Über uns Menschen: Philosophische Selbstvergewisserungen [1. Aufl.] 9783839415405

Auch wenn der Mensch zunehmend mehr von sich weiß, heißt das nicht, dass er sich besser versteht. Wer bin ich? - Ein Men

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German Pages 148 Year 2014

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Inhalt
Vorwort
Der Mensch und die Evolution
Der Mensch und die Kultur
Der Mensch und Gesundheit, Krankheit, Tod
Der Mensch und die Freiheit
Der Mensch und das Absolute
Der Mensch und die Kunst
Anhang
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Über uns Menschen: Philosophische Selbstvergewisserungen [1. Aufl.]
 9783839415405

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Michael Hofer [Hg.]

Über uns Menschen

Li n ze r B e i t rä g e z u r Ku n s t w i s s e n s c h a f t u n d Ph i l o s o p h i e Michael Hofer I Monika Leisch-Kiesl [Hg.]

Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie KTU Linz

Beirat: Artur Boelderl, Linz Ludwig Nagl, Wien Birgit Recki, Hamburg Sigrid Schade, Zürich Anselm Wagner, Graz

Band 3

Michael Hofer [Hg.]

Über uns Menschen P h i l o s o p h i s c h e S e l b s t v e rg e w i s s e r u n g e n

Die Publikation wurde gefördert mit freundlicher Unterstützung von: Bischöflicher Fonds zur Förderung der KTU Linz Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung Wien Raiffeisen Landesbank OÖ

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Layout: Designstudio LUCY.D, Wien Satz: BK Layout+Textsatz, Rutzenmoos Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1540-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

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Vorwort

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Der Mensch und die Evolution Christian Illies

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Der Mensch und die Kultur Birgit Recki

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Der Mensch und Gesundheit, Krankheit, Tod Günther Pöltner

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Der Mensch und die Freiheit Thomas Sören Hoffmann

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Der Mensch und das Absolute Gunnar Hindrichs

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Der Mensch und die Kunst Andrea Kern

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Anhang

Vorwort

Der Titel „Über uns Menschen“ klingt möglicherweise irritierend vertraulich. Nun kann aber keine Vertrautheit gegenüber den geneigten Lesern behauptet werden, so als ob es da zu einem Austausch unter gut Bekannten – unter uns gewissermaßen – käme. Zugleich ist aber auch keine Vertrautheit hinsichtlich des Themas in Anspruch zu nehmen, so als ob das, worüber gesprochen wird, etwas Vertrautes und allzu Bekanntes wäre. Vielmehr drängt sich die Frage nach dem, was es heißt, Mensch zu sein, immer wieder aufs Neue auf. Der Titel betont lediglich einen Umstand, der in der herkömmlichen Formulierung „Über den Menschen“ droht, verloren zu gehen, und in der Anthropologie auch tatsächlich immer wieder verloren gegangen ist. Das Pronomen „uns“ sollte darauf aufmerksam machen, dass eine Rückbezüglichkeit im Spiel ist, die einer radikalen Vergegenständlichung entgegensteht. Denn es ist immer der Mensch, der an der Subjektstelle den Menschen verobjektiviert. Eine gänzliche Verobjektivierung ist demnach nicht möglich, da in einem solchen Vorgehen der Mensch um sein Eigenstes gebracht wird: Subjekt, nicht bloß Objekt, von Erkenntnis zu sein. Der Untertitel möchte dies unterstreichen, indem von „Selbstvergewisserungen“ die Rede ist. Um der Frage nach dem Menschen eine Richtung zu geben, wurden die Autorinnen und Autoren mit Begriffen konfrontiert, die für die Selbstvergewisserung des Menschen bedeutsame Themenfelder und Problembereiche eröffnen: Dies sollte deutlich werden in der jeweils gleich bleibenden Formulierung „Der Mensch und“, die mit den in Frage stehenden Begriffen kombiniert wurde. Erfreulicherweise wurde die Vorgabe von allen Beteiligten – dafür sei herzlich gedankt – engagiert aufgegriffen und auf jeweils eigenen Wegen verfolgt. Dabei wurde immer wieder auch eine Ausdeutung des „und“ in der Themenformulierung vorgenommen. Ist dieses „und“ im Sinne einer bloßen

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Addition zu verstehen, sodass zum Menschen jeweils etwas – Äußerliches – hinzukommt? In den Beiträgen wird klar, dass eine solche Ausdeutung an der Sache vorbeigeht. Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass die Fragestellung auch nicht zu bewältigen ist, indem die Ungewissheit im Menschen verortet wird, an den nun an sich bekannte Bestimmungen wie Freiheit, Kultur, das Absolute etc. herangetragen werden, um Klarheit und Sicherheit für das Selbstverständnis zu gewinnen. Vielmehr wird eine wechselseitige Bestimmung herausgearbeitet, die sowohl den Menschen als auch das in Frage stehende Themenfeld besser verstehen lässt. Die Anordnung der Beiträge geht von der „natürlichen Bestimmtheit“ des Menschen aus. Dabei wird der Frage nachgegangen, in wie weit in diesem Zusammenhang von einem Gegensatz von Natur und Kultur auszugehen ist, um die „natürliche Künstlichkeit“ des Menschen zu begreifen. Natur, Kultur und die „natürlichen Gegebenheiten“ Gesundheit, Krankheit und Tod werden hier als Fragen des Menschen im Rahmen eines ersten Durchganges der Selbstvergewisserung erörtert. Für Selbstvergewisserungen nicht untypisch, wird von dem Erarbeiteten aus gewissermaßen ein zweiter Anlauf genommen. Ausgangspunkt ist hier die Freiheit, um weitere Konkretisierungen durch die Verhältnisbestimmung zum Absoluten zu gewinnen und um in die Erörterung der Bedeutsamkeit der Kunst zu münden. Dieser Band ist aus einer Veranstaltungsreihe hervorgegangen, die vom Fachbereich Philosophie am Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie der Katholisch-Theologischen Privatuniversität (KTU) durchgeführt wurde. Von Anfang an war damit die Hoffnung verbunden, ein Stück weit eine akademische Öffentlichkeit für Fragen der Philosophie in Linz etablieren zu können. Aufgrund des Erfolgs lag es nahe, die Texte in dieser Form einer nochmals ganz anders gearteten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gewidmet sei der Band den Hörerinnen und Hörern, die durch ihr Interesse viel zum Gelingen beigetragen haben. Michael Hofer Linz, Frühjahr 2010

Der Mensch und die Evolution Eine Selbstvergewisserung

Christian Illies1

Abb.: „Löwenmensch“, Statuette aus Mammut-Elfenbein, H 296 mm; Br 63 mm. Jüngere Altsteinzeit (Aurignacien), um 30 000 v. Chr.

I. Die alte Frage nach Natur und Mensch

Wer ist der Mensch, dieses besondere Tier? Eine kleine Figur aus der Höhle Hohlenstein-Stadel im Lonetal bei Ulm, die vor rund 30.000 Jahren aus Mammut-Elfenbein geschnitzt wurde, zeigt deutlich, wie lange diese Frage die Menschen schon umtreibt. Die Figur stellt ein Wesen dar, das halb Löwe, halb 1

Es handelt sich um die durchgesehene Mitschrift des Vortrags. Für kritische Anmerkungen danke ich dem Publikum in Linz sowie besonders Dr. Fabian Geier.

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Mensch ist. (Vielleicht auch halb Frau – ursprünglich wurde sie „Löwenfrau“ genannt, aber es fehlt all das, was Klarheit schaffen könnte). Was auch immer ihre Funktion war, der Erschaffer der Skulptur muss sich gefragt haben, was den Menschen ausmacht, dieses eigentümliche Tier. Ein Wesen, das vielleicht schwächer ist als der mächtige Löwe, aber zugleich in seiner Aufgerichtetheit etwas Besonderes. Die Skulptur ist uraltes Zeugnis einer Selbstvergewisserung des Menschen im Angesicht seiner Natur. Diese Selbstsuche schlängelt sich durch die gesamte Kulturgeschichte von der ägyptischen Sphinx bis zu Gregor Samsa, der sich unter der Schreibfeder Franz Kafkas in einen unglücklichen Käfer verwandelte. All das sind künstlerische Abgrenzungen und Annäherungen von Mensch und Tier. Und doch hat diese Suche in der Gegenwart eine ganz neue, unerhörte Virulenz bekommen, die sich natürlich vor allem mit einem Namen verbindet – mit Charles Darwin. Durch ihn ist die Naturseite des Menschen zum ersten Mal Gegenstand einer modernen Wissenschaft geworden. Und die Wissenschaft, vor allem die Naturwissenschaft, ist in den letzten 300 Jahren zum Inbegriff dessen geworden, was wir verlässlich wissen können: Naturwissenschaften zeigen uns, wie die Welt eigentlich ist. Alles andere scheint bloße Meinung und Deutung, dem geschichtlichen und kulturellen Wandel unterworfen. Inwiefern die Biologie seit Darwin eine andere und erstmals ernstzunehmende Erklärung des Menschen anbietet, wird im folgenden Abschnitt zur Sprache kommen (II). Anschließend wird es darum gehen, was das für den Menschen und sein Selbstverständnis impliziert (III). Es bedeutet nämlich nicht nur, dass des Menschen biologische Seite in umfassender Weise erklärt werden kann, sondern auch für viele Momente seines Verhaltens, ja seines Denkens werden Erklärungen vorgelegt. Die moderne Evolutionswissenschaft tritt damit in gewissem Sinne das Erbe der philosophischen Selbstbesinnung des Menschen an. Wie darauf zu reagieren ist, welche Möglichkeiten es grundsätzlich gibt, wird dann anschließend zur Sprache kommen (IV). Die Überlegungen werden dabei mit einem Plädoyer für einen Typ von Anthropologie enden, der wohl am ehesten in der Lage ist, die Erklärungskraft der modernen Evolutionstheorie ernst

Der Mensch und die Evolution | Christian Illies

zu nehmen, ohne sie zu überschätzen, und sie zu integrieren in ein Selbst- oder Menschenbild (V).

II. Die evolutionäre Erklärung des Menschen 1. Darwins große Einsicht

Charles Darwin ist keinesfalls der Begründer der Evolutionstheorie. Sein eigener Großvater Erasmus hatte schon eine Abstammungslehre vertreten. Und es gab zu Darwins Zeit mehrere konkurrierende Evolutionstheorien, am bekanntesten wohl die von Lamarck. Das waren alles Modelle einer Verwandtschaftsbeziehung der Tiere und Pflanzen, bei denen diese in ein Abstammungsverhältnis gesetzt wurden. Bereits um 1800 kann man davon ausgehen, dass die Vorstellung einer Evolution Allgemeingut in den intellektuellen Kreisen ist. Was ist dann aber das Neue bei Darwin? Er bot erstmalig eine Erklärung für die Evolution an, die ohne zielgerichtete Kräfte auskam, die also a-teleologisch war. Alle vorhergehenden Theorien bemühten noch solche Kräfte wie etwa ein Streben nach Höherentwicklung oder nach Komplexität. Bei Darwin tritt jedoch an Stelle solcher Kräfte die gleichsam stumme, ungerichtete Mechanik eines Küchensiebes. Nach Darwins Erklärungsansatz einer Natürlichen Selektion gibt es immer zufällig eine Fülle von Variationen innerhalb einer Tier oder Pflanzenart, da kein Lebewesen nur identische Nachkommen hat. Zugleich wetteifern die Nachkommen stets um eine begrenzte Menge an Ressourcen: Es gibt nicht genug Nahrung oder Platz für alle neugeborenen Tiere, nicht genug Licht, Nährstoffe oder Wasser für alle Nachkommen einer Pflanze. Sie brauchen nur einmal im Frühjahr an einen Teich zu gehen und sich anzuschauen, wie viel Froschlaich dort zu finden ist. Dann ahnen sie die überquellende Fruchtbarkeit der Natur, aber auch, dass nicht aus allen Eiern Frösche werden können, da doch sonst der Teich in wenigen Jahren bis zum Rand voller Frösche wäre. Und würden alle diese Frösche ablaichen und auch aus allen ihren Eiern neue Frösche heranwachsen, dann versänke bald ganz Linz und schließlich der Rest der Welt in einem grünen Meer von Fröschen. Es gibt bei Tieren und Pflanzen

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viel, viel mehr Nachkommen als überleben können. Und deswegen finden wir eine Überlebenskonkurrenz zwischen den Nachkommen, die manchmal sogar zu einem Kampf werden kann. Welche Individuen dabei überleben, ist aber nicht bloßer Zufall, sondern hängt von den jeweiligen Eigenschaften ab: Die Winterlingpflanze, die früher im Jahr blüht als andere Pflanzen, die sie sonst beschatten würden, das Eichhörnchen, das geschickt Nüsse für den Winter vergräbt, oder der Frosch, der schnell genug über die Straße hüpft, um den Autos zu entkommen – das sind diejenigen, die überleben und wieder Nachkommen haben werden. Deswegen füllen Winterlinge schon Ende Februar den Wald mit ihrem Gelb, legen Eichhörnchen Lager mit Nüssen an und springen Frösche so schnell. Und wenn es ihnen nicht gelingt, dann werden sie eben aussterben wie weiland die Wollhaarmammuts, die am Ende des Pleistozäns nicht geschickt genug waren, den jagenden Frühmenschen zu entkommen. Bei diesem Prozess ändern sich die Eigenschaften nicht zielgerichtet auf bessere Überlebens und Fortpflanzungschancen hin, sondern es ist ein zufälliges Auftreten von neuen Merkmalen, bei denen die jeweils günstigste sich durchsetzt, wenn sie ihre Träger befähigt, zu überleben und mehr Nachkommen zu haben als Artgenossen. Diese Auslese steht im Zentrum der Erklärung Darwins, sie ist die Natürliche Selektion. Sie findet vor allem zwischen Artgenossen mit leicht unterschiedlichen Eigenschaften statt, die um begrenzte Ressourcen wetteifern müssen, aber sie ereignet sich auch zwischen verschiedenen Arten, wenn sie um gleiche Ressourcen ringen. Hinter all dem stehen keine gerichteten Kräfte, weswegen es sich mit der blind-mechanischen Auslese feinen Mehls beim Küchensieb vergleichen lässt. Wenn nun die für die jeweilige Umwelt günstigeren Eigenschaften erblich sind, dann werden sie in der nächsten Generation vorherrschen, einfach weil durch sie ihr Träger mehr Nachkommen haben wird als der Träger anderer, etwas weniger günstiger Eigenschaften. Wenn wir uns das in einer langen Kette von Ereignissen vorstellen, so wird deutlich, wie sich langsam die Eigenschaften von Arten wandeln können. Aus einem ersten katzenartigen Tier vor etwa 60 Millionen Jahren hat sich dann vor rund 3,5 Millionen Jahren der heutige Löwe entwickelt. Aber

Der Mensch und die Evolution | Christian Illies

diese Entwicklungslinien führen auch zu Verzweigungen: Neben dem Löwen entstand die Wildkatze, der Tiger und der Luchs, um nur wenige zu nennen. Zu solchen Spaltungen kommt es, wenn es gleichzeitig verschiedene Lebensräume oder Lebensweisen gibt, die sich für die Nachkommen eines Tieres anbieten, so dass die Selektion zu einem bestimmten Zeitpunkt in unterschiedliche Richtungen wirkt. Auf diese Weise kam es zu einem Entwicklungsgeschehen, bei dem aus einer einfachen ersten Lebensform die Fülle der gegenwärtigen Arten der Pflanzen und Tiere entstanden ist – und alles ohne jede lenkende, leitende Absicht. Die moderne Biologie bietet für alle Phänomene eine „proximate“ neben einer „ultimaten“ Erklärung, wie es Ernst Mayr nannte. Die „proximate“ Erklärung ist unmittelbar. Warum können wir etwa besser Gesichter als Füße unterscheiden? Warum erkennen wir auch bei einem unscharfen, verwackelten Photo sofort, wer dargestellt ist? Weil wir hochgradig darauf spezialisiert sind, Gesichter zu identifizieren. Die proximate Erklärung für dieses Vermögen wäre der Verweis auf unser Gehirn, das entsprechende Strukturen und Zentren besitzt, die besonders zur Gesichtsidentifikation befähigen. Die ultimate oder evolutionäre Erklärung ist, dass es hochgradig funktional für ein sozial lebendes Wesen wie den Menschen ist, Artgenossen schnell und verlässlich identifizieren zu können. Kooperation ist entscheidend und bringt Überlebensvorteile; und zum Kooperieren ist es wichtig zu wissen, mit wem man kooperiert, also Gesichter erkennen, wieder erkennen und auch einschätzen zu können. Das erklärt, warum dieses Vermögen positiv ausgelesen wurde.

2. Der Darwinismus seit Darwin

Schauen wir kurz auf die wichtigsten Schritte des Darwinismus seit Darwin. Der erste ist die Verhaltensbiologie, die bei Darwin grundgelegt wird, aber erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Entfaltung kommt. Darwin vermutete bereits, dass wir nicht nur physiologische Anpassungen an die jeweilige Lebenswelt finden, bei uns etwa den aufrechten Gang, Lauffüße, geschickte Hände oder das Gebiss eines Allesfressers, sondern dass es Anpassungen auch hinsichtlich des Verhaltens von

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Tieren und Menschen gibt. Wie Tiere fliehen oder Futter suchen, wie sie kooperieren, balzen oder wann sie aggressiv werden, scheint in vielen Fällen angeborenen Mustern zu folgen, den so genannten Instinkten, die sich in der Evolutionsgeschichte als vorteilhaft erwiesen und sich deswegen durchgesetzt haben. Das gelte auch für den Menschen, wenn er reflexartig lächelt oder sein Gesicht vor Schreck verzieht, wenn sich ihm die Nackenhaare aufrichten oder er errötet. Aber der Mensch ist nicht primär instinktgesteuert; er hat besondere, „höhere“ Vermögen. Auch diese könnten wenigstens biologische Grundlagen haben – dafür argumentiert bereits Darwin. Er vermutet eine natürliche Begabung zum Sprechen, einen ästhetischen Sinn, der das menschliche Kunstschaffen erklärt, aber auch Anlagen für die Moral und sogar die Religion. Dass wir in diesen Bereichen zu bestimmten Verhaltensweisen neigten, gebe Überlebensvorteile; und Menschen ohne dieses Verhalten seien im Konkurrenzgeschehen unterlegen gewesen. So war etwa der Menschenverband, der Anlagen zur Kooperation hatte, überlebensfähiger, weil sich in ihm die Gruppenmitglieder in Notzeiten halfen. Ähnlich scheint die Anlage zur Religion eine vorteilhafte Anpassung zu sein, weil der Religiöse nicht so schnell verzweifelt. Er ist motiviert und glaubt noch in fast ausweglosen Situationen an einen Sinn, was ihm Kraft gibt und seine Überlebenschancen steigert. All das sind Gedanken, die bei Darwin schon zu finden sind, und die dann in der Verhaltensbiologie von Konrad Lorenz, Nico Tinbergen und anderen Mitte des 20. Jahrhunderts systematisch entwickelt wurden. Konrad Lorenz etwa verdanken wir manche spannende Einsicht in den Menschen, z. B. dass wir angeborene Lernfähigkeiten oder angeborene Auslösemechanismen haben, die bei uns auf bestimmte Reize hin eine festgelegte Reaktion folgen lassen. Das berühmte ‚Kindchenschema’ ist ein Beispiel für solche Auslösemechanismen, die Lorenz erstmals beschrieb. Die Darstellung eines Gesichts mit kindlichen Zügen, wozu große, runde Augen, eine kleine Nase und eine hohe Stirn gehören, ruft in der Regel ein Entzücken, Schutz- und Fürsorgeverhalten hervor. Eine ganz wichtige Weiterführung der Evolutionstheorie durch Konrad Lorenz war die Ausdehnung auf den Bereich des Erkennens; in der maßgeblich von ihm begründeten evolutionären Er-

Der Mensch und die Evolution | Christian Illies

kenntnistheorie geht es darum, Erkenntnisvermögen von Tieren bis hin zum Menschen als Anpassungen an die jeweilige Umwelt zu sehen. Es ist vorteilhaft für einen Organismus, die für ihn wichtigen Informationen über seine Lebenswelt zu haben. Für den Mensch gilt hier etwa, d. h. es funktional ist, Wahrnehmungen zu ordnen, zu abstrahieren, und allgemeine Zusammenhänge zu erkennen. Wir hatten bereits die Fähigkeit erwähnt, Gesichter rasch zu identifizieren. Ein anderes Beispiel ist, dass wir Dinge kausal verbinden. Wann immer wir etwas wahrnehmen, denken wir „instinktiv“, es müsse auch eine Ursache dafür geben. Wenn Sie als Urmensch in der Steppensavanne Afrikas stehen und plötzlich fällt Ihnen ein Stein neben die Füße, dann ist es eben von Vorteil, wenn Sie sich sofort umdrehen, weil sie vermuten, dass etwas dahinter stehen muss. So können Sie sich rechtzeitig umblicken und eventuell weglaufen, damit der nächste Stein Sie nicht trifft. Der Urmensch ohne solch einen eingeborenen Kausalitätsbegriff schaut den Stein lediglich verständnislos an, bevor ihn dann der nächste Stein erwischt. Wer Dinge kausal verbinden kann, verhält sich eher adäquat und hat eine höhere evolutionäre Fitness. Das richtige Erkennen ist daher eine hochgradige Anpassung, die verhilft, viele Nachkommen zu haben, bzw. seine Gene in die nächste Generation weiter zu tragen. Und damit sind wir schon bei der Soziobiologie als zweiter Phase dieser Entwicklung. Der große Beitrag der Soziobiologie war zunächst, die Einheit der Selektion zu präzisieren. Wenn bis dahin allgemein angenommen wurde, dass es eine Konkurrenz um Ressourcen und ein folgendes Selektionsgeschehen gebe, so war bei Darwin und seinen ersten Nachfolgern nicht wirklich klar, was genau hier miteinander konkurriert. Sind es Individuen oder Arten? Und setzte sich etwas durch, weil es dem Einzelwesen oder weil es der Art nützt, wie es bei Konrad Lorenz heißt, etwa wenn er argumentiert, Wölfe hätten Hemmungen, sich gegenseitig zu töten? Diese angeborene Tötungshemmung sei eine Anpassung, so Lorenz, weil die Wölfe als Art sonst ausgestorben wären, denn sie hätten sich schlicht selbst zerfleischt. Lorenz stellt also die Art ins Zentrum und fragt nach dem evolutionären Nutzen von Eigenschaften für diese. Aber die Soziobiologie zeigt zu recht, dass es so nicht sein kann,

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sondern dass sich ja zunächst eine Eigenschaft innerhalb einer Art durchsetzen muss, bevor sie der Art als ganzer nützen kann. Mehr noch, es könne aber auch nicht das Individuum die letzte Selektionseinheit sein, sondern das müssten die Gene sein, die miteinander konkurrieren. Denn sie sind die jeweilige biologische Informationseinheit, die zu einer gewissen Eigenschaft führt – wenn also Eigenschaften im Wettbewerb stehen, dann eigentlich die dahinter stehenden Gene. Diesem Perspektivenwechsel verdankt die Evolutionsbiologie, vor allem die evolutionäre Verhaltensbiologie, weitgehende Einsichten. So gab es ganz neue Bereiche, bei denen tierisches oder menschliches Verhalten plötzlich überzeugend als evolutionäre Anpassungen gedeutet werden konnte. Viele vormals eher rätselhafte Aspekte des Sozialverhaltens, vor allem bei Paarung und Fortpflanzung lassen sich so erklären. Die Soziobiologie hat gezeigt, wie es evolutionär sinnvoll sein kann, Anlagen für bestimmte Strategien der Fortpflanzung zu haben. So ist z.B. für Männer und Frauen auf Grund ihres Geschlechts ein unterschiedliches Fortpflanzungsverhalten vorteilhaft: Für eine Frau hat es grundsätzlich keinen Nutzen, viele Männer zu haben, da sie gleichzeitig nur einmal schwanger sein kann. Daraus folgt, dass es eine günstige Anpassung ist, dazu zu neigen, lieber einen, aber dafür einen verlässlichen Mann zu finden, der sie und die Nachkommen gut versorgt. Es bringt Vorteile, wenn er nicht sofort wegrennt, sondern sich um die Brut kümmert. Anders ist die Strategie des Mannes, wie sie aus seiner physiologischen Struktur folgt. Ein Mann kann fast unbegrenzt viele Kinder gleichzeitig haben oder erwarten, sofern er nur hinreichend viele fortpflanzungswillige Frauen findet. Es ist daher auf Grundlage seiner biologischen Ausstattung vorteilhaft, eine Anlage zur Polygamie zu haben. Derjenige unserer Vorväter, der diese Tendenz zuerst hatte, durfte mit mehr Nachwuchs rechnen und hat sich so entsprechend durchgesetzt. Allerdings zeigt sich hier auch ein tiefer Konflikt zweier sehr unterschiedlicher Anlagen bei beiden Geschlechtern. Die Herausforderung für die Frau ist es daher, den anlagemäßig umherstreifenden Mann zu zähmen. Aber die Anlage erklärt auch, warum manche Frauen so töricht sind, einen Ehemann nach dem Geldbeutel auszusuchen – sie wird leicht von ihrem angelegten Bedürfnis

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gedrängt, einen Partner zu finden, der Sicherheit verspricht. Das ist natürlich alles sehr vereinfacht, denn es darf vor allem nicht vergessen werden, dass biologische Anlagen den Menschen nicht festlegen; sie machen nur „Vorschläge“, wie Hubert Markl das ausdrückte, auch wenn diese Vorschläge uns manchmal etwas bedrängend erscheinen mögen. Und vor allem entschuldigen die Anlagen kein Fehlverhalten, wie man hinzufügen sollte. Keineswegs alles Angelegte ist einfachhin gutzuheißen; oft genug sollte man seinen Neigungen nicht folgen. Als Menschen bleiben wir frei, Anlagen zu folgen oder sie zu überwinden. (Und das gilt auch für Männer.) Andere Bereiche, in denen die Soziobiologie große Erklärungsfortschritte brachte, ist die Selbstlosigkeit, bzw. der biologische Altruismus, der sich da findet, wo ein Lebewesen für andere zurücksteckt. Manche Individuen bei Tieren aber auch Menschen pflanzen sich zum Beispiel nicht fort, sondern opfern sich stattdessen für ihre Verwandten auf. Bei den Bienen legt nur die Königin Eier, während die scheinbar selbstlosen Arbeiterinnen ihr dabei rastlos helfen. Ähnlich leben die Nacktmullen in großen Familien unter der Erde und nur ein Weibchen pflanzt sich fort. Auch beim Menschen gibt es die unverheiratete Tante, die im Hause wohnt und nach Kräften hilft. Die Anlage für einen solchen Altruismus scheint zunächst keine Chance zu haben, sich in der Evolution durchzusetzen, gerade weil sie ihrem Träger keinen Kindersegen bringt. Warum gibt es sie dennoch? Die Soziobiologie argumentiert überzeugend, dass sich das Verhalten auch für den scheinbar selbstlosen Helfer letztlich lohnt und deswegen der Vermehrung seiner Gene dient – denn wenn er nur geringe Aussichten auf eigene Kinder hat, ist es für ihn günstiger, lieber viele Geschwister oder Neffen und Nichten zu fördern, weil diese wegen der Verwandtschaft ja auch seine Gene zu verbreiten beitragen. Er vermehrt sich also indirekt, wie man sagen könnte. Noch kurz sei eine Variante dieser Nach-Darwinschen Verhaltensforschung erwähnt, die so genannte „Evolutionspsychologie“. Hier wird untersucht, ob man zu bestimmten psychischen Leistungen Anlagen besitzt, die vor allem unter den Selektionsbedingungen unserer frühen Vorfahren als vorteilhaft ausgelesen wurden. Für den Steinzeitmenschen war es etwa vor-

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teilhaft, Süßes zu mögen und Angst vor Schlangen zu haben, weswegen wir diese Urteile tief in uns angelegt haben, obgleich uns die Lust an der Schokolade dick macht und wir vielleicht niemals einer Schlange begegnen. Die Grundidee der Evolutionspsychologie ist dabei, dass unser Geist kein allgemeines Vermögen ist, sondern aus spezialisierten Denk- und Gefühlsanlagen zusammengesetzt wird, die den einzelnen befähigen, bestimmte Probleme effizient zu lösen. Zu diesen Anlagen gehören auch wertende, gleichsam moralische Urteile, etwa dass Inzest zutiefst abzulehnen ist – weswegen bei uns schon die Vorstellung einer Geschlechtsakts zwischen Geschwistern in der Regel Empörung hervorruft. Schauen wir noch auf eine ganz andere Weise, in der evolutionäre Erklärungen dem Menschen auf den Leib rücken – oder eigentlich gerade nicht auf den „Leib“, sondern in die luftigeren Gefilde des Menschen erklärend vordringen, die nicht mehr leiblich sind, nämlich in seine Kultur. Es gibt evolutionäre Erklärungen für kulturelle Entwicklungen unabhängig von jeder biologischen Grundlage. Gerade diese weit reichenden Erklärungen zeigen, wieso Darwin eine solch ungeheure Wirkung entfalten konnte, die kaum einer anderen naturwissenschaftlichen Einsicht zuteil geworden ist. Um diese evolutionären Erklärungen der Kultur deutlich zu machen, müssen wir kurz auf die „Substratneutralität“ der Evolutionstheorie schauen, wie Daniel Dennett das genannt hat. Ganz allgemein sagt die Evolutionstheorie, dass dann, wenn es Entitäten, also Dinge, Etwas, gibt, die sich vermehren und von begrenzten Ressourcen abhängen, und wenn deren Vermehrungsrate zu hoch ist für die vorhandenen Ressourcen, es zu einem Konkurrenzgeschehen kommen wird, an dessen Ende das Individuum oder die Einheit überlebt, die mit ihren Eigenschaften die Ressourcen am besten nutzen kann. Das klingt technisch kompliziert, aber die Pointe ist einfach: Man kann den Selektionsmechanismus letztlich ohne Bezug auf Lebewesen formulieren. Denn die Evolutionstheorie ist übertragbar auf andere „Substrate“, also Entwicklungsprozesse nicht-biologischer Dinge. Wann immer es zu einem Konkurrenzgeschehen zwischen Dingen kommt, die sich irgendwie vermehren, wird der Erfolg davon abhängen, welche Eigenschaften sie haben. Es wird sich

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dasjenige durchsetzen, das am besten die jeweiligen Ressourcen nutzen kann. Ein Beispiel, das schon Darwin diskutiert, ist die Sprache. Hier gibt es gleichsam eine Konkurrenz der Wörter um die Ressource Sprecher. Denn wir können ja alle nur eine begrenzte Zeit sprechen und nur eine begrenzte Menge Wörter kennen und gebrauchen. Das heißt, wir selektionieren irgendwie unter allen möglichen Worten und wählen, bewusst oder unbewusst, nur wenige, die wir tatsächlich verwenden. Die Worte, die niemand gebraucht, verschwinden und werden irgendwann vergessen; sie sterben aus. Welche Worte Menschen benutzen, hängt von sehr verschiedenen Dingen ab. Unter anderem davon, wie gut man sich die Worte merken kann und wie gut sie über die Zunge gehen. So ist das an sich wunderschöne Wort „Kinematographentheater“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts wohl deswegen unterdessen verschwunden, weil man es kaum ohne zu stolpern aussprechen kann und „Kino“ einfacher und praktischer ist. Die schiere Komplexität kann also für ein Wort und seine Verbreitung ungünstig sein. Wichtig sind auch Moden, also ob die Worte „in“ sind und man durch den Gebrauch soziale Akzeptanz findet. Früher war etwa „super“ ein Lob, heute sagt man „fett“ oder „krass“; nur in Berlin immer noch „schnieke“. Diese Entwicklungen lassen sich mit evolutionärer Logik beschreiben: Wörter „vermehren“ sich dadurch, dass andere sie aufgreifen, erinnern und ebenfalls gebrauchen. Und sie werden ausselektioniert, wenn sie die falschen Eigenschaften haben. Dann sterben sie aus wie weiland das schöne Wort „weiland“. Falsche Eigenschaften sind alle, die für ihren Gebrauch im kulturellen Selektionskontext ungünstig sind – etwa wenn sie wie das Wort „Schallplatte“ auf Dinge verweisen, die es so bald nicht mehr gibt. Die Evolutionstheorie ist übertragbar auf Sprachen, deswegen gibt es auch eine evolutionäre Linguistik. Aber nicht nur, sie kann auch auf die Entwicklung von vielen anderen Kulturphänomenen angewandt werden. Der Erfolg religiöser Gemeinschaften ist ein anderes Beispiel; er hängt nicht nur von deren Bejahung von Familien und Kindersegen ab, sondern auch von der Strenge ihrer Gebote und ihrem Zusammenhalt. Strengere Gemeinschaften scheinen überlebensfähiger als liberalere, wohl weil Gruppenmitglieder weniger häufig abdriften. Aber auch bei der Technikentwicklung, den sich wandelnden Kunststilen oder

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den Moden einer Zeit – bei all dem kann man versuchen, das Geschehen mit dem Prinzip der Natürlichen Selektion zu erfassen.

III. Der philosophische Anspruch evolutionärer Deutungen

Damit kommen wir zur Frage, warum der evolutionäre Erklärungsanspruch eine philosophische Relevanz hat. Die kurze Antwort ist: Weil er eine Deutung von Mensch und Welt vorlegt, die im Grunde das Erbe der Philosophie antreten könnte, da sie die zentralen Eigentümlichkeiten einer philosophischen Reflexion und Selbstvergewisserung des Menschen betreffen. Für die etwas ausführlichere Antwort müssen wir nun zunächst fragen, was Kennzeichen der Philosophie als Form menschlichen Nachdenkens sind. Erstens ist da festzustellen, dass die Philosophie klassischerweise einen Universalitätsanspruch bzw. sogar einen universalen meta-theoretischen Anspruch erhebt. Das alte Anliegen der Metaphysik ist, grundlegende Aussagen zu machen, die alle Wirklichkeitsbereiche betreffen – und sie so in den Griff und auf den Begriff zu bekommen. Das steht im Kontrast zu den anderen Wissenschaften, die nur ein Teilgebiet der Wirklichkeit als Gegenstand haben. So gibt es eine Kunstwissenschaft und eine Philosophie der Kunst – neben einer Rechtsphilosophie, Sozialphilosophie, Wissenschaftsphilosophie und so weiter. Dabei reflektiert die Philosophie nicht nur über all die Teilgebiete anderer Wissenschaften, sondern zugleich über diese Wissenschaften selbst: Gegenstand der Philosophie der Kunst ist die Kunst selbst wie die Kunstwissenschaft. Auf diese Weise umfasst das philosophische Nachdenken die ganze Wirklichkeit einschließlich unseres wissenschaftlichen Erkundens der Wirklichkeit, so dass sie nicht nur die universale Architektur ergründen will, sondern auch eine Art Meta-Wissenschaft aller anderen Wissenschaften sein möchte. Daraus folgt bereits, dass die Philosophie, zweitens, eine reflexive Wissenschaft ist. Was heißt das? Die Philosophie erklärt nicht nur ein Phänomen, sondern sie erklärt das Erklären selbst. Sie versucht zumindest, es zu erklären, indem sie reflektiert über das Reflektieren. Kant, der große Denker am Anfang der modernen Philosophie, schrieb Kritiken der Vernunft, in denen er ausloten wollte, was wir erkennen können und was nicht.

Der Mensch und die Evolution | Christian Illies

Die Philosophie ist drittens verbunden mit Geltungsansprüchen. Während andere Wissenschaften beschreiben, wie sich die Dinge verhalten, versucht die Philosophie auch zu begründen, wie die Dinge sein sollen oder wie wir uns verhalten sollen. Das wird vor allem in der Ethik, aber auch der Ästhetik deutlich, bei denen Werturteile eine zentrale Rolle spielen. Andere Wissenschaften sind nur im indirekten Sinne normativ; die Juristerei etwa beginnt zwar auch mit Vorschriften und Rechten, also normativen Aussagen, aber sie akzeptiert diese, ohne ihre Geltung eigens zu begründen. Wenn sie das tut, wird sie bereits zur Rechtsphilosophie. Das sind drei zentrale Spezifika der Philosophie im Unterschied zu anderen Wissenschaften und es sind gerade diese drei Bereiche, in welche die Evolutionstheorie vordringt und die Philosophie zu verdrängen beginnt. Das ist jedenfalls die letzte Konsequenz der impliziten und explizit gemachten Erklärungsansprüche. Schauen wir auf die drei Spezifika, um diesen Verdrängungsprozess zu sehen: Da wäre zunächst der Universalitätsanspruch bzw. das meta-theoretische Ansinnen. Im Zentrum der Evolutionswissenschaften steht die Natürliche Selektion und damit ein Prinzip, das für alle Wissenschaften, oder fast alle Wissenschaften, eine entscheidende Erklärungsleistung bringen soll. Neben der genannten evolutionären Linguistik gibt es deswegen eine evolutionäre Kosmologie, evolutionäre Mathematik, Ökonomie und Institutionenlehre, aber auch evolutionäre Rechtstheorie, Religionswissenschaft, Medizin und Soziologie, bis hin zu evolutionärer Psychiatrie. Kurz, in fast allen Bereichen wird versucht, mit Natürlicher Selektion Phänomene zu erklären – was durch die Substratneutralität der Theorie möglich ist. So wird das Selektionsprinzip zu einem Meta-Prinzip. Das ist in der Tat ein Universalitätsanspruch, weswegen Daniel Dennett die Natürliche Selektion auch eine „universale Säure“ nennt, die alles auflöst, indem sie alles auf ihre Weise erklärt und auf einen einfachen Mechanismus zurückführt. Auch das zweite Spezifikum philosophischen Denkens, die Reflexivität, wird von der Evolutionstheorie geleistet. Im Unterschied etwa zur Physik, die lange die große Herausforderung für die Philosophie war, ist die Biologie insofern „philosophischer“, als sie das Erkennen selbst zum Gegenstand der Untersuchung

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hat. Sie entwickelt Theorien des Erkennens, fragt also, warum Menschen erkennen, und was es überhaupt heißt, zu erkennen. Konrad Lorenz hat, wie bereits erwähnt, die evolutionäre Erkenntnistheorie begründet und, mehr noch, sie ausdrücklich als eigentliche Nachfolgerin der Kantschen Erkenntniskritik gesehen. Was bei Kant noch als geheimnisvolle Strukturmerkmale unseres Verstandes galt, soll nach Lorenz besser als biologisch vorgegebene Denkmuster verstanden werden. Es gibt darüber hinaus auch Theorien der Evolution von Theorien; ein weiteres Beispiel für die Anwendung der Evolutionstheorie auf nicht-biologischem Gebiet. Steven Toulmin argumentiert, Theorien seien einem Selektionsgeschehen unterworfen und die bestangepasste Theorie setze sich schließlich durch. Auf den verschiedenen Ebenen wird so von Evolutionstheoretikern über Reflexion reflektiert – und der Anspruch erhoben, das Erkennen nun endlich richtig, da evolutionär erklären zu können. Drittens und letztens ist der Bereich der Geltungsansprüche zu nennen. Es gibt hier – vereinfacht gesagt – zwei Varianten, wie die Evolutionstheorie mit solchen Ansprüchen umgeht. Das eine ist die naturalistische Reduktion und das andere ist der Versuch, eine eigene Ethik zu begründen. Bei der Reduktion soll gezeigt werden, dass das, was wir Moral nennen, ebenso wie die Geltungsansprüche, die wir erheben, letztlich nur funktionale Anpassungen sind. Die Moral wird als besonders erfolgreiche Strategie des Verhaltens beschrieben, die unseren Vorfahren Überlebensvorteile gebracht hat. So werden Geltungsansprüche erklärt und in die Evolutionstheorie integriert. Daneben gibt es die Evolutionäre Ethik, das heißt den Versuch, auf Grundlage der Evolutionstheorie selbst ein Moralsystem zu entwickeln. Hier wird das ureigenste Geschäft der philosophischen Ethik im naturwissenschaftlichen Gewande fortgeführt. (Dies Vorhaben scheitert aber an dem naturalistischen Fehlschluss, den man begeht, wenn man versucht, aus der Erklärung abgelaufener Entwicklungen zu folgern, warum wir uns in bestimmter Weise verhalten sollten.) In allen drei Bereichen beginnt so die Evolutionstheorie die Rolle der großen Erklärerin zu übernehmen. Sie strebt an, die umfassende Selbstvergewisserung des Menschen in die Hand zu nehmen. Und die Evolutionstheorie will es mit besseren Mitteln

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leisten als die Philosophie, nicht zuletzt weil sie sich auf das große Paradigma des Erklärens der modernen Naturwissenschaften beruft. Wie soll die Philosophie auf diese Herausforderung reagieren?

IV. Anthropologische Grundmodelle, ihre Stärken und Schwächen

Gottfried Benn war sicher einer der schärfsten und sensibelsten Diagnostiker der Bedeutung, die naturwissenschaftlichen Erklärungen für das menschliche Selbstverständnis zukommt. In einem Gedicht unter dem bezeichnenden Titel „Verlorenes Ich“ geht es darum, was uns noch von unserem traditionellen Menschenbild bleibt. „Die Welt zerdacht“, heißt es da, und dann wird gesagt, warum sie das ist: „Und Raum und Zeiten / Und was die Menschheit wob und wog, / Funktion nur von Unendlichkeiten / Die Mythe log“. Mit „was die Menschheit wob und wog“ verweist Benn auf die Kultursphäre („was die Menschheit wob“) und das, was wir wertschätzen („… und wog“) – all das sei nunmehr als bloße „Funktion“ von „Unendlichkeiten“ zu sehen, was wohl heißt: naturwissenschaftlich in funktionalen Abhängigkeiten erklärbar. „Die Mythe log“ ist die resignative Schlussfolgerung: Was der Mensch seit Jahrtausenden in Mythen sich als Selbstvergewisserung erzählt, zeigt sich angesichts dieser neuen, evolutionären Erklärung als ein großer Selbstbetrug. Ist unser traditionelles Selbstverständnis wirklich nicht mehr? Müssen wir Benn folgen? Es gibt sehr unterschiedliche Weisen bzw. Modelle, wie wir im Angesicht des Anspruchs, die Welt „zerdacht“ zu haben, den Menschen interpretieren. Die drei wichtigsten Grundmodelle sollen kurz skizziert werden. Die erste Möglichkeit ist die naturalistische Reduktion. Das heißt letztlich, den Anspruch der Evolutionstheorie, der gerade in seiner Konsequenz skizziert wurde, als letzte Aussage über den Menschen zu akzeptieren. Dann log die Mythe tatsächlich. Es sei an der Zeit, dem Menschen die Masken seines Selbstbetrugs vom Gesicht zu reißen, schreibt etwa Nietzsche. Und im 20. Jahrhundert vertritt einen solchen Reduktionismus neben Dennett Wilfrid Sellars, wenn er schreibt: „Wenn es um die Beschreibung und Erklärung der Welt geht, sind die Naturwissen-

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schaften das Maß aller Dinge.“ Wer zuletzt spricht, spricht am besten – und das wäre dann die Naturwissenschaft, die in diesem Fall mit gutem Recht die Philosophie beerben dürfte. Sollen wir uns damit begnügen? Das Problem dieses Herangehens ist erstens, dass die evolutionstheoretischen Erklärungen für eine Fülle von Phänomenen bisher nur ein uneingelöstes Versprechen sind. Wir haben zwar viele programmatische Erklärungen und Spekulationen, aber sie sind oft umstritten. Und es fehlt an verlässlichen Methoden, die spekulativen Erklärungen zu überprüfen. Wenn wir etwa die unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien von Männern und Frauen betrachten, dann ist die evolutionäre Erklärung dafür zwar plausibel, aber doch keineswegs im strengen Sinne naturwissenschaftlich validiert und begründet. Das wäre erst dort geschehen, wo wir den Weg vom Genom zu einer Neigung oder einem Verhalten zeigen könnten – wovon wir noch weit entfernt sind. Ja, es ist nicht einmal klar, wie man es sich überhaupt vorzustellen sollte, dass Gene Verhalten lenken oder uns Verhaltensvorschläge machen. Neben dem bisher nur programmatischen und spekulativen Charakter vieler evolutionärer Erklärungen kommt zweitens, dass Ergebnisse der Naturwissenschaft selbst immer erklärungsbedürftig, und dass die jeweiligen Interpretationen nicht voraussetzungslos sind. Mit anderen Worten: Eine naturwissenschaftliche Deutung der Welt braucht ihrerseits eine weitere Reflexionsebene, auf der darüber nachgedacht wird, was es eigentlich heißt, eine naturwissenschaftliche Erklärung zu haben, und was diese tatsächlich über ein Phänomen aussagt. Der naturalistische Reduktionismus ergibt sich nicht von selbst aus dem Typ mechanischer Erklärungen moderner Naturwissenschaften, sondern ist seine weltanschauliche Interpretation. Mit dieser Interpretation haben wir aber bereits eine Ebene der Metareflexion jenseits der Wissenschaft erreicht – und das heißt, wir betreiben Philosophie. Inwiefern auch der naturalistische Reduktionismus eine Interpretation ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er viel dogmatisch voraussetzt, ohne es weiter begründen zu können. So wird vom ihm zum Beispiel einfach angenommen, dass naturwissenschaftliche Erklärungen rational, ja das Paradigma des Vernünftigen seien. Aber warum? Was macht eine naturwissenschaftliche Erklärung rational? Auch das ist erstmal

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eine rechtfertigungsbedürftige Interpretation, auch wenn wir gewohnt sind, diese Rationalität so selbstverständlich zu unterstellen, dass uns die Frage merkwürdig anmuten wird. Aber die Annahme ist keineswegs trivial; denn dass wir diese Rationalität selbst in Frage stellen können, zeigt bereits, dass die Naturwissenschaft nicht einfach „das letzte Wort“ haben kann (wie Thomas Nagel es so treffend ausdrückt). Zu argumentieren, dass es vernünftig ist, naturwissenschaftlich bzw. evolutionär die Welt zu analysieren, verlangt eine umfassendere Reflexion über Vernunft, innerhalb derer die Naturwissenschaft dann erst ihren Platz findet. Eine solche Reflexion geht über die Erklärungen der Evolutionären Erkenntnistheorie hinaus, weil sie jeder Naturwissenschaft vorausgeht. Die Naturwissenschaft kann nur zeigen, wie sie mit ihrer Methode zu Ergebnissen kommt, die anhand der von ihr selbst gegebenen Maßstäbe überzeugen. Aber die vorausgesetzten Maßstäbe und damit ihre eigene Vernünftigkeit entziehen sich ihr. Mit anderen Worten: Ein naturalistischer Reduktionismus reduziert zu viel, er reduziert sich den eigenen Boden unter den Füssen weg, da er nicht mehr zeigen kann, auf einem festen, da vernünftigen Grund zu stehen. Theodor Litt spricht in diesem Zusammenhang von einer notwendigen „Selbstaufstufung des Geistes“, die bei der Naturalisierung fehle. Diese Unzulänglichkeit des Reduktionismus, seine eigenen Voraussetzungen reflektierend einzuholen, lässt sich auch im Detail zeigen. So setzt auch der Reduktionismus einen wenigstens minimalen Wahrheitsbegriff voraus. Er beansprucht ja, die richtige Erklärung zu sein. Wenn er aber versucht, den impliziten Wahrheitsbegriff in den Kategorien der evolutionären Erkenntnistheorie zu erfassen, kommt er nicht sehr weit. Im Sinne der evolutionären Erkenntnistheorie ist Wahrheit nur das, was funktional zum Überleben ist. Aber das ist gerade nicht der Sinn, in dem die Evolutionstheorie beansprucht wahr zu sein; sie bzw. die Naturwissenschaften allgemein, behaupten eine richtigere (oder nicht falsifizierte) Erklärung der Wirklichkeit zu liefern – unabhängig davon, inwiefern es funktional ist, diese Erklärung der Wirklichkeit zu haben. Mit anderen Worten, die Evolutionstheorie setzt letztlich einen Wahrheitsbegriff voraus, der stärker ist als der, den sie mit ihren Mitteln einführt. Damit

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zeigt sich die grundsätzliche Grenze des Anspruchs, universale Metatheorie zu sein. Diese Grenze wird damit auch bei der vermeintlichen Reflexivität der Evolutionstheorie deutlich. Sie braucht Kategorien für die Erklärung der Erkenntnis, ohne die sie nicht konsistent und plausibel wäre, die sie aber nicht mit ihren eigenen Mitteln gewinnen kann. Und Vergleichbares lässt sich im dritten Bereich, dem der Geltung zeigen. (Was ich hier nur hinzufügen, aber nicht weiter erklären kann.) All das zeigt, dass das reduktionistische Programm, einschließlich der auf diesem aufgebauten Anthropologie, keine wirklich befriedigende Antwort ist. Eine Alternative dazu, alles auf die Evolutionstheorie zu reduzieren, sind dualistische Anthropologien, das zweite Grundmodell, um den Menschen angesichts der modernen Biologie zu erfassen. Was besagt der Dualismus? Hier wird die Wirklichkeit in zwei Teile geschnitten und man trennt einen Bereich der Natur von einem anderen, etwa Kultur, Geist oder Sprache ab – genauer, man argumentiert, dass es diesen radikalen Schnitt immer schon gibt. Und er ist vollständig: Wir nähern uns konsequenterweise beiden Bereichen mit einer je eigenen Methodik, die sich nicht auf die des anderen Bereichs übertragen lässt. Ja, es ist nicht einmal von einer Wechselwirkung zwischen beiden auszugehen. Obgleich von vielen bekämpft, herrscht ein bestimmter Typ des Dualismus heute insofern vor, als wir im Selbstverständnis vieler Sozial- und Kulturwissenschaftler eine unüberbrückbare Spaltung finden. Die Biologie hat uns nichts Wesentliches zum Menschen zu sagen, so argumentieren viele, und stellen naturwissenschaftliche Erklärungen unter den „Biologismus“-Verdacht. Ein Beispiel für diesen dualistischen Ansatz sind die Gender-Studies. Von vielen Vertreterinnen dieser Forschungsrichtung wird jede biologische und damit transkulturelle Geschlechterdifferenz zurückgewiesen; das Geschlecht bzw. die Geschlechterrolle von Männern und Frauen sei lediglich eine soziokulturelle Konstruktion, hinter der politische Interessen stünden. Biologische Betrachtungen werden als eine davon unabhängige und für die Geschlechterrolle irrelevante Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gesehen – sofern der Biologie überhaupt zugestanden wird, einen Erkenntnisbeitrag zu leisten. (Wenn auch das bestritten wird, ist es eigentlich kein Du-

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alismus mehr, sondern eine Art von kulturwissenschaftlichem Reduktionismus.) Es ist offensichtlich, dass der dualistische Ansatz gewisse Leistungen erbringt, vor allem indem er der menschlichen Sphäre der Kultur oder des Geistes in der Regel eine wesentlich größere Gerechtigkeit widerfahren lässt als der naturalistische Reduktionismus. Auch kann der dualistische Ansatz die Naturwissenschaft als methodisch eigenständigen Bereich anerkennen. Aber das zentrale Problem jedes wirklichen Dualismus ist es, die auf diese Weise radikal zerschnittene Wirklichkeit wieder zusammen zu bringen bzw. als einheitliches Phänomen verständlich zu machen. Nicht einmal eine leichte Verbindung zwischen den Bereichen ist im strengen Dualismus denkbar, da er keine Mittel hat, um ein Einwirken, eine Wechselwirkung oder Einfluss der einen Sphäre auf die andere methodisch in den Griff zu bekommen. All das steht aber im scharfen Widerspruch zu unserem Erleben. Wir sind zugleich ein eigentümliches Tier und ein geistiges, kulturelles, soziales Wesen, das sich als beides zugleich in einer Einheit versteht und dabei Wechselwirkungen der beiden Bereiche beobachtet. Eine Spaltung in zwei unverbindbare Wirklichkeitsbereiche fällt damit hinter das zurück, was bereits die Elfenbeinfigur aus dem Lonetal uns mitteilt, nämlich dass wir uns als ein Wesen beider Welten zugleich erfahren. Diese unüberbrückbare Spaltung versuchen Modelle einer synthetischen Anthropologie zu überwinden, dem dritten Grundmodell, dem wir uns jetzt zuwenden wollen. Die synthetische Anthropologie findet sich etwa paradigmatisch bei Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Was wird hier versucht? Es geht darum, den Menschen als Naturwesen und Kulturwesen gleichermaßen ernst zu nehmen und doch die beiden Perspektiven zusammenzuführen. Das entstehende Bild des Menschen oder der Natur erkennt einerseits an, dass es sich um verschiedene Methoden und Erkenntnisbereiche handelt, sucht aber nach Wegen, diese zusammen zu denken und in einer übergeordneten Einheit aufzuheben. Schon Jahrzehnte vor Darwins großem Werk deutet Herder die Entwicklung des Menschen als eine Evolution, die als Bewegung durch die Natur geht und zum Menschen führt. Dabei will er mit zum Teil falschen, aber zum Teil auch ganz überzeugenden Argumenten

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zeigen, warum die Natur dieses der Humanität fähige Wesen hervorgebracht hat. So schreibt er etwa, dass die Fülle widerstreitender Individuen in der Natur die Ursache dafür gewesen sei, dass letztlich so etwas wie Geist entstehen konnte, denn gerade aus einem solchen Widerstreit sei eine Selbstreflexion erwachsen. Das wird bei Herder poetisch ausgedrückt, aber im Grunde ist es schon der Darwinsche Gedanke: Aus Konkurrenzgeschehen tritt das Neue hervor, das aber als ein ganz eigenes, ja das eigentliche Ziel dieser Entwicklung verstanden wird. Das ist ein Beispiel für eine synthetische Anthropologie, denn die Eigenständigkeit der Bereiche wird anerkannt und zugleich stehen sie in einer tiefen Beziehung zueinander, indem der Geist aus der Natur hervorgeht. Solche synthetischen Anthropologien wurden später vor allem von den drei bekannten Urvätern der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts entwickelt. Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen arbeiteten, bei allen Unterschieden im Detail, doch an dem Projekt einer synthetischen Betrachtungsweise. Es geht bei ihnen um das Zusammenführen der Naturwissenschaften mit Grundmomenten des traditionellen Menschenbildes. Die leibliche Struktur des Menschen wie seine evolutionäre Stellung, wie sie die modernen Biologie erklärt, werden als Voraussetzungen dafür gedeutet, dass der Mensch in eine eigenständige Geist- und Kultursphäre vordringt. Es spricht viel dafür, diese synthetische Betrachtungsweise auch heute einzunehmen, wenn wir uns als Menschen unserer Natur wie unserer Geistigkeit versichern wollen.

V. Aufgaben einer philosophischen Selbstvergewisserung im biologischen Zeitalter

Wenn wir davon ausgehen, dass sowohl der Naturalismus, als auch der Dualismus scheitern, und wenn wir daran festhalten, dass ein Zusammendenken der Natur und des Geistes ein Ideal bleibt, von dem wir nicht lassen sollten, so müssen wir um einen Begriff des Menschen ringen, der beides verbinden kann – also um eine synthetische Anthropologie. Zweifellos ist eine solche verbindende Selbstdeutung des Menschen seit den Tagen der klassischen Vertreter einer philosophischen Anthropologie nicht

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einfacher geworden; vor allem die Fülle neuer und weit reichender Einsichten der Evolutionswissenschaften erschwert ein solches Vorhaben. Aber doch muss versucht werden, da dualistische Ansätze ebenso wie beide Einseitigkeiten der menschlichen Selbstvergewisserung, nämlich die reduktionistische Ausblendung der Sphäre des Geistes und der Kultur ebenso wie die kulturalistische Zurückweisung jeder naturwissenschaftlichen Erkenntnis, Grenzen haben und damit nicht überzeugen können. Eine synthetische Anthropologie wird daher etwa über den Dualismus von Gender- und Geschlechtsperspektive hinausgehen. Sie wird einerseits von den Gender-Studies lernen können, dass wir Freiheitsspielräume haben in unserem geschlechtlichen Selbstverständnis, aber andererseits von der evolutionswissenschaftlichen Herangehensweise, welche Grenzen und Voraussetzungen, etwa durch Tendenzen und Neigungen, diese Freiheit hat. Und sie wird von der Biologie auch lernen müssen, dass geschlechtliche Rollen stets Teil eines Bezugssystems sind, also ein Wechselspiel zwischen den Geschlechtern konstituiert, das in einer Balance sein muss, wenn es funktional sein will, das heißt langfristig bestehen können soll. Die synthetische Anthropologie wird so einen Begriff des menschlichen Geschlechts entwickeln, der zwischen Vorgegebenem und Selbstbestimmten vermittelt. Oder schauen wir auf das zuvor genannte Beispiel der Wahrheit. Wie kann man hier mit einer synthetischen Betrachtungsweise weiter kommen als nur zu der Grenze, die die Evolutionstheorie vorfand? Evolutionär gesehen ist Wahrheit Funktionalität. Sehr vereinfacht: In dem Evolutionsgeschehen ist die wahre Erkenntnis die, welche Vorteile bringt. Sie kennen alle den Satz „Lügen haben kurze Beine“. Wer gelogen hat, der muss sich immer neue Lügen ausdenken, um die erste zu stützen und verfängt sich in einem unglaubwürdigen Spinnennetz der Unwahrheit. Der Vorteil der Wahrheit ist dagegen, effizient und funktional zu sein; denn sie ist mit allen Tatsachen kompatibel. Nun ist der klassische Wahrheitsbegriff der Philosophie dagegen weitgehend unabhängig von der Frage nach einer möglichen Funktionalität des Wahren, er ist ein reiner Geltungsbegriff. „Wahr“ ist hier das, was mit der Wirklichkeit korrespondiert oder in

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anderer Weise seinen Anspruch geltend machen kann. Eine synthetische Perspektive muss beide Analysen zusammenführen: Es erscheint einerseits berechtigt, nach der Funktionalität von Wahrheit zu fragen, andererseits nach dem, was Wahrheit zu diesem besonderen Ideal des Erkennens macht. Und beides kann sich ergänzen, etwa wenn wir sehen, wie es zu diesem Ideal gehört, funktional, und das heißt: wirksam zu sein. Wahrheit ist dann nicht mehr als bloße Richtigkeit, sondern auch als eine gestaltende Kraft verstanden. Für die synthetische Anthropologie bedeutet das, den Mensch als wahrheitsfähiges Wesen so zu verstehen, dass er einerseits auf diese Weise an einer die Wirklichkeit gestaltenden Geltungssphäre teilhat, andererseits es in der Logik der Natürlichen Selektion liegt, diese Fähigkeit als besondere Anpassung zu besitzen. Damit ist eine Doppelinterpretation möglich: Wahrheitsfähigkeit ist ein „Produkt“ der Natur, und zugleich ist die Natur ein „Mittel“ der als wirkend gedeuteten Wahrheit, welche ihre eigenen Voraussetzungen (die Wahrheitsfähigkeit des Vernunftwesens Mensch) im evolutionären Entwicklungslauf durchsetzt. Wie ist eine solche synthetische Perspektive überhaupt möglich? Letztlich wohl nur, wenn man ein verbindendes Drittes bedenkt, also etwas voraussetzt, was erklärt, warum diese zwei Bereiche zusammen kommen können. Dafür finden sich in der Philosophiegeschichte zwei Grundoptionen: Einerseits den Weg Schopenhauers, andererseits Hegels Vorgehen. Bei Schopenhauer ist es eine letztlich irrationale, oder jedenfalls a-rationale Wirklichkeit, der so genannte Wille, der sich in diesen beiden Bereichen entfaltet. Bei Hegel dagegen ist das Dritte etwas Vernunftartiges, das sich in der Natur und im Geist oder der Kulturwelt verwirklicht. Von den zwei Möglichkeiten ist die Hegelsche sicher vielversprechender, denn ein dem Ganzen zugrunde liegender Vernunftbegriff ist plausibler, wenn es darum geht, eine Verbindung zwischen zwei rational zugänglichen, wenn auch in ihrer Eigenart unterschiedlichen Bereichen herzustellen. Bei einem a-rationalen Dritten bliebe dagegen völlig dunkel, wie es je der Grund für eine so geordnete Wirklichkeit sein könnte, die sich sogar in dem einen Bereich, dem der Natur, in mathematischen Regelmäßigkeiten erfassen lässt. Ein solches Drittes anzunehmen, das den Menschen mit seinen beiden Aspekten

Der Mensch und die Evolution | Christian Illies

umfasst, ist aber bereits eine metaphysische Spekulation. Das Dritte ist ja nicht mehr rein physisch fassbar, sondern konstituiert überhaupt erst das Physische. Deswegen wird eine synthetische Anthropologie, die die Bereiche zusammenführt, metaphysische Überlegungen einschließen müssen, da sie eine Selbstverortung des Menschen in einem umfassenden Bild der Gesamtwirklichkeit versucht. Dabei wird das Zusammendenken dann auch zu normativen Überlegungen überleiten müssen. Denn die Frage, wie wir uns als ein Wesen in der Gesamtwirklichkeit denken sollen, ist eine Deutung und zugleich eine Bewertung. Denn Bewertungen vorzunehmen, ist für uns Menschen unhintergehbar: Wir stehen ständig vor Entscheidungen, die wir dadurch fällen, dass wir einer Handlungsoption den Vorrang geben, sie also als die wählen, welche wert ist, umgesetzt zu werden. Selbst wer diese Wertung bestreiten wollte, kann das nur in einem Akt des Widerspruchs tun, der selbst wieder das Bestrittene bestätigt. Denn er hat damit ausgedrückt, dass ihm die Handlungsoption „Widerspruch einlegen!“ werthaft genug war, um sie zu wählen. Solch ein unhintergehbar normatives Moment unseres Selbstverständnisses wird eine synthetische Anthropologie nicht ausklammern dürfen, wenn sie ein wirklich umfassendes Bild des Menschen gewinnen will. Eine Selbstvergewisserung ist daher nicht nur eine Selbstverortung, ein Wo stehen wir?, sondern immer auch ein: Wo wollen oder sollen wir stehen? Die Integration der Evolutionstheorie bleibt für die Selbstvergewisserung des Menschen eine fundamentale, große Aufgabe. Sie zwingt zu einem stets neuen Nachdenken über den Menschen, und über die Weise, wie er seine verschiedenen Momente zusammen-denken kann. Die Aufgabe ist nicht leicht und wir sind noch weit davon entfernt, sie lösen zu können. Aber wir können bereits jetzt drei programmatische Forderungen für eine überzeugende Lösung aufstellen: Es wird zunächst darauf ankommen, die Naturwissenschaften ernst zu nehmen und von ihnen zu lernen. Die Biologie kann uns eine Fülle von Einsichten über Spielräume und Grenzen des Menschen geben, über Bahnen oder Bahnungen, über Programme oder Offenheiten, die wir haben. Und die weitere Anwendung der Evolutionstheorie zeigt zugleich Möglichkei-

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ten, sogar Kulturentwicklungen mit ihren Mitteln zu erklären. Die Aufgabe ist aber nur zu lösen, wenn wir zugleich von den Kultur- und Geisteswissenschaften über die Freiheitsräume des Menschen und die Eigenlogik der anderen Bereiche lernen, und damit über Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der durch Natürliche Selektion gegebenen Spielräume. Diese Synthese wird zweitens metaphysisch sein, oder wenigstens Fragen nach den Grundstrukturen der Wirklichkeit berühren müssen, da sie die Grenzen des naturwissenschaftlich Erklärbaren übersteigen. Es geht darum, den Mensch und sein Erkennen in ein Gesamtbild der Wirklichkeit einzuordnen, in der Natur und Geist ihren Platz haben. Und drittens gilt es, von der philosophischen Tradition zu lernen, dass diese Selbstvergewisserung immer auch eine normative Aufgabe ist, bei der gefragt werden muss, was sein soll. Der Mensch ist nicht nur das aufrecht stehende Tier. Schon der Löwenmensch ist so geschnitzt, als mache er einen Schritt nach vorne – die große Aufgabe der Selbstvergewisserung wird auch im biologischen Zeitalter sein zu klären, welche Wege wir beschreiten wollen.

Der Mensch und die Kultur Birgit Recki

Manchmal fügt es sich, wie im vorliegenden Falle, dass der beste Weg zu Thema und These eines Beitrags über die Reflexion auf einen vorgegebenen Titel führt. Der Titel des Aufsatzes, der sich aus dem Gesamtplan einer Vortragsreihe ergibt, ist extrem kommentarbedürftig; er leistet einem Missverständnis Vorschub, dessen Auflösung aber bereits zu einer entscheidenden Einsicht verhilft. „Der Mensch und die Kultur“ legt in der schlichten Nebenordnung zweier Relata durch die Konjunktion „und“ das additive Verhältnis seiner beiden Grundbegriffe „Mensch“ und „Kultur“ nahe. Die erste Variante des Missverständnisses ist die Suggestion von systematischer Gleichrangigkeit und Selbstständigkeit – so als gäbe es beides unabhängig voneinander, hier den Menschen und dort die Kultur; und die Frage wäre dann, wie das eine zum anderen kommt. Da wir aber vor aller philosophischen Überlegung bereits wissen, dass im Unterschied zur Natur alle Kultur Menschenwerk ist, scheint der Titel auch die Lizenz zu enthalten, sich (zweite Variante des Missverständnisses) die Geschichte so vorzustellen, dass der Mensch bereits eine Weile in der Welt gewesen wäre, als dann irgendwann die Kultur hinzutrat, womöglich: eingeführt wurde. Beide Vorstellungen führen in die Irre. Dies zu erläutern, bedeutet einen philosophisch reflektierten Begriff der Kultur wie des Menschen und damit deren Verhältnisbestimmung zu entwickeln. Zugleich ist so der Begriff von Anthropologie als Kulturphilosophie zu explizieren.1 1

Siehe B. Recki, Art. „Kulturphilosophie“, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Band 2 (O–Z), zweite, verbesserte Auflage Hamburg 2010; dies., Das Tier, das aus sich selber etwas macht, in: Was ist der Mensch?, hg. von D. Ganten/V. Gerhardt/J.Ch. Heilinger/J. Nida-Rümelin, Berlin/New York 2008, 209–211; dies., Kultur, in: Ch.

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In philosophischen Reflexionen, das heißt immer: in der Vergewisserung des Allgemeinheitsanspruchs unserer Begriffe und ihres Geltungsanspruchs für uns, verstehen wir unter Kultur nicht allein das, was der Kulturteil der Zeitung behandelt und was an einer Stadt gewürdigt und gefördert wird, wenn sie zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wird – ja nicht einmal nur das, was die Kulturschaffenden in ganz Europa oder in der ganzen Welt verbindet: wir verstehen unter Kultur nicht bloß partikular den spezifischen Bereich der Artikulation verfeinerter geistiger, vorwiegend ästhetischer Ansprüche auf Kreativität, Kommunikation und Unterhaltung, die sich in den hochkulturellen Medien und künstlerischen Spitzenprodukten vergegenständlichen. Wir meinen vielmehr im Begriff der Kultur immer auch die grundlegende, in alle Tätigkeiten der Menschen ausdifferenzierte Funktion der produktiven Lebensgestaltung: alles das, was der Mensch als tätiges Wesen aus den vorgefundenen Verhältnissen und dabei zugleich aus sich selber macht. Die exponierten Produkte, die wir in dem spezifischen Kulturbegriff ansprechen, sind dafür exemplarisch. Wenn wir Kulturphilosophie betreiben, dann liegt dieses umfassende, generalisierende Verständnis von Kultur als Generalmedium menschlichen Lebens zugrunde – der Kollektivsingular Kultur. Die Kulturphilosophie ist dem entsprechend keine differenzierende Bindestrich-Disziplin, die es nur mit den feinsinnigen und hochgeistigen Aktivitäten und Erzeugnissen der Hochkultur zu tun hat; Kulturphilosophie ist recht verstanden ein synonymer Ausdruck für philosophische Anthropologie, die, seitdem es sie gibt, die Frage behandelt: „Was ist der Mensch?“2 Die philosophischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts konstituieren sich als Kulturphilosophie, und sie bezeichnen sich selber auch häufig so. Sie setzen damit nur ihre wichtigste Einsicht wie eine vor aller diskursiven Abhandlung verratene Pointe in den Titel ihrer Disziplin: Der Mensch ist das Wesen, das von seiner

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Bermes/U. Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts: Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 6, Hamburg 2010, 173–187. Immanuel Kant sieht die drei das Selbstverständnis eines endlichen Vernunftwesens spezifizierenden Fragen „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen?“ zusammengefasst in der Frage „Was ist der Mensch?“ (Logik (1800), in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. IX, 25 (A 26)) und charakterisiert damit sein eigenes Unternehmen einer Vernunftkritik als das einer rationalen Anthropologie.

Der Mensch und die Kultur | Birgit Recki

Konstitution gar nicht anders kann, als aus den vorgefundenen Verhältnissen und dabei aus sich selber etwas zu machen. Der Mensch ist das kulturelle Wesen; das Wesen, das von Natur aus Kultur hat. Nehmen wir diese Einsicht: „Kulturphilosophie = philosophische Anthropologie“ zum Leitfaden, dann haben wir programmatisch umrissen, dass wir uns das Verhältnis des Menschen zur Kultur kaum eng genug vorstellen können. Das Verhältnis von Mensch und Kultur in diesem umfänglichen Sinne ist nicht angemessen dargestellt in der Metapher, die man manchmal als Kommentar zu unsublimiertem Interessendenken oder unbeherrschten Affektausbrüchen zu hören bekommt: dass bei einem Menschen die Kultur nur eine ganz dünne Politur ausmache; auch nicht am Modell eines sorgfältig geschminkten Gesichtes, von dem man nur das Make-up wieder wegwischen muss, um das naturbelassene Gesicht zum Vorschein zu bringen. Die Kultur liegt nicht gleich einer Schicht – einer Schicht von Firnis oder Politur oder Schminke – auf dem Menschen, ebenso wenig wie sie an den Dingen als eine Art von Schnörkel auf deren natürliche Materialgestalt aufgebracht wäre und wieder entfernt werden könnte. Die Gestaltung, als deren Inbegriff Kultur verstanden werden muss, besagt im Gegenteil eine denkbar innige Durchdringung, bei der man Materie und Form nur als Momente einer analytischen Unterscheidung auseinanderhalten kann. Wir denken uns die Kultur nach dem Modell des Ackerbaus, das wir mit dem lateinischen Ursprungswort cultura (Ackerbau) und dem Verb colere (drehen, wenden, anbauen, bebauen) übernehmen: wie der Bauer die Erde bearbeitet, um einen Acker daraus zu machen. Das Schema der Entgegensetzung von physis und thesis als dessen, was von sich aus gewachsen ist im Unterschied zu dem, was menschlicher Norm gehorcht – der entsprechende Gegensatz von gegeben und gemacht kann hier zur Erläuterung herangezogen werden. So wie die Scholle demnach von Natur aus da ist und das Material der Bearbeitung abgibt, so in jedem Falle das Material, das der Mensch bearbeitet und daraus eine Welt der Dinge schafft. Doch der Mensch stellt in der Bearbeitung die Dinge nicht allein dadurch her, dass er dem Material eine Form gibt. Er tut dies auf eine durchdringende Weise, in der auch das Material nicht das bleibt, was

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es zuvor war. Schon von der Erde zum Acker hat das Material eine Formverwandlung durchgemacht, die ihm nicht äußerlich bleibt, und „beim nächsten Mal“ ist es bereits der beackerte und abgeerntete, der kultivierte Acker, der wieder und weiter bearbeitet wird. Vor allem aber: Der Mensch verändert sich in solcher produktiven Gestaltung auch selber. Er gewöhnt sich auf der einen Seite an die aufwändigen Mühen der Arbeit, die sich als zunehmend elaborierte Fähigkeiten, Fertigkeiten, Methoden und Techniken habitualisieren; er schafft sich auf der anderen Seite in der Herstellung dauerhafter Dinge seine Welt, in der er sich orientiert und deren selbstgemachte Gegebenheiten er fortan – und ein ums andere Mal auf einem neuen Bearbeitungsniveau – zum Ausgangspunkt nimmt wie jedes von Natur gegebene Material, und auf dessen elaborierte Bedingungen er sich fortan einstellt. Der Mensch kultiviert sich selber, indem er die Kultur als seine Welt schafft. Indem er aus dem vorgefundenen Material etwas macht, entwickelt er es weiter und macht etwas aus sich selber. Von daher kann verständlich werden, dass wir geltend machen: Wir haben es in Mensch und Kultur nicht mit zwei getrennten Entitäten zu tun, von denen wir uns zu fragen hätten: wie kommt die eine zur anderen? Wo die eine ist, da ist die andere immer schon mitgedacht. Die Einsicht, dass es Kultur als die aus der menschlichen Werkproduktivität entspringende Welt nicht ohne den Menschen geben kann, dürfte uns dabei geläufiger sein als der komplementäre Gedanke, dass dort, wo überhaupt der Mensch ist, immer auch schon Kultur sein muss. Doch haben wir uns das Verhältnis von Mensch und Kultur als ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis vorzustellen. Machen wir die Probe auf diesen tragenden Gedanken im Experiment einer Extremkonstruktion: Denken wir uns Menschen, und ziehen wir so konsequent wie möglich alles Kulturelle, alles Kultivierte von ihnen ab. Die Frage lautet dann: Ist das, was da mutmaßlich übrig bleibt, noch das, was wir uns unter einem Menschen vorstellen? Anders gefragt: Ist es überhaupt möglich, dieses Experiment konsequent durchzuführen? Wir denken uns nach unserer Versuchsanordnung den Menschen Schritt für Schritt so, dass er nicht über Maschinen, über Werkzeuge und Waffen, nicht über Gefäße, ja nicht einmal über den Gebrauch

Der Mensch und die Kultur | Birgit Recki

des Feuers verfügte.3 Dieser Mensch hätte natürlich keine Bauten; keine Bilder an den Wänden seiner Höhlen (wäre er überhaupt auf die Idee gekommen, in Höhlen zu ziehen?); keine Statuen; keine Bücher und Schriftrollen oder Schriftstelen; keine methodisch erzeugten Wohlklänge; keine Heiligtümer; keine Zeremonien zur Verehrung von Göttern, Helden und Ahnen; keine Rituale, in denen der Übergang zwischen Leben und Tod markiert würde; keine Formen verbindlicher Regelungen seiner Beziehungen von der Ehe bis zum Eigentum; keine Formen der Weitergabe seines Wissens; keine Strukturen der praktischen Vorsorge. Nicht zuletzt müsste dieser Mensch darauf verzichten, sich zu kleiden, zu schmücken, sein Haar und seine Fingernägel in Form zu bringen. Wenn wir beim imaginären Anblick dieses radikal enteigneten und entblößten Menschen nicht gleich in Tränen ausbrechen wollen, dann müssen wir mindestens die Möglichkeit haben, ironisch zu werden. Und da fragen wir: Müssten wir nicht diesem armen Menschen immerhin noch die Möglichkeit lassen, seine Situation zu kommentieren und zu sagen: „Ziemlich öde hier!“? Damit aber hätten wir ihn zum Glück doch wieder so, wie seine Natur ihn schuf: als kulturelles Wesen. Denn er wäre zumindest ein Wesen, das Sprache hat, um sich zu artikulieren. Und schon ist die Kultur mit einem Schlage da. Solche ironische Verfremdung ist natürlich ihrerseits eine Kulturtechnik, mit der sich – ebenso wie mit der performance eines undurchführbaren Gedankenexperimentes – für die Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Kultur werben lässt: Es hat bereits etwas zu bedeuten, dass wir uns einen menschlichen Zustand jenseits aller Kultur schlechterdings nicht denken können. Gedankenexperimente, insbesondere Extremkonstruktionen, sind häufig prätentiös und problematisch. Aber unser Experiment kann uns zumindest eine Ahnung davon verschaffen, dass es mit unüberwindlichen Problemen behaftet ist, sämtliche kulturellen Errungenschaften vom Menschen abzuziehen und dann doch noch zu behaupten, was wir zurückbehalten, wäre der Mensch. Es belehrt uns so darüber, wie wir über uns selber zu denken haben, wenn wir konsequent bleiben wollen: Wir stellen 3

Siehe dazu den gut informierten Film Am Anfang war das Feuer von Jean Jacques Annaud.

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uns den Menschen schlechterdings nicht gleichsam nackt und bloß und roh vor, sondern immer schon im Kontext der Kultur.4 Wenn wir daraufhin genauer zu sagen versuchen, wie das zu verstehen ist, sei der summarische Hinweis vorangeschickt, dass die philosophischen Anthropologien des 20. Jahrhunderts (Max Scheler, Georg Simmel, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Cassirer und andere) sich einig sind in der Bestimmung des Menschen als eines Wesens, das von Natur aus Kultur hat.5 Exemplarisch ist dies darzustellen im Rekurs auf zwei Denker: auf einen, den wir schon seit längerem zu den Klassikern der Anthropologie als Kulturphilosophie rechnen und auf einen weiteren, von dem wir dies erst seit ganz kurzem mit Sicherheit sagen können.

I. Ernst Cassirer: Der Mensch als animal symbolicum

Der erste Kronzeuge der These von der Kulturphilosophie als Anthropologie ist Ernst Cassirer (1874–1945), der in seinem großen Systementwurf den Menschen als Ursprung und als Produkt der Kultur begreifen will. Es gibt einen Bericht von einem Abend im Hamburger Institut für Umweltforschung in den späten zwanziger Jahren, an dem der Leiter des Instituts, der Verhaltensbiologe Johann Jakob von Uexküll einen Vortrag über Das Duftfeld des Hundes gehalten hatte: Das Thema des Beitrags war die Markierung des Reviers durch Duftmarken, und Uexküll legte dar, wie alles innerhalb des Duftfeldes gleichsam zum Eigentum des Hundes wird. Cassirer, dem der Vortrag wichtige Einsichten vermittelt hatte, eröffnete die Diskussion mit der Bemerkung: „Rousseau hat gesagt, den ersten Menschen, der einen Zaun zog und sagte, das ist mein, hätte man erschlagen müssen. Nach dem Vortrag von Professor v. Uexküll wissen wir, dass das nicht genügt hätte. Man hätte den ersten Hund erschlagen müssen.“6 Cassirer bezieht sich hier auf Rousseaus Zweiten Discours über den Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen von 4 5 6

Siehe auch D. Birnbacher, Natürlichkeit, Berlin/New York 2006. Vgl. die Beiträge in: Handbuch Anthropologie, hg. von E. Bohlken und Ch. Thies, Stuttgart 2009. Zitiert nach J. M. Krois, Ernst Cassirer 1874–1945, in: Hamburgische Lebensbilder. Die Wissenschaftler. Ernst Cassirer, Bruno Snell, Siegfried Landshut, Hamburg 1994, 23.

Der Mensch und die Kultur | Birgit Recki

1755, in dem dieser dazu neigt, in der ersten Aneignung von Eigentum den „Sündenfall“ der zivilisatorischen Entfremdung eines ursprünglich guten Menschen zu sehen. Am Vergleich zwischen Mensch und Tier merken wir: Hier spricht ein Theoretiker in anthropologischer Perspektive. Doch zum Verständnis der Bemerkung und der Anekdote müssen wir auch wissen, dass Cassirer vom Rousseauismus nichts gehalten hat – wenn denn der Rousseauismus typologisch in der Option besteht, sich den Menschen zu dessen eigenem Vorteil im Zustand der Naturbelassenheit vorzustellen. Rousseau und die Rousseauisten seither denken, dass die Kultivierung immer nur zu Entfremdung führen könne – zu einer Entfremdung, die sich auch vermeiden ließe.7 Sie stellen sich mithin in der kritischen Abgrenzung gegen eine Kultur, auf die sie meinen, besser verzichten zu können, den Menschen so vor, wie wir ihn uns im eingangs angestellten Gedankenexperiment gerade nicht wirklich vorstellen konnten. Cassirer bestreitet diese Vorstellung als eine leere Prätention. Nach seiner Einsicht wäre es nicht nur für den Menschen nicht besser, auf die Kultur und ihre Deformationen zu verzichten – es wäre noch nicht einmal möglich. Dabei leugnet Cassirer nicht, dass die Aneignung allen möglichen Materials durch kulturelle Gestaltung zu Entfremdung führt – aber er sieht diese „Entfremdung“ als konstitutiv für das menschliche Wesen, so dass es besser wäre, nach einem anderen Ausdruck für das zu suchen, was mit dieser Differenzierung bezeichnet ist; suggeriert doch der Ausdruck durch seine interne Moralisierung eines Sachverhalts fälschlich, es gäbe bei gutem Willen eine Alternative. Kurz und gut: Um die systematische Dimension dieser kleinen Anekdote zu ermessen, müssen wir wissen, was Cassirer über die Kultur denkt, die laut Rousseau mit der Aneignung eines Stückes Land beginnt: Dann bemerken wir, dass er hier ironisch ist. Uexkülls Vortrag gibt ihm die Gelegenheit, eine theoretische Position, die er gegen jeglichen Rousseauismus methodisch verteidigt, noch zu verschärfen, indem er sie ironisch sogar schon für das Tier geltend macht. Die theoreti7

Siehe B. Recki, Kulturbejahung und Kulturverneinung, in: Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 1: Ethik zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, hg. von F. J. Wetz, Stuttgart 2008, 259–296.

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sche Position lautet: Der Mensch ist niemals einfach nackt und bloß, er fängt schon an, seine Verhältnisse zu gestalten, indem er sich elementar etwas aneignet. Mit einem kleinen maliziösen Zungenschlag erinnert Cassirer hier, wo es um den Hund geht, an etwas, das er zu dieser Zeit (Ende der 1920er Jahre) über den Menschen bereits in einer umfänglichen Philosophie dargelegt hat: die Unhintergehbarkeit der Kultur. Gänzlich unironisch wird Cassirer die zentrale methodische These seiner Philosophie später noch einmal in Auseinandersetzung mit Uexküll explizieren. Im Essay on Man reformuliert Cassirer 1944, ein Jahr vor seinem Tode, den Ansatz seiner Kulturphilosophie als philosophische Anthropologie. Wenn er dort den Menschen auf der Folie der neueren lebenswissenschaftlichen Forschung zu fassen versucht, operiert er mit den Begriffen von Merknetz und Wirknetz, die Uexküll zur Erklärung des tierischen Verhaltens entwickelt hatte; doch gelingt die Erfassung des spezifisch Menschlichen nur um den Preis einer Erweiterung des begrifflichen Schemas: „Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode entdeckt, sich an seine Umgebung anzupassen. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als ‚Symbolnetz‘ oder Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung verwandelt sein gesamtes Dasein.“8

Von Verwandlung spricht Cassirer hier nicht im Vergleich eines Zustandes, den die Menschheit erreicht hat, mit einem anderen, den sie zuvor innehatte; die Abgrenzungsfolie bildet vielmehr auch hier wieder die tierische Existenz; der Ausdruck „Verwandlung“ birgt insofern eine evolutionsbiologische Pointe. Das menschliche Dasein verwandelt sich durch die Entdeckung der neuen Methode gegenüber dem tierischen. Wieso? Weil diese Methode sich durch den – flexiblen und reflexiven – Einsatz von geistiger Energie auszeichnet. Mit dieser Bestimmung: Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode ent8

E. Cassirer, Versuch über den Menschen (1944), Frankfurt am Main 1990, 49.

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deckt, sind wir beim grundlegenden Gedanken von Cassirers Kulturphilosophie. Wir erkennen hier etwas für den Zuschnitt und die Beurteilung seiner wie einer jeden philosophischen Anthropologie Entscheidendes: dass Cassirer nur in der ersten Annäherung, propädeutisch gleichsam, dem anthropologischen Interesse jene Fassung gibt, von der nach Heideggers Vorgabe9 viele Zeitgenossen angenommen haben, es sei die einzig mögliche: Die Anthropologie bestimme in der Abgrenzung von anderen Tieren das Lebewesen Mensch als Gattungswesen und reduziere den Menschen dadurch auf seine Biologie. So nahe für eine erste Exposition der anthropologischen Fragestellung die Annäherung über die Abgrenzung des Menschen vom Tier liegen mag – eine methodische Reduktion auf die biologische Bestimmung des Menschen ist damit nicht zwangsläufig verbunden; namentlich bei Cassirer wird man nach biologistischen Konstruktionen vergeblich suchen, und gerade darin darf sein anthropologischer Beitrag als exemplarisch gelten für den Zuschnitt einer philosophischen Anthropologie. Denn an der Schubumkehr, die er aus dem Vergleich mit dem Tier gewinnt, wird sogleich deutlich, dass die Bestimmung des Menschen gerade nicht im Rekurs allein auf biologische Faktoren erfolgen soll. Der Mensch ist durch seine geistige Verfassung, durch seine tätige Intelligenz, die von vornherein mit dem Impetus einer praktischen Produktivität verknüpft ist, das Wesen, dem alles und jedes bedeutsam ist. Mit dem Menschen kommt Bedeutung in die Welt, und mit ihr eine Eigendynamik gegenüber jeglicher biologischer Erklärung. Bedeutung artikuliert sich in lauter Formen produktiver Gestaltung. Für diese produktive Gestaltung, die bereits in der Wahrnehmung von etwas als etwas ihre erste Ausprägung hat, zieht Cassirer den Begriff des Symbols, der Symbolisierung heran,10 und er prägt den Ausdruck, den er in den Titel seines kulturphilosophischen Hauptwerkes setzt: symbolische Form. Philosophie der symbolischen Formen – das ist der Titel der großen Kulturphilosophie,

9 10

Siehe M. Heidegger, Brief über den Humanismus (1946), in: ders., Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, 145–194. Siehe den Begriff der symbolischen Prägnanz in E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe [= ECW], hg. von B. Recki, Hamburg 1998 ff., Bd. 13, 218 ff.

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die Cassirer in drei Bänden 1923, 1925 und 1929 vorgelegt hat.11 Die Kultur gründet sich nach der hier entwickelten Einsicht auf die in verschiedenen Formen ausgeprägte Fähigkeit des Menschen zur Symbolisierung – zum Verstehen und zur Erzeugung von Symbolen. Der Mensch ist das „animal symbolicum“, das symbolerzeugende und symbolverstehende Wesen, und „Kultur“ meint damit nichts anderes als das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch Symbolisierung. In zweierlei Hinsicht auffällig ist von vornherein die Weite des Symbolbegriffs. Erstens begreift Cassirer – im Unterschied zu einem spezifischen Begriff des Symbolischen, wie etwa in der Kunstgeschichte oder in der Literaturwissenschaft – Symbolisierung generell als Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem, eine in unscheinbaren wie in großen Formen werkschaffende Vermittlung, die sich in den unterschiedlichsten Materialien oder Medien abspielt – in artikuliertem Laut, in Bildern, in materiellen Dingen, in Ritualen, Zeremonien und Techniken, überhaupt in Handlungen aller Art, in Institutionen, in Formeln. Ein Symbol liegt demnach in jeder Art der „Versinnlichung von Sinn“. Jede Symbolisierung stellt eine Einheit von „geistigem Bedeutungsgehalt“ und „sinnlichem Zeichen“ dar – mithin eine Einheit von geistigem Bedeutungsgehalt und materialer Gestalt. Symbolisierung ist damit nichts Seltenes und Spezielles, das in abgehobenen Bereichen hier und dort einmal stattfände. Sie ist vielmehr die durchgängige Vermittlung unserer Welt. Zweitens fällt an Cassirers kontinuierlicher Verknüpfung der Dimensionen dieser Vermittlung die eigentümliche und erkennbar programmatische Verschleifung von Konstruktion und Konstitution auf. Der Begriff des Symbols, die Theorie der Symbolisierung soll ganz offensichtlich als Elemente des Kontinuums menschlicher Aktivität beides fassen: die epistemische Weltbildung als Gegenstandskonstitution durch im weitesten Sinne kognitive Akte der Wahrnehmung und der Erkenntnis12 ebenso wie die 11

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Ders., Philosophie der symbolischen Formen. Drei Teile (Die Sprache, 1923; Das mythische Denken, 1925; Phänomenologie der Erkenntnis, 1929), in: ECW Bd. 11–13, Hamburg 2001–2002. Siehe dazu besonders E. Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, in: ders., Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, auf der Grundlage der Ausgabe Ernst Cassirer. Gesammelte Werke hg. von M. Lauschke, Hamburg 2009, 191–217.

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poietisch-praktische Weltbildung als Werkkonstruktion durch tätige Akte der Materialgestaltung. Was auch immer wir mit Sinn und Verstand tun, wir bewegen uns in Symbolen. Schon den Vollzug des Bewusstseins in der elementaren Orientierung auf Gegenständlichkeit begreift Cassirer als „natürliche Symbolik“, aus deren Bestimmungen er im Sinne einer pragmatischen Funktionstheorie der Verfügung über dauerhafte Merkzeichen die Notwendigkeit jener künstlichen Symbolik ableitet, als die wir normalerweise den „willkürlichen Zeichen[gebrauch]“ begreifen.13 Schon alles sinnlich Wahrgenommene fasst nach dieser Einsicht „als sinnliches Erlebnis zugleich“ immer schon „einen bestimmten nicht-anschaulichen Sinn in sich“:14 Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen. Cassirers Symbolbegriff und damit sein ganzer Ansatz hat somit den Anspruch, klarzumachen, was das Wesen des Menschen ausmacht: Wir Menschen sind als sinnliche zugleich geistige Wesen, und unser Geist wirkt sich aktiv so aus, dass für uns im Prinzip alles zum Träger von Bedeutung werden kann, ja eigentlich: werden muss. Die Hervorbringung von Bedeutung ist in allen möglichen Formen als Akt der Gestaltung begreifbar. Dass alles Wahrgenommene augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen wird, ist eine von zwei komplementären Grundthesen dieser Kulturtheorie. Ebenso wichtig ist, dass es auch immer schon in spezifischer Weise und das heißt: auf verschiedene mögliche Weisen als sinnvoll wahrgenommen wird. Cassirer erläutert diesen Gedanken wiederholt an einem exemplarischen Beispiel – an der Wahrnehmung eines Linienzuges.15 Dieselbe gleichmäßig geschwungene Linie kann, so führt er aus, eine „künstlerische Bedeutsamkeit“ als ästhetisches Ornament haben, sie kann aber auch als magisches Zeichen und damit als „Träger einer mythisch-religiösen Bedeutung“ gesehen werden, und sie kann schließlich im wissenschaftlichen Kontext eine Darstellung für einen „rein logisch-begrifflichen Strukturzusammenhang“ geben. Es ist dieser Gedanke, den Cassirer in den Begriff der symbolischen Prägnanz fasst, in welchem die

13 14 15

Siehe E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, in: ECW Bd. 11, Hamburg 2001, 25–44; Zitate: 39. ECW Bd. 13, 231. Siehe ebd., 228 ff.

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epistemologische Grundlegungsdimension der hier vertretenen Symboltheorie zu sehen ist: „Unter symbolischer Prägnanz soll [...] die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als sinnliches Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen Sinn in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“16

Es ist leicht zu sehen, dass damit zwei komplementäre Aspekte des spontanen Habens von Bedeutung intendiert sind: Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen, und es wird immer schon in spezifischer Weise – und damit auf verschiedene mögliche Weisen – als sinnvoll wahrgenommen. Damit ist von vornherein dem Verständnis der ganzen Komplexität und Differenzierung, in der die Kultur besteht, eine systematische Chance eröffnet: Denn von Anfang an haben wir es hier mit einem Konzept der historischen und aktuellen Vielfalt kultureller Formen zu tun – einer Vielfalt, die ihre Grundlage in der Variabilität des geistigen Aktes der Wahrnehmung hat. Denken wir hier noch einmal an das einfache modellhafte Beispiel des Linienzuges: Man kann ihn mit ästhetischer, magisch-religiöser oder wissenschaftlicher Bedeutung erfüllen. In diesem Beispiel aber haben wir das Modell der kulturellen Vielfalt zu sehen, die nach Cassirer im Perspektivenreichtum des menschlichen Geistes entspringt. Kultur ist demnach durch interne Pluralität charakterisiert, sie prägt sich aus in einer Vielfalt von Gestaltungsweisen – und sie ist darin kein beliebig angesammeltes Aggregat, sondern ein System. Es sind die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet gleichsam institutionalisieren, die Cassirer „symbolische Formen“ nennt. Und er definiert: „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger

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Ebd., 231.

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Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“17

Als „symbolische Form“ wird hier nicht der einzelne geformte Bedeutungsträger bezeichnet. Symbolische Formen sind die formgebenden geistigen Energien, durch die es zur Symbolisierung kommt und die sich in den kulturellen Leistungen manifestieren: Es sind regelmäßige, typische Weisen des Verstehens und Erzeugens von Bedeutung. In der Aufzählung der symbolischen Formen nennt Cassirer meistens Mythos und Religion, die Sprache, die Kunst und die Wissenschaft, im Essay on Man auch die Geschichte, darüber hinaus die Technik18, die Wirtschaft, das Recht und die Moral19. Er nennt diese „Energien des Bildens“ auch geistige Formen oder „geistige[ ] Grundfunktionen“, und es überrascht angesichts seiner materialreichen historischen und systematischen Darstellung der Kulturentwicklung nicht, dass er grundsätzlich auf „eine philosophische Systematik des Geistes“ aus ist. Diese und ähnliche Bestimmungen wie auch die Auffächerung in die Vielfalt der symbolischen Formen – Mythos, Religion, Sprache, Kunst und Wissenschaft – lassen starke methodische Analogien zu Hegel erkennen. Auf Hegels Phänomenologie des Geistes bezieht sich Cassirer ausdrücklich, wo er das ganze Gebiet der Kultur skizziert: „Die Sprache, der Mythos, die theoretische Erkenntnis: sie alle werden hier als Grundgestalten des objektiven Geistes genommen“. Konsequent zur Geltung gebracht ist in alledem der Kantische Gedanke der Kopernikanischen Wende: dass uns in allen solchen Bereichen einer zu Werken verselbständigten Bedeutung nichts anderes entgegentritt als unsere eigene Spontaneität, unsere geistige Selbsttätigkeit.20 Cassirer erläutert, dass sich in ihnen allen „das Grundphänomen“ ausprägt, „daß unser Be-

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20

E. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923), in: Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926), ECW Bd. 16, 75–104, Zitat: 79. Siehe E. Cassirer, Form und Technik (1930), in: Aufsätze und kleine Schriften (1927– 1931), ECW Bd. 17, 139–184. Zur Frage der Moral im System der symbolischen Formen siehe B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, Kap. C. II–IV, 151–209. So in der Sache bereits das gleichermaßen kulturphilosophisch wie erkenntnistheoretisch zu verstehende „Vico-Axiom“: dass der Mensch nur das versteht, was er selbst hervorgebracht hat.

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wußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.“ In dieser Bestimmung haben wir das praktische Leitmotiv dieser Philosophie der Kultur zu erkennen: Freie Tätigkeit. Für Cassirer ist die Kultur Ort und Vollzug der Freiheit, da schon die symbolische Leistung auf die Freiheit des tätigen Geistes bezogen ist. Er spricht vom „Tun des Geistes“, von der „freien Tätigkeit“ des Bewusstseins und vom „Grundprinzip freien Bildens“ – lauter Einschärfungen seines Grundsatzes, dass bereits das Verhältnis des Bewusstseins zum Äußeren in einer im weitesten Sinne gestaltenden Leistung besteht; dass das, was wir Wirklichkeit nennen, sich bereits dieser Leistung verdankt und: dass in diesem Gestalten immer schon eine Form der Freiheit zu sehen ist. Darin ist auch die letzte Antwort auf die Frage zu sehen, mit der Cassirer in seinem ganzen Werk ringt – auf die Frage des systematischen Zusammenhangs: der Einheit von Kultur in der Vielheit ihrer einzelnen Phänomene. Cassirer sieht sie in der gemeinsamen Funktion aller symbolischen Formen, in der Befreiung vom bloßen Eindruck zur selbsttätigen Artikulation im gestalteten Ausdruck, verstanden als die Befreiung vom bloßen Ausgeliefertsein an das Gegebene durch den Zugriff, den allein die produktive Selbsttätigkeit ermöglicht. Dass wir der ganzen chaotischen Mannigfaltigkeit unserer Eindrücke nicht einfach ausgeliefert sind, sondern nach außen wie nach innen über sie verfügen können, indem wir sie in der artikulierenden Aneignung ordnen und ihnen damit allererst einen Sinn zu geben wissen – das ist die gleichermaßen erkenntnistheoretische wie praktische Pointe dieses Befreiungsmotivs, die heute etwas grobschlächtig als konstruktivistisch bezeichnet wird. Jede symbolische Form verdankt sich, so Cassirer, einer „ursprüngliche[n] Tat des Geistes“: In allen äußert sich „die Freiheit des geistigen Tuns“. Denn in jeder produktiven Aneignung wird nach Cassirers Einsicht mit der Funktion der Objektivierung jene Distanz gewonnen, die Verfügung nach innen wie nach außen möglich macht. Hier übrigens haben wir den Begriff, den Cassirer statt des Rousseauistischen Entfremdungsbegriffs vorschlägt für die angemessene Würdigung dessen, was die Kultur am

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Menschen bewirkt: Distanz, Distanzierung. In solcher Distanz nehmen wir Abstand vom Material, sind wir getrennt von den Objekten unserer Gestaltung; wir gewinnen dadurch einen Spielraum der Gestaltung wie des Handelns. Deshalb ist mit Cassirer alle kulturelle Hervorbringung als Form der Freiheit und als „Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“ zu verstehen.21

II. Hans Blumenberg: Der Mensch in der actio per distans

Mit dem Format dieser auf die geistige Produktivität, damit auf die Freiheit als Medium der produktiven Entfaltung wie als deren Ziel konzentrierten Kulturphilosophie22 ist auch das Werk kompatibel, das hier zur Abrundung der anthropologischen Skizze vorgestellt werden soll. Es ist die Beschreibung des Menschen von Hans Blumenberg (1920–1996).23 Posthum aus dem Nachlass herausgegeben, aus zwei großen homogenen Textteilen zusammengestellt, lässt dieses 900 Seiten starke Werk erkennen, dass und wie das systematische Interesse Blumenbergs immer schon auf eine Anthropologie ausgerichtet ist. Auch die Beschreibung des Menschen ist eine Anthropologie, die sich als Kulturphilosophie versteht: Nach Blumenbergs grundlegender Einsicht war es die schwache, fragile, gefährdete biologische Konstitution des Menschen, die diesen gattungsgeschichtlich zu einer unwahrscheinlichen Kompensationsbildung herausforderte; in einer Serie von glücklichen Zufällen konnten so Vernunft und Kultur als Hilfsmittel ausgeprägt werden. Seinen sogenannten Definitionsessays, die er bei seinen ausgedehnten Lektüren gesammelt hat und mit deren Katalog er zu Beginn des Zweiten Teils seines Buches die systematische Erörterung der Legitimität von Anthropologie abschließt, fügt Blumenberg im Gang der sich daran anschließenden anthropologischen Rekonstruktion des Menschen eine ganze Girlande von eigenen Definitionsessays hinzu: „Der Mensch ist das Tier, das einen aufgerichteten Gang hat.“ (518) „Der Mensch ist das Wesen, das

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Cassirer, Versuch (wie Anm. 8), 345. Siehe dazu B. Recki, Freiheit, Wien 2009, 87–94. H. Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main 2006.

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sich hätte mißlingen können und noch mißlingen kann.“ (524)24 „Der Mensch ist ein Wesen, aus dem nichts mehr werden kann.“ (536)25 „Der Mensch ist die verkörperte Unwahrscheinlichkeit. Er ist das Tier, das trotzdem lebt.“ (550) „Nur der Mensch kann leben und dabei unglücklich sein.“ (550) „Der Mensch zögert und zaudert nicht, weil er Vernunft hat, sondern er hat Vernunft, weil er gelernt hat, sich das Zögern und Zaudern zu leisten.“ (559) „Der Mensch ist ein auf eine Theorie zumindest vorbereitetes Wesen.“ (560) „Der Mensch ist mit einem Schlage, oder genauer: mit einem Wurfe entstanden.“ (582) „Der Mensch ist […] eine überraschende und inkonsequente Nebenlösung des Gesamtproblems der Selbstbehauptung des Lebens auf der Erde.“ (585) „Der Mensch „besteht“ im Verzicht auf Unmittelbarkeit.“ (599) „Der Mensch ist das Wesen, das schläft, obwohl es Vernunft hat.“ (608) „Der Mensch ist das Wesen, das Seinesgleichen tötet.“ (610) „Der Mensch ist ein aggressives Wesen, weil er allem zuvorkommen kann.“ (611) „Der Mensch ist nicht nur das von seinen Bedürfnissen geplagte Wesen, sondern auch das von seinen Wünschen beherrschte.“ (615) „Der Mensch ist das Tier, das alles selber machen will, aber, um dies zu können, so viel wie möglich delegieren muß.“ (508) Soweit diese Girlande. Eine markante Bestimmung des Menschen sei hier noch zurückgehalten. Sie wird im Zusammenhang der folgenden Darstellung präsentiert. Doch auch ohne diese – auffällige – Bestimmung dürfen wir mit Blick auf diese Sammlung feststellen: Diese Definitionsessays, erkennbar mit einer bis zu augenzwinkernder Mutwilligkeit gesteigerten Lust an der eigenwilligen Pointe formuliert, bilden die Scharniere von Blumenbergs großer Erzählung über die Menschwerdung als Kryptogenese. Von Kryptogenese des Menschen (wörtlich: eine Entwicklung, die nicht offen zutage tritt, sondern sich im Verborgenen abspielt) spricht Blumenberg mit Nachdruck, weil das spezifisch Menschliche am Menschen und damit auch die Menschwerdung nicht äußerlich, an morphologischen Merkmalen etwa von Schädel und Skelett abzulesen ist. Wir brauchen vielmehr eine 24 25

Variiert in: „Der Mensch ist ein riskantes Lebewesen, das sich selbst mißlingen kann“ (Blumenberg, Beschreibung (wie Anm. 23), 550). Variiert in: „Der Mensch ist genetisch ein Endprodukt“ (ebd., 569).

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Interpretation, ja ausdrücklich: ein spekulatives Konstrukt, um uns die Menschwerdung vorstellen zu können. Es ist somit eine intelligible, dabei durchweg lebenswissenschaftlich informierte Geschichte der Menschwerdung, die Blumenberg erzählt. Er betont die krisenbedingte Ausstattung des Menschen mit Bewusstsein und mit einer Vernunft, die – als „Hintertür des Lebens“ (521) – kompensatorisch als Komplement des (durch Biotopwechsel aufgenötigten) aufrechten Ganges fungiert26; er betont die Sichtbarkeit des aufgerichteten Menschen mit seiner Frontaloptik als Bedrohung, die durch allseitige Orientierungs- und Präventionsfähigkeit kompensiert werden muss, bevor es jemals zur entlasteten Situation des Zuschauers kommen kann, in der sich dann der Mensch als erkennendes, seine Welt überschauendes und schließlich theorietreibendes Wesen behauptet.27 Blumenberg sieht in diesen Merkmalen: aufrechter Gang, Sichtbarkeit als Risiko und als Chance, wachsames, präventives Bewusstsein, Orientierung und Prävention als Umsicht, noch nicht mehr als die Bedingungen jener Urszene der Menschwerdung, in der das Fluchttier durch das so defensive wie geistesgegenwärtige Aufheben eines Steines als Wurfgeschoss zum Kampftier wird. In diesem Akt wird das beschriebene Wesen zum Menschen – und zwar gleichursprünglich zum homo sapiens und zum homo faber. Das Aufheben des Wurfgeschosses mit seiner komplexen Kontextualisierung ist für Blumenberg deshalb so signifikant, weil hier alle spezifischen Ausstattungsbedingungen wie in einem kairos zusammenwirken: Selbstaufrichtung, prekäre Gewinnung von Sichtbarkeit, Dramatisierung der Selbsterhaltung als Selbstbehauptung, Kultivierung der Prävention als Leitmotiv des Krisenbewussteins und – kulminativ: erster Werkzeuggebrauch. Was dabei mit dem Menschen geschieht, wird ihn fortan auszeichnen: Blumenberg spricht von Distanzgewinn durch Körperausschaltung28: die direkte körperliche Konfrontation im Kampf wird vermieden durch die Geistesgegenwart, die den Stein zur Waffe der Selbstverteidigung umfunktioniert. Darin zeigt sich der Mensch fähig zur 26 27 28

„[…] die menschliche Vernunft ist ein Notprogramm zum Ausgleich von biologischen Ausstattungsmängeln.“ (Ebd., 552) „Alltäglich ausgedrückt heißt das, daß wir nur nach einer Seite sehen können, aber von allen Seiten gesehen werden können.“ (Ebd., 564) Mit P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel, Dresden 1922.

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actio per distans. Diese Fähigkeit zur Distanz29, diese Fähigkeit, aus der Distanz zu agieren, wird er kultivieren von der pragmatisch-technischen Nutzung des Wurfgeschosses zur Selbstverteidigung über die theoretische Fähigkeit zum Begriff bis zur politischen Ausbildung von entlastenden Institutionen. Hier liegt, wie schon an diesen exemplarischen Beispielen medialer Einschaltung von Zwischeninstanzen deutlich werden kann, zugleich der Ursprung der Kultur. Denn hier liegt der Ursprung für den Einsatz fungibler Mittel der indirekten Wirklichkeitsbewältigung. Entdeckt und bekräftigt ist damit die Angewiesenheit des Menschen auf Medialität aller Art. In dieser Konzeption präsentiert Blumenberg seine Anthropologie als Kulturphilosophie, deren zentraler Gedanke nicht zufällig an den großen Kronzeugen erinnert, der auf den 900 Seiten des Textes nur dreimal zitiert wird, dafür aber unzitiert um so eindrucksvoller präsent ist. Die Rede ist weiterhin von Ernst Cassirer, mit dem sich Blumenberg umstandslos in Personalunion setzt, wenn er gegen Ende seiner anthropologischen Rekonstruktion der Menschwerdung im Gestus des Gesamtresümees expliziert: „Der Mensch als animal symbolicum ist ein auf Einsparung von Konfrontationen mit der Wirklichkeit […] angelegtes Wesen.“ (614) In die Explikation ist ohne Erwähnung des Namens, ohne Zitat Cassirers Bestimmung des Menschen eingefügt. Cassirers Anthropologie kommt eine Schlüsselstellung für Blumenbergs Ansatz zu. Deshalb sei hier abschließend noch einmal daran erinnert, dass für Cassirer die Symbolisierung der unhintergehbare Akt und Prozess des produktiven Distanzgewinns und damit der stets und ständig erneuerte Ursprung der Kultur ist. In jeder symbolisch vermittelten Bedeutung, durch die wir Wirklichkeit haben, wird mit der Funktion der Objektivierung, durch die auch das Subjekt sich überhaupt erst konstituiert, jene Distanz gewonnen, die Verfügung nach außen wie nach innen möglich macht: Mit einem Reflexionsspielraum wird zugleich ein praktisch wie poietisch auszulegender Handlungsspielraum aktuell. Das Symbol, wie Cassirer es versteht, kann deshalb mit dem bei Blumenberg hinzugewonne-

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„[…] die Fähigkeit zur actio per distans als spezifisches Radikal des menschlichen Leistungskomplexes.“ (Blumenberg, Beschreibung (wie Anm. 23), 575)

Der Mensch und die Kultur | Birgit Recki

nen Grundbegriff auch begriffen werden als das Element einer actio per distans. Die Kultur, so haben wir bereits gehört, ist systematisch als Form der Freiheit und historisch als „Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“ zu verstehen.30 Die gemeinsame Funktion jeder Symbolisierung – von den elementaren und unscheinbaren mentalen Leistungen bis zu den anspruchsvollsten Werken – ist Befreiung – Befreiung vom bloßen Eindruck zur selbsttätigen Artikulation im gestalteten Ausdruck. Jeder Leser Cassirers kennt diese Pathosformel, die bei ihm mehrfach dort auftritt, wo er sein Projekt programmatisch beschreibt. Sie ist zu verstehen als die Angabe jenes nur erkenntnistheoretisch konstruierbaren Grenzzustandes von Kulturlosigkeit als Distanzlosigkeit, in dem uns die Dinge und Verhältnisse als noch amorphe Reizüberflutung auf den Leib gerückt wären. Insofern gibt Blumenbergs Explikation: „Der Mensch als animal symbolicum ist ein auf Einsparung von Konfrontationen mit der Wirklichkeit […] angelegtes Wesen“ – auch eine Explikation von Cassirers programmatischem Leitmotiv. Das gleiche gilt für den eingangs zitierten Definitionsessay „Der Mensch ‚besteht’ im Verzicht auf Unmittelbarkeit“. (599) Denn durch Symbolisierung erfolgt nach Cassirer die durchgehende Gestaltung der Welt und Vermittlung von Wirklichkeit. Und die Freiheit, die uns nach Blumenberg ebenso wie nach Cassirer die Kultur verschafft, besteht ganz im Sinne der actio per distans in den Umwegen – Blumenbergs Metapher der Vermittlung –, welche die Kultur uns erlaubt, wo der direkte Weg die schmerzhafte Konfrontation mit einer unkultivierten Wirklichkeit wäre: Kultur ist ein „Barbareiverschonungssystem“31.

30 31

Cassirer, Versuch (wie Anm. 8), 345; vgl. ECW Bd. 23. H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main 1987, 137 f.; Zitat: 138.

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Der Mensch und Gesundheit, Krankheit, Tod Günther Pöltner

I. Die existenzielle Bedeutung des Themas

Im Folgenden geht es darum, auf philosophische Weise über etwas nachzudenken, was uns alle angeht: Gesundheit – Krankheit – Tod. Philosophieren heißt, sich auf menschliche Grunderfahrungen zu besinnen, sie auf begriffliche Weise aufzuschließen, d. h. zu fragen, was sie uns zu denken geben. Und dass Gesundheit, Krankheit und Tod zu den Grunderfahrungen zählen – darüber besteht ebensowenig ein Zweifel wie darüber, dass sie aufeinander verweisen. Auf der einen Seite gehören Gesundheit und Krankheit zusammen, Krankheit ist der Gegenbegriff zu Gesundheit. Nicht nur ist Krankheit von der Gesundheit her zu verstehen – wer krank ist, dem fehlt etwas –, sondern sie gibt auch etwas – wenngleich per negationem – über die Gesundheit (und darüber hinaus über das ganze Dasein) zu verstehen. Auf der anderen Seite manifestiert sich in der Krankheit die Ausgesetztheit und Hinfälligkeit des Menschen, erinnert uns die Krankheit an unsere Sterblichkeit und damit letztlich an unseren Tod. So einsichtig die existenzielle Bedeutung von Gesundheit und Krankheit ist, so steht vor allem die Gesundheit in der Gefahr einer fragwürdigen Einschätzung. Zu nennen wären hier einmal die gängige Bewertung von Gesundheit und einmal die Definition der Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Glaubt man den Meinungsumfragen, dann nimmt die Gesundheit in der Werteskala im Bewusstsein der Zeitgenossen den obersten Rang ein: Gesundheit gilt als die Hauptsache. Ge-

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burtstagswünsche, Wünsche zum Jahreswechsel gipfeln im Wunsch nach Gesundheit als dem Wichtigsten im Leben. So verständlich der Wunsch nach Gesundheit ist – wer möchte nicht gesund sein? – so verfänglich ist er bei näherem Hinsehen. Man muss ja nur fragen: „Gesund – und was dann?“, um einzusehen, dass die Gesundheit nicht den obersten Rang einnehmen kann. Gesundheit ist weder ein Selbstzweck – man lebt nicht, um gesund zu sein, sondern man lebt, indem man gesund oder krank ist – noch ist sie ein Mittel für einen außer ihr liegenden Zweck. Ähnlich verhält es sich mit der WHO-Definition. Nach ihr bedeutet Gesundheit den „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“. Diese Bestimmung besitzt eine positive und eine negative Seite. Positiv an diesem Begriff ist zweierlei: 1) die Hervorhebung der sozialen Dimension der Gesundheit und Krankheit und 2) der Hinweis, dass sich Gesundheit nicht bloß als das Fehlen von Krankheit bestimmen lässt. Negativ an ihm ist sein latent utopischer und totalitärer Charakter. Nimmt man die Definition wörtlich, war nach ihr noch nie jemand wirklich gesund. Gesundheit wird hier nämlich nicht als ein fundamentales Gut verstanden, sondern mit dem höchsten Gut gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung lässt sich zwar als Reaktion auf ein rein funktionales (biologisches) Verständnis von Gesundheit und Krankheit verständlich machen, das ändert aber nichts an ihrer Problematik. Dazu kommt noch eine Überforderung des Arztes. Wird nämlich die Gesundheit zum obersten Gut hochstilisiert, fällt sie mit einem gelingenden Leben zusammen, für das der Arzt als Heilkundiger verantwortlich wäre. Gesundheitsfürsorge würde zur Sorge für das Gelingen des Lebens. Wenngleich der Arzt gegebenenfalls aufgerufen ist, im Gespräch mit seinem Patienten eine existenzielle Entscheidungshilfe zu geben – ein Arzt-Patienten-Gespräch wäre verfehlt, würde es auf eine reine Sachinformation reduziert – so würde dennoch eine Sorge für das Gelingen des Lebens das Sinnziel ärztlichen Handelns überschreiten. Als Schutz vor solch einer Überschreitung bietet sich ein funktionaler Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff an.

Der Mensch und Gesundheit, Krankheit, Tod | Günther Pöltner

II. Das funktionale Verständnis von Krankheit und Gesundheit

Eine sich als angewandte Naturwissenschaft verstehende Medizin bestimmt Gesundheit und Krankheit biologisch im Blick auf die Funktionstüchtigkeit eines Organismus bzw. von Organen. Das Gesunde ist das Funktionstüchtige, das Kranke das Defekte, das Funktionsuntüchtige oder in seiner Funktionstüchtigkeit Eingeschränkte, die Störung des normalen Ablaufs. Die Dysfunktionalität bemisst sich an der biologischen Normalität im Sinne des statistischen Durchschnitts. Ein funktionaler Begriff von Krankheit und Gesundheit hat den Vorteil, im Sinne naturwissenschaftlicher Methodik operationabel zu sein, ist aber aus mehreren Gründen von nur partieller Bedeutung. Dieser Begriff enthält (1) eine Unterbestimmung der Medizin, artikuliert (2) ein methodisch-reduktionistisches Verständnis, weil er (3) das Subjekt von Krankheit und Gesundheit methodisch ausblendet.

1. Unterbestimmung der Medizin

Wenngleich die moderne Medizin ihre beeindruckenden Erfolge naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und der Einbeziehung technischer Möglichkeiten verdankt, wäre sie dennoch unzureichend bestimmt, würde sie als angewandte Naturwissenschaft verstanden. Diese Bestimmung unterschlägt neben der Vielfalt der Wissensquellen ärztlichen Handelns vor allem die Eigenart medizinischen Wissens. Bei der Bestimmung des wissenschaftstheoretischen Status der Medizin ist nach ihrem Ziel zu fragen. Denn es ist das Ziel, welches die Eigenart und die Struktur des medizinischen Wissens bestimmt. Medizinisches Wissen wird ja – wie jedes andere Wissen auch – um eines bestimmten Zieles willen erstrebt. Dieses Ziel ist aber nicht ein rein theoretisches, sondern ein praktisches Ziel. Das medizinische Wissen wird nicht um des Wissens, sondern um eines bestimmten Handelns, um einer Praxis willen, erstrebt. Wissen, das eine Praxis leitet, ist ein praktisches Wissen. Die Medizin ist in ihrem Kern eine praktische Wissenschaft. (Diese Bestimmung hat den Vorteil, dass mit ihr die Medizin nicht von vornherein auf bestimmte Me-

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thoden festgelegt wird, sondern die Freiheit der Methodenwahl gesichert bleibt.) Wer sie als bloß angewandte Naturwissenschaft bestimmt, bestimmt sie nicht von ihrem Ziel, sondern von einem ihrer Mittel her (das wäre so, als würde man die Malerei durch die Anwendung von Pinsel und Farben bestimmen).

2. Methodisch-reduktionistische Bestimmung von Gesundheit und Krankheit

Die

methodisch-reduktionistische

Bestimmung

manifestiert

sich auf zweierlei Weise: (a) in der Eliminierung der normativen Komponente und (b) im Rekurs auf einen statistischen Normalitätsbegriff. 2.1 Eliminierung der normativen Komponente des Begriffs

Der funktionale Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff ist ein bloß deskriptiver Begriff, der den normativ-praktischen Unterschied von gesund und krank zu einem bloß faktischen Unterschied nivelliert. Diese Nivellierung ist die Folge der für die Naturwissenschaft konstitutiven Grundeinstellung, gemäß der die Natur als bedeutungs-freie Faktizität zu Gesicht kommt. Alle Unterschiede werden zu bloß faktischen Unterschieden. Ein funktionales Gesundheits- und Krankheitsverständnis bewegt sich auf der Ebene bloßer Andersartigkeit und Veränderung von Abläufen, nicht aber kann es normativ-praktische Unterschiede zu Gesicht bekommen, welche die sachliche Bedeutung von etwas betreffen. Das Kranke ist eben nur anders als das Gesunde – weder schlechter noch besser, es ist das Pathologische. Funktionsstörung bedeutet bloß, dass ein Prozess jetzt anders abläuft als für gewöhnlich. Das Kranke wird zu einer Abweichung von einem statistischen Durchschnittsbild. Ein Beispiel für ein funktionales Verständnis ist der genetische Krankheitsbegriff. Eine naturwissenschaftliche Analyse des menschlichen Genoms kann immer nur genetische, die genetische Vielfalt und Variabilität betreffende Unterschiede eruieren, streng gedacht jedoch niemals Gesundheits- oder Krankheitszustände. Damit ein naturwissenschaftlich erhebbarer (z. B. ein physiologischer oder genetischer) Befund als krankhaft oder als Krankheitsdisposition eingestuft werden kann, muss er auf die entsprechende Erfahrung – nicht: der Krankheit –, sondern

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des Krankseins bezogen werden. Das sachlich Erste ist nicht der Befund, sondern die Erfahrung des Krankseins. Von ihr her ist ein Befund überhaupt erst als Krankheitsbefund verstehbar. 2.2 Statistisch verstandene Normalität

Die methodisch-reduktionistische Bestimmung schlägt sich im Begriff der Normalität nieder, an dem sich die Dysfunktionalität bemisst. Zwar ist Gesundheit das Normale, aber nicht im Sinne eines statistischen Durchschnitts oder einer zahlenmäßigen Mehrheit. Das lässt sich an einem simplen Beispiel demonstrieren. Blindheit ist für den Menschen nichts Normales. Sie wäre es auch dann nicht, wenn plötzlich die Mehrheit der Menschen von ihr betroffen wäre. Eine statistische Aussage enthält nichts Normatives, sondern ist eine bloße Faktenaussage. Als Faktenaussage lässt sie sich gewiss normativ interpretieren, aber die Gesichtspunkte dieser Interpretation lassen sich nicht der Statistik entnehmen, sondern müssen von wo anders her bezogen werden.

3. Methodische Ausblendung des Subjekts von Krankheit und Gesundheit

Ein funktionales Verständnis bezieht die Prädikate ‚gesund‘ bzw. ‚krank‘ auf Organe oder den Organismus. Das ist zwar durchaus richtig, sagt aber nicht alles, was rechtens zu sagen wäre. Gesund und krank sind nämlich in erster Linie nicht Organe, auch nicht Organismen, sondern ein Mensch. Jemand, ein namentlich zu nennender Mensch ist gesund, erkrankt und genest. Dasselbe gilt von ‚leben‘, ‚sterben‘, ‚tot sein‘. Jemand wird gezeugt, geboren, lebt, stirbt und ist tot. Angesichts eines immer mehr um sich greifenden naturalistischen (= materialistischen) Menschenbildes ist darauf zu insistieren, dass nicht Krankheiten, sondern genau genommen ein kranker Mit-Mensch geheilt wird. Der Arzt wird nicht von einem menschlichen Organismus um Hilfe gebeten, sondern von jemandem, der sich krank fühlt. Streng gedacht geht es demnach nicht um Krankheit oder Gesundheit, sondern um Kranksein und Gesundsein, d.i. um menschliche Seinsweisen. Aber wir reden doch von kranken oder gesunden Organen! Gewiss. Es kommt aber darauf an, den Sinn dieses Sprachgebrauchs genau zu erfassen. Die Rede von kranken oder gesun-

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den Organen ist eine analoge Rede, d. h. sie ist hergenommen von und hinbezogen auf den kranken oder gesunden Menschen. Dieser ist in erster Linie gesund oder krank, seine Organe (Gewebe, Zellen) sind es nur abgeleiteter Weise. (Dasselbe gilt für die Rede von lebenden Organen oder Zellen. In ihr kommt die relative Eigenständigkeit von Teilen zum Ausdruck, eine Eigenständigkeit, die die Einheit und Selbstständigkeit des Ganzen zur sachlichen Voraussetzung hat.) Es sieht ja nicht mein Auge, sondern ich selbst bin es, der sieht – was ich freilich nur kann, wenn mein Auge funktionstüchtig ist. Und entgegen einer um sich greifenden Gehirnmythologie ist auch theoretisch damit ernst zu machen, dass nicht unsere Gehirne denken, sondern wir es sind, die denken – was wir freilich nur können, wenn unsere Gehirne funktionstüchtig sind. Die Funktionstüchtigkeit meiner Organe ist die conditio sine qua non meiner Selbstvollzüge, nicht aber deren Subjekt. Menschliche Vollzüge lassen sich nicht als Organfunktionen erklären. Weder ist Sehen eine Augenfunktion, noch das Denken eine Gehirnfunktion. Subjekt des Sehens oder des Denkens ist weder mein Auge noch mein Gehirn, sondern ich selbst bin es. Weil das Subjekt der Krankheit bzw. Gesundheit weder einzelne Organe noch ein Organismus, sondern ein Mit-Mensch, jemand ist, muss sich das Pathologische nicht mit dem Kranken, und das Gesunde nicht mit dem durchschnittlich Normalen decken. Es kann einer gesund sein und doch pathologische Werte haben. Umgekehrt kann einem gegebenenfalls die Erzielung von Normalwerten auch schaden. Dieser jedem Arzt bekannte Sachverhalt verweist einerseits auf die Unverzichtbarkeit und andererseits auf die doch nur partielle Bedeutung eines funktionalen Gesundheits- und Krankheitsverständnisses. Dieser Hinweis will recht verstanden werden. Es geht nicht darum, dieses Verständnis zu verabschieden, sondern es in ein umfassenderes Verständnis aufzuheben und in es zu integrieren. Das umfassendere ist das der lebensweltlichen Erfahrung von Gesundsein und Kranksein entstammende Verständnis, das sich in reflektierter Form im normativ-praktischen Gesundheitsund Krankheitsbegriff artikuliert. Dafür lassen sich u.a. zwei Gründe anführen.

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III. Normativ-praktisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit 1. Gründe für das normativ-praktische Verständnis

Der erste Grund hängt mit dem Status der Medizin als einer praktischen Wissenschaft zusammen. Die Ursituation, in der die Erfahrung des Krankseins angesiedelt ist, und aus der sich das Sinnziel ärztlichen Handelns bestimmt, ist die Situation von Not und Hilfe. Wer sich krank fühlt, sucht Hilfe, d.h. die als Not erfahrene Krankheit wird zum Motiv eines entsprechenden Handelns – eines Handelns sowohl auf Seite des Arztes als auch auf Seite des Patienten. Handlungsleitende Begriffe aber sind normativ-praktische Begriffe. Freilich: Gesundheit und Krankheit sind praktische Begriffe besonderen Zuschnitts. Das wird deutlich, wenn wir uns das zentrale – das zentrale, nicht das einzige! – Sinnziel ärztlichen Handelns, die Heilung, vergegenwärtigen. Die Heilung intendiert die Wiedererlangung der Gesundheit. Die Gesundheit ist der Zweck dieses Tuns. Die Verfolgung eines Zwecks rückt das ärztliche Tun an die Nähe des Herstellens – griechisch gedacht: in die Nähe der TECHNE, der Kunst. Allerdings ist die Gesundheit nicht ein künstlicher, vom Menschen gesetzter Zweck, sondern ein von der menschlichen, d. h. leiblich-personalen Natur vorgegebener Zweck. Das Heilen besteht demnach nicht in einer Herstellung, sondern eben (im besten Fall) in einer Wiederherstellung der Gesundheit. Diese Eigentümlichkeit ärztlichen Tuns bringt das alte Wort ‚Heilkunst‘ zum Ausdruck. Weil es sich um eine (im besten Fall) Wiederherstellung handelt, gilt nach wie vor: medicus curat, natura sanat (der Arzt behandelt, die Natur heilt). Der Name ‚Heilkunst‘ verweist das Heilen in den Bereich der Kunst. Kunst meint nicht das Hervorbringen ästhetischer Objekte, sondern ein Können – Können als ein Sich-Verstehen auf etwas. Um sich auf etwas verstehen zu können, muss man entsprechendes Sachwissen besitzen – im Falle der Heilkunst ein Wissen um die Funktionstüchtigkeit bzw. -untüchtigkeit des menschlichen Organismus. Es ist dies ein Wissen deskriptiver Art. Wir sind nun imstande, den in Frage stehenden Begriffen eine Kontur zu geben. Die Begriffe ‚gesund/krank‘ – so die These –

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sind in erster Linie nicht deskriptive, sondern normativ-praktische Begriffe mit deskriptiven und d. h. einer fachwissenschaftlicher Erforschung zugänglichen Elementen. Die genannten Begriffe entstammen der aller Fachwissenschaft voraus- und zugrundeliegenden Lebenserfahrung, die sie mehr oder weniger reflektieren. Sie sind abhängig vom jeweiligen Stand des medizinischen Wissens, von regionalen Gegebenheiten sowie von sozio-kulturell variierenden Normvorstellungen (die sich z.B. in Diskriminierungen aufgrund von Krankheit äußern können). Und sie besitzen vor allem eine individuell-normative Komponente. In ihnen kommt immer auch Einzigartiges, persönlich Einmaliges zur Sprache: Nicht alles ist für alle gleicherweise gesund. Womit auch schon gesagt ist, dass es keine Definitionen von Gesundsein und Kranksein gibt, unter die sich die einzelnen Fälle problemlos subsumieren ließen. Der zweite Grund, weshalb es sich in erster Linie um normativpraktische, d. h. handlungsleitende Begriffe handelt, liegt darin, dass Gesundheit und Krankheit nicht als neutrale Vorkommnisse, nicht als bedeutungs-nackte Fakten, sondern als etwas vorgegeben Bedeutsames (und in diesem Sinne als etwas objektiv Bedeutsames und nicht ausschließlich von subjektiver Wertschätzung Abhängiges) erfahren werden. Es ist nicht gut, krank zu sein, wohl aber ist es gut, gesund zu sein. Krankheit wird als etwas Nicht-sein-Sollendes erfahren. Sie wird nicht um ihrer selbst willen bejaht, niemand wünscht sich allen Ernstes, krank zu sein – bejaht, herbei gewünscht wird sie höchstens als Mittel zur Erreichung äußerer Zwecke (man denke an die Flucht in die Krankheit). Gesund zu sein hingegen wird als etwas Gutes erfahren, als etwas, das sein soll. Freilich wird die Gesundheit zumeist als selbstverständlich angesehen, weil es ihr Wesen ist, sich nicht aufzudrängen und bemerkbar zu machen. Deshalb konnte Gadamer mit Recht von der ‚Verborgenheit der Gesundheit‘1 reden. Gesundheit ist „etwas, das gerade dadurch ist, dass es sich entzieht. Gesundheit ist uns also nicht ständig bewusst und begleitet uns nicht besorgt wie die Krankheit. Es ist nicht etwas, das uns zur ständigen Selbstbehandlung einlädt oder mahnt. Sie gehört zu dem Wunder der 1

H.-G. Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt am Main 1993.

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Selbstvergessenheit“2. Es gibt bekanntlich eine krankmachende Sorge um die Gesundheit. Wie auch sonst bei vielen Dingen unseres Lebens ist es auch bei der Gesundheit so, dass sie ihr wahres Wesen in ihrem Fehl enthüllt. Am Fehlen merken wir die Kostbarkeit des Dass. Wir brauchen nur umgekehrt an das Phänomen der Genesung denken. Wie die Erfahrung der Genesung zeigt, ist das Gut der Gesundheit, d.i. in Gesundheit leben zu können, eine Gabe, die uns dankbar stimmt, ohne dass wir dafür einen menschlichen Adressaten namhaft machen könnten. Wir sind dann einfach dankbar für die Gabe, die unser Dasein selbst ist. Nie geht uns die Wahrheit über die Gesundheit – über die Unselbstverständlichkeit ihres Gegebenseins und ihre Kostbarkeit – intensiver auf als in der Genesung. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Genesung zu denjenigen Grunderfahrungen zählt, darin sich uns unser weltoffenes Dasein im Miteinandersein als Gabe enthüllt.

2. Gesundsein und Kranksein als Existenzweisen

Aus dem Bisherigen lässt sich ein Fazit ziehen: Wenn Gesundheit und Krankheit den ganzen Menschen betreffen, also jemand gesund oder krank ist, dann müssen wir Gesundheit und Krankheit in erster Linie als menschliche Existenzweisen verstehen. Das wiederum stellt vor die Aufgabe einer Analyse menschlichen Daseins, näherhin vor diejenige einer medizinischen Anthropologie – eine Aufgabe, die hier nicht geleistet werden kann. Deshalb seien nur einige wenige Grundzüge menschlichen Existierens in Erinnerung gerufen. Mensch zu sein heißt, ein welt-offenes Wesen zu sein. Offenheit, offen sein für … bedeutet angesprochen werden können von dem, was ist, bedeutet, sich in Anspruch nehmen lassen. Nur in diesem Lassen kann uns etwas beanspruchen und eine normative Kraft gewinnen. Welt meint nicht ein Riesending von unvorstellbar großen Ausmaßen, sondern den grenzenlosen Bereich aller Bereiche, die ungegenständliche Lichtung, in der alles, was ist, für uns gegenwärtig wird, in welcher der Unterschied von Fremdgegenwart und Selbstgegenwart aufbricht, 2

Ebd., 126.

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und die uns noch die Vorstellung von Riesendingen ermöglicht. Weil wir die welt-offenen Wesen sind, können wir die vielfachen Begrenzungen, in denen wir leben, als Begrenzungen erfassen und relativieren, sind wir freie Wesen, die nach schlechthin allem fragen können, sind uns Unterschiede wie ‚wahr/falsch‘, ‚gut/ schlecht (böse)‘, ‚nützlich/sinnvoll‘ erschlossen. Der Mensch ist ein relationales Wesen nicht nur als welt-offenes, sondern ebenso als mitmenschliches Wesen. Mensch zu sein heißt MitMensch sein. Jeder von uns ist Kind seiner Eltern. Diese Relationalität kommt nicht zu unserem Menschsein nachträglich hinzu, sondern macht es aus. Krankheit betrifft (in unterschiedlicher Akzentuierung) die Grundzüge unseres Daseins. Sie macht sich als Störung bemerkbar, wird als Fehl und Mangel erfahren. Weil unser Weltbezug immer leiblich bestimmt ist, kann eine als Mangel erfahrene Funktionsstörung, ein Nicht-Können oder Nicht-mehr-so-Können als Krankheit charakterisiert werden. Als Kranke machen wir die Erfahrung des leibhaftigen So-Nicht-mehr-Könnens, des Nicht(mehr-)Verfügen-Könnens über wesentliche Möglichkeiten unseres Weltbezugs. Es kommt zur Störung des Weltbezugs, die Lebensbezüge werden eingeengt oder abgedrängt, Möglichkeiten des Miteinanderseins sind uns genommen. Kranksein wird als Mangel an Gesundheit erfahren. Deshalb lebt die Rede von Kranksein vom ständigen Vorgriff auf das Gesundsein. Von ihm her wird jenes erst begreifbar, nicht umgekehrt. Gesundheit ist nicht durch doppelte Negation als Abwesenheit von Krankheit bestimmbar. Gesundsein besagt leibhaftiges Wohlbefinden in Weltoffenheit. Es betrifft die Weltzuwendung, die Weise, sich zu Raum und Zeit zu verhalten, die Kommunikationsfähigkeit, die Übereinstimmung mit sich als Übereinstimmung mit der Mitwelt und in diesem Sinn: Harmonie, Gleichgewicht. Der Gesunde, so formuliert es Condrau, ist fähig, „weder dem Begegnenden zu verfallen (wie im Zwang oder in der Sucht) noch sich demselben durch Abwehr oder Flucht zu entziehen“3. Zur Gesundheit gehört Weggegebenheit an und Offenheit für das, was ist, sie ist „Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufga3

G. Condrau, Medizinische Psychologie, München 1975, 81.

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ben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein“4. Es gehört zu ihr die Fähigkeit, Lasten zu tragen, Leid auf sich zu nehmen – Leiden muß nicht mit Kranksein zusammenfallen – Widerstrebiges auszutragen und (woran Schipperges erinnert hat) letztlich das Sterben zu erleiden. „Der gesunde Mensch wendet sich dem anderen und der Welt zu. Gesund ist demnach, wer aus Erfahrung lernt und seine Meinung äußert und ändert, wer die Kraft hat und den Mut gewinnt, etwas ins Leben zu investieren, sich einzusetzen, dranzugeben, ja draufzugeben, wer Spannungen aushält, Konflikte löst, den Stress meistert; wer jeden Tag geschenkten Lebens als Chance nimmt und sich zeitlebens im Prozess des Geborenwerdens weiß“5. So wird nochmals deutlich, dass sich das biologisch Normgemäße keineswegs mit dem Gesunden und das Dysfunktionale mit dem Kranken decken muss. IV. Der Menschentod – Bemerkungen zu einer angemessenen Fragestellung 1. Die ‚Gegebenheit‘ des Todes (das ‚Wissen‘ um die eigene Sterblichkeit)

Krankheit belehrt uns aber nicht nur über die Gesundheit, sondern erinnert uns an unser Sterbenmüssen und unseren Tod. Nun ist es keine Frage, dass der Tod im Kontext ärztlichen Handelns einen wichtigen Stellenwert einnimmt. (Wir brauchen nur an Dinge wie den ‚Kampf um ein Menschenleben‘ oder an medizinethische Probleme wie ‚Lebensverlängerung um jeden Preis?‘, ‚Tötung auf Verlangen‘ oder ‚Beihilfe zum Suizid‘ denken). Im ärztlichen Handlungskontext kommt der Tod allerdings unter einem ganz charakteristischen Gesichtspunkt in den Blick – als ein Ereignis, das entweder bevorsteht oder bereits eingetreten ist. Im letzten Fall geht es um die Frage, woran sich der bereits eingetretene Menschentod feststellen lässt, d.i. um die Frage des Todeskriteriums.6 So wichtig diese Frage auch ist, 4 5

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Gadamer, Gesundheit (wie Anm. 1), 144. H. Schipperges, Gesundheit – Krankheit – Heilung, in: F. Böckle/F.X. Kaufmann/K. Rahner/B. Welte (Hg.), Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 10, Freiburg u.a. 1980, 51–84, Zitat: 62. Gegenwärtig gilt der sog. Ganzhirntod als Kriterium des eingetretenen Menschentodes, d. h. der irreversible Funktionsausfall des Gesamtgehirns bei gleichzeitig künstlich aufrechterhaltener Herz-Lungen-Funktion – und nicht bloß der Ausfall einzelner Gehirnregionen (sog. ‚Teilhirntod‘). Es ist wichtig, auf die Begründung des Ganzhirntodkriteriums zu achten. Diese zielt nicht auf die Unmöglichkeit des Vernunftgebrauchs, sondern auf die Aufhebung der Leibeinheit. Die Begründung beruft sich nicht auf das Gehirn, an dessen

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mit ihr ist der Kern des Problems noch nicht anvisiert. Denn jede Festlegung eines Kriteriums bewegt sich unweigerlich in einem mehr oder weniger reflektierten Vorverständnis von Menschentod und Menschenleben – in einem Vorverständnis, das nicht der Medizin, sondern dem ihr uneinholbar voraus- und zugrundeliegenden lebenspraktischen Selbstverständnis entstammt. Die ausdrückliche Bezugnahme auf dieses Vorverständnis hat nicht den Zweck, medizinische Aussagen über den Menschentod zu korrigieren, sondern den Blick für deren bloß partielle Geltung zu schärfen. Die Inhalte des Vorverständnisses sind also nicht einfach ungeprüft zu übernehmen, sondern methodisch-kritisch zu reflektieren und auf diese Weise zu vertiefen. Kritisch ist die Reflexion freilich erst dann, wenn ich mich in ihr als Mensch – und nicht als etwas anderes – wiederfinden kann. Wird mir das unmöglich gemacht, habe ich nicht mich selbst, sondern die mich wegerklärende Theorie abzuschaffen. Die methodisch-kritische Reflexion des lebenspraktischen, mitmenschlichen Selbstverständnisses ist nicht Sache der Medizin, sondern der Philosophie. Deren primäre Sorge muss es sein, den sachgemäßen Frageansatz zu finden – in unserem Fall, die Frage nach dem Tod in der rechten Weise zu exponieren. Das erfordert zu allererst eine besondere Offenheit und die Bereitschaft, Vorurteile und Vorentscheidungen zu suspendieren. Wenn z. B. Schopenhauer meint, der Tod sei der „eigentliche inspirierende Genius, oder der Musaget der Philosophie“7, so kann er sich zwar auf Platons Bestimmung der Philosophie als Sorge um den Tod, Einübung in den Tod (MELETE THANATOU) berufen, verengt aber damit das Problem. Denn die Frage nach dem Tod – und es ist der je eigene Tod, um den es geht – kann nicht ohne die Frage nach dem Anfang des je eigenen Daseins gestellt werden. Ein anderes Vorurteil lautet, der Tod sei das absolute Ende des Lebens. Die These vom Tod als dem definitiven Ende eines Menschenlebens ist die These vom ‚natürlichen‘ Tod. Für sie ist die naturwissenschaftliche Auffassung vom Tod

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Funktionstüchtigkeit der Vernunftgebrauch als das den Menschen vor den anderen Lebewesen auszeichnende Spezifikum gebunden ist – das wäre die falsche Begründung, die konsequenterweise das Teilhirntodkriterium nach sich zöge –, sondern auf die mit dem irreversiblen Funktionsverlust des Gesamtgehirns einhergehende Aufhebung der Leibeinheit. A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II/2, Kap. 41, in: Werke in 10 Bänden, Bd. IV, Zürich 1977, 542.

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maßgeblich. Der Tod wird verstanden als das durch biologische Ursachen bewirkte Ende des organischen Lebensprozesses, das alle Lebewesen, also auch den Menschen betrifft. Gegen diese These wäre einzuwenden, dass sie völlig unkritisch naturwissenschaftliche Aussagen zum unhintergehbaren Ausgangspunkt einer philosophischen Reflexion macht, und nicht den methodischen Reduktionismus der Naturwissenschaften auf seine Voraussetzungen hin hinterfragt. Einer sachgemäßen Problemexposition muss es in erster Linie um die Frage gehen, wie der Tod für uns überhaupt zur Gegebenheit kommt. Jede wie immer geartete Aussage über den Menschentod muss sich der fundamentalen Frage stellen, wodurch sie sich ausweisen lässt, worauf sie sich stützt. Philosophisch können wir nicht einfach auf direkte Weise nach dem Menschentod fragen, weil mein Tod ja nicht ein in meinem weltoffenen Dasein endendes Vorkommnis ist. Endet solch ein innerzeitliches Ereignis, beginnt ein anderes. Der Tod als Ende der Zeit meiner Weltoffenheit ist jedoch kein Ende, auf dessen Eintritt andere innerzeitliche Ereignisse folgen. Da auf der anderen Seite der Tod auch nicht als Einbildung abgetan werden kann, kommt es zu einer Rückfrage. Wie zeigt sich der Tod, so dass wir nach ihm überhaupt fragen können und fragen müssen? Wir hätten ja gar nicht das bedrängende Problem, würde unser Tod nicht auf irgendeine Weise für uns zur Gegebenheit kommen. Fragen können wir, weil wir in einer sehr schwierig aufzuklärenden Weise um unser Sterbenmüssen, darum wissen, einmal nicht mehr dazusein. Dieses Wissen bildet ein konstitutives Moment unseres Weltbezugs und damit unserer Selbstgegenwart. Es war Max Scheler, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Recht darauf insistiert hat und aufmerksam gemacht hat, dass dieses Wissen kein empirisches Wissen ist. Er wendet sich gegen das weit verbreitete Vorurteil, das Wissen um unseren Tod sei das Ergebnis einer auf Beobachtung ruhenden Induktion. Ein Induktionsschluss, so Schelers Einwand, sei nicht nur an die Zufälligkeit der Erfahrung des Sterbens anderer gebunden, sondern würde immer nur zu einer Wahrscheinlichkeit eigenen Sterbens führen. Ein Induktionsschluss erkläre weder die unmittelbare Gewissheit der eigenen Sterblichkeit, noch erkläre er, warum Krankheit und Älterwerden auf ein Ende

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verweisen sollen, er erkläre nicht das Wissen um die Begrenztheit unseres Daseins, sondern setze es in Wahrheit voraus. Nur weil wir unabhängig von der Beobachtung des Sterbens anderer schon um die Begrenztheit unseres Lebens wissen – weil wir eine „intuitive Todesgewißheit“8 besitzen – einzig deshalb können wir Kräfteverfall und Alterserscheinung als auf den Tod gerichtet erfahren.9 Die Todesgewissheit ist für Scheler ein konstitutives Strukturmoment der Lebenserfahrung.10 Die bleibende Bedeutung von Schelers Analysen liegt zweifellos in der Destruktion der These, das Wissen um die eigene Sterblichkeit sei ein rein empirisches, auf Beobachtung und Induktion beruhendes Wissen. Schelers ‚intuitive Todesgewissheit‘ ist allerdings genau genommen eine Gewissheit der Todesrichtung des Lebens. Die Frage bleibt, was es mit diesem seltsamen ‚Wissen‘ um das eigene künftige Nicht-mehr-Dasein auf sich hat, in dem dieses für uns zur Gegebenheit kommt. ‚Wissen‘ ist freilich ein Hilfsausdruck, weil es sich ja um eine Erschlossenheit sui generis handelt, die sich mit nichts anderem mehr vergleichen lässt – ausgenommen das ebenso seltsame ‚Wissen‘ darum, einmal nicht dagewesen zu sein. Das ist der Grund, warum sich die Frage nach dem Tod nicht ohne die Frage nach dem eigenen Anfang stellen lässt. Beide Fragen gehören untrennbar zusammen. Als Menschen verhalten wir uns in all unseren Beziehungen zu diesem oder jenem, zu diesen oder jenen Mitmenschen, sie seien uns fern oder nah, zu unserem Tod und unserem Anfang. Eines entspricht dem anderen.

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Die Überlegungen Schelers finden sich in der Abhandlung mit dem Titel „Tod und Fortleben“, in: M. Scheler, Gesammelte Werke, hg. v. M. Scheler und M. Frings, Bd. 10, Bern 1957, 9–66, Zitat: 22. Der Mensch, so lautet die gängige Vorstellung „braucht gleichsam nur die Richtung der Kurve, die ihm jede dieser Erfahrungen des Alterns, der Krankheit, des Schlafes gibt, auszuziehen, um an ihrem Endpunkte gleichsam die Idee des Todes zu finden. Aber auch diese Vorstellung genügt nicht, das Problem zu lösen. Denn woher wüßte der Mensch, daß diese Kurve nicht grenzenlos in diesem Rhythmus weitergehe? Nicht erst in der Beobachtung und der vergleichenden Erinnerung verschiedener Lebensphasen, hinzugenommen ein solches künstliches Vorwegnehmen der ‚wahrscheinlichen‘ Beendigung, liegt das Material zu jener Gewißheit, sondern sie liegt schon in jeder noch so kleinen ‚Lebensphase‘ und ihrer Erfahrungsstruktur.“ (Ebd., 16) „Der Tod ist also nicht ein bloß empirischer Bestandteil unserer Erfahrung, sondern es gehört zum Wesen der Erfahrung jedes Lebens, und auch unseres eigenen, daß sie die Richtung auf den Tod hat. Der Tod gehört zur Form und zur Struktur, in der uns allein jegliches Leben gegeben ist, unser eigenes wie jedes andere, und dies von innen und von außen.“ (Ebd., 22) Der Tod wird „nicht etwa bloß auf Grund der Erfahrung, die wir an anderen Lebewesen machen, induktiv als wahrscheinlich vorausgesetzt“, sondern ist „ein notwendiger und evidenter Bestandteil in jeder möglichen inneren Erfahrung des Lebensprozesses“ (ebd., 23).

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Das freilich meist so, dass dieses Verhalten im unbeachteten Hintergrund bleibt, weil im Vordergrund eben dasjenige steht, was uns in der Vielfalt seiner Erscheinungsweisen in Anspruch nimmt. Unser Tod kommt irgendwie für uns zur Gegebenheit, anderenfalls würde ja unser eigenes weltoffenes Dasein nicht zur bedrängenden Frage. Unser künftiges Nicht-mehr-Dasein ist etwas Unleugbares. Bernhard Welte spricht in diesem Zusammenhang sogar von Erfahrung.11 Freilich ist hier nochmals auf eine fundamentale Schwierigkeit aufmerksam zu machen. Bei dem Nicht-mehr-Dasein handelt es sich um kein Vorkommnis, kein Ereignis in unserem Dasein, auf das wir uns gegenständlich richten könnten, und über das wir Aussagen im Sinne des Etwas-über-etwas-Sagens machen könnten. Geht es um die Frage nach unserem Tod, muss die vorstellende Haltung aufgegeben werden, die immer Eigenschaften von einem Eigenschaftsträger aussagen möchte. Wir entkommen zwar nicht der sprachlichen Struktur, in der immer etwas über etwas ausgesagt wird, aber in unserem Fall müssen wir sozusagen „die Sprache gegen ihren nächsten Sinn gebrauchen“12. Welte spricht deshalb von ‚Dimensionen‘ des künftigen Nicht-mehr-Daseins. Er nennt das „Abdrängende“, die „Endlosigkeit“ und die „Unbedingtheit“13. Das eigene Nicht-mehr-Dasein ist überhaupt nichts Gegenständliches, wenngleich etwas uns Bedrängendes und in seiner Bedrängnis Gegebenes. Nicht umsonst fliehen wir vor dem sicher kommenden Nicht-mehr-Dasein in die Geschäftigkeit des Alltags, oder decken es zu, indem wir es zu einem künftigen Ereignis umdeuten oder Geschichtsutopien eines besseren Daseins entwerfen. Unser Tod ist zwar das Ende unseres Daseins, aber nicht im Sinne eines für uns vollkommen entzogenen Abbruchs, der nur für die anderen beobachtbar ist. Das kommende Nichtmehr-Dasein wird ja im Dasein selbst als das Bedrängende erfahren. Es ist zwar, vom Dasein her gesprochen, dessen Anderes, aber nicht in einer äußerlichen Weise, vielmehr ist es „gerade im Dasein als sein Anderes und keineswegs bloß an 11 12 13

B. Welte, Religionsphilosophie, Freiburg u.a. 1978, 51. Ebd., 57. Ebd., 54 f.

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seinen Grenzen und außerhalb seiner“14. Es „durchdringt und durchstimmt“ unser Dasein.15 Noch etwas lässt sich der Gegebenheit unseres Todes entnehmen: sein doppeltes Antlitz. Auf der einen Seite geht von ihm eine radikale Sinnbedrohung aus. Am Tod scheitert alles und wird hinfällig. Niemand entkommt seinem Tod, niemand kann dem Tod entrissen werden. Der Tod macht allen Sinn fragwürdig. Aber – und das ist die andere Seite seines ‚Antlitzes‘ – er zerstört ihn nicht einfach. Der Tod ist einerseits Quelle der radikalen Sinnbedrohung, andererseits aber Konstituens der SinnErfahrung. Max Müller hat in diesem Zusammenhang auf die konstitutive Rolle der Todeserfahrung für die geschichtliche Sinnerfahrung hingewiesen, die man sich an der Fiktion eines todlosen Lebens verdeutlichen könne. In einem todlosen Leben muss überhaupt nichts mehr jetzt getan werden, jede Entscheidung wird bedeutungslos, weil beliebig nachholbar. Damit aber wird Zeit und Freiheit belanglos – weil es eben die Kostbarkeit des Augenblicks nicht gibt. Ohne Tod gibt es nicht die Sinnerfahrung des Glückens, des beseligenden Augenblicks. Ohne Tod hat die Zeit keine sinnentscheidende Bedeutung. Unser Nicht-mehr-Dasein ist beides: sinnbegründend und sinnzerstörend.16

14 15 16

Ebd., 57. Ebd. Die „Todeserfahrung ist auch konstitutiv für die eigentliche geschichtliche Sinn-Erfahrung. Gegenbeispiel: Die Fiktion eines todlosen Lebens. In einem solchen Leben muß nichts mehr jetzt getan werden. Jede Entscheidung der Freiheit verliert ihre Bedeutung: sie kann beliebig nachgeholt werden; jeder Fehler kann in der unendlich zur Verfügung stehenden Zeit des todlosen Lebens wieder gut gemacht werden. Damit ist die Verfehlung keine Verfehlung mehr […]. Zeit, Freiheit, Geschichte werden belanglos und damit sinnlos: keine Liebe muß sich jetzt ereignen, keine Begegnung ist mehr entscheidend, alles kann verschoben werden […]. Es gibt ohne Tod nicht die Erfahrung des Glücks als des Glückens, daß die Einstimmung von Forderung und Leistung, die so nur einmal ergeht und jetzt geleistet werden muß, erreicht sei […]. Nur im Ernstnehmen der Todeserfahrung erhält die Zeit positiv-unbedingte Bedeutung gegenüber der Neutralität als jederzeit verfügbares Medium; nur durch den Tod wird sie selbst (positiv oder negativ) Sinn-entscheidend. Der Tod ermöglicht den Augenblick: daß ein endliches Zeitmoment ‚unendliche Wichtigkeit‘ erlange, und damit ermöglicht der Tod eine Glücks- und Sinnerfahrung, die spezifisch menschlich ist.“ „Tod ist also auch sinnbegründend, Zeit sinnhaft machend und zugleich sinnbedrohend. Die Philosophie, die sich dieser Dualität stellt, versucht also den gerade durch den Tod erfahrenen Augenblickssinn und die im Tode erfahrene Sinnbedrohung, die im Untergang der tragenden Wirklichkeit liegt, miteinander ins Gleichgewicht zu bringen“ (M. Müller, Erfahrung und Geschichte, Freiburg/München 1971, 133).

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2. Die Frage nach dem Tod ist die Frage nach dem je eigenen Anfang des Daseins

Damit stellt sich die Aufgabe, sich der Ambiguität des ‚Antlitzes‘ des Todes zu stellen und zu fragen, was diese Zweideutigkeit zu denken gibt, ohne diese Ambiguität mit Hilfe von außen herangetragener Postulate zu lösen. Die Aufgabe besteht methodisch gesehen darin, sich an die Phänomenalität des Nicht-Daseins selbst zu halten. Die Entscheidung über die Zweideutigkeit des Todes-Nichts muss dem Phänomen des Nicht-Daseins selbst entnommen werden. Anders gesagt: Wir müssen uns an die volle und unverkürzte Weite des Phänomens des Nicht-Daseins halten. Das ist bis jetzt noch nicht geschehen. Denn das künftige Nicht-mehr-Dasein ist ja nur die eine Dimension des NichtDaseins, seine andere Dimension ist das Nicht-Dagewesensein, die Weise, wie sich der Anfang unseres Daseins verbirgt. Jeder von uns ist einmal nicht dagewesen und hat also einen Anfang seines Daseins. Fragen wir nach dem Anfang unserer selbst, müssen wir uns genau Rechenschaft geben, wonach hier gefragt wird und wie hier sachgemäß zu fragen ist. Wir müssen uns mit knappen Hinweisen begnügen. Erstens geht es nicht darum, wie man sich die eigene Entstehung vorstellen kann, nicht um einen vorgestellten Anfang, sondern um den Anfang so, wie er sich in unserem Dasein selbst zeigt – denn dieses ist der Ort, an dem er zur Gegebenheit für uns kommt. Ein bloß vorgestellter Anfang wäre erreicht, würde man sich aus dem insgesamt Vorhandenen wegdenken und mit Hilfe der Rekonstruktion einer (womöglich bis zum ‚Urknall‘ reichenden) Entstehungsgeschichte zum Vorhandenen wieder hinzudenken. Zweitens geht es nicht um irgendeinen Anfang, sondern um je meinen, je deinen, also um den Anfang, „mit dem unvertretbar einzigartig Neues zu sein angefangen hat: jemand, du selbst, ich selbst“17. Es geht um den Anfang unseres welt-offenen Daseins. Drittens geht es um den Anfang meines ganzen, zeitlich-geschichtlichen Dasein-könnens, um das Ganze meines Daseins, also meines Daseins mit den ihm vor- und mitgegebenen Mög17

K.A. Wucherer-Huldenfeld, Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien Bd. 2, Wien 1997, 341.

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lichkeiten, dem Guten Raum geben zu können, meines Daseins, dem die eigene Endlichkeit erschlossen ist. Viertens geht es um die Ernstnahme des Urfaktums, dass wir dasein können, es geht um das Dasein-können. Dass jeder von uns dasein kann heißt, dass es jedem von uns gegeben ist zu sein. Mein Anfang verbirgt sich in dem Faktum meines Daseinkönnens. Fünftens muss der Anfang meines Daseins vom Beginn unterschieden werden. Beginn meint „die ersten einzelnen Momente innerhalb einer vergleichbaren Abfolge von Momenten, [...] mit denen etwas, das schon zu sein angefangen hat, hervorkommt“18. „Anfang meint demgegenüber die Eröffnung eines Ganzen hinsichtlich seines Seins, konkreten Wesens und Ganzseinkönnens“19. Der Beginn wird im Laufe des Daseins überholt und zurückgelassenen, nicht so der Anfang. Dieser ist niemals etwas Vergangenes. Einen Anfang haben heißt, sich ihm ständig verdanken. Wir verdanken die Zeit unseres Daseins einem Geben, das sich zugunsten der Vernehmbarkeit der Gabe verbirgt. Diese Verbergung ist die Weise, wie sich unser Anfang zu erfahren gibt – und das so, daß wir bleibend von seiner das Sein gewährenden Mächtigkeit umfangen sind. Mein Anfang umgreift das Ganze meines Daseins, ohne von ihm umgriffen oder begriffen zu werden. Freilich: Wenn wir fragen, was sich hier zu erfahren gibt, dann müssen wir sagen: Was sich hier bekundet, können wir mit nichts uns von sonst woher Bekanntem oder daraus Errechenbarem identifizieren. Unser Anfang zeigt sich phänomenal als nichts von alledem: Kein Seiendes – Nichts. Man weicht vor diesem Nichts aus, wenn man es umdeutet in die Vorstellung, man selbst sei einmal nicht vorhanden gewesen. Solch eine vorstellende Haltung lebt von einer Abstraktion. Sowohl das vorstellende Subjekt als auch das vorgestellte Objekt ist nämlich „grundsätzlich austauschbar“, weil in beiden Fällen vom Selbstvollzug und der Weltoffenheit des Daseins abstrahiert wird.20

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Ebd. Ebd. Ebd., 343.

Der Mensch und Gesundheit, Krankheit, Tod | Günther Pöltner

Mit dem Nichts des Anfangs ist nicht eine sprachlogische Negation, die vorgestellte Negation von allem, gemeint.21 Mit einer formalen Negation würde ja bloß gesagt, dass etwas nicht mehr festgestellt werden kann, mit ihr wäre bloß etwas über das Verhältnis ausgesagt, in dem ein Beobachter zu seinem Beobachtungsgegenstand steht. Eine bloß formale Interpretation des Nichts geht an der Sache vorbei, weil sie nicht erklären kann, warum wir überhaupt von dem künftigen Nicht-Dasein „als von einer unleugbaren Tatsache reden können. Wir könnten dies nicht, wenn es nicht für uns, die wir da sind und solange wir da sind, auf irgendeine Weise zur Gegebenheit käme“22. Mit der These von der sprachlogischen Negation wären wir wiederum der Phänomenalität unseres Anfangs ausgewichen und hätten verdrängt, dass wir die Zeit unseres Daseins haben, indem sie uns gegeben wird. Wir erfahren das Nichts unseres Anfangs keineswegs als eine sich ins Leere verlaufende Vorstellung, sondern können es positiv als das Geheimnis erfahren, das in der Gegebenheit unseres weltoffenen Daseins waltet. Das Nichts unseres Anfangs umfängt unser ganzes Dasein, also auch sein Enden und damit seinen Tod. Indem wir uns zum Nichts unseres Todes verhalten, verhalten wir uns zum Nichts unseres Anfangs, dem wir uns selbst verdanken. Der je eigene Tod ist die Art und Weise, wie sich der je eigene Daseinsursprung als allumfassend zeigt. Wenn anders im Todes-Nichts sich unser daseinsgewährender Ursprung verbirgt, wäre dann der Tod die Ankunft des zum Dasein freigebenden Geheimnisses?

21 22

Der Einwand lautet, die Rede vom Nichts sei eine unerlaubte Hypostasierung der sprachlichen Negation von ‚etwas‘ (‚nichts‘ = ‚nicht etwas‘). Welte, Religionsphilosophie (wie Anm. 11), 51.

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Der Mensch und die Freiheit Thomas Sören Hoffmann

„Der Mensch und die Freiheit“ – dieses Thema gehört zu den immer unausschöpflichen Gegenständen der Philosophie. Zu tun hat dies keineswegs nur damit, dass sich an das Wort „Freiheit“ Verheißungen und Hoffnungen aller Art knüpfen, die auf besondere Weise intellektuelle und auch praktische Energien zu mobilisieren vermögen. Entscheidender ist, dass wir es beim Begriff der Freiheit mit einem veritablen Grundlagenbegriff der Philosophie zu tun bekommen, an dem in systematischer Hinsicht so ziemlich alles hängt, was die Philosophie zu tun und zu sagen hat. Besonders evident ist dies sogleich für den Bereich der praktischen Philosophie; denn ohne Voraussetzung von Freiheit, d. h. ohne Rekurs auf ein mögliches Selbstseinkönnen des Vernunftwesens Mensch als Vernunftwesen, erübrigt sich selbstverständlich alle Ethik und alle Rechtsphilosophie, wie sich näher besehen auch alle Geschichtsphilosophie so erledigt, denn Geschichte ist ja nicht einfach die Chronologie faktisch stattgefunden habender menschlicher Verrichtungen – Geschichte ist ihrem philosophischen Begriff nach vielmehr der durch Freiheit erschlossene Raum möglicher (wenn auch möglicherweise scheiternder) Realisierungen von Vernunft in der Zeit. Aber auch in der theoretischen Philosophie liegen die Dinge nicht anders: Wir wissen seit Kant, dass ohne Spontaneität des Denkens, ohne den sich in seinem Erkennen stets selbst suchenden freien Begriff objektive Erkenntnis nicht möglich ist – so dass man pointiert geradezu sagen kann: eigentliche Objektivität gibt es nur korrelativ auf eine selbstbewusste, aus den Zwängen der Unmittelbarkeit schon ausgetretene Subjektivität,

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die entsprechend in ihrer Erkenntnis der Dinge auch ihre Freiheit von den Dingen findet.1 Unsere einleitenden Überlegungen ließen sich leicht fortsetzen, und wir könnten in der Tat in allen Disziplinen der Philosophie sehr rasch die Freiheit als den einen Grund- und Angelbegriff ausmachen, um den sich alles dreht, was bis hin beispielsweise zur Philosophie der Natur gilt, in der es philosophisch ja zentral um den nicht einfach nur metaphorisch zu nehmenden Begriff einer freien Natur geht2, bis hin etwa auch zur Philosophie der Religion, in der es ebenfalls um Dimensionen möglichen Freiseins, jetzt im Gegenüber zur großen Totalität aller Dinge geht. Hier kann es freilich nicht um eine umfassende Systematik des Freiheitsbegriffs in dem angedeuteten Sinne gehen. Wir wollen uns vielmehr auf einen Ausschnitt aus dieser Fragestellung beschränken, wie er sich aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie ergibt, wollen jedoch das „Und“ im Titel dieses Beitrags so interpretieren, dass stets deutlich bleibt, inwiefern wir es hier eben nicht mit „auch“ einem, sondern eher schon mit dem Problem des philosophischen Begriffs des Menschen zu tun haben. Die philosophische Anthropologie erweist sich dabei freilich rasch als eine paradoxe Wissenschaft. Es gibt sie unter dem Namen „Anthropologie“ erst in der Neuzeit, was zwar nicht heißt, dass ältere Zeiten keinen Begriff vom Menschen gehabt hätten, was aber anzeigt, dass sich jetzt eine (auch) empirisch beobachtende Vernunft anschickt, die Frage nach der Natur des Menschen so zu stellen, dass sie dabei nicht unmittelbar beim Selbstbewusstsein des animal rationale ansetzt, sondern dieses als äußeren Gegenstand setzt. Das ist beispielsweise von Hobbes bis zu La Mettrie der Fall und erlebt im 19. Jahrhundert nochmals einen Aufschwung, der zuletzt in einen anthropologischen Positivismus derart führt, dass sich die sich auf diese Weise selbst beobachtende Vernunft in dem, was sie da als „den Menschen“ beobachtet, selbst immer weniger

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Bezüglich der Grundlagenfunktion des Freiheitsbegriffs auch für die theoretische Philosophie sei an dieser Stelle nur auf das nach wie vor bemerkenswerte Buch von J. Simon, Wahrheit als Freiheit. Zur Entwicklung der Wahrheitsfrage in der neueren Philosophie, Berlin/New York 1978 verwiesen. Hegel hat in diesem Sinne die Naturphilosophie geradezu als „Wissenschaft der Freiheit“ bezeichnen können (vgl. G. W. F. Hegel, Naturphilosophie. Die Vorlesung von 1819/20, hg. von M. Gies, Neapel 1982, 6).

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

wiederfinden kann.3 Die wesentliche Erfahrung, die die Vernunft hierbei macht, ist, hier ganz abgekürzt gesagt, die, dass es die Natur des Menschen ist, seine Naturgegenständlichkeit bzw. Naturhaftigkeit gerade zu sprengen. Wenn wir für einen Augenblick mit Descartes sagen, dass Naturhaftigkeit eine äußere Vermittlung bzw. Vermitteltheit bedeutet, dann tritt an die Stelle der letzteren im Falle des Menschen eine innere Vermittlung, eine Vermittlung durch sich selbst bzw. durch die Vernunft, die das Wesen der Freiheit ist. Die philosophische Anthropologie führt insoweit stets notwendig über sich selbst hinaus, sie hebt sich in die philosophische Freiheitslehre, die Eleutheriologie hinein auf.4 Allerdings wollen wir dies nicht einfach nur abstrakt behaupten, sondern an Hand einiger konkreter Beispiele aus der europäischen Denkgeschichte beleuchten. Wir wollen dabei so verfahren, dass wir bei der Spannung zwischen Freiheitsbewusstsein und (objektivierendem) Menschenbild ansetzen, die sich im europäischen Denken immer wieder expliziten Ausdruck verschafft hat und in der man in gewisser Weise auch eine Anwendung des zunächst auf Gott bezogenen Bilderverbots auf den Menschen, das Ebenbild Gottes, verstehen kann: Eben weil der Mensch im Sinne von Gen 1,27 „Bild Gottes“ ist, erstreckt sich, zumindest in einem abgeleiteten Sinne, auch auf ihn ein Schutz vor jenem verdinglichenden Zugriff, gegen den Gott selbst (in seiner Freiheit) durch das Bilderverbot geschützt ist. Wir werden dann an Hand einer exemplarischen Konsequenz aufzuzeigen versuchen, was aus dieser zunächst scheinbar nur negativen Vergewisserung des Menschen über sich selbst als Problem, aber auch als Lösung dieses Problems erwuchs; diese exemplarische Konsequenz, die wir hier kurz betrachten wollen, liegt im europäischen Rechtsbegriff, dessen Sinn es nicht zuletzt ist, den Menschen als Freiheitswesen mit seinesgleichen in ein selbst freies Verhältnis zu setzen. Beginnen wir aber mit der Frage von Freiheit und Menschenbild!

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Wichtig ist dabei z. B. E. Platners Neue Anthropologie für Aerzte und Weltweise. Mit besonderer Rücksicht auf Physiologie, Pathologie, Moralphilosophie und Aesthetik, die 1790 in Leipzig herauskam und eine Brücke zwischen der leibniz-wolffschen Schulphilosophie und den neueren Anthropologien schlägt. Es entspricht der kritischen Grundeinsicht Kants, dass es bei ihm nur eine „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, nicht eine im eigentlichen Sinne theoretisch bestimmende Wissenschaft vom Menschen geben kann.

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76 I. Die Freiheit und das „anthropologische Bilderverbot“

Einer der mächtigsten Freiheitsdenker unserer Tradition, ein Denker, den für seine Person die Kantische Philosophie aus dem Schlummer der Selbstverdinglichung und der Herabsetzung des Menschen zu einem Stück Natur erweckt hat, ist Johann Gottlieb Fichte gewesen, ein Denker, der nicht nur nicht müde wurde, seine Hörer daran zu erinnern, dass sie nicht „ein Stück Lava im Monde“, sondern „ein Ich“5, also Subjekt seien, sondern der auch wie vor ihm kein anderer die Systematik des Freiheitsbegriffs bis in seine letzten Verzweigungen hinein durchbuchstabiert hat.6 Verweilen wir wenigstens für einen Augenblick bei Fichtes Bild von der „Lava im Monde“ und versuchen von ihm aus, die Beziehungen in die Systematik des Freiheitsbegriffs hinein zu skizzieren! Die Lava im Monde ist, erstens, ein Bild der Erstarrung, der toten Faktizität, der fixen Vorstellung, die ihren Ursprung, mit Fichte zu reden: ihre „Genesis“, vergessen hat. Das Bild zeigt auf ein Selbstbewusstsein, das sich als Produkt, nicht als Produzierendes, als ens mere passivum, nicht als Vollzug und actus, als Etwas, nicht als Ich begreift und das sich insofern gerade auf fatale Weise verfehlt. Wir wissen, dass Offerten, sich selbst in entsprechendem Sinne theoretisch auf eine Etwasbestimmtheit zu reduzieren, dem Menschen heute von verschiedenen Seiten gemacht werden – und zwar, versteht sich, nicht mehr so sehr von Seiten einer Substanzmetaphysik, wie Kant sie noch zu bekämpfen hatte, wohl aber von Seiten von Weltbildlieferanten, die bei der Genetik oder der Neurologie, bei der Evolutionsbiologie oder der sogenannten Kognitionswissenschaft eingekauft haben und ihre Produkte dann z. B. in den Feuilletons ausstellen. Für Fichte, der in einer der späten Berliner Vorlesungen zur transzendentalen Logik angesichts des Verdachts, er treibe am Ende bloß Philosophie auf der Basis von Anthropologie, entrüstet ausruft: „Wo habe ich in Schriften oder auf dem Katheder das Wort Mensch je in den Mund ge5

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J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), in: Gesamtausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaften [= GA], Stuttgart/Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. I/2, 326 Anm. mit Zusatz. Eine genauere Untersuchung zum Verhältnis des Fichteschen Idealismus zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts liegt zumindest in italienischer Sprache vor: L. Fonnesu, Antropologia e idealismo. La destinazione dell’uomo nell’etica di Fichte, Rom/Bari 1993.

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

nommen, außer etwa, um […] die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit dieses Wortes zu zeigen?“7 – für Fichte also gilt, dass vielmehr seine ganze Philosophie eine einzige Unternehmung der Wiederherstellung ursprünglicher menschlicher Nicht-Festgelegtheit, ursprünglicher Vollzugsfreiheit ist und diese Philosophie deshalb auch wesentlich auf das hinauskommt, was ich ein „anthropologisches Bilderverbot“, ein Verbot, den Menschen in „Menschenbildern“ einzusargen, nennen möchte. Die Lava im Monde ist, zweitens, ein Bild der Trägheit und – damit zusammenhängend, weil sie erst ermöglichend – der Fremdbestimmung. Beschränken wir uns auf ein Beispiel aus der politischen Sphäre: Wenn Fichte den Irrationalismus des absolutistischen Machtstaats durch den Vernunftstaat ablösen will, dann deshalb, weil der Vernunft- bzw. Vernunftrechtsstaat in der Tat der einzige Staat ist, der den Anspruch seiner Bürger auf eine ursprünglich-freie Subjektivität, auf ein wahrhaft autonomes Weltverhältnis, mit den Notwendigkeiten einer zwangsbewehrten kollektiven Organisationsform verbinden kann. Auf eine kurze Formel gebracht: So, wie der Vernunftstaat geradezu davon lebt, dass sich seine Bürger von freier Selbstbestimmung, auch der zum staatlichen Miteinander, her verstehen, so lebt der nur auf kontingente Machtakkumulation gegründete Obrigkeitsstaat umgekehrt davon, dass sich seine Bürger ihm gegenüber tatsächlich nicht als Subjekte, sondern als passive Masse verhalten, die in heteronomen Verhältnissen gerade das ihr Gemäße erblickt. Das innerste Geheimnis bloßer Obrigkeitsstaatlichkeit ist ja der Selbstbegriff der Bürger eben nach dem Trägheitsmodell, nach dem Modell der Lava im Monde eben, die selbst keinen Willen kennt und mit der entsprechend die Willkür verfährt, wie es ihr eben gefällt. Auch hier sage niemand, dass uns dies dank eines weltgeschichtlichen Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit nichts mehr angehe! Wir erinnern uns nur etwa an das Stichwort von der „Postdemokratie“, das in der jüngeren Politikwissenschaft nicht ohne Grund kursiert und das sich vor allem auf die auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu beobachtenden Phänomene der zunehmenden Reduktion

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J. G. Fichte, Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik (1812), in: Nachgelassene Werke, hg. von I. H. Fichte, ND Berlin 1971, Bd. 1, 336.

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von Bürgerbeteiligung auf bloß symbolische Akte bezieht;8 auf einige Beispiele „postdemokratischer“ Strukturen bis in die Reformulierung der Grundrechte hinein werden wir noch zu sprechen kommen. Die Apologeten der Postdemokratie, die es – leider – ja durchaus gibt, argumentieren in der Regel mit einem „Gemeinwohl“-Begriff, dessen Realisierung heute im Rahmen eines neuen politischen Paternalismus (oder, wie es modern heißt: der „Output-Orientierung“) eben „effizienter“ möglich sei als auf dem Wege einer echten Partizipation der Bürger. Wenn schon Kant den Paternalismus „die am meisten despotische unter allen“ Regierungsformen genannt hat, weil sie elementar darin besteht, Bürger als Kinder und nicht „als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbstständigkeit“9 zu behandeln, und noch mehr Fichtes gesamte politische Philosophie darauf hinausläuft, den Menschen aus der Objektrolle, auch der Rolle des Objekts beim Empfangen von sogenannten Wohltaten, zu befreien, hat die „Lava im Monde“ gegen diese Rolle – keinerlei Einwendungen. Und drittens schließlich ist diese Lava im Monde ein Bild der Sprachlosigkeit, des Verstummens auch noch in dem Geräusch, das ein in Gerölllawinen abgehendes Gestein produzieren kann. Fichte ist ja ein erstaunlich klarsichtiger Diagnostiker des Sprachverlustes mitten im Reden, des Verstummens mitten in der Produktion sprachlicher Zeichen gewesen, ich muss dafür nur etwa an den Dialog über die „Patrioten“ erinnern, in dem der Wissenschaftslehrer mit dem Verweis auf die „sich gleichsam von selber schreibende Sprache“10 nachgerade postmoderne oder auch informationstechnologische Positionen in Bezug auf die schöne neue Welt subjektunabhängiger unendlicher Semiosen antizipiert hat. Tatsächlich könnte gerade in unserer hochgradig symbolisch aufgelösten Welt ein welthistorisches Verstummen der denkenden Individualität bzw. der individuierten Vernunft stattfinden, die in der Geräuschkulisse öffentlich produzierter Zeichen klanglos verschwindet, wie

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Vgl. C. Crouch, Postdemokratie, Frankfurt am Main 2008. I. Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre, in: Kants Gesammelte Schriften [= AA], hg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. VI, 317. Vgl. Fichte, Der Patriotismus und sein Gegenteil. Patriotische Dialogen vom Jahre 1807, GA II/9, 408.

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

man denn etwa kein besonders trübe gestimmter Kulturkritiker sein muss, um doch den Verdacht zu hegen, dass die modernen Massenmedien ihren letzten Zweck vielleicht gerade darin haben, der Vernunft nicht nur hier und da, sondern durchaus systematisch und in jedem Fall einfach das Wort abzuschneiden; wie gesagt, auch dafür ließen sich bei Fichte nähere Hinweise finden, doch wollen wir uns, wie ebenfalls schon gesagt, nicht in den Beispielen verlieren, sondern auf das zu sprechen kommen, was Fichte schon zu seiner Zeit im Visier hatte und was heute an Brisanz nicht verloren hat: das dingliche Selbstbild, zu dem dann auch die Entscheidung zur Trägheit wie der Verlust der Sprache untrennbar gehören. Wenn Fichte freilich, ein solches Szenario vor Augen, dann das Programm der Philosophie in die scheinbar so schlichte Formel gefasst hat: „ein solches Zeitalter“ einmal „zu [dem] Entschlusse aufzuregen“, es doch zur Abwechslung mit dem „Denken“, und zwar je „an seiner eigenen Person“11, zu versuchen, dann erinnert er auch für unsere Tage an die alte philosophische Erfahrung, dass das Denken „in eigener Person“ Gefängnisse des Selbstverständnisses zu öffnen vermag, die ohne das Denken noch nicht einmal als Gefängnisse erkannt worden wären. In unserem Zusammenhang freilich geht es uns nun nicht um eine Fichte-Exegese, so nutzbringend eine solche gerade auch für die Frage nach der Freiheit als anthropologischer Konstitutivkategorie immer sein muss. Uns interessiert Fichte hier vielmehr als Vertreter eines Begriffs vom Menschen, für den wir hier auf zwei Dinge aufmerksam machen wollen: einmal darauf, dass, wie vorhin bereits angedeutet, der Kern des europäischen Freiheitsgedankens in seiner höchstentwickelten, freilich auch immer wieder gefährdeten Form eben mit einem Bilder-, d. h. Dogmatismusverbot in Bezug auf das Ebenbild Gottes auf Erden aufs engste zusammenhängt; zum anderen darauf, dass der europäische Rechtsgedanke, wie er der Einsicht in die wesentliche Freiheitlichkeit des Menschen entstammt, nicht minder seinen Wesenskern darin hat, nicht etwa die je nachdem sanfte oder gnadenlose Umsetzung einer jeweils nur faktisch vorausgesetzten Vorstellung vom Menschen und eventuell 11

Ders., Wissenschaftslehre 1804, 2. Vortrag, GA II/8, 3.

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seinem Glück und seiner Vollkommenheit zu sein, sondern im Gegenteil darin, der Bildlosigkeit ursprünglicher Freiheit unter uns Raum zu geben. Wir werden das Schwergewicht auf den zweiten Punkt legen, beginnen aber mit einigen Hinweisen zum größeren Rahmen der sich gerade auch bei Fichte aussprechenden „negativen Anthropologie“. Wir müssen dazu ein wenig ausholen, doch denke ich, dass uns dabei die konkreten Bezüge des Themas nur umso deutlicher werden. In dem Gedanken der wesentlich bildlosen, vielmehr vollzugshaften Freiheitlichkeit des Menschen, wie nicht zuletzt Fichte ihn verfolgt, spricht sich ideengeschichtlich vor allem ein Motiv aus, das historisch sogar noch hinter das Erwachen des expliziten Freiheitsbewusstseins zurückreicht und vielmehr eine allgemeine philosophiehistorische Relevanz besitzt. Wir können dieses Motiv die Figur der Wahrung der Prinzipialität des Prinzips nennen und werden es dann ebensosehr in der Anthropomorphismuskritik eines Xenophanes wie in der dialektischen Agathologie Platons, nicht minder in der negativen Theologie der Neuplatoniker wie zuletzt auch in der Analogielehre der aristotelisierenden Scholastik finden. Der Sinn dieser Figur ist die konstante Erinnerung daran, dass das schlechthin Erste eben nicht das Zweite, das Eine nicht das Vielfache, der letzte Grund nicht das in irgendeiner Hinsicht noch einmal Begründbare sein kann. Wir verdanken Platon in diesem Sinne das Wissen darum, dass eine radikal gedachte Prinzipialität (und ohne eine solche ist Philosophie ihrem strengen Begriff nach nicht durchführbar) nicht nur jenseits der existierenden Bilder, sondern überhaupt jenseits des Seins – e¬pékeina tñv ou¬síav – ansetzen muss, und dies auch dann, wenn unsere immer „ontologielastige“ Sprache damit an die Grenzen ihrer Darstellungskompetenz geführt wird. Wir verdanken ganz analog einem viel späteren, schon an der Schwelle zur Neuzeit stehenden Denker, der doch zugleich wesentlich von Platon her inspiriert war – ich meine Nikolaus von Kues –, die Einsicht, dass wir, um uns tatsächlich über das unum absolutum als das eine Unendliche zu verständigen, einer ganz neuen Sprache der Totalität bedürfen, die wesentlich über die bestimmte Negation der Grammatik unserer Verstandesund Alltagssprachen definiert ist, damit aber gerade in der Negation der alltagssemantischen „Bildgebung“ besteht – etwas

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

einfacher ausgedrückt: Nikolaus von Kues lehrt, dass wir zum wahrhaft Einen und Unendlichen dann vorstoßen, wenn wir es lernen, die Bilder von Gegenständlichkeiten konsequent zu negieren, die unsere Sprache, um überhaupt eine bestimmende Sprache sein zu können, unwillkürlich immer erzeugt. Und wir verdanken, um auch dieses Beispiel noch zu nennen, Leibniz den Grenzbegriff eines unendlichen (göttlichen) Intellekts, der als ein die jeweilige Standpunktlichkeit unseres Erkennens absorbierendes absolutes Erkennen zugleich der Realgrund unseres Erkennens wie dessen Kritik und Überwindung ist. Für unsere Frage nach der Freiheit und ihrer Bewusstwerdung als der eigentlichen Natur des Menschen entscheidend ist dann das folgende: Die philosophische Grundfigur der Wahrung der Prinzipialität des Prinzips im strikt bildfreien, ja über die Negation der Bilder vermittelten Denken dieses Prinzips wird im Rahmen der neuzeitlichen Philosophie insofern noch einmal gesteigert, als sie jetzt eine letzte Entgegenständlichung erfährt. Zwar waren der Gott des Xenophanes oder das Gute Platons, waren das absolut Eine des Kusaners oder der unendliche Intellekt Gottes bei Leibniz auch schon keine „Gegenstände“ im Sinne bestimmter Entitäten mehr. Aber als Repräsentanten des letzten Prinzips des Denkens verhielten sie sich gegen das Denken doch immer auch äußerlich, das Denken war, wie es bei Nikolaus von Kues heißt, durch die „Paradiesesmauer“ von ihm bei aller vermittelten Teilhabe doch immer auch ausgeschlossen. Was nun, im Vollzug des neuzeitlichen Denkens und zugleich als dessen eigentliches Proprium geschieht, ist die Übertragung eben der Prinzipialität des Prinzips auf den Menschen – nicht, wie sich versteht, einfachhin auf den empirischen Menschen, wohl aber auf den Menschen qua Vernunftwesen überhaupt, insbesondere aber auf den Menschen, der als Vernunftwesen stets und unweigerlich auch Freiheitswesen ist – denn, so lautet das diesbezügliche idealistische Grundbekenntnis: wo überhaupt Vernunft, das heißt die Option der Negation des Gegebenen kraft des Allgemeinen ist, da ist eo ipso auch Freiheit, die immer damit beginnt, dass wir die Horizonte gegebener Bestimmtheit und Faktizität auf ihren letzten Grund hin transzendieren; denn im Begriff des Grundes ist notwendig die Aufhebung des Begründeten und überdies die Beziehung

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auf das Gegenteil des Begründeten gedacht. Beschränken wir uns auch hier nur auf die wichtigsten Etappen: ich nenne dazu als selbst Beteiligten noch einmal Nikolaus von Kues, der nicht nur davon gesprochen hat, dass nicht erst Gott, sondern bereits der menschliche Geist, die mens, in der Tat die Aufhebung aller Bilder, die „omnium imaginum complicatio“ bzw. das gleichsam überbildliche Bild einer „imago complicationis complicationum“12 sei, sondern der darüber hinaus auch festgehalten hat, dass die eigentliche Ebenbildlichkeit des Menschen in Beziehung auf seinen Schöpfer eben darin besteht, dass der Mensch ebenfalls schöpferisch ist und in bei keinem Lebewesen sonst anzutreffenden Maße über die „vis creativa“ verfügt, in deren Zeichen er eben die ihm unmittelbar gegebenen Horizonte sprengt.13 In dieser für das Menschsein des Menschen konstitutiven Teilhabe des schöpferischen Geschöpfes an der Schöpfermacht des (absoluten) Schöpfers liegt, wenn man so will, dann der Ursprung aller Anwendung des Bilderverbots, das seinerseits als religiöse Version der Figur eben der Wahrung der Prinzipialität des Prinzips angesehen werden kann, auf den Menschen. Cusanus kann, diesem Zusammenhang im Blick auf das Allbefassende der Vernunft ganz entsprechend, davon sprechen, dass der Mensch überhaupt Gott, wenn auch Gott auf menschliche Weise, eben „deus humanus“ sei.14 Aber der Mensch umfasst kraft seiner Vernunft auch die Welt und die weltlichen Dinge, d.h. er vermag als „homo microcosmus“ auch „menschlicher Engel“, „menschliches Tier“ überhaupt, „Löwe“ oder was immer zu sein.15 Es liegt auf der Hand, dass wir hier eine direkte Parallele zu der berühmten Oratio Picos vor Augen haben, die die gleiche Optionalität des Menschen in Bezug auf die ihm möglichen Lebensformen vertritt, dabei aber nochmals radikaler als der Kusaner beim Menschen als Freiheitswesen ansetzt.16 Als zentraler Satz aus einem größeren Zusammenhang, den wir hier nicht im Detail entfalten können, sei nur das

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Cusanus, Idiota de mente, 3, n. 72. Ders., Compendium, 8, n. 23. Ders., De coniecturis, II, 14, n. 143. Ebd. Zu Pico insgesamt sowie zur Einbettung seiner berühmten, niemals gehaltenen Rede in sein Philosophiekonzept vgl. Th. S. Hoffmann, Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts, Wiesbaden 2007, 107–133.

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

Wort zitiert, mit dem Gott bei Pico das absolute „Chamäleon“, den Menschen, anredet und in dem das von uns so genannte „anthropologische Bilderverbot“ gleichsam seine ontologische Begründung erfährt: „Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgend eine Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen (tuo arbitrio), dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. Als Mitte der Welt habe ich dich gesetzt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt.“17

Übrigens mag es uns frappieren, dass sich dieses hohe Lied auf die menschliche Willensfreiheit in mancher Beziehung wiederum mit Luthers Disputatio de homine von 1536 deckt, und zwar zumindest insofern, als mit beiden Texten die überlieferte aristotelische Anthropologie, will sagen die Festlegung des Menschen auf ein System der die Natur darstellenden Art- und Gattungsbegriffe, damit aber auch ein entscheidender Pfeiler des mittelalterlichen Ordo-Gedankens umgestoßen wird.18 Diese Umstoßung erfolgt keineswegs, wie man meinen könnte, einfach aus dem Geist des Nominalismus heraus, der prinzipiell alle Begriffsdistinktionen als allenfalls pragmatisch, also als von endlichen Zwecken her gerechtfertigt ansieht. Sie erfolgt vielmehr aus einem Wissen um die Absolutheit des Absoluten, die zugleich platonische wie theologische Wurzeln hat und in dessen Zeichen nunmehr der Mensch selbst in diese Absolutheit hineingenommen wird. Weder nach Pico, dem Platoniker, noch nach Luther, dem der spätscholastischen „via moderna“

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G. Pico della Mirandola, De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen, hg. von G. von der Gönna, Stuttgart 1997, 9. Vgl. zu Luther die ausführliche Interpretation von G. Ebeling, Disputatio de homine, 3 Bde., Tübingen 1977–1989.

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zugeneigten Theologen, kann der immer unfertige Mensch auf die überkommene definitionslogische Weise in ein ei®dov gesperrt, kann er nach „genus proximum“ und „differentia specifica“ auf den Begriff gebracht werden. Das Geheimnis seiner Natur ist vielmehr, dass er keine hat oder dass er selbst der Begriff, die origo aller Bestimmung bzw. das absolute Definiens der Dinge ist. Das letztere ist dann zwar nicht mehr einfach die Meinung Luthers, der den Menschen als durch seine Gottesbeziehung sehr wohl definiert ansieht, wohl aber diejenige Kants und seiner Nachfolger, die in später Gefolgschaft Picos die ontologische Freiheit des Menschen entdecken. Kant selbst hat an einer wichtigen Stelle der Kritik der Urteilskraft einmal davon gesprochen, dass die Freiheit zwar auf der einen Seite eine Vernunftidee, auf der anderen aber die einzige der Vernunftideen sei, die zugleich ihre „objektive Realität […] an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweiset“, also eine ohne weiteres erweisliche Tatsache darstelle.19 Freiheit ist so die Aufhebung der unmittelbaren Naturalität des Menschen wie zugleich sein eigentliches Sein, das sich freilich dagegen sperrt, in ontologischer Kategorialität ausgesprochen zu werden. Oder anders: Freiheit ist Indikator der Prinzipialität des Menschen, die auf der einen Seite seine immer auch physische Existenz als paradox, zumindest aber als transparent auf einen nichtphysischen Grund hin erscheinen lässt, während sie auf der anderen Seite ganz neu das „Bilderverbot“ in Bezug auf den Menschen als Würdeträger und Gesetzgeber aus Vernunft begründet. Mit Kant, der den Menschen – wir haben darauf schon hingewiesen – zuerst konsequent als theoretisch wie praktisch daseiende Freiheit gedacht hat, erfolgt entsprechend nicht zufällig ein sehr grundsätzlicher Paradigmenwechsel, in dessen Gefolge das gesamte philosophische System neu zu organisieren ist. Eine der entscheidenden Konsequenzen dieser Neuorganisation wollen wir wie angekündigt an der neuen Stellung des Rechtsbegriffs kennenlernen, in dem es um nicht weniger als die objektive Bedingung der Wahrung der Freiheit in einer Republik von Freiheitswesen geht, als welche Kant den praktischen ordo rerum entwirft. 19

I. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 467 f. (AA V, 474).

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

II. Die Freiheit und das Rechtsstaatsgebot

Wenn wir von der Aufkündigung der aristotelischen Lehre von einem fixen ei®dov des Menschen spätestens in der Renaissancephilosophie gesprochen haben, so impliziert ein solcher Schritt philosophisch in jedem Fall mehr als nur einen Wandel in der Anthropologie.

Kant für seine Person hat die „Anthro-

pologie“, wie wir uns erinnern, in der Tat mit dem Vorbehalt der pragmatischen Hinsicht versehen, also nicht im Sinne einer konstitutiven Lehre vom Menschen verstanden; die konstitutive, reale Lehre vom Menschen kann nach Kant vielmehr nur durch die Beantwortung der ersten drei Hauptfragen der Philosophie insgesamt, im Grunde also nur auf dem Weg der Durchführung der Philosophie selbst gegeben werden. Ich denke dabei, dass es der Sache sehr gedient hätte, wenn die seit dem 19. Jahrhundert grassierenden neuen Anthropologien sich dieses kritischen Vorbehalts, den Kant gemacht hat, immer deutlich bewusst gewesen wären: des Vorbehalts, dass wir, wenn wir als Menschen über den Menschen schon objektivierend reden wollen, dies zwar um konkreter Zwecke der Freiheit willen pragmatisch tun können, dass wir aber den Menschen schlechthin niemals zu einem Objekt der positivierenden Wissenschaften herabsetzen können. Allerdings ist zusammen mit dieser Verwahrung zugleich ein weiterer Aspekt des Kantischen Paradigmenwechsels zu erwähnen. Mit Kants Neubestimmung des Menschen als daseiender Freiheit ist auf den ersten Blick ein entschiedener Kontrapunkt gegen eine der zentralen Intentionen der politischen Philosophie der Neuzeit gesetzt, gegen die Intention der Sicherstellung des Menschen gegen den Menschen. Da bei Kant mit dem Grundbegriff des Menschen als Freiheitswesen parallel zum Dogmatismus der metaphysischen Ontologie auch das klassische Naturrechtsdenken gekündigt wird, scheint es hier keine Sicherung des Menschen gegen den Wolf in seinem Artgenossen mehr zu geben. In der Tat löst Kant auch noch das Naturrechtsdenken des neuzeitlichen Rationalismus durch einen demgegenüber ganz neuen, freilich prima facie auch riskanten Ansatz ab: den Ansatz nämlich bei der Freiheit als oberstem Rechtsinhalt und innerem Normativ des Rechts-

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denkens überhaupt.20 Es ist kein Wunder, dass Kants Projekt, die Rechtsvernunft an den Freiheitsvollzug zu knüpfen und sie, nicht etwa die der Rechtsvernunft bare Macht, ein äußeres Reich der Freiheit bauen zu lassen, nicht nur auf Verständnis gestoßen ist, sondern sehr bald vor allem rechtspositivistisch wieder unterlaufen wurde, ja auch heute immer wieder unterlaufen wird. Ich werde das, worum es Kant hier geht, in Kürze erläutern und beginne dazu mit einer markanten These aus der Einleitung in die Rechtslehre, die Kant, zunächst vielleicht überraschend, von der älteren Grund- oder Menschenrechtstradition, wie wir sie etwa bei Locke antreffen, unterscheidet. Kant spricht nämlich davon, dass es „nur ein einziges angeborenes Recht“ des Menschen gebe, nämlich die Freiheit. Dieser Gedanke ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, was ich hier mit zwei Hinweisen unterstreiche. Die eine dieser Hinsichten betrifft die Systematik der Rechtsbegründung, die hier aus dem vor- und übergegenständlichen Wesen der Subjektivität, aus der Prinzipialität der Freiheit erfolgt. Niemals vor Kant hat die gleichsam negative Anthropologie der Freiheit die Basis für das Rechtsdenken abgegeben, niemals zuvor ist Subjektivität als solche als Rechtsprinzip ausgesprochen worden; im Gegenteil musste das Subjektive gegen die Autorität sei es der weislich eingerichteten Natur, sei es Gottes als obersten Gesetzgebers stets als Quelle des Rechtsirrtums erscheinen. Wenn Kant dagegen auf dem Höhepunkt der von uns bereits angesprochenen Verlagerung der Prinzipialität auf den Menschen bzw. das reale Subjekt als daseiende Freiheit die Ordnungen theoretischer und praktischer Sinnkonstitution neu bestimmt, führt kein Weg mehr an dem durch Freiheit bestimmten Selbstbewusstsein, an der, wenn man so will, transzendentalen Apperzeption der Freiheit als dem obersten, freilich noch ganz abstrakten Angelpunkt alles Rechtsdenkens vorbei. Es ist dann auch klar, dass es nicht mehrere solcher Angelpunkte geben kann, etwa das Leben, die Gleichheit oder die Gerechtigkeit noch, die als schon 20

Vgl. dazu Th. S. Hoffmann, Kant und das Naturrechtsdenken. Systematische Aspekte der Neubegründung und Realisierung der Rechtsidee in der kritischen Philosophie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 87 (2001), 449–467; ergänzend außerdem ders., Über Freiheit als Ursprung des Rechts. Achtzehn Thesen zur Rechtsbegründung mit Blick auf die Grundrechte-Charta der Europäischen Union, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1 (2003), 16–26; dort für die folgenden Hinweise auf „postdemokratische“ Fortschreibungen der europäischen Grundrechte auch weitere Beispiele.

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

an Objektivationen gebundene Bilder des verwirklichten Rechts den rein negativen Sinn des Freiheitsbewusstseins bereits auf Positivierung hin verwandelt hätten. Diese erste Überlegung bezüglich der Freiheit als einziger Grundlage einer konkreten Ordnung der menschlichen Dinge wird durch einen zweiten Hinweis ergänzt, der ebenfalls dartun kann, weshalb Recht nur in dem einen „angeborenen Recht“ der Freiheit grundgelegt werden kann. Wer beispielsweise, wie Teile der Naturrechtstradition, meint, der letzte Grund von Recht sei die – zum Beispiel auch in der Natur wirksame, also ontologisch verankerte – Gerechtigkeit, übersieht, dass es Gerechtigkeit, also die objektive Gleichbehandlung des Gleichen und die ebenso objektive Ungleichbehandlung des Ungleichen, nur unter Voraussetzung des Gleichheitsbegriffs geben kann, dieser also prinzipieller ist als der der Gerechtigkeit. Aber taugt Gleichheit zum Rechtsprinzip? Nach Kant ist dies definitiv nicht der Fall, und zwar einerseits deshalb nicht, weil es Gleichheit nicht in demselben Sinne wie Freiheit auch faktisch gibt – vielmehr ist alles Faktische, alles empirisch Erscheinende und so auch die empirische Subjektivität (im Sinne des Indiszernibilienprinzips) kraft der eigenen Existenz auch schon ungleich; zum anderen – und das ist das Entscheidende – ist der einzige Gesichtspunkt, unter dem die sonst so „vielfärbig“ ungleichen Subjekte tatsächlich gleich sind, ihre Freiheitsnatur, ihre innere Prinzipialität oder auch, was nach Kant das gleiche bedeutet, ihre keinem äußeren Zugriff erreichbare Würde. Das bedeutet dann umgekehrt: Überall da, wo Freiheit nicht als der oberste Rechtsbegriff bzw. das vernünftige Freiheitsbewusstsein nicht als der Ursprung des Rechts gedacht ist, wird es zu Ungleichheitsordnungen kommen, die ihre Legitimation in der Tat allenfalls aus bestimmten, schon vorausgesetzten Menschenbildern beziehen, aber darin den Menschen um seine Würde prellen, die erst jenseits aller möglichen Bilder von ihm beginnt. Daß es hier in der Konsequenz um anderes als akademische Spitzfindigkeiten geht, wird deutlich, wenn wir den Kantischen Freiheitsbegriff – den Begriff der Freiheit als Personkern, als der Wirklichkeit des sich vernünftig bestimmenden Selbstbewusstseins – mit konkurrierenden Konzepten vergleichen, dabei auch solchen, die in der Rechtsgeschichte durchaus nicht ohne

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Bedeutung gewesen sind. Denken wir etwa an die „Freiheiten“, um die es beispielsweise in der englischen Magna Charta libertatum von 1215 ging: gemeint waren hier konkrete politische Freiheitsrechte, d. h. Befugnisse des Parlaments und des Adels gegen den König, während vom Recht insgesamt als einer freiheitsgezeugten Freiheitsordnung für Freiheitswesen noch keine Rede war. Der Unterschied, um den es hier geht, wird sofort klar, wenn wir bedenken, dass auch ein obrigkeitlich verfasster Staat, ein Staat also, dessen Wesen es ist, auf Macht, nicht auf die Anerkenntnis der Urfreiheit der Rechtsgenossen, also seiner Bürger, gegründet zu sein, einzelne, ja vielleicht viele einzelne Freiheitsrechte gewähren kann. Solche Freiheiten sind dann nichts anderes als Selbstbeschränkungen grundsätzlich möglicher Machtausübungen, die insgesamt vielleicht gerade aus Machtrücksichten, etwa zur Stabilisierung des obrigkeitsstaatlichen Systems als solchen, erfolgen. Die „Freiheit“ der Rechtsunterworfenen ist dann das, was die Macht sich unbemächtigt zu lassen leisten kann, damit aber noch lange nicht der Stoff, aus dem das Gemeinwesen selbst gebaut ist und auf den es erst seine innere Mächtigkeit gründet. An dieser Stelle ergibt sich übrigens auch ein ebenso fundamentaler wie folgenreicher Unterschied im Grundverständnis des Begriffs „Recht“ selbst. Denn in dem einen Falle, dem Falle des Obrigkeitsstaates, im Falle also, dass Macht vor Freiheit (als nur eingeräumter Befugnis) geht, ist „Recht“ immer das, was die Macht, in seinem Ursprung dann nicht weiter erforschbar, als öffentlich geltende Norm der effizienten Bewertung von äußeren Handlung setzt21; in dem anderen Falle hingegen, im Falle also der Prinzipialität der Freiheit, die damit vor Macht geht, ist der Recht setzende Urakt nicht ein Akt der Setzung (z. B. einer obersten Norm), nicht ein Akt der eigentlichen Schaffung von Recht, sondern ein Akt seiner Anerkennung einer bereits bestehenden Berechtigung, wie Recht nämlich in dieser Perspektive mit der Freiheit also solcher schon da ist und in keinem Fall erst geschaffen oder gesetzt werden kann. Das Prinzip eines Rechtes, das aus

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Den entsprechenden außerfreiheitlichen Rechtsbegriff teilt neben dem Positivismus überhaupt etwa auch J. Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt am Main 52005 (Orig.: Force de loi. Le «Fondement mystique de l’autorité», Paris 1994).

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

der Macht stammt und allenfalls im zweiten oder dritten Schritt „Freiheiten“ gewährt, ist dann auch notwendig das Prinzip der Erhaltung von etwas anderem als der Freiheit, der Erhaltung etwa der sozialen Ordnung und Sicherheit (so etwa bei Hobbes), der Religion und ihrer Institutionen (so in den Theokratien), der Prosperitätsbedingungen für die Wirtschaft (so etwa bei den Anwälten einer ungebremsten Globalisierung), wenn nicht, was auch außerhalb eigentlicher Diktaturen vorkommt, der Erhalt der Macht selbst. Das Prinzip eines Rechts dagegen, das aus einem im Sinne Kants, dann aber auch Fichtes oder Hegels anerkennenden Urakt der Freiheit stammt, ist dagegen nichts anderes als der Erhalt der Freiheit selbst und um ihrer selbst willen. Wir haben es, in der gebotenen Kürze gesprochen, hier in dem einen Fall mit einer instrumentellen Rechtsauffassung, in dem anderen indes mit einer selbstzwecklichen oder auch reflexiven Rechtsauffassung zu tun, jedenfalls mit einer Rechtsbegründung, die nicht noch einmal auf Zwecke jenseits der ursprünglichen Rechtskonstitution selbst verweist und die beide jeweils auf eine bestimmte korrelative Auffassung vom Menschen verweisen. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, weshalb es, wie ich behaupten möchte, im Sinne der Wahrung der Prinzipialität der Freiheit in Europa zu einer weitestgehenden Emanzipation des Rechts von den Sinnordnungen vor allem der Religion und der Moral kommen musste, lassen doch weder der theokratische, der moralgebundene wie auch jeder andere nur „zweckdienliche“ Rechtsbegriff einen Begriff des Rechts als objektive Weise daseiender Freiheit zu. Oder anders: Der instrumentelle Rechtsbegriff ist mit dem obersten Grundsatz der „reflexiven Rechtsauffassung“ nicht vereinbar, welcher kurz gefasst lautet: Freiheit ist und sie soll um ihrer selbst willen sein; ihre Erkenntnis, die immer eine Selbsterkenntnis ist, ist auch schon die Anerkenntnis des Anspruchs der Freiheit auf ihre Selbsterhaltung, ihre Nichtvereinnahmung. Ich erwähne gerne, dass mit der Markierung dieser Grundposition und auch derjenigen des Unterschieds zwischen instrumenteller und reflexiver Rechtsauffassung eine ganze Reihe von hier entstehenden Fragen noch nicht beantwortet ist und dass es dafür dann in der Tat einer rechtsphilosophischen Grundlegung bedarf, wie beispielsweise Kant oder Fichte sie zu geben

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versucht haben. Aber es zeichnet sich doch bereits ab, dass es bis in die Ausgestaltung der positiven Rechtsordnung hinein ein Unterschied ums Ganze sein wird, ob das Recht um welcher außerrechtlichen Zwecke willen auch immer instrumentell aufgefasst ist oder ob es auf den Urakt der Anerkennung von Freiheit aus Freiheit hin transparent bleibt und insofern dann auch auf Partizipation, auf ein Sich-Wiederfinden in ihm hin angelegt ist. Man kann so auch zeigen, dass, je nachdem, wie die Grundauffassung vom Recht hier lautet, noch die Grammatik einzelner Rechtssätze dies widerspiegelt. Ich nenne, auch um damit auf die eingangs bereits erwähnten aktuellen Gefährdungen des Kantischen Niveaus im Rechtsdenken heute zurückzukommen, ein aktuelles Beispiel aus dem Grundrechtsbereich, in dem die Dinge naturgemäß deshalb am leichtesten zu greifen sind, weil sich in der Formulierung der Grundrechte notwendigerweise am deutlichsten zeigt, von welchem Grundansatz im Rechtsverständnis ausgegangen wird. Im österreichischen Staatsgrundgesetz, das insoweit seit 1867 in Geltung ist, lautet der erste Satz aus Art. 17: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei“; im deutschen Grundgesetz heißt analog Satz 1 von Abs. 3 Art. 5: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. In beiden Formulierungen wird zum einen auf die innere Freiheitlichkeit der Tätigkeiten Wissenschaft und deren Lehre bzw. Forschung und Kunst Bezug genommen und zum anderen festgesetzt, dass das Rechtsverhältnis in Beziehung auf diese Tätigkeiten in der Anerkennung ihrer schon vorausgesetzten Freiheitlichkeit besteht. Kunst, Wissenschaft, Lehre und Forschung sind frei und sie sollen es auch sein; das „normative Ist“ in der Grundrechtsformulierung ist hier deskriptiv und präskriptiv zugleich: das Recht selbst zieht sich hier im Sinne seiner eigenen Freiheitlichkeit angesichts des inneren Freiheitsanspruchs von Kunst und Wissenschaft eine Grenze. Wir können insofern sagen, dass die erwähnten Grundrechtsartikel beispielhaft der Prinzipialität der Freiheit in der Ausformulierung des Rechts entspricht, und in der Folge davon gibt es zum Beispiel in einem wirklich freiheitlichen Rechtsstaat weder eine Staatskunst noch eine Staatswahrheit, der Tyrannei der verpflichtenden Bilder ist im Ansatz gewehrt. Dass es freilich auch anders geht, beweist zum Beispiel die Grundrechte-Charta der EU, die in einer an-

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

gepassten Form vom Dezember 2007 auch in den im Lichte der Rechtsidee auch sonst problematischen Vertrag von Lissabon eingegangen ist. Dort lesen wir in Art. 13 das folgende: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet“. Uns interessiert jetzt nicht die Frage, warum in diesem Artikel Wissenschaft auf Forschung reduziert worden ist und weshalb die akademische Lehre keine ausdrückliche mehr Erwähnung findet, obwohl es dafür in mehreren europäischen Staaten Vorbilder gegeben hätte – ein Schelm mag sein, wer, was das letzte betrifft, daran denkt, dass die Freiheit der Lehre ohnehin gerade dabei ist, im Zuge der Bolognisierung des Kontinents weitgehend erstickt zu werden.22 Wie dem aber auch sei: Uns interessiert hier die auch grammatische Differenz zwischen den beiden Teilsätzen des Artikels, von denen der erste, durchaus auf dem Niveau des deutschen Grundgesetzes, die Freiheit von „Kunst und Forschung“ anerkennt, während der zweite, in dem es nicht mehr um die Kunst und immer auch private Forschung geht, sondern um die Universitäten, dieses Niveau in jedem Fall unterbietet. Denn in der Tat haben wir nicht eine freie Anerkenntnis von wesentlich freien Lebens- und Erkenntnisvollzügen vor Augen, sondern nur eine Willenserklärung des Verfassungsgebers, der die Unterlassung von prinzipiell offenbar als möglich angesehenen Eingriffen in das akademische Leben ankündigt. Dass es sich hier rechtssystematisch nicht etwa um einen einzelnen Ausrutscher handelt, sondern das Ganze offenbar System hat, lässt sich an Hand anderer Beispiele, die die Charta bietet, leider erhärten; ich nenne hier als Beispiel nur den Art. 22, in dem es heißt: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ – auch hier werden wiederum Handlungen bzw. Unterlassungen des Verfassungsgebers bzw. des „Souveräns“, der stillschweigend als selber über dem Recht stehend vorgestellt wird, in Aussicht gestellt; auf diese Weise aber ist das Recht wiederum gerade nicht von dem Schutzgut selbst und der gelebten Freiheit her gedacht, wie es der Fall wäre, wenn die Formulierung beispielsweise lau22

Zu diesem insgesamt wenig erfreulichen Beispiel postdemokratischer „Freiheitsentsorgung“ ist außer auf den „Klassiker“ von K. P. Liessmann, Theorie der Unbildung, Wien 2006 inzwischen nicht zuletzt auf M. Reiser, „Universitätsreform. Warum ich meinen Lehrstuhl räume“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Jänner 2009 und die dadurch zumindest in Deutschland neu ausgelöste Diskussion zu verweisen.

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tete: „Die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen ist für die Identität Europas konstitutiv“.23 (Man mache sich den Unterschied auch an der logischen Differenz zwischen einer Formulierung wie: „Die Menschenwürde ist unantastbar“ und der anderen: „Die Republik Österreich achtet die Menschenwürde“ deutlich; leider ist das Denken der Rechtspolitiker hier offenbar zutiefst machtpolitisch, nicht freiheitstheoretisch bestimmt). Lassen Sie mich nach dieser eher konkreten Problemanzeige, die uns ermuntern soll, den Ertrag der Philosophiegeschichte nicht einfach als zu archivierendes Gut, sondern als hier und heute bedeutsame Orientierung anzusehen, zum Schluss noch einmal auf Fichte zurückkommen, von dessen Aversion gegen einen wie Lava erstarrten Begriff des Menschen bei gleichzeitiger unbedingter Hochschätzung der Freiheit wir unseren Ausgang genommen haben! Fichte hat in seiner Naturrechtslehre von 1796 das eigentliche Problem des Rechts dahin erläutert, dass es hier um eine Ordnung für ein Sinnenwesen gehen muss, das doch zugleich Ich, also sinnlich daseiende Freiheit ist. Ein solches Wesen setzt nach Fichte, um gedacht werden zu können, voraus, dass da andere Sinnenwesen sind, die es als Ich und nicht als Naturgegenstand behandeln; es setzt schon „andere endliche Vernunftwesen“ voraus, mit denen es in eine Interaktion tritt, die nicht einfach ein gegenständliches Wechselwirkungsverhältnis ist. „Der Mensch […] wird nur unter Menschen ein Mensch“, sagt Fichte, der sonst nicht gerne vom Menschen spricht.24 Die Wechselwirkung unter Menschen als Menschen aber ist niemals ein objektives, naturgesetzlich oder nach Menschenbildern zu bestimmendes Verhältnis. Sie ist ein freiheitliches Verhältnis, in dem die Freiheit des einen die des anderen evoziert. Der allgemeine ethische Imperativ lautet in gewisser Weise immer: „Sei ein Mensch!“, und das heißt: besinne dich auf deine Freiheitsnatur und realisiere diese im Sinne größtmög-

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Auf die hier aufgezeigten, in der Debatte, soweit ich sehe, leider nicht mit dem nötigen Tiefgang diskutierten Probleme habe ich zuerst in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Mensch, werde persönlich. Die Charta von Nizza gefährdet die Rechte, die sie gnädig gewährt, in: FAZ Nr. 286 vom 8.12.2000, S. 44) hingewiesen. Vgl. außerdem meinen Beitrag: Europa vor der Rechtsidee. Anfragen an die Grundrechte-Charta von Nizza aus rechtsphilosophischer Sicht, in: P. J. Cullen/P. Zervakis (edd.), The Post-Nice Process: Towards a European Constitution? (Schriften des Zentrums für europäische Integrationsforschung, Bd. 49), Baden-Baden 2002, 173–193. Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796), in: Fichtes Werke Bd. III, hg. von I. H. Fichte, ND Berlin 1971, § 3, 39.

Der Mensch und die Freiheit | Thomas Sören Hoffmann

licher, Freiheitsgesetzen gehorchender Selbstständigkeit. Das allgemeine Rechtsverhältnis dagegen ist in dem Anerkennungsakt von Mensch zu Mensch, von Freiheit zu Freiheit begründet, wobei es um die Beantwortung der Frage geht: „Wie ist eine Gemeinschaft freier Wesen, als solcher, möglich?“25. Das Rechtsverhältnis schafft dann auch den Raum des Bildens der Welt- und der Menschenbilder, indem es darüber wacht, dass die Bildner der Bilder einander nicht um der sogar notwendig differenten Bilder willen um ihre Freiheit bringen. „Anerkennung“ heißt nach Fichte, dass ich als bloßes Wesen mit Menschenantlitz, eben als sinnliche Präsenz, schon über das Urrecht verfüge, nicht erst als ein Erkannter, als ein so oder anders Subsumierter mit Rechten versehen zu sein, sondern in dem immer auch anarchischen Moment meiner Freiheit als solcher schon Rechtsgenosse zu sein. Das aus der Freiheit des Menschen gezeugte und sie wesentlich respektierende Recht ist dann das System der Anerkennungsgrenzen, mit denen wir die Sinnenwelt sozusagen parzellieren, um individuelle Freiheitswesen als frei wirksame Vernunftwesen koexistieren, die Freiheit selbst sich in konkrete Sphären distribuieren zu lassen. Wir werden mit dieser Überlegung abschließend auf einen Punkt aufmerksam, der noch einmal die konkrete Weise betrifft, wie sich im europäischen Rechtsdenken Freiheit konkretisiert. Das Recht affirmiert nämlich – anders als die Moral – die Individualität26; es toleriert sie nicht nur, es setzt sie selbst in Erscheinung. In einer Welt ohne Individuen bedürfte es der Rechtsidee nicht. In einer Sinnenwelt, in der zugleich Freiheit sein soll, ist dagegen das Individuum die entscheidende Mittelinstanz – das Individuum nämlich als weder unter Begriff noch Bild zu fassende daseiende Freiheit, wie sie nicht zufällig bei Denkern wie Cusanus, Pico oder auch dem Monadologen Leibniz entdeckt worden ist. Es kommt noch immer darauf an, dieser Freiheit in unserer Welt ein konkretes Gesicht zu geben. Die Philosophie hat dabei gewiss nicht die geringste Aufgabe.

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Ebd., § 7, 85. Was übrigens einer der wichtigen und richtigen Grundgedanken in Schellings Neuer Deduktion des Naturrechts von 1796 ist (vgl. Werke Bd. I, hg. von M. Schröter, München 31979, 169–204).

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Der Mensch und das Absolute Gunnar Hindrichs

I.

Die Vorlesungsreihe beabsichtigt unter dem Titel „Der Mensch und …“ eine Selbstvergewisserung. Sich einer Sache vergewissern zu müssen bedeutet, dass man sich der Sache nicht schon gewiss ist. Es steht also etwas in Frage, über das es Gewissheit zu erlangen gilt. Was in Frage steht, benennt jener Titel: der Mensch. Die Frage, die die Vorlesungsreihe stellt, lautet daher im Grunde „Was ist der Mensch?“. Sie bezieht sich hierdurch auf die aristotelische Frage „Was ist das?“ (ti esti? quid est?), die das Wesen einer Sache, dessen Wassein (quidditas), als Antwort verlangt. Zugleich steht sie – willentlich oder unwillentlich – in Kants Horizont, der die drei Fragen „Was kann ich wissen?“, Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“, die seine drei Kritiken anleiten, in die Frage „Was ist der Mensch?“ münden lässt. Die Vorlesungsreihe fragt nach dem Wesen des Menschen im Zeichen der Vernunftkritik. Sie stellt ihre Frage aber in einer besonderen Form. Indem sie den Begriff des Menschen mit jeweils einem anderen Begriff verbindet („Der Mensch und …“), verlangt sie, dass die Frage nach dem Menschen nicht isoliert gestellt werde. Das könnte dazu führen, dass ein zweiter Begriff, der nicht in Frage steht (die Evolution, die Kunst, das Absolute), die Frage nach dem Menschen zu beantworten hilft. Die Gewissheit, mit der man über den zweiten Begriff verfügt, würde dann die Ungewissheit darüber, was der Mensch sei, auflösen. Doch dies darf aus dem folgenden Grund nicht geschehen. Die Frage, was der Mensch sei, ist selber problematisch. Sie fragt nicht nur nach der Antwort auf ein Problem – nämlich auf

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das Problem der Bestimmung des Menschen –, sie ist auch selber ein Problem. Das ergibt sich aus der Kritik der Vernunft, die durch den willentlichen oder unwillentlichen Bezug auf Kant ständig im Hintergrund steht. Zunächst scheint die Frage, was der Mensch sei, kein besonderes Problem darzustellen. Sie scheint den Menschen einfach als einen Gegenstand des Nachdenkens zu behandeln wie andere Gegenstände des Nachdenkens auch. „Was ist der Mensch?“, das klingt so wie „Was ist ein Zytoplasma?“ oder „Was ist eine Sonate?“ Und tatsächlich gehen viele an die Frage, was der Mensch sei, so heran, als ob sie den Menschen als einen Gegenstand des Nachdenkens behandelte wie andere Gegenstände auch. Ich gebe ein Beispiel. In den letzten Jahren hat die Bestimmung des Menschen im Lichte neuer Ergebnisse einiger Naturwissenschaften großes Aufsehen erregt. So erschien in der Zeitschrift Gehirn und Geist ein Manifest führender Naturwissenschaftler. Es rief zu der Neubestimmung des Menschen auf der Grundlage der neuen Erkenntnisse der Humanbiologie auf. Die Beachtung, die es erlangte, fügte sich ein in die allgegenwärtige Aufregung darüber, wie wir unser Menschsein angesichts der neugewonnenen biologischen Einsichten und den ihnen entspringenden Möglichkeiten der technischen Medizin zu verstehen haben. Sowohl die Tendenzliteratur als auch die akademische und außerakademische Philosophie haben an dieser Aufregung teil. Aber die Positionen der verschiedenen Streitparteien präsentieren sich, ihrem sehr unterschiedlichen Inhalt zum Trotz, allesamt als Positionen, die den Menschen als einen Gegenstand bestimmter Theorien behandeln. Sie sind daher Ergebnisse von Denktechniken, die selber nicht mehr bedacht werden – seien sie die der Biologen, die der Moralisten oder die der Kulturwissenschaftler. Dass die Frage nach dem Wesen des Menschen hingegen selber problematisch sein könnte; dass ihre Antworten nicht aus einer Theorie folgen, sondern im Gegenteil das Denken des Menschen mit dessen Bestimmung zugleich fraglich werden ließe, wird nirgends zum Thema. Fraglich aber wird das Denken des Menschen durch die Frage, was der Mensch sei, dadurch, dass der Gegenstand des Nachdenkens und die oder der Nachdenkende dasselbe sind. „Was ist der Mensch?“, das fragen wir Menschen. Wir fragen daher mit der Frage nach uns selber, und die Frage, die wir

Der Mensch und das Absolute | Gunnar Hindrichs

fragen, stellt selber eine Aktivität dessen dar, nach dem mit ihr gefragt wird. Die Vorlesungsreihe spricht ja eben deshalb von einer Selbstvergewisserung. Anders gesagt: Die Frage, was der Mensch sei, ist eine Frage, in der sich ein Selbstbezug äußert. Das aber bedeutet, dass die Frage „Was ist der Mensch?“ den Menschen nicht nur als das Objekt der Bestimmung setzt, die dann auch andere, fremde Instanzen vornehmen könnten, sondern ebenfalls als ihr Subjekt. Erst wenn der Mensch das Subjekt und das Objekt seiner Bestimmung zugleich ist, hat er seine Frage auch ergriffen. Das heißt: Die Bestimmung des Menschen hat es nicht mit der Ausdehnung einer Theorie über den Menschen zu tun. Es geht nicht darum, dem Menschen als einem Objekt der Bestimmung gerechter zu werden. Es geht vielmehr darum, den Menschen als den, der die Bestimmung vollzieht, mit zu bedenken. Es geht darum, den sich auf sich selber beziehenden Menschen zu begreifen. Den sich auf sich selbst beziehenden Menschen nennen wir „ein Subjekt“. Die Frage, was der Mensch sei, enthält sonach die Frage, was es heißt, ein Subjekt zu sein. Aus diesem Grunde kann die Verbindung der Frage nach dem Menschen mit einem anderen Begriff, die die Vorlesungsreihe unter dem Titel „Der Mensch und…“ angibt, nicht in der Verbindung der Ungewissheit über den Menschen mit der Gewissheit über etwas anderes bestehen. Vielmehr wird auch der andere Begriff ungewiss, insofern er von eben demselben Subjekt gedacht wird, das sich selber allererst in seiner Frage zu begreifen sucht. Als der Begriff des ungewissen Subjektes kann er keine vorgängige Gewissheit beanspruchen. Das gilt auch von dem Begriff, der heute mit dem Begriff des Menschen verbunden wird. In dem Rahmen der Vorlesungsreihe wurde mir das wuchtige Thema zugeteilt „Der Mensch und das Absolute“. Die vernunftkritische Frage, was der Mensch sei, soll heute also im Blick auf den Begriff des Absoluten behandelt werden. Nach dem Gesagten bedeutet das, dass ich die Frage, was es heißt, ein Subjekt zu sein, mit dem Begriff des Absoluten zusammenzuführen habe. Da die Frage, was es heißt, ein Subjekt zu sein, die Frage des Subjekts nach sich selbst ist, muss mit der Bestimmung des Subjektseins angefangen werden, um von ihr aus zu einem Begriff des Absoluten zu gelangen, der das Sub-

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jektsein zwar erst verständlich macht, der aber nicht vorgängig besteht. Der Begriff des Absoluten kann in unserem Rahmen nur vom Begriff des Subjektes aus gedacht werden, weil er in der Frage nach dem Menschen vorkommt.1

II.

Der Umriss des Begriffes vom Subjektsein, den ich vorschlage, sieht folgendermaßen aus. Ich verstehe – mit Kant – das denkende Subjekt als den höchsten Punkt, an dem die Ordnung der Dinge hängt. Die Ordnung der Dinge ist die Ordnung ihrer Bestimmung. Diese Bestimmung erfolgt in Urteilen der Art „das und das ist soundso“. Urteile aber sind Verbindungen mannigfaltiger Informationen. Die Verbindung mannigfaltiger Informationen wiederum muss von etwas abhängen, das selber nicht auf eine weitere Verbindung zurückgeht, sondern als das Verbindende alle Verbindung des Mannigfaltigen bedingt. Die Instanz, die solches vermag, ist das denkende Subjekt. Indem es mit dem Gedanken „Ich denke“ alle seine Informationen begleiten kann, vermag es diese zu Urteilen zu verbinden. Daher ist das denkende Subjekt der höchste Punkt, an dem alle unsere Urteile hängen. Die Ordnung der Dinge aber ist das, was unsere Urteile beschreiben, insofern sie wahr sind. Denn die Ordnung der Dinge ist das, worin die Dinge bestimmt sind, und ihre Bestimmung haben die Dinge nur in den Urteilen über sie. Sofern die Urteile wahr sind, bilden sie also die Ordnung der Dinge ab. Anders gesagt: Eine Tatsache ist ein wahres Urteil. Wenn aber die Urteile an dem denkenden Subjekt hängen, dann hängt die Ordnung der Dinge an dem denkenden Subjekt. Das Subjekt ist daher der Haltepunkt der Ordnung der Dinge. Diese Festlegung ist der Ausgangsschritt auf dem Weg zu einem Begriff vom Subjektsein. Der zweite Schritt besteht in der Charakterisierung der Ordnung als einer Ordnung von Gründen und Folgen. Die Ordnung der Dinge ist keine willkürliche Ordnung. Vielmehr vermag sie anzugeben, weshalb ein jedes Ding so bestimmt ist, wie es 1

Die folgenden Ausführungen beruhen auf meinem Buch Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt am Main 2008.

Der Mensch und das Absolute | Gunnar Hindrichs

bestimmt ist. Anders gesagt: Sie gibt die Gründe der Bestimmungen an. Die Ordnung der Dinge ist daher die Ordnung von Gründen und Folgen. Sie erstreckt sich über den gesamten logischen Raum. Ihren letzten Grund, den Grund ihrer Möglichkeit, findet sie im denkenden Subjekt. Dessen Verbinden von Informationen zu Bestimmungen erschafft die Ordnung, in der die Dinge ihre Bestimmtheit erlangen. Die verbindende Arbeit des Subjektes ist so der Möglichkeitsgrund der Ordnung. Das hat eine weitreichende Folge. Denn da das denkende Subjekt selber als der höchste Punkt der Ordnung der Dinge bestimmt ist, besteht es in gar nichts anderem als jener verbindenden Arbeit. Das heißt, sein Sein ist ein Machen. Das Subjektsein besteht im Verbinden von Informationen zu Bestimmungen. Die Ordnung der Dinge ist dementsprechend die Ordnung von Machwerken des Subjektes. Der Grund der Ordnung ist das denkende Subjekt sonach insofern, als es diese Ordnung ständig erarbeitet. Und hieran schließt der dritte Schritt auf dem Weg zu einem Begriff vom Subjektsein an. Das Subjekt selber kann als der Möglichkeitsgrund der Ordnung nicht in der Ordnung enthalten sein. Anders gesagt: Es ist außer der Ordnung. Das verbindende Subjekt ist das Außerordentliche. Aber es bedarf selber noch der Begründung und also einer Ordnung von Gründen und Folgen, in der es stünde. Denn das denkende Subjekt ist solange unbegründet, wie es nicht in die Grund-Folge-Ordnung sich einfügt. Diese Ordnung kann es jedoch nicht geben, da die Ordnung des gesamten logischen Raumes vom Subjekt abhängt. Es müsste sich daher selber begründen. Aber das denkende Subjekt kann sich nicht selber begründen. Denn es kann sich nicht selber übersteigen. Auch das können wir von Kant lernen. Um sich selber zu begründen, müsste das denkende Subjekt seinen Gedanken „Ich denke“ von einem anderen Gedanken her begründen können. Aber diese Begründung ist nicht möglich, da jeder andere Gedanke bereits den möglichen Gedanken „Ich denke“ voraussetzt. Alle Urteile, alle Gedanken, stehen ja unter der Bedingung des Gedankens „Ich denke“. Daher können wir den Gedanken „Ich denke“ nicht begründen. In Kants Worten: Wir kreisen um ihn in einem beständigen Zirkel herum. Weil nun die Ordnung der Urteile die Ordnung der Dinge ist, ist das Subjektsein durch diese Zirkelbewegung ausgezeichnet. Das au-

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ßerordentliche Subjekt bleibt unbegründet und will sich doch begründen. Es kreist in einem fortwährenden Zirkel um sich selbst und besitzt in diesem Kreisen sein Sein. Als solch ein um sich kreisendes Seiendes ist das Subjekt heimatlos. Es ist das Seiende außer aller Ordnung, das zu schwach ist, um sich zu begründen, und sich dennoch nach seiner Begründung sehnt. Das Subjektsein ist als unaufhörliches Machen zuletzt heimatlose Ohnmacht. Dies sind die drei Schritte zu einem vorläufigen Begriff des Subjektseins. Wir haben jetzt zu überlegen, ob diese Bestimmung des Subjektseins seine letztmögliche Bestimmung darstellt. Eindeutig ist unter der Bedingung des Voranstehenden festgeschrieben, dass sich keine Ordnung denken lässt, in deren Gefüge das Subjekt sich befände. Das Subjekt kann kein Ordentliches sein. Eindeutig ist aber auch, dass das beschriebene Sein des Subjektes kein selbstgenügsames Sein darstellt. Als Außerordentliches steht das Subjekt nicht von selbst, sondern kreist ergebnislos um sich. Es ergibt sich daher ein Dilemma: Das Subjekt ist sowohl außer jeder Ordnung als auch unselbständig. In anderen Worten, die Unselbständigkeit des Subjekts fordert den Übergang in eine Ordnung, innerhalb deren es zu stehen vermöchte, seine Außerordentlichkeit wiederum verhindert diesen Übergang. Beide Seiten des Dilemmas wollen anerkannt sein. Wir müssen mithin fragen, ob ein Übergang des Subjektes in eine Lage sich denken lässt, in der das Subjekt seinen Stand gewinnt, ohne dass diese Lage eine Ordnung darstellt, in der es enthalten wäre. Wenn ein solcher Übergang überhaupt möglich sein soll, dann kann der Ansatz zu ihm nur in der Unselbständigkeit des Subjektes selbst liegen. Denn nur dann, wenn die Unselbständigkeit des Subjektes – seine Ohnmacht – von sich aus auf eine Lage verwiese, in der das Subjekt noch als Außerordentliches zu sein vermöchte, wären sowohl die Außerordentlichkeit als auch die Unselbständigkeit des Subjekts bewahrt und doch in ein Verhältnis überführt, das das Subjekt aus seiner Ruhelosigkeit befreite. Die Unselbständigkeit des Subjektes muss demnach die Möglichkeit eines solchen Verhältnisses in sich bergen, um das Dilemma bewältigen zu können. Das gesuchte Verhältnis wäre dann die Heimat des Subjekts.

Der Mensch und das Absolute | Gunnar Hindrichs

III.

Wir stoßen auf den Ansatz zu dem geforderten Übergang, wenn wir den Begriff des Unselbständigen genauer betrachten. Der Kern dieses Begriffes besteht in der Festlegung, dass das, was nicht selbständig ist, seinen Stand nicht von sich aus gewinnt. Anders gesagt: Das, was nicht selbständig ist, muss seinen Stand von etwas anderem her haben. Daraus ergibt sich, dass Selbständigkeit und Unselbständigkeit verschiedene Weisen, auf die etwas zu sein vermag, darstellen. Das Selbständige ist auf eine andere Weise als das Unselbständige, und das Unselbständige ist auf eine andere Weise als das Selbständige, da jenes keines anderen bedarf, um seinen Stand zu gewinnen, während dieses nur im Bezug auf das ist, von dem her es seinen Stand gewinnt. Das Sein des Selbständigen ist ein selbstgenügsames Sein, derweil das Sein des Unselbständigen ein bezügliches Sein darstellt. Demnach sind das Selbständige und das Unselbständige dadurch unterschieden, dass sie auf verschiedene Weise sind. Ihnen kommen die unterschiedliche Seinsweisen der Selbstgenügsamkeit und der Bezogenheit auf anderes zu. Im Rückgriff auf ein scholastisches Begriffspaar lässt sich dieser Tatbestand auch in dem Satz ausdrücken: Das, was nicht selbständig ist, hat kein Sein in sich (esse in se), es hat ein Sein in anderem (esse in alio). Denn das Sein des Unselbständigen ist ein bezügliches Sein; es ist ein Sein, das nur im Bezug auf ein anderes besteht. Seinen Stand besitzt das Unselbständige deshalb nur in etwas anderem als es selbst. Das Sein des Selbständigen hingegen ist ein selbstgenügsames Sein; es besteht ganz aus sich heraus. Seinen Stand besitzt das Selbständige daher in sich. So ist das Selbständige in sich und das Unselbständige in einem anderen. Der Begriff des Unselbständigen zeigt somit: Dem Unterschied zwischen dem Selbständigen und dem Unselbständigen entspricht der Unterschied zwischen dem Sein in sich und dem Sein in einem anderen. Das Subjekt aber ist etwas Unselbständiges. Nach dem Gesagten bedeutet die Unselbständigkeit des Subjektes, dass es nicht in sich ist. Die Unselbständigkeit des Subjektes verweist folglich darauf, dass es in einem anderen sein müsste. In der

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Unselbständigkeit des Subjektes liegt das Verhältnis zu einem anderen, in dem es sein könnte, versteckt. Vor diesem Hintergrund können wir zunächst das Dilemma, in das das Subjektsein mündete, neu formulieren. Es lautet nun so: Das Subjektsein ist ein unselbständiges Sein; es müsste mithin ein Sein in einem anderen darstellen. Aber zugleich lässt das andere, in dem es ist, sich nicht bestimmen; denn alles Bestimmte, in dem es sein könnte, müsste sich in der Ordnung befinden, aus der das Subjekt als ihr Möglichkeitsgrund herausfällt. Das Subjektsein besitzt folglich die Struktur des Seins in einem anderen, während es zugleich die Bestimmung dessen, in dem es ist, verbietet. Und doch: der Tatbestand, dass die Unselbständigkeit des Subjekts die Struktur des Seins in einem anderen mit sich führt, weist zugleich über die einfache Wiederholung des Dilemmas hinaus. Denn indem in der Unselbständigkeit des Subjektes nicht bloß seine Ruhelosigkeit und die Absenz seiner Heimat eingekapselt ist, sondern auch der Verweis auf ein anderes, in dem das Subjekt wäre, liegt in der Seinsweise des Subjektes die Möglichkeit zu dem erforderten Überstieg über seine Heimatlosigkeit verborgen. Das Subjektsein selbst sagt, dass es in einem anderen sei; das Subjektsein selbst also gibt sich nicht mit seiner Ruhelosigkeit noch mit seiner Heimatlosigkeit zufrieden. Vielmehr behauptet es durch seine eigene Verfassung, dass es bereits in einem anderen sei. In einem anderen zu sein aber ist die Heimat des Subjekts. Das Subjekt findet so in seiner besonderen Seinsweise bereits die Spur zu der Heimat, deren es sich selber doch durch eben seine besondere Weise zu sein zu berauben schien. Der Schein der Heimatlosigkeit wird durch die Verfassung des Subjektseins in die Wahrheit dessen überführt, dass in das heimatlose Subjektsein bereits die Spur zu der Heimat des Subjekts eingeschrieben ist. Diese Spur muss sich in den Eigentümlichkeiten des Subjektseins weiter auffinden lassen. Beginnen wir mit dem Begriff der Ordnung. Das Subjekt ist das Außerordentliche. Seine Seinsweise ist demnach die Weise, außer der Ordnung zu sein. Wenn nun die Weise, außer der Ordnung zu sein, zugleich die Seinsweise eines Unselbständigen darstellt, dann ist die Weise, außer der Ordnung zu sein, ebenso die Wei-

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se, in einem anderen zu sein. Im Falle des Subjekts gleicht das Sein außer der Ordnung dem Sein in einem anderen. Es ist offenkundig, dass das andere, in dem das Subjekt ist, weder selber eine Ordnung noch gar ein Ordentliches darstellen kann. Eine Ordnung kann es nicht sein, weil das Subjekt das Außerordentliche ist und also nicht in einer Ordnung zu sein vermag; ein Ordentliches kann es nicht sein, weil das, durch das das Subjekt seinen Stand gewinnt, dann in der von dem außerordentlichen Subjekt abhängenden Ordnung stünde. Folglich muss das, worin das Subjekt ist, ebenfalls außer der Ordnung sein. Das außerordentliche Subjekt ist in einem Außerordentlichen. Diese Bestimmungen schärfen hinsichtlich des Subjektseins den Begriff des Seins in einem anderen. In einem anderen zu sein heißt, in der Beziehung auf ein anderes zu sein. Diese Beziehung stellt normalerweise eine Ordnung dar: die Ordnung zweier aufeinander Bezogener. Im Falle des Subjektes aber dürfen wir die Beziehung auf das andere nicht als die Ordnung zweier Bezogener deuten, wenn wir nicht die Außerordentlichkeit des Subjektes zerstören wollen. Wir müssen deshalb etwas anderes sagen: Das außerordentliche Subjekt, von dem alle Ordnung abhängt, steht selber in einer außerordentlichen Beziehung auf etwas anderes Außerordentliches. Das heißt, in der Seinsweise des Subjektes findet sich die Spur einer Beziehung auf etwas anderes, die zwar einerseits auf irgendeine Weise ebenso wie das Verhältnis des Ordentlichen zueinander eine Beziehung genannt werden darf, die aber andrerseits gerade keine Beziehung im Sinne einer Ordnung aufeinander Bezogener darstellen kann. Die vorläufige Bezeichnung dieses abnormen Verhältnisses kann der Begriff der außerordentlichen Beziehung abgeben.

IV.

Betrachten wir nun eine zweite Eigentümlichkeit des Subjektseins. Die Ordnung ist die Ordnung von Begründetem, und das Subjekt ist der letzte Grund dieser Ordnung. Die Seinsweise des Subjektes ist demnach die Weise, der letzte Grund der Begründungsordnung zu sein. Wenn die Weise, der letzte Grund der Begründungsordnung zu sein, nun zugleich die Seinsweise eines Unselbständigen darstellt, dann ist die Seinsweise

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des letzten Grundes dessen Sein in einem anderen. Der letzte Grund ist als letzter Grund selber in einem anderen. Auch hier ist offenkundig, dass im Falle des Subjektes das Sein in einem anderen ein besonderes Sein in einem anderen ausmacht. Wir müssen es abgrenzen von dem Sein im anderen, das den Zusammenhang der Gründe und Folgen kennzeichnet. Auch hier, im Zusammenhang der Gründe und Folgen, gibt es ein esse in alio. Denn weil der Grund nur im Bezug auf das Begründete ist, und weil das Begründete nur im Bezug auf den Grund ist, haben Grund und Begründetes ihr Sein in einem anderen. Und soweit das Sein im anderen, das dem Subjekt zukommt, ebenfalls das Sein eines Grundes ist, führt es nicht über die bekannte Lage hinaus. Indessen, das Sein in einem anderen, um das es angesichts der Unselbständigkeit des Subjektes geht, ist von dem Verhältnis zwischen Grund und Begründetem unterschieden. Das Subjekt darf das andere, in dem es ist, weder als seinen Grund noch als seine Folge betrachten. Denn wäre das andere etwas, das durch das Subjekt begründet würde, dann wäre es ein Inhalt der durch das Subjekt begründeten Ordnung. Ein solcher Inhalt darf es nicht sein, weil es sonst die Außerordentlichkeit des Subjektes verletzte. Und wäre umgekehrt das andere der Grund des Subjektes, dann wäre das Subjekt nicht der letzte Grund der Ordnung von Begründetem. Vor allem diese zweite Abgrenzung hat Folgen. Denn sie sagt, dass das Subjekt, obgleich es seinen Stand erst durch das andere erhält, nicht in dem anderen gründet. Der Übergang von der Unselbständigkeit des Subjektes in ein Sein im anderen legt ja auf den ersten Blick eine Begründung durch dieses andere nahe. Die Eigenart des Subjektseins verlangt jedoch, dass das Sein des Subjektes in einem anderen kein Begründetwerden darstellt. Sie verlangt folglich, dass das andere, in dem das Subjekt ist, keinen Grund abgibt. Wir müssen daher das Sein in einem anderen, das dem Subjekt zukommt, als dessen unbegründetes Sein in einem, das selber weder einen Grund noch ein Begründetes darstellt, begreifen. Dieselbe Merkwürdigkeit, die wir bereits angesichts des Begriffes der Ordnung sahen, macht sich erneut geltend: Das Sein in einem anderen entzieht sich seiner gewohnten Bestimmung, obgleich es dem Bestimmbaren verwandt ist. Denn einerseits

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stimmt das Verhältnis des Subjekts zu dem, in dem es ist, mit dem Verhältnis von Begründetem und Grund insofern überein, als auch das Begründete seinen Stand erst durch seinen Grund gewinnt; andrerseits aber ist das Verhältnis des Subjekts zu dem, in dem es ist, gerade kein Verhältnis zwischen Begründetem und Grund. Auch hier benötigen wir eine vorläufige Bezeichnung dieses abnormen Verhältnisses. Der Begriff eines unbegründeten Verhältnisses des letzten Grundes aller Begründungen zu einem Ungrund kann uns zu dieser vorläufigen Bezeichnung dienen. Bedenken wir nun eine dritte Eigentümlichkeit des Subjektseins. Den Grund der Ordnung bildet das Subjekt als ihr fortwährendes Machen. Das Subjektsein besteht in diesem Machen der Ordnung. Wenn also das Sein des Subjektes das Sein in einem anderen darstellt, dann ist das Machen der Ordnung ein Sein in einem anderen. Hier gilt es abermals zu unterscheiden. In einem gewissen Sinne ist alles Machen ein Sein in einem anderen. Denn das Machende ist ein Machendes nur im Bezug auf sein Machwerk. Das heißt, das Machende ist in seinem Machwerk. Wir müssen uns hier an den von Hegel und Marx geprägten Begriff der Entfremdung erinnern. Das Sein des Subjektes zeigt sich hinsichtlich des Machens als ein entfremdetes Sein. Das entfremdete Sein des Subjektes bedeutet: Das, worin das Subjektsein seine Wirklichkeit findet, tritt ihm als fremd entgegen, nämlich als die Ordnung der Dinge, in der das außerordentliche Subjekt nicht zu sein vermag. Damit ihm aber die eigene Wirklichkeit als fremd entgegenzutreten vermag, muss das Subjekt in gewisser Hinsicht in diesem Fremden sein und in gewisser Hinsicht aus ihm herausfallen. Es ist in einem anderen, das ihm fremd gegenübersteht. Demnach stellt das im Machen enthaltene Sein in einem anderen das entfremdete Sein des Subjektes in seinen Erzeugnissen dar. Mit diesem entfremdeten Sein in einem anderen darf das Sein in einem anderen, zu dem die Spur in der Verfassung des Subjektseins gelegt ist, nicht verwechselt werden. Das Sein in einem anderen, auf das die Verfassung des Subjektseins verweist, ist das Sein, in dem das Subjekt seinen Stand gewinnt. Nicht hingegen ist es das Sein, in dem das Subjekt seine Fremdheit erfährt und also seine Heimatlosigkeit erst recht befestigt.

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In Wahrheit ist das entfremdete Sein in den Erzeugnissen seines Machens ohnehin kein wirkliches Sein in einem anderen. Das scheinbar andere, in das das Subjekt sich entäußert, ist schließlich letzten Endes nur das Produkt des Subjektes. Der Kreis des Subjekts wird in solcher Entäußerung nicht wirklich verlassen, und das in die Erzeugnisse entäußerte Sein stellt bei Lichte besehen nur das von sich selbst entfremdete Sein in sich dar. Das entfremdete Sein ist daher tatsächlich nur in gewisser Hinsicht ein Sein in einem anderen: Das Subjekt ist in seinem eigenen Produkt, also in dem, was zu ihm gehört und nur deshalb, weil es sich gegen es richtet, als fremd betrachtet wird. Wenn hingegen das Machen ein wahrhaftes Sein in einem anderen darstellen soll, dann muss es von seiner Entäußerung in seine Machwerke unterschieden werden. Das bedeutet, das Machen ist nur dann ein Sein in einem anderen, wenn das andere kein Machwerk abgibt. Auch kann das Subjekt selber im Bezug auf das andere, in dem es ist, kein Machwerk wie seine eigenen Machwerke darstellen. Denn wäre es im Bezug auf das andere in demselben Sinne ein Machwerk wie die Erzeugnisse seiner eigenen Arbeit, dann entäußerte sich das andere in ihm. Und dann stünden sich das Subjekt und das andere, in dem es ist, in dem Verhältnis der Entfremdung gegenüber. Es wäre also nichts gewonnen. Das Machen als ein Sein in einem anderen muss demnach die Entäußerungsbeziehung übersteigen. Das Sein im anderen ist selber sowohl etwas Unerarbeitetes als auch etwas Nichtarbeitendes und dennoch auf etwas anderes bezogen. Zu der vorläufigen Bezeichnung dieser Beziehung soll der Begriff der Entäußerungslosigkeit taugen.

V.

Das Sein in einem anderen, das das Subjektsein in sich trägt, lässt sich somit durch den Begriff einer außerordentlichen, entäußerungslosen Beziehung zu einem Ungrund zusammenfassen. Diese abnorme Beziehung ist in die Verfassung des Subjektseins eingeschrieben. Das Subjekt besitzt deshalb die Möglichkeit, der Spur des Seins in einem anderen zu folgen, die zu jener dreifach bestimmten Beziehung führt. In ihr erlangte es seine Heimat. Freilich lässt die Heimat des Subjekts die-

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ses nicht unverwandelt. Wenn die Heimat des Subjekts in einer außerordentlichen, entäußerungslosen Beziehung zu einem Ungrund besteht, dann verlangt sie, die Vollzüge des Denkens – das Ordnen als Begründen und Machen – zu durchbrechen. Das Subjektsein ist durch diese Vollzüge bestimmt. Die Heimat des Subjekts durchbräche mithin die Bestimmungen des Subjektseins. Sie verwandelte das Subjekt. Das Subjekt, das der Spur zu seiner Heimat folgte, könnte sonach nicht mehr das sein, was es war, bevor es die außerordentliche, entäußerungslose Beziehung zu einem Ungrund aufgenommen hatte. Es wäre vielmehr in seiner Bestimmtheit verändert. Das heißt, die Heimat des Subjekts ist keine Heimat, in der die unveränderte Beschaffenheit des Subjektes nun endlich seine Ruhe fände. Genau andersherum liegen die Dinge. Seine Heimat vermöchte das Subjekt nur dann zu finden, wenn es seine eigene Beschaffenheit an der Wurzel umwälzte. Obgleich die Spur zu dem umrissenen Sein in einem anderen in der Verfasstheit des Subjektseins selbst liegt, würde der Weg auf dieser Spur die Verfasstheit des Subjektseins ganz verändern. In dem beschriebenen Zug zur Selbstumwälzung kommt eine Struktur zur Geltung, die das Subjektsein grundlegend prägt. Ich meine die Struktur der Reflexion. Mit dem Begriff der Reflexion wurde der Vorgang bezeichnet, dass das Denken, das die Dinge in der Welt zu bestimmen sucht, über die Art und Weise, die Grenzen und die Möglichkeiten, die Dinge zu bestimmen, nachdenkt. Das Denken kehrt in diesem Vorgang aus der Beschäftigung mit den Dingen der Welt zurück und wendet sich auf sich. Es denkt über sich selbst nach. Freilich ist es sein eigenes Thema insofern, als es die Dinge der Welt zu bestimmen sucht. Indem es über die Art und Weise, die Dinge zu bestimmen, nachdenkt, denkt das Denken sich selbst gerade als das, was über die anderen Dinge nachdenkt. Der Begriff der Reflexion bezeichnet folglich die Rückkehr des Denkens aus der Beschäftigung mit den Dingen der Welt, die von dieser Beschäftigung nicht absieht, sondern sie im Gegenteil begreift. Die Reflexion stellt das Beisichsein des Denkens während dessen Beschäftigung mit den Dingen dar. Die Verfasstheit des Subjektseins ist ein Thema der Reflexion. Denn das Subjektsein stellt nichts anderes dar als das Sein des

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obersten Grundes der Bestimmungsordnung. Die Verfasstheit des Subjektseins ist mithin die Verfasstheit des Denkens bei der Bestimmung der Dinge. Über die Verfasstheit des Subjektseins nachzudenken heißt für das Denken, über sich selbst als das, was über die Dinge nachdenkt, nachzudenken. Die Spur zu dem Sein in einem anderen, das die Heimat des Subjekts darstellt, haben wir in der Verfasstheit des Subjektseins selber entdeckt. Auch diese Spur ist demnach ein Thema der Reflexion. Nur die Rückkehr des Denkens aus der Beschäftigung mit den Dingen zu sich als dem, was sich mit den Dingen beschäftigt, konnte auf jene Spur stoßen. Im Blick auf sie ist das Denken bei sich während seiner Beschäftigung mit den Dingen. Die Spur zu der Heimat des Subjekts stellt ein Reflexionsprodukt dar. Aber zugleich geschieht in dem Blick auf die Spur etwas, das den gewohnten Vorgang der Reflexion verwandelt. Das Beisichsein des Denkens während seiner Beschäftigung mit den Dingen verändert diese Beschäftigung normalerweise nicht. Indem es über die Art und Weise, die Grenzen und die Möglichkeiten, die Dinge zu bestimmen, nachdenkt, lässt es die Bestimmung der Dinge unberührt. Das Denken mag die Bestimmung der Dinge zwar besser begründen oder vor Missgriffen schützen, indem es über sich selbst nachdenkt, doch es läuft in diesem Nachdenken den Vollzügen jener Bestimmung nicht zuwider. Im Gegenteil, es sanktioniert sie. Der Spur zu der abnormen Beziehung des Subjektes zu einem Ungrund zu folgen durchbricht hingegen die normalen Vollzüge des Denkens. Die Rückkehr des Denkens aus der Beschäftigung mit den Dingen zu sich, die auf die Spur zu der Heimat des Subjekts stößt, lässt diese Beschäftigung demnach nicht unberührt. Sie verlangt vielmehr nach einer abnormen Beziehung, die mit den Beziehungsformen, die in den Bestimmungen der Dinge auftreten, geradewegs unvereinbar ist. Die Reflexion erweitert sich in diesem Vorgang von dem Nachdenken über die Art und Weise der Dingbestimmungen zu deren Veränderung. Weil das Denken seine eigene Verfasstheit umstülpen müsste, um der Spur zu seiner Heimat zu folgen, führt die Reflexion an ihrem Ende zu der Revision des Denkens. Sie beschreibt nicht einfach nur die Struktur des Denkens über die Dinge, sondern erfordert eine neue Struktur. Das Beisichsein

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des Denkens, das in der Reflexion geschieht, mündet somit in den Blick auf jene Selbstumwälzung des Denkens, die für die abnorme Beziehung zu einem Ungrund vonnöten wäre. Das Denken ist nur dann ganz bei sich, wenn es seine Verfasstheit durchbricht. Anders gesagt: Das Beisichsein des Denkens vollendet sich erst darin, dass es von sich selbst weg geht – nun freilich nicht mehr zu den Dingen, sondern zu jener abnormen Beziehung, die seine eigene Normalverfassung verhindert. Nicht nur die Beziehung also, in die das Denken einzutreten sucht, ist abnorm. Auch dessen Beisichsein selbst erweist sich als Abnormität. Das Denken ist nur dann bei sich, wenn es von sich weg geht – das heißt in anderen Worten: Es ist nur dann bei sich, wenn es nicht bei sich bleibt. Dies klingt nach einem Widerspruch. Dieser Widerspruch wird noch dadurch verstärkt, dass das Ergebnis der vollendeten Reflexion ja das Sein des Subjektes in einem anderen wäre. Die Reflexion ist aber das Beisichsein des Denkens. Das Denken wäre hiernach erst dann wahrhaft bei sich, wenn es in einem anderen wäre. Der Durchbruch des Denkens durch seine eigene Verfasstheit wäre der Durchbruch zu dem erwähnten anderen. Und weil die Reflexion erst in einem solchem Durchbruch die in der Verfasstheit des Denkens eingelegte Spur verfolgte, wäre das Denken auch erst in dem Durchbruch durch sich selbst zu jenem anderen bei sich. Das Denken käme bei sich an, wenn es bei seinem Ungrund ankäme.

VI.

An dieser Stelle aber ist der Begriff des Subjektseins bei dem Begriff des Absoluten angelangt. Denn der Begriff des Absoluten ist selber nichts anderes als ein Begriff, der die über sich selbst hinaustreibende Reflexion bezeichnet. In dem Wort „das Absolute“ steckt bereits das Hauptmerkmal seines Begriffs. „Absolut“ heißt „losgelöst“. Dem Wort zufolge ist das Absolute dadurch gekennzeichnet, dass es „losgelöst“ ist. Wenn aber ein Seiendes etwas Losgelöstes ist, dann steht es in keinem Verhältnis zu etwas außer ihm. Verhältnisse binden Seiendes aneinander. Ginge das Losgelöste ein Verhältnis mit etwas außer ihm ein, so wäre es mithin an es gebunden. Das Losgelös-

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te kann daher in keinem Verhältnis zu etwas Äußerem stehen. Das bedeutet, dass die Verhältnisse, die ein Losgelöstes eingeht, ausschließlich Verhältnisse innerhalb seiner selbst sein müssen. Diese Bestimmung gilt auch in die andere Richtung: Wenn etwas keine Verhältnisse zu etwas Äußerem eingeht, dann ist es etwas Losgelöstes. Oder in anderen Worten: Wenn die Verhältnisse, in denen etwas steht, ausnahmslos Verhältnisse innerhalb seiner selbst sind, dann darf es ein Losgelöstes heißen. Etwas ist also genau dann ein Losgelöstes, wenn die Verhältnisse, die es eingeht, ausschließlich Verhältnisse in seinem Inneren darstellen oder wenn es überhaupt keine Verhältnisse eingeht. Aus dieser ersten Bestimmung ergibt sich, dass das Losgelöste durch nicht anderes als sich selbst bedingt ist. Jedes Bedingen stellt ein Verhältnis zwischen dem Bedingenden und dem Bedingten dar. Die Verhältnisse, in denen das Losgelöste stehen kann, sind Verhältnisse innerhalb seiner selbst. Das Losgelöste ist demnach entweder durch überhaupt nichts bedingt oder durch sich selbst. Das Losgelöste kann nicht durch überhaupt nichts bedingt sein. Wenn es durch überhaupt nichts bedingt wäre, dann wäre es einfach nur da. Und was einfach nur da ist, könnte genauso gut auch nicht sein. Es gibt schließlich keinen Grund dafür, dass es ist und nicht nicht ist. Wenn das Losgelöste jedoch auch genauso gut nicht sein könnte, dann ist es nicht das Losgelöste. Es stünde dann innerhalb einer Ordnung, in der es sein oder nicht sein kann. Diese Ordnung wäre außer ihm, und es stünde zu ihr in dem Verhältnis, in ihr zu sein oder nicht zu sein. Das Losgelöste nähme also ein Verhältnis zu etwas Äußerem ein. Das widerspricht der Voraussetzung: Die Verhältnisse, die das Losgelöste eingeht, dürfen ausschließlich Verhältnisse in seinem Inneren darstellen. Das Losgelöste kann daher nicht nicht bedingt sein. Wenn das Losgelöste aber entweder durch überhaupt nichts oder durch sich selbst bedingt ist, und wenn es nicht durch überhaupt nichts bedingt sein kann, dann muss es sich selbst bedingen. Wir können daher die Bestimmung, das Losgelöste sei durch nichts anderes als sich selbst bedingt, jetzt verschärfen: Das Losgelöste ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich selbst bedingt. Als das, was nur Verhältnisse in seinem Inneren haben kann, ist es das

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Sichselbstbedingende. Die Bestimmung des Losgelösten muss demnach lauten: Etwas ist genau dann ein Losgelöstes, wenn es sich selber bedingt. Wir haben nach den Bestimmungen des Losgelösten gefragt, um den Begriff des Absoluten zu gewinnen. Er sieht nun so aus: Das Absolute ist das, was sich selbst bedingt. Damit ist noch nichts über die Wirklichkeit des Absoluten gesagt. Es ist nur gesagt, dass das Absolute, wenn es ist, etwas ist, das sich selbst bedingt. Wir können aber über die Seinsweise des Absoluten kraft seines Begriffes noch mehr sagen. Das Absolute ist nach dem Gesagten das, was Verhältnisse nur in seinem Inneren zu haben vermag. Das aber heißt, dass es außerhalb des Absoluten nichts geben kann. Gäbe es etwas außerhalb des Absoluten, so stünde das Absolute in dem Verhältnis der Nichtbedingtheit zu diesem Außerhalb. Wir hatten aber gesehen, dass der Begriff des Absoluten dessen Verhältnis zu etwas Äußerem nicht erlaubt. Der Begriff des Absoluten beinhaltet daher einen starken Anspruch. Er ist der Begriff eines Seienden, das alles Sein für sich verlangt. Damit ist immer noch nicht gesagt, dass das Absolute wirklich ist. Der Anspruch besteht auch ohne seine Erfüllung. Aber es ist gesagt, dass es außerhalb des Absoluten nichts geben kann, wenn es das Absolute gibt. Das Sein des Absoluten ist mithin ein Insichsein, und für seinen Begriff benötigen wir keinen Begriff, der etwas außerhalb seiner beschreibt. Wir können beide Kennzeichnungen vereinen, indem wir sie unter den Begriff der Bestimmung bringen und fragen, in welcher Hinsicht das Sein des Absoluten und in welcher Hinsicht der Begriff des Absoluten bestimmt sein können. Nach dem Gesagten ist die Antwort klar: Das Sein und der Begriff des Absoluten können nur durch den Begriff und das Sein des Absoluten selbst bestimmt sein. Denn weder das Sein noch der Begriff des Absoluten hängen von etwas außerhalb des Absoluten ab. Die beiden Kennzeichnungen laufen somit in der einen Kennzeichnung zusammen: Das Absolute ist das, was sich selbst bestimmt. Mehrfach wurde betont, dass die Bestimmungen des Absoluten ohne Rücksicht darauf gewonnen wurden, ob es etwas, das diesen Bestimmungen entspricht, auch wirklich gebe. Diese Klausel ist nun selber in Frage zu stellen. Denn das, was sich selbst

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bestimmt, ist seinem Begriff gemäß zugleich auch etwas, das notwendigerweise existiert. Wir können den Grund für diese Gleichsetzung auf die folgende Weise grob skizzieren: Sofern der Begriff des Selbstbestimmten stimmig ist, existiert das, was sich selbstbestimmt, möglicherweise. Existierte es nun nicht auch notwendigerweise, dann wäre es möglich, dass es nicht existierte. Anders gesagt: Das Selbstbestimmte wäre als etwas Inexistentes ebenso gut möglich wie als etwas Existentes. Das Selbstbestimmte stünde somit in einer Ordnung von Möglichem, von dem das eine existiert und das andere nicht. Diese Ordnung umfasste mehr als es selbst. Sie beinhaltete sowohl das existente Selbstbestimmte als auch das inexistente Selbstbestimmte. Die Ordnung wäre daher außer dem Selbstbestimmten, und das Selbstbestimmte stünde in einem Verhältnis zu ihr, insofern es in ihr seine Ordnungsstelle einnähme. Doch das Selbstbestimmte darf seinem Begriff nach in keinem Verhältnis zu einem Äußeren stehen. Sofern ein Seiendes etwas Selbstbestimmtes ist, steht es folglich nicht in der Ordnung von Möglichem, von denen das eine existiert und das andere nicht existiert. Und das heißt, die Nichtexistenz des Selbstbestimmten kann nicht gedacht werden. Wenn die Nichtexistenz des Selbstbestimmten aber nicht gedacht werden kann, dann muss das Selbstbestimmte, wenn es gedacht wird, als ein Existentes gedacht werden. Der Begriff des Selbstbestimmten erzwingt die Falschheit des Satzes „Das Selbstbestimmte existiert nicht“ und also die Wahrheit seiner Verneinung „Das Selbstbestimmte existiert.“ Das Seiende, dem man die Nichtexistenz niemals zuschreiben kann, ist aber das notwendigerweise Seiende. Was sich selbst bestimmt, existiert mit Notwendigkeit. Das Absolute ist demnach das, was mit Notwendigkeit existiert. Das hat Folgen für seinen Begriff. Soll er das Absolute wirklich erfassen, so muss er auch erfassen, dass es notwendigerweise existiert. Das heißt, bereits die Beschreibung, die der Begriff liefert, muss die Existenz des Begriffenen aufzeigen. Der Begriff des Absoluten hat die Existenz seines Gegenstandes als eines seiner Merkmale zu besitzen. Das Absolute muss das ens necessarium darstellen. Wir müssen daher eine neue Klausel einführen. Sie lautet nun nicht mehr: Sofern das Absolute existiert, ist es das Selbstbestimmte. Stattdessen lautet sie:

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Sofern es einen stimmigen Begriff des Absoluten gibt, existiert dieses auch. Denn das, was sich selbstbestimmt, ist etwas, das notwendigerweise existiert. Die Voraussetzung, nach der es zu fragen gilt, ist jetzt nicht mehr die Existenz dessen, was die Bestimmungen des Absoluten beschreiben. Die fragwürdige Voraussetzung ist vielmehr die Stimmigkeit jener Bestimmungen. Alles hängt davon ab, ob es gelingt, einen stimmigen Begriff des notwendigerweise Seienden zu bilden. Die Frage nach dem Absoluten entfaltet sich somit zu der Frage nach dem Begriff des notwendigerweise Seienden, und die Suche nach dem Absoluten ist die Suche nach diesem Begriff. Der Begriff des notwendigerweise Seienden führt uns zu dem Argument, das seit Kant der ontologische Gottesbeweis genannt wird. Der ontologische Gottesbeweis will die Existenz Gottes allein aus dessen Begriff herleiten. Seine Grundform ist diese: Er zeigt, daß der Begriff Gottes die Wahrheit der Aussage „Gott existiert“ erzwingt. Gibt es aber einen solchen Gottesbegriff, aus dem man Gottes Existenz herleiten kann, so existiert Gott notwendigerweise – man kann ihn ja nicht mehr als nichtexistierend denken, ohne seinen Begriff zu verfehlen. Der im ontologischen Beweis bewiesene Gott ist daher das ens necessarium. Anders gesagt: Er ist das Absolute. Der ontologische Beweis ist die Bewegung des Denkens, das das Absolute denkt.

VII.

Wenn aber der ontologische Gottesbeweis das ist, was den Begriff des Absoluten denkt, dann bezeichnet dieser Begriff eben jene Reflexionsbewegung, in die die Bestimmungen des Subjektseins mündeten. Wir können dies von Kant, von Hegel und von Schelling lernen. Kant hatte in seiner Widerlegung des ontologischen Beweises gezeigt, dass der Beweis der Denkbewegung entspringt, die zu allem Bedingten ein Unbedingtes zu finden sucht. Zwar argumentierte er zugleich dafür, dass eine solche Suche nach dem Unbedingten zu keiner Erkenntnis führe, weil sie die Grenzen möglicher Erfahrung überschreite, aber er hatte damit den Beweis auf eine Form der Reflexion zurückgeführt. Denn das Unbedingte zu allem Bedingten zu suchen heißt, auf bedingte Erkenntnisse zu reflektieren und aus ihnen

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auf etwas Unbedingtes zu schließen. Der ontologische Gottesbeweis entpuppt sich somit als eine Gestalt der Reflexion. An diese Einsicht konnte Hegel anknüpfen. Er legte dar, dass die Reflexion auf das Bedingte solange unvollständig bleibe, wie sie nicht auch auf sich selber reflektiere. Die Reflexion unterliegt ja, solange sie innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung zu bleiben hat, der Bedingung der Erfahrbarkeit. Sie reflektiert also solange nicht alles Bedingte, wie sie sich selber aus der Reflexion ausnimmt. Die Reflexion auf die bedingte Reflexion aber übersteigt offenkundig die Bedingungen. Sie ist schließlich eine Reflexion höheren Typs. Daher kann die Reflexion des Bedingten zuletzt nicht der Bedingung der Erfahrbarkeit unterliegen. Aus diesem Grund kann Hegel Kants Einwand gegen das Ergebnis der Reflexion nicht gelten lassen. Stattdessen führt er Kants Einsicht darin, dass der ontologische Gottesbeweis eine Gestalt der Reflexion darstelle, zu Ende. Wenn die Reflexion auf das Bedingte zu diesem das Unbedingte erschließt, dann erschließt die Reflexion auf die bedingte Reflexion die unbedingte Reflexion. Eben dieser Schluss auf die unbedingte oder absolute Reflexion ist der Kern des ontologischen Gottesbeweises. Gott als das notwendigerweise Seiende zu beweisen geschieht dadurch, dass die Reflexion selber absolut wird. Wie dieser Schluss sich vollzieht, kann hier nicht ausgeführt werden. Das ist auch nicht nötig. Denn Schelling erhebt gegen Hegels Gestalt der absoluten Reflexion einen Einwand, der von der konkreten Durchführung jener Gestalt unabhängig ist. Der Einwand lautet: Auch wenn die Reflexion alle Bedingtheiten ihres Vollzuges übersteigen kann – eines kann sie doch niemals übersteigen: ihre schiere Faktizität. Anders gesagt: Mag die Reflexion alle Bedingungen ihres Wie aufheben können, die Bedingung ihres Dass bleibt doch bestehen. Daher muss die unbedingte Reflexion gerade als unbedingte Reflexion anerkennen, dass ihre Faktizität nicht in ihrer Macht steht. Der Begriff des Absoluten, den der ontologische Gottesbeweis zu denken sucht, mündet mit dieser Überlegung in den Begriff dessen, von dem die Reflexion selber in ihrem Dass abhängt. Das aber kann sie nicht mehr denken, weil es in jedem Akt des Denkens bereits vorausgesetzt wird. Schelling verwendet daher den Begriff des „unvordenklichen Seins“, um die Faktizität der absolu-

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ten Reflexion zu bezeichnen. Der Begriff des Absoluten ist der Begriff der uneinholbaren Bedingung der absoluten Reflexion. Hiermit können wir die Verbindung zwischen dem Begriff des Subjektes und dem Begriff des Absoluten ziehen. Wir sahen: Das Subjekt dreht sich in seiner Reflexion aus den Vollzügen seines Denkens hinaus und sucht eine abnorme Beziehung auf einen Ungrund zu denken. Der Begriff des Absoluten wiederum bezeichnet die Bedingung der vollendeten Reflexion. Die vollendete Reflexion ist die Vollendung des denkenden Subjektes, das nicht nur die Dinge bestimmt, sondern auch bei sich ist. Der Begriff des Absoluten bezeichnet somit die Bedingung des denkenden Subjektes. Er ist der Begriff des Ungrundes jener Beziehung. Allerdings bleibt dieser Begriff in Schellings Formulierung inkonsequent. Denn der Ausdruck „unvordenkliches Sein“ setzt eine Positivität, die nur als Negativität erzeugt wurde: als Verneinung des vom Denken Einholbaren. Und es gibt keinen Anlass, aus einer Negativität ohne weiteres eine Positivität zu machen. Wir müssen den Begriff des Absoluten daher seiner Positivität entkleiden. Das darf indessen nicht dazu führen, bei der bloßen Negativität stehen zu bleiben. Wir sahen ja, dass das Subjekt einen Ungrund benötigt, auf den bezogen es zu sein vermag. Eine bloße Negativität kann diese Bezogenheit nicht leisten. Um den Begriff des Absoluten zu gewinnen, müssen wir daher nach einem anderen Ausdruck suchen. Ich finde diesen Ausdruck in der Theologie. Die Theologie denkt den Begriff des Geheimnisses. Der Begriff des Geheimnisses bezeichnet die anwesende Abwesenheit von etwas. Das kann uns weiterhelfen. Denn wenn wir das Absolute nicht als unvordenkliches Sein, sondern als Geheimnis denken, dann denken wir es zum einen in seiner Negativität, weil wir den Ungrund nicht entschlüsseln. Er bleibt stets „etwas anderes“. Zum andern aber denken wir es als Bezugspunkt. Der Ungrund ist anwesend und also mit dem Subjekt verbunden. Der Begriff des Geheimnisses kann daher die Bezogenheit des Subjektes auf den Ungrund benennen. Als Bezugspunkt ist der Ungrund anwesend; aber in seiner Unentschlüsseltheit. Als Unentschlüsselter wiederum ist er abwesend; aber in seiner Verbundenheit mit dem Subjekt. Das Sein in einem anderen, in dem das Subjekt seine Heimat findet, ist mithin das Sein in einem Geheimnis.

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In dieser Überlegung hat sich die Reflexion in ihr Äußerstes begeben. Mehr zu sagen würde sie direkt in Theologie überführen. Aber sie ist noch nicht selber zur Theologie geworden. Denn sie entwickelte den Begriff des Geheimnisses aus der philosophischen Reflexion auf das Subjektsein heraus und nicht aus der Rede von Gott. Die Nähe zur Theologie ist eher eine Umkehrung der Nähe, die die Theologie zur Philosophie einst hatte. Wollte die Theologie bestimmte Gedanken der Philosophie als spolia aegyptiorum rauben, um sie sich nutzbar zu machen, so zieht nun die Philosophie auf theologische Beute aus.

Der Mensch und die Kunst Autonomie und Spiel. Zum Verhältnis von Anthropologie und Ästhetik bei Schiller und Kant

Andrea Kern

I.

Ich möchte in meinem Vortrag einer scheinbar einfachen Frage nachgehen: nämlich der Frage, weshalb wir uns mit Kunstwerken beschäftigen. Gewiss, eine erste Antwort scheint auf der Hand zu liegen: weil die Beschäftigung mit Kunstwerken uns Vergnügen bereitet. Wir gehen in Museen, lesen Romane, schauen uns Filme an, hören Musik, weil all dies unser Wohlgefallen, unsere Lust erweckt. Doch so richtig und einleuchtend diese erste Antwort ist, sie scheint doch die Frage, die wir oben gestellt haben, nicht wirklich zu beantworten, sondern zunächst einmal nur zu verschieben. Denn die soeben gegebene Antwort wirft sogleich die Frage auf, weshalb es denn so ist, dass die Beschäftigung mit Kunstwerken uns ein solches Vergnügen bereitet. Es ist nun bezeichnend für die Tradition der philosophischen Ästhetik, dass die Beantwortung dieser Frage höchst umstritten ist. Der Streit dreht sich dabei um die Frage, welche Rolle die Kunst für das menschliche Leben spielt. Denn davon, wie man das Verhältnis von Kunst und menschlichem Leben deutet, ist abhängig, wie das Vergnügen an der Kunst zu verstehen ist. Das Spektrum der möglichen Positionen lässt sich grob in drei Traditionslinien aufteilen:1 Da haben wir erstens Ästhetiken, die der Kunst jede positive Bedeutung für das menschliche Leben 1

Zu einem Überblick über das Spektrum der zeitgenössischen Positionen zu dieser Frage vgl. die Aufsätze in A. Kern/R. Sonderegger (Hg.), Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Frankfurt am Main 2002.

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absprechen, ja mehr noch, die sie nachgerade für gefährlich und verwerflich für das menschliche Leben erachten – das ist bekanntlich die Position von Platon2, die dann Rousseau im 18. Jahrhundert wieder prominent gemacht hat, weshalb er u.a. dagegen argumentierte, dass die Stadt Genf ein Theater erhalten solle. Das Vergnügen an der Kunst, so meinen diese Autoren, gründet darin, dass die Kunst uns in eine Scheinwelt führt und uns mit trügerischem Spiel und Maskerade von der Wahrheit und dem Ernst des Lebens ablenkt. Zweitens haben wir eine Reihe von Ästhetiken, die das Vergnügen an der Kunst damit erklären, dass die Beschäftigung mit Kunst eine das menschliche Leben bereichernde Wirkung hat. Diese bereichernde Wirkung soll darin bestehen, dass die Beschäftigung mit Kunstwerken den Menschen eine Form der Selbsterfahrung ermöglicht, vermittels derer sie sich der für ihr Menschensein zentralen Fähigkeiten vergewissern. Und schließlich haben wir drittens Ästhetiken, die der Kunst nicht nur eine das menschliche Leben bereichernde, sondern gar eine unverzichtbare Rolle in der Konstitution eines guten Lebens zuschreiben. Während die zweite Reihe von Ästhetiken gewöhnlich mit Kant verknüpft wird, wird die dritte Position exemplarisch von Schiller vertreten und in der zeitgenössischen Ästhetik, in je unterschiedlicher Weise, etwa von Martha Nussbaum und Christoph Menke verteidigt.3 Der dritten Position zufolge ist es nicht nur so, dass die Kunst das menschliche Leben um eine bedeutsame Erfahrung bereichert, sondern es ist so, dass die Erfahrung von Kunst für das menschliche Leben wesentlich ist. Die Entwicklung unseres Menschseins wird durch die Erfahrung von Kunst nicht nur ergänzt, sondern ist von dieser nachgerade abhängig.

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Zu einer differenzierten Darstellung der Position Platons vgl. M. Hofer, Begriff und (Trug-) Bild bei Platon, in: M. Hofer/M. Leisch-Kiesl (Hg.), Evidenz und Täuschung. Stellenwert, Wirkung und Kritik von Bildern, Bielefeld 2008. Vgl. dazu die exemplarischen Aufsätze von M. Nussbaum, Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York 1990. Nach Nussbaum ist die Auseinandersetzung mit Literatur deswegen wichtig, weil die Literatur, kraft ihrer Exemplarizität, dazu beiträgt, eine richtige Vorstellung davon zu entwickeln, worin das Gute des menschlichen Lebens besteht. Eine andere Version der dritten Traditionslinie vertritt dagegen Ch. Menke, in: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt am Main 2008. Nach Menke ist die ästhetische Erfahrung deswegen wichtig, nicht, weil sie uns eine richtige Vorstellung vom „praktisch Guten“ gibt (S. 124), sondern weil sie uns von der das praktische Leben notwendigerweise charakterisierenden Orientierung am „praktisch Guten“ befreit. Die Kunst ist nach Menke wesentlich für das gute menschliche Leben, weil sie eine Freiheit gegenüber dem Gut unserer Praktiken hervorbringt, und nicht, wie Nussbaum dies meint, weil sie uns in der rechten Weise in diese Praktiken hineinbringt, indem sie uns deren Gut richtig verstehen lässt.

Der Mensch und die Kunst | Andrea Kern

Mich interessiert im Folgenden die dritte der soeben genannten Traditionslinien. Ich möchte die Vermutung prüfen, derzufolge das Vergnügen an der Kunst darin wurzelt, dass die Kunst eine konstitutive Rolle für das menschliche Leben spielt. D. h. mich interessiert der hierbei unterstellte Zusammenhang zwischen der Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein und der Frage, was es heißt, sich mit Kunst zu beschäftigen. Anders gesagt, mich interessiert der Zusammenhang zwischen Anthropologie und Ästhetik. Ästhetik, so lautet die These der dritten Traditionslinie, ist ein notwendiges Element der Anthropologie. Warum das so ist und wie man das verstehen kann, das möchte ich im Folgenden diskutieren. Im Zentrum der folgenden Diskussion werden dabei die Ästhetik Schillers und die Ästhetik Kants stehen, die nach der üblichen Lesart, wie ich oben angedeutet habe, die Begründer zweier verschiedener Traditionslinien sind. Ich werde dagegen zeigen, dass der Grundgedanke und Ausgangspunkt der Kantischen Philosophie, nämlich die Idee des Menschen als eines zur Selbstbestimmung fähigen Wesens, mit dem Gedanken steht und fällt, dass der Mensch auch ein ästhetisches Wesen ist, d. h. ein Wesen, das die Erfahrung von Kunst macht.

II.

Schillers zentrale Idee in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist es, aufzuzeigen, dass die Anthropologie in der Ästhetik fundiert werden muss.4 Der zentrale Schlüsselbegriff, mit dem Schiller diese These begründet und erläutert, ist der Begriff des Spiels. Der Begriff des Spiels, so der Gedanke Schillers, ist der Grundbegriff der Ästhetik, und genau deswegen, so möchte er argumentieren, ist die Ästhetik für die Anthropologie von zentraler Bedeutung. Im 15. Brief seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen bringt Schiller seine Ästhetik wie auch seine Anthropologie gleichermaßen auf den Punkt bringt, wenn er schreibt: „Der Mensch

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F. Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München 1984.

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spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“5. Warum ist das so? Schiller knüpft in seiner Anthropologie ausdrücklich an Kants Beschreibung des Menschen als einem Wesen an, das eine Doppelnatur hat: Der Mensch, so der Kant und Schiller gemeinsame Gedanke, ist ein Wesen, das dadurch charakterisiert ist, dass es sowohl das Vermögen der Sinnlichkeit als auch das Vermögen der Vernunft hat. Darin unterscheidet der Mensch sich von den Tieren, denen nur das Vermögen der Sinnlichkeit eigen ist. Betrachten wir zunächst das Vermögen der Vernunft: Nach der traditionellen Bestimmung, an die auch Kant und Schiller anknüpfen, besteht das Vermögen der Vernunft allgemein in der Fähigkeit, sein Denken und Handeln so zu bestimmen, dass man nur das denkt und tut, wofür man Gründe hat, die einem vermittels von Begriffen sagen, was zu denken und zu tun richtig oder gut ist. Vernunft, allgemein gesprochen, beruht also darauf, dass man über Begriffe verfügt, unter die man seine Vorstellungen von der Welt bringen kann. Indem man die sinnlichen Vorstellungen, die man hat, unter Begriffe bringt, verbindet man sie zur Einheit eines „Ichs“ und macht damit alles, was man auf diese Weise tut, zum Tun eines „Ichs“.6 Das Vermögen der Vernunft ist folglich ein Vermögen der Selbsttätigkeit, d. h. ein aktives Vermögen, das seinen Grund im Subjekt selbst enthält. Es ist das Vermögen der Selbstbestimmung. Das Vermögen der Sinnlichkeit ist dagegen ein passives Vermögen, das von den Gegenständen, die in der sinnlichen Welt gegeben sind, abhängig ist. Es besteht darin, sich von den Dingen affizieren zu lassen. Ein sichtbarer Gegenstand etwa, auf den wir blicken, affiziert unsere Sinnlichkeit, genauer, er affiziert unsere Augen. Ein hörbarer Gegenstand affiziert unsere Ohren, ein riechbarer Gegenstand unsere Nase, etc. Das Vermögen der Sinnlichkeit ist folglich kein Vermögen, das seinen Grund ausschließlich im Subjekt selbst enthält, sondern ein Vermögen, das auf einen Grund in der Welt außerhalb des Subjektes angewiesen ist: in den Gegenständen der sinnlichen Welt, von

5 6

Ebd., 182 f. Ebd., 170.

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denen die Aktualisierung dieses Vermögens abhängig ist. Denn ob ich etwas sehe und das, was ich sehe (oder höre, rieche etc.) ist nichts, was ich selbst zu entscheiden habe und von mir selbst bestimmt wird, sondern die Dinge affizieren meine Sinnlichkeit ganz unabhängig davon, was ich über sie denke oder mit ihnen tue. In einem gewissen Sinn kann man daher auch sagen, dass das Vermögen der Sinnlichkeit ein Vermögen ist, durch das man Dingen in einer gewissen Weise ausgeliefert ist. Ein sinnliches Verhältnis zu den Dingen zu haben, heißt, sich den Dingen gegenüber nicht aktiv, selbstbestimmend zu verhalten, sondern passiv, durch die Dinge bestimmt. Ein solches Vermögen der Sinnlichkeit ist auch den Tieren eigen. Auch die Tiere werden von den Dingen um sie herum sinnlich affiziert. Katzen sehen, etwa Mäuse, die vor ihnen herumspringen; Hunde riechen, etwa ihren Besitzer, wenn er in ihre Nähe kommt, und so weiter. Nach Kant und Schiller jedoch fehlt den Tieren das Vermögen der Vernunft, sie haben bloß das Vermögen der Sinnlichkeit. D. h. wenn sie handeln, dann ist dies bei ihnen kein Akt der Selbstbestimmung, sondern ein Akt des Bestimmtwerdens. Sie haben keine Begriffe, unter die sie ihre sinnlichen Vorstellungen von der Welt bringen können, und wenn sie handeln, dann tun sie dies nicht auf der Basis von Gründen darüber, was zu tun richtig oder gut ist. Wenn eine Katze eine Maus sieht und nach dieser springt, dann tut sie dies nicht auf der Basis eines begrifflichen Urteils darüber, das besagt, dass ein Sprung nach der Maus ein gutes Mittel wäre, an die Maus ranzukommen und sie damit ihren Hunger befriedigen kann. Der Sprung der Katze nach der Maus gründet allein darin, dass die Katze Hunger hat und der Tatsache, dass sie eben gerade diese Maus sieht: Die Katze hat Hunger, sie sieht die Maus, sie springt nach der Maus. Die Katze kann gar nicht anders als nach der Maus zu springen, sobald sie eine Maus sieht. Tiere beziehen sich in diesem Sinn rein sinnlich auf die Welt, d. h. mit Bedürfnissen und Wahrnehmungen, die durch die Dinge bestimmt werden, und nicht urteilend, bewertend, begründend, d. h. nicht so, dass sie sich selbst bestimmen. Folgen wir Kant und Schiller, dann charakterisiert es den Menschen wesentlich, dass er die Fähigkeit hat, die Dinge vermittels von Begriffen zu beurteilen und sich so in seinem Denken

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und Handeln von Gründen anleiten zu lassen. Wenn der Mensch sich in seinem Denken und Handlungen selbst bestimmen kann, dann liegt das eben genau daran: dass er über Begriffe verfügt und damit über die Fähigkeit, zu Gründen zu kommen, die ihm sagen, was zu denken und zu tun richtig oder gut ist, so dass er sein Denken und Handeln durch diese Gründe bestimmen kann. Dass der Mensch ein selbstbestimmtes Wesen ist, heißt also, dass er nur das denkt und tut, was ihm auf der Basis von Gründen als richtig oder gut einleuchtet. Die Katze dagegen denkt nicht, dass es richtig ist, jetzt nach der Maus zu springen, sondern sie springt einfach nach der Maus, sobald sie eine sieht. Schiller ist nun der Auffassung, dass das Wesen des Menschen darin besteht, dass die beiden Vermögen, die der Mensch hat, also Sinnlichkeit und Vernunft, eine harmonische Einheit bilden. D.h. das Wesen des Menschen geht nicht schon darin auf, dass der Mensch diese beiden Vermögen nur einfach hat, ganz gleich, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, sondern sein Wesen verlangt von ihm, dass diese beiden Vermögen – das Vermögen der Vernunft und der Sinnlichkeit – in ein harmonisches Verhältnis zueinander gebracht werden. D.h. weder soll es so sein, dass diese beiden Vermögen nur einfach nebeneinander herlaufen und nichts miteinander zu tun haben, noch soll es so sein, dass diese beiden Vermögen einander widerstreiten, sondern die Bestimmung des Menschen ist es, dass diese beiden Vermögen eine harmonische Einheit bilden. Die zentrale These Schillers nun lautet, dass eine solch harmonische Einheit zwischen den beiden Vermögen, die das Wesen des Menschen ausmachen, dem Menschen nicht einfach von Natur aus gegeben ist, sondern für diesen eine Aufgabe darstellt. Schiller schreibt: „Die Natur fängt mit dem Menschen nicht besser an als mit ihren übrigen Werken: sie handelt für ihn, wo er als freie Intelligenz noch nicht selbst handeln kann. Aber eben das macht ihn zum Menschen, daß er bei dem nicht stillsteht, was die bloße Natur aus ihm machte, sondern die Fähigkeit besitzt, die Schritte, welche jene mit ihm antizipierte, durch Vernunft wieder rückwärts zu tun, das Werk der Not in ein

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Werk seiner freien Wahl umzuschaffen und eben die physische Notwendigkeit zu einer moralischen zu erheben.“7

Das Wesen des Menschen ist seiner Verwirklichung nach keine naturgegebene Sache, sondern etwas, das für den Menschen vielmehr eine Herausforderung, eine Aufgabe darstellt, die er meistern oder an der er scheitern kann. Seine Aufgabe ist es, seine Vernunft so zu entwickeln, dass sie mit dem Vermögen der Sinnlichkeit eine harmonische Einheit bildet. Sein eigenes Wesen, nämlich die Verwirklichung einer solch harmonischen Einheit, stellt für den Menschen folglich ein „Ideal“ dar, das er zu erreichen strebt. Programmatisch schreibt Schiller im 4. Brief: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“8

Wenn Schiller sagt, jeder Mensch trage „einen reinen idealischen Menschen in sich“, der sein Wesen ausmacht und mit dem übereinzustimmen für ihn eine Herausforderung darstellt, dann möchte er damit sagen, dass es eine Sache des Menschen selbst ist, ob er sein Wesen verwirklicht oder nicht. Es ist „die große Aufgabe seines Daseins“, die er meistern kann, oder aber an der er scheitern kann, was dann nichts anderes bedeutet, als dass er daran scheitert, sein Menschsein zu verwirklichen. Denn, so schreibt Schiller: „Der Mensch kann sich [...] auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören.“9

Man könnte nun Schiller so verstehen, als wolle er hiermit lediglich behaupten, dass es – sozusagen unter ungünstigen 7 8 9

Ebd., 142. Ebd., 145. Ebd., 147.

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Umständen – passieren kann, dass der Mensch auf doppelte Weise sein Wesen verfehlt oder sich ihm zuwider entwickelt. Wenn die Dinge schlecht laufen, dann scheitert der Mensch an der ihm zukommenden „großen Aufgabe seines Daseins“, seine Sinnlichkeit, d. h. u.a. seine Gefühle, und seine Vernunft, d. h. u.a. seine Grundsätze, in eine harmonische Einheit zu bringen. Doch Schiller ist der Auffassung, dass es für die Entwicklung der „mannigfaltigen Anlagen im Menschen“ nachgerade unumgänglich sein kann, sie zunächst einmal „einander entgegenzusetzen“.10 D. h. damit Sinnlichkeit und Vernunft sich allererst einmal in ihrem ganzen Umfang entwickeln können, kann es, wie Schiller meint, unvermeidlich sein, sie für eine gewisse Zeit unabhängig voneinander sich entfalten zu lassen, ehe sie dann zu einer Einheit gebracht werden. Eine „Einseitigkeit in Übung der Kräfte“, auch wenn sie wider das Wesen des Menschen geht, kann, so Schiller, für eine gewisse Zeit sinnvoll sein.11 Der Mensch als Gattung jedenfalls, so glaubt Schiller, kann durch eine solch „getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte“ gewinnen.12 Dem Wesen des Menschen jedenfalls kann sie zuträglich sein, jedoch nur dann, wenn sie ihr Ziel im Blick hat, d. h. die Einheit der Kräfte.

III.

Die Einheit des Menschen, deren Herstellung „die große Aufgabe seines Daseins“ ist, wird entsprechend der beiden Vermögen, aus denen sie besteht, von zwei Seiten bedroht: von einer falschen Übermacht der Vernunft, die die Sinnlichkeit unterdrückt und von einer falschen Übermacht der Sinnlichkeit, die die Vernunft unterdrückt. Fragen wir uns zunächst genauer, was es bedeuten würde, wenn die Vernunft die Sinnlichkeit unterdrückt. Die Vernunft, so haben wir gesagt, ist das Vermögen der Selbstbestimmung. Sein Denken und Handeln selbst zu bestimmen, heißt, es durch Gründe zu bestimmen, die einem sagen, was zu denken und zu tun richtig oder gut ist. Die Sinnlichkeit, so haben wir gesagt, ist das Vermögen, sich durch die 10 11 12

Ebd., 154. Ebd., 155. Ebd., 156.

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Dinge in seinem Denken und Handeln bestimmen zu lassen. Wenn die Vernunft die Sinnlichkeit unterdrückt, dann heißt dies, dass man sein Vermögen unterdrückt, sich durch die Dinge in seinem Denken und Handeln bestimmen zu lassen. D. h. man verfügt, mit Schiller gesprochen, ausschließlich über „Grundsätze“, mit denen man versucht, sein Denken und Handeln selbst zu bestimmen. Daraus aber folgt, dass es für jemanden, dessen Vernunft die Sinnlichkeit unterdrückt, gar nicht das gibt, was Schiller als „das Wirkliche außer uns“ oder als „Realität“ und „Inhalt“ bezeichnet.13 Denn jemand, der ausschließlich sein Vermögen der Vernunft zur Geltung kommen lässt, versucht sein Denken und Handeln ausschließlich durch etwas zu bestimmen, das seinen Grund in ihm selbst hat. Das heißt, sein Denken und Handeln wird durch nichts Wirkliches bestimmt, das „außer ihm“ ist, durch keine Dinge, die es unabhängig von ihm gibt und die dadurch in sein Bewusstsein treten, dass sie seine Sinne affizieren. Wenn aber das so ist, dann fragt sich, wie es möglich ist, dass so jemand überhaupt Gedanken haben kann, die auf Gegenstände „außer uns“ gerichtet sind und damit einen „Inhalt“ haben. Denn das Vermögen der Sinnlichkeit, darin folgt Schiller Kant, leistet genau dies: Es erklärt in grundlegender Weise, wie unsere Gedanken auf Gegenstände „außer uns“ gerichtet sein können und nicht einfach leer sind. „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben“ so heißt es bei Kant programmatisch, „Gedanken ohne Inhalt sind leer“14. Indem ein sichtbarer Gegenstand mich visuell affiziert, wird es möglich, dass ich einen Gedanken fassen kann, dessen Inhalt dieser Gegenstand ist. Etwa so: Ich sehe eine Sonne und also denke ich: da ist eine Sonne. Wenn ich nun mein Vermögen der Sinnlichkeit unterdrücke, dann unterdrücke ich meine Fähigkeit, durch die Dinge „außer uns“ in meinem Denken bestimmt zu werden, und das bedeutet nichts anderes als dass ich mir die Möglichkeit nehme, inhaltlich bestimmte Gedanken zu haben. Jemand, der sein Vermögen der Sinnlichkeit unterdrückt, glaubt, sein Denken und Handeln selbst bestimmen zu können. Wie wir aber gesehen haben, macht dies problematisch zu ver-

13 14

Ebd., 170 f. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt am Main 1968, B 75.

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stehen, wie so jemand überhaupt Gedanken haben kann. Denn er schließt damit aus, dass die Dinge genau dadurch zum Inhalt seiner Gedanken werden können, dass er von ihnen affiziert wird, etwa indem er sie hört, sieht oder riecht. Das ist die Gefahr, die droht, wenn jemand seine Sinnlichkeit unterdrückt: Seine Vernunft wird leer, weil sie gar nichts hat, das sie bestimmen könnte – die Vernunft beraubt sich ihrer eigenen Wirklichkeit. Wer seine Sinnlichkeit unterdrückt, unterdrückt also nicht nur diese, sondern er gräbt zugleich seiner Vernunft das Wasser ab. Ebenso ist es, wenn die Vernunft unterdrückt wird. Jemand, der seine Vernunft unterdrückt, ist rein passiv gegenüber der Wirklichkeit „außer uns“. Die Dinge, die ihn affizieren, werden nicht durch die Vernunft, d.h. durch ihn selbst bestimmt. Daraus aber folgt, dass die Dinge, die ihn affizieren, ihn in seinem Denken und Handeln gar nicht bestimmen können in dem Sinne, dass sie ihn nicht leiten können bei der Frage, was zu denken und zu tun richtig und gut ist. Denn leiten können einen nur Gründe, d.h. etwas, das durch Begriffe geformt und auf die Frage bezogen ist, was zu denken und zu tun richtig und gut ist. Gründe setzen folglich Bestimmung durch Vernunft voraus. Wenn es aber so ist, dass jemand, dessen Vernunft unterdrückt wird, keine Gründe haben kann, kraft derer er entscheiden kann, was zu denken und zu tun richtig und gut ist, dann folgt daraus, dass er sein Denken und Handeln nicht als eines begreifen kann, das sein eigenes ist. Das heißt, er kann sein Denken und Handeln nicht als eines begreifen, das er selbst vollzieht. Seine Vollzüge haben für ihn nicht die Einheit eines „Ichs“. Der Mensch wird also auch in diesem Fall, ganz wie in jenem Fall, in dem die Sinnlichkeit unterdrückt wird, nicht mehr als „Null sein“15. Der Mensch als ein sich selbstbestimmendes Wesen ruiniert sich, wenn er einer der beiden Gefahren, in denen er steht, nachgibt: wenn er also entweder seiner Sinnlichkeit oder der Vernunft die Oberhand gibt. Umgekehrt folgert Schiller daraus, dass nur, wenn beide Vermögen sich in der rechten Weise aufeinander beziehen und miteinander kooperieren, sich der Mensch als ein sich selbst bestimmendes Wesen verwirklichen kann.

15

Schiller, Über die ästhetische Erziehung (wie Anm. 4), 175.

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IV.

Die Einheit der beiden Vermögen, die das Wesen des Menschen ausmacht, so haben wir oben gesehen, ist dem Menschen nach Schiller nicht von Natur aus gegeben. Weshalb ist das eigentlich so? Dass diese Einheit nicht von Natur aus gegeben ist, sondern „die große Aufgabe seines Daseins“ darstellt, schließt Schiller daraus, dass die beiden Vermögen eine ihrem Sinn nach entgegengesetzte Ausrichtung, Struktur und Rolle haben. Während die Vernunft, wie wir oben ausgeführt haben, ein aktives Vermögen der Selbstbestimmung ist, das durch in sich selbst gründende „Grundsätze“ charakterisiert ist, ist die Sinnlichkeit ein passives Vermögen des Bestimmtwerdens, das von den Dingen außer uns und deren Veränderungen abhängig ist. Und während die Rolle der Vernunft es ist, alles, was jemand denkt und tut, zur Einheit eines „Ichs“ zu verbinden, mithin „sein Wirken zu dem seinigen“ zu machen, ist es die Rolle der Sinnlichkeit, diesen Akten der Verbindung einen „Inhalt“ und damit „Realität“ zu geben.16 Diese „ursprüngliche und radikale Entgegensetzung“ der beiden Vermögen begründet nach Schiller den Gedanken, dass die „Einheit der menschlichen Natur“ eine Errungenschaft des Menschen darstellt, „die große Aufgabe seines Daseins“.17 Ziel dieser Aufgabe ist es, Sinnlichkeit und Vernunft in ein solches Verhältnis zueinander zu bringen, dass kein Vermögen das jeweils andere zu einer Bestimmung zwingen muss, die es nicht von sich selbst her geben würde. Das heißt: in einem solchen Fall gibt die Sinnlichkeit der Vernunft solche Gegenstände, die diese in ihrem Denken als wahr und in ihrem Handeln als gut bejahen kann. Und die Vernunft kann genau diejenigen Gegenstände in ihrem Denken und Handeln als wahr und gut bejahen, die die Sinnlichkeit affizieren. Weder muss die Vernunft dann Gefahr laufen, durch die Sinnlichkeit überwältigt zu werden, noch muss die Sinnlichkeit Gefahr laufen, von der Vernunft unterdrückt zu werden. Denn beide kommen hier gleichermaßen zu ihrem Recht. Schillers These nun ist eine doppelte: Die erste These lautet, dass es nur einen Weg gibt, ein solches Verhältnis zwischen den 16 17

Ebd., 170. Ebd., 173.

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beiden Vermögen herzustellen: nämlich dadurch, dass die beiden Vermögen miteinander spielen. Schiller schreibt: „[U]nter allen Zuständen des Menschen [ist es] gerade das Spiel und nur das Spiel [...], was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet.“18 Die zweite These lautet, dass es nur einen Ort gibt, an dem die Vermögen dieses spielerische Verhältnis in der rechten Weise miteinander vollziehen können: in der Erfahrung von Kunst. Schiller schreibt: „[D]er Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen“19. In der Beschäftigung mit der schönen Kunst geraten die beiden Vermögen des Menschen in ein spielerisches Verhältnis zueinander. Und genau dann und nur dann, wenn dieses spielerische Verhältnis der beiden Vermögen realisiert wird, genau dann realisiert der Mensch in ausgezeichneter Weise die ihm zukommende Bestimmung eines sinnlichen und zugleich sich selbstbestimmenden Wesens. „Denn“, so zitieren wir nochmals Schiller, „um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“20 Die Anthropologie findet nach Schiller ihr Ziel in der Kunst. Damit will Schiller natürlich nicht sagen, dass der Mensch außerhalb der Kunst kein Mensch ist. Doch er will sagen, dass er ohne die Kunst nicht seine höchste Bestimmung als Mensch erreichen kann. Die Kunst ist ein für den Menschen wesentlicher Ort der Formierung seiner für sein Wesen konstitutiven Vermögen. Darum kann Schiller auch behaupten, Schönheit sei „eine notwendige Bedingung der Menschheit“21.

V.

Der Schlüsselbegriff, mit dem Schiller die Erfahrung von Kunst deutet, ist der Begriff eines Spiels. Wer sich mit Kunst beschäftigt, der spielt. Eine ästhetische Erfahrung zu machen, heißt, die Erfahrung eines Spiels zu machen: die Erfahrung eines Spiels

18 19 20 21

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

182. 182. 182 f. 167.

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der eigenen Vermögen. Zugleich, und darin besteht Schillers Pointe, verwendet Schiller die Idee eines Spiels aber auch, um genau diejenige Gestalt des Menschen zu charakterisieren, in welcher der Mensch seine ihm zukommende Bestimmung realisiert. D. h. das Spiel, das den Menschen in seiner höchsten Bestimmung charakterisiert, ist ein Spiel, welches zugleich die Kunst charakterisiert. Die Kunst ist der Ort eines Spiels des Menschen, und damit der Ort seiner höchsten Selbstentfaltung. Wir wollen uns zunächst klar machen, wie die Behauptung zu verstehen ist, die Kunst sei der Ort eines Spiels der Vermögen des Menschen. In welchem Sinn kann man sagen, dass die beiden grundlegenden Vermögen des Menschen – sein Vermögen der Sinnlichkeit und sein Vernunftvermögen – miteinander spielen, wenn sie sich mit Kunst respektive Schönheit beschäftigen? Ich schlage vor, diesen Gedanken Schillers u.a. als eine These dazu zu begreifen, was es heißt, ein Kunstwerk zu verstehen bzw. zu interpretieren. Das Spiel der Vermögen, so die Idee, charakterisiert den Verstehensprozess von Kunstwerken. Weshalb? Nun, Kunstwerke sind Gebilde deren Bedeutung nicht selbstverständlich oder offensichtlich ist. Kein Kunstwerk begegnet uns so, dass uns seine Bedeutung offen zutage liegt. Wir betrachten ein Bild, wir lesen einen Roman, wir hören eine Oper, und in keinem Fall ist es so, dass wir beim Betrachten, Lesen oder Hören schon unmittelbar verstehen, worin die Bedeutung des jeweiligen Kunstwerks liegt. Vielmehr ist es in der Regel so, dass wir das Kunstwerk erst einmal gar nicht verstehen, sondern ausdrücklich nach seiner Bedeutung fragen müssen. Adorno nennt dies bekanntlich den unhintergehbaren „Rätselcharakter“ der Kunst.22 Kunstwerke sprechen uns an, aber wir wissen nicht sofort und unmittelbar, was sie uns sagen wollen. Um ein Kunstwerk zu verstehen, müssen wir es daher ausdrücklich interpretieren, d. h. wir müssen uns ausdrücklich auf die Suche nach seiner Bedeutung machen. Wie kommen wir da voran? Wie gehen wir da vor? Was müssen und können wir tun, um seiner Bedeutung näher zu kommen, um gewissermaßen den Schleier, den die Bedeutung des Kunstwerks auf den ersten Blick umgibt, doch wenigstens ein wenig zu lüften? 22

Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, 185.

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Kunstwerke enthalten sinnliche Elemente: Sie haben eine Gestalt, einen Klang, bestehen aus Farben, Materialien, Linien, Rhythmen, etc.. Diese sinnlichen Elemente können wir die Träger seiner Bedeutung nennen, d. h. die Träger dessen, was wir als den begrifflichen Gehalt des Kunstwerks beschreiben. Dass wir die sinnlichen Elemente des Kunstwerks als die Träger seiner Bedeutung betrachten, heißt, dass wir sie stets so betrachten, dass wir sie auf eine mögliche Bedeutung beziehen. Darin liegt der Unterschied, ob wir etwa einen Stein auf dem Boden sehen, der nur einfach daliegt, ohne den Anspruch zu erheben, ein Kunstwerk zu sein. Einen bloß herumliegenden Stein beziehen wir nicht auf eine mögliche Bedeutung, sondern betrachten ihn als ein bedeutungsloses Stück Natur. Wenn wir dagegen eine aus Stein gehauene Skulptur betrachten, d.h. ein Stück Stein, das wir als ein Kunstwerk betrachten, dann impliziert dies, dass wir den Stein als Träger einer Bedeutung verstehen. Nun ist aber zugleich offensichtlich, dass nicht jedes sinnliche Element an einem Kunstwerk für dessen Bedeutung relevant ist: vielleicht hat es keine Bedeutung, dass das Gelb ein ockergelb ist oder ein zitronengelb oder vielleicht doch? Vielleicht hat es keine Bedeutung, dass die Holzskulptur aus Ahornholz oder Pinienholz gemacht ist, oder vielleicht doch? Wie auch immer es ist: Wir müssen dies entscheiden, d.h. wir müssen festlegen, welche sinnlichen Elemente für die Bedeutung des Kunstwerks relevant sind und welche nicht. Wie tun wir das? Nun, wir tun dies genau dadurch, dass wir die Bedeutung des Kunstwerks bestimmen, d. h. wir entscheiden, was das Kunstwerk im Ganzen bedeuten soll, so dass man sagen kann, mit Bezug auf diese Bedeutung ist dieses Element relevant oder nicht. Doch wie bestimmen wir diese? Nun, diese bestimmen wir wiederum genau dadurch, dass wir die relevanten sinnlichen Elemente des Kunstwerks bestimmen, d. h. wir entscheiden, welche sinnliche Elemente für die Bedeutung relevant sind und welche nicht. Die Suche nach der Bedeutung eines Kunstwerks, so zeigen diese skizzenhaften Überlegungen, hat den Charakter eines Prozesses der wechselseitigen Bestimmung: der wechselseitigen Bestimmung der sinnlichen Elemente einerseits und der Bestimmung ihrer Bedeutung andererseits. Wir legen auf der einen Seite fest, welche sinnlichen Elemente wir für signifikant

Der Mensch und die Kunst | Andrea Kern

für das Kunstwerk halten, und auf der anderen Seite legen wir fest, was diese Elemente bedeuten. Und beides tun wir genau dadurch und genau so, dass wir dies in einem Prozess der wechselseitigen Bestimmung tun.23 Wenn wir ein Kunstwerk interpretieren, dann lassen wir uns also weder von der Sinnlichkeit des Kunstwerks überwältigen, so dass wir nur mehr sprachlos vor ihm stehen, noch unterdrücken wir seine sinnlichen Elemente und bringen es bloß auf den Begriff. Vielmehr erfassen wir die Bedeutung eines Kunstwerks genau dadurch auf angemessene Weise, dass wir unsere beiden Vermögen der Sinnlichkeit und der Vernunft in einem Akt der Selbstbestimmung aufeinander beziehen. In diesem Sinn, so ließe sich mit Schiller sagen, hat unser Verstehen von Kunstwerken den Charakter eines Spiels: Sinnlichkeit und Vernunft spielen miteinander in dem Sinn, dass sie einander wechselseitig zur Geltung kommen lassen und dadurch bestimmen. Schillers Gedanke nun ist, dass der Vollzug eines ästhetischen Spiels im Sinne des Vollzugs einer ästhetischen Interpretation, d.h. der Interpretation eines Kunstwerks, ein konstitutiver Fall der Verwirklichung menschlicher Selbstbestimmung ist. Denn hier, so der Gedanke, arbeiten die beiden Vermögen dieser Selbstbestimmung in genau jener Weise paradigmatisch zusammen, durch die selbstbestimmte Vollzüge im Allgemeinen charakterisiert sind. Das ästhetische Spiel im Sinne des Vollzugs einer ästhetischen Interpretation ist nach Schiller also genau deswegen konstitutiv für die menschliche Selbstbestimmung, weil wir hier genau jenes Verhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit einüben, das Selbstbestimmung überhaupt ausmacht. Die „Einseitigkeit in Übung der Kräfte“, die die Entwicklung der Vermögen des Menschen nach Schiller zunächst einmal charakterisiert, wird durch die Übung der Kräfte im Spiel korrigiert. Denn was auch immer, wie Schiller zugesteht, „durch diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag“, der Mensch kann sich nur verwirklichen, wenn er es schafft, seine Vermögen so zu formen, dass sie in einem spielerischen Verhältnis zueinander stehen, welches die Be23

Vgl. dazu ausführlicher meine Darstellung des ästhetischen Verstehens in A. Kern, Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt am Main 2000, 280–296.

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schäftigung mit Kunst auszeichnet: Die Einheit der beiden Vermögen, die das Wesen des Menschen ausmacht, müssen wir daher „durch eine höhere Kunst wiederher[ ]stellen.“24 Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in außerästhetischen Kontexten beruht demnach auf ästhetischer Erfahrung, weil nur in der ästhetischen Erfahrung genau jene beiden Vermögen in der Weise formiert werden können, kraft derer Selbstbestimmung möglich ist. Man kann der Kunst keine größere Bedeutung für das menschliche Leben zuschreiben als Schiller dies in seiner Anthropologie getan hat. Ohne ästhetische Bildung verfehlt sich der Mensch – er kann sich nicht als ein selbstbestimmtes Wesen verwirklichen.

VI.

Aus Kantischer Perspektive muss man sagen, dass Schillers Deutung der konstitutiven Rolle der Kunst für das menschliche Leben auf einem Missverständnis der beiden Vermögen beruht, die die menschliche Subjektivität ausmachen: Schiller muss die beiden Vermögen Sinnlichkeit und Vernunft so verstehen, dass sie ihrem Begriff nach unabhängig voneinander sind. D. h. Schiller muss die Sinnlichkeit des Menschen als ein Vermögen verstehen, dessen Struktur und Rolle man unabhängig davon begreifen kann, dass der Mensch auch ein vernünftiges Wesen ist. Und ebenso versteht er die Vernunft als ein Vermögen des Menschen, dessen Struktur und Rolle man unabhängig davon begreifen kann, dass der Mensch auch ein sinnliches Wesen ist. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann man eine bestimmte Phase der Entwicklung der beiden Vermögen, sowohl auf der Gattungsebene als auch auf der Ebene der Individuen, dadurch charakterisieren, dass man sagt, es sei hier zu einer „getrennte[n] Ausbildung der menschlichen Kräfte“ gekommen, die korrekturbedürftig sei. Und nur unter dieser Voraussetzung kann man entsprechend sagen, dass die Herstellung einer Einheit zwischen den beiden Vermögen „die große Aufgabe“ des Menschen darstellt, die er meistern oder an der er auch scheitern kann.

24

Schiller, Über die ästhetische Erziehung (wie Anm. 4), 156.

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Nach Kant sind solche Charakterisierungen widersinnig. Nach Kant ist die Einheit der beiden Vermögen keine Aufgabe für den Menschen, die der Mensch allererst noch zu vollbringen hat. Nun wäre es allerdings in einem bestimmten Sinne falsch zu meinen, dies läge daran, dass nach Kant die Einheit von Sinnlichkeit und Vernunft eine Sache ist, die dem Menschen von Natur aus gegeben ist. Nach Kant ist es vielmehr so, dass schon allein die Frage, ob die Einheit seiner beiden Vermögen dem Menschen von Natur aus gegeben ist oder vom Menschen selbst hergestellt werden muss, keinen Sinn macht. Denn die Frage nach der Art der Einheit – ob natürlich oder vom Menschen gemacht – setzt voraus, dass man beide Vermögen unabhängig voneinander verstehen kann, so dass sich die Frage aufwerfen lässt, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Genau das aber charakterisiert die Position Schillers. Nach dem Schillerschen Bild ist es so, dass der Mensch durch seine Sinnlichkeit bedroht wird, wenn er sie nicht durch das ästhetische Spiel in ein harmonisches Verhältnis zu seiner Vernunft bringt. D.h. seine Sinnlichkeit erscheint dem Menschen zunächst einmal als ungeformt, ungebildet, unvernünftig, sie ist ein Teil seiner „Rohigkeit“, wie Schiller es ausdrückt, die ihn gleichsam mit den Tieren verbindet.25 Damit sie zu einer menschlichen Sinnlichkeit wird und damit zum Teil seiner menschlichen, also nicht tierischen Natur, muss der Mensch seine Sinnlichkeit aktiv auf die Vernunft beziehen: im gelingenden Fall so, dass die Sinnlichkeit durch das ästhetische Spiel die rechte Ausrichtung auf die Vernunft erhält. Nach Kant hingegen lässt sich das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft nicht so verstehen: Die Sinnlichkeit des Menschen ist nach Kant kein Vermögen, das der Mensch in einem ersten Schritt zunächst einmal in demselben Sinn besitzt wie die Tiere, d. h. ein Vermögen, welches erst in einem zweiten Schritt – durch Übung, Bildung und Spiel – auf die Vernunft des Menschen bezogen wird. Die Sinnlichkeit des Menschen, so die These Kants gegen Schiller, hat vielmehr von Anfang an eine Ausrichtung auf Vernunft. Wie ist das zu verstehen?

25

Ebd., 164.

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Nicht gemeint sein kann damit offenkundig, dass die Sinnlichkeit des Menschen einfach ein Produkt seiner Vernunft ist, denn dann wäre sie gar kein von seiner Vernunft verschiedenes Vermögen, welches eine Rolle übernimmt, die die Vernunft nicht übernehmen kann: nämlich die, der Vernunft ihren Gegenstand zu geben und damit dafür zu sorgen, dass die Bestimmungen der Vernunft einen „Inhalt“, „Realität“ haben. Kants Grundgedanke sowohl im Bereich der praktischen wie auch der theoretischen Vernunft ist vielmehr, dass die menschliche Sinnlichkeit wie auch die menschliche Vernunft zwar verschiedene Vermögen sind, deren Struktur und Rolle sich jedoch nicht unabhängig voneinander verstehen lässt. Im Bereich des Theoretischen ist die Sinnlichkeit als ein Vermögen von Anschauungen zu verstehen, kraft dessen der Mensch Gegenstände erkennen kann. Die Anschauungen, die dieses Vermögen liefert, sind dadurch charakterisiert, dass sie dem Subjekt genau dadurch einen Gegenstand geben, dass sie zugleich sein Vermögen der Begriffe aktualisieren, durch die die Anschauungen jene Einheit haben, die konstitutiv ist für das Gegebensein eines Gegenstands. Das Vermögen zu sinnlichen Anschauungen ist nach Kant daher kein vom Vermögen der Begriffe unabhängiges Vermögen, sondern ein Aspekt seines Erkenntnisvermögens, das Anschauungen und Begriffe gleichermaßen umfasst. Die Idee, man könnte sein Vermögen der Sinnlichkeit getrennt von seinem Vermögen der Begriffe entfalten, macht hier keinen Sinn, weil das Vermögen der Sinnlichkeit von Anfang an als Erkenntnisvermögen bestimmt ist und damit notwendigerweise auf Begriffe bezogen ist.26 Ebenso ist es im Bereich des Praktischen, d. h. im Bereich des Handelns. Auch hier ist es so, dass die Sinnlichkeit, die im Bereich des Praktischen als das Vermögen zu verstehen ist, Dinge zu begehren, kraft dessen der Mensch einen Willen ausbilden und damit sein Handeln bestimmen kann, den Menschen nicht einfach als tierischer Trieb überkommt, den er dann mit Vernunft zu zähmen hat. Das Begehrungsvermögen des Menschen liefert diesem die Grundlage für seinen Willen genau dadurch, dass es zugleich das Vermögen praktischen Überlegens 26

Vgl. dazu ausführlicher meine Darstellung in A. Kern, Spontaneity and Receptivity in Kant’s Theorie of Knowledge, in: Philosophical Topics: Analytical Kantianism, vol. 34, nr. 1&2 (2006).

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aktualisiert, innerhalb dessen das Begehren des Menschen von Anfang an unter der Frage erscheint, ob es richtig ist, diesem Begehren nachzugehen oder nicht. Das Begehren des Menschen ist folglich an keiner Stelle ein Vermögen der Unfreiheit des Menschen, wie dies bei Schiller in einem ersten Schritt der Fall ist, sondern von Anfang an ein Aspekt der praktischen Autonomie des Menschen.

VII.

Die Diskussion zwischen Kant und Schiller mit Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Anthropologie und Ästhetik ist nun deswegen so spannend, weil auch für Kant, obgleich er das Problem nicht hat, zu dessen Lösung Schiller glaubt, die Idee eines Spiels einführen zu müssen, die Idee eines Spiels der Vermögen im Zentrum seiner Ästhetik steht. Kant führt im § 9 der Kritik der Urteilskraft die Idee eines Spiels der Vermögen ein, um damit jene Erfahrung zu bezeichnen, mit der die Idee des Schönen und damit der Kunst steht und fällt. Wenn wir eine Erfahrung des Schönen machen, dann ist dies nach Kant als eine Erfahrung zu verstehen, bei der unsere „Erkenntniskräfte [...] hiebei in einem freien Spiele [sind], weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt“. Es ist nach Kant dieser „Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen“, der die ästhetische Erfahrung ausmacht.27 Wie ist dieser Zustand nach Kant genau zu verstehen? Kant erläutert ihn so: Wenn unsere Erkenntniskräfte im freien Spiel miteinander sind, dann bedeutet dies, so Kant, dass wir die Anschauung eines Gegenstands haben, die wir dabei nicht, wie im gewöhnlichen Erkennen, „auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis“ beziehen, sondern „lediglich auf das Subjekt“.28 Wenn unsere Erkenntnisvermögen im freien Spiel miteinander sind, dann heißt dies also, dass wir hier keine Gegenstandserkenntnis vollziehen, die stets voraussetzt, dass wir eine gegebene Anschauung unter einen bestimmten Begriff bringen. Vielmehr bezieht das Subjekt seine Anschauung, statt vermittels eines

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I. Kant, Kritik der Urteilskraft, B 29. Ebd., B XLIV.

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Begriffs auf einen Gegenstand, ganz ohne Begriff auf sich selbst, und zwar auf sein Vermögen der Begriffe „überhaupt“.29 Daraus folgt nach Kant, dass das Spiel der Erkenntnisvermögen, das angesichts eines schönen Gegenstands entsteht, „nichts anders als die Angemessenheit (der Anschauung) zu den Erkenntnisvermögen“ ausdrücken kann.30 Und genau diese Erfahrung einer „Angemessenheit“ des sinnlich gegebenen Gegenstands zu unseren Erkenntnisvermögen ist es, die unser „Wohlgefallen“ am Schönen begründet, „welches wir, ohne Begriff, als allgemein mitteilbar beurteilen“.31 Schöne Gegenstände sind nach Kant daher wesentlich mit einem Gefühl der Lust verknüpft, weil sich im Vollzug eines Spiels unserer Vermögen, das sich angesichts schöner Gegenstände einstellt, zeigt, dass die Gegenstände, die uns sinnlich gegeben sind und unser Vermögen, diese durch Begriffe zu bestimmen, wie geschaffen füreinander sind. Wir erfahren, so Kant, dass sie „zweckmäßig“ füreinander sind.32 Und genau darin gründet und besteht unsere Lust am Schönen: „Das Bewußtsein“ der „Zweckmäßigkeit im Spiele der Erkenntniskräfte des Subjekts, bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, ist die Lust selbst“.33 Schöne Gegenstände bringen nach Kant in ihren Betrachtern ein Gefühl der Lust hervor, weil sie der Grund der Erfahrung einer Zweckmäßigkeit sind: einer Zweckmäßigkeit unserer Vermögen, die sinnlich gegebene Welt unter Begriffe zu bringen und dadurch Gründe zu erhalten, durch die wir unser Denken und Handeln selbst bestimmen können. Halten wir zunächst die beiden zentralen Unterschiede zu Schiller fest: Erstens: Das Verhältnis, in dem das Vermögen der Begriffe und das Vermögen der Sinnlichkeit nach Kant im gewöhnlichen Erkennen und Handeln zueinander stehen, ist das einer wechselseitigen Bestimmung. Dieses Verhältnis einer wechselseitigen Bestimmung der beiden Vermögen hat bei Kant – im Unterschied zu Schiller – nichts mit einem ästhetischen Spiel

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Ebd., B 37. Ebd., B XLIV. Vgl. dazu auch meine Ausführungen in Kern, Schöne Lust (wie Anm. 23), 45–69, in der ich diese Formulierung Kants ins Zentrum meiner Kant-Auslegung gestellt habe. Ebd., B 35. Vgl. u.a. ebd., B 37. Ebd., B 37.

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dieser Vermögen zu tun. Das ästhetische Spiel ist bei Kant vielmehr dadurch charakterisiert, dass es hier gar nicht zu einer Bestimmung der Sinnlichkeit kommt. Im ästhetischen Spiel, so Kants Idee, beziehen sich unsere beiden Vermögen in einer Weise aufeinander, die keine begriffliche Bestimmung durch die Vernunft zu ihrem Resultat hat. Denn das, was hierbei in ein harmonisches Verhältnis zu einander gebracht wird, sind nicht ein einzelner Begriff und eine einzelne Anschauung, die der Begriff bestimmt, sondern allein die beiden Vermögen, die für eine solche Bestimmung notwendig sind. Kant schreibt: „[über das Schöne, A.K.] hier kein Begriff vom Objekte zum Grunde liegt, so kann es nur in der Subsumtion der Einbildungskraft selbst (bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird) unter die Bedingungen, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt, bestehen.“34

Das heißt, „der Geschmack, als subjektive Urteilskraft, enthält ein Prinzip der Subsumtion, aber nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d.i. den Verstand) [...].“35

Die Idee eines Spiels der Vermögen beschreibt demnach in der Kantischen Betrachtung – im Unterschied zu Schiller – nicht einen bestimmten Modus der wechselseitigen Bestimmung der beiden Vermögen, nämlich ihr zwangloser, harmonischer Vollzug, sondern vielmehr die Abwesenheit jeder Bestimmung. Zweitens: Daraus folgt, dass das ästhetische Spiel der Vermögen bei Kant nicht die Aufgabe haben kann, dasjenige Verhältnis zwischen den beiden Vermögen zu bezeichnen, in dem der Mensch sein Wesen als selbstbestimmtes Subjekt verwirklicht, und zwar deswegen nicht, weil schon allein die gewöhnliche

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Ebd., B 145 f. Ebd., B 146.

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Ausübung seiner Vermögen genau diese Verwirklichung leistet. Wenn wir ästhetisch spielen, geht es uns nach Kant folglich nicht darum, uns hierbei als selbstbestimmte Subjekte zu verwirklichen. Das ästhetische Spiel ist vielmehr das Resultat einer selbstreflexiven Haltung des Menschen, in der er auf seine Vermögen reflektiert und erfährt, dass er im Besitz von Vermögen ist, kraft derer er das, was er tut und denkt, selbst bestimmen kann. Das Spiel der Erkenntnisvermögen kann, ich zitiere nochmals, „nichts anders als die Angemessenheit (der Anschauung) zu den Erkenntnisvermögen“ ausdrücken. Wenn wir ästhetisch spielen, dann machen wir folglich eine ganz außerordentliche Erfahrung: Wir machen die Erfahrung, dass wir Subjekte mit Vermögen sind, die so auf die Welt ausgerichtet sind, dass wir uns in dieser in selbstbestimmten Akten des Denkens und Handelns bewegen können. Die Welt, in der wir leben, so erfahren wir im ästhetischen Spiel, steht uns nicht fremd und widerständig gegenüber, sondern ist für uns ein Ort der Selbstbestimmung. Im ästhetischen Spiel erfahren wir, dass die sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten, die wir haben, so verfasst sind, dass wir die Welt in selbstbestimmten Akten erkennen und uns handelnd in ihr bewegen können. Im ästhetischen Spiel zeigt sich uns, dass die uns sinnlich gegebene Welt auf der einen Seite und unser Vermögen der Begriffe auf der anderen Seite wie gemacht füreinander sind. Im ästhetischen Spiel zeigt sich, so drückt Kant es in einer bekannten Nachlassreflexion aus, dass „der Mensch in die Welt passe“36. Darin liegt der zentrale Unterschied zu Schiller: Während unsere beiden Vermögen bei Schiller im ästhetischen Spiel paradigmatische Akte der Selbstbestimmung vollziehen, macht die Idee, dass im ästhetischen Spiel unsere menschliche Subjektivität ihre höchste Gestalt erreicht, innerhalb des Kantischen Bildes keinen Sinn. Das ästhetische Spiel ist nach Kant nicht als der paradigmatische Fall von Selbstbestimmung zu verstehen, weil das ästhetische Spiel hier eine wesentlich selbstreflexive Erfahrung darstellt: Sie ist eine Erfahrung des Dass und Wie unserer Subjektivität, doch nicht selbst ein Akt unserer Subjektivität. Im

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I. Kant, Reflexionen zur Logik, Nr. 1820a, in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. XVI.

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ästhetischen Spiel geht es nicht darum, einen Akt der Selbstbestimmung zu vollziehen, sondern es geht darum, unsere eigenen Vermögen zu reflektieren und dabei zu erfahren, dass diese Vermögen und die Welt, in denen wir sie ausüben, wie geschaffen füreinander sind. Im ästhetischen Spiel machen wir nach Kant folglich keine Erfahrung der Selbstbestimmung, wie bei Schiller, sondern, so möchte ich es ausdrücken, eine Erfahrung der Selbstvergewisserung: Wir vergewissern uns unserer selbst als selbstbestimmtes, erkenntnisfähiges Subjekt.37 Dies erklärt nach Kant, weshalb die ästhetische Erfahrung mit dem Bewusstsein eines notwendigen, und doch eigentümlichen Wohlgefallens verknüpft ist: eines Wohlgefallens, das sich hier nicht, wie gewöhnlicherweise, daran entzündet, dass es uns gelingt, einen bestimmten Zweck zu verwirklichen, sondern daran, dass wir erfahren, dass wir Wesen sind, die überhaupt in der Lage sind, sich in selbstbestimmter Weise Zwecke zu setzen und zu verwirklichen.

VIII.

Schiller, so hatten wir oben gesehen, schreibt der ästhetischen Erfahrung eine konstitutive Rolle für das menschliche Leben zu: Sie ist konstitutiv, weil wir in der ästhetischen Erfahrung genau jene beiden Vermögen ins rechte Verhältnis zueinander bringen und dieses Verhältnis einüben, das für die Idee der Selbstbestimmung, die den Menschen definiert, grundlegend ist. Der Mensch braucht ästhetische Erfahrung – im Sinne eines Spiels der Vermögen, wie Schiller es versteht –, um sich als Mensch – im Sinne eines selbstbestimmten Wesens – verwirklichen zu können. Gelingt es dem Menschen, sich in diesem grundlegenden Sinn zu verwirklichen, dann erreicht er die ihm höchste Form der Glückseligkeit. „Der Spieltrieb also“ so schließt Schiller, „wird zugleich unsere formale und unsre materiale Beschaffenheit, zugleich unsere Vollkommenheit und unsre Glückseligkeit ausmachen“.38 Der Vollzug eines ästhetischen Spiels

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Vgl. dazu ausführlicher Kern, Schöne Lust (wie Anm. 23), 92–96 sowie A. Kern, Ästhetischer und philosophischer Gemeinsinn, in: Kern/Sonderegger (Hg.), Falsche Gegensätze (wie Anm. 1), 102–111. Schiller, Über die ästhetische Erziehung (wie Anm. 4), 179.

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ist nach Schiller unzertrennlich mit der Erfahrung einer Glückseligkeit verknüpft, weil wir im ästhetischen Spiel das Wesen, das unsere menschliche Existenz ausmacht, in vollkommener Weise verwirklichen. Kunst macht uns glückselig, weil sie dazu dient, eben jene Vermögen in der Weise auszubilden, vermittels derer wir uns als Menschen verwirklichen. Kant scheint nun auf ersten Blick zu bestreiten, dass das ästhetische Spiel eine konstitutive Bedeutung für das menschliche Leben hat: Wir müssen nicht ästhetisch spielen, um zu einem selbstbestimmten Subjekt zu werden. Denn das ästhetische Spiel ist ja nach Kant, wie wir oben gesehen haben, rein reflexiv verfasst: Im ästhetischen Spiel reflektieren wir unsere Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Unsere Fähigkeit zur Selbstbestimmung, so scheint es, muss folglich schon unabhängig vom ästhetischen Spiel vorliegen, damit sie im ästhetischen Spiel reflektiert werden kann. Es kann, so möchte man meinen, nicht so sein, dass sie wie bei Schiller im ästhetischen Spiel allererst ausgebildet wird. Daraus könnte man nun folgern, dass die ästhetische Erfahrung aus Kantischer Perspektive nur eine marginale Rolle im menschlichen Leben spielt. Die meisten Interpreten Kants verstehen Kant auch so und sehen darin seinen entscheidenden Einspruch gegen die Schillersche Deutung des ästhetischen Spiels. Doch dieser Schluss beruht meines Erachtens auf einem Missverständnis. Betrachten wir die Sache genauer. Wie wir oben gesehen haben, ist es ein wesentlicher Aspekt der Kantischen Deutung des ästhetischen Spiels, dass dieses mit einer Erfahrung der Selbstvergewisserung verknüpft ist: einer Vergewisserung unserer selbst als ein sich selbstbestimmendes Subjekt. In der ästhetischen Erfahrung vergewissern wir uns darin, dass wir die Fähigkeit der Selbstbestimmung haben. Welchen Status aber hat diese Vergewisserung? Handelt es sich hier um eine Vergewisserung, deren Erfahrung nur in kontingenter Weise mit der fraglichen Fähigkeit, um deren Vergewisserung es geht, verknüpft ist? Wenn das so wäre, dann wäre die ästhetische Erfahrung in der Tat nur in kontingenter Weise mit dem menschlichen Leben verknüpft, sie wäre kein wesentlicher Bestandteil desselben. Doch nun fragen wir uns einmal genauer, was es heißt, die Fähigkeit der Selbstbestim-

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mung zu haben. Die Fähigkeit der Selbstbestimmung zu haben heißt, so haben wir gesagt, auf der Basis von Gründen handeln zu können, die einem sagen, was zu tun richtig ist. Auf der Basis von Gründen entscheide ich, dass es richtig ist, dieses oder jenes zu tun. Stellen wir uns hierfür einmal eine selbstbestimmte Fähigkeit wie etwa das Walzertanzen vor. Dass Walzertanzen eine selbstbestimmte Fähigkeit ist, heißt demnach, dass jemand, der Walzer tanzt, dies so tut, dass er sich auf der Grundlage eines Grundes, der ihm sagt, welche Schritte er in welcher Reihenfolge gemäß der Fähigkeit setzen soll, entscheidet, diesen oder jenen Schritt zu tun. Was aber ist die Voraussetzung einer solchen an der Fähigkeit orientierten, begründeten Entscheidung? Nun, die Voraussetzung einer solchen Entscheidung ist, dass ich weiß, dass ich im Besitz der Fähigkeit des Walzertanzens bin, worin enthalten ist, dass ich weiß, worin die Fähigkeit des Walzertanzens besteht. Denn nur, wenn ich weiß, dass ich Walzertanzen kann, kann ich mich auf die Fähigkeit des Walzertanzens als den Maßstab meines Handeln beziehen, der mir einen Grund liefert, auf dessen Basis ich mich entscheiden kann, das zu tun, was mir dieser Grund sagt. Wenn Walzertanzen eine selbstbestimmte Fähigkeit ist, dann bedeutet dies, dass jemand nur dann Walzer tanzen kann, wenn er auch weiß, dass er das, was die Fähigkeit von ihm verlangt, doch wenigstens annäherungsweise tun kann. Nur wenn man weiß, dass man im Besitz einer bestimmten selbstbestimmten Fähigkeit ist, kann man sich an dieser Fähigkeit als Maßstab orientieren und dadurch Gründe haben, die einem sagen, was man tun soll. Das Wissen darum, dass man im Besitz einer bestimmten selbstbestimmten Fähigkeit ist, gehört also wesentlich zum Besitz solcher Fähigkeiten. Selbstbestimmte Fähigkeiten kann man nur so besitzen und ausüben, dass man weiß, dass man sie besitzt. Nun ist klar, wie man das Wissen darum, dass man im Besitz der Fähigkeit ist, Walzer zu tanzen, erwirbt: Man erwirbt es dadurch, dass man Walzertanzen lernt. Jemand zeigt mir, was es heißt, Walzer zu tanzen, indem er es mir vormacht. Ich mache es nach und lerne auf diese Weise, nicht nur, wie man Walzer tanzt, sondern auch, was es heißt, Walzer zu tanzen und damit auch, dass Walzertanzen genau das ist, was ich lerne. Das-

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selbe gilt für alle anderen selbstbestimmten Fähigkeiten, wie Rechnen, Schreiben, Lesen, Skifahren, Flötespielen, Kochen, etc. Wie nun aber verhält es sich mit der Fähigkeit der Selbstbestimmung selbst, die in allen selbstbestimmten Fähigkeiten vorausgesetzt und enthalten ist? Wenn ich Walzertanzen lerne, dann erklärt die Art dieses Lernens, so haben wir gesagt, wie es dazu kommt, dass ich dann, wenn ich Walzer tanzen kann, zugleich weiß, dass ich Walzer tanzen kann. Doch die Art dieses Lernens – Vormachen durch Beispiele, Nachmachen und Üben – erklärt nicht, dass ich dann, wenn ich Walzer tanzen kann, zugleich weiß, dass ich die Fähigkeit der Selbstbestimmung habe, sondern dieses Wissen wird in der Ausübung meiner Fähigkeit, Walzer zu tanzen, immer schon vorausgesetzt. Darin, dass Walzertanzen eine selbstbestimmte Fähigkeit ist, ist enthalten, dass jemand, der Walzertanzen kann, weiß, dass er die Fähigkeit der Selbstbestimmung hat. Doch dieses Wissen darum, dass er die Fähigkeit der Selbstbestimmung hat, bekommt er nicht dadurch, dass er die Fähigkeit des Walzertanzens erwirbt. Wenn wir Walzertanzen lernen, lernen wir Schritte, Bewegungen, ihre Reihenfolge etc., d. h. wir lernen, was es heißt, Walzer zu tanzen. Doch wir lernen nicht, dass wir die Fähigkeit der Selbstbestimmung haben. Das Wissen darum, dass wir die Fähigkeit der Selbstbestimmung haben, ist nichts, was wir durch den Erwerb irgendeiner bestimmten Fähigkeit der Selbstbestimmung wie Walzertanzen oder Rechnen oder Schreiben erwerben, sondern im Besitz und Selbstverständnis einer jeden solchen Fähigkeit immer schon vorausgesetzt. Wenn aber das so ist, d. h. wenn man nur dann selbstbestimmte Fähigkeiten haben kann, wenn man allgemein weiß, dass man die Fähigkeit der Selbstbestimmung hat und dieses Wissen darum, dass man die Fähigkeit zur Selbstbestimmung hat, nicht dadurch gewonnen werden kann, dass man irgendeine bestimmte Fähigkeit der Selbstbestimmung erwirbt, sondern darin schon vorausgesetzt ist, dann folgt daraus, dass die ästhetische Erfahrung eine wichtige Rolle spielt für die Verwirklichung jener Fähigkeiten, die nach Kant den Menschen ausmachen. Denn mit Kant können wir nun sagen, dass die Frage, woher man wissen kann, dass man die Fähigkeit der Selbstbestimmung hat, (unter anderem) durch Verweis auf die ästhetische Erfah-

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rung beantwortet werden kann. Denn jemand, der ästhetische Erfahrungen macht, so haben wir gesehen, hat genau dadurch, dass er solche Erfahrungen macht, dieses Wissen. Er hat das allgemeine Wissen darum, dass er die Fähigkeit der Selbstbestimmung hat. In der Vermittlung dieses allgemeinen Wissens liegt nach Kant die zentrale Pointe der ästhetischen Erfahrung. Damit soll nicht gesagt werden, dass die ästhetische Erfahrung der einzige Ort ist, an dem dieses Wissen erworben werden kann. Wir können die Frage, ob man das Wissen, dass man die Fähigkeit der Selbstbestimmung besitzt, auch außerästhetisch erwerben kann, für unsere Zwecke offen lassen. Wichtig für uns allein ist, dass die ästhetische Erfahrung ein zentraler Ort ist, an dem wir dieses Wissen gewinnen können. Denn damit zeigt sich, dass auch für Kant die ästhetische Erfahrung – entgegen der üblichen Auslegung – eine konstitutive Rolle spielt für die Ausbildung und Verwirklichung der genuin menschlichen Fähigkeiten, auch wenn diese konstitutive Rolle vielleicht nicht unersetzlich ist. Und daraus folgt zweitens, dass auch für Kant das Spiel, das die ästhetische Erfahrung ausmacht, ein Beitrag zu unserer Glückseligkeit ist, weil es uns ermöglicht, Subjekte in einem anspruchsvollen Sinne zu sein: Subjekte, die das, was sie denken und tun, selbst bestimmen können.

IX.

Oben sah es so aus, als bestünde der Unterschied zwischen Kant und Schiller darin, dass Kant der ästhetischen Erfahrung bloß eine vergewissernde Funktion für das menschliche Leben zuschreibt, Schiller dagegen eine konstitutive Funktion. Nun aber hat sich gezeigt, dass Kant beides miteinander verknüpft: Die Kunst vergewissert den Menschen darin, dass er ein selbstbestimmtes Wesen ist. Doch diese Funktion der Vergewisserung kann sie nur dadurch und genau dadurch erfüllen, dass sie dieses Wesen, das sich seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung durch die Kunst vergewissert, zugleich hervorbringt. Denn ein wesentliches Element dieser Fähigkeit, so haben wir oben argumentiert, besteht darin, dass wir allgemein wissen, dass wir im Besitz dieser Fähigkeit sind. Die Fähigkeit der Selbstbestimmung, so haben wir das ausgedrückt, ist eine Fähigkeit, die

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man nur so haben kann, dass man weiß, dass man sie hat. Es ist folglich eine Fähigkeit, die gar nicht unabhängig davon existiert, dass man von ihr weiß. Das Wissen von der Fähigkeit ist der Fähigkeit der Selbstbestimmung nicht nachträglich, sondern ein wesentliches Element derselben. Wenn aber das so ist, und wenn es richtig ist, dass die Kunst ein zentraler Ort ist, an dem wir dieses Wissen erwerben, dann bedeutet dies, dass die Kunst ein zentraler Ort ist, an dem die Fähigkeit der Selbstbestimmung in einem bestimmten Sinn hervorgebracht wird: nämlich in dem Sinn, dass wir durch die Kunst einen Begriff von uns selbst als selbstbestimmten Wesen bekommen, der notwendig dafür ist, dass wir solche Wesen sein können. Auch Kant weist dem ästhetischen Spiel damit eine Rolle zu, derzufolge dieses für die Glückseligkeit des Menschen unverzichtbar ist, weil von seinem faktischen Vollzug das Selbstverständnis des Menschen als einem zur Selbstbestimmung fähigen Wesen abhängig ist. Auch bei Kant sind Anthropologie und Ästhetik folglich auf konstitutive Weise miteinander verknüpft: Ohne den Umgang mit und die Erfahrung von Kunst kann der Mensch nicht diejenige Fähigkeit besitzen, die ihn als Menschen charakterisiert: die Fähigkeit der Selbstbestimmung. Wir hatten oben deutlich gemacht, dass Kant die ästhetische Erfahrung wesentlich mit einem Gefühl der Lust verknüpft, weil sie in der Erfahrung einer besondern Art der Zweckmäßigkeit besteht: der Zweckmäßigkeit der Vermögen dafür, selbstbestimmte Akte zu vollziehen. Wir können diesen Gedanken nun präzisieren. Denn die Lust, die wir nach Kant an der ästhetische Erfahrung empfinden, ist nicht einfach eine Lust an der Erfahrung, dass wir selbstbestimmte Subjekte sind, sondern eine Lust daran, dass wir durch diese Erfahrung, die wir hier machen, zu genau dem werden, was wir sind: Subjekte, die sich selbst bestimmen.

Anhang

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Gunnar Hindrichs ist Privatdozent am Institut für Philosophie/Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, derzeit Gastprofessor an der University of Pennsylvania/Philadelphia (USA). Jüngste Monografien: – Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt am Main 2008 – Negatives Selbstbewußtsein. Überlegungen zu einer Theorie der Subjektivität in Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom transzendentalen Ich (Schriften zur Wissenschaftsgeschichte 21), Hürtgenwald 2002

Thomas Sören Hoffmann ist Professor für Philosophie/Schwerpunkt praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Fernuniversität in Hagen. Jüngste Monografien: – Wirtschaftsphilosophie. Ansätze und Perspektiven von der Antike bis heute, Wiesbaden 2009 – Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Portraits, Wiesbaden 2007

Christian F. R. Illies ist Professor für Praktische Philosophie an der Otto-Friedrich Universität/Bamberg. Jüngste Monografien: – Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter. Zur Konvergenz von Moral und Natur, Frankfurt am Main 2006 – The Grounds of Ethical Judgement. New Transcendental Arguments in Moral Philosophy, Oxford University Press 2003

Andrea Kern ist Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Leipzig. Jüngste Monografien: – Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frankfurt am Main 2006 – Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant, Frankfurt am Main 2000

Günther Pöltner ist emeritierter Professor am Institut für Philosophie/Universität Wien. Jüngste Monografien: – Philosophische Ästhetik (Grundkurs Philosophie Bd. 16), Stuttgart 2008 – Grundkurs Medizin-Ethik, Wien 22006

Birgit Recki ist Professorin für Praktische Philosophie am Departement für Philosophie an der Universität Hamburg und Leiterin der Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle. Jüngste Monografien: – Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt: Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn 2006 – Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004

Abbildungsnachweis

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Inv. Ulmer Museum Prä Slg. Wetzel Ho-St. 39/88.1; Foto: Thomas Stephan, © Ulmer Museum

Der Herausgeber Michael Hofer ist Professor für Philosophie am Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie (IKP) der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz.

Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie Michael Hofer, Monika Leisch-Kiesl (Hg.) Evidenz und Täuschung Stellenwert, Wirkung und Kritik von Bildern 2008, 172 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1003-1

Guy van Kerckhoven Epiphanie Reine Erscheinung und Ethos ohne Kategorie 2009, 56 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-1209-7

Monika Leisch-Kiesl, Johanna Schwanberg (Hg.) Was spricht das Bild? Gegenwartskunst und Wissenschaft im Dialog Oktober 2010, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1496-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de