise mit sich selbst sprechen, so tut er das doch als Mitglied einer Sprachgemeinschaft, ja einer Kultur und Tradition. Kein Mensch ist in einem strikten Sinne allein. Bereits die Selbstauslegung des Menschen im ersten Buch der Tora erweist es als unmöglich, einen Menschen zu erdenken und erdichten, der der einzige Mensch ist. 5 Die Endlichkeit des Menschen ist auch dadurch ausgezeichnet, daß niemand alles, keiner jeder ist. Der Mensch braucht den Menschen, um Mensch zu sein. Der Mensch braucht den Anderen nicht nur zum Leben, sondern auch zum Sterben, ja sogar zum Totsein. Das ist zur lebensteiligen Situation gesagt: Das eigene Selbst braucht das andere, um das eigene Selbst zu sein. Die Anderen sind es, die die Begrenztheit der Ausgriffe des Handelnden garantieren. Es ist die im Leben Halt gewährende und Einhalt gebietende Endlichkeit. Ist es die Gewißheit jüdischchristlicher Tradition, daß der Mensch des religiösen Glaubens bedarf, dann negiert die Rede, daß der Mensch des Menschen bedarf, 4 Ägyptische Einbalsamierer, von denen Herodot berichtet (Historiae II,89), sind anderen Sinnes. Ihnen wird ihr Werk dadurch zu verhindern gesucht, daß man Frauen angesehener Männer nicht gleich nach dem Tode zur Einbalsamierung bringt, sondern erst drei oder vier Tage später. 5 Siehe Rainer Marten, Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis, Freiburg/ München 2017, S. 246–248.
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nicht jenes religiöse Bedürfnis, bietet auch keinen Ersatz für es an. Weder der geglaubte Jahwe noch der geglaubte Christus (Messias) können den lebensteilig Anderen ersetzen, schon weil beide nicht endlich sind. So können sie keinem lebensteiligen Ensemble zugehören, das für das unabdingbare wechselseitige Haltgewähren und Einhaltgebieten steht. Auch können sie nicht sterben, was eine Verbindung mit ihnen unmöglich macht, die auf dem Versprechen »Bis daß der Tod uns scheidet« gründet. Ihr ewiges und unbedingtes Verspechen 6 überspielt alles Zeitliche und mit ihm jede Erfahrung eines Kairos des Handelns und des Wertes der Lebenszeit. In jüdischchristlicher Tradition kann niemand seinem Gott sterben. Christus erkennt beim von seinen Sünden Erlösten und für die Seligkeit Bestimmten keinen Tod an. Er hat, wie Karl Barth triumphiert, den Tod getötet. 7 Allein den »zweiten Tod« erkennt er als Tod an, der allerdings das Gegenteil eines menschlichen ist. 8 Gehören zu dem, der stirbt, Zeitlichkeit und Endlichkeit als Wahrzeichen seines Menschseins, dann ist es von größter lebenspraktischer Bedeutung, Jemandem zu sterben. Angehörige sind gemeint: Eltern, denen ein Kind stirbt, Freundes- und Liebespaare, da Einer dem Anderen stirbt. Nicht allein zum Am-Leben-Sein, auch zum Tot-Sein braucht der Mensch den Anderen. Bewahren zwar Inschriften auf Grabsteinen das Faktum des Gelebthabens und Gestorbenseins, so sind das für Unbeteiligte doch eher gleichgültige Nachrichten. Ist dagegen Einer Jemandem gestorben, dann wird für diesen Totsein spürbar: Der Tote ist weg, eine schmerzlich erfahrene Leerstelle tut sich auf, ein Fehl. Todesanzeigen behaupten nicht selten, der jetzt Tote »lebe« in der von Zuneigung geprägten Erinnerung. Das Gegenteil ist der Fall: Allein dadurch ist er überhaupt noch – Jemandem – tot. Haben nicht erdichtete Unterwelten das Wort, dann ist klar, daß der Gestorbene kein Wissen vom eigenen Totsein hat. Ist es kein Manko des Menschen, einander zu brauchen, sondern gehört es zum Reichtum seiner Selbsterfahrung, dann ist doch das Einander-Brauchen im Leben und noch über den Tod hinaus ein notwendig endliches. Das Zum-LebenSiehe exemplarisch Hosea 2,21–23; 11,6 f. Karl Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung 1919), Zürich 1985, S. 226: »Als Triumph über die Sünde war dieser Tod der Tod des Todes«; S. 213: »In ihm (Tod des Christus) hat Gott eintreten lassen den Tod des Todes«. 8 Offenbarung 21,8: »Die Feigen aber und Ungläubigen und […] alle Lügner, deren Teil wird in dem Pfuhl sein, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod.« 6 7
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Brauchen Anderer endet mit dem Eintritt des Todes, das Zum-Totsein-Brauchen Anderer endet mit dem Tod derer, denen der Gestorbene gestorben ist. Um es metaphorisch zu sagen: Die Erinnerung stirbt. Das endgültige Vergessenwerden bricht an. Lebt jemand in seinen Werken und Taten fort, so sind genau sie es, die »leben«. Wird das als eine lebendige Erinnerung an den Gestorbenen selbst verstanden, dann macht der metaphorische Gebrauch von »Leben« einen Sprung. Das Totsein von Überlebensgiganten wie Platon und Shakespeare wird nicht als Fehl und Schmerz empfunden. Wen die Vorstellung schreckt, einmal für immer vergessen zu sein, für den hält die Apokalypse des Johannes einen wunderbaren Trost bereit: das »Buch des Lebens«. Wer sein Leben gut geführt hat, dessen Name werde nicht aus ihm herausgerissen. 9 Das ist große, den Menschen zu der ihm eigenen Menschlichkeit aufrufende religiöse Poesie.
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Abschied nehmen
Erklärt religiöse Poesie den Tod zum Feind des Menschen, und gar zu seinem letzten, 10 dann will sie im Sterben, das zum Tode und zu nichts weiter führt, nichts Gutes sehen. Der Tod als »größtes Übel« ist nicht nur Erdichtetes, sondern gängige Meinung, seit Menschen sich mit ihrer zeitlichen Endlichkeit auseinandersetzen. Aristoteles, der nüchterne Arztsohn, der mit dem Tod nichts anzufangen weiß, wie schon mit dem Schlaf nicht, weil er dann nicht (mehr) denken kann, erklärt ihn für das am meisten zu fürchtende Übel. 11 Ist das nun gesagt, weil das Am-Leben-Sein so schön ist (war) oder weil das Totsein so schrecklich ist (sein wird)? Die Antwort kann nur lauten: weil das, wovon Abschied genommen wird, etwas zuhöchst Geschätztes ist, nicht aber weil der Tote Schlimmes zu erwarten hätte. Der Gedanke des Nicht-mehr und Nie-wieder von Möglichkeiten des Lebens ist es, der das Denken an den Tod verschattet. Adam Smith (1723–1790) hat bei Gelegenheit der Erörterung eines möglichen Mitleids mit den Toten klar herausgestellt, da die Idee einer furchtbaren Zukunft, die der Toten wartet, gänzlich der Phantasie der Lebenden entspringt, als seien sie es, die es erfahren müßten, in ein 3,5; vgl. 17,8. 1. Korinther 15,26. 11 Aristoteles, Nikomachische Ethik III 9, 1115a26. 9
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kaltes Grab gelegt, vom Licht geschieden, von allen Menschen vergessen zu werden, um nurmehr zu verwesen, ein Fraß des Gewürms der Erde. 12 Doch der Tote empfindet nichts; er ruht. Todesangst kann nur die Angst vor einem schrecklichen Sterben oder des Beraubtwerdens von Lebensmöglichkeiten meinen. Eine lebenspraktisch gerechtfertigte Angst vor dem Totsein gibt es nicht. Der Tod kann vom Glück des Lebens scheiden, nicht aber ein Eintritt ins Unglück sein. Wer frei dazu ist, von seinem Leben Abschied zu nehmen, von der Welt und den Seinen, von sich selbst und seinem Tun, kann das bevorstehende Scheiden ambivalent erfahren: als schmerzlich und als befreiend. Schreiben Todesanzeigen, daß der Tod eine Erlösung war, dann war es die von dem unerträglich gewordenen Leben. Sieht Platons Sokrates im Tode eine Befreiung (wörtlich: »Loslösung«) der Seele vom Leibe, 13 Paulus eine Befreiung des Geistes vom Fleisch, 14 dann ist die Erfahrung der das Sterben Begleitenden eine ganz andere: Der Tod macht der Qual ein Ende. Das Erdenken und Erdichten eines von Leib und Fleisch (Sünde) befreiten »Menschen«, der ganz Denken und ganz göttlicher Geist ist, gilt dem Versuch, die Lebenden zu begeistern. Ihnen wird die Möglichkeit gezeigt, ganz sie selbst zu sein, losgelöst von den Glücksfällen und Unfällen des Lebens. Jetzt gibt der Tod, geistig und geistlich belebend, unversehens den Blick frei auf Möglichkeiten, die über das endliche Leben hinausreichen. Es ist die Überhöhung des Lebens, deren es bedarf, wenn es nicht bei Routine und Langeweile, Sinnlosigkeit und Zufälligkeit, Banalität und Frivolität verbleiben soll. Leben, wie es als geteiltes gelingt, gibt den Einzelnen nicht frei in Vereinzelung und vollkommene Selbstbezüglichkeit, gibt ihn aber auch nicht frei in das Selbstische der Übervorteilung Anderer. Gemeinsames Leben, in dem Selbste nicht weniger einander als sich selbst notwendig werden, Partner und Ensembles also, die ihr Leben als ein notwendiges erfahren, brauchen die Steigerung und Intensivierung des Lebens und damit die Überhöhung der Lebenswirklichkeit. Der Mensch ist gefragt, der von sich aus mehr nötig hat, als sich gemeinsam selbst zu erhalten und Leben weiterzugeben. Das ist der Künstler. Die künstlerisch Gebenden (Schaffenden) und Nehmenden (Aufnehmend– Mitschaffenden) sind angesprochen, die Welten erschaffen, in denen 12 13 14
Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1994, S. 8. Platon, Phaidon 64e-67d; 82e. 1. Korinther 6,16.
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die belebende und begeisternde Kraft des Sinnlich-Geistigen und Bewegt-Lebendigen bis an die Grenze des Menschenmöglichen zur Entfaltung kommt. Alle Künste kommen dafür in Frage bis hin zur Lebenskunst und Denkkunst, ja bis zur Kunst religiösen Glaubens, in der sowohl Scheidung als auch Einheit von Mensch und Gott 15 spirituell und rituell zum Austrag kommen. Ist der Sterbende ein Abschiednehmender, dann ist die Vorstellung, er nehme vom Unheil der Welt und des Lebens Abschied, um mit dem Tod realiter in eine Welt und ein Leben des Heils überzugehen, irreführend. Die Steigerung der sinnlichen und geistigen Kräfte ist den Künsten überlassen, sie für das gemeinschaftliche und gesellschaftliche Leben fruchtbar zu machen. Wer als Sterbender von seinem Leben und von der Welt, in der er gelebt hat, Abschied nimmt, scheidet, wie jedem Sterbenden zu unterstellen ist, auch aus Welten der Kunst und der durch sie überhöhten Wirklichkeit. Sein Blick, wie er auf das Durchlebte und Vollbrachte fällt, wird, wenn es ein offener ist, zugleich doch ein gesenkter sein. In der letzten Schau lebendigen Erfülltseins herrscht schon die Gewißheit: Es ist genug. In ihr schließt sich für den Sterbenden das »endlich«, das dem Maß der Zeit gilt, mit dem willkommen heißenden »endlich!« zusammen.
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Rhythmische Zeit
Die Zeiten der Erde sind Tag und Nacht, Morgen und Abend, Mittag und Mitternacht, sind Sommer und Winter, Frühjahr und Herbst. Die Zeiten des Lebens sind die Stunde der Geburt und die Stunde des Todes, sind Kindheit und Jugend, Reife und Alter. Die Zeiten sind sich nicht gleich, nicht die Stunden des Tages und der Nacht, nicht die Sommer- und Wintertage, nicht die Stunden der Geburt und des Todes, nicht die Jahre der Jugend und des Alters. Die Veränderung der Erd- und Lebenszeiten, die der Gang der Zeit bewirkt, ist eine rhythmische. Veränderung ist nach Aristoteles die Bewegung der Qualität 16: Wärme schlägt in Kälte um, Nässe in Trockenheit; Frisches wird welk, Glattes runzelig, Jugendliches alt. Die Veränderung der Erdund Lebenszeiten ist begleitet von Zunahme und Abnahme, der Be15 Siehe Rainer Marten, Lob der Zweiheit, das Kapitel »Die Einheit von Gott und Mensch«, S. 127–141. 16 Aristoteles, Physik Gamma 1, 201a9–16.
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wegung der Quantität. Es wird heißer und wieder kälter; die Lebenskräfte nehmen zu, erreichen ihren Höhepunkt und nehmen wieder ab. Aus Quantität wird Qualität: Kräftigung und Schwächung der Lebenskräfte von der Gehkraft bis zur Sehkraft zeigen dem Leben nur allzu deutlich, wie Zeit die Zeiten verändert. Wie an einem Sonnentag die Wärme bis zum frühen Nachmittag zunimmt und danach wieder abnimmt, und damit die gelebte Zeit eines Tages jederzeit von anderer Qualität sein läßt, so ist auch, genau besehen, die Lebenszeit jede Stunde und jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr eine andere. Der zeitliche Gang durchs Leben, poetisch, als Gang über die Erde gefaßt, rückt die Ortsbewegung in den Blick: die Bewegung von einem Ort zum anderen. Mit diesem Blick ist schon die vierte Bewegungsform erfaßt, die für Aristoteles die erste ist: das Entstehen und Vergehen. Der Gang über die Erde ist ja, wie ihn die Genesis deutet, gleich einem »Aus Erde zu Erde«. 17 Es ist der Weg aus dem Mutterschoß bis in das Grab.18 Rhythmisch bewegte ist endliche Zeit. Alles Zeitliche und Bewegte ist endlich. Das Neue Testament rückt mit dem Gedanken eines letzten Tages als dem eines letzten Gerichts die Endlichkeit der Erde als Wohnstätte des Menschen in den Blick: Keiner wird auf ihr bleiben, auch die Gestorbenen und Begrabenen nicht. Alle werden aufgeweckt, um das Heil im göttlichen Himmel oder die Verdammnis im Höllenpfuhl zu finden. 19 Das ist starke Poesie. Luthers Übersetzung mit »Jüngstentag« läßt das Besondere des »letzten Tages« (eschatê hêmera) nicht klar hervortreten: Die Erdichtung eines Endes aller Zeit, die dem Rhythmus von Tag und Nacht folgt, dem Rhythmus des Mondes und der Jahreszeiten. Es ist das Ende aller Menschenzeit. Der letzte Tag ist nicht der, auf den die Nacht folgt, »da niemand wirken kann«. 20 Der Tag menschlichen Wirkens, den das Evangelium Christus ansprechen läßt, ist als Christi Licht gedacht, das währt, solange er in der Welt ist 21 und die Menschen durch ihn die Werke Gottes wirken können. Die Nacht ist die Abwesenheit Christi vor seiner Wiederkehr als – letzter – Richter. Das ist eine ungeheure Botschaft an die Lebenden: Ihnen werde für ihr gelebtes Leben letzte
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1. Mose 3,19. Das war bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts ohne Alternative. Johannes 6,39. Johannes 9,4. Johannes 9,5.
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Gerechtigkeit widerfahren. Wer sich an die Zehn Gebote, die sich als der Erfahrungsschatz gelingenden Lebens lesen, gehalten hat, wird mit höchster Lebenslust belohnt, wer sie übertreten hat, mit schlimmster Lebensqual bestraft. Der Preis ist hoch: Die endgültige Rettung des Humanum wird hier mit dem endgültigen Ende menschlichen Lebens auf der Erde bezahlt. Die endliche, rhythmisch bewegte Zeit kennt kein Fortschreiten der Lebenstage bis zu einem letzten, der den Übergang von der Zeitlichkeit in die Ewigkeit markiert. Die Zeit, deren Gestalt keine Linie, sondern ein Kreis ist, zeitigt die Wiederkehr. Das Kreisen der Lebenszeit ist kein ewiges, sondern ein endliches. Das Drehen der Erde um sich selbst, das die Sonne der Erde das wandernde Licht des Tags und den wandernden Schatten der Nacht geben läßt, was als wiederkehrende Folge von Tag und Nacht erfahren wird, ist ebenfalls kein ewiges, sondern ein endliches. 22 Das kann auch gar nicht anders sein, weil es ein zeitliches und eben bewegtes ist. Wie es um den Sonnentod der Erde steht, ist Sache der Astrophysik. In jedem Falle handelt es sich beim Verhältnis von Sonne und Erde, das menschliches Leben ermöglicht und den Zeitgang dieses Lebens im Ganzen seiner vier Bewegungsformen bestimmt, um einen Moment in der Geschichte des Kosmos und das heißt in einem Geschehen, das in seiner Bewegtheit auch ein Entstehen und Vergehen ist. Entstehendes Leben gibt es nur um den Preis vergehenden Lebens, aber nicht um diesen Preis allein. Entstehendes Leben gibt es auch allein um den Preis der Weitergabe von Leben, um den Preis von Zeugung und Geburt. Nicht der Tod sorgt für die Wiederkehr endlichen Lebens, sondern das Leben. Ein berühmtes Gleichnis im Neuen Testament sagt und zeigt das anders und verfehlt so den biologischen Vorgang: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt (apothanê, mortuum fuerit), bleibt es allein; wenn es aber stirbt, trägt es viel Frucht. 23
Das wäre, als wenn der Same des Mannes im Schoß der Frau sterben müßte, damit Kinder kommen. Nein, das Weizenkorn als pflanzlich Die Rede, die Platon seinen Timaios halten läßt, setzt alles daran, den entstandenen Kosmos in seiner Bewegtheit eine Ewigkeit währen zu lassen. Als höchstmögliche Stärkung seines Argumentes gilt ihm dabei, die Zeit für ein Abbild der Ewigkeit zu erklären (Platon, Timaios 37c-38b). Das ist Denkkunst, die zur Überhöhung der Wirklichkeit dem Unmöglichen den Vorzug gibt vor dem Möglichen. 23 Johannes 12,24. 22
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Lebendes kommt in der Erde nicht zu Tode. Es entfaltet vielmehr durch die Zufuhr, die es in der Erde erhält, die volle Lebenskraft, die in ihm steckt. Die höchste Blüte des Lebens (akmê) ist es, die dazu führt, daß die Rhythmik des Lebens zu einem vollen Kreis wird, der durch Kräfte des Lebens neues Leben entstehen läßt, nicht aber durch das Ende des Lebens, nicht durch den Tod.
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Der Tod
Der Tod hat Bedeutung für den Lebenden, nicht für den Toten. Er schenkt ihm das nicht zu lüftende Geheimnis seines Lebens. Dieses Geschenk anzunehmen, heißt für den Lebenden nicht, es hinzunehmen und dabei zu belassen, daß sein Leben keinen erkennbaren Sinn hat. Im Gegenteil, die Paarung von Lebensgewißheit und Todesgewißheit läßt ihn, mehr oder weniger bewußt, die eigene Ohnmacht als die Herausforderung erfahren, es mit ihr aufzunehmen. Instinktiv wählt er dafür den Königsweg: Er tut mehr, als für das Leben nötig ist, als seine nackte Erhaltung und Selbstreproduktion erfordern: Er beginnt zu singen und zu tanzen, Flöten zu schnitzen und Sichtbarem seiner Lebenswelt neue Gesichte zu geben mit das Gesehene überhöhender Ausdruckskraft. Formt er das Gesehene der Lebenswelt neu, dann kann es auch sein, daß er Gesichten seiner inneren Welt eine Form gibt. Tief in vorgeschichtlicher Zeit hat der Mensch dazu gefunden, sein Unvermögen, die Frage, die er sich selbst ist, zu beantworten, durch ein selbstgeschaffenes und selbstverantwortetes Vermögen geradezu zu einem Schatz werden zu lassen. Anstatt einen Lebenssinn zu finden und zugeteilt zu bekommen, schafft er ihn selbst, indem er über die gegebenen Notwendigkeiten hinausgeht. Er schafft sich seine eigene Notwendigkeit: sein Künstlertum. Kunst ist unnötig. Es läßt sich auch ohne Gedichte leben. Zählen Xenophons Sokrates, Platons Sokrates und Schillers Jungfrau von Orleans auf, was zum Leben nötig ist, kommen Werke der Kunst nicht vor. 24 Mit dem Beginn der künstlerischen Überhöhung der Wirklichkeit nimmt der Mensch methodisch in Angriff, das Unnötige notwendig zu machen. So wird der Tod, der das Rätsel des Lebens unlösbar macht, durch den Menschen, der sich an eine allein von ihm zu verantworSiehe Rainer Marten, Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen, 2. Aufl., Freiburg/München 2014, S. 72–77.
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tende Ausgestaltung dieser Unlösbarkeit macht, zum Geburtshelfer der Kultur, der Künste und Kulte. Der Tod, der menschliches Leben zu einem endlichen macht, ist nicht allein Initiator aller vom Menschen zu verantwortender Überhöhung der Wirklichkeit durch Werke der Kunst, die Werke der Denkkunst und Glaubenskunst eingeschlossen, sondern auch unverzichtbarer Inspirator lebensteiligen Handelns. Lebenskunst, wie sie allen offensteht als die Kunst der Teilung des endlichen Lebens, weiß, daß das Leben den Tod braucht. Der Halt, den ein Mensch sich selbst geben und bei Anderen finden kann, reicht nicht zu, ihn in seiner Endlichkeit vor einem Fortriß in den Abgrund der Zeit, in das Unendliche ihres Fortschreitens zu bewahren. Allein der Tod in seiner Gewißheit ist Garant dafür, daß sich das Leben nicht als eine unendliche Aufgabe auftut, sondern ihm endgültig Einhalt geboten wird. Endliche Zeit hat vor einer unendlichen (sempiternitas, Immerheit) den für menschenmögliches Gelingen unverzichtbaren Vorzug: Sie nimmt Zeit und Zeiten ihre Gleichheit (indifferentia). Der dem Leben eingeborene Tod ist Creator des Kairos zum Guten und zum Schlechten, der günstigen und ungünstigen Gelegenheit, etwas zu tun und zu lassen. Eine Immerheit des Lebens, nicht zu reden von einer Ewigkeit (aeternitas), ließe alles vertagen, nichts hätte seine Zeit, seine Stunde. Die Verbindung von zählbarer Zeit (chronos) und günstiger Zeit (kairos) ist für menschliches Leben und Handeln unabdingbar. Schon das Buch Prediger des Alten Testaments besteht auf beider Verbindung: Zu allem gehört Zeit (chronos), jedes menschliche Tun und Lassen (pragma) hat seine Gunst der Stunde (kairos). 25
Der Mensch braucht den Tod, schon weil die Zeit seines Lebens die durch ihre Endlichkeit bedingte Ungleichheit braucht: die erfüllte und die leere Zeit, die zu lange und die zu kurze, die günstige und die ungünstige Zeit und damit den die Lebenspraxis prägenden Rhythmus der Zeit, der im Verbund mit den Rhythmen der Erdzeit und Lebenszeit steht. Die unterschiedliche Qualität von Zeit und Zeiten ist keine Zugabe zur Zeitlichkeit des Menschen, die zur Disposition stehen könnte. Der Mensch, der lebt, braucht den Tod. Einzig seine
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Prediger 3,1.
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Gewißheit macht es für den Menschen möglich und nötig, die Zeit seines Lebens zu brauchen.
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Liebe
Der Tod, der für die Endlichkeit des Lebens steht, bringt es in seiner Gewißheit dahin, die Lebenszeit als eine festliche erfahren zu lassen. Es ist die Zeit, da das Leben rein als Leben gefeiert wird und so das Leben sich selbst feiert, gerade auch in seiner Alltäglichkeit. Ein bekannter Künstler schreibt mir jüngst: »habe ich das tägliche Windelnwechseln zum Fest des Lebens erklärt«, was heißt, daß er Leben in seiner Geteiltheit feiert. Das Fest des Lebens, in dem das Humanum zum Vorschein kommt, kann nur das einander zugewandte, geteilte sein. Damit ist die höchste Qualität angezeigt, die der Tod als Letzturheber der Lebenszeit verleihen kann: Sie ist eine festliche geworden. Wird Lebenszeit festlich, dann spiegelt sich in ihr die Liebe zum Leben. Allein endliches Leben läßt diese Liebe wachsen und gedeihen. Das Fest des Lebens ist ein endliches. In ihm sind im vorhinein auf das Belebendste und Ergreifendste Freude und Schmerz vereint. Die Liebe zum Leben gibt es nicht ohne die Liebe zum Nächsten, die Liebe zum Nächsten nicht ohne die Liebe zum Leben. Für Liebende, die ihr Leben teilen und miteinander alt werden, hält die Endlichkeit des Lebens noch eine besondere Qualität der Lebenszeit bereit: Sie wird feierlich. Die aufdringlicher werdende Gewißheit des Abschieds voneinander verleiht dem Rätsel des Lebens zum Ende hin den Glanz endgültiger Unlösbarkeit.
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Publikationsnachweise
Die Erkenntnis des Unmenschlichen (1983), in: Skarabaeus. Zwischen den Wissenschaften, Heft 2, Freiburg, S. 93–108. Leben und Vernunft. Thesen zur Ideologie menschlicher Selbsterhaltung und zur Neubestimmung menschlicher Selbstbejahung (1984), in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 38, Frankfurt: Vittorio Klostermann, S. 19–38. Die freie Vergeblichkeit des Lebens (1994), in: Wie in einem Spiegel … Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik, hg. von Dietrich Neuhaus und Andreas Mertin, Frankfurt a. M.: Haag + Herchen, S. 249–259. Lebensführung und Lebensteilung (1996), Vortrag beim Deutschen Kongreß für Philosophie, Leipzig, Erstveröffentlichung. Der Tod und der Philosoph (1997), in: Tabu Tod, hg. von Mechthild Blum und Thomas Nesseler, Freiburg: Rombach, S. 15–29. Eros und Macht (1999), Entwurf für einen Text in: vorspiel. Das Magazin des Wiener Burgtheaters. Erstveröffentlichung. Die anfängliche Einheit von Lebensform und Denkform (2002), in: Erkennen und Leben. Philosophische Beiträge zum Lebensbezug menschlicher Erkenntnis, hg. von Horst Seidl, Hildesheim / Zürich / New York: Georg Olms, S. 29–43. Menschliche Wahrheit und die konfliktive Verfassung des Lebens (2004), in: Sensus communis, Band 5, Nr. 2–3, Santa Severa: Casa Editrice »Leonardo da Vinci«, S. 171–187. Klugheit zum Guten (2005), in: Klugheit, hg. von Wolfgang Kersting, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, S. 155–180. Rühren an die Rhythmizität des Lebens. Ein denkkünstlerischer Versuch über den Schlaf (2007), Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, Band 4: Eros, Schlaf, Tod, hg. von José Sánchez de Murillo und Martin Thurner, Stuttgart: Kohlhammer, S. 155– 178. Die Bejahung der Erde. Ein denkkünstlerischer Versuch zu Ort und Landschaft (2008), in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, 349 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
Publikationsnachweise
Musik, Band 5: Ort und Landschaft, hg. von José Sánchez de Murillo und Martin Thurner unter besonderer Mitwirkung von Reinhard Falter, Stuttgart: Kohlhammer, S. 153–162. Endlichkeit, Unendlichkeit und die Frage nach dem menschlichen Maß des Lebens (2009), in: Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, hg. von Ingolf U. Dalferth, Philipp Stoellger und Andreas Hunziker, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 65–76. Wahre Hoffnungen? Eine Frage an Hermeneutik und Religion (2010), in: Endliches Leben. Interdisziplinäre Zugänge zum Phänomen der Krankheit, hg. von Markus Höfner, Stephan Schaede und Günter Thomas, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 325–341. Maßlosigkeit (2010), Vortrag im Theater Freiburg, Großes Haus, 10. Januar 2010. Erstveröffentlichung. Geistige Radikalität (2012), in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Band 6 (2012/2), hg. von Ralf Konersmann und Dirk Westerkamp, Hamburg: Meiner, S. 327–337. Verschenktes Leben (2014), in: Ethik der Gabe. Humane Medizin zwischen Leistungserbringung und Sorge um den Anderen, hg. von Giovanni Maio, Freiburg: Herder, S. 486–506. Was scheitern muss, was nicht scheitern kann (2014), in: Scheitern, hg. von Gabriele Gien und Bernhard Sill, St. Ottilien: EOS Verlag, S. 231–250. Das Leben als Kunstwerk (2015), Vortrag beim Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium, Audimax, 9. Juni. Erstveröffentlichung. Das letzte Selbst (2015), in: Till Velten, Sprechen über Demenz, Freiburg: Herder, S. 123–129. Mitwisserschaft (2018), in: Till Velten, Schule der Endlichkeit. Gespräche über Demenz, Freiburg: Herder, S. 83–88. Der endgültige Abschied vom Anderen (2018), Vorabveröffentlichung, erscheint 2019 in: Wege zum Menschen, 71. Jahrgang, hg. von Klaus Kießling et al., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
350 https://doi.org/10.5771/9783495817766 .
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