Die Debatte über »Human Enhancement«: Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen [1. Aufl.] 9783839412909

»Human Enhancement«, die technologische und pharmakologische Steigerung menschlicher Fähigkeiten, ist aktuell Gegenstand

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German Pages 334 Year 2015

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INHALT
Einleitung der Herausgeber
Einführung
Human Enhancement und seine Bewertung – Eine kleine Skizze
»GRÜNDERFIGUREN« UND »GRÜNDUNGSDISKURSE«
Human Enhancement – Eine Motivsuche bei J. D. Bernal, J. B. S. Haldane und J. S. Huxley
Zum mythischen Kontext der Debatte über Human Enhancement
Die Planbarkeit des Glücks – Dostojewskis Kritik des rationalistischen Menschenbildes der Utopie
HISTORISCHE ZUSAMMENHÄNGE UND HINTERGRÜNDE
Psychotechnik und Intelligenzforschung 1903-1933: Protoformen von Human Enhancement?
Regulation, Homöostase und Human Enhancement – Eine kleine kybernetikaffine Geschichte
Naturwissenschaftliche Weltanschauung und technologische. Weltgestaltung im Blick auf die Konstitution der Biotechnologie – Exemplarische Analysen und Folgerungen für die Gegenwart
LITERARISCHE KONTEXTE
Im Feuer schierer Sinnlichkeit oder: Lady Chatterleys Gegenargument
Narrative Elemente der Science-Fiction in gegenwärtigen Visionen von der Verbesserung des Menschen im Kontext konvergierender Technologien
Die Romane von Michel Houellebecq als literarischer Hintergrund für die Bewertung von technologischen Perfektionierungsidealen
KRITISCHE PERSPEKTIVEN UND AKTUELLE BEZÜGE
»Better Living Through Chemistry« – Entstehung, Scheitern und Renaissance einer psychedelischen Alternative zur kosmetischen Psychopharmakologie
Die Verbesserung der Natur in der Vision konvergierender Technologien
Eine Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus aus jüdischer Perspektive
Autorinnen und Autoren
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Die Debatte über »Human Enhancement«: Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen [1. Aufl.]
 9783839412909

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Christopher Coenen, Stefan Gammel, Reinhard Heil, Andreas Woyke (Hg.) Die Debatte über »Human Enhancement«

Christopher Coenen, Stefan Gammel, Reinhard Heil, Andreas Woyke (Hg.)

Die Debatte über »Human Enhancement« Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Lektorat: Andreas Woyke, Christopher Coenen, Reinhard Heil Satz: Stefan Gammel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1290-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I N H AL T

Einleitung der Herausgeber

9

Einführung Human Enhancement und seine Bewertung – Eine kleine Skizze ANDREAS WOYKE

21

»GRÜNDERFIGUREN« UND »GRÜNDUNGSDISKURSE« Human Enhancement – Eine Motivsuche bei J. D. Bernal, J. B. S. Haldane und J. S. Huxley REINHARD HEIL

41

Zum mythischen Kontext der Debatte über Human Enhancement CHRISTOPHER COENEN

63

Die Planbarkeit des Glücks – Dostojewskis Kritik des rationalistischen Menschenbildes der Utopie THOMAS MÖBIUS

91

HISTORISCHE ZUSAMMENHÄNGE UND HINTERGRÜNDE Psychotechnik und Intelligenzforschung 1903-1933: Protoformen von Human Enhancement? ANDREAS KAMINSKI

117

Regulation, Homöostase und Human Enhancement – Eine kleine kybernetikaffine Geschichte RAINER BECKER Naturwissenschaftliche Weltanschauung und technologische Weltgestaltung im Blick auf die Konstitution der Biotechnologie – Exemplarische Analysen und Folgerungen für die Gegenwart ANDREAS WOYKE

143

171

LITERARISCHE KONTEXTE Im Feuer schierer Sinnlichkeit oder: Lady Chatterleys Gegenargument ALFRED NORDMANN Narrative Elemente der Science-Fiction in gegenwärtigen Visionen von der Verbesserung des Menschen im Kontext konvergierender Technologien STEFAN GAMMEL Die Romane von Michel Houellebecq als literarischer Hintergrund für die Bewertung von technologischen Perfektionierungsidealen ANDREAS WOYKE

199

209

235

KRITISCHE PERSPEKTIVEN UND AKTUELLE BEZÜGE »Better Living Through Chemistry« – Entstehung, Scheitern und Renaissance einer psychedelischen Alternative zur kosmetischen Psychopharmakologie NICOLAS LANGLITZ

263

Die Verbesserung der Natur in der Vision konvergierender Technologien ARIANNA FERRARI

287

Eine Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus aus jüdischer Perspektive HAVA TIROSH-SAMUELSON

307

Autorinnen und Autoren

329

Einleitung der Herausgeber CHRISTOPHER COENEN, STEFAN GAMMEL, REINHARD HEIL UND ANDREAS WOYKE In den letzten Jahren werden zunehmend Möglichkeiten und Visionen einer »Verbesserung« des Menschen mit wissenschaftlich-technischen Mitteln diskutiert, das so genannte Human Enhancement.1 Dies betrifft nicht nur den akademischen Diskurs im engeren Sinne, sondern auch die Forschungs- und Technologiepolitik einschließlich der wissenschaftlichen Politikberatung zu naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen und deren ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Aspekten. In diesem Zusammenhang sind verschiedene neuere Tendenzen festzustellen, von denen drei im Folgenden für eine Verortung des vorliegenden Sammelbandes kurz skizziert werden sollen.2 Zunächst fällt auf, dass sich die Debatte über den engeren bio- und medizinethischen Kontext hinaus ausgeweitet hat, innerhalb dessen sie bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts weitgehend geführt wurde. Dazu beigetragen haben – neben dem weiteren Bedeutungszuwachs der Diskussionen über pharmakologische Möglichkeiten zur Leistungssteigerung und über Doping im Leistungssport – vor allem neue Entwicklungen in der Hirnforschung, die massive Förderung der Nanotechnologie als neue »Schlüsseltechnologie« und insbesondere die mit der Nanotechnologie verbundene Diskussion über die Konvergenz zentraler Technologiefelder (Converging Technologies).

1

2

Vgl. hierzu z. B. Armin Grunwald: »Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus: Das Beispiel der ›technischen Verbesserung‹ des Menschen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/6 (2007), S. 949-965. Vgl. zum Folgenden zum Beispiel Christopher Coenen u. a.: Human Enhancement, Brüssel: Europäisches Parlament 2009. 9

CHRISTOPHER COENEN, STEFAN GAMMEL, REINHARD HEIL, ANDREAS W OYKE

Eine zweite Tendenz, die sich zum Teil auf die erste zurückführen lässt, besteht darin, dass radikale Visionen einer »Verbesserung« des Menschen in einem zunehmenden Maße viele der diesbezüglichen Diskussionen prägen. Zwar hatten in bestimmten kulturellen Zusammenhängen und akademischen Nischen derartige Vorstellungen mindestens seit den 1990er Jahren einige Beachtung gefunden, z. B. die einer Verschmelzung des Menschen mit informationstechnologischen Artefakten, einer »Cyborgisierung«, einer »Heilung« des biologischen Alterns und einer Überwindung oder Überlistung des Todes. Insbesondere in der Ideologie des »Transhumanismus« wurden diese Visionen auch bereits zusammengeführt und auf das übergreifende Ziel einer radikalen Transformation und letztlich Überwindung des Menschen bezogen. Mit wenigen Ausnahmen schlägt sich diese »Konvergenz der Visionen« aber erst ab dem Jahr 2000 im mainstream gesellschaftlicher Debatten sowie in Politik und Politikberatung nieder.3 Im Zuge dessen ist eine dritte Tendenz zu konstatieren, nämlich die einer gleichzeitigen »Ethisierung« und Enthistorisierung der Diskussionen und Forschungsansätze zu Human Enhancement. Zwar erscheinen immer mehr Beiträge zu einer grundsätzlichen ethisch-philosophischen Einordnung der Thematik und auch zu politischen und rechtlichen Fragen, oft werden aber relevante historische und kulturelle Aspekte ausgeblendet oder nur sehr oberflächlich behandelt. Tatsächlich berühren die wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen und Erwartungen, die den Diskurs über Human Enhancement prägen, die Grundlagen unserer Gesellschaft und die für sie konstitutiven Menschenbilder. Zwar werden weiterhin bemerkenswerte Arbeiten zu den in den Debatten vernachlässigten Aspekten veröffentlicht.4 Diese knüpfen jedoch oft allein an die biologie- und medizingeschichtlichen Erkenntnisse an, die über mehrere Jahrzehnte hinweg im Diskurs über die Bio- und Gentechnologie erarbeitet wurden. Sie stehen zudem kaum im Zusammenhang mit der lebhaften neuen Debatte über Human Enhancement, die an den Schnittstellen von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vor allem hinsichtlich neurowissenschaftlicher und nanotechnologischer Potentiale geführt wird. In dieser ideologisch stark aufgeladen erscheinenden Debatte selbst sind zwar historische Referenzen nicht selten, sie beschränken 3

4

10

Vgl. dazu TAB (Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag): Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politischen Aktivitäten zu »Converging Technologies«, Berlin: TAB 2008. Vgl. z. B. Harold Baillie/Timothy Casey (Hg.): Is Human Nature Obsolete? Genetics, Bioengineering, and the Future of the Human Condition, Cambridge, MA: MIT Press 2005.

EINLEITUNG

sich aber oft darauf, Bilder der Vergangenheit, die zu vagen Vorstellungen herabgesunken sind, in fragwürdiger Weise zu instrumentalisieren. Die zahllosen Bezüge auf Aldous Huxleys Schöne Neue Welt sind dafür ein hervorstechendes Beispiel. Getrieben durch einen politischen und medialen Diskurs, der vor allem auf die allerneuesten naturwissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen abstellt, wird Human Enhancement zunehmend reifiziert, indem sehr unterschiedliche Forschungsbereiche und gesellschaftliche Tendenzen unter diesem Begriff zusammengefasst und dann als ein Phänomen abstrakt diskutiert werden. Ähnliche übergreifende Konzepte, wie der utopische »Neue Mensch«, finden dabei kaum Beachtung. Allzu oft werden so historische Linien ausgeblendet, die von wesentlicher Bedeutung für die aktuellen Auseinandersetzungen sind. Differenzen innerhalb der Vielfalt so genannter Human-Enhancement-Technologien werden eingeebnet, ihre diversen sozialen Einbettungen schlecht verallgemeinernd (und dabei letztlich unpolitisch) abgehandelt sowie Ethik und Technikfolgenabschätzung auf gesellschaftliche Akzeptanzforschung reduziert. Alle drei skizzierten Tendenzen haben zu thematischen Verengungen in der Debatte über Human Enhancement geführt und ihr eine bedenklich ideologische Schlagseite gegeben. Vor diesem Hintergrund teilen hingegen die Beiträge in diesem Sammelband die Absicht, in der Debatte ausgetretene Pfade zu verlassen, Aspekte einzubeziehen, die gewöhnlich keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle spielen,5 literarischen und traditionellen Kontexten zu ihrem Recht zu verhelfen und insbesondere der erwähnten Tendenz zur Enthistorisierung der Thematik entgegenzuwirken. Der aus unterschiedlichen Motiven von vielen Debattenteilnehmern erhobene Anspruch, völlig neue Fragestellungen aufzuwerfen und gänzlich neuartige Entwicklungen zu behandeln, erscheint ja allein schon beim Blick auf die Geschichte des reifizierten Konzepts Human Enhancement fragwürdig. Bereits in den 1990er Jahren wird Enhancement in der Bioethik und der Technikfolgenabschätzung im gegenwärtigen Sinn häufiger gebraucht und die Thematik auch bereits ähnlich wie heute diskutiert, zum Teil schon unter Einbeziehung nichtgenetischer Technologien bzw. Technikvisionen. Und die Pioniere des organisierten Transhumanismus haben – was immer man von deren Ideologie halten mag und wie sehr sie auch, wie in dem vorliegenden Sammelband verschiedentlich gezeigt wird, intellektuell und imaginativ von älteren Entwürfen abhängig sind – in den 1970er und 1980er Jahren unzweifelhaft 5

Vgl. für eine Charakterisierung und Analyse von Hauptströmungen in der aktuellen Debatte die thematische Einführung von Andreas Woyke in diesem Band. 11

CHRISTOPHER COENEN, STEFAN GAMMEL, REINHARD HEIL, ANDREAS W OYKE

bereits einen Großteil der Fragen aufgeworfen und diskutiert, die heute noch die Diskussion über reale und vermeintliche Potenziale für ein umfassendes Human Enhancement bestimmen. Bezeichnend für die Geschichtsvergessenheit vieler Beiträge zur aktuellen Debatte – und womöglich Ausdruck ihrer ideologischen Schlagseite – ist auch der Umstand, dass in ihnen die Themen Eugenik und Utopie, die in den einschlägigen älteren Diskussionen und Forschungen durchaus von größerer Bedeutung waren, keine oder nur eine randständige Rolle spielen. Dabei werden die utopische und eugenische »Vorgeschichte« der aktuellen Debatte über Human Enhancement zwar vereinzelt ernsthaft thematisiert,6 deren breitere historische, gesellschaftliche und kulturelle Einbettungen bleiben aber zumeist völlig unberücksichtigt. Vor diesem Hintergrund soll der vorliegende Sammelband dazu dienen, weitere historische Bezüge herzustellen und die Vielfalt der Perspektiven zu vergrößern. Davon ausgehend, dass die Verengungen in den Diskussionen der letzten Jahre der Thematik nicht gerecht werden, geht es ihm um eine weitere Öffnung der Debatte, um differenziertere Sichtweisen und um eine genauere historisch-kulturelle Situierung von Human Enhancement. Jenseits der immergleichen Nützlichkeits- und Risikoerwägungen sollen ethische, umfassendere philosophische, geschichtliche und literarische Kontexte in den Vordergrund gerückt werden.

E n ts t e h u n g s h i n t e r g r u n d u n d Au f b a u des Sammelbandes Die Publikation dieses Sammelbandes geht auf einen Workshop zurück, der von den Herausgebern im März 2009 an der Technischen Universität Darmstadt durchgeführt wurde. Dort standen etwa im Zeitraum 18801950 entstandene Visionen und Vorstellungen im Zentrum, die als Vorboten der heutigen Debatte über Human Enhancement gelten können. Einer der Schwerpunkte lag dabei auf visionären Essays von John Desmond Bernal (1901-1971), John Burdon Sanderson Haldane (18921964) und Julian Sorell Huxley (1887-1975), die in Großbritannien seit den 1920er Jahren eine technologische Verbesserung physischer und psychischer Fähigkeiten des Menschen propagiert haben und auf die in den aktuellen Debatten relativ häufig Bezug genommen wird. Diese historischen Aspekte der Thematik nehmen auch in dem vorliegenden Band breiten Raum ein. 6

12

Vgl. zur Eugenik bspw. H. Baillie/T. Casey: Is Human Nature Obsolete?, zur Utopie die Beiträge in Teil III von Rolf Steltemeier et al. (Hg.): Neue Utopien. Zum Wandel eines Genres, Heidelberg: Manutius Verlag 2009.

EINLEITUNG

Im Anschluss an den Workshop wurde eine Reihe weiterer Autoren und Autorinnen eingeladen, Beiträge zu dem geplanten Sammelband beizusteuern. Dabei konnte das thematische Spektrum noch einmal verbreitert werden: Zum einen ließ sich die den genannten Zeitraum betreffende Auseinandersetzung mit Konzepten, Entwicklungen und Visionen einer technologischen Verbesserung menschlicher Fähigkeiten insofern ausweiten als weitere Länder und disziplinäre Perspektiven einbezogen werden konnten. Zum anderen kamen weitere Arbeiten hinzu, die unseres Erachtens dazu beitragen können, die Debatte über Human Enhancement zu befruchten, da sie bisher vernachlässigte kulturelle und philosophische Aspekte der Thematik behandeln. Zum Aufbau des Bandes: Nach einer Einführung in die aktuelle Debatte, in der deren Hauptlinien skizziert und diskutiert werden, kommen mit Blick vor allem auf Großbritannien und Russland frühe Diskurse über Human Enhancement zur Sprache, die deutliche Parallelen zu den heutigen Diskussionen aufweisen. Danach werden im zweiten Teil des Bandes umfassendere historische Zusammenhänge beleuchtet, wobei zugleich auch der internationale Vergleich ausgeweitet wird. Ebenfalls ein eigener Teil ist literarischen Kontexten gewidmet, die uns in diesem Zusammenhang als besonders interessant erscheinen. Der Band wird abgeschlossen durch Aufsätze, in denen die aktuellen Entwicklungen im Bereich von Human Enhancement aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch beleuchtet werden. Im Einzelnen geht es in dem Sammelband also um »Gründungsdiskurse« und »Gründungsfiguren«, um breitere historische Einbettungen, um literarische Kontexte und um kritische Perspektiven mit vor allem aktuellem Bezug. In seiner Einführung in die Thematik und die gegenwärtige Debatte stellt Andreas Woyke vier idealtypische Positionen zur technologischen Verbesserung des Menschen vor. Er analysiert, wie diese sich aktuell und potenziell aufeinander beziehen, und skizziert, unter welchen Voraussetzungen eine wirklich offene und weniger ideologisch-technikdeterministische Debatte über Human Enhancement entstehen könnte. Als unerlässlich erscheint ihm dabei, sich auf substantielle Menschen-, Welt- und Gesellschaftsbilder in einer breiten historisch-kulturellen Kontextualisierung zu beziehen. Reinhard Heil zeigt dann in seinem Beitrag detailliert, in welch hohem Maße in der heutigen Debatte über Human Enhancement bloß reproduziert wird, was im Großbritannien der Zwischenkriegsjahre entworfen und ausgearbeitet wurde. Dabei fokussiert er die wissenschaftsund technikvisionären Ideen der drei bereits genannten renommierten Naturwissenschaftler J.D. Bernal, J.B.S. Haldane und J. Huxley. Deren Zukunftserwartungen wie die ihrer heutigen Nachfolger charakterisiert 13

CHRISTOPHER COENEN, STEFAN GAMMEL, REINHARD HEIL, ANDREAS W OYKE

Heil als baconianisch, verändert hätten sich im Wesentlichen nur das gesellschaftliche Umfeld und die Technologien, die zur Verwirklichung der alten Träume zur Verfügung stehen. Diese Ausarbeitung zu den Visionen der Zwischenkriegszeit informiert auch den Aufsatz von Christopher Coenen. Ihm geht es aber vor allem um die unmittelbare Vorgeschichte der Ideen der bei Heil im Mittelpunkt stehenden Autoren. Deren Essays in den 1920er Jahren begreift Coenen als frühe Beispiele für die volle Entfaltung der transhumanistischen Zukunftsvision. Auch unter Berücksichtigung zeitgenössischer Gegenentwürfe zu dieser Vision werden so mythopoetische Beiträge zum Kontext der Debatte über Human Enhancement diskutiert. Die Aufarbeitung und Deutung der verblüffenden Parallelen zwischen dem britischen Diskurs der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der aktuellen Debatte über Human Enhancement können aber nicht mehr als ein erster Schritt auf dem Weg hin zu einem umfassenden, historisch fundierten Verständnis der Thematik sein. Dies zeigt auch Thomas Möbius in seinem Beitrag zum spätzaristischen und frühsowjetischen Diskurs über die Planbarkeit des Glücks und den utopischen »Neuen Menschen«. In seiner Auseinandersetzung mit der Kritik Fjodor Dostojewskis an Nikolai Tschernyschewski (18281889) und mit deren Aktualisierung durch Jewgeni Samjatin (18841937) analysiert Möbius die zugrundeliegenden Menschenbilder und Gesellschaftsverständnisse und deren Bezüge zu Visionen von Human Enhancement. Dabei arbeitet er heraus, wie die noch in der heutigen Debatte relevante Annahme, man könne das Glück des Einzelnen wissenschaftlich optimieren, in dieser von unserer heutigen Zeit so unterschiedlichen historischen Phase diskutiert wurde. Andreas Kaminski bringt mit seinem Aufsatz zur so genannten »Psychotechnik« und zur Intelligenzforschung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts weitere historische Aspekte ein, wobei der Schwerpunkt auf Deutschland liegt. Die Psychotechnik begriff sich als Ingenieurwissenschaft des Seelischen, die ähnlich wie die im gleichen Zeitraum entstehende moderne Intelligenzforschung eine starke Anwendungsorientierung aufwies, vor allem im Bezug auf Wirtschaft und Werbung. Kaminski stellt die Gemeinsamkeiten dieser Entwicklungen mit Human Enhancement dar, die sich vor allem hinsichtlich des Ideals einer Verbesserung individueller Leistungsfähigkeit ergeben. Er arbeitet aber auch die Unterschiede heraus, vor deren Hintergrund wiederum die aktuelle Thematik schärfer gefasst werden kann. Der Beitrag von Rainer Becker beginnt am Ende des in diesem Sammelband im Mittelpunkt stehenden Zeitraums, also in den 1940er Jahren, und dort mit der frühen Kybernetik, deren Bedeutung für den 14

EINLEITUNG

gegenwärtigen Diskurs über Human Enhancement kaum überschätzt werden kann. Sein zentrales Thema ist die Genealogie der Begriffe »Regulation« und »Homöostase«, wobei sich Becker zeitlich in mehreren Schritten bis ins 19. Jahrhundert und noch weiter zurück bewegt. Anhand der beiden Begriffe weist er auf, welche Voraussetzungen historisch – in den einschlägigen wissenschaftlichen Diskursen – geschaffen wurden, die es heute nun erlauben von »Verbesserung«, »Erweiterung« oder gar »Perfektionierung« bestimmter menschlicher Fähigkeiten reden zu können. In seinem Aufsatz zur Verkopplung zwischen naturwissenschaftlicher Weltdeutung und technologischer Weltgestaltung diskutiert Andreas Woyke Divergenzen im Verständnis von »Natur« und »Technik«, wie sie etwa im Zeitraum von 1880 bis 1940 im Bezug auf die Konstitution der Biotechnologie deutlich werden. Nach einem kurzen historischen Abriss zur Frühgeschichte der Biotechnologie zeigt Woyke – mit Blick vor allem auf Frankreich, Deutschland und Großbritannien –, dass sich aus einem universellen Naturalismus durchaus unterschiedliche Auffassungen zu einer fortschreitenden Technisierung des Lebendigen ableiten lassen. Dabei geht er auch auf Haldane und andere Vorläufer der heutigen Visionäre von Human Enhancement ein und diskutiert deren Ideen vor einem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Problematik von Human Enhancement, insbesondere die Rolle, die hier natürlich Gegebenem und kulturell Gewachsenem zukommen sollte, in einem anderen Licht. Der Teil des vorliegenden Sammelbandes, der eigens literarischen Kontexten der Debatte gewidmet ist, beginnt mit einem Beitrag von Alfred Nordmann, in dem Lady Chatterley’s Lover von David Herbert Lawrence im Mittelpunkt steht. Nordmann legt zunächst kurz dar, warum auch aus seiner Sicht in der Debatte über Human Enhancement der Blick auf die Geschichte technovisionären Denkens ausgeweitet werden sollte. Eine umfassende Philosophiegeschichte dieses Denkens über einen »Neuen Menschen« müsse zugleich immer eine Geschichte der vielstimmigen Gegenpositionen sein. Den Roman von Lawrence liest Nordmann entsprechend: Auch hinsichtlich der Abwendung der Protagonistin von den britischen transhumanistischen Ideen der Zwischenkriegszeit werde deutlich, dass es im Bezug auf Human Enhancement vor allem darauf ankommt, die diskursiven Räume zu öffnen, anstatt vorschnell ethische Dilemmata zu konstruieren. Überdies erinnere Lawrence eindringlich daran, dass sich schamlose Begehrlichkeiten ohnehin nie durch bloß technische Gestaltungsfantasien bezwingen lassen. Stefan Gammel widmet sich einer literaturwissenschaftlich orientierten Analyse des besonderen Charakters nichtfiktionaler visionärer Texte 15

CHRISTOPHER COENEN, STEFAN GAMMEL, REINHARD HEIL, ANDREAS W OYKE

im Umfeld der Debatten über Human Enhancement und konvergierende Technologien. Er macht klar, dass eine Charakterisierung dieser Texte als »visionär«, »utopisch« oder »Science-Fiction« nicht nur mit weitgehend ungeklärten Bedeutungen operiert, sondern auch ganz unterschiedlichen Zielsetzungen folgt. Gammel weist auf die großen Unterschiede zwischen klassischen Utopien und modernen Technikvisionen hin, und er arbeitet an einer Reihe neuerer technikvisionärer Texte in instruktiver Weise heraus, was sie mit Science-Fiction gemein haben und wo sie sich von ihr unterscheiden. Gammel verdeutlicht auch, dass es sich bei diesen Texten, insbesondere mit Blick auf die jeweiligen Zukunftskonzepte, nicht um Science-Fiction handelt. In einem weiteren Beitrag diskutiert Andreas Woyke verschiedene neuere Romane des sehr erfolgreichen und vieldiskutierten französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Er zeigt, wie dieser – auch im expliziten Rückgriff auf Aldous Huxley – zentrale Fragen von Human Enhancement in einer philosophisch inspirierenden und ethisch relevanten Weise literarisch darstellt und gestaltet. Als ein Charakteristikum moderner Lebensentwürfe begreift Woyke das widersprüchliche Verhältnis zwischen Tendenzen einer romantizistischen Weltflucht und der Dominanz sozio-technologischer Machbarkeitsphantasien. In den von Sarkasmus und Melancholie geprägten Romanen Houellebecqs werde zum einen die große Verführungskraft der Visionen von Human Enhancement deutlich; zum anderen stellten sie aber eindringlich auch mögliche katastrophale Folgen dar. Der Aufsatz von Nicolas Langlitz im Schlussteil des Bands erinnert zunächst daran, dass Aldous Huxleys Werk nicht auf seine Dystopie Schöne Neue Welt reduziert werden darf. Ausgehend von utopischen Spätschriften und dessen Experimenten mit LSD und anderen Substanzen diskutiert Langlitz Aspekte der Wissenschafts- und Kulturgeschichte psychedelischer Drogen, einschließlich neuester, auch ethnographisch untersuchter Tendenzen. Mit der aktuell festzustellenden Renaissance der Halluzinogenforschung tue sich erneut eine psychedelische Alternative zu den Drogen auf, die vor allem im Kontext der Debatte über Human Enhancement Beachtung finden. Allerdings könnten die psychedelischen Drogen szientistische Machbarkeitsphantasien unterlaufen und in den heutigen Leistungsgesellschaften an die belebende, »verbessernde« Kraft spiritueller und ästhetischer Erfahrungen erinnern. In den letzten beiden Beiträgen zu dem vorliegenden Sammelband wird der Blick wieder auf die umfassenden Herausforderungen gerichtet, die durch die Debatte über Human Enhancement aus philosophischer Sicht aufgeworfen werden. Arianna Ferrari diskutiert anhand der Diskurse zur Nanotechnologie und den Converging Technologies das der 16

EINLEITUNG

Idee einer technologischen Verbesserung des Menschen zugrundeliegende Naturverständnis. In diesem erscheint Natur zum einen als eine Summe von technologisch verbesserbaren Fähigkeiten und funktionalen Eigenschaften und zum anderen als etwas, das nicht nur vom Menschen kontrolliert und umgestaltet werden kann, sondern selbst auch als eine autonome Maschine funktioniert, als etwas, das sich selbst herstellt. In der Auseinandersetzung mit diesem Naturverständnis zeigt Ferrari, dass der in diesem Zusammenhang zu konstatierende Bedeutungsverlust des natürlich und kulturell Gegebenen neue Herangehensweisen in der technikethischen und forschungspolitischen Arena notwendig macht. Abgerundet wird der Band durch einen Essay, in dem Hava TiroshSamuelson aus einer jüdischen Perspektive die radikalen Visionen von Human Enhancement im Transhumanismus darstellt und kritisiert. Anhand von zwei zentralen Elementen des Designprojekts transhumanistischer Menschheitsingenieure – radikale Lebensverlängerung und kybernetische Unsterblichkeit – diskutiert sie die Herausforderungen, die sich für unsere Körperlichkeit, Menschenbilder und Gesellschaftsverständnisse durch Human-Enhancement-Technologien und transhumanistische Visionen ergeben. Dabei schöpft sie aus der jüdischen Ideentradition, sowohl hinsichtlich einer Bewertung der Folgen der Biotechnologien und anderer neuer Technologien als auch bei ihrer utopiekritischen Analyse des Transhumanismus. Die Auseinandersetzung mit den neuen Bedingungen menschlicher Leiblichkeit dürfe nicht allein den Ingenieuren und Wissenschaftlern überlassen werden, sondern müsse eine Vielzahl von Aspekten einschließen, die über moderne Wissenschaft und Technologie hinausgehen. In der Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus und seinen Visionen eines radikalen Human Enhancement ließen sich neue Einsichten gewinnen, was Menschsein im 21. Jahrhundert bedeuten kann und bedeuten sollte.

Danksagungen Die Herausgeber danken herzlich den Kolleginnen und Kollegen, die mit ihnen auf dem Workshop in Darmstadt die Thematik aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und diskutiert haben. Im Einzelnen waren dies Katarzyna Adamiak (Darmstadt), Helmut Dubiel (Gießen), Arianna Ferrari, Dirk Hommrich (Darmstadt), Andreas Kaminski, Thomas Möbius, Alfred Nordmann, Richard Saage (Berlin), Astrid Schwarz (Darmstadt) und Peter Wehling (Augsburg). Der Workshop hätte in dieser Form nicht ohne die finanzielle Förderung seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft stattfinden können, die im Rahmen des Forschungsprojekts 17

CHRISTOPHER COENEN, STEFAN GAMMEL, REINHARD HEIL, ANDREAS W OYKE

»Philosophische Implikationen von ›Nanoforschung‹ und ›Nanotechnologie‹. Historische, wissenschafts-, technik- und naturphilosophische Dimensionen eines heterogenen Forschungsfeldes« von Andreas Woyke erfolgte. Die Veranstaltung in Darmstadt und der Sammelband hätten sich zudem nicht ohne die Unterstützung und das Entgegenkommen seitens der Technischen Universität Darmstadt und des Karlsruher Instituts für Technologie realisieren lassen, also der Einrichtungen, an denen die Herausgeber beruflich beheimatet sind.

Literatur Baillie, Harold/Casey, Timothy (Hg.): Is Human Nature Obsolete? Genetics, Bioengineering, and the Future of the Human Condition, Cambridge, MA: MIT Press 2005. Coenen, Christopher/Schuijff, Mirjam/Smits, Martijntje/Klaasen, Pim/Hennen, Leonhard/Rader, Michael/Wolbring, Gregor: Human Enhancement (IPOL/ A/STOA/2007-13; PE 417.483), Brüssel: Europäisches Parlament 2009. Grunwald, Armin: »Orientierungsbedarf, Zukunftswissen und Naturalismus: Das Beispiel der ›technischen Verbesserung‹ des Menschen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/6 (2007), S. 949-965. Steltemeier, Rolf/Dickel, Sascha/Gaycken, Sandro/Knobloch, Tobias (Hg.): Neue Utopien. Zum Wandel eines Genres, Heidelberg: Manutius Verlag 2009. TAB (Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag): Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politischen Aktivitäten zu »Converging Technologies« (TAB-Hintergrundpapier Nr. 16; Autor: C. Coenen), Berlin: TAB 2008; unter: http:// tinyurl.com/hintergrund-tab08

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E INFÜHRUNG

Huma n Enha nce me nt und seine Bew ertung – eine kleine Skizze 1 ANDREAS WOYKE Aktuelle Debatten über neue Technologiefelder wie die Nanotechnologie und die so genannten Converging Technologies sind im starken Maße durch visionäre Szenarien einer grundlegenden Transformation von Natur, Mensch und Gesellschaft bestimmt. Insbesondere durch den USamerikanischen Workshop-Bericht Converging Technologies for Improving Human Performance aus dem Jahre 20022 wurde auch in Europa eine vielschichtige Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen, den Realisierbar- und Wünschbarkeiten solcher Visionen angestoßen. Besonders kontroverse Diskussionen gibt es dabei zu neuen Formen einer technologischen Perfektionierung des Menschen im Sinne des englischen Terminus Human Enhancement. Das Festhalten an diesem Anglizismus ist dabei sachlich begründet, weil es eben nicht um schlichte »Verbesserung« oder »Steigerung« bestimmter Fähigkeiten durch Erziehung, Training oder verschiedene Lernprozesse geht,3 sondern um gezielte und basale technische Eingriffe zu einer grundlegenden Optimierung der menschlichen Konstitution über etablierte Maßstäbe 1 2

3

Für Anregungen und kritische Diskussionen danke ich Christopher Coenen, Reinhard Heil und Stefan Gammel. Vgl. Mihail C. Roco/William S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Technology, NSF/DOC-sponsored Report, Arlington 2002. »These so-called ›natural‹ human enhancements are morally uninteresting because they appear to be unproblematic to the extent that it is difficult to see why we should not be permitted to improve ourselves through diet, education, physical training, and so on;« (Fritz Allhoff u. a.: Ethics of Human Enhancement. 25 Questions & Answers, NSF-Report, 2009, S. 8). 21

ANDREAS W OYKE

und Grenzen hinaus. Gerade weil über die nähere Bestimmung und Bewertung von Human Enhancement kein Konsens besteht, ist es entscheidend, die Besonderheit der mit diesem Begriff verbundenen Techniken und Zielsetzungen zu betonen:4 Es geht weder um eine Therapie bestehender Krankheiten noch um eine Kompensation mehr oder weniger stark ausgeprägter körperlicher oder psychischer Defizite, sondern um eine technologische Veränderung im Sinne einer Verbesserung oder Erweiterung der physischen und psychischen Leistungen eines gesunden Menschen: »[…] ›human enhancement‹ is about boosting our capabilities beyond the species-typical level or statistically-normal range of functioning for an individual […].«5

Hinsichtlich eines »ganzheitlichen« Verständnisses des Menschseins reicht es zu einer angemessenen Beschreibung und Bewertung solcher Techniken nicht aus, sich allein auf den Körper oder die Biologie des Menschen zu beziehen, weil man damit von vornherein die Reduktion der Problematik auf einen naturalistischen Zusammenhang nahe legt. In diesem Sinne erscheint es besser, allgemein von einem technologischen Eingriff in die Palette menschlicher Fähigkeiten zu sprechen, wobei körperliche Fähigkeiten im engeren Sinne wie etwa die Verlängerung der Lebenszeit durch eine beständige technologische Reparatur altersbedingter Krankheiten oder eine Erweiterung des Spektrums unserer sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten ebenso gemeint sind wie eine Steigerung psychischer, geistiger und sozialer Fähigkeiten wie Intelligenz, Kreativität, Gemeinsinn u. ä.6 Die Eröffnung konkreter Formen von Human Enhancement durch Entwicklungen in den Feldern der Bio-, Informati4

5 6

22

Transhumanisten bemühen sich darum, diese Besonderheiten zu verschleiern, indem sie Enhancement ganz allgemein als Verbesserung der Subsysteme eines Organismus bestimmen (vgl. Nick Bostrom: Dignity and Enhancement, 2007, S. 7) und die zweifellos schwierige, aber wesentliche Grenzziehung zwischen Enhancement und Therapie in ihrer Geltung nivellieren (vgl. Nick Bostrom/Rebecca Roache: Ethical Issues in Human Enhancement, 2007, S. 1ff.; Robert Ranisch/Julian Savulescu: »Ethik und Enhancement«, in: Nikolaus Knoepffler/Julian Savulescu (Hg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2009, S. 21-53). F. Allhoff u. a.: Ethics of Human Enhancement, S. 8; Hervorh. i. Orig. Bostrom und Roache unterscheiden die folgenden Bereiche: Verlängerung der Lebenszeit, Steigerung physischer Fähigkeiten, Aufhellung der Stimmung und Verbesserung von Persönlichkeitsmerkmalen, Steigerung von kognitiven Fähigkeiten und Selektion der genetisch besten Nachkommen (N. Bostrom/R. Roache: Ethical Issues, S. 3ff.).

HUMAN ENHANCEMENT UND SEINE BEWERTUNG

ons- und Nanotechnologien hängt eng mit der wesentlich erweiterten »Zugriffstiefe« auf basale Ebenen zusammen: Es geht nicht mehr primär um eher äußerliche Formen der »Zähmung« oder auch der allgemeinen Perfektionierung, sondern um Formen einer innerlich ansetzenden »Züchtung« auf der Ebene der Erbanlagen, der Konstitution neurophysiologischer Prozesse oder einem allgemeinen technologischen Eingriff in das physiologische und biochemische Geschehen im Körper. Verschiedene Befürworter von Human Enhancement setzen zwar darauf, die aufgewiesenen Besonderheiten zu bestreiten und ein Kontinuum unterschiedlicher Techniken zur Selbstverbesserung in Abhängigkeit vom wissenschaftlich-technologischen Fortschritt anzunehmen,7 doch es erscheint evident, dass solche Argumente nur zur Entdifferenzierung beitragen und keine angemessene Bewertungsgrundlage liefern können. Die unterschiedlichen Positionen in den Debatten über Human Enhancement hängen eng mit den zugrunde gelegten Menschenbildern, dem Verständnis und der Bewertung von »Natur« und zentralen gesellschaftlichpolitischen Prämissen zusammen. Idealtypisch lassen sich vier wichtige Positionen unterscheiden:8

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»Enhancement begegnet uns in allen Lebensbereichen. Im Alltag, Beruf und Sport versuchen wir unsere kognitiven und körperlichen Fähigkeiten zu verbessern. [...] Viele der Maßnahmen erscheinen uns dabei allzu vertraut und selbstverständlich, andere dagegen als neuartig. Ihnen liegt aber dasselbe Motiv zugrunde: der menschliche Drang zur Selbstgestaltung« (R. Ranisch/J. Savulescu, Ethik und Enhancement, S. 48f.). »Office workers enhance their performance by drinking coffee. Make-up and grooming are used to enhance appearance. Exercise, meditation, fish oil, and St John’s Wort are used to enhance mood« (N. Bostrom/R. Roache, Ethical Issues, S. 1). Für Erik Parens sind im Diskurs über Human Enhancement insbesondere zwei »ethical frameworks« wirksam, nämlich einerseits das Motiv der »Dankbarkeit« (»gratitude«) gegenüber dem Gegebenen und andererseits das Motiv der schöpferischen Gestaltung und Veränderung des Gegebenen (»creativity«). Die Verschränktheit beider Motive illustriert er instruktiv an der Figur des Jakob aus dem Buch Genesis (Erik Parens: »Toward a More Fruitful Debate about Enhancement«, in: Julian Savulescu/Nick Bostrom (Hg.): Human Enhancement, Oxford: Oxford University Press 2009, S. 181-197, hier: S. 187ff.). Parens hat zweifellos recht, wenn er darauf hinweist, dass es zwar Präferenzen hinsichtlich der beiden »frameworks« gibt, dass aber jeder letztlich von beiden Gebrauch macht. Ein Problem ist allerdings darin zu sehen, dass er beide Motive in einer sehr allgemeinen Weise verwendet und nicht wirklich die Besonderheiten der Debatte über Human Enhancement berücksichtigt. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass sich die beiden »frameworks« ja keinesfalls symmetrisch zueinander verhalten: Die allgemeine oder auch spezifische Betonung der »Kreativität« des Menschen ist letztlich immer nur im Be23

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1. Der »Transhumanist« plädiert in dogmatischer Weise für die Legitimität, ja sogar für die Notwendigkeit von Human Enhancement, weil er dem Menschen vor allem das Potential beständiger Selbstüberschreitung zuerkennt und alle Einbettungen in übergreifende natürliche und kulturelle Kontexte ablehnt. 2. Der »liberale Ethiker« votiert für eine differenzierte Bewertung neuer technologischer Möglichkeiten, betont dabei aber die Berechtigung und Vernünftigkeit verschiedener Formen von Human Enhancement, weil er die Veränderlichkeit von Menschenbildern unterstreicht, jede Art von verbindlichen Rahmenvorstellungen für unzeitgemäß hält und anhand individualistischer und utilitaristischer Prämissen argumentiert. 3. Der »konservative Ethiker« lehnt Human Enhancement ab, weil er ein substantielles Verständnis des Menschenseins verteidigt, von der Unhintergehbarkeit einer Einbettung des menschlichen Handelns in die Ordnung der Natur bzw. der Schöpfung ausgeht und demzufolge die Notwendigkeit einer Beschränkung individueller Handlungsfreiheiten bekräftigt. 4. Der »Skeptiker«9 schließlich nimmt eine insgesamt kritische Position ein und hinterfragt die Argumentationsmuster der Befürworter von Human Enhancement, weil er ein »ganzes Menschsein« in der Reichhaltigkeit seiner natürlichen, kulturellen und historischen Dimensionen als bewahrenswert erachtet und die Realisierbarkeit wie die allgemeine Wünschbarkeit der verschiedenen Ansätze einer grundlegenden technologischen Perfektionierung der menschlichen Konstitution in Zweifel zieht. Für den Transhumanisten gibt es keine prinzipiellen Einwände gegen moderate oder auch radikale Formen der technologischen Selbstverbesserung, er geht vielmehr davon aus, dass Human Enhancement durch

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zug auf Gegebenes möglich und setzt insofern auch ein gewisses Maß an Anerkennung von Gegebenem voraus. Der »Skeptiker« im hier verstandenen Sinne vertritt weder einen radikalen erkenntnistheoretischen Skeptizismus, noch nimmt er eine neutrale Position gegenüber den anderen Idealtypen ein. Er ist »Skeptiker« vor allem darin, dass er viele der vorherrschenden Denkmuster im Umgang mit der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung für unplausibel und problematisch hält und sie anhand geschichts- und kulturbewusster Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbilder in Zweifel zu ziehen versucht. Von den »konservativen Ethikern« distanziert er sich durch die Zurückweisung unzeitgemäßer Dogmen und durch eine stärkere Betonung rationaler Argumentation, inhaltlich stimmt er mit ihnen aber in vielen Hinsichten überein.

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den Gebrauch leistungssteigernder Medikamente, gentechnologischer Eingriffe, neurologischer Implantate o. Ä. grundsätzlich zur Erhöhung der Lebensqualität beitragen kann. Wenn die verfügbaren Methoden einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht haben und mögliche Risiken als beherrschbar eingeschätzt werden, müssen sie nicht nur als zulässig angesehen werden, im Blick auf künftige Generationen sind wir sogar verpflichtet, sie anzuwenden und ihre Entwicklung voranzutreiben. Das von konservativer Seite stark gemachte intuitive Unbehagen10 gegenüber grundlegenden technologischen Veränderungen unseres Körpers und unserer physischen oder psychischen Fähigkeiten wird als irrational und unplausibel zurückgewiesen. Es lässt sich nicht leugnen, dass solche Emotionen bei vielen Menschen tatsächlich vorhanden sind, aber es liegt nahe, dass die zunehmende Liberalisierung konkreter Techniken zu Gewöhnung und einer sukzessiven Minimierung dieser Gefühlslagen führen wird: »Sind keine Bedenken über die Schädlichkeit des Enhancements einiger Menschen für andere Teile der Bevölkerung vorhanden, ist davon auszugehen, dass sich die Intensität der negativen moralischen Gefühle gegenüber Enhancement verringert.«11

Zentral für das transhumanistische Plädoyer für Human Enhancement sind die Absage an alle natürlichen und kulturellen Einbettungen des Menschen und die Betonung eines diffusen Potentials der Selbststeigerung, welches sich angesichts der technologischen Entwicklung zunehmend besser entfalten lässt: »Transhumanism is a way of thinking about the future that is based on the premise that the human species in its current form does not represent the end of our development but rather a comparatively early phase. […] To a transhumanist, progress occurs when more people become more able to shape themselves, their lives, and the ways they relate to others, in accordance with their own deepest values.«12

10 Vgl. Leon R. Kass: »The Wisdom of Repugnance« in: Leon R. Kass/ James Q. Wilson (Hg.): The Ethics of Human Cloning, Washington, 1998, S. 3-59. 11 Stephen Clarke/Rebecca Roache: »Enhancement am Menschen, Intuitionen und die Weisheit des Nachdenkens über den Widerwillen«, in: Nikolaus Knoepffler/Julian Savulescu (Hg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2009, S. 55-81., hier: S. 77. 12 Nick Bostrom: The Transhumanist FAQ. A General Introduction, 2003, S. 4. 25

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Ihre Modernität und ihre Nähe zur Aufklärungsphilosophie versuchen Transhumanisten durch die Einordnung ihrer pseudoreligiösen Ideologie13 in humanistische Traditionslinien zu bekräftigen, wobei sie insbesondere die Bedeutung individueller Autonomie und einer liberalen Gesellschaftsordnung betonen.14 Gerade in diesem Punkt treffen sie sich mit den Argumenten liberaler Ethiker, die den Gebrauch von Technologien zur Selbstverbesserung weitgehend von staatlicher Kontrolle entbinden und in die Entscheidungsgewalt des Einzelnen legen möchten.15 In einem liberalen Staat kann es nicht darum gehen, konkrete Möglichkeiten von Human Enhancement einem strikten Reglement zu unterwerfen, er sollte lediglich regulierend wirken und das Entstehen von sozialen Zwängen verhindern. Auch liberale Ethiker betonen die Flexibilität und Variabilität der menschlichen Konstitution und die Unhaltbarkeit jeder Kanonisierung verbindlicher Wesensmerkmale. Weil der Mensch seinen Charakter als Naturwesen innerhalb der kulturellen Entwicklung immer stärker 13 Reinhard Heil votiert dafür, »den Transhumanismus als eine Ideologie [...] und nicht als Religion« zu analysieren (Reinhard Heil: »Transhumanismus, Nanotechnologie und der Traum von Unsterblichkeit«, in: Arianna Ferrari/Stefan Gammel (Hg.): Visionen der Nanotechnologie, Berlin: AKA 2009, S. 25-49, hier: S. 46). Dabei legt er aber m. E. nicht nur einen zu weiten Begriff von »Ideologie«, sondern auch einen zu engen Begriff von »Religion« zugrunde: »Ideologie« steht weniger für offene Motive der »Sinnstiftung« als für einen Kurzschluss zwischen verabsolutierten Welterklärungen und konkreten gesellschaftlichen Handlungsregeln vor dem Hintergrund partikularer Machtinteressen. »Religion« ist nicht auf bestimmte Vorstellungen von »Transzendenz« beschränkt, sondern steht in einem abstrakten Sinne für alle Weltanschauungen, die explizit »Heil« und »Erlösung« von den Bedingungen unseres irdischen Lebens versprechen. Ein positiver Gehalt von »Religion« hat darüber hinaus dann vor allem damit zu tun, dass es historisch gewachsene und gefestigte Traditionen gibt. Im Blick auf diese Bestimmungen kann der Transhumanismus m. E. mit Recht als »pseudoreligiöse Ideologie« charakterisiert werden. Die engen Zusammenhänge zwischen religiösen Erlösungshoffungen, Fortschrittsglaube und technologischen Visionen in den USA liefern einen wichtigen Hintergrund für eine solche Charakterisierung (vgl. Joachim Schummer: »Nano-Erlösung oder Nano-Armageddon? Technikethik im christlichen Fundamentalismus«, in: Alfred Nordmann/Joachim Schummer/Astrid Schwarz (Hg.): Nanotechnologien im Kontext. Philosophische, ethische und gesellschaftliche Perspektiven, Berlin: AKA 2006, S. 263276; ders., Nanotechnologie. Spiele mit Grenzen, Frankfurt/Main, 2009, S. 58ff.). 14 Vgl. Nick Bostrom: A History of Transhumanist Thought, 2005, S. 1ff. 15 Vgl. Bernward Gesang: Perfektionierung des Menschen, Berlin/New York: de Gruyter 2007, S. 81ff.; Andreas Woyke: »Intergenerative Gerechtigkeit und Verantwortung im Blick auf nanotechnologische Anwendungen und Visionen«, Ethica 2010 (im Erscheinen). 26

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überformt und verändert, ist es durchaus konsequent und keineswegs per se anstößig, seinen Kulturcharakter auf technologische Weise durch eine unmittelbare Gestaltung und Optimierung seiner »natürlichen Ausstattung« zu vertiefen und zu erweitern.16 Kernprobleme der konservativen Kritik an Human Enhancement bestehen ja gerade darin, dass Menschenbilder durch ein hohes Maß an historischer Relativität bestimmt sind und dass es in liberalen Gesellschaften letztlich unmöglich ist, sich auf verbindliche Standards von »Normalität« und »Authentizität« zu verständigen. Das liberale Plädoyer für individuelle Handlungsfreiheit auch bei Formen der technologischen Selbstgestaltung, die über den Einsatz von Psychopharmaka und kosmetischer Chirurgie hinausgehen, mag insofern ein vernünftiger und zeitgemäßer Ansatz sein. Dennoch erscheint es durchaus fraglich, ob man mit einer dichotomischen Gegenüberstellung zwischen Liberalismus und Paternalismus wirklich weiterkommt. Insbesondere in intergenerativer Perspektive kann man es vielmehr als notwendig ansehen, die Interessen individuellen Selbstdesigns angemessen zu reglementieren.17 Die von Transhumanisten und liberalen Ethikern betonte Offenheit der menschlichen Natur ist keineswegs eine neue Idee, was in Ansätzen einer historischen Kontextualisierung auch aufgegriffen wird. Jenseits jeder ernsthaften geistesgeschichtlichen Rekonstruktion wird dabei aber übersehen bzw. verschleiert, dass es etwa bei Pico della Mirandola18 und anderen Vertretern der Renais16 Vgl. Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 179ff. 17 Wenn wir im Sinne von Hans Jonas an der Verpflichtung festhalten, auch den kommenden Generationen ein vollgültiges menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, dann sollten wir all jene technologischen Entwicklungen kritisch betrachten und im Zweifelsfall wirksamen Kontrollen unterwerfen, welche diese Möglichkeit ernsthaft gefährden oder gar verhindern könnten (vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 199512, S. 84ff.). 18 In beinahe inflationärer Weise beziehen sich Transhumanisten und liberale Ethiker auf eine Passage aus Giovanni Pico della Mirandolas Schrift De hominis dignitate aus dem Jahre 1486 (vgl. D. Birnbacher: Natürlichkeit, S. 184; N. Bostrom: The Transhumanist FAQ, S. 39; ders.: A History of Transhumanist Thought, S. 2; ders.: Dignity and Enhancement, 2007, S. 11). Sie rekonstruieren dabei aber keinesfalls ernsthaft historische Entwicklungslinien, sondern belegen lediglich ihre historische Unkenntnis und ihr Desinteresse an solchen Rekonstruktionen: Wenn man sich nur im Ansatz darum bemühen wollte, Picos Gedanken nachzuvollziehen und ihre Bedeutung für spätere geistesgeschichtliche Entwicklungen zu verstehen, dann wäre es erforderlich, den antiken und mittelalterlichen Traditionslinien des    bzw. des homo divinus nachzugehen und auch den möglichen Einfluss des Nikolaus von Kues auf Pico zu beleuch27

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sancephilosophie nicht darum geht, den Menschen durch einen diffusen Drang zur Selbstperfektionierung zu charakterisieren. Im Einklang mit den Bezügen zur antiken und mittelalterlichen Philosophie geht es vielmehr darum, die Offenheit der menschlichen Natur und das menschliche Potential zur Selbstgestaltung in einen normativen Rahmen einzuordnen. Die besondere Würde, die Pico dem Menschen zuerkennt, erwächst aus seinem besonderen Verhältnis zum Göttlichen und hat daher nichts mit der Beliebigkeit und Ungebundenheit moderner Gestaltungsphantasien zu tun.19 Zweifellos gibt es recht unterschiedliche Menschenbilder in der geschichtlichen Entwicklung und im Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen, dennoch führt jede differenzierte Betrachtung wohl eher zu Kontinuitäten als zu rigorosen Brüchen: Weil der Mensch letztlich immer in größeren Verweisungs- und Bedeutungszusammenhängen von »Natur«, »Kultur« und »Geschichte« begriffen und bewertet wird, kann der Hinweis auf seine Neigung zur Selbsttranszendenz alleine keine Grundlage für eine substantielle Anthropologie liefern.20 ten. Noch eindringlicher zeigt sich dreiste und dumme Geschichtsblindheit daran, dass Natasha Vita-More und andere Transhumanisten offenbar ernsthaft der Meinung sind, dass Dantes Gebrauch des Verbums trasumanare ihn zu einem Vorläufer des Transhumanismus macht (vgl. Natasha Vita-More: Starchild. Natasha Vita-More on Transhumanism in Space, Interview by Tim Ventura, 2006, S. 1-9, hier: S. 2). Jeder, der Dante und seine Zeit kennt, weiß, dass dieses Verbum nur in einem theologischen Kontext verstanden werden kann und nichts mit einem diffusen transhumanistischen Drang zur Selbstüberschreitung zu tun hat: Das »Überschreiten der menschlichen Natur« (trasumanar) geschieht im himmlischen Reich durch die vermittelte Wirkung der göttlichen Gnade und kann insofern nicht beschrieben, sondern nur selbst erlebt werden (vgl. Dante Alighieri: La Divina Commedia, a cura di Fredi Chiappelli, Milano: Mursia 1965, Paradiso I 64ff., S. 322). 19 Vgl. A. Woyke: Intergenerative Gerechtigkeit. Nietzsche scheint prima vista der transhumanistischen Ideologie und der Perfektionsemphase liberaler Ethiker durchaus nahe zu stehen, wir stoßen hier aber nicht nur auf eine außerordentlich große kulturelle Kluft, aus Nietzsches Philosophie lassen sich auch dezidiert kritische Motive im Blick auf eine rein technologische Perfektionierung des Menschen ableiten (vgl. Andreas Woyke: »Philosophische Überlegungen zum Status und zur Charakteristik nanotechnologischer Visionen«, in: Arianna Ferrari/Stefan Gammel (Hg.): Visionen der Nanotechnologie, Berlin: AKA 2009, S. 51-77, hier: S. 65ff.). 20 Helmuth Plessner betont zwar explizit die »Exzentrizität« und »natürliche Künstlichkeit« des Menschen, er macht aber auch deutlich, dass er wegen seiner »Wurzellosigkeit« beständig darum bemüht sein muss, sich Wurzeln zu geben und Rückbindungen für seine Existenz zu finden. Einbettungsmotive zeigen sich bei Plessner nicht nur darin, dass er diese Selbstverortungsversuche des Menschen in größere historische und kulturelle Zusammenhänge einordnet, sondern auch darin, dass er den grundlegend interaktionistischen Charakter der Beziehungen zwischen menschlichem 28

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Der konservative Ethiker setzt gerade darauf, die Endlichkeit und Unvollkommenheit des Menschen zu betonen und mit philosophischen und theologischen Argumenten in ihrer zentralen normativen Bedeutung aufzuzeigen.21 Eine rigorose technologische Flexibilisierung der menschlichen Konstitution im Sinne transhumanistischer Ideen und eine weitgehende Liberalisierung des Zugriffs auf verschiedene Formen von Human Enhancement lehnt er insofern grundsätzlich ab. Rückgriffe auf religiöse Menschenbilder sind hierbei zweifellos von großer Bedeutung,22 aber es ist evident, dass letztlich alle substantiellen Versuche einer Charakterisierung des Menschen von der Antike bis zur Gegenwart seine Sterblichkeit, seine Fragilität und seine Einbettung in vorgängige kosmische, göttliche, soziokulturelle oder historische Ordnungsstrukturen ins Auge fassen und als wesentlich zu seiner Existenz gehörig herauszustellen versuchen.23 Motive der Kreativität, der Selbst- und Weltgestaltung werden keinesfalls geleugnet,24 aber es ist unumgänglich, sie auf natürlich

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Bewusstsein und Welt betont (vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin/New York: de Gruyter 19753, S. 309ff.). Vgl. President’s Council on Bioethics (Hg.): Beyond Therapy, Washington DC 2003, S. 287ff.; Leon R. Kass: Life, Liberty and the Defense of Dignity. The Challenge for Bioethics, San Francisco: Encounter Books 2002, S. 15ff. Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, übers. von R. Teuwsen, mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin: Berlin University Press 2008, S. 107ff. Hans Jonas plädiert explizit für eine »Abkehr von der Ethik der Perfektibilität« und für eine »Ethik der Bescheidung«: »[...] es muss dabei im Innersten verstanden sein, dass es sich um den Menschen lohnt, so wie er ist, nicht wie er gemäß einer schlackenlosen Idealvorstellung sein könnte [...]« (Hans Jonas: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 20036, S. 299; Hervorh. i. Orig.). »Der Glaube liefert die eindeutigsten Gründe, sich gegen die genetische Manipulation von Menschen zu wenden« (Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, übers. von Klaus Kochmann, München: dtv 2004, S. 130). Dies reicht von der antiken Idee der »Anähnlichung« des Menschen an das Göttliche über die Anbindung der menschlichen Kreativität an die göttliche Schöpfung im Mittelalter und der Renaissance bis hin zur »nachmetaphysischen« Einbettung des menschlichen Selbstverständnisses in die bereits bestehende Gemeinschaft rationaler Argumentation und gegenseitiger Anerkennung bei Habermas: »Als geschichtliche und soziale Wesen finden wir uns immer schon in einer sprachlich strukturierten Lebenswelt vor. Schon in den Kommunikationsformen, worin wir uns miteinander über etwas in der Welt und über uns verständigen, begegnet uns eine transzendierende Macht« (Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/Main: Suhrkamp 20072, S. 25). Vgl. F. Fukuyama: Das Ende des Menschen, S. 27ff.; E. Parens: Toward a More Fruitful Debate, S. 187ff. 29

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Gegebenes und kulturell Gewachsenes zu beziehen, um sie angemessen entfalten zu können: Jede Vorstellung einer gänzlich autonomen Selbsttranszendierung erscheint als absurd, da sie die als notwendig angesehenen Referenzen aller Handlungen des Menschen auf Vorgängiges ausblendet. Die Prämissen demokratisch verfasster Gesellschaften, die dem Einzelnen in vielen Bereichen ein hohes Maß an individueller Freiheit einräumen, werden aus konservativer Sicht anerkannt und verteidigt, im Blick auf gesamtgesellschaftliche Interessen, das Wohl nachfolgender Generationen und das Vertrauen auf übergreifende Einordnungen werden sie aber nicht zum Anlass für Liberalisierungen hinsichtlich eines grundlegenden technologischen Designs der individuellen Konstitution und der genetischen oder sonstigen Perfektionierung der eigenen Kinder genommen. Wenn wir uns an den Idealtypen asymmetrischer Beziehungen von Sorge und Verantwortung orientieren, wie sie nach Hans Jonas in den Verhältnissen zwischen Eltern und Kindern und zwischen Regierenden und Regierten gegeben sind,25 dann zeigt sich die Haltlosigkeit einer scharfen Dichotomie zwischen Paternalismus und Liberalismus: Jenseits extremaler Verhältnisse muss es darum gehen, unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit und der Zukunftsorientierung zu verfahren und auch den künftigen Menschen ein vollgültiges menschliches Dasein jenseits manipulativer Verengungen zu ermöglichen: »Reflecting on the constituents of human flourishing and how proposed enhancements might alter them must be a prominent component of any framework for ethical evaluation of radical human enhancements.«26 25 Vgl. H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 184ff. 26 Ronald Sandler: »Nanotechnology and Human Flourishing: Toward a Framework for Assessing Radical Human Enhancements«, in: Fabrice Jotterand (Hg.): Emerging Conceptual, Ethical and Policy Issues in Bionanotechnology, New York: Springer 2008, S. 239-254, hier: S. 253. Sandler sieht ein Kernproblem bei den Debatten über Human Enhancement darin, dass Befürworter wie Kritiker auf der Basis der Annahme einer »Natur des Menschen« (»human nature«) argumentieren. Eine sinnvollere Basis erkennt er in einer Reflexion darüber, was dem menschlichen Leben förderlich bzw. abträglich ist (»human flourishing«). Er legt dabei m. E. ein reichlich enges Verständnis der »Natur des Menschen« zugrunde und verkennt, dass es bei ihrer Charakterisierung nicht um starre Wesensbegriffe gehen kann, sondern vielmehr eine möglichst reichhaltige phänomenologische Deskription dessen erforderlich ist, was der Mensch in einem ganzheitlichen Verständnis ist und sein kann. Dem individuellen und kollektiven Leben förderlich ist es dann gerade, die verschiedenen Facetten eines solchen »ganzen Menschseins« zu wahren und zu fördern. Im Rekurs auf unsere lebensweltlichen Erfahrungen und zentrale Motive menschlicher Kultur zählen die Endlichkeit und Unvollkommenheit unserer Existenz wesentlich zu einem »ganzen Menschsein«: »What we need is a defense 30

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Aldous Huxleys gesellschaftliche Dystopie Schöne neue Welt wird von konservativen Ethikern gerne herangezogen,27 um deutlich zu machen, dass jeder rein technologische Ansatz zur Verwirklichung einer »besseren Welt«, eines »besseren Menschen« und eines »besseren Lebens« insofern in eine Aporie führen muss, als er die vorhandenen Formen der Selbst- und Welterfahrung des Menschen fragwürdigen und destruktiven Reduktionen unterwerfen wird. Dabei sind sich Leon Kass, Francis Fukuyama und andere durchaus darüber im Klaren, dass eine stärkere Liberalisierung technologischer Verbesserungsmöglichkeiten angesichts der Verhältnisse in den westlichen Demokratien nicht in einen neuen Totalitarismus im Sinne Huxleys führen wird. Sie betonen aber, dass die Verbreitung und Forcierung basaler Eingriffe in die menschliche Konstitution sukzessive zum Verlust substantieller Formen des Selbstverständnisses und zur Erosion gesellschaftlicher und moralischer Verbindlichkeiten führen könnten.28 Um dies zu verhindern verweisen konservative Ethiker sowohl auf die Bedeutung einer Rückbesinnung auf metaphysische, religiöse und kulturelle Einbettungen unserer Existenz als auch auf sinnvolle Ansätze zur politischen Reglementierung und gesellschaftlichen Ächtung von Human Enhancement.29 Entscheidende Probleme sind dabei allerdings darin zu sehen, dass die verschiedenen Einbettungsvorstellungen heutzutage kein Universalisierungspotential mehr besitzen und dass es daher auch äußerst schwierig ist, einen Konsens darüber zu finden, was als angemessene staatliche Reglementierung und was als unangemessene staatliche Bevormundung gilt.30 Der Skeptiker stimmt in vielen Grundüberzeugungen mit den Positionen des konservativen Ethikers überein. Er argumentiert aber weniger dogmatisch, bemüht sich stärker um universalisierbare Aussagen und um

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of the dignity of what Tolstoy called ›real life‹, life as ordinarily lived, everyday life in its concreteness. It is a life lived always with and against necessity, struggling to meet it, not to eliminate it. […] It is a life that will use our awareness of need, limitation and mortality to craft a way of being that has engagement, depth, beauty, virtue and meaning – not despite our embodiment but because of it« (L.R. Kaas, Life, Liberty and the Defense of Dignity, S. 18; Hervorh. i. Orig.). Vgl. ebd., S. 8ff.; F. Fukuyama: Das Ende des Menschen, S. 16ff.; vgl. hierzu auch den Beitrag von Nicolas Langlitz in diesem Band. Vgl. L.R. Kass: Life, Liberty and the Defense of Dignity, S. 124ff. Vgl. F. Fukuyama, Das Ende des Menschen, S. 251ff. Für den liberalen Ethiker sind rigorose staatliche Reglementierungen nicht zu vertreten, da sie den Prämissen einer liberalen Gesellschaftsordnung widersprechen. Demgegenüber muss es darum gehen, im Sinne einer utilitaristischen Ethik allen oder zumindest möglichst vielen Zugang zu verschiedenen Verbesserungstechniken zu verschaffen (vgl. B. Gesang: Perfektionierung des Menschen, S. 52ff.). 31

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Distanz gegenüber starken metaphysischen oder gar religiösen Begründungen.31 Die Visionen der Transhumanisten von einer technologischen Perfektionierung des Menschen erscheinen dem Skeptiker vor allem als degoutant, geschichtsblind und hochgradig unplausibel:32 Sie wecken nicht nur reichlich unseriöse Erwartungen an den wissenschaftlichtechnologischen Fortschritt, sie vermitteln auch den Eindruck, dass differenzierte Problemanalysen unter Einbeziehung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen angesichts der Verwirklichung einer übergreifenden Konvergenz in Zukunft unnötig sein werden. Den liberalen Ethikern stimmt er darin zu, dass es bei verschiedenen Formen von Human Enhancement um konkrete Abwägungen und Untersuchungen gehen muss,33 ihre Fortschrittsemphase, ihr utilitaristischer Argumentationsmodus und ihr unangemessener Umgang mit Einwänden der konservativen Kritik bestärken allerdings seine Überzeugung, dass hier auf der Basis reichlich schlichter und historisch gänzlich unterbestimm-

31 Ein ähnliches Verhältnis besteht prinzipiell zwischen Transhumanisten und liberalen Ethikern. Dem Transhumanismus nahe stehende Bioethiker bezeichnen ihn sogar als eine »Untergruppierung des Bioliberalismus« (S. Clarke/R. Roache: Enhancement am Menschen, S. 55). 32 Vgl. A. Woyke: Philosophische Überlegungen, S. 73ff. Michael Hauskeller macht deutlich, dass die Befürworter von Human Enhancement nicht nur einen reichlich unreflektierten Begriff von »Verbesserung« zugrunde legen, sondern auch die Komplexität und evolutionäre Bewährtheit der menschlichen Konstitution maßgeblich unterschätzen: »Wenn wir [...] etwas anderes werden wollen, mit Fähigkeiten, die uns normalerweise nicht zur Verfügung stehen, dann kann alles mögliche passieren. Wir wissen ganz einfach nicht, was geschehen wird und ob wir tatsächlich davon profitieren werden. Mit anderen Worten wissen wir nicht einmal, ob Verbesserung überhaupt möglich ist.« (Michael Hauskeller: »Die moralische Pflicht, nicht zu verbessern«, in: Nikolaus Knoepffler/Julian Savulescu (Hg.): Der neue Mensch? Enhancement und Genetik, Freiburg/München: Verlag Karl Alber 2009, S. 161-176, hier: S. 173). 33 Habermas weist auf ein Kernproblem jeder staatlichen Kontrolle von Verbesserungstechniken hin: »Wer darf sich zum Richter über die Präferenzen der Bürger aufspielen? [...] Kritiker, die einer solchen Praxis einen Riegel vorschieben möchten, setzen sich dem Anfangsverdacht aus, die Privatautonomie der Bürger autoritär beschneiden zu wollen« (Jürgen Habermas: »Vorwort«, in: Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik, übers. von R. Teuwsen, mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin: Berlin University Press 2008, S. 714, hier: S. 10). »Dammbruchargumente« - etwa im Blick auf Präimplantationsdiagnostik und verbrauchende Embryonenforschung – sind durchaus bedenkenswert, aber sie müssen mit konkreten Gründen plausibel gemacht werden (vgl. J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 156ff.). 32

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ter Welt- und Menschenbilder nachgedacht wird.34 Der Skeptiker ist sich im Klaren darüber, dass starke metaphysische Thesen im gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr universalisierbar sind, er hält allerdings daran fest, dass klassische metaphysische Positionen und auch religiöse Glaubenssätze uns dabei helfen können, zu einer ausgewogenen Bewertung der technologischen Entwicklung und ihrer visionären Konturierung zu gelangen.35 In seiner Kritik an den Befürwortern von Human Enhancement bezieht er sich auf substantielle anthropologische Positionen36 ebenso wie auf ontologische, soziokulturelle und historische Ein34 Die Kritik von Gesang an Sieps Explikation der Werte »natürlicher« und »kultureller Mannigfaltigkeit« (Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 254ff.) ist m. E. ein erschreckendes Beispiel für eine solche schlichte Argumentation (B. Gesang: Perfektionierung des Menschen, S. 117ff.): Es ist zweifellos zutreffend, dass das Bedürfnis nach einer Bemächtigung der Natur im starken Maße unseren Umgang mit ihr bestimmt, aber es ist reichlich oberflächlich, hieraus darauf zu schließen, dass die Wertschätzung einer mannigfaltigen Natur ihre zentrale Bedeutung grundsätzlich eingebüßt hätte. Im Blick auf Einsichten in die komplexen Vernetzungsstrukturen von Ökosystemen erscheint es ganz im Gegenteil geboten, sich verstärkt für den Erhalt von »Biodiversität« einzusetzen. Als noch seltsamer erscheint es, wenn Gesang den Kapitalismus und eine rein ökonomisch konturierte Globalisierung zur »Leitkultur« erklärt und die Anerkennung kultureller Mannigfaltigkeit allein auf die Orientierung an konkreten Nützlichkeitskalkülen zurückführt. Philosophische Gesellschaftsanalysen sollten sich m. E. nicht darauf beschränken, sich zum Fürsprecher irgendeiner »Leitkultur« zu machen und problematische Fehlorientierungen fortzuschreiben, sie sollten vielmehr Anregungen für normative Gegenentwürfe liefern. 35 Habermas legt zwar großen Wert auf die Orientierung an »nachmetaphysischem Denken« und den Erhalt einer »weltanschaulichen Neutralität« des Staates, er argumentiert in seiner Kritik an einer liberalen Eugenik aber explizit mit metaphysischen Gedankenfiguren von Hans Jonas und Hannah Arendt (vgl. ebd., S. 80ff.). Siep lehnt zwar eine metaphysische Betonung der Eigenwertigkeit der Natur im Sinne von Jonas als unzeitgemäß ab, versucht aber doch »Natürlichkeit« als Wert innerhalb einer an Kriterien des allgemeinen Wohlergehens orientierten Ethik stark zu machen (vgl. L. Siep: Konkrete Ethik, S. 243ff.). Vgl. hierzu auch: Andreas Woyke: »Überlegungen zu den Gegenständen und Problemstellungen einer ethischen Reflexion der Nanotechnologie«, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 12 (2007), S. 45-78, hier: S. 67ff.; ders.: »Nanotechnologische Visionen zur Transformation der Natur. Wichtige Beispiele und kritische Einwände«, in: Kristian Köchy/Martin Norwig/Georg Hofmeister (Hg.): Nanobiotechnologien. Philosophische, anthropologische und ethische Fragen, Freiburg/München: Alber 2008, S. 229-263, hier: S. 249ff.). 36 Hans Jonas macht eindringlich klar, dass man anhand eines »gültigen (nicht nur gerade geltenden Menschenbildes)« und im Rückgriff auf eine »inhaltliche Metaphysik« zu einer antizipierenden Bewertung von »Fragen der Humantechnologie« gelangen kann, angesichts derer auch eine Reg33

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bettungen menschlichen Selbstverständnisses und menschlicher Praxis. Als Skeptiker bekräftigt er aber nicht nur, dass sich diese Argumente in ganz unterschiedlichem Grade explizieren lassen, er betont auch im Bemühen um Universalisierung ihre vor allem praktisch-moralischen Funktionen.37 Er stützt sich weder strikt auf bestimmte Menschenbilder – etwa im Sinne des Christentums oder anderer Religionen –, aus denen sich unmittelbar Einwände gegen eine technologische Umgestaltung unserer Konstitution ergeben, noch verweist er in dogmatischer Weise auf bestimmte Konzepte von »Natur«, »Technik« und »Kultur«. Angesichts eines affirmativen Verhältnisses zur Moderne und der Akzentuierung eines rationalen Weltverständnisses argumentiert er auf der Basis einer »revidierbaren Metaphysik« oder wie Jürgen Habermas gemäß der Forderung nach »nachmetaphysischem Denken«. In geschichts- und kulturbewusster Perspektive bemüht er sich allerdings um eine phänomenologische Charakterisierung des Menschen und der seiner Existenz und seiner Lebensorientierung förderlichen Einbettungen in größere Zusammenhänge. Eine angemessene Deskription der vielschichtigen Dimensionen des Menschenseins und eine Auslotung verschiedener menschlicher Weltverhältnisse jenseits einseitiger Präferenzen bilden den Hintergrund für die Zurückweisung transhumanistischer Ideen und überzogener Liberalisierungen. Hinsichtlich der Frage nach einer politischen Reglementierung von Human Enhancement distanziert sich der Skeptiker sowohl von konservativen Forderungen nach rigoroser Kontrolle als auch von den gegenläufigen Ansätzen liberaler Ethiker: Zum einen vertraut er darauf, dass vernünftige Argumente einen wichtigen Beitrag zur Realisierung ausgewogener Regularien leisten können,38 zum anderen ist lementierung der Forschungsfreiheit denkbar sein könnte (Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 144; Hervor. i. Orig.). 37 Da Befürworter wie Kritiker von Human Enhancement anhand normativ besetzter Menschen-, Welt- und Gesellschaftsbilder argumentieren, sollte es im gesellschaftlichen Diskurs vor allem darum gehen, jene Orientierungen zu favorisieren, die dem Überleben und Wohlergehen auch künftiger Generationen am förderlichsten sind. Ein ganzheitliches Verständnis des Menschen erscheint dem Skeptiker hierfür jedenfalls besser geeignet zu sein als die spekulativen Visionen der Transhumanisten und die oberflächlichen Ansätze liberaler Ethiker: »Statt unsere neuen genetischen Fähigkeiten dafür einzusetzen, ›das krumme Holz der Menschheit‹ zu begradigen, sollten wir tun, was wir können, soziale und politische Verhältnisse zu schaffen, die für die Gaben und Beschränkungen unvollkommener menschlicher Wesen möglichst günstig sind« (M.J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion, S. 118). 38 Der Verlust der Verbindlichkeit religiöser und metaphysischer Weltbilder und die Vorherrschaft eines weltanschaulichen Pluralismus in der Moderne müssen nicht zu einem moralischen Relativismus führen: »Wir haben 34

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er sich über die vielfach widersprüchlichen und fragwürdigen Lebensorientierungen des spätmodernen Menschen soweit im Klaren, dass er gerade in diesem Bereich einen moderaten Paternalismus für unverzichtbar hält.39 Es ist evident, dass alle vier im idealtypischen Duktus skizzierten Positionen kritisierbar sind und keine abschließenden Argumente bereitstellen können. Wenn wir die im scharfen Gegensatz zueinander stehenden Positionen der Transhumanisten und der rigorosen konservativen Ethiker als zu ideologisch bzw. zu dogmatisch ausschließen, dann geht es letztlich vor allem um eine Auseinandersetzung zwischen moderaten Konservativen und Skeptikern einerseits und liberalen Ethikern andererseits. Eine grundsätzliche Vermittlung ist hier wohl ausgeschlossen, da von den verschiedenen Vertretern letztlich gänzlich divergente Menschen-, Welt- und Gesellschaftsbilder zugrunde gelegt werden.40 Dennoch ist es sicher eine gute Empfehlung, wenn Erik Parens dazu aufruft, sich nicht nur auf die Widerlegung gegensätzlicher Positionen zu beschränken, sondern gemeinsam an einer differenzierten Bewertung verschiedener Formen von Human Enhancement im Blick auf die Wahrung von »Authentizität« und eine Förderung unserer Lebensqualität zu arbeiten.41 Den Vertretern einer skeptischen Position kommt hierbei m. E. eine besonders wichtige Rolle zu, weil sie einerseits mit den liberalen Ethikern zumindest prinzipiell darin übereinstimmen, dass es um differenzierte Abwägungen und Analysen gehen muss, andererseits aber zusammen mit den konservativen Ethikern die Bedeutung substantieller Menschenbilder und breiterer Einbettungen des menschlichen Selbstverständnisses betonen. Der Skeptiker kann insofern auch mit Transhumanisten in einen fruchtbaren Diskurs eintreten, er muss ihnen aber entgegenhalten, dass sie sich durch ihre Fokussierung auf eine pseudoreligiöse Ideologie letztlich als untauglich für gesamtgesellschaftliche Debatten und sachliche Auseinandersetzungen über zukünftige Formen der Lebensgestaltung erweisen. Nick Bostrom und Julian Savulescu demonstrieren uns die fragwürdige Ambivalenz ihrer Position, wenn sie die Praktiken der Lebenswelt und der politischen Gemeinschaft auf Prämissen der Vernunftmoral und der Menschenrechte umgestellt, weil diese eine gemeinsame Basis für ein menschenwürdiges Dasein über weltanschauliche Differenzen hinweg bieten« (J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur, S. 125). 39 Vgl. A. Woyke: Intergenerative Gerechtigkeit. Auch liberale Ethiker erkennen dies letztlich an, wenn sie etwa für einen »Liberalismus mit Auffangnetz« plädieren (vgl. B. Gesang: Perfektionierung des Menschen, S. 93ff.) 40 Vgl. M. Hauskeller: Die moralische Pflicht, nicht zu verbessern, S. 170ff. 41 E. Parens: Toward a More Fruitful Debate, S. 196f. 35

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zum einen zu Recht eine differenzierte Bewertung verschiedener Techniken von Human Enhancement einfordern, sich zum anderen aber für die Ergebnisse dieser Bewertungen gar nicht wirklich zu interessieren scheinen, weil sie letztlich schon darüber entschieden haben, dass auch radikale Formen von Human Enhancement uns eine bessere Zukunft und eine höhere Lebensqualität eröffnen werden.42 Sie sind also nicht ernsthaft daran orientiert, eine breite Diskussion über »Fluch und Segen« einer grundlegenden technologischen Verbesserung des Menschen anzuregen, die möglicherweise auch zugunsten konservativer oder skeptischer Positionen entschieden werden könnte. Ihre größte Befürchtung besteht vielmehr darin, dass der Gebrauch von Perfektionierungstechniken und die Verbreitung transhumanistischen Gedankenguts nicht recht vorankommen könnten. Aus skeptischer Sicht ist eine wirklich offene Debatte durchaus zu begrüßen, aber sie kann nur gelingen und sinnvolle Ergebnisse erzielen, wenn sie auf der Basis substantieller Menschen-, Weltund Gesellschaftsbilder jenseits von Vorentscheidungen über den Gang der technologischen Entwicklung und gesellschaftlich wie individuell wünschenswerte Formen der Lebens- und Zukunftsorientierung geführt wird.

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HUMAN ENHANCEMENT UND SEINE BEWERTUNG

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ANDREAS W OYKE

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»G RÜNDERFIGUREN « UND »G RÜNDUNGSDISKURSE «

Huma n Enha nce me nt – Eine Motivsuche bei J.D. Bernal, J.B.S. Haldane und J.S. Huxle y REINHARD HEIL Abstract: Gegenstand des Artikels sind die Zukunftsvisionen von J.D. Bernal, J.B.S. Haldane und J.S. Huxley. Besondere Berücksichtigung finden die Überlegungen der Autoren zur technisch vermittelten Veränderung der menschlichen Natur. Es soll aufgezeigt werden, dass ein Großteil der Motive, welche die damaligen Diskurse bestimmten, in den heutigen Diskussionen über Human Enhancement und den Transhumanismus weiterhin von großer Relevanz ist.

I. Einleitung Der Begriff Human Enhancement befindet sich im Fluss. Es ist schwer, eine halbwegs verbindliche Definition dessen zu geben, was Human Enhancement ist, oder wovon es abzugrenzen ist. Der Begriff ist zudem umkämpft.1 Wörtlich bedeutet Enhancement Erhöhung, Erweiterung, Hebung, Steigerung, Verbesserung, Vergrößerung oder Verstärkung. Das adjektivisch gebrauchte »human« lässt sich mit »menschlich« oder »human« übersetzen, das Substantiv lautet einfach »Mensch«. Eine tentative Definition könnte also lauten: Unter dem Begriff Human Enhancement werden Bestrebungen gefasst, menschliche Fähigkeiten über ihr »natürliches« Maß hinaus zu erhöhen, oder Menschen mit neuen Fähigkeiten auszustatten. Im Folgenden werde ich, anhand der drei Autoren John Desmond Bernal (1901-1971), John Burdon Sanderson Haldane (1892-1964) und Julian Sorell Huxley (1887-1975) aufzeigen, dass 1

Vgl. hierzu die Einleitung von Andreas Woyke in diesem Band. 41

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die meisten der heute im Umfeld von Human Enhancement vorkommenden Topoi spätestens Ende der 1920er Jahre aufkamen. Insbesondere gilt dies für die von Bostrom und Roache angeführten zentralen Bereiche von Human Enhancement: Verlängerung der Lebenszeit, Steigerung physischer Fähigkeiten, Aufhellung der Stimmung und Verbesserung von Persönlichkeitsmerkmalen, Steigerung von kognitiven Fähigkeiten und Selektion der genetisch besten Nachkommen.2 Das Auf-kommen dieser Topoi als wissenschaftlich verwirklichbar steht in einem engen Zusammenhang mit den Fortschritten innerhalb der Biologie. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert begann nicht nur die Entwicklung einer Synthetischen Theorie der Evolution,3 die Zusammenführung der Darwinschen Evolutionstheorie mit der Vererbungslehre, sondern auch die Erforschung des menschlichen Hormonsystems. Neben der Biologie ist die, gerade in Großbritannien stark vertretene, Eugenik von Bedeutung, sie wird aber im vorliegenden Text nur am Rande thematisiert. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf den Visionen und Hoffnungen, welche die drei genannten Autoren mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt verbinden. Bemerkenswert an den von Bernal, Haldane und Huxley geäußerten Hoffnungen und auch an der Art und Weise, wie diese verwirklicht werden sollen, ist, dass sie bis auf den heutigen Tag die Diskussionen um die Zukunft der menschlichen Gattung bestimmen. Im Zentrum der Überlegungen steht die Veränderbarkeit der menschlichen Natur mittels technischer Eingriffe. Zwar ist die Idee, einen neuen Menschen zu schaffen, wesentlich älter, die Motive, die im Folgenden dargestellt werden, finden sich teilweise bereits wesentlich früher, beispielsweise in der wohl wirkmächtigsten Wissenschafts- und Gesellschaftsutopie The New Atlantis von Francis Bacon aus dem Jahre 1626, aber die Konzentration auf das technisch und naturwissenschaftlich Machbare bzw. Denkbare ist, soweit ich es beurteilen kann, neu und unterscheidet den entstehenden Scientific Humanism auch von allen anderen Humanismen, in deren Mittelpunkt die Entfaltung bestehender menschlicher Fähigkeiten steht. Die große Vision der genannten Autoren besteht darin, dass es dem Menschen gelingen könnte, seine eigene Evolution zu gestalten und damit die Emanzipation des Menschen von der Natur weiter voranzutreiben.4 2 3 4 42

Vgl. Nick Bostrom/Rebecca Roache: Ethical Issues in Human Enhancement, 2007, S. 3ff. Vgl. Julian Huxley: Evolution – The Modern Synthesis, New York/London: Harper & Brothers Publisher 1943. Sie treffen sich dadurch mit den verschiedenen russischen Ideen zur Verwirklichung des »Neuen Menschen«, insbesondere mit denen der so ge-

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In den folgenden drei Kapiteln werden die Positionen der genannten Autoren rekonstruiert, wobei der Fokus auf den Bereich Human Enhancement gerichtet wird. Dabei sollte bedacht werden, dass ihnen eine solche Engführung keineswegs gerecht wird: Bernal war nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein bekannter Friedensaktivist, der, obwohl überzeugter Kommunist, während des Zweiten Weltkriegs für die englische Regierung arbeitete und an der Vorbereitung des D-Day direkt beteiligt war. Ähnliches gilt für Haldane und Huxley. Alle drei Autoren haben großen Einfluss auf die Wissenschaftspolitik nicht nur ihres Landes, sondern der gesamten westlichen Welt genommen. Grundlage des Abschnitts zu Haldane ist dessen einflussreiches Buch Daedalus or Science and the Future,5 welches 1923 erschienen ist. Der Abschnitt zu Bernal konzentriert sich auf dessen Buch The World, The Flesh, and the Devil6 von 1929. Im Zentrum des Huxley-Abschnitts steht sein Buch What Dare I Think?7 von 1931. Abschließend werden die bei den drei Autoren gefundenen Motive zusammengefasst.

II. John Burdon Sanderson Haldane Haldane beginnt seinen 1923 veröffentlichten Vortrag mit einer Reflexion über die seines Erachtens zunehmende Wissenschaftsfeindlichkeit bzw. Angst vor den Auswirkungen der Naturwissenschaften. Wird die vom Menschen entfesselte Technik ihn vernichten oder wird der Mensch, wie es Samuel Butler nahe legt, gar auf den Status eines Parasiten, eines eigentlich unnötigen Anhängsels der Maschinen reduziert werden? Ist der maschinenmäßig denkende Mensch, der repetitiver Arbeit nachgeht, das Ziel, auf das die Menschheit zusteuert?8 Ähnlich wie Bernal geht Haldane auf die Frage nach der Möglichkeit von Zukunfts-

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6 7 8

nannten »Biokosmisten« (vgl. hierzu den Beitrag von Thomas Möbius in diesem Band). John Burdon Sanderson Haldane: Daedalus or Science and the Future, London: Kegan Paul, Trench, Trubner & Co 19243. Im Folgenden zitiert als Daedalus. Zur Wirkungsgeschichte des Textes vgl. Krishna Dronamraju (Hg.): Haldane’s Daedalus Revisited, Oxford: Oxford University Press 1995. John Desmond Bernal Bernal: The World, the Flesh & the Devil, Indiana University Press: Bloomington and London 1929. Julian Sorell Huxley: What Dare I Think?, London: Chatto und Windus 1931. Vgl. Daedalus, S. 1ff. Haldane bezieht sich hier auf Samuel Butlers satirische Utopie Erewhon, or Over the Range (1872) (Der Titel Erewhon ergibt rückwärts gelesen »nohwere«, ein Anagramm von »nowhere«, und spielt damit auf den Begriff der Utopie (Nichtort) an. 43

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prognosen ein. Er bezieht sich auf eine von H.G. Wells 1901 in seinem Buch Anticipations9 gemachte Vorhersage, dass es erst ab 1950 brauchbare Flugmaschinen (Ballone) geben wird, die sich im Krieg einsetzen lassen werden. Haldane betont, dass er keine vorschnelleren Weissagungen in seinem Text machen wird als Wells. Er geht davon aus, dass seine eigenen Prophezeiungen der folgenden Generation genauso konservativ und phantasielos erscheinen werden wie seiner Generation die von Wells. Wells ging noch von der Physik und der Chemie als Leitwissenschaften aus und nicht von der Biologie, die nun deren Nachfolge angetreten habe (Daedalus, S. 10f.). Haldane macht klar, dass die »Condorcets, Benthams, and Marx of the future« rücksichtlose Kritiker der Metaphysik und der Ethik ihrer Zeit sein werden, sich aber ihrer eigenen Position lange nicht so sicher sein können wie Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts. Wie in der Physik würde sich in der Ethik herausstellen, dass die Welt komplizierter ist, über mehr Dimensionen verfügt, als man bisher annahm (Daedalus, S. 17). Nach dieser knappen Prognose wendet sich Haldane den möglichen technischen Fortschritten zu. Beinahe sicher ist er sich, dass die Elektrifizierung der Städte, dank fallender Strompreise, fortschreiten wird und dass es um 1970 herum in den Städten keine Nacht mehr geben wird. Die Entwicklung der Kommunikationstechniken wird weiter voranschreiten und es den Menschen erlauben, unabhängig von ihrem Standort auf der Erde in Sekundenbruchteilen miteinander zu kommunizieren (Daedalus, S. 19f.). Eine der wichtigsten Bedingungen für einen kontinuierlichen Fortschritt ist die ausreichende Versorgung mit technisch nutzbaren Energieformen. Haldane zeichnet die unerschöpflichen Energiequellen Wind und Sonne vor der Wasserkraft aus, da diese nicht überall in ausreichendem Maße zur Verfügung stehe (Daedalus, S. 23). Große Potentiale sieht Haldane in der Biochemie. Die meisten der chemischen Substanzen mit physiologischen Eigenschaften sind seiner Ansicht nach untauglich für den täglichen Gebrauch oder, wie etwa Morphium hochtoxisch. All diese Substanzen haben unerwünschte Nebenwirkungen, die aber, wie im Fall des gemäßigten Genusses von Wein, Kaffee und Tabak, von den positiven Wirkungen aufgehoben werden. Sie tragen zur Annehmlichkeit des Lebens und zur Entfaltung der höheren menschlichen Fähigkeiten bei (Daedalus, S. 35ff.). Wichtiger als die Neu- oder Weiterentwicklung solcher Substanzen sei jedoch die Entwicklung von Nahrungsmitteln. Innerhalb von etwa 120 Jahren müsse es möglich werden, alle Nahrungsmittel, die der Mensch zum Überle9

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Herbert G. Wells: Anticipations of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress Upon Human Life and Thought, Mineola: Dover Publications Inc. 1999.

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ben braucht, aus einfachen Grundstoffen wie Kohle und Stickstoff herzustellen (Daedalus, S. 38). Der Niedergang der Landwirtschaft wäre unvermeidlich, der Landarbeiter würde zusehends durch den Fabrikarbeiter ersetzt. Synthetische Nahrungsmittel würden u. a. Düngemittelfabriken und Schlachthäuser ersetzen und dazu führen, dass die Städte nicht mehr von ihrem Umland abhängig sind, sondern sich selbst versorgen können (Daedalus, S. 39). Die Prognosen seiner Zeitgenossen hinsichtlich der Anwendung biologischer Erkenntnisse auf das menschliche Leben hält Haldane für zu konservativ, meist ginge es um beträchtliche Fortschritte in der Medizin und der Chirurgie, um eine Verbesserung domestizierter Pflanzen und Tiere und die Einführung einiger eugenischer Maßnahmen. Die eugenischen Maßnahmen beschränken sich in diesen Vorhersagen Haldane zufolge meist auf das gezielte Zusammenbringen von Personen. Er hält eine solche Vorstellung der Verbesserung der menschlichen Gattung durch Zuchtwahl für wenig originell: »[...] a comparatively novel idea when proposed by Plato 2,300 years ago« (Daedalus, S. 41). Außerdem ist sie seiner Auffassung nach von einem mangelnden Verständnis der menschlichen Natur bestimmt. Die Versprechen der Eugeniker würden anders als es diese erwarten nicht von der Eugenik, sondern von der Biologie erfüllt werden. Zwei Erfindungen sind für Haldane, neben der Domestizierung von Tieren und Pflanzen, von besonderer Bedeutung, die Entwicklung von Bakteriziden und die Ermöglichung künstlicher Empfängniskontrolle (Daedalus, S. 42f.). Für Haldane steht fest, dass alle wichtigen Erfindungen tiefgreifende emotionale und ethische Effekte gezeitigt hätten und dass jeder, der den technischen Fortschritt vorantreibe, ein Prometheus sei. Es gäbe keine große Erfindung, sei es das Feuer oder das Fliegen, die nicht eine Beleidigung irgendeines Gottes gewesen wäre. Während die physikalischen und chemischen Erfindungen als Blasphemien wahrgenommen würden, gälten die biologischen als Perversionen. Nahezu alle biologischen Erfindungen würden einem Beobachter, der sie nicht kennt, als unanständig und unnatürlich erscheinen (Daedalus, S. 43f.). Haldane wählt als Beispiel das Trinken von Tiermilch: »The milk which should have been an intimate and almost sacramental bond between mother and child is elicited by the deft fingers of a milk-maid, and drunk, cooked, or even allowed to rot into cheese. We have only to imagine ourselves as drinking any of its other secretions, in order to realise the radical indecency of our relation to the cow.« (Daedalus, S. 45)

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Heute erscheint uns das Trinken von Milch dagegen als völlig natürlich. Die Konzentration auf Prometheus verhindere, wie Haldane anmerkt, aber die Würdigung einer weiteren wichtigen mythologischen Figur, die des im Titel auftauchenden Daedalus. Haldane beschreibt Daedalus, mit der Ironie, die seinen gesamten Text durchzieht, als den ersten modernen Menschen, da er der erste gewesen sei, der gezeigt habe, dass das wissenschaftliche Arbeiten nichts mit den Göttern zu tun hat (Daedalus, S. 46ff.). Biologische Erfindungen tendieren Haldane zu Folge dazu, als Perversionen zu beginnen und als von unbegründeten Vorurteilen gestützte Rituale zu enden. Er rechnet in Zukunft mit weiteren Schocks wie dem durch Darwin ausgelösten: »One cannot suggest in detail what these shocks will be, but since the opinions on which they will impinge are deep-seated and irrational, they will come upon us and our descendants with the same air of presumption and indecency with which the view that we are descended from monkeys came to our grandfathers.« (Daedalus, S. 52f.)

Der gesellschaftliche Effekt des medizinischen Fortschritts sei mit dem der industriellen Revolution vergleichbar. Von besonderer Bedeutung ist die Verlängerung der menschlichen Lebensspanne.10 Zwar seien die Bedingungen in den Armenvierteln der englischen Städte immer noch sehr schlecht, aber selbst dort läge die Kindersterblichkeit niedriger und sei die Lebenserwartung wesentlich höher als die der königlichen Familie im Mittelalter. Der Tod trete in der Wahrnehmung der Menschen weit zurück. Die Verlängerung der Lebensspanne würde gewaltige gesellschaftliche Auswirkungen zeitigen (Daedalus, S. 54ff.). Im Folgenden entwirft Haldane seine Vision der zukünftigen Entwicklungen innerhalb der Biologie. Die beschriebenen Entwicklungen seien möglich, ohne dass man dafür eine neue umfassende Theorie einführen müsse, der Darwinismus reiche dafür aus. Ähnlich wie Bernal führt Haldane für seine Zukunftsschau einen, wie er schreibt, Mythos ein: Ein fiktiver Essay über den Einfluss der Biologie auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts, geschrieben von einem 150 Jahre in der Zukunft lebenden Studenten (Daedalus, S. 57ff.). Dieser hält fest, dass die ersten bewussten Versuche, biologisches Wissen auf politische Probleme anzuwenden, im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts durchgeführt wur10 Vgl. zur Relevanz der Überwindung des Alterns und des Todes für den Transhumanismus und das Human Enhancement: Reinhard Heil: Transhumanismus, Nanotechnologie und der Traum von Unsterblichkeit. In: Arianna Ferrari/Stefan Gammel (Hg.): Visionen der Nanotechnologie, Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft 2009, S. 25-50. 46

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den: Die Eugeniker versuchten auf primitive Art und Weise, das biologische Wissen ihrer Zeit zu nutzen, um eine Rasse von Supermenschen zu züchten. In einigen Ländern gelang es ihnen, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen und sie scheinen es auch erreicht zu haben, die Übertragung von Erbkrankheiten einzuschränken. Allerdings hätten sie sich auch Hass und Gewalt derjenigen Klassen zugezogen, die sie eher grundlos als nicht fortpflanzungswürdig einstuften. Der medizinische Fortschritt, der dafür sorgte, dass Infektionskrankheiten praktisch verschwanden, ist von größerer Bedeutung als die Eugenik. Um das Jahr 1940 herum wurde, so der Bericht weiter, eine Purpuralge entwickelt, die in der Lage ist, der Luft große Mengen an Stickstoff zu entziehen. Als Dünger verwendet erlaubt sie es, den Feldertrag zu verdoppeln oder gar zu vervierfachen. Bedingt durch fallende Nahrungsmittelpreise und den dadurch verursachten Zusammenbruch der reinen Agrarstaaten kommt es 1943/44 zu katastrophalen Ereignissen. 1942 entkommt eine der neuen Algenzüchtungen ins Meer und vermehrt sich enorm. Zwei Monate lang ist der tropische Atlantik mit einem Gelee aus Algen überzogen, was katastrophale Folgen für das europäische Klima hat. Einige Planktonarten sind in der Lage, die Algen zu verdauen, was zu einem Anwachsen der Fischpopulationen führt, Fisch als Universallebensmittel etabliert und selbst England von Lebensmitteleinfuhren unabhängig macht. Bedingt durch die Algeninvasion erlangen die Ozeane die intensive Purpurfärbung, die im 21. Jahrhundert als natürlich wahrgenommen wird. Im Jahr 1951 wird das erste Kind per Ektogenese »produziert«: Die Forscher entnahmen den außerhalb des Körpers am Leben erhaltenen Eierstöcken eines weiblichen Unfallopfers Eier und befruchteten sie. Die vollständig entwickelte Technik erlaubt es, Eierstöcke zwanzig Jahre lang zu erhalten, ihnen jeden Monat ein befruchtetes Ei zu entnehmen und mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zu befruchten. Aldous Huxley hat dieses imaginäre Verfahren in seinem Buch Schöne neue Welt11 aufgegriffen. Haldanes fiktiver Student berichtet weiter, dass zu seinen Lebzeiten mehr als 70% aller Kinder per Ektogenese gezeugt würden. Die Folgen für die menschliche Psychologie und das Sozialleben – die Trennung von sexueller Liebe und Reproduktion – sind problematisch. Doch die positiven Selektionseffekte sind seiner Meinung nach höher einzuschätzen: Für die Fortpflanzung werden nämlich nur Personen ausgewählt, die den Durchschnitt übertreffen. Dies führt zu einer stetigen Verbesserung von Generation zu Generation – von einem erhöhten Output an erstklassigen Musikern bis hin zur Verringerung der

11 Aldous Huxley: Schöne neue Welt, übers. von Herbert E. Herlitschka, Frankfurt/Main: Fischer 1975. 47

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Verurteilungen wegen Diebstahls. Außerdem sei die Ektogenese von größter Bedeutung für die Zukunft der Menschheit: »Had it not been for ectogenesis there can be little doubt that civilisation would have collapsed within a measurable time owing to the greater fertility of the less desirable members of the population in almost all countries.« (Daedalus, 66f.)

Hier bricht Haldane ab, auch wenn, wie er schreibt, der Student noch über radikalere Fortschritte berichten könnte. Durch die Trennung von Reproduktion und Sex mittels Ektogenese würde die Menschheit wirklich frei. Auch die Hoffnungen der Eugenik würden sich erst mit der Ektogenese erfüllen, da sich jetzt eine effektive Selektion durchführen lasse und nur überdurchschnittlichen Individuen die Fortpflanzung erlaubt würde. Haldane sieht, ähnlich wie Bernal und Huxley, die Möglichkeit, die physiologischen Hindernisse zu überwinden, die den Menschen an der Entfaltung seiner Fähigkeiten hindern. Bereits jetzt wisse man, dass bestimmte geistige Fähigkeiten von der richtigen Funktion bestimmter Drüsen abhängen und dass schon geringfügige Änderungen ihrer Funktion große Auswirkungen haben können. Mit steigendem Wissen sollte es Haldane zu Folge möglich sein, beispielsweise unsere Emotionen auf direkte Art und Weise zu kontrollieren, unsere Einbildungskraft mit Mitteln zu steigern, die weniger Nachwirkungen haben als Alkohol, und Menschen mit anomalen Instinkten physiologisch zu behandeln anstatt sie einzusperren. Die Abschaffung aller Krankheiten würde dazu führen, dass der Tod eher wie ein Schlaf wahrgenommen würde und seinen Schrecken verlöre (Daedalus, S. 71ff.). Haldane setzt große Hoffnungen in die sich gerade etablierende Psychologie. Diese sei zwar noch keine echte Wissenschaft, aber die Möglichkeiten, mittels Hypnose und Suggestion auf das Unbewusste Einfluss zu nehmen oder gar in spirituellen Kontakt mit Wesen aus einer anderen Welt zu treten, seien von großer Relevanz (Daedalus, S. 74ff.).12 Für Haldane ist der Biologe die romantischste und damit auch tragischste Figur, die es zu seiner Zeit gibt. Die Arbeit eines ganzen Lebens kann durch eine neue Erkenntnis über Nacht vernichtet werden (Daedalus, S. 77). Haldane warnt die Konservativen vor denjenigen Wissenschaftlern, die nicht mehr die Sklaven ihrer Leidenschaften sind, sondern deren größte Leidenschaft der Verstand ist: 12 Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war das allgemeine und auch das wissenschaftliche Interesse am Spiritismus sehr groß. Die Teilnahme an Seancen etc. war durchaus gesellschaftsfähig. 48

HUMAN ENHANCEMENT – EINE MOTIVSUCHE

»These are the wreckers of outworn empires and civilisations, doubters, disintegrators, deicides.« (Daedalus, S. 78)

Wissenschaftler sähen sich zwar nicht als Revolutionäre, aber einige von ihnen hätten doch weitreichende Träume. Haldane zählt sich zu diesen und merkt an, dass seine Träume vielleicht schlechte Träume sein mögen und es schwer sei, sichere Vorhersagen zu machen, aber dass die Wissenschaften das menschliche Leben grundlegend verändern werden, steht für ihn außer Frage. Er hofft allerdings, dass einige Aspekte der menschlichen Existenz von den Veränderungen verschont werden, wie beispielsweise das Familienleben (Daedalus, S. 80). Wissenschaft hat für Haldane drei Bedeutungen: 1. versteht er sie als die freie Aktivität des menschlichen Verstandes und der menschlichen Einbildungskraft; 2. ist sie die Antwort auf das allgemeine Verlangen nach Wohlstand und Komfort; 3. steht sie für die allmähliche Eroberung von Raum und Zeit, der Materie und des Lebens sowie für die Unterwerfung der dunklen und bösen Elemente der Seele. Haldane macht auch auf das Gefahrenpotential aufmerksam, dass mit dem wissenschaftlichen Fortschritt verbunden ist. Die Frage, wie und für was die Erkenntnisse verwertet werden sollen, fällt für ihn allerdings nicht mehr in den Bereich der Wissenschaft, sondern in die Bereiche der Religion und der Ästhetik (Daedalus, S. 81f.). Die Wissenschaften stecken noch in den Kinderschuhen, ihre weitere Entwicklung lässt sich nicht wirklich vorhersagen, aber für Haldane steht fest, »that no beliefs, no values, no institutions are safe« (Daedalus, S. 87). Überkommene Moralvorstellungen dürfen seines Erachtens nicht zu ernst genommen werden, es sei notwendig, die menschliche Moral und die menschlichen Fähigkeiten aufeinander abzustimmen und da jede Religion an irgendwelchen unveränderbaren Dogmen festhält, bleiben Wissenschaft und Religion unversöhnbar (Daedalus, S.88ff.).

III. John Desmond Bernal John Desmond Bernal (1901-1971)13, Kristallograph, Wissenschaftstheoretiker, Wissenschaftshistoriker und politischer Aktivist,14 hat nicht nur 13 Vgl. zu Bernal u. a.: Andrew Brown: J.D. Bernal. The Sage of Science, Oxford: Oxford University Press 2007; Francis Aprahamian/Brends Swann (Hg.): J.D. Bernal – A Life in Science and Politics, London/New York: Verso 1999. 14 Bernal ist ein wichtiger Akteur innerhalb der so genannten Social Relations of Science Movement. 49

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mit seinem 1939 erschienenen Buch The Social Function of Science15 die Grundlage für die heutigen Science and Technology Studies (STS) gelegt, sondern mit dem 1929 erschienenen The World, The Flesh & The Devil auch eine Studie zur möglichen Zukunft des Menschen und der menschlichen Gesellschaft vorgelegt. Der Titel ist eine ironische Anspielung auf ein altes theologisches Motiv, das im englischen Sprachraum vor allem aus der Litanei im anglikanischen Book of Common Prayer bekannt ist: »[F]rom all the deceits of the world, the flesh, and the devil, Good Lord, deliver us.« 16

Der neue Gott Bernals ist der Mensch. Bisher, so Bernal, war die Entwicklung des Menschen an den Evolutionsprozess gebunden. In diesen blinden Prozess könne er nun auf intelligente Art eingreifen und ihm so eine Richtung geben. Damit begonnen haben bereits unsere affenähnlichen Ahnen: Sie hätten, als sie zum ersten Mal Werkzeuge gebrauchten, bereits die Struktur ihres Körpers erweitert.17 Solche Erweiterungen betreffen aber nicht die Zellebene des Körpers, sondern bleiben äußerlich. Mit der Entwicklung der Chirurgie und einem verbesserten Verständnis der menschlichen Physiologie wird es zum ersten Mal möglich werden, den menschlichen Körper radikal zu verändern. Die Evolution, wie effektiv sie bisher auch gewesen sein mag, bleibt darauf beschränkt, bestehende Strukturen zu verändern. Auch der Mensch wird sich, laut Bernal, auf die Veränderung und Anpassung bestehender Strukturen konzentrieren, aber er ist dabei nicht auf die Mittel der Natur zur Erzeugung von Veränderungen beschränkt. Für ihn sind beispielsweise die Gliedmaßen des Menschen über weite Strecken bloße Parasiten, da sie viel Energie verbrauchen und den gesteigerten Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Der Mensch benötigt, um sich den verändernden Bedingungen anpassen zu können, komplexere motorische und sensorische Fähigkeiten als bisher. Wichtiger noch sei die Verbesserung der kognitiven Mechanismen. Entweder muss der Mensch in der Zukunft den nutzlosen Teilen seines Körpers neue Funktionen zuweisen oder sich gänzlich von ihnen trennen bzw. sie durch effektivere Systeme ersetzen.18 15 John Desmond Bernal: The Social Function of Science, London: Routledge 1939. 16 The Book of Common Prayer, And Administration of the Sacraments, And Other Rites And Ceremonies Of The Church, According To The Use Of The United Church Of England And Ireland [1549], Oxford: Clarendon Press 1815, S. 49. 17 J. Bernal, The World, The Flesh and The Devil, S. 31. 18 Ebd., S. 33. 50

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Bernal identifiziert die drei Feinde einer jeden rationalen bzw. vernünftigen Seele: die Welt (die Natur), das Fleisch (die Physis) und den Teufel (die Psyche). An drei Fronten kämpft der Mensch seit seiner Entstehung: 1. kämpft er mit den Kräften der Natur (Hitze, Kälte, Wind, Flüsse, Materie und Energie); 2. mit Tieren, Pflanzen, Krankheiten und seinem Körper und 3. mit seinen Wünschen und Ängsten, seinen Vorstellungen und Beschränkungen. Der Mensch, so Bernal, wird sich selbst in größerem Umfang verändern, als er dies mit seiner materiellen Umwelt tut. Dies festzuhalten, erscheint mir von Bedeutung. Ging es bisher darum, die äußere Natur dem Menschen untertan zu machen, mit einem Wort, sie dem Menschen anzupassen, soll nun der Mensch seiner Umgebung angepasst werden.19 Bereits 1929 tritt Bernal, ähnlich wie Huxley und Haldane, für den Übergang vom »engineering for the body and for the mind« zum »engineering of the body and of the mind«20 ein. Ansatzpunkt hierfür ist unter anderem das Keimplasma. Gelänge es, die Kontrolle über das Erbgut zu erhalten, so könne man eine ähnliche Variationsbreite der Spezies Mensch erreichen, wie sie beispielsweise die Spezies Hund aufweist. Bernal hält sogar die Entstehung neuer Spezies für möglich. Im Unterschied zu Huxley, wie noch deutlich werden wird, setzt Bernal wesentlich stärker auf eine zunehmende Technisierung des menschlichen Körpers bzw. auf die Umformung des biologischen Körpers hin zu einer Cyborg-Existenz. Ähnlich wie heutige Technovisionäre setzt Bernal prinzipiell alles als verwirklichbar voraus, was nicht gegen die Gesetze der Physik verstößt. Zwar beginnt er seinen Text mit Hinweisen auf die mit weitreichenden Prognosen verbundenen Schwierigkeiten, er löst sich aber bald von diesen Einschränkungen und beginnt, wie er selbst schreibt, eine Fabel zu erzählen. Ausgangspunkt seiner Geschichte ist der perfekte Mensch, wie ihn sich die Eugeniker und Ärzte seiner Zeit vorstellten: ein Mensch, der zwar bis zu 120 Jahre alt werden kann, aber sterblich bleibt und die Bürde seiner Sterblichkeit fühlt. Für Bernal ist das entscheidende Organ des menschlichen Körpers und letztendlich das einzige, welches wirklich zählt, das Gehirn. Alle anderen Organe können letztlich ersetzt oder angepasst werden, oder es kann, falls sie keine Funktion mehr erfüllen, völlig auf sie verzichtet werden. Beispielsweise bedürfte der menschliche Sinnesapparat dringend der Erweiterung um Fähigkeiten zur Wahr19 Vgl. ausführlich Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H. Beck 19947. 20 Alfred Nordmann: If and Then: A Critique of Speculative NanoEthics. In: NanoEthics, 2007, 1:1, S. 31-46. 51

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nehmung von elektromagnetischen Wellen jenseits des sichtbaren Lichtes wie Infrarot-, Ultraviolett- und Röntgenstrahlen und zur Wahrnehmung von Ultraschallwellen. Nach der Ansicht Bernals wären auch geeignete Sensoren für hohe und niedrige Temperaturen, für elektrische Potentiale und für andere physikalische Größen von großer Bedeutung.21 Der neue Mensch wird eine physische Plastizität aufweisen, die über diejenige von unveränderten Menschen weit hinausgeht; er wird in der Lage sein, seine Wahrnehmungen und seine Handlungsfähigkeiten unendlich zu erweitern, indem er sich mit unterschiedlichsten Organen verbindet. Dieser letzte Zustand lasse sich nur schlecht beschreiben, da er ständig im Fluss sein werde, und es keinen Grund dafür gäbe, dass sich alle Menschen auf dieselbe Art und Weise verändern werden. Bernal versucht sich aber trotzdem an einer Beschreibung22: In einem gegen Stöße gesicherten Zylinder befindet sich umgeben von der Cerebrospinal-Flüssigkeit das Gehirn. Ständig bei Bewusstsein, ist es über Nervenbahnen mit unterschiedlichen Sensoren verbunden. Die Wahrnehmungen werden bewusster und weniger emotional sein, als wir es kennen. Zwar werde der Tank auch Bewegungsmöglichkeiten bieten, diese würden aber wohl nur selten genutzt, da die Erweiterung der Sinnesorgane sie als eher nutzlos erscheinen lassen.23 Der neue Mensch muss, so Bernal, dem zeitgenössischen Menschen wie eine fremde, monströse und unmenschliche Kreatur erscheinen, er sei aber nur das logische Ergebnis der Fortentwicklung der heutigen Menschheit.24 Der »normale« Mensch ist eine evolutionäre Sackgasse, der »mechanische« Mensch bricht mit der biologischen Evolution und führt sie in eigener Regie weiter. Entscheidender noch als die Mechanisierung des Menschen wären für Bernal aber die Folgen, die sich ergäben, wenn man Nervenbahnen nicht nur mit elektronischen Geräten verbinden könnte, sondern die Nervensysteme zweier oder mehrerer Menschen untereinander. Anfangs würde dies nur eine schnellere und bessere Möglichkeit des Gedankenaustausches bedeuten, die nötig sein werde für das kooperative Denken in der Zukunft.25 Dauerhafte Verbindungen dieser Art würden dann dazu führen, dass die miteinander Vernetzten wie ein dualer oder multipler Organismus funktionieren würden. Die miteinander verbundenen Gehirne behielten zwar eine eigene Individualität, da die Vernetzung innerhalb 21 J. Bernal, The World, The Flesh and The Devil, S. 33ff. 22 Ebd., S. 38. 23 Einen ähnlichen Zustand haben wir heute durch das Fernsehen und vor allem durch das Internet erreicht. Nicht mehr Körper, sondern Informationen werden bewegt. 24 J. Bernal, The World, The Flesh and The Devil, S. 41. 25 Ebd., S. 42. 52

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eines Gehirns immer noch enger wäre als die zwischen den Gehirnen, aber durch die enge Verbindung der Gehirne würden doch zwei Beschränkungen der bisherigen menschlichen Existenz beseitigt oder zumindest verschoben werden. Erstens würde dem Tod sein Stachel genommen. Bereits der mechanische Mensch bzw. das Gehirn im Tank könnte nach der Ansicht Bernals 300 oder 400 Jahre alt werden. Er bleibt letztlich jedoch sterblich. Bedingt dadurch, dass vernetzte Gehirne Gedanken, Emotionen und Erinnerungen miteinander teilen und zu einer multiplen Individualität werden, kann man das gesamte Netz – sieht man von der vollständigen physischen Vernichtung ab – als unsterblich betrachten. Einzelne Komponenten (= Gehirne) der multiplen Individualität, die versagen, könnten vor ihrem Tod ihre Erinnerungen und Gefühle fast vollständig in den gemeinsamen Pool übertragen. Das einzelne Gehirn würde so intensiv in die Gesamteinheit eingebettet, wie man es sich heute schlicht nicht vorstellen kann. Diese Einbettung würde auch die zweite Beschränkung überwinden: die Barriere der Individualität, die es beispielsweise unmöglich macht, unsere Gefühle direkt zu vermitteln. In einem Gemeinschaftsgehirn gäbe es eine solche Barriere nicht: Gefühle würden genau wie Erinnerungen geteilt, aber ohne Verlust der Identität und Kontinuität der individuellen Entwicklung. Die Gesamtheit der Gehirne wäre in der Lage, auf eine Art wahrzunehmen, zu verstehen und zu handeln, die jenseits all dessen liegt, was einem Individuum möglich sei. Aber auch die Art und Weise, wie die einzelnen Gehirne selbst aufgebaut sind, sei verbesserungsfähig. Bernal stellt sich ein Gehirn vor, dessen einzelne funktionale Teile voneinander getrennt sind und das einen größeren Raum einnimmt. Die bessere Separierung würde es erlauben, einzelne Teile des Gehirns zu ersetzen oder zu reparieren, und dies würde wiederum dazu führen, dass das Gehirn gewissermaßen ewig existieren könnte. Selbst die Ersetzung der organischen Gehirnzellen durch synthetische würde die Kontinuität des Bewusstseins nicht zerstören.26 Wieder aufgegriffen wurde diese Idee in jüngster Zeit etwa von Hans Moravec.27 Die Verbindung zwischen den oben beschriebenen multiplen Organismen und dem biologischen Leben, aus dem sie sich entwickelt haben, würde zusehends dünner und irgendwann vollständig verloren gehen. Für Bernal hat das neue Leben zwar mit der Substanz des alten nichts mehr zu tun, es trägt und entwickelt aber dessen »Geist« weiter. Die Entstehung dieser neuen Form ist genauso folgenschwer wie die ursprüngliche Entstehung des Lebens. Eventuell, so Bernal, könnte am 26 Ebd., S. 42ff. 27 Vgl. Hans Moravec: Mind Children. Hamburg: Hoffmann und Campe 1990: S. 151ff. 53

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Ende der Entwicklung eine ätherisierte Menschheit stehen, die den engen Zusammenhang eines Organismus zugunsten einer Menge von miteinander kommunizierenden Atomen aufgibt, und sich vielleicht am Ende sogar ganz in Licht auflöst. Dies könnte ein Ende oder ein Anfang sein, doch Bernals Imaginationskraft reicht, wie er schreibt, nicht aus, um das zu entscheiden. Bernal geht davon aus, dass die von ihm vorgeschlagenen körperlichen Veränderungen die meisten seiner Leser wohl mit Ekel und Abwehr erfüllen dürften. Ihm selbst ginge es ähnlich. Zwar würden die genannten Veränderungen nicht alle auf einmal auftreten, aber es lasse sich doch festhalten, dass die Geschwindigkeit, in der Veränderungen auftreten, sich immer weiter erhöht. Je schneller sich aber die Technologie entwickelt, desto schwieriger wird es, sich diesen Veränderungen noch anzupassen und desto heftiger werden die emotionalen Reaktionen ausfallen. Bernal beschreibt hier eine Reaktion auf die sich beschleunigende technologische Entwicklung, die Alvin Toffler als »Zukunftsschock« bezeichnet hat.28 Diejenigen hingegen, die an den Entwicklungen direkt beteiligt sind bzw. in der Lage sind, sich ihnen anzupassen, erhalten zunehmend größeren Einfluss. Bernal sieht die weitere technologische Entwicklung gefährdet, da versäumt werde, diese Entwicklungen mit entsprechenden gesellschaftlichen Veränderungen zu begleiten. Dies könnte letztendlich zu einer Unterbrechung der Entwicklung führen oder sogar zu einer Aufspaltung der Menschheit in »humanizers« und »mechanizers«, welche unterschiedlichen Entwicklungspfaden folgen. Im Verständnis Bernals ist die Haupteigenschaft von Fortschritt das Ersetzen der uns mehr oder weniger zufällig gegebenen Umgebung durch eine frei geschaffene und von uns kontrollierte. Dieser Prozess wird sich fortsetzen, und die Akzeptanz, Wertschätzung und, wie Bernal schreibt, sogar das Verstehen der Natur werden immer weniger relevant werden. Wichtiger werde es sein zu entscheiden, was die wünschenswerte Form einer völlig vom Menschen kontrollierten Umgebung sei. An die Stelle von Notwendigkeiten tritt die Kunst. Allgemein sieht Bernal eine Veränderung der Emotionalität voraus, diese wird der rationalen Kontrolle unterworfen werden. Die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu kontrollieren, wäre jedoch für zeitgenössische Menschen gefährlich; eine Mehrheit von ihnen würde sich, wie Bernal vermutet, wohl dafür entscheiden, in einem Zustand ekstatischer Freude (»happiness«) zu verweilen. Die zukünftigen Menschen, so Bernals Hoffnung, dürften jedoch erkennen, dass Freude keinen Lebenszweck an sich darstellt. Die einzelnen Veränderungen, die der Menschheit bevorstehen, erscheinen jeweils 28 Alvin Toffler: Der Zukunftsschock, Bern/München/Wien: Scherz 1970. 54

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für sich genommen, wie Bernal schreibt, durchaus plausibel, das Ergebnis ihres Zusammenspiels erscheint dagegen unplausibel. Dies läge daran, dass es letztendlich nicht darum ginge, dass die Menschheit nur ihre Potentiale verwirklicht, sondern dass sie sich transformiert, zu einer oder mehreren neuen Spezies wird. Sobald ernsthaft mit der Mechanisierung des menschlichen Körpers begonnen wird, drohe eine Trennung zwischen den veränderten und den unveränderten Menschen. Es könnte zur Herausbildung einer Klasse von Technikern, Experten und solchen Menschen kommen, die ähnlich wie die Erstgenannten denken, und die Bernal zufolge etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung umfassen dürften.29 Vielleicht, fährt er fort, wird die Menschheit, hat sie erst einmal Frieden, Fülle und Freiheit erlangt, diese Klasse von Menschen, die ihre Körper entstellen oder sich selbst ins All schießen, einfach tolerieren und sie ungehindert ihren Bedürfnissen nachgehen lassen. Sobald die beiden Klassen sich weit genug auseinander entwickelt haben, werde dies wohl allerdings keine Rolle mehr spielen. Wenn der unveränderte Teil der Menschheit sich irgendwann entschlösse, die Welt von der Häresie der Wissenschaft zu befreien, sei der andere Teil vielleicht schon außer Reichweite: »science would already be on its way to the stars«30. Der Dimorphismus sei aber keine Notwendigkeit, sondern nur eine mögliche Folge. Vor allem werde in dieser Zukunftsvision nicht ausreichend berücksichtigt, dass das System Wissenschaft in die Gesamtgesellschaft eingebettet und auch von dieser abhängig ist. Bernals Zukunftsvision ist von ihrer Grundanlage her technokratisch. Der Verstand ist es, der den Menschen auszeichnet, und die Zukunft der Menschheit ist nur gesichert, wenn rational denkende Menschen, also Wissenschaftler, größeren Einfluss auf Politik und Gesellschaft nehmen. Der Mensch der Zukunft wird seine eigene Emotionalität kontrollieren können, er wird die Grenzen seines biologischen Körpers überwinden und damit dem Altern und dem Tod ihren Stachel nehmen. Die von Bernal geschilderte Entwicklung des Menschen vom individuellen Gehirn zum Gruppengehirn würde sogar Quasiunsterblichkeit bedeuten. Allgemein setzt er über weite Strecken Fortschritt mit wissenschaftlichem Fortschritt und diesen wiederum mit erweiterten Kontrollmöglichkeiten gleich. Ein weiteres wichtiges Element von Bernals Zukunftsvision ist die Idee der Transformation des Menschen: Nicht die Entfaltung der natürlichen Potentiale des Menschen steht im Vordergrund seiner Überlegungen, sondern die Transformation der gesamten 29 J. Bernal, The World, The Flesh and The Devil, S. 75. 30 Ebd. 55

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Gattung. Kritiker einer solchen möglichen Entwicklung befürchten eine Aufspaltung der Menschheit in »gene-rich« und »gene-poor«, also eine weitere Vertiefung der schon heute gewaltigen sozialen Unterschiede bzw. sogar eine biologische Festschreibung derselben.

I V. J u l i a n S o r e l l H u x l e y Julian Sorell Huxley war einer der bekanntesten Gelehrten Englands. Seine Forschungs- und Publikationstätigkeiten umfassten die unterschiedlichsten Gebiete von der Biologie und der Eugenik über Familienplanung und Naturschutz, politische Ökonomie und Kolonialpolitik bis hin zu Kunst, Weltanschauung und Religion. Quellen aus den 1960er und 1970er Jahren bieten »Charakterisierungen wie ›unermüdlicher Globetrotter der Wissenschaft‹, ›einer der Gründerväter der Verhaltensforschung‹, ›wichtigster Wortführer des Neodarwinismus‹, ›Wortführer der biologischen Revolution‹, ›Populärwissenschaftler Nummer Eins‹, ›vielleicht größter lebender Humanist‹, ›führender Verfechter‹, ›Prophet‹ oder ›Apostel‹ des modernen Humanismus«31. Im Humanismus sieht Huxley ein anschlussfähiges ideologisches Konzept, das es in Verbindung mit der Evolutionstheorie erlaube, »ein neues verständliches Gerüst oder System von Ideen, von Glaubensüberzeugungen und Leitsätzen« zu entwickeln, »die für die gesamte menschliche Gemeinschaft allgemein verbindlich sein können«32. Die Grundlagen des Evolutionären Humanismus findet man bereits in den Arbeiten Huxleys aus den 1930er Jahren. Seine Überlegungen bezeichnete er damals als Scientific Humanism,33 dessen Zielsetzung er wie folgt beschreibt: »Most of us would like to live longer; to have healthier and happier lives; to be able to control the sex of our children when they are conceived, and afterwards to mould their bodies, intellects and temperaments into the best possible forms; to reduce unnecessary pain to a minimum; to be able at will to whip up our energies to their fullest pitch without later ill effects. It would be pleasant to be able to manufacture new kinds of animals and plants at our pleasure, like so many chemical compounds, to double the yield of an acre of wheat or a herd of cattle, to keep the balance of nature adjusted in our favour, to banish 31 Jens Peter Green: Krise und Hoffnung. Der Evolutionshumanismus Julian Huxleys, Heidelberg: Carl Winter 1980, S. 3f. 32 Julian Huxley (Hg.): Der evolutionäre Humanismus. Zehn Essays über die Leitgedanken und Probleme, München: C.H. Beck 1964, S. 11. 33 Vgl. Julian Huxley: What Dare I Think?, London: Chatto & Windus 1931, S. 149-177. Im Folgenden zitiert mit der Sigle Dare. 56

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parasites and disease germs from the world. And there have been Utopians from Plato’s time and before it, most of whom have dreamt of controlling the stream of the race itself – not merely in its volume and quantity, but in its quality, so that humanity would blossom into a new character.« (Dare, S. 5f.)

Diese Wünsche sind 1931 zwar noch nicht erfüllbar, aber »[…] enough knowledge is there to make it clear that these biological wishes will soon be ripe for fulfilment. And their fulfilment will obviously have more intimate and more radical effects than the fulfilment of chemical and mechanical wishes, for it will be affecting men directly instead of indirectly« (Dare, S. 6f.). Die biotechnologische Revolution, wie sie Huxley bereits 1931 antizipiert, unterscheidet sich grundlegend von allen bisherigen gesellschaftlichen Umbrüchen, da zum ersten Mal die Natur des Menschen selbst zur Verfügungsmasse der Wissenschaft wird. Huxley sieht – wie auch viele heutige Naturwissenschaftler – keine sinnvolle Möglichkeit, sich dieser Entwicklung entgegenzustemmen; entscheidend sei vielmehr, sie kritisch zu begleiten und mögliche Folgen für die Gesellschaft zu antizipieren und abzufangen (Dare, S. 14f.). Bisher habe sich die Wissenschaft mehr mit der Bekämpfung von Krankheiten und der Beseitigung von Defekten beschäftigt als mit der Optimierung des Menschen auf seine maximale Leistungsfähigkeit hin (Dare, S. 48f.). Das größte Problem sei es, dass die Eingriffsmöglichkeiten auf den Zeitraum nach der Geburt beschränkt bleiben. Entscheidend ist damit »the possibility of attacking and bringing under control that earlier and more astounding part of our life-history in which a human body is produced out of a tiny speck of protoplasm« (Dare, S. 49). Bereits in den 1930er Jahren wird also die Grenze zwischen Therapie und Verbesserung unscharf. Die Hoffnung, direkten Einfluss auf die Keimbahn nehmen zu können, ist der entscheidende Unterschied zwischen Huxley, Haldane, Muller und anderen einerseits und den früheren Evolutionstheoretikern und Eugenikern i. S. Galtons andererseits. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Biotechnologien – vor allem der Gentechnik – ist das Erreichen dieses Ziels näher gerückt. Huxley denkt darüber nach, ob es durch den Einsatz künstlicher Gebärmütter möglich sein könnte, das menschliche Gehirn weiter zu vergrößern, da die Größe des menschlichen Schädels von der Größe des Geburtskanals beschränkt wird (Dare, S. 54f.). So offensiv wie wohl kaum ein anderer Autor vertritt er die Meinung, dass der Mensch dazu gezwungen ist, seine weitere Evolution selbst zu übernehmen. Wir könnten uns dieser Aufgabe gar nicht entziehen, sondern zur Debatte stehe lediglich, ob wir diese Aufgabe in bewusster Eigenregie weiterführen oder eher unbewusst. 57

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»It is as if man had been suddenly appointed managing director of the biggest business of all, the business of evolution – appointed without being asked if he wanted it, and without proper warning and preparation. What is more, he can’t refuse the job. Whether he wants to or not, whether he is conscious of what he is doing or not, he is in point of fact determining the future direction of evolution on this earth. That is his inescapable destiny, and the sooner he realizes it and starts believing in it, the better for all concerned.«34

Die Entdeckung der Relevanz der Hormone für die menschliche Entwicklung eröffnet nach Huxley weitere Möglichkeiten, auf Physis und Psyche des Menschen einzuwirken. Wenn die Wissenschaft in der Lage wäre, die sich aus der weiteren Erforschung der menschlichen Hormondrüsen ergebenden Kontrollmöglichkeiten zu nutzen, so könnte sie den Körperbau und die Psyche des Menschen gezielt gestalten und verändern (Dare, S. 60f.). Die gegebenen Möglichkeiten werden zu Huxleys Zeit nur zur Krankheitsbehandlung und nicht zur Optimierung eingesetzt. Es geht ihm aber nicht nur um das Heilen Kranker, sondern auch um die Beseitigung bzw. Kontrolle von Abweichungen der unterschiedlichsten Art, wie schlechter Allgemeinzustand, Hypersensibilität, frühzeitige Fettsucht, vorzeitiges Altern oder Ungestümheit, die nicht manisch genannt werden kann, aber den Träger immer in heikle Situationen bringt (Dare, S. 61). Ähnlichen Zielsetzungen folgt heute allenthalben die Pharmaindustrie. Immer weitere Bereiche von Normabweichungen werden Gegenstand der Pharmazie. Zu Huxleys Zeiten besitzt die Wissenschaft noch nicht die notwendigen Kenntnisse, aber er ist optimistisch und sieht enormen Handlungsbedarf: »Would it not be admirable if we were in a position to remedy such flaws? would it not be convenient if we were able to adjust our temperament – within reason – to our circumstances?« (Dare, S. 63)

Den von Huxley gesetzten Zielen kommen wir heute immer näher. Bereits 1931 beschreibt er die mit »smart drugs« verbundenen Möglichkeiten und Hoffnungen, wobei er diese mindestens genauso offensiv darstellt wie heutige Vertreter von Human Enhancement: »It should not be impossible to work out a combination of pharmacological substances, each in the right amount and right proportion, which would be capable of toning up a man’s faculties by say ten per cent., and yet having no bad after-effect by our nervous, rushing modern lives.« (Dare, S. 68) 34 Julian Huxley: Transhumanism, in: ders.: New Bottles for New Wine. Essays by Julian Huxley, London: Chatto & Windus 1957, S. 13-17. 58

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Auffällig ist, dass Huxley an dieser Stelle darauf setzt, den Menschen seiner gesellschaftlichen Umwelt anzupassen und nicht umgekehrt. Seine Überlegungen stehen in direktem Zusammenhang mit der Entdeckung der Relevanz der Hormone für die menschliche Entwicklung. Dieselben Hoffnungen, die Huxley in die Erforschung der Hormone setzt, finden sich auch bei den heutigen Befürwortern von Cognitive Enhancement. Im Zentrum stehen hier diejenigen Hormone, die grundlegenden Einfluss auf das menschliche Gehirn nehmen (Serotonin, Dopamin etc.). Die von Huxley beschriebenen Hoffnungen und Möglichkeiten, den Menschen physisch wie psychisch zu verändern, hat sein Bruder Aldous Huxley in seinem Roman Schöne neue Welt35 aufgegriffen und kritisiert. Gerade Formulierungen wie: »It would be an even greater triumph for medicine if it could invent something which would make the average well man feel better, and persuade the population at large to adopt it, so that not thousands but millions would simultaneously be taking their ‘little daily dose.’« (Dare, S. 69)

erinnern sofort an das berühmte »Soma« aus Schöne neue Welt. Huxley selbst ist sich der gesellschaftlichen Herausforderungen durchaus bewusst, die mit den neuen biotechnischen Möglichkeiten verbunden sind, und verweist auf die großen Herausforderungen, die für die Menschheit damit verbunden sind. Prinzipiell ist er jedoch optimistisch und nutzt ein heute als klassisch zu bezeichnendes Argumentationsmuster: »This new practical control will in many respects have more fundamental effects than the old, since it will be exerting its influence not on the nature around man, but upon man himself. The prospect is disturbing, in some ways perhaps even alarming. But that is all the more reason for facing it in time and in the right spirit. There will be no preventing its coming, no possibility of holding back the tide. But we can prevent its advance being piecemeal and haphazard, and can use our imaginations ahead of the event.« (Dare, S. 72)

Die Entwicklung als solche lässt sich seiner Ansicht nach nicht aufhalten, sie lässt sich nur antizipieren und hoffentlich kontrollieren. Huxley ist aber auch kein reiner Fortschrittsapologet36 und erkennt keineswegs in jeder wissenschaftlich-technischen Innovation auch gleich einen gesellschaftlichen Fortschritt: 35 Aldous Huxley; Schöne neue Welt, übers. von Herbert E. Herlitschka, Frankfurt/Main: Fischer 1975. 36 Vgl. Julian Huxley: A Re-Definition of Progress, in: ders.: New Bottles for New Wine. Essays by Julian Huxley, London: Chatto & Windus 1957, S. 18-40. 59

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»Man as scientist can provide practical control of phenomena. It is for man as man to control that control.« (Dare, S. 73)

V. S c h l u s s Die Zukunft der Menschheit hängt für Bernal, Haldane und Huxley davon ab, ob und inwieweit der Mensch Kontrolle über seine Weiterentwicklung ausübt. Dies wird notwendig, da die Menschheit, bedingt durch ihre kulturellen und technologischen Leistungen, die natürliche Selektion ausgesetzt hat. Durch den zukünftigen technologischen Fortschritt wird es möglich, die menschliche Physis und Psyche direkt zu manipulieren, um erstens die sich durch das Aussetzen der natürlichen Selektion anhäufenden genetischen Schäden korrigieren zu können und zweitens grundsätzlichen Mängeln der menschlichen Natur abzuhelfen. Je nach Autor sollen diese Manipulationen in unterschiedlichem Umfang dazu beitragen, den Menschen besser an seine natürliche wie kulturelle Umgebung anzupassen. Entscheidend sind hier insbesondere die prognostizierten Möglichkeiten, direkt das menschliche Erbgut zu manipulieren und den gesamten Entwicklungsprozess des Menschen in vitro ablaufen lassen zu können. Während für Haldane und Huxley eine mögliche Cyborgisierung des Menschen keine Rolle spielt, ist sie für Bernal von großer Bedeutung. Einig sind sie sich allerdings darüber, dass der Mensch der Zukunft in einem höheren Grade zur emotionalen Selbstkontrolle fähig sein und insgesamt rationaler handeln wird. Positiv stehen die Autoren auch der Verlängerung der menschlichen Lebensspanne bis hin zur Unsterblichkeit gegenüber. Mögliche Gefahren37 für die menschliche Zivilisation werden durchaus antizipiert, etwa die Möglichkeit der Aufspaltung der menschlichen Gattung in genetisch unterschiedliche Arten, aber diese Gefahren sind ihres Erachtens gegenüber den zu erwartenden positiven Folgen zu vernachlässigen. Die Texte sind von einem prinzipiellen Fortschrittsoptimismus bzw. -determinismus durchzogen. Der wissenschaftliche Fortschritt wird sich nicht aufhalten lassen. Bernal, Haldane und Huxley gehen davon aus, dass die von ihnen antizipierte Zukunft der Menschheit für viele (unwissende) Menschen eher abschreckend wirkt. Alle hier angeführten Motive finden sich in den heutigen Diskussionen über Human Enhancement und insbesondere im zeitgenössischen Transhumanismus wieder.

37 »The future will be no primrose path« (Daedalus, S. 87) 60

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J.S. Huxley, J.D. Bernal, J.B.S. Haldane, H.J. Muller, J. Lederberg sowie ihre heutigen Nachfolger bewegen sich in der von Francis Bacon38 gebahnten Spur. Bacon führt unter dem Titel »Magnalia Naturae« eine Liste von wissenschaftlichen Zielsetzungen bzw. Aufgaben an. Diese Liste enthält unter anderem die folgenden Einträge: Verlängerung des Lebens, teilweise Wiederherstellung der Jugend, Verlangsamung des Alterns, Heilung bisher unheilbarer Krankheiten, Linderung von Schmerzen, Steigerung von Kraft und Leistung, Steigerung der Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, Änderung des Aussehens, der Statur und physischer Eigenschaften, Erhöhung der intellektuellen Fähigkeiten, Erzeugung neuer Spezies, Umwandlung einer Spezies in eine andere, Erzeugen von Nahrungsmitteln aus bisher ungenutzten Substanzen und größere Sinnesvergnügungen.39 In Bacons Liste finden sich bereits alle Motive, die auch heute noch auf den Agenden vieler Wissenschaftler zu finden sind. Was sich verändert hat, sind das gesellschaftliche Umfeld und die zu ihrer Verwirklichung zur Verfügung stehenden Technologien.

Literatur Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H. Beck 19947. Aprahamian, Francis/Swann, Brends (Hg.): J.D. Bernal – A Life in Science and Politics. London/New York: Verso 1999. Bacon, Francis: Magnalia Naturae, in: The Works of Francis Bacon, edited by James Spedding, Robert Leslie Ellis and Douglas Denon Heath, Vol. 5, Boston: Houghton Mifflin 1900ff., S. 415-416. Bernal, John Desmond: The World, the Flesh & the Devil, Bloomington /London: Indiana University Press 1929. : The Social Function of Science. London: Routledge 1939. The Book of Common Prayer, And Administration of the Sacraments, And Other Rites And Ceremonies Of The Church, According To The Use Of 38 Vgl. zu New Atlantis Richard Saage: Bacons »Neu-Atlantis« und die klassische Utopietradition, in: UTOPIE kreativ, H. 93 (Juli) 1998, S. 57-69. »Ist auch der ktionale Gehalt von Neu-Atlantis im Vergleich zu den sozio-politischen Rahmenbedingungen der englischen Herkunftsgesellschaft der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eher gering, so wird doch eine entscheidende utopische Distanz zu dem gesellschaftlichen Kontext, in dem Bacons Entwurf entstand, dadurch erreicht, daß ihr Autor die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik auf ein Niveau hebt, welches erst im 20. Jahrhundert verwirklicht werden sollte.« (ebd., S. 68f.) 39 Francis Bacon: Magnalia Naturae, in: The Works of Francis Bacon, Vol. 5, S. 415-416. 61

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Zum m ythischen Kontext der Debatte über Huma n Enha nce me nt CHRISTOPHER COENEN Abstract: Futuristische Essays der renommierten Naturwissenschaftler J.B.S. Haldane und J.D. Bernal können als wichtige Grundlagen des heutigen Diskurses über Human Enhancement gelten. Als mythopoetische Quellen der aktuellen Debatte verdienen sie Beachtung, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zwischen biologisch-technischen und gesellschaftlich-politischen Zukunftsvisionen. In dem vorliegenden Beitrag wird zu diesem Zweck der Blick noch weiter zurück gerichtet, in die Zeit zwischen den 1870er und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Anhand zweier Publikationen von W. Reade und H.G. Wells wird der Kern der auf Human Enhancement zielenden »transhumanistischen Zukunftsvision« diskutiert. Des Weiteren finden einige kritische, zum Teil selbst mythopoetische Reaktionen auf diese Vision Beachtung, insbesondere die J.R.R. Tolkiens. Abschließend werden Vorschläge zur Deutung dieses mythischen Ensembles gemacht.

I . D i e f r ü h e t r a n s h u m a n i s t i s c h e Z u k u n fts v i s i o n Vorbereitet insbesondere durch den naturwissenschaftlich gebildeten Schriftsteller Herbert George Wells (1866-1946) wurden im Großbritannien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Mythen geschaffen, die noch in den heutigen Diskussionen über die so genannten Technowissenschaften wirksam sind. Im Besonderen gilt dies für die Debatte über Human Enhancement. Bereits in den 1920er Jahren wurden wesentliche Themen und wissenschaftlich-technische Visionen der aktuellen Debatte in Essays verschiedener Naturwissenschaftler vorweggenommen.1 Zu nennen 1

Vgl. Heil in diesem Band; Christopher Coenen: »Transhumanismus und Utopie«, in: Rolf Steltemeier u. a. (Hg.): Neue Utopien, Heidelberg: Manutius 2009, S. 135-168; ders.: »Transhumanismus«, in: Eike Bohlken/ 63

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sind in diesem Zusammenhang insbesondere John Burdon Sanderson Haldane (1892-1964) und John Desmond Bernal (1901-1971), die beide – wie Wells – auch noch bei heutigen Mythopoeten der Technowissenschaft (z. B. in den transhumanistischen Organisationen) hohes Ansehen genießen. Die Essays dieser frühen Verfechter von Human Enhancement, in denen erklärtermaßen rational über die Zukunft von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft spekuliert wird, können als Grundlagentexte der »transhumanistischen Zukunftsvision« gelten. Diese lässt sich, wenn nicht als eigenes Genre, so doch als eigenständige literarische und ideengeschichtliche Tradition begreifen und steht in engem Zusammenhang vor allem mit der Zukunftsutopie und der Science-Fiction.2 Konzentriert man sich auf die englischsprachige Welt, lässt sich die transhumanistische Zukunftsvision zumindest bis in die frühen 1870er Jahre zurückverfolgen, ihre bis heute weitgehend gültige Gestalt hat sie aber erst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erhalten. Sich wissenschaftlicher Theorien (vor allem aus der Biologie, Physik, Soziologie und Geschichtswissenschaft) sowie älterer literarischer Motive, Themen und Stoffe (z. B. aus der utopischen Literatur) bedienend, schufen ihre frühen Vertreter eine reichhaltige Bild- und Vorstellungswelt, die schon kurz nach ihrer Entstehung eine Vielzahl anderer Autoren und Autorinnen – nicht zuletzt auch zu Gegenentwürfen – inspirierte. Zu den bekanntesten Gegenentwürfen zur transhumanistischen Zukunftsvision zählen Aldous Huxleys (1894-1963) dystopischer Roman Brave New World von 1932, von Clive Staple Lewis (1898-1963) der Essay The Abolition of Man (1943) und dessen Science-Fiction sowie in gewisser Hinsicht der Mitte der 1950er Jahre veröffentlichte, aber früher entstandene Fantasy-Roman The Lord of the Rings von John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973). Sowohl Lewis als auch Tolkien waren überzeugte Christen. Haldanes zwischenzeitliche Ehefrau, Charlotte Haldane, geb. Franken (1894-1969), veröffentlichte im Jahr 1926 den Roman Man’s World, inspiriert auch (vor allem im Bezug auf die Ektogenese) durch Haldanes ersten, die postwellsianische Phase der transhumanistischen Zukunftsvision einläutenden Essay.3 Bereits ihr Gatte

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Christian Thies (Hg.): Handbuch Anthropologie, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2009, S. 268-276. Vgl. C. Coenen, Transhumanismus und Utopie, wo der distinkte Charakter und die Einheitlichkeit dieser Ideentradition ausführlicher gezeigt werden. Vergleiche zum Verhältnis der drei genannten Traditionen auch Gammel im vorliegenden Band. John Burdon Sanderson Haldane: Daedalus or Science and the Future [1923], London: Kegan Paul, Trench, Trubner & Co 19256. Für Haldane ließ sie sich von ihrem ersten Ehemann scheiden, wozu in dieser Zeit ein Ehebruch ihrerseits nötig war (vgl. Ronald Clark: J.B.S.: The Life and

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hatte geäußert, dass Brave New World in vielerlei Hinsicht inhaltlich nicht über Man’s World hinausgehe. Diese Ansicht wird auch durch neuere Forschung gestützt.4 Der massive Einfluss der frühen transhumanistischen Zukunftsvision auf die Science-Fiction ergab sich nicht nur aus der herausragenden Bedeutung der literarischen Arbeiten von Wells für dieses Genre. Haldane, der selbst im Jahr 1932 die Science-Fiction-Erzählung The Gold-Makers veröffentlichte,5 hat ebenfalls einigen Einfluss auf das Genre ausgeübt, insbesondere auch vermittelt durch Olaf Stapledon (1886-1950), einen Philosophen und Pionier der Science-Fiction. Dieser wiederum war, zusammen mit Haldane und Wells, von grundlegender Bedeutung für die Science-Fiction von Lewis. Über Bernals Essay The World, The Flesh and The Devil, die wohl bemerkenswerteste Ausgestaltung der transhumanistischen Zukunftsvision in den 1920er Jahren,6 heißt es sogar, dass in ihm der master plot für die ganze weitere Entwicklung der Science-

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Work of J.B.S. Haldane [1968], Oxford University Press 1984). Sie kündigten einen solchen öffentlich an, worauf eine Disziplinareinrichtung der University of Cambridge die Entlassung Haldanes wegen grob unmoralischen Verhaltens forderte. Die Forderung wurde jedoch abgelehnt, womit diese Art der Einmischung der Universität ins Privatleben endete. Haldane, der sich über die rückständige Sexualmoral des Gremiums öffentlich lustig gemacht hatte, gewann weiteres Ansehen in progressiven Zirkeln. Auch Bernal führte ein unkonventionelles Privatleben. Vgl. z. B. Sophia Dobritzsch: Manipulationstrategien und deren Darstellung in der Dystopie, Saarbrücken: VDM 2008; Lutz Niethammer: »Man’s World. Der weibliche Beitrag zur schwarzen Utopie«, in: Barbara Duden u. a. (Hg.): Geschichte in Geschichten, Frankfurt am Main: Campus 2003, S. 139-148. Die Trennung des Ehepaars Anfang der 1940er Jahre hatte auch politische Gründe, da sich Charlotte, just als ihr Mann sein stärkstes Engagement in der kommunistischen Bewegung an den Tag legte, vom Kommunismus löste und diesen scharf zu kritisieren begann. Siehe John Burdon Sanderson Haldane: The Inequality of Man [1932], Harmondsworth: Penguin Books 1937, S. 253-276. Norbert Wiener (18941964), Mathematiker und Kybernetikpionier, wurde durch diese Veröffentlichung auf Haldane aufmerksam, zu dessen engen Freunden er danach lebenslang zählte. In Auseinandersetzung mit Haldanes kühn transdisziplinären wissenschaftsphilosophischen Überlegungen, in denen dieser eine quantenmechanische Grundlegung der Philosophie – und u. a. auch die Erklärung zukunftsorientierten, zielgerichteten Handelns in Lebewesen auf dieser Basis – vorschlug, schärfte Wiener seinen eigenen, vom Anspruch her ähnlichen Ansatz, der maßgeblich für die Kybernetik wurde. Vgl. dazu Norbert Wiener: »Quantum Mechanics, Haldane, and Leibniz«, in: Philosophy of Science 1-4, S. 479-482. Ideen Wieners werden von Becker im vorliegenden Band diskutiert. John Desmond Bernal: The World, The Flesh and The Devil [1929], London: Jonathan Cape 1970; vgl. hierzu auch Heil in diesem Band. 65

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Fiction skizziert worden sei.7 Diese Einschätzungen erscheinen plausibel, wenn wir uns einige der Visionen vergegenwärtigen, die in den einschlägigen Essays (oft zum ersten Mal) auftauchen. Zu nennen sind hier z. B. Retortenbabys,8 langfristig oder permanent bewohnbare Weltraumstationen, menschliche Gehirne, die – ansonsten körperlos – mit diversen Apparaten verbunden sind (eine Art von Cyborgs ohne Computertechnologie),9 Raumstationen, die von einer größeren Bevölkerung dauerhaft genutzt werden können10 und avancierte MenschmaschinenZivilisationen, die über ein kollektives Gehirn verfügen oder sich zu einem solchen entwickeln.11 All diese Ideen und Vorstellungen tauchen in der Science-Fiction dann immer wieder auf, und einige haben bereits in die naturwissenschaftlich-technische Welt – als weithin akzeptierte Visionen, Forschungsprogramme oder gar Anwendungen – Eingang gefunden. Überdies bestehen zwischen der transhumanistischen Zukunftsvision und der neueren Sozialutopie (insbesondere im Fall der Dystopie) enge Beziehungen,12 auch aufgrund der Nähe der Familien Haldane und Hux-

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George Slusser: »Dimorphs and Doubles: J.D. Bernal's ›Two Cultures‹ and the Transhuman Promise«, in: Gary Westfahl/ders. (Hg.): Science Fiction and the Two Cultures, Jefferson: McFarland & Company 2009, S. 96130, dort S. 96 8 Vgl. für eine aktuelle Analyse der von Haldane inspirierten britischen Diskussionen über Ektogenese: Alina Ferreira: »The Sexual Politics of Ectogenesis in the To-day and To-morrow Series«, in: Interdisciplinary Science Reviews, 2009, 34-1, S. 32-55. 9 Vgl. Heil in diesem Band. Die visionäre Pionierrolle Bernals wird in der Hirnforschung zuweilen gewürdigt. 10 Vgl. J.D. Bernal, The World, the Flesh and the Devil, mit der bis heute in der Science-Fiction und Weltraumforschung als »Bernal-Sphäre« bekannten Vision. Der Einfluss von Bernal und Haldane auf die Science-Fiction und Weltraumforschung wurde insbesondere durch den Physiker und Technikvisionär Freeman Dyson und durch Arthur C. Clarke (1917-2008), Science-Fiction-Schriftsteller und Entwickler des Konzepts geostationärer Satelliten, vermittelt. Dyson, ein Verehrer Bernals, hat zu dessen Essay von 1929 publiziert, Clarke stand mit Haldane in freundschaftlichem Kontakt und mit Lewis in recht engem Austausch. 11 Diese z. B. als global brain (u. a. aus den Diskussionen über das Internet und über Converging Technologies) bekannte Vision ist ein Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen mythopoetischen Entwürfen und Innovationen im Wissenschaftssystem. Wells und Bernal, die diese Vision maßgeblich prägten, spielten auch wichtige Rollen in der Frühzeit des modernen wissenschaftlichen Informationswesens. Zur Debatte über Converging Technologies vgl. in diesem Band z. B. die Einleitung und den Beitrag von Arianna Ferrari. 12 Vgl. zum Folgenden C. Coenen, Transhumanismus und Utopie und für eine prägnante Analyse derselben Thematik Richard Saage: »Politik und 66

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ley zueinander. Die Autoren der drei »klassischen« Dystopien des 20. Jahrhunderts haben sich, auf unterschiedliche Weise, auf Wells bezogen.13 Die wellsianische Utopie und Science-Fiction stehen Jewgeni Samjatin (1884-1937)14 immer vor Augen und einige Szenen bei Wells dürften Vorbild für seine Schilderungen des totalitären Einheitsstaat in seiner Anfang der 1920er Jahre entstandenen Dystopie Wir gewesen sein. Aldous Huxleys Brave New World war ursprünglich als direkte Polemik gegen die wellsianische Utopie konzipiert und Orwell hat mehrfach explizit gegen diese polemisiert. Bemerkenswert ist, dass Huxley wie Orwell dabei auf die entfaltete transhumanistische Technikvision der 1920er Jahre rekurrierten, vor allem auf Visionen Haldanes und Bernals. In den heutigen Diskussionen nehmen sowohl Transhumanisten als auch konservative Kritiker des Human Enhancement auf einseitige Weise und simplifizierend auf Huxley Bezug.15 Die Transhumanisten streiten ab, dass es sich bei den Menschenzüchtungsmaßnahmen des totalitären Staats in Brave New World überhaupt um die Nutzung von Enhancement-Technologien handelt. Dabei blenden sie aus, dass in dem Roman Wissenschaft und Technik eingesetzt werden, um den verschiedenen Klassen, z. B. spezialisierten Arbeitern, besondere verbesserte Fähigkeiten zu verleihen. Die Konservativen hingegen sehen die totalitären Züge des Staates in Brave New World als irrelevant an, da ihre HuxleyRezeption vor allem darauf abzielt, unsere heutige, angeblich permissive Gesellschaft an den Pranger zu stellen. Beide verfehlen i. d. R. sowohl den Geist als auch z. T. die Inhalte des Diskurses in der Zwischenkriegszeit. In diesem standen sich vor allem – durch den Ersten Weltkrieg wohl gleichermaßen geschockt – eine zu szientistisch-technokratischen Ansätzen neigende sozialistische oder sozialliberale Linke und ein in seinen Wertvorstellungen romantisch-religiöser oder anderweitig antimoderner Konservativismus gegenüber, wobei sich dieser auch antikapitalistisch positionierte. Der konservative Antikapitalismus war allerdings vor allem anti-szientistisch und technikkritisch, was sogleich daran erinnert, dass sich in diesen beiden Extremen der Diskurs der Zwischen-

Konvergenztechnologien in den USA«, in: Leviathan, 2007, 35-4, S. 540559. 13 Vgl. z. B. Mark Hillegas: The Future as Nightmare, New York: Oxford University Press 1967. 14 Vgl. zu Samjatin auch Möbius in diesem Band. 15 Vgl. Christopher Coenen: »Der posthumanistische Technofuturismus in den Debatten über Nanotechnologie und Converging Technologies«, in: Alfred Nordmann u. a. (Hg.): Nanotechnologien im Kontext, Berlin: AKA-Verlag 2006, S. 195-222 und Langlitz im vorliegenden Band. 67

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kriegszeit keineswegs erschöpfte.16 Pessimistischere Skeptiker wie Bertrand Russell (1872-1970), weniger technophile linke Naturwissenschaftler wie Lancelot Hogben (1895-1975), Schriftsteller wie David Herbert Lawrence (1885-1930), linke Kritiker eines vor allem auf Verwissenschaftlichung und Technisierung setzenden Fortschrittsdenkens und Maschinenkults wie Orwell sowie eine ganze Reihe von Natur- und Geisteswissenschaftlern, die dem wissenschafts- und technikvisionären Überschwang ablehnend gegenüberstanden, zählten ebenfalls zu den Akteuren in diesem Diskurs.17 Die transhumanistische Zukunftsvision erscheint somit als Kern einer geistes- und kulturgeschichtlich wie auch politisch und wissenschaftsgeschichtlich vielfältig wirksamen Ideentradition. Ihre zentralen Elemente sind eine Fetischisierung (vor allem) des (rationalen) menschlichen Geists, der kontinuierlich verbessert und letztlich von seiner gewordenen biologischen Verkörperung abgelöst werden soll, die Befürwortung auch der »Verbesserung« des Körpers, der Traum individueller Unsterblichkeit (vor allem des Geistes) sowie die Vision von das Weltall erobernden Menschmaschinen-Zivilisationen, die als Superorganismus agieren. Auf einige Elemente der Frühgeschichte dieser Ideen wird im Folgenden eingegangen, um deren Entstehungskontext auch jenseits der Zwischenkriegszeit und ihrer Besonderheiten zu beleuchten.

II. Der Kern der transhumanistischen Z u k u n fts v i s i o n b e i R e a d e Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert findet eine Weitung des Blicks zurück und in die ferne Zukunft statt, inspiriert vor allem durch die gradualistische Geologie, den Darwinismus und die Kosmologie. Dabei werden der biologische evolutionäre Wandel und der extraterrestrische Raum zu immer wichtigeren Projektionsflächen von Fortschrittsvisionen. Als eine wesentliche Inspiration von Wells kann William Winwood Reades (1838-1875) The Martyrdom of Man18 von 1872 gelten, eine ge16 Dies gilt auch für die heutige Enhancement-Debatte, die zwar lange durch die »feindlichen Brüder« Transhumanismus und Konservatismus dominiert wurde, in der aber zunehmend auch andere, oft fälschlich als Mittelpositionen charakterisierte Auffassungen artikuliert werden. Vgl. dazu z. B. Christopher Coenen u. a.: Human Enhancement, Brüssel: Europäisches Parlament 2009, S. 96-109. 17 Vgl. (zu Lawrence) Nordmann im vorliegenden Band und (zu Hogben) Woyke im dritten Teil dieses Bandes. 18 W. Winwood Reade: The Martyrdom of Man [1872], Chestnut Hill: Adamant Media Corporation 2005, S. 542. Im Folgenden wird der Band mit 68

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gen das etablierte Christentum gerichtete und die Wissenschaft verherrlichende Weltgeschichte, die mit einer bemerkenswerten Zukunftsvision endet. Reade war ein Journalist und Schriftsteller, der sich vor allem als Afrikaforscher und als polemischer – dabei aber von den Verteidigern der Tradition zum Teil auch missverstandener – Kritiker der christlichen Religion einen Namen machte. Er bezeichnete sich als Schüler Charles Darwins, mit dem er in persönlichem Kontakt stand. Den britischen Kolonialismus und Imperialismus sah Reade im Wesentlichen unkritisch, er distanzierte sich aber vom christlichen Missionierungsgedanken und entwickelte einige aus heutiger Sicht erstaunlich modern wirkende Ideen zur »Rassenfrage« sowie zur weltgeschichtlichen Bedeutung Afrikas. Seine Menschheitsgeschichte faszinierte so unterschiedliche Leser wie Cecil Rhodes (1853-1902), Conan Doyle (1859-1931), Winston Churchill, Wells und Orwell und erweckte noch bei Lewis Abscheu. Aufgrund der Angriffe Reades auf die etablierte Religion wurde sein Buch, u. a. von Politikern, scharf kritisiert. Sehr gut verkaufte es sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts,19 in dem es unter Freidenkern und Religionskritikern in hohem Ansehen stand, auch weil diese den früh verstorbenen Reade als einen Märtyrer ihrer Sache betrachteten. In dem erwähnten letzten Kapitel seines Buches werden u. a. folgende Voraussagen gemacht: Die Menschheit werde in Zukunft den »Stern« Erde als ihr Vaterland betrachten und sein Fortschritt ihr Ehrgeiz sein (Martyrdom, S. 514). Die Körper, die wir jetzt »trügen« (wear), gehörten zu den niederen Tieren, unser Geist sei schon aus ihnen herausgewachsen, wir betrachteten sie bereits mit Verachtung. Einst werde die Wissenschaft den menschlichen Körper mit Mitteln transformieren, die wir heute noch nicht absehen und, selbst wenn man sie uns erklärte, jetzt noch nicht verstehen könnten. Krankheiten würden völlig ausgerottet, die Ursachen körperlichen Verfalls gänzlich beseitigt und Unsterblichkeit »erfunden» werden. Danach stehe die Auswanderung der Menschheit ins Weltall an, wobei sie die »luftlosen Saharas« von Planet zu Planet, von Sonne zu Sonne durchqueren werde. Schließlich würden die Menschen die Kräfte der Natur meistern, selbst »Welten herstellen« und eine gottähnliche Macht erlangen. Wer seinen Schöpfer zu verehren wünsche, müsse dies durch Verehrung der Menschheit tun (Martyrdom, S. 536). Aufgabe des Individuums – begriffen als einzelne Einheit (unit) der Sigle Martyrdom zitiert. Der Titel sagt aus, dass der bisherige menschliche Fortschritt sich den Leiden vorangegangener Generationen verdankt (Martyrdom, S. 541). 19 Felix Driver: Geography Militant, Oxford, Malden: Blackwell Publishers 2001, S. 111 69

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eines höheren Ganzen (Martyrdom, S, 521) sei es, bis aufs Äußerste das eigene Genie und die eigene Liebesfähigkeit zu entwickeln. Das körperliche Ende des Individuums, dieses »Flecks aus Fleisch und Blut mit dem kleinen Funken Instinkt, den es seinen Geist nennt« (Martyrdom, S. 536), sei nicht das Ende des wirklichen Menschen, des wahren Wesens, des Glorreichen also der Gattung. Die Seele sei unsterblich, es gebe ein zukünftiges Leben und es werde in der fernen Zukunft ein himmlisches Paradies existieren, aber eben nicht für uns als einzelne Korpuskeln, als »Pünktchen animierten Gallerts« (ebd.), sondern nur für den Einen, von dem wir die Elemente seien und der niemals sterbe, auch wenn die »Menschen« genannten Moleküle und die »Nationen« genannten Zellverbände vergehen müssen. Unsere neue Religion sei Tugend, unser Glaube die Perfektibilität des Menschen und unsere Hoffnung das Glück unserer Nachwelt. Mit einem gemeinsamen Glauben und einem gemeinsamen Verlangen werde die Menschheit zusammen für die »Heilige Sache« arbeiten: »the extinction of disease, the extinction of sin, the perfection of genius, the perfection of love, the invention of immortality, the exploration of the infinite, and the conquest of creation« (Martyrdom, S. 537). Und Reade wendet sich an die Zukünftigen (ebd.): »You blessed ones who shall inherit that future age of which we can only dream; you pure and radiant beings who shall succeed us on the earth; when you turn back your eyes on us poor savages, grubbing in the ground for our daily bread, eating flesh and blood, dwelling in vile bodies which degrade us every day to a level with the beasts, tortured by pains, and by animal propensities, buried in gloomy superstitions, ignorant of Nature which yet holds us in her bonds; […] remember that it is to us you owe the foundation of your happiness and grandeur, to us who now in our libraries and laboratories and startowers and dissecting-rooms and workshops are preparing the materials of the human growth.«

In Martyrdom sind somit bereits zentrale Elemente der transhumanistischen Zukunftsvision versammelt.20 Dreierlei wird überdies deutlich: erstens der Charakter dieser Visionen als Reaktionen auf die von Sigmund Freud während des Ersten Weltkriegs21 konstatierte biologische bzw. Darwinsche Kränkung der Menschheit (durch den Nachweis ihrer Abstammung aus dem Tierreich), zweitens die Bedeutung viktorianischer Sexual- und Körperfeindlichkeit und drittens die Relevanz von 20 Vgl. C. Coenen, Transhumanismus und Utopie. 21 Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916/1917] (Studienausgabe; zusammen mit der Neuen Folge). In: Gesammelte Werke, Frankfurt a. M.: Fischer 1989, S. 283f. 70

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Metaphern und Visionen der Eroberung und Kolonialisierung. Überdies betont Reade, in offensichtlicher Anlehnung an Francis Bacon, dass man die Natur nur erobern könne, wenn man ihre Gesetze kenne und diesen gehorche: Wenn wir das Vorgehen der Natur ermitteln, sind wir in der Lage, an die Stelle der Natur zu treten. Mit der zunehmenden Kenntnis der Natur wüchsen unsere prognostischen Fähigkeiten: »When we understand the laws which regulate the complex phenomena of life, we shall be able to predict the future as we are already able to predict […] the planetary movements« (Martyrdom, S. 512). Die Auffassung, dass im Verhältnis von Forscher und Natur eine Art Herr-Knechts-Dialektik wirksam ist, mit ihrer technowissenschaftlichen Engführung von Erkennen und Manipulieren, wie auch die Erwartung einer künftigen Vervollkommnung der wissenschaftlichen Prognostik kennzeichnen dann auch die transhumanistische Zukunftsvision ab den 1920er Jahren. Gleiches gilt für die viktorianisch-asketische Körperfeindlichkeit, auch wenn bei einigen ihrer Vertreter (z. B. Wells, Haldane und Bernal) eine Nähe zur Libertinage oder zumindest zum Hedonismus festzustellen ist. In der transhumanistischen Tradition erfolgt die Werbung für das Ziel, den Menschen in seiner heutigen Gestalt zu überwinden, regelmäßig mittels Bildern menschlicher Körperlichkeit, die Ekel oder Verachtung ausdrücken. So geht heutzutage z. B. die transhumanistische Faszination durch die komplexe Funktionsweise des menschlichen Gehirns oft einher mit der Abwertung der Fleischlichkeit dieser »Verkörperung« des verehrten menschlichen Geistes (z. B. in der Bezeichnung des Gehirns als meat machine). Schon bei Reade erscheint die Ehrfurcht für die Natur und ihre Operationen dann besonders gering, wenn von menschlichen Körpern die Rede ist. Auch bei Darwin weist die biologische Kränkung der Menschheit bekanntlich einen starken Zug von Leib- und Selbstfeindschaft auf. Die Menschheit könne, so der letzte Absatz in Descent of Man (1871), aufgrund ihres Stolzes auf den eigenen evolutionären Erfolg zwar zu der Hoffnung gelangen, in der fernen Zukunft eine noch höhere Bestimmung zu haben. Wir müssten indes anerkennen, dass der Mensch mit all seinen edlen Eigenschaften und seinem »gottähnlichen« Geist,22 der in die Bewegungen und die Konstitution des Sonnensystems eingedrungen sei, doch noch in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel eines niederen Ursprungs trage. Wir müssen, legt Darwin nahe, mit der Erkenntnis leben, dass unsere animalische Natur unhintergehbar ist. Reade war wohl der erste, der dies offen auf transhumanistische Weise in Frage 22 In Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, Bd. II [1871], Stuttgart: E. Schweizerbarth’sche Verlagshandlung (E. Koch) 18753, S. 385, heißt es hingegen »göttlicher« Intellekt. 71

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stellt. Wissenschaft und Technik werden seines Erachtens in der Zukunft dazu in der Lage sein, uns von dem Körper zu erlösen, der unserem Geist angeblich nicht mehr angemessen ist. Und auch die transhumanistischen Antworten auf die erste der von Freud genannten drei Kränkungen der Menschheit werden durch Reade vorbereitet: Die kosmologische Kränkung, die von der kopernikanischen Herabstufung der Erde ausgeht, ist leichter durch die Aussicht zu ertragen, dass von diesem Planeten aus dereinst eine Expansion in den Weltraum vonstattengehen und in deren Zuge die Erde zu einem »heiligen«, von Pilgern aus allen Ecken des Universums besuchten »Land« werden wird. Klar ist schließlich auch, dass in der Vision Reades der Zukunftsmensch Herr im eigenen Hause, seiner Psyche, sein werde: Nicht nur die außerhalb seiner selbst liegenden »Kräfte des Bösen« harrten der Unterwerfung, sondern auch die in ihm: »He will repress the base instincts and propensities which he has inherited from the animals below; he will obey the laws that are written on his heart; he will worship the divinity within him. As our conscience forbids us to commit actions which the conscience of the savage allows, so the moral sense of our successors will stigmatise as crimes those offences against the intellect which are sanctioned by ourselves. Idleness and stupidity will be regarded with abhorrence« (Martyrdom, S. 513).

In diesen Sätzen deutet sich bereits die Unduldsamkeit und die aggressive Ablehnung intellektuell unterlegener Menschen an, die heute einige Befürworter eines cognitive enhancement sowie Visionäre einer »starken« Künstlichen Intelligenz und einer genetischen »Verbesserung« des Menschen an den Tag legen. Reade geht indes noch kaum auf die gesellschaftlichen Aspekte einer transhumanen Umwandlung des Menschen ein und malt sich auch nicht die wissenschaftlich-technischen Mittel aus, mit denen diese bewerkstelligt werden könnte.

III. Die Begründung der transhumanistischen Z u k u n fts v i s i o n b e i We l l s Entwürfe einer neuen Gesellschaft und auch schon Wissenschafts- und Technikvisionen werden dann von Wells der transhumanistischen Zukunftsvision hinzugefügt. In einem Vortrag im Jahr 1902 vor der Royal Institution, einer führenden britischen Forschungs- und Bildungseinrich-

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tung, sprach Wells zum Thema der »Entdeckung der Zukunft«.23 Zu Beginn des Vortrags konstruiert Wells hier idealtypisch zwei Geistesarten: Eine retrospektive, noch mehrheitlich geteilte, und eine konstruktive, die ständig auf kommende Dinge gerichtet sei und die Gegenwart ganz überwiegend im Lichte der Zukunft betrachte (Discovery, S. 8f.). Vermittelt durch Haldane, Bernal und andere findet diese Entgegensetzung ihren Weg bis in die bekannte Rede über die »Zwei Kulturen« (der Literatur und Geisteswissenschaften einerseits und der Natur- und Ingenieurwissenschaften andererseits), mit der Charles Percy Snow (19051980) im Jahr 1959 einen Allgemeinplatz schuf und eine bis heute immer wieder aufflammende Debatte initiierte.24 Bernal und Orwell dienten ihm dabei als Beispiele. Im Redetext heißt es: »If the scientists have the future in their bones, then the traditional culture responds by wishing the future did not exist.« Und die Anmerkung dazu lautet: »Compare George Orwell’s 1984, which is the strongest possible wish that the future should not exist, with J.D. Bernals World Without War.« Dabei vertritt Snow die schon zu diesem Zeitpunkt recht fragwürdige Ansicht, dass immer noch die traditionelle Kultur die westliche Welt »manage«, und zwar in einer durch das Entstehen der wissenschaftlichen kaum verminderten Weise. Doch zurück zu dem Vortrag, den Wells zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielt, als der Status der Natur- und Ingenieurwissenschaften innerhalb einer stark geisteswissenschaftlich geprägten Kultur tatsächlich noch relativ niedrig war: Ein Großteil seiner Rede bestand aus dem Versuch, die wissenschaftliche Vorhersage der Zukunft als rationale Prophetie zu rechtfertigen. Nur wer über eine an der wissenschaftlichen Denkungsart geschulte Imagination verfüge, habe überhaupt eine Vorstellung von der Zukunft (Discovery, S. 32). Generell überschätze man in Bezug auf die Vergangenheit die Möglichkeit der Gewissheit, wäh23 Herbert George Wells: The Discovery of the Future, London: T. Fisher Unwin 1902; im Folgenden wird der Band mit der Sigle Discovery zitiert. 24 Snow, der Bernal hochschätzte, hatte zwar an der Entwicklung der transhumanistischen Zukunftsvision keinen Anteil. Er war aber bedeutsam als ein führender Vertreter des u. a. auf Wells zurückgehenden, politisch progressiv positionierten und technokratischen Szientismus, der in den 1960er Jahren in Großbritannien noch eine kurze Blüte erlebte. Wie stark dieser danach – u. a. infolge der Studentenbewegung sowie der counterculture und der Alternativbewegung (die beide auch von Tolkiens Fantasy-Werken stark beeinflusst wurden) – in Vergessenheit geriet, zeigt die oft starke Verwunderung über den Transhumanismus der 1990er und 2000er Jahre. Die Relevanz der Zwischenkriegszeit für die Zwei-Kulturen-Debatte wird von Stefan Collini in der Einführung zu folgender Veröffentlichung analysiert: Charles Percy Snow: The Two Cultures, Cambridge University Press 1998 (dort ab S. xxii). 73

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rend man sie hinsichtlich der Zukunft unterschätze (Discovery, S. 38). Seit Anbeginn der »wissenschaftlichen Epoche«, dem Aufstieg der »modernen« Wissenschaft – dessen »glanzvolle Jugendzeit« das 19. Jahrhundert gewesen sei (Discovery, S. 53) –, hätten sich neue Aussichten ergeben. Moderne Wissenschaft, verstanden als »systematische Kritik von Phänomenen« und als »Vergleich und Kritik suggestiver Fakten« (Discovery, S. 43, 46f.), biete einen neuartigen Blick auf die Vergangenheit und eine neue Art der Gewissheit. »[W]e figure the Pterodactyls, those great bird-lizards, flapping their way athwart the forests of Mezzoic age with exactly the same certainty as that with which we picture the rhinoceros or the vulture. […] I believe in the Megatherium, which I have never seen, as confidently as I believe in the hippopotamus that has engulfed buns from my hand.« (Discovery, S. 44f.)25

Aufgrund der Möglichkeit zur Gewissheit über die prähistorische Vergangenheit werde diese zur »induktiven Vergangenheit« (Discovery, S. 48). Dieser korrespondiere eine »induktive Zukunft«, die bei allen Unterschieden doch gegebene Möglichkeit, auch das Zukünftige systematisch zu erforschen (Discovery, S. 52). Die moderne Naturwissenschaft und Medizin bezögen ihren besonderen Wert eben gerade aus der Fähigkeit zur begründeten Vorhersage. Selbst in einer »so unwissenschaftlichen Wissenschaft wie der politischen Ökonomie« würden Vorhersagen gemacht (Discovery, S. 57). So fragt Wells rhetorisch: »[W]hat is there to stand in the way of our building up this growing body of forecast into an ordered picture of the future that will be just as certain, just as strictly science, and perhaps just as detailed as the picture that has been built up within the last hundred years to make the geological past?« (Discovery, S. 57f.)

Die Antwort ist selbstverständlich, dass der Mensch und sein Handeln die Lage komplizierten, dass durch sie die induktive Zukunft womöglich

25 Über ein halbes Jahrhundert später wird Tolkien in einem Brief auf ›Pterodaktylen‹ zu sprechen kommen und diese als Kreaturen bezeichnen, die besser belegt seien als viele »Monster« aus der »neuen und faszinierenden, halbwissenschaftlichen Mythologie des ›Vorgeschichtlichen‹.« Zu den flugsaurierähnlichen Reittieren einer Gruppe untoter Menschen, die in The Lord of the Rings das Übel magisch-technisch erreichter ›Todlosigkeit‹ verkörpern, sei er durch die neue Mythologie des Vorgeschichtlichen inspiriert worden. Vgl. Humphrey Carpenter: The Letters of J.R.R. Tolkien, Boston, Sidney: George Allen & Unwin 1981, S. 298 (Brief 211 an Rhona Beare vom 14.10.1958). 74

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nicht so real und überzeugend sei wie die induktive Vergangenheit. Inwieweit könnten wir nun hoffen, zu zuverlässigen Induktionen im Bezug auf die Zukunft des Menschen zu kommen? Wells spricht sich zunächst gegen die Ansicht aus, große Männer machten Geschichte. Diese seien nach seiner »extremen« Überzeugung bloß Bilder, Symbole und Instrumente, die von den überpersönlichen Kräften willkürlich erwählt würden (Discovery, S. 66f.). Die Zukunft eines Individuums entziehe sich zwar vollständig unserem Blick, aber Erkenntnisse über die Zukunft einer größeren Zahl von Menschen seien durchaus zu erlangen, was nützliche Verallgemeinerungen im Bezug auf die Zukunft der Menschheit (human destiny) erlaube (Discovery, S. 63f.). Historische, ökonomische und soziale Studien sollten bewusst auf die Zukunft ausgerichtet werden, und in moralischen und religiösen Diskussionen solle man sich häufiger mutig auf die Zukunft beziehen. Von einer solchen Zukunftsorientierung werde das Geistesleben enorm profitieren (Discovery, S. 70). Genau einen solchen Mut zur Vorhersage stellen dann auch Haldane und Bernal zur Schau. Auf dieser Basis einer strengen Verwissenschaftlichung der Erforschung des Vergangenen und der gegenwärtigen Gesellschaft soll die transhumanistische Zukunftsvision entworfen werden. Als Kontrast dient Wells in seinem Vortrag der Positivismus Auguste Comtes (1798-1857). Zwar habe dieser, »wie wir alle«, wahrgenommen, dass die alte gesellschaftliche Ordnung auseinander bricht. Anstatt die Erkenntnisse über die Prähistorie zu nutzen, sei Comte aber von einem immergleichen Menschen mit einer statischen idyllischen Vergangenheit ausgegangen und habe auf dieser Grundlage eine ebenso statische Vision eines positivistisch reorganisierten Gemeinwesens entworfen, mit dem dann in millenaristischer Manier die Geschichte beendet werde (Discovery, S. 72-76).26 Dies sei bei einem Mann der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar, nun stelle sich aber die Lage anders dar. Die nach dem Erscheinen von Darwins On the Origin of Species (1859) Geborenen könnten sich eine so begrenzte Sichtweise nicht mehr erlauben. Die postdarwinische Perspektive erlaube – unterstützt von einer streng wissenschaftlichen Geschichts- und Sozialforschung – eine angemessene Würdigung des Weges, den das Leben bisher gegangen ist. Vor diesem Hintergrund können die neuen »wissenschaftlichen Propheten« (Discovery, S. 72) die »Entdeckung der Zukunft« angehen. Man solle seine Rede von der »Größe der menschlichen Bestimmung« aber 26 Wells hat auf ähnliche Weise die sozialutopische Tradition kritisiert, und diese Kritik prägt dann auch die Tradition der transhumanistischen Zukunftsvision. Vgl. C. Coenen, Transhumanismus und Utopie. 75

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nicht missverstehen (Discovery, S. 88): Offen gesprochen halte er nur wenig von seinen Mitmenschen und sich selbst »als Endprodukten«. Einem Menschheitskult vermöge er sich kaum anzuschließen, zu oft sei das Schauspiel menschlicher Niedrigkeit peinsam. Doch so klein uns z. B. unsere Fleischlichkeit mache, so weit sei doch der Weg gewesen, seit sich vor Äonen irgendwelche unserer Vorläufer im Schlamm vor größeren Fischen und Amphibien versteckten. Die Länge dieses Wegs zeige uns zudem, wie viel noch vor uns liegt. Warum sollte dies alles mit dem Menschen enden? Und warum sollte diese ansteigende Kurve in Zukunft nicht noch steiler ansteigen? Vieles deute ja darauf hin, dass »wir uns jetzt in einer Phase schneller und beispielloser Entwicklung befinden«.27 Um das Jahr 1800 seien Erfinder und Forscher selten gewesen, nun sei deren Arbeit das Werk einer »organisierten Armee«. Auch das 20. Jahrhundert werde das vorherige Jahrhundert in dieser Hinsicht wieder in den Schatten stellen. Alles deute darauf hin, dass wir einen Fortschritt erreichen werden, der mit immer weiter ausgreifenden und sichereren Schritten für immer anhalten wird (Discovery, S. 92). Die eng an eine moderne Form der Organisation von Wissenschaft und Technik geknüpfte »Ideologie extremen Fortschritts«28 prägt dann auch die transhumanistische Zukunftsvision, von Haldane und Bernal bis hin zu den organisierten Transhumanisten unserer Tage. Auch der rhetorische Überschwang kennzeichnet den transhumanistischen Diskurs bis heute. Schon Wells konstatierte, dass wir uns am Anfang des größten Wandels befänden, den die Menschheit je erlebt hat. Zwar könnten der Einschlag eines Himmelskörpers auf die Erdoberfläche, eine neuartige Pandemie oder andere Katastrophen die Menschheit vernichten – auch diese Thematik bewegt heutige führende Transhumanisten stark –, und das Erlöschen der Sonne drohe auf jeden Fall in ferner Zukunft (Discovery, S. 84-87), aber auch bei dieser Thematik nimmt Wells die Haltung vorweg, die Bernal und viele andere Vertreter der transhumanistischen Zukunftsvision später an den Tag gelegt haben: 27 Die Wahrnehmung, in einer Zeit beispiellosen und exponentiellen Fortschritts zu leben, beflügelt auch heutige Technikvisionäre. Dies reicht von einer weitverbreiteten Faszination durch exponentielle Kurven als Darstellungselementen in Zukunftsvisionen bis hin zum quasireligiösen transhumanistischen Singularitätsglauben, der derzeit einige Beachtung findet. Vgl. dazu Jürgen Altmann: »Nanotechnik, Singularität und Transhumanismus. Herausforderungen für Wissenschaft und Moral«. In: FIfF-Kommunikation 2009, 4, S. 50-52.; C. Coenen u. a., Human Enhancement, S. 96-109. 28 Vgl. dazu ausführlicher C. Coenen, Transhumanismus und Utopie; C. Coenen u. a., Human Enhancement. 76

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»And finally, there is the reasonable certainty that this sun of ours must some day radiate itself towards extinction; […]. There surely man must end. That of all such nightmares is the most insistently convincing. Any yet one doesn’t believe it. At least I do not. And I do not believe in these things, because I have come to believe in certain other things, in the coherency and purpose in the world and in the greatness of human destiny. Worlds may freeze and perish, but I believe that there stirs something within us now that can never die again.« (Discovery, S. 87f.)

Zum Zeitpunkt dieses Vortrags hatte Wells bereits in The Time Machine (1895) ein Ende der Menschheit in ferner Zukunft ausgemalt und in The War of the Worlds (1898) sowie in The First Men in the Moon (1901) Raumfahrten beschrieben. Auch die Schlusssätze des Vortrags lenken die Aufmerksamkeit auf den Weltraum: »We are creatures of the twilight. But it is out of our race and lineage that minds will spring that will reach back to us in our littleness to know us better than we know ourselves, and that will reach forward fearlessly to comprehend this future that defeats our eyes. All this world is heavy with the promise of greater things, and a day will come – one day in the unending succession of days – when beings, beings who are now latent in our thoughts and hidden in our loins, will stand upon this earth as one stands one a footstool, and laugh, and reach out their hand amidst the stars.« (Discovery, S. 94f.)

Die Menschen, Kreaturen des Zwielichts, werden posthumanen Wesen weichen müssen, doch sollen sie das als höchstes Ziel ansehen, nicht als Bedrohung. Unsere Vorstellungskraft reiche noch nicht aus, uns diese Wesen vorzustellen (Discovery, S. 79) – was auch von heutigen Transhumanisten gerne betont wird –, auch wenn wir sonst vieles, wie z. B. die Entstehung eines utopischen, aber nicht statischen Weltstaates, mit einiger Sicherheit vorhersagen könnten. Die faszinierendste und am schwersten zu lösende Frage bleibe, was nach dem Menschen kommen wird: »This fact, that man is not final, is the great, unmanageable, disturbing fact that rises upon us in the scientific discovery of the future; and to my mind, at any rate, the question, What is to come after man? is the most persistently fascinating and the most insoluble question in the whole world.« (Discovery, S. 79; Hervorhebung i. Orig.)

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I V. M yt h o s u n d G e g e n m yt h o s Insbesondere durch Bernal und Haldane, die maßgeblich durch Wells beeinflusst wurden,29 entfaltet sich dann in der Zwischenkriegszeit die transhumanistische Zukunftsvision. Obwohl im Kern bereits vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt – von Reade schwärmerisch-idealistisch und von Wells bereits unter Bezugnahme auf eine neue Organisation von Wissenschaft und Technik sowie mit sozialistischer Stoßrichtung –, wird sie erst jetzt zu einem Mythos der Technowissenschaft. Haldane schreibt 1932 über einen seiner visionären Ausblicke: »Such speculations as these are very far from idle. They are eminently desirable, because man does not generally even know what he wants, much less how to get it. A discussion of possibilities will have two effects. It will enable people to come to some opinions as to the possible goal of human evolution […]. And it will focus attention on the necessity for more knowledge before we can even suggest means of attaining that goal. Pictures of the future are myths, but myths have a very real influence in the present. […] Our greatest living mythologist, Wells, is certainly influencing the history of the future, though probably in ways which he does not suspect. The time will probably come when men in general accept the future evolution of their species as a probable fact, just as to-day they accept the idea of social and political progress. We cannot say how this idea will affect them. We can be sure that if it is accepted it will have vast effects. It is the business of mythologists to-day to present that idea. They cannot do so without combining creative imagination and biological knowledge.«30

Dem von Haldane hier gerechtfertigten mythopoetischen Projekt wird dann in der Folgezeit einiger Erfolg beschieden sein. Wie schon Wells geht es Haldane um eine wissenschaftlich fundierte, kreative Prophetie. Die Vorstellungskraft soll an die äußersten Grenzen des ihr Möglichen gehen. Dem Fortschritt der Wissenschaft in der Gesellschaft soll durch einen Mythos der Weg bereitet werden. Vor allem Lewis, aber auch Tolkien war dieser Mythos politisch und ideologisch zuwider, obgleich sie die literarischen Ausarbeitungen von Wells, Stapledon und Haldane durchaus beeindruckend fanden. Der streitbare Lewis lud Bernal als Gastredner und prominenten Gegner in seinen Club ein, nutzte Haldane als Vorbild für die Figur eines besonders skrupellosen Wissenschaftlers in seinen Science-Fiction-Werken, ver-

29 Vgl. dazu vor allem Patrick Parrinder: Shadows of the Future, Liverpool University Press 1995; Mark Hillegas, The Future as Nightmare. 30 J.B.S. Haldane: The Inequality of Man, S. 98f. 78

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fasste einen nicht abgeschickten Antwortbrief auf die vernichtende Kritik dieser Werke seitens Haldane und leistete schließlich in The Abolition of Man eine christlich fundierte, politische Kritik an Visionen eines technoszientistischen Herrschaftssystems, die zugleich als Totalitarismuskritik gelesen werden kann. Der Essay gehört heute zu den wichtigsten Referenzen konservativer religiöser Kritiker von Human Enhancement. Lewis war ein enger Freund Tolkiens, dessen erklärtermaßen »mythopoetische« Fantasy-Werke ebenfalls als Gegenentwurf zur transhumanistischen Zukunftsvision charakterisiert werden können.31 Der gläubige Katholik Tolkien, der die alten Mythen Nord- und Westeuropas verehrte und als Philologe erforschte, bemühte sich in seinen Fantasy-Werken darum, die Hoffnung auf Unsterblichkeit mit einer Anerkennung der Würde des Todes in Einklang zu bringen. Der Ring, um den sich die Handlung des Romans The Lord of the Rings dreht, steht mindestens für dreierlei: primär für Machtlust, davon abgeleitet für eine zerstörerische und zur Unterdrückung eingesetzte Technik (einschließlich des für sie notwendigen Wissens) – sie wird insbesondere durch moderne Maschinen verkörpert –, und schließlich für den unseligen menschlichen Wunsch, durch eigene Kraft unsterblich auf Erden zu werden. Die Industrialisierung erscheint als Werk des Bösen. Die Herstellung speziell befähigter Kreaturen aus weniger leistungsfähigen Rassen, vollzogen in finsteren satanischen Mühlen, sind ebenso das Werk ursprünglich engelhafter Wesen wie die Zauberringe, die Sterblichen eine grauen- und geisterhafte ewige Existenz ermöglichen. Die gefallenen Engel, die Führer des Bösen, streben nach Macht über andere Lebewesen, über die ganze Natur und zielen dabei letztendlich auf deren totale Zerstörung. Und eine von den nicht gefallenen Engeln protegierte Menschenzivilisation,32 die extreme individuelle Langlebigkeit genießt, geht deshalb zugrunde, weil sie Macht über andere Menschenvölker anstrebt, die gottgewollte Sterblichkeit des Menschen nicht mehr akzeptiert und damit auch das Geschenk des unsterblichen Lebens bei Gott nach dem Tode verschmäht. Eine Schlüsselszene des Romans in unserem Zusammenhang ist ein Streitgespräch zwischen Gandalf und Saruman, zwei Engeln, die als alte Männer getarnt (Zauberergestalten mit Stäben, großen Hüten etc.), auf 31 Vgl. dazu auch David Hogan, Mark Clarfield: Venerable or vulnerable: ageing and old age in JRR Tolkien’s The lord of the rings. In: Medical Humanities, 2007, 33, S. 5-10. 32 Diese hatte ihr Zentrum auf einer Insel (Numenor oder Atalante genannt), ist aber in der Zeit, in der die Handlung des Romans spielt, längst untergegangen. Tolkien ließ sich hier vom Atlantis-Mythos und bestimmten Aspekten der altägyptischen Kultur (z. B. deren Totenkult) inspirieren. 79

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der Erde wirken. Saruman ist gefallen, hat sich, fasziniert durch die Macht, die ihm Magie und Maschinen verleihen können, dem Bösen zugewandt. Zugleich verkörpert er für Tolkien das, was dieser privat bisweilen als »Sarumanismus« bezeichnet hat – ein zunächst zumindest mit hehren Idealen wie sozialer Gerechtigkeit auftretender Reformwille, dem aber unweigerlich die Natur, einschließlich der denkenden Wesen, zum Opfer fallen. In einem Brief an Naomi Mitchison (1897-1999) – Schwester Haldanes und eine der Korrekturleserinnen des RomanManuskripts – betont Tolkien zwar, dass er kein »Einbalsamierer« sei – also kein Konservativer, der sich, womöglich als Angehöriger einer überlegenen Kaste fühlend, gegen jede Veränderung stemmt –, aber auch in diesem Brief weist er darauf hin: »I am not a ›reformer‹ (by exercise of power) since it seems doomed to Sarumanism.« 33 In dem Streitgespräch versucht Saruman, Gandalf auf die böse Seite zu ziehen, um mit ihm dem mächtigsten der in der Welt präsenten gefallenen Engel, dem Herrn der Ringe, zu dienen: »Wir können uns mit dieser Macht verbünden, ihr Sieg steht bevor, und ihre Mitstreiter werden reich belohnt werden. Wenn die Macht wächst, werden ihre bewährten Freunde mit ihr wachsen; und die Weisen, solche wie du und ich, könnten mit etwas Geduld schließlich zu ihren Lenkern und Leitern werden. Wir können abwarten, wir können unsere Gedanken für uns behalten; und im aufrichtigen Bedauern der einen oder anderen Untat, die nebenher geschehen mag, werden wir doch unser höchstes und letztes Ziel nicht aus den Augen verlieren: Wissen, Herrschaft, Ordnung – all das, wonach wir bislang vergeblich gestrebt haben, eher behindert als unterstützt durch schwache oder faule Freunde. In unseren Zielen müsste und würde sich nichts wirklich ändern, nur in unseren Mitteln.«34

Das technokratische Element – Wissen, Herrschaft, Ordnung – und die Skrupellosigkeit angesichts sich bietender Chancen erscheinen Tolkien als charakteristisch für den Mythos der Gegenseite, der szientistischen Sozialisten. In seinen Augen war die transhumanistische Zukunftsvision Teil des Bösen, vielleicht sogar, mit Blick auf die Unsterblichkeitshoffnung, sein Kern. Wenn wir, in Anlehnung an Hans Blumenberg, es als Funktion des Mythos bestimmen, dass er Distanz zur Unheimlichkeit schafft, dann rückt ein möglicher gemeinsamer Bezugspunkt der beiden Mythen ins

33 Humphrey Carpenter, The Letters of J.R.R. Tolkien, S. 245 (Brief 154 an Naomi Mitchison vom 25.09.1954) 34 John Ronald Reuel Tolkien: Der Herr der Ringe, Stuttgart: J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolge GmbH 2000, S. 285. 80

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Blickfeld, nämlich der Erste Weltkrieg – der im Englischen und Französischen auch als der »Große Krieg« bezeichnet wird und in dem sich erstmals mit voller Macht das durch moderne Wissenschaft und Technik ermöglichte Grauen des 20. Jahrhunderts manifestierte. Tolkien verarbeitete seine in Frankreich gemachten Kriegserfahrungen in den schauerlichsten Szenen des Romans. Er betonte zwar verschiedentlich, dass es nicht die Technik und schon gar nicht die Wissenschaft an sich seien, die für die Übel der modernen Welt verantwortlich sind, sondern die Gier nach Macht und letztlich der Wunsch, den Tod im Hier und Jetzt zu überwinden. Nicht zufällig wird aber im Roman ein aus transhumanistischer Sicht pervertiertes Human Enhancement – nämlich die qualvolle und sich destruktiv auswirkende »Todlosigkeit« sowie die gezielte Verbesserung physischer und kognitiver Eigenschaften von Soldaten – mit einer der modernen Technowissenschaft ähnelnden Kombination aus Magie und Technik erreicht. Der große Traum, den die transhumanistische Zukunftsvision hinsichtlich des Individuums hegt, nämlich dessen Unsterblichkeit in dieser Welt, erscheint in Tolkiens Mythos als teuflischste Versuchung und auch als Grund für eine singuläre Katastrophe der Menschheit. Seiner Auffassung nach besteht die reine, wirkliche Wissenschaft darin, das Wissen über andere Dinge, über deren Geschichte und Natur, völlig unabhängig von dem sie erforschenden Geist zu begehren, eben weil sie »anders« sind. Dieser rationale Geist ist gänzlich gleichgültig gegenüber den Nutzungsmöglichkeiten des erlangten Wissens. Die unsterblichen Elben, mit den Menschen und den Hobbits das wichtigste »Volk« in seinem Mythos, repräsentieren laut Tolkien auf übermenschlichem Niveau die künstlerischen, ästhetischen und reinen wissenschaftlichen Aspekte der menschlichen Natur. Sie hegten eine hingebungsvolle Liebe zur Natur und hätten das Verlangen, diese um ihrer selbst willen zu beobachten und zu verstehen, als ein »Anderes«, als etwas Wirkliches, das in demselben Maße wie sie selbst von Gott ist; sie begriffen die Natur weder als Material noch als Machtplattform. Haldane und Bernal schufen mit ihrem Mythos – den Bernal in The World, the Flesh and the Devil als eine Fabel bezeichnet – hingegen auf andere Weise und mit anderer Zielrichtung als Tolkien Distanz zu jener Unheimlichkeit, die von der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in irrationalen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht. Mit ihrem Mythos versuchten sie, den Fortschritt hin zu einer gänzlich vernunftdurchwirkten Welt zu befördern. Ohne Frage sind dabei die Mythen Haldanes, Bernals, Tolkiens und anderer ihrer Zeitgenossen, wie jeder »neue Mythos«, nicht auf derselben Ebene zu betrachten wie die historischen, vormodernen Mythen – auch wenn sie, unter gänzlich veränderten geistigen Voraussetzungen, z. T. dieselben Themen aufgreifen, die mindes81

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tens seit Gilgamesch Gegenstand mythischen Denkens waren. Tolkiens elaborierte Konzeption des Mythos unterscheidet sich zudem deutlich von der Nutzung des Begriffs durch Haldane.35 Als Lewis Anfang der 1930er Jahre, zu dieser Zeit noch Atheist, in einem Gespräch mit Tolkien bekundete, dass er, bei all seiner Liebe zu den alten Mythen, diese als Lügen und deshalb als wertlos ansehe, widersprach Tolkien entschieden. In einem dem »Mythenverächter« Lewis gewidmeten Gedicht namens Mythopoiea, das er darauf schrieb, kontrastierte Tolkien dann das biologisch-evolutionistische mit einem mythischen Weltverständnis. Er werde, so Tolkien in dem Poem, nicht gemeinsam mit den fortschrittlichen Affen des Mythenverächters – gemeint ist die Menschheit –, auf den dunklen Abgrund zugehen, in dem, wenn Gott Gnade zeigt, der Fortschritt dereinst enden wird. Für Tolkien spiegeln Mythen, ganz gleich in welcher Zeit sie entstehen, wider, was Gott unter Nutzung realer Menschen und wirklicher Geschichte erschafft. Mythopoeten – auch solche, die wie er selbst in der Moderne leben – sind untergeordnete Schöpfer, und sein Mythos sollte vor allem der Neuverzauberung der Natur dienen und der Wiederbelebung eines selbstbewussten mythischen Denkens, das den gottlosen Visionen der Gegenseite etwas entgegensetzt. Haldane hingegen nutzt den Begriff des Mythos – ähnlich wie er oder andere Technikvisionäre (z. B. Wells) auch Begriffe wie »Prophetie« und »Utopie« – zumeist bloß zur Abgrenzung gegenüber wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen. Der Clou ihrer Nutzung des Begriffs (bzw. der anderen von ihnen ähnlich verwendeten) ist, dass sie den Wert – wissenschaftlich fundierter – Zukunftsbilder betonen, da diese die Auffassungen und das Handeln in der Gegenwart positiv beeinflussen können; und hier entsprechen ihre Intentionen, bei unterschiedlichen Zielsetzungen, den Absichten der konservativen Mythopoeten. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Mythopoeten diverser Couleur bedürften in einem anderen Zusammenhang sicherlich vertiefter Analyse. Für unsere Zwecke sollte es aber ausreichen, die uns hier interessierenden »Mythen« in Anlehnung an Ulrich Oevermann36 als moderne Mythen zu begreifen, die in unserer Zeit ähnliche Funktionen erfüllen können wie früher die alten Schöpfungs-, Herkunfts- und Zukunftsmythen, zu denen

35 Vgl. zum Folgenden: Humphrey Carpenter: The Inklings. C.S. Lewis, J. R.R. Tolkien, Charles Williams and their friends, London: Allen & Unwin 1978. 36 Vgl. z. B. Ulrich Oevermann: »Strukturelle Religiosität und ihre Ausprägungen unter Bedingungen der vollständigen Säkularisierung des Bewusstseins«, in: Christel Gärtner u. a. (Hg.): Atheismus und religiöse Indifferenz, Opladen: Leske+Budrich 2003, S. 339–387, dort insbesondere S. 347. 82

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Oevermann (wie Haldane) auch die Kernelemente der biblischen Religionen zählt. Dabei wird aber davon abgesehen, Oevermanns weitreichende Säkularisierungsthese (einer sich durchziehenden »strukturellen Religiosität«) zu teilen, und lediglich für die explizit religiösen Mythen à la Tolkien und für die explizit als Religionsersatz fungierende transhumanistische Zukunftsvision eine solche Funktionsähnlichkeit angenommen.

I V. E i n i g e D e u t u n g s m ö g l i c h k e i t e n Der mythische Kontext der heutigen Debatte über Human Enhancement ist also zu einem großen Teil bereits in der Zwischenkriegszeit geschaffen worden, was hinsichtlich der frühen transhumanistischen Zukunftsvision bereits verschiedentlich festgestellt wurde,37 aber wohl auch für einige der Gegenentwürfe zu konstatieren ist. Wie aber lässt sich die aktuelle Relevanz dieses mythischen Ensembles erklären? Sind dafür vor allem die wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte verantwortlich, die nun einige der Visionen plausibler erscheinen lassen, was im vorliegenden Sammelband vor allem von Reinhard Heil und Hava Tirosh-Samuelson nahegelegt wird? Oder sollte sich unser nach Erklärungen suchender Blick stärker noch auf kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen ausweiten, wie es die hier von Andreas Woyke diskutierten Romane des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq tun? Um was handelt es sich bei der transhumanistischen Zukunftsvision eigentlich, um eine eigenständige Ideologie oder nur um schmückendes Beiwerk eines technokratischen Sozialismus und anderer Ideologien? Und wenn es sich um eine eigenständige Ideologie handelt, sollte diese dann als quasireligiös oder gar als religiös angesehen werden? Simple eindeutige Antworten werden sich auf solche Fragen wohl nicht finden lassen. Dennoch sollen zum Abschluss nun noch einige Vorschläge zur Deutung der Persistenz und der aktuellen Relevanz dieses mythischen Ensembles gemacht werden. Wissenschaftssoziologisch betrachtet ist zunächst bemerkenswert, dass die Entfaltung der transhumanistischen Zukunftsvision mit der Entstehung des modernen Wissenschafts- und Innovationssystems einhergeht, so wie es – trotz vieler Veränderungen – in Grundzügen noch heute 37 Vgl. z. B. Heil in diesem Band; Wolf Schäfer: Ungleichzeitigkeit als Ideologie, Frankfurt a. M.: Fischer 1994; die in Fußnote 1 genannten Arbeiten d. Verf.; sowie Lutz Niethammer, Man’s World, wo darauf hingewiesen wird, dass auch die gegen Haldane und Wells gerichtete pessimistische Zeitkritik (einschließlich der Tolkiens) im »Oxbridge« (Oxford und Cambridge) der Zwischenkriegszeit »ausgebrütet« wurde. 83

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existiert. Zu nennen sind hier z. B. der massive Zuwachs an Forschungsund Entwicklungsaktivitäten, die Herausbildung einer systematischen, planenden Forschungs- und Technologiepolitik – auch auf Basis empirischer Wissenschafts- und Technikforschung –, die stärkere Anwendungsorientierung von Wissenschaft und der relative Bedeutungsverlust der Geistes- und Kulturwissenschaften gegenüber Naturwissenschaften und quantitativ-empirischen Sozialwissenschaften. Einige der Visionäre haben in dieser Entwicklung prominente Rollen gespielt. Vor diesem Hintergrund lässt sich die frühe transhumanistische Zukunftsvision als eine Ideologie deuten, die für die wachsende und um einen neuen gesellschaftlichen Status kämpfende Schicht moderner Naturwissenschaftler und Ingenieure attraktiv war. Ihr neuerlicher Aufschwung in unserer Zeit, die durch einen massiven gesellschaftlichen Einfluss der Technowissenschaft geprägt ist, lässt sich dann als Renaissance früher Ideale einer nun selbstbewussten naturwissenschaftlich-technischen Elite deuten, die z. T. mit Sorge die religiös, ökologisch und kulturkritisch begründete Fortschrittsskepsis betrachtet. Medien- und kulturwissenschaftliche Aspekte spielen wohl auch eine Rolle. Das Internet ist in einer über das übliche Maß hinausgehende Weise für die transhumanistische Bewegung und andere technikvisionäre Kreise unserer Tage von Bedeutung, worauf auch Hava-TiroshSamuelson im vorliegenden Band hinweist. Dies dürfte nicht nur an deren beruflicher und lebensweltlicher Affinität zu neuen Technologien liegen, sondern auch daran, dass die Computertechnologie und das Internet selbst zur Projektionsfläche weitreichender Zukunftsbilder geworden sind, die zum Teil direkt in der Tradition der transhumanistischen Zukunftsvision stehen, z. B. im Bezug auf die Vorstellungen eines globalen Gehirns und in den Entkörperlichungsphantasien. Auch die Gegenentwürfe zur transhumanistischen Zukunftsvision – derzeit eher die explizit mythopoetischen von Tolkien und Lewis als die dystopischen – erleben gegenwärtig eine Renaissance. Während trotz des Aufschwungs einer »dunklen«, fortschrittspessimistischen Science-Fiction in diesem Genre der Geist der frühen transhumanistischen Zukunftsvision z. T. bewahrt wurde, haben die im Kern fortschrittskritischen und im Detail antitranshumanistischen Phantasiewelten einen erstaunlichen Einfluss auf die populäre Kultur unserer hoch technisierten Zivilisation erlangt. Emblematisch steht hierfür die vor allem in technischer Hinsicht bemerkenswerte, zu Beginn der 2000er Jahre global sehr erfolgreiche Verfilmung von The Lord of the Rings durch Peter Jackson. Tolkiens Mythos hat aber auch in der »digitalen Kultur«‚ nachhaltig gewirkt bis hin zu heutigen Computerspielwelten, die von Elben, Orks, Hobbits und ande-

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ren seiner Kreaturen bevölkert werden.38 Und die explizit mythopoetischen Gegenentwürfe in der Zwischenkriegszeit lassen sich z. T. wiederum wissenschaftssoziologisch als Ausdruck der Statusverunsicherung unter Geistes- und Kulturwissenschaftlern deuten. Tolkiens Mythos verdankt sich insbesondere auch philologischer Motivation und ist gestaltet als das Werk eines Historikers, der von der Frühzeit unserer Welt berichtet (z. B. mit Appendices und etymologischen »Spekulationen«). Dass er in unserer hoch technisierten Zivilisation derart erfolgreich ist, zeigt auf bemerkenswerte Weise die von Andreas Woyke in diesem Band im Bezug auf Houellebecq analysierte Verschränkung von »romantizistischer Weltflucht« und »technizistischer Machbarkeitsethik« in der Moderne. Nicht nur der Umstand, dass Lewis seine Science-Fiction vor allem auch in christlich-apologetischer Absicht veröffentlichte39 und Tolkiens Werk ebenfalls christlich fundiert ist, erlaubt zudem eine religionswissenschaftliche Deutung der Persistenz des mythischen Ensembles aus transhumanistischer Zukunftsvision und den Gegenentwürfen zu ihr. Während bei einigen Vertretern der spätzaristischen und frühsowjetischen transhumanistischen Strömungen40 ein unkonventioneller, aber nicht dezidiert antitraditionaler mystischer Hintergrund evident ist, stellt sich die Lage in Bezug auf Großbritannien komplexer dar. Mit Autoren wie Reade, Wells, Haldane und Bernal sind es gerade scharfe Kritiker der etablierten Religion, von denen die transhumanistische Zukunftsvision entworfen wird. Hier ist selbstverständlich nicht der Platz, um auf die weitreichenden Kontroversen über Religion und Säkularisierung einzugehen. Unzweifelhaft weist die transhumanistische Zukunftsvision aber Züge auf, die ihre zahlreichen Charakterisierungen als quasireligiös, pseudoreligiös, gnostisch, eschatologisch usw. plausibel erscheinen lassen. Seit Reade wird von Technikvisionären auch immer wieder erklärtermaßen das Ziel verfolgt, eine neue Religion oder Ersatzreligion zu schaffen bzw. die etablierte Religion wesentlich zu ergänzen.41 Bei Ber38 Ein zentrales Element dieser Computerspiele ist es, die Fähigkeiten der eigenen Spielfigur (»character«) durch Ausrüstung und Magie (bzw. in Science-Fiction-Spielen durch Nanomedizin und dergleichen) zu verbessern. 39 Dies gilt auch für die meisten seiner anderen Schriften wie z. B. das in den 1940er Jahren entstandene, vor kurzem ebenfalls aufwendig verfilmte Fantasy-Werk The Chronicles of Narnia. Finanzier der Verfilmung war ein evangelikaler US-Milliardär und der Film zielt trotz seiner Eignung für ein Massenpublikum insbesondere auch auf gläubige Christen. 40 Vgl. zu diesen Strömungen auch Möbius in diesem Band. 41 Vgl. dazu und zum Folgenden: Christopher Coenen: »Verbesserung des Menschen durch konvergierende Technologien«, in: Hartmut Böhm/Kon85

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nal ist in diesem Zusammenhang dessen frühe »Konversion« vom glühenden Katholiken zum überzeugten Roten und sein späteres Spiel mit religiösen Bildern und Begriffen bemerkenswert, bei Haldane die starke Faszination durch theologische Fragen und durch den Hinduismus. Auch wenn man sich die beiden sicher nicht als Gläubige in der Art einiger heutiger Transhumanisten vorstellen sollte und den Nutzen der Essays für sie bedenkt (Bekanntheit in und Einwirken auf die Öffentlichkeit, Herausforderung ideologischer Gegner, auch kommerzieller Erfolg), ist nicht zu übersehen, dass beide auch öffentlich ihre starke emotionale Verbundenheit mit der transhumanistischen Zukunftsvision bekundeten.42 Relevanter als dies ist indes der Umstand, dass die von ihnen maßgeblich mitentwickelte Zukunftsvision, zur Ideologie geworden, eine hohe strukturelle Ähnlichkeit mit der christlichen Religion aufweist und deswegen von deren Anhängern oft als Bedrohung wahrgenommen wird.43 Wie bereits in der kurzen Diskussion von Tolkiens Mythos gezeigt und auch von Hava Tirosh-Samuelson im vorliegenden Band dargelegt, ist in diesem Zusammenhang die Erwartung, den Tod zu überwinden, von herausragender Bedeutung. Der Transhumanismus treibt, auch schon in Bernals früher Vision,44 den Dualismus von res cogitans und res extensa auf die Spitze, indem er Letztere als beliebig formbar ansieht und den Geist völlig vom menschlichen Leib »befreien« will. Die transhumanistische Vision erscheint so als eschatologische Mutation einer naturalistischen Weltanschauung.45 Damit ist eine weitere Betrachtungsebene erreicht, die im Folgenden noch knapp skizziert werden soll.

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rad Ott (Hg.): Bioethik – Menschliche Identität in Grenzbereichen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008, S. 41-124. Haldane charakterisiert den Inhalt seines letzten Essays in dieser Tradition, veröffentlicht Anfang der 1960er Jahre, als Skizze seiner eigenen Utopie, die andere vielleicht als seine Privathölle ansähen. Bernal schreibt Ende der 1960er Jahre im Vorwort zur Neuauflage seines Essays von 1929, dass er sehr an diesem hänge, weil in ihm die Samen vieler Ideen enthalten seien, die ihn dann als Wissenschaftler sein ganzes weiteres Leben beschäftigten. In World without War (1958) – seinem anderen Buch, in dem die transhumanistische Zukunftsvision ebenfalls eine (allerdings geringe) Rolle spielt – merkt Bernal an, dass seine Visionen früher, als er weniger Verantwortung, aber mehr Phantasie hatte, weiter gereicht hätten. Vgl. dazu C. Coenen: Verbesserung des Menschen. Insbesondere Haldane hat sich immer wieder mit Anhängern des Christentums öffentlich auseinandergesetzt. Zu Ähnlichkeiten zwischen jüdischer Religion und Transhumanismus vgl. Tirosh-Samuelson in diesem Band. Vgl. dazu Heil in diesem Band. Vgl. dazu C. Coenen: Transhumanismus.

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Man kann die transhumanistische Zukunftsvision als eine spezifische Antwort oder zumindest als Reflex auf eine Krise des Fortschritts deuten, die durch den Ersten Weltkrieg für alle sichtbar wurde, deren Ursachen aber tiefer lagen und wohl noch liegen – denn überwunden ist sie anscheinend nicht. Angesichts dieser Krise – in die religiös-weltanschauliche Verunsicherungen wie die bereits diskutierten genauso hineinspielten wie der große gesellschaftliche Antagonismus von Bourgeoisie und Proletariat – gelangten neue oder erst in Keimform existierende Fortschrittskonzepte zur Entfaltung. Während in Deutschland radikale, sich dem Marxismus zuwendende Intellektuelle – insbesondere die Frankfurter Schule und ihr Umfeld – mit der genügsamen Idee eines vorbestimmten, sicheren Fortschritts durch dessen Entzeitlichung brachen, trieben die radikalen Naturwissenschaftler in Großbritannien evolutionistische Fortschrittshoffnungen und das Gedankenspiel mit der Zukunft auf die Spitze.46 Ihre Ideologie extremen Fortschritts war dabei keineswegs streng deterministisch und zumindest nicht durchgehend naiv optimistisch – auf jeden Fall weniger als die Überzeugungen vieler, die ihnen heute nacheifern. An Hans Blumenberg anknüpfend ließe sich die transhumanistische Zukunftsvision vielleicht als ein – im Grunde vermutlich verzweifelter – Versuch deuten, die in ihrer Rolle als Erbin der Eschatologie überforderte Fortschrittsidee durch eine neuartige Synthese mit jener zu retten.47 Bernal treibt in The World, the Flesh and The Devil, in einer an Wells erinnernden Weise, die Spekulation immer weiter in die Zukunft voran – zwischendrin rhetorisch fragend, warum wir denn innehalten sollten, solange unsere wissenschaftlich fundierte Vorstellungskraft noch nicht erschöpft ist. Die Rationalität der Fortschrittsidee wird, durch wissenschaftliche Prophetie, immer mehr strapaziert, bis die Vision den Zeitpunkt erreicht, an dem die extraterrestrische, zu einem Superorganismus zusammengewachsene Menschmaschinen-Zivilisation sich in Massen untereinander kommunizierender Atome und danach völlig in Licht auflöst. Ob es sich dabei um ein Ende oder einen Anfang handeln werde, sei heute noch nicht abzusehen. Aber selbst diese Frage glaubte Bernal aufwerfen zu können, und das ist hier entscheidend.

46 Vgl. die vergleichende Diskussion von Bernal und Max Horkheimer in W. Schäfer, Ungleichzeitigkeit als Ideologie. 47 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 34ff. Wer den transhumanistischen Spekulationen etwas abgewinnen kann, könnte indes auch auf die Idee kommen, dass sich in diesen wieder eine neue Epoche ankündigt. 87

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Die Planbarkeit des Glücks – Dostojew skis Kritik des rationalistischen Menschenbildes der Utopie THOMAS MÖBIUS Abstract: In dem Essay Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) kritisiert Dostojewski am Bild des Neuen Menschen in Tschernyschewskis Utopie Was tun? (1863), dass dieser in ihm die menschliche Irrationalität unterschlage. In ihr gründe jedoch existentiell das menschliche Sein. Die Glücksprogramme der Utopie führten daher zwangsläufig in eine dehumane, totalitäre Gesellschaft. Samjatin aktualisiert in seiner Dystopie Wir (1920) diese Kritik vor der Folie der frühsowjetischen Bilder des Neuen Menschen der 1920er Jahre. In diesen finden sich u. a. deutliche Bezüge zum Human Enhancement. Aus Dostojewskis Kritik des rationalistischen Menschenbildes lässt sich mithin, so die These, eine kritische Perspektive auf ein zentrales Motiv von Human Enhancement entwickeln: eben die Annahme, das Glück lasse sich für den Einzelnen wissenschaftlich optimieren.

I. Einleitung John Desmond Bernal (1901-1971) und John Burdon Sanderson Haldane (1892-1964) definieren als eine Bedingung der transhumanistischen Höherentwicklung des Menschen die rationale Kontrolle der menschlichen Psyche.1 Der Neue Mensch werde, wie es bei Haldane heißt, die

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Dies lässt sich, im Fall Bernals, als Reaktion auf die von Freud selbst so genannte ›psychoanalytische Kränkung der Menschheit‹ deuten. Vgl. Christopher Coenen: »Transhumanismus und Utopie. Ein Abgrenzungsversuch aus aktuellem Anlass«, in: Rolf Steltemeier et al. (Hg.), Neue Utopien. Zum Wandel eines Genres, Heidelberg: Manutius 2009, S. 135168, hier S. 138f. und 147-149. 91

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»dunklen und bösen Elemente« seiner Seele kontrollieren und unterdrücken (müssen).2 Genau diese Frage der menschlichen Irrationalität macht Fjodor M. Dostojewski (1821-1881) in seinem 1864 veröffentlichten Essay Aufzeichnungen aus dem Kellerloch3 zum Ausgangspunkt seiner Kritik an Nikolai G. Tschernyschewskis (1828-1889) Utopie Was tun?,4 die ein Jahr zuvor erschienen war. Dostojewski sieht in dem Glauben, die menschliche Irrationalität auflösen zu können, den Ausdruck der Hybris des rationalistischen Denkens. In ihrer letzten Konsequenz bedeute sie, so Dostojewski, die Dehumanisierung der menschlichen Existenz. Die Kontroverse zwischen Tschernyschewski und Dostojewski fällt nicht in den engeren Bereich von Human Enhancement: Tschernyschewskis Neuer Mensch ist nicht transhumanistisch begründet, da dieser nicht durch die wissenschaftlich-technische Manipulation des menschlichen Körpers und Geistes entstehen soll. Sein Neuer Mensch steht in der Tradition der sozio-kulturellen Umerziehung, wie sie für die klassische Utopie charakteristisch ist. Aber mit der Kritik von Tschernyschewskis rationalistischem Menschenbild greift Dostojewski ein Denkmuster auf, das nicht nur für die Utopie, sondern auch für die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen von Human Enhancement wesentlich ist. In der Rezeption wurde Dostojewskis Kritik dementsprechend als kritische Perspektive auf die Vorstellungen eines psychisch und physisch optimierbaren Menschen entfaltet. Insbesondere Jewgeni I. Samjatin (1884-1937) brachte sie in seiner Dystopie Wir5 gegen die frühsowjetischen technikvisionären und transhumanistischen Vorstellungen eines Neuen Menschen in Anschlag; aber auch in Michel Houellebecqs dystopischer Parabel La possibilité d’une île aus dem Jahr 20056 lässt sie sich als Referenzpunkt ausmachen. Ausgehend von der Kontroverse zwischen Tschernyschewski und Dostojewski soll das im Folgenden nachgezeichnet werden.

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Vgl. John Burdon Sanderson Haldane: Daedalus or Science and the Future. A Paper Read to the Heretics, Cambridge/London: Kegan Paul, Trench, Trubner & Co. 1925, S. 82. Fjodor Dostojewskij: Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, übers. von Swetlana Geier, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1984; im Folgenden zitiert mit der Sigle Kellerloch. Nikolai G. Tschernyschewski: Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen, übers. von Dr. M. Hellmann und Hermann Gleistein, Berlin und Weimar: Aufbau 1974; im Folgenden zitiert mit der Sigle Was tun? Jewgenij Samjatin: Wir, übers. von Gisela Drohla, Köln: Kiepenheuer & Witsch o. J.; im Folgenden zitiert mit der Sigle Wir. Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, übers. von Uli Wittmann, Köln: DuMont 2005; vgl. hierzu auch den Beitrag von Andreas Woyke zu Houellebecq in diesem Band.

DIE PLANBARKEIT DES GLÜCKS – DOSTOJEWSKIS KRITIK

I I . Ts c h e r n ys c h ew s k i s r a t i o n a l i s t i s c h e An t h r o p o l o g i e d e r N e u e n M e n s c h e n Tschernyschewski entwirft in Was tun? das Bild einer frühsozialistisch inspirierten Gesellschaft – mit deutlichen Anleihen bei Charles Fourier (1772-1837): Die Helden des Romans lesen Destinée sociale (1834-45), Victor Considerants (1808-1893) Popularisierung von Fouriers Utopie und seiner Phalanstèren7 und gründen nach deren Vorbild kommunitäre Arbeits- und Lebensgenossenschaften. Die Utopie ist als praktische Programmschrift angelegt. Sie soll Hilfestellung geben, die neue Gesellschaft zu errichten. Die zentrale Strategie bildet dabei die (Selbst-) Erziehung zum Neuen Menschen. Emphatisch heißt es: »Erhebt euch aus eurem Kellerloch, meine Freunde, erhebt euch, […] der Weg ist leicht und verlockend, versucht es nur: Bildung, Bildung.« (Was tun? 375)8

Indem sich der Einzelne durch Aufklärung und Bildung – eben z. B. durch die Schriften Fouriers, Considerants und Ludwig Feuerbachs – aus seinem Herkunftsmilieu, dem »Kellerloch«, befreit und sich in seiner individuellen Lebenspraxis zum Neuen Menschen erzieht, wird ein sozio-kultureller Transformationsprozess in Gang gesetzt, der die Gesellschaft dem utopischen Ziel annähert. Die zentralen Stichworte sind dabei Bildung und Vernunft. Wenn jeder Einzelne rational und vernünftig handelt, dann werde, so Tschernyschewski, auch die Gesellschaft als Ganzes gut und vernünftig. Dieses vernunftgemäße Gute bestehe in dem Naturgemäßen, einem quasi naturgesetzlich ›richtigen‹ Leben, das lediglich durch Unwissenheit und eine depravierende Gesellschaftsordnung überlagert sei. Für den Neuen Menschen komme es daher bloß darauf an, dieses ›vernünftige Gute‹ wissenschaftlich exakt zu erkennen und danach zu handeln. Dem liegt als anthropologische Prämisse zugrunde, dass der Mensch in dem, was er sein kann, durch seine biologischen Anlagen bestimmt sei, und in dem, was er ist, durch Erziehung und Milieu.9 Das menschliche Verhalten sei daher, so Tschernyschewski, zum einen rational erklärbar und kausal fixierbar, d. h. der Mensch ist in seinem Handeln deter7 8 9

Phalanstèren: Fouriers Modell einer kommunitären Produktions- und Wohngenossenschaft. Kellerloch ist Tschernyschewskis Metapher für die alte Gesellschaft als depraviertes Herkunftsmilieu. Vgl. Nikolai G. Tschernyschewski: »Das anthropologische Prinzip in der Philosophie«, in: ders., Ausgewählte philosophische Schriften, übers. von Alfred Kurella, Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1953, S. 63174. 93

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miniert. Was er als seinen freien Willen bezeichnet, sei lediglich sein »subjektiver Eindruck« von einer Handlung.10 Zum anderen sei der Mensch, der sich böse verhalte, nicht von Natur aus böse. Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn ›gut‹ oder ›böse‹ sein lassen.11 Er verhalte sich böse, wenn er durch sein Milieu gehindert wird, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Neun Zehntel aller anomischen Verhaltensweisen würden verschwinden, beseitigte man für den Einzelnen nur den Mangel an Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Der Mensch wolle angenehm leben, darin besteht für Tschernyschewski in der Summe das menschliche Grundbedürfnis. Dessen Befriedigung verfolge der Einzelne als seinen »Nutzen«. Damit begründet Tschernyschewski die Ethik seines Neuen Menschen auch utilitaristisch.12 »Bei aufmerksamer Betrachtung der Motive, von denen sich die Menschen leiten lassen, stellt sich heraus, daß alle ihre Handlungen […] ein und derselben Quelle entspringen: der Mensch handelt so, wie es ihm angenehm ist, und läßt sich von der Berechnung leiten, die ihn veranlaßt, auf den geringeren Nutzen oder das geringere Vergnügen zu verzichten, um den größeren Nutzen, das größere Vergnügen zu gewinnen.«13 »Nur gute Handlungen machen sich wahrhaft bezahlt: vernünftig ist nur, wer gut ist, und zwar genau in dem Maße, wie er gut ist. Der Mensch, der nicht gut ist, ist einfach ein unvernünftiger Verschwender, der tausend Rubel für den Ankauf einer Ramschware verausgabt […].«14

Woher weiß nun der Einzelne, was das als ›wahrer Nutzen‹ reformulierte ›vernünftige Gute‹ ist? Durch Aufklärung und Bildung, so die Antwort. Indem Tschernyschewski das Gute bzw. den wahren Nutzen als naturgesetzlich bestimmbare Größe charakterisiert, erklärt er die Ethik zu einer Naturwissenschaft wie Chemie oder Physiologie. Im Sinne eines strikten Materialismus und Positivismus lasse sich das Gute als »exaktes Wissen« ermitteln. Um seinen wahren Nutzen zu erkennen, bedarf es daher für den Einzelnen nur der Bildung. Die in Was tun? zur Aufklärung der Neuen Menschen herangezogene frühsozialistische Lektüre markiert da10 Vgl. ebd., S. 121; Was tun?, S. 112f. 11 Vgl. ebd., S. 127ff. 12 Tschernyschewski bezieht sich vor allem auf John Stuart Mill. Dieser hatte in Reaktion auf die Kritik des Utilitarismus als »pig philosophy« Benthams Utilitarismus dahingehend modifiziert, dass er die Formen der Lust (das meint des Glücks) hierarchisiert: Er stellt die geistigen Freuden über die sinnlichen Genüsse. 13 Tschernyschewski: Das anthropologische Prinzip, S. 159; ders., Was tun?, S. 108-112. 14 Ebd., S. 167f. 94

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bei, wonach Tschernyschewski den ›wahren Nutzen‹ bestimmt: Er setzt Fouriers Utopie mit der in der Natur des Menschen begründeten vernünftigen Ordnung gleich. Im Hinblick auf Dostojewskis Kritik ist der wesentliche Punkt der rationalistischen Anthropologie Tschernyschewskis nun deren Annahme, das Glück des Menschen liege darin, sich rational zu verhalten. Wenn alle ›vernünftig‹ handeln und leben, gebe es keine unglücklichen und leidenden Menschen mehr. Das Glück lasse sich für den Einzelnen wissenschaftlich planen und optimieren; sich dagegen zu stellen, sei Ausdruck von Dummheit und Unaufgeklärtheit.15 Die Erwartung ist, dass mit der Zunahme der Aufklärung auch das Glück wachsen werde.

I I I . D o s t o j ew s k i s K r i t i k d e r r a t i o n a l i s t i s c h e n An t h r o p o l o g i e Ts c h e r n ys c h ew s k i s Dostojewski nahm Tschernyschewskis Utopie Was tun? zum Anlass, um eine von ihm im Zuge der Arbeit an den Winteraufzeichnungen16 notierte Idee aufzugreifen. In Fortsetzung des dort entworfenen Bildes der westlichen Zivilisation als dekadent, materialistisch und degeneriert, hatte Dostojewski geplant, die Deformationen der westlichen Zivilisation durch die rationalistische Auffassung von Mensch und Gesellschaft in einer Figur zu porträtieren. In ihr sollte die Wurzel der Degeneration aufgezeigt werden, nämlich der rationalistische Sündenfall des Cartesischen cogito ergo sum mit der »säkularen Selbstsetzung des Menschen aus dem Prinzip der Vernunft«17. Der Arbeitstitel dafür lautete Bekenntnisse (Ispoved’) und war als Verweis auf Rousseaus Les Confessions

15 Tschernyschewski spielt das in Was tun? u. a. in dem Dreiecksverhältnis der Hauptfiguren Wera Pawlowna, Lopuchow und Kirsanow durch. Im Rekurs auf Fouriers Theorie der Leidenschaften naturalisiert er die sexuellen Gefühle als »Nervenkräfte«, die sich wie in einem chemischen Experiment einer rationalen Kontrolle unterwerfen lassen. 16 Sie ist der Bericht seiner Europareise im Jahr 1862. Vgl. Fjodor M. Dostojewski: »Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke«, in: ders., Aufzeichnungen aus einem Totenhaus und drei Erzählungen, übers. von E.K. Rahsin, München: Piper 1958, S. 735-833. Dostojewski zeichnet hier von Europa das Bild einer dekadenten und materialistischen Gesellschaft: Der Aufstieg der Petite Bourgeoise bedeute das Endstadium der westlichen Zivilisation. Ihr Materialismus prämiere, so Dostojewski, zügellosen Individualismus, moralische Bindungslosigkeit und sittliche Verwahrlosung. 17 Klaus Städtke (Hg.): Russische Literaturgeschichte, Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2002, S. 200. 95

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(1782) gedacht.18 Indem er Was tun? als Bezugspunkt nimmt,19 fokussiert er das Projekt auf die Adaption des Positivismus und Materialismus als szientistische Weltanschauung durch die nihilistische Bewegung der 1860er-Generation.20 Er ändert den Titel zu Aufzeichnungen aus dem Kellerloch – eine Anspielung auf Tschernyschewskis Kellerloch-Metapher – und stellt die Auseinandersetzung mit der rationalistischen Anthropologie des Neuen Menschen, wie sie Tschernyschewski in Was tun? zusammengefasst hatte, in den Vordergrund. Dostojewski macht die Widerlegung von Tschernyschewskis Anthropologie zum Mittelpunkt seiner Kritik an dessen Utopie. Von der Kritik der Anthropologie des Neuen Menschen aus interveniert er gegen Tschernyschewskis »materialistischen Utilitarismus des kollektiven Glücks«21, den Vernunft- und Fortschrittsoptimismus, den Glauben, der Mensch könne die Gesellschaft planen, sowie gegen die milieutheoretische Doktrin von der Schuld der Verhältnisse am Handeln der Menschen. Er zerpflückt die Elemente der szientistischen Weltanschauung der Neuen Menschen und ihren Glauben an die Vernunft und das Gute im Menschen als Lyrismen, die vor der Natur des Menschen keinen Bestand hätten. Als Ausgangspunkt nimmt er dabei Tschernyschewskis Parole einer zur Glücksformel aufgerüsteten rationalistischen Vernunft, d. h. die Erwartung, dass sich für das Verhalten des Einzelnen eine naturgesetzartige Formel seines ›wahren Nutzens‹ finden lasse und er sich aus Vernunftgründen nach ihr verhalten könne. Dieser Versuch, den Menschen in seinem Handeln und seinen Gefühlen gleichsam mathematisch zu berechnen, verfehle die menschliche Natur. Die strikt rationalistische und materialistische Betrachtung des Menschen mache aus ihm eine Maschine. 18 Vgl. Fedor M. Dostoevskij: Polnoe sobranie soinenij, Bd. 5, Leningrad: Izdat. »Nauka« 1973, S. 374f. 19 Vgl. zu den direkten Bezügen Elena Dryzhakova: »Dostoevsky, Chernyshevsky, and the Rejection of Nihilism«, in: Oxford Slavonic Papers 13 (1980), S. 58-79; Barbara Lambeck: Dostoevskijs Auseinandersetzung mit dem Gedankengut ernyševskijs in »Aufzeichnungen aus dem Untergrund«, Tübingen: Universität, Neuphilologische Fakultät 1980; Derek Offord: »Dostoyevsky and Chernyshevsky«, in: The Slavonic and East European Review 57 (1979) H. 4, 509-530; Barbara Wett: ›Neuer Mensch‹ und ›Goldene Mittelmäßigkeit‹. F. M. Dostoevskijs Kritik am rationalistisch-utopischen Menschenbild, München: Sagner 1986. 20 Vgl. zur nihilistischen Bewegung in Russland Peter C. Pozefsky: The Nihilist Imagination, New York u. a.: Lang 2003. Tschernyschewskis Utopie Was tun? kann als Manifest der nihilistischen Bewegung der 1860erGeneration verstanden werden, vor allem darauf beruht ihre überragende Wirkung. 21 Richard Saage: Utopische Profile, Bd. 3, Münster: LIT 2002, S. 289. 96

DIE PLANBARKEIT DES GLÜCKS – DOSTOJEWSKIS KRITIK

»[…] fände man wirklich einmal die Formel unseres Willens und unserer Launen, das heißt ihren Grund und das Gesetz ihrer Entstehung, ihrer Ausbreitung, ihrer Richtung in diesem und jenem Fall usw. usw., das heißt die richtige mathematische Formel – so würde der Mensch womöglich augenblicklich aufhören zu wollen […] Was ist denn das für ein Vergnügen, nach einer Tabelle zu wollen? Das wäre ja auch noch nicht alles: er verwandelte sich dann augenblicklich aus einem Menschen in einen Drehorgelstift oder etwas Derartiges; was ist denn ein Mensch ohne Wünsche, ohne Willen und ohne Begehren anderes als ein Stiftchen an einer Drehorgelwalze?« (Kellerloch 29)

Der Mensch sei mehr als eine, wie Dostojewski polemisiert, Glücksformel des »zwei mal zwei gleich vier«. Der Kern der menschlichen Existenz liege gerade in dem unbestimmbaren Willen, der sich nicht auf Vernunftgründe zurückführen lasse. Dieses »selbständige Wollen« bilde den irrationalen, triebhaften Grund des menschlichen Denkens und Handelns, das Unbewusste, das sich dem rationalen Zugriff entzieht – metaphorisch gesprochen das Kellerloch der Seele. Der Mensch sei primär nicht rational, von seinem Verstand her bestimmt, sondern durch sein Unbewusstes. Sollte es tatsächlich gelingen, dessen ›Gesetze‹ aufzudecken und das menschliche Verhalten berechenbar zu machen, dann wäre das nicht der Eintritt in das Reich der Freiheit, wie es Tschernyschewski den Neuen Menschen prophezeit, es wäre »der Anfang des Todes« (Kellerloch 37). Ein Wollen nach einer Tabelle der Naturgesetze – einer Logarithmentafel des menschlichen Verhaltens, wie Dostojewskis Kellerlochmensch22 höhnt – wäre kein Wollen mehr. Der Mensch strebe zwar nach dem vollkommenen Glück – und dieser Endzustand sei mit der Formel »zwei mal zwei gleich vier« womöglich treffend erfasst. Aber sein Ziel sei nicht das Erreichen des vollendeten Glücks, sondern das Streben danach. Er liebe nicht die perfekte Glückseligkeit, sondern das Leben mit seinen Unvollkommenheiten und dem Leiden. Tschernyschewskis »Zwei mal zwei gleich vier«-Glückseligkeit sei zwar absolut vernünftig, aber von ebenso absoluter Langeweile. Der Mensch würde in kürzester Zeit gegen sein vernünftiges Glück rebellieren. Tschernyschewskis Symbol in Was tun? für die Gesellschaft im utopischen Endzustand des vernünftigen Glücks ist der Kristallpalast, das Gebäude der zukünftigen Phalanstèren; er bildet das Gegenbild zum Kellerloch. Dostojewski greift das Bild auf23 und argumentiert, das Beängstigende

22 Die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch sind formal der Monolog eines Ich-Erzählers, der in einer Souterrainwohnung – dem Kellerloch – lebt. 23 Vgl. zum Kristallpalast als Metapher bei Dostojewski Karla Hielscher: »›Enzyklopädie der Menschheit‹ oder ›Prophezeiung aus der Apokalypse‹? Der ›Kristallpalast‹ als Sinnbild des westlichen Zivilisationsmodells 97

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am Kristallpalast sei gerade seine ›eherne Gültigkeit‹, gegen die jeder Zweifel und jede Rebellion sinnlos sind: »[I]ch fürchte diesen Palast […] gerade deshalb, weil er aus Kristall und in alle Ewigkeit unzerstörbar sein wird und weil man ihm nicht einmal heimlich die Zunge wird herausstrecken können.« (Kellerloch 39)

Aus der alles lähmenden Langeweile des Kristallpalastes würden Zerstörung und Chaos entstehen, allein aus dem puren Willen zur Verneinung und furchtbarer und blutiger als alle gekannten Verhältnisse zuvor. Denn sie wären die Reaktion auf die totalitäre Inhumanität der mathematischen Logik des Kristallpalastes. »Wie wäre es meine Herrschaften, sollten wir nicht diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt zertrümmern, einzig in der Absicht, all diese Logarithmen zum Teufel zu jagen und allein nach unserem unvernünftigen Willen zu leben!« (Kellerloch 28)

Der Mensch finde sich in dem rationalen Glück nicht wieder. Getrieben von seiner Irrationalität würde er, so Dostojewski, das vollkommene Glück und die vernünftige Ordnung preisgeben. Der Mensch ziehe es vor, gegen die Vernunft und seinen Vorteil zu handeln, wenn er damit sein »selbständiges Wollen« bewahren könne, selbst Erniedrigung und Leiden nehme er dafür auf sich. Dieses Ausspielen der Irrationalität gegen das vernünftige Glück richtet sich gegen Was tun? als Programmschrift für ein vom Leiden befreites Leben. Tschernyschewski hatte das Leiden als die sinnlose Folge unvernünftiger Verhältnisse definiert, im vernunftgemäßen Leben der Neuen Menschen würde das Leiden von selbst verschwinden. Dostojewski setzt dagegen die Kellerloch-Aufzeichnungen als Manifest eines Existentialismus des Leidens. Er erklärt das Leiden zur anthropologischen Grundkonstante: Im Leiden offenbare sich das Leben selbst. »[Ich bin] davon überzeugt, daß der Mensch auf wirkliches Leiden […] niemals verzichten wird. Das Leiden – das ist ja der einzige Grund des Bewußtseins.« (Kellerloch 38)

Als Ausdruck des »selbständigen Wollens« weist Dostojewski damit dem Leiden eine sinnstiftende Funktion zu: Im Leiden erfahre der Mensch seine Freiheit gegenüber der Vernunftdiktatur des Kristallpalasim Denken Fjodor Dostojewskijs«, in: Jahrbuch der Deutschen Dostojewskij-Gesellschaft 8 (2001), S. 122-131. 98

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tes, versichere er sich existentiell seines Menschseins. Der Mensch liebe daher das Leiden mehr als die tschernyschewskische Glückseligkeit, die ihn nur wollen lasse, was vernünftig ist. Eher verzichte er auf das Glück als auf den Genuss des Leidens. Dostojewski unterfüttert das gleichsam im Vorgriff auf die Psychoanalyse als irrationale Triebbefriedigung: Aus Leiden und der eigenen Erniedrigung ziehe der Mensch Genuss und Befriedigung. »[M]it diesen Kränkungen bis aufs Blut, mit diesem Hohn, unbekannt von wem, beginnt […] der Genuß, der sich zuweilen bis zu höchster Wollust steigern kann.« (Kellerloch 16)

Entgegen der Vernunft suche der Mensch daher Erniedrigung und Leiden. Dieses Begehren ist (selbst-)zerstörerisch, aber seine Befriedigung ist Dostojewskis Kellerlochmenschen wichtiger als die »allergesündesten Schlüsse [..] unseres Verstandes über unsere Vorteile« (Kellerloch 32). Sie ist für ihn existentiell. Dostojewski destruiert damit die rationalistische Vorstellung eines vernunftgesteuerten Menschen, der nach Glück und Harmonie strebt. Er setzt dagegen ein Menschenbild, in dem der Mensch bestimmt ist durch irrationale Triebe. Gegenüber den dunklen, unberechenbaren und destruktiven Leidenschaften mache die rationale Vernunft nur einen Bruchteil des menschlichen Denkens und Handelns aus. Angesichts dieser existentiellen Irrationalität des Menschen liege mithin, so Dostojewski, Tschernyschewskis ›vernünftigem Glück‹ ein fundamentaler anthropologischer Trugschluss zugrunde: Der Mensch verhalte sich nicht rational. Das »selbständige Wollen« gründe auf irrationalen Trieben, die mit rationalistischen Kategorien wie Nutzen, Vernunft und leidfreies Glück nicht erfassbar seien. Alle Versuche, sein Verhalten im Sinne des ›vernünftigen Glücks‹ auf einen Idealzustand hin zu optimieren, seien daher zum Scheitern verurteilt. Weder lasse sich ein ›wahrer Vorteil‹ für den Einzelnen bestimmen noch eine Formel aufstellen für die ideale Organisation des Sozialen. Die Irrationalität lasse sich nur um den Preis der Vernichtung des Menschen als Menschen aufheben. Sie im Namen des ›vernünftigen Glücks‹ zu liquidieren, wie es Tschernyschewski für seine Neuen Menschen propagiert, bedeute, den Menschen auf einen »Drehorgelstift« zu reduzieren, auf »Klaviertasten, auf denen die Naturgesetze eigenhändig spielen« (Kellerloch 34). Süffisant merkt Dostojewskis Kellerlochmensch entsprechend an, die vernünftige Ordnung des Kristallpalastes mit ihrer Uniformität entspreche doch eher dem Geschmack von »animaux domestiques, als da sind:

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Ameisen, Schafe usw. usw.« (Kellerloch 37), für den »wahren Menschen« aber sei der Kristallpalast kein erstrebenswerter Ort.

I V. D e r To p o s d e s N e u e n M e n s c h e n i n d e n p o s t r e vo l u t i o n ä r e n D i s k u r s e n In seiner Dystopie Wir aktualisiert Samjatin Dostojewskis Kritik der rationalistischen Anthropologie vor dem Hintergrund der frühsowjetischen Visionen des Neuen Menschen. Der Topos des Neuen Menschen beherrschte als »Reorganisation des Menschen«, so ein Titel von Abram S. Golzman aus der Zeit,24 die (post-)revolutionären Diskurse. Er reichte als Zielgröße von der Politik, über Gastews tayloristische Erziehung des Arbeiters, den Entwurf einer proletarischen bzw. kommunistischen Moral mit entsprechend neuen Geschlechterverhältnissen (Alexandra M. Kollontai), Erziehung und Bildung (Stichwort: Schulkommunen), Architektur und Stadtplanung (Stichwort: Kommunehäuser) bis zu Kunst und Kultur (Proletkult, Avantgarde).25 In Literatur und Revolution (1924) prognostizierte z. B. Leo D. Trotzki (1879-1940), zu dem Zeitpunkt noch Volkskommissar, als Ziel der Revolution die Höherentwicklung des Menschen, sowohl kulturell als auch biologisch, und es war ihm durchaus ernst damit.

24 Abram Z. Gol’cman: Reorganizacija eloveka. Moskau: Centr. in-t truda 1924. 25 Vgl. allgemein: Stefan Plaggenborg: Revolutionskultur. Menschenbilder und kulturelle Praxis in Sowjetrussland zwischen Oktoberrevolution und Stalinismus, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996; Torsten Rüting: Pavlov und der Neue Mensch, München: Oldenbourg 2002; zur Umstrukturierung der Geschlechterverhältnisse: Alexandra Kollontai: Die neue Moral und die Arbeiterklasse, Berlin: A. Seehof & Co. 1920; Carmen Scheide: Kinder, Küche, Kommunismus, Zürich: Pano 2002; zur Bildungspolitik: Oskar Anweiler: Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära, Berlin, Wiesbaden: Harrassowitz in Komm. 1978; zur Architektur: Selim O. Chan-Magomedow: Pioniere der sowjetischen Architektur, Dresden: Verl. d. Kunst 1983; Julia Obertreis: Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917-1934, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004; Georgij A. Gradow: Stadt und Lebensweise, Berlin: Verlag für Bauwesen 1971; zur Kunst: Richard Lorenz (Hg.): Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland, München: dtv 1969; Camilla Gray: Das große Experiment, Köln: DuMont 1974; Bettina-Martine Wolter/Bernhart Schwenk (Hg.): Die große Utopie, Frankfurt/Main: Schirn-Kunsthalle 1992; Min-Chor Wi: Die Phänomenologie des Androiden, Bochum: Ruhr-Universität 2006, S. 77ff. 100

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»Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe machen, der Bewegung seiner eigenen Organe […] höchste Klarheit, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und damit Schönheit zu verleihen. Er wird den Willen verspüren, die halbbewußten und später auch die unterbewußten Prozesse im eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie in den erforderlichen Grenzen der Kontrolle durch Vernunft und Willen unterwerfen. Das Leben, selbst das rein physiologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und – unter seinen eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psycho-physischen Trainings werden. […] Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewußtseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem Willen bis in die letzte Tiefe seines Unbewußten vorzudringen und sich so auf eine Stufe zu erheben – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen. […] Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.«26

Der Neue Mensch war einerseits die Chiffre für die absolute Emanzipation des Menschen, die durch die Revolution eröffnet werden sollte. Es ging dabei, wie das Trotzki-Zitat zeigt, nicht nur um seine politische und soziale Befeiung sowie seine kulturell-geistige Vervollkommnung, sondern auch um die Befreiung aus den Fesseln einer »blinden Natur«. Im Zentrum stand fraglos die soziale und kulturelle Umerziehung,27 doch in den frühsowjetischen Bildern des Neuen Menschen zeigt sich ebenfalls das Ziel der Beherrschung der Natur bis zur Überwindung der Naturgesetze.28 Der Mensch sollte sich die Naturgesetze unterwerfen und sich selbst biologisch perfektionieren, von der rationalistischen Kontrolle psychischer Kräfte und physiologischer Prozesse über den Umbau des Körpers, die Ersetzung der natürlichen Zeugung und Geburt durch eine

26 Leo Trotzki: Literatur und Revolution, übers. von Eugen Schäfer und Hans von Riesen, Essen: Arbeiterpresse 1994, S. 250ff. 27 Vgl. dazu Plaggenborg: Revolutionskultur. 28 In seiner Satire Hundeherz (1925) parodiert dann Bulgakow beide Strategien des Neuen Menschen, die kulturell-soziale Umerziehung und den biologischen Umbau, gleichermaßen (vgl. Michail A. Bulgakow: »Hundeherz«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 6, übers. von Thomas Reschke, Berlin: Volk und Welt 1994, S. 185-297). 101

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Zeugung im Labor29, die Überwindung des Todes30 und die Aufhebung der Schwerkraft für den Menschen bis hin zur Besiedlung des Weltalls. An diese Visionen der Überwindung einer »blinden Natur« schlossen u. a. – wenn auch ohne den expliziten transhumanistischen Einschlag – die Avantgarde und der Proletkult mit ihren technik-visionären Vorstellungen eines Neuen Menschen an, der sich der Maschinen-Zivilisation anpasst. Wie die italienischen Futuristen setzte auch die postrevolutionäre russische Avantgarde die Maschine als Prinzip der Neuorganisation von Kunst und Leben.31 Sie propagierte einen am Ideal der Maschine ausgerichteten Umbau des Menschen hinsichtlich seiner psychischen und sinnlichen Fähigkeiten, seiner Arbeits- und Alltagsabläufe, seines Habitus etc. So heißt es z. B. bei Wsewolod E. Meyerhold (18741940): »Der moderne Schauspieler muß von der Bühne wie ein vollkommener AutoMotor gezeigt werden können. In der Epoche der Biomechanik[32] arbeitet der Körper des Schauspieler-Biomechanikers wie eine Maschine. […] Die Schaffung der Biomechanik wird die Erschaffung eines Menschen sein, der in seinen Bewegungsoffenbarungen den Bedingungen der neuen, mechanischen Lebensweise angepaßt ist.«33

29 Wera Golubewa, eine enge Mitarbeiterin Kollontais in der Leitung der Frauenabteilungen der Partei, kritisierte etwa an Kollontai, dass sie die Emanzipation der Frau nicht radikal genug in diese Richtung denke: »Die Menschen der Zukunft […] werden Kinder in Glaskolben zur Welt bringen – das ist eine Tatsache. (Sie werden nicht solche Idioten sein, dass sie so eine Gemeinheit mit sich veranstalten lassen, Schwangerschaft, Geburt, usw.)« (zitiert nach Scheide: Kinder, Küche, Kommunismus, S. 148). 30 So wurde in Nachrufen auf Alexander A. Bogdanow, den Begründer des Proletkults, herausgestellt, dass er in seinem Institut für Bluttransfusion zur Verlängerung des Lebens forschte (vergleiche J. Milonow: »A. A. Bogdanow«, in: Wochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande 4 (1928), H. 32-33, S. 11-12). 31 In der vorrevolutionären Phase war der russische Futurismus weniger vom Ideal der Technik und Maschine bestimmt als vielmehr von archaischmythischem Charakter, mit der Tendenz zu einer kosmischen Metaphysik. Erst nach der Revolution schloss er an den utopischen Technizismus und die Industrialisierungsideologie an. Dieser Wandel vollzog sich nicht zuletzt unter dem Einfluss der Ideen Gastews. 32 Biomechanik – von Gastew übernommener Begriff. Gastew fasst darunter seine Taylorisierung des Arbeiters. 33 Wsewolod E. Meyerhold: »Der moderne Schauspieler«, in: Jörg Bochow, Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, Berlin: Alexander 1997, S. 12-13, hier S. 13. 102

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»Das erste Prinzip der Biomechanik ist folgendes: Der Körper ist eine Maschine, der Arbeitende ist Maschinist.«34

In diesem Maschinen-Menschen sahen die Avantgarde-Künstler »nicht nur eine Inspirationsmöglichkeit für eine neue Ästhetik, in der ein Abbau der Trennung von Kunst und Technik und dadurch eine Anknüpfung der Kunst an die Ideen des Fortschritts und deren Anwendung zusammenfielen. Sie sahen in der maschinellen Kreatur den neuen Menschentypus.«35 Die Maschine wurde zum Modell nicht nur der Kunst, sondern ebenso des Menschen und des Funktionierens der Gesellschaft. Zugrunde liegt dem – und das schließt nun wiederum an die rationalistische Anthropologie Tschernyschewskis an – die Vorstellung, dass der Mensch in all seinen Lebensäußerungen durch exakte wissenschaftliche Kenntnis bestimmt werden könne und sich so für die neue technisch-industrielle Umwelt entsprechend ertüchtigen lasse. Deutlicher noch zeigt sich diese Metaphorisierung des Menschen als Maschine im Proletkult. Für den Proletkult war der Neue Mensch der Arbeiter – der Fließband-Arbeiter der normierten Massenproduktion, wie es Gastew spezifiziert: das »maschinisierte Arbeiter-Individuum«. In ihm zeige sich »die volle Schöpferkraft des gegenwärtigen Maschinismus«36. Der Neue Mensch gründe entsprechend in seiner Psychologie und Kultur, seinen Verhaltensweisen und seinem Denken in der industriellen Massenproduktion, d. h. in der Maschinisierung der Arbeit, ihrer Normierung und ihrem »Objektivismus, dem persönliche, individuelle Effekte fremd sind«37. In der Proletkult-Lyrik wurde das mythisch überhöht zu Bildern der Verschmelzung von Mensch und Maschine;38 eindringlich zeigt sich das etwa in der Lyrik Alexej K. Gastews (18821939):

34 Wsewolod E. Meyerhold: »Die Prinzipien der Biomechanik«, in: Jörg Bochow, Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, Berlin: Alexander 1997, S. 82-88, hier S. 88. 35 Wi: Die Phänomenologie des Androiden, S. 77. 36 Alexej K. Gastev: »Über die Tendenzen der proletarischen Kultur«, in: Richard Lorenz (Hg.), Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland, München: dtv 1969, S. 57-64, hier S. 59. 37 Ebd., S. 59f. 38 Vgl. die Beispiele in Lorenz (Hg.), Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrussland. 103

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»In meinen Adern rinnt neues eisernes Blut. Ich wuchs empor. Mir selbst wachsen eiserne Arme und Schultern. Ich verschmolz mit dem eisernen Bau.«39 »Den Spießer durchtechnisieren. Ihm Geometrie ins Genick jagen. Logarithmen in die Gesten. […] Hirnmaschinen – zum Transport. Kinoaugen – für die Infrastruktur. Elektronerven – zur Produktion. Arterienpumpen, legt los.«40 »Preise den Messias aus Eisen, den Helden des neuen Tages. In seinen braunen Händen ist unbegrenzte Freiheit, in seinen Muskeln aus Eisen ist der Menschheit Morgenrot.«41

Aber auch Malewitsch – der gegen den Arbeitskult der Avantgarde und des Proletkults heftig polemisierte42 – dockt mit seiner mystischen Vorstellung eines von der Materialität der Gegenstandswelt befreiten Menschen an den Topos eines Neuen Menschen an, der die »blinde«, »niedere« Natur hinter sich lässt.43 Im Rahmen seiner suprematistischen Utopie entwirft er eine Art von ›ästhetischem Transhumanismus‹. In Form einer inneren Evolution sollte sich der Mensch selbsttätig vervollkommnen.44 Mit ihr emanzipiere er sich aus dem Reich der ›blinden Notwendigkeit‹ der Natur, der, wie er es nennt, »Garküchen- und Fresswelt«. In deren Folge eröffne sich für den Menschen dann die Möglichkeit neuer Bewusstseins- und Seinsformen. Die wesentlichen Kennzeichen dieser zukünftigen suprematistischen Welt sind die Überwindung der Gegenständlichkeit und des Materialismus, d. h. eines utilitaristischen Zweck39 Ebd., S. 87. Mit dem »eisernen Bau« ist die Fabrik gemeint. 40 Aleksej Gastev: Ein Packen von Ordern, übers. von Cornelia Köster, Ostheim/Rhön: Peter Engstler 1999, Order 05. 41 Semen Rodov (Hg.): Proletarskie pisateli, Moskau: Gosudarstvennoe Izdat. 1924, S. 563. 42 Vgl. Kazimir Malevi: »Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit«, in: ders., Gott ist nicht gestürzt!, München, Wien: Hanser 2004, S. 107-119. 43 Vgl. Kasimir Malewitsch: Suprematismus – Die gegenstandslose Welt, Köln: DuMont 1989. 44 Malewitsch rekurriert hierbei u. a. auf Pjotr D. Uspenskis esoterische Lehre eines Vierten Weges der Höherentwicklung des Menschen (vgl. Pyotr D. Ouspensky: Vom inneren Wachstum des Menschen, Weilheim: Barth 1965). 104

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denkens, sowie die Schwerelosigkeit.45 Als Medium dieser Evolution sieht Malewitsch die Kunst.46 Am radikalsten dachten die Befreiung von der Natur jedoch zweifelsohne die Biokosmisten, eine literarische Gruppierung von Philosophen, Naturwissenschaftlern und Dichtern, zu ihnen zählt u. a. Konstantin E. Ziolkowski, der Begründer der sowjetischen Raumfahrt. Sie beziehen sich vor allem auf die Ideen des russischen Philosophen Nikolai F. Fedorow (1829-1903).47 Für Fedorow bestand die zentrale Aufgabe der Menschheit darin, die ›alte Welt‹ durch ein neues, »höheres« Universum zu ersetzen, in dem sie sich aus der Abhängigkeit von der Natur befreien kann. Alles bislang Naturgegebene, einschließlich des Menschen selbst, müsse in Vernunftgeschaffenes verwandelt werden. An die Stelle der »blinden Natur« trete so die ›neue Welt‹ als vollkommenes Kunstwerk. Das macht sich letztlich auch Malewitsch mit seiner suprematistischen Welt zu eigen. Ein zentrales Moment dieses neuen Universums ist die Eroberung des Kosmos als Lebensraum. Im Hinblick auf den Topos des Neuen Menschen stehen dabei drei Aspekte im Vordergrund: 1. Die Besiedlung des Kosmos markiert die unbegrenzte Herrschaft des Menschen über die Natur, insbesondere die Überwindung der Schwerkraft symbolisiert seine Befreiung aus dem »Gefängnis der Natur«. 2. Sie beinhaltet eine technikvisionäre, transhumanistische Anthropologie. Der Mensch werde die Fähigkeit erwerben (müssen), seinen Körper aus elementarer kosmischer Materie neu zu synthetisieren. Aus einem hinfälligen Naturwesen verwandle er sich in ein gegenüber der Natur autonomes künstliches und sich selbst regulierendes Wesen. 3. Die Wiedererweckung aller Menschen, die je gelebt haben, und Unsterblichkeit, sind schließlich das letzte Ziel und die Bedingung dafür, den Sozialismus – verstanden in einem mystisch-religiösen 45 Vgl. zur Überwindung der Schwerkraft Kazimir Malevi: »Die Architektur als Grad der größten Befreiung des Menschen vom Gewicht. Ziel des Lebens ist die Befreiung vom Gewicht der Schwere«, in: Boris Groys/Aage Hansen-Löve (Hg.), Am Nullpunkt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, S. 523-539, insb. S. 531ff. 46 »Die Kunst kann […] als der einzige Wirkzustand des Menschen und seines ungegenständlichen Welt-Verhältnisses gelten […].« (ebd., S. 536f.). 47 Vgl. Boris Groys/Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005; Michael Hagemeister: Nikolaj Fedorov, München: Otto Sagner 1989. 105

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Sinn48 – als absolute Gerechtigkeit zu verwirklichen. Gerechtigkeit nur für die jetzige und zukünftige Generation, so Fedorow, wäre ein halbierter Sozialismus. Er wäre nicht vollkommen, weil er behaftet bliebe mit der geschichtlich akkumulierten Ausbeutung der vorangegangenen Generationen als Opfer für das Glück der zukünftigen. Die Wiedererweckung der Toten und Unsterblichkeit aller setzen jedoch die Besiedlung des Kosmos voraus, weil für alle Menschen die Erde nicht genügend Platz biete. Fedorow dachte dabei die Wiedererweckung der Toten ganz materiell und technisch: Man habe ihre verstreuten Moleküle zusammenzutragen und als Körper neu zu synthetisieren.49 Für alle drei Aspekte gilt, dass sie mittels Technik und Wissenschaft realisiert werden sollen. Der zweite Fluchtpunkt des Topos des Neuen Menschen – neben Emanzipation – ist der Kollektivismus. Der Einzelne wurde als Teil einer höheren Gesamtheit gedacht, deren Interessen und Zielen er sich unterordnet. Die entsprechenden Bilder sind bis zum Klischee bekannt. Die Unterordnung bzw. Auflösung im Kollektiv ist zum einen schon in dem Prinzip der Maschine enthalten: Der Einzelne wird zum anonymen Teil, der sich der Maschine bzw. der Gesellschaft einfügt, in ihr ›funktioniert‹. Bernauer beschreibt diesen Kollektivismus der Maschinenmetaphorik der Avantgarde auch als eine Antwort auf die Krise des Individuums in der Moderne: Der Verlust von Lebensganzheiten erzeugte ein Gefühl der Vereinzelung und Verlorenheit. Es wurde eine Atomisierung der sozialen Gemeinschaften wahrgenommen, in deren Folge das Handeln fragmentiere und seine Sinnhaftigkeit verliere. Die Gesellschaft erschien als undurchschaubares System, dem der Einzelne allein und ohnmächtig gegenüberstehe.50 Die Metapher der Maschine wirkt demgegenüber sinnstiftend: Sie suggeriert eine neue Ordnung und Berechenbarkeit der Gesellschaft und hebt den Einzelnen in einem geordneten Kollektiv auf. Zum anderen wurde der Kollektivismus als klassenspezifische Wesenseigenschaft des Proletariats abgeleitet. Hier knüpft vor allem der Proletkult an, dem es explizit um eine klassenspezifische proletarische Kultur ging. In der Proletkult-Lyrik heißt es immer ›Wir‹, niemals ›Ich‹. Aber auch über den Proletkult hinaus bestimmte das Argument die Perspektive. Das Kollektiv sei die Seinsform des Proletari48 Fedorows Ziel war die »brüderliche« Gemeinschaft (Einheit) aller Menschen. 49 Ähnliche Ideen werden heute von dem Transhumanismus nahestehenden Autoren wie dem Robotiker Hans Moravec und dem Physiker Frank Tipler vertreten. 50 Vgl. Markus Bernauer: Die Ästhetik der Masse, Basel: Wiese 1990. 106

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ats, die aus der gemeinsamen Arbeit erwachse. Entsprechend wurde es zur proletarischen bzw. kommunistischen Reorganisation der Gesellschaft auf alle anderen Lebensbereiche übertragen: Erziehung (Schulund Jugendkommunen), Wohnen (Kommunehäuser), Freizeit und Kultur etc. Maßgeblich wurde der frühsowjetische Topos des Neuen Menschen als Maschine und Kollektivwesen schließlich auch durch den bereits erwähnten Gastew geprägt, vor allem durch seine Adaption des Taylorismus, der so genannten ›Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation‹ (NOT).51 Sie bestimmte in den 1920er Jahren den einschlägigen Diskurs. Unter ihrem Einfluss schloss, wie oben erwähnt, die russische Avantgarde an den utopischen Technizismus an. Sie machte sich die NOT als Grundprinzip für die neue Kultur und Kunst zu eigen. So übertrug u. a. Meyerhold Gastews tayloristische »Biomechanik« von der Produktion und dem Arbeiter aufs Theater und den Schauspieler. Aber auch Gastew selbst brachte schon den Taylorismus als universelles Prinzip für die Reorganisation der Gesellschaft und des Menschen in Anschlag. Gastew war Metallarbeiter, Gewerkschaftsfunktionär und expressionistischer Proletkult-Dichter, exilierte 1908 nach Frankreich und schloss sich dort dem Syndikalismus an, 1938 wurde er ein Opfer der stalinistischen Säuberungen. Im Jahr 1920 gründete Gastew unter dem Dach der Gewerkschaft in Moskau das Zentralinstitut für Arbeit (CIT) zur Erforschung und Einführung des Taylorismus als »wissenschaftliche Arbeitsorganisation«.52 Im Sinn eines »menschlichen Taylorismus«53 sollte der Arbeiter zu einem effizienten, wissenschaftlich optimierten Arbeitsverhalten erzogen werden. Dabei rekurrierte man vor allem auch

51 Vgl. zu Gastew Kurt Johansson: Aleksej Gastev. Proletarian Bard of the Machine Age, Stockholm: Almqvist & Wiksell 1983; Melanie Tatur: »Wissenschaftliche Arbeitsorganisation«. Arbeitswissenschaften und Arbeitsorganisation in der Sowjetunion 1921-1935, Wiesbaden: Harrassowitz 1979; Karla Hielscher: »Futurismus und Kulturmontage«, in: alternative 21 (1978) H. 122/123, S. 226-235. 52 Vgl. zum Aufbau des CIT Barbara Wurm: »Gastevs Medien. Das ›FotoKino-Labor‹ des CIT«, in: Matthias Schwartz/Wladimir Velminski/Torben Philipp (Hg.), Laien, Lektüren, Laboratorien, Frankfurt/Main u. a.: Lang 2008, S. 347-390. 53 »Die wissenschaftliche Organisation der Arbeit hat nicht nur etwas mit der Art und Weise der Arbeit zu tun […], sie hat es mit dem Menschen zu tun. Sie betrachtet auch den Menschen als Maschine, und zwar als die beste Maschine, die es auf der Welt gibt.« (Aleksej K. Gastev: Kak nado rabotat’, Moskau: Izd. konomika 1966, S. 157). »Der Körper muß erzogen werden wie eine Arbeitsmaschine.« (Aleksej K. Gastev: »Rüstet euch, Monteure!«, in: alternative 21 (1978) H. 122/123, S. 236-241, hier S. 239). 107

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auf die so genannte ›Psychotechnik‹.54 Es ging um Optimierung durch Erziehung, nicht um den Eingriff in die biologische Natur. In seinen Kursen bildete das CIT rund eine Million Arbeiter aus, darunter viele aus der so genannten Stachanow-Bewegung, der Akkord- und Bestarbeiterbewegung. Unter der Parole Kultur der Arbeit übertrug nun Gastew die NOT von der Produktion als gesellschaftliches Grundprinzip auf alle Lebensbereiche: »Das wird eine neue soziale Bewegung sein, das wird der Stil unserer Fabriken, unserer Kasernen, der Schulen, unserer speziellen Organisationen, der Volksfeste, der Theater, der Demonstrationen werden.«55

Er verknüpft in der Kultur der Arbeit den Taylorismus mit dem Proletkult: Die Arbeitskultur ist die neue, proletarische Kultur und Lebensweise, die sich aus der industriellen Massenproduktion und ihrer tayloristischen Optimierung ableite. Ihr Träger ist das »maschinisierte Arbeiter-Individuum«. Ihre Schlüsseleigenschaften sind: Normierung, Kollektivismus, Maschinisierung, Montage, wissenschaftliche Organisation, Gesetzmäßigkeit. Der zukünftige Mensch und die Gesellschaft seien ganz durch sie bestimmt. »Die soziale Normierung des Inneren der Arbeiterklasse wird nicht nur im Bereich der Arbeit gespürt werden, sie durchdringt die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit, das gesamte Alltagsleben. Schritt für Schritt wird anstelle der örtlich verstreuten Gewohnheiten sozusagen ein exterritorialer Plan der Arbeitsstunden, Arbeitspause, des Arbeitsurlaubs usw. konstruiert. […] Der Normierungsfluß weitet sich allmählich aus und dringt auch […] in das Schaffen des Proletariats auf sozialem Gebiet [ein], in seine Ernährung, seine Wohnungen, schließlich sogar in die feinsten Kanäle seines Lebens bis hin zu seinen ästhetischen, geistigen und sexuellen Bedürfnissen.«56 »Man darf kühn behaupten, daß noch keine Klasse in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft von solch einer normierten Psychologie erfüllt war wie das Proletariat. Wo immer es auch arbeiten würde […] – bei ihm gäbe es immer nur die gleichen psychologischen Formen […]. Das [verleiht ihm seine] auffallende Anonymität […], die es erlaubt, eine einzelne proletarische Einheit 54 Am CIT arbeiteten anfangs auch die Begründer der Psychotechnik in Russland wie Isaak N. Spielrein und ein Großteil der westlichen Standardwerke der Psychotechnik wurde am CIT ins Russische übersetzt. Vgl. zur Psychotechnik in Deutschland den Beitrag von Andreas Kaminski in diesem Band. 55 Aleksej K Gastev: »Geradebiegen des Volkes«, in: alternative 21 (1978) H. 122/123, S. 241-246, hier S. 243. 56 Gastev: Über die Tendenzen der proletarischen Kultur, S. 60. 108

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als A, B, C oder als 324, 075 oder 0 usw. zu qualifizieren. […] In der weiteren Perspektive wird es dann unmöglich werden, individuell zu denken; es wird nur die objektiven Strukturen der Psychologie einer ganzen Klasse geben.«57

Aus dieser Normierung leitet Gastew für die soziale Struktur einen »mechanisierten Kollektivismus« ab, der den Einzelnen als anonymen Teil der Maschine metaphorisiert: »Die Erscheinungen dieses mechanisierten Kollektivismus sind jeder Personalität derart fremd, sind derart anonym, daß die Bewegung dieser Kollektivkomplexe sich der Bewegung von Dingen annähert, in denen es schon keine menschliche Individualität mehr gibt, sondern nur gleichförmige, normierte Schritte, Gesichter ohne Ausdruck und Seele, die keine Lyrik, Emotionen mehr kennt und nicht durch Schrei oder Gelächter bewegt, sondern mit Manometer und Tachometer gemessen werden.«58

V. S a m j a t i n s Ak t u a l i s i e r u n g v o n D o s t o j ew s k i s »Kellerloch«-Figur In seiner Dystopie Wir bringt Samjatin gegen diese Visionen einer perfekten wissenschaftlich-technischen Mensch-Maschinen-Zivilisation Dostojewskis Kritik der rationalistischen Anthropologie in Stellung. Er greift dabei direkt Gastews Bilder des zur universellen Zukunftshoffnung stilisierten Taylorismus sowie die Verherrlichung der Maschinenästhetik mit ihrem Ineinssetzen von Mensch und Maschine auf: »Nach Taylors Gesetz, rhythmisch und schnell, im gleichen Takt, genau wie die Hebel einer riesigen Maschine, bückten die Menschen sich, richteten sich auf, drehten sich. [...] Gläserne Riesenkrane rollten langsam über gläserne Schienen, drehten und neigten sich ebenso gehorsam wie die Menschen […]. Diese vermenschlichten Krane und diese vollkommenen Menschen waren eins. Welch eine ergreifende, vollkommene Schönheit, Harmonie, Musik.« (Wir 79f.)

In den Nummern der Romanfiguren von Wir, die sie statt Namen tragen (D-503, S-4711, R-13, I-330, O-90 usw.), sind ohne Weiteres Gastews anonyme »proletarische Einheiten« zu erkennen und in dem Ideal der habituellen Gleichheit und geistigen Uniformität59 dessen Vorstellung 57 Ebd., S. 62. 58 Ebd., S. 63. 59 »[W]ir haben die gleichen Gedanken. Wir sind eben keine Einzelwesen mehr, […] Wir gleichen einander so sehr.« (Wir 11) 109

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von der sozialen und psychologischen Normierung. Auch Gastews Beschreibung des »mechanisierten Kollektivismus« findet sich bildgleich in Wir. »Das sind sie! […] Menschen ist nicht das richtige Wort – nein, es waren keine Füße, sondern schwere, von einem unsichtbaren Triebwerk bewegte Räder, es waren keine Menschen, sondern Traktoren in Menschengestalt.« (Wir 174)

Und nicht zuletzt verweist schon der Titel Wir auf die ›Wir‹-Inbrunst des Proletkults. Samjatin lässt diese Bilder vom utopischen Ideal in die dystopische Diagnose umschlagen.60 Was bei Gastew, der Avantgarde und dem Proletkult Medium der Befreiung des Menschen ist – seine wissenschaftlich exakte und technizistische Durchdringung, die tayloristische Ertüchtigung für die industrielle Zivilisation und die Aufhebung im Kollektiv –, wird bei Samjatin zum Ausdruck seiner Vernichtung. Am Ende von Wir wird der Bevölkerung mittels eines neurotechnologischen Eingriffs die Phantasie bzw. irrationale Seele entfernt, um sie so ganz in das »mathematisch-fehlerfreie Glück« (Wir 5) einzupassen. Das markiert den endgültigen Verlust des Humanen: »Menschen ist nicht das richtige Wort – nein« (Wir 174), heißt es über die Operierten. Dostojewski konstatiert im Kellerloch-Essay, dass mit der Aufhebung seiner Irrationalität im Namen eines »vernünftigen Glücks« der Mensch zu einem willenlosen »Drehorgelstift« reduziert werde. Samjatin bezieht in Wir diese Kritik Dostojewskis auf die frühsowjetischen Bilder einer rational durchherrschten, kollektivistischen Mensch-Maschinen-Zivilisation. So wird Dostojewskis Polemik gegen Tschernyschewskis mathematisches Glück von Samjatin vor dem Hintergrund einer rein tayloristischen Zukunftsgesellschaft expliziert: »Die Stunden-Gesetztafel verwandelt jeden von uns in einen stählernen sechsrädrigen Helden. Jeden Morgen stehen wir, Millionen, wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf […] beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit […]. Und zu einem millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetztafel bestimmten Sekunde die Löffel zum Mund.« (Wir 15)

Was Samjatin hier vorführt, ist die Hypertrophierung von rationalistischen Vernunft- und Ordnungsvorstellungen. Wie im Kellerloch-Essay prognostiziert, führt das »mathematisch-fehlerfreie Glück« in einen Totalitarismus der Vernunft, der alles Humane liquidiert und nur willenlose 60 Vgl. zum Umschlag von Utopie in Dystopie in Wir Saage: Utopische Profile, Bd. 4, S. 97ff. 110

DIE PLANBARKEIT DES GLÜCKS – DOSTOJEWSKIS KRITIK

Herdentiere (Dostojewski) bzw. ›lebende Maschinen‹ (Samjatin) übrig lässt. Und wie Dostojewski führt auch Samjatin gegen die rationalistische Annahme der wissenschaftlichen Berechenbarkeit des Menschen und der unendlichen Optimierung seines Glücks durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt die menschliche Irrationalität an. Die Bewohner von Samjatins Vernunftgesellschaft revoltieren gegen ihren ›Kristallpalast‹. Sie brechen aus seiner ›wissenschaftlichen Ordnung‹ aus und ziehen, wie im Kellerloch-Essay prophezeit, ein Leben mit Leiden dem ›vernünftigen Glück‹ vor. Selbst die Hauptfigur D-503, der sich zur wissenschaftlichen Vernunft und ihrer Ordnung bekennt, kann sich seinen irrationalen Triebkräften nicht entziehen. Erst als auch ihm am Ende die »Phantasie«, d. h. die Irrationalität,61 wegoperiert wird, unterwirft er sich restlos der ›Kristallpalast-Vernunft‹. Der Hintergrund von Samjatins Wir ist – wie gezeigt – der frühsowjetische Topos des Neuen Menschen, doch seine dystopische Kritik greift weiter. Sie richtet sich, wie Dostojewskis Kellerloch-Essay, gegen die rationalistische Vernunft der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und ihre technokratischen Vorstellungen, den Menschen und die Gesellschaft im Namen eines »vernünftigen Glücks« zu perfektionieren. In Dostojewskis Kellerloch-Essay und Samjatins Wir markiert die Irrationalität des Menschen die Grenze des Humanen: Sie ist nur um dessen Preis zu liquidieren, was auch als ein Argument für die Imperfektibilität des Menschen zu verstehen ist. Das politisch ›Prophetische‹ an Samjatins Dystopie ist dabei, dass sie aufzeigt, wie der Versuch, eine wissenschaftlich-technisch geordnete Gesellschaft zu schaffen, in Totalitarismus umschlägt: Gegen die menschliche Irrationalität ist eine solche Gesellschaftsordnung nur als Diktatur aufrechtzuerhalten.

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61 Die »Phantasie« markiert in Wir den Bereich des menschlichen Denkens, der sich der (rationalen) Vernunft entzieht; sie steht für die irrationalen menschlichen Triebkräfte. Samjatin parallelisiert dabei den ›Aufstand der Irrationalität‹ gegen die Vernunft auf der individuellen Ebene (die Zweifel von D-503) mit dem auf der gesellschaftlichen Ebene; in der Revolte brechen sich gleichsam die von der Vernunftherrschaft unterdrückten (irrationalen) seelischen Triebkräfte Bahn. 111

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DIE PLANBARKEIT DES GLÜCKS – DOSTOJEWSKIS KRITIK

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H ISTORISCHE Z US AMMENHÄNGE UND H INTERGRÜNDE

Intelligenzforschung und Psyc hotechnik 1903-1933 – Protoformen vo n Huma n Enha nce me nt? ANDREAS KAMINSKI Abstract: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts differenziert sich die Psychologie in eine Grundlagen- und eine Anwendungswissenschaft. Nach dem Vorbild von Maschinenbau oder Elektrotechnik, welche sich – in der Vorstellung der Akteure – aus der Physik heraus entwickelten, soll auch die Psychologie einen ingenieursmäßigen Zweig erhalten. Der Gegenstand, der ingenieurswissenschaftlich behandelt werden soll, ist die Psyche, der Name für diese Ingenieursdisziplin lautet Psychotechnik. Die Psychotechnik soll technische Wirksamkeit in verschiedenen Anwendungsfeldern der Wirtschaft, der Werbung oder bei Zeugenaussagen vor Gericht entwickeln. Zeitgleich und mit ihr verschränkt hebt die moderne Intelligenzforschung an. Das moderne Intelligenzkonzept entsteht, Intelligenz wird messbar definiert und in zahlreichen Studien werden Intelligenzverteilungen erhoben. Auch die Intelligenzforschung strebt nach Anwendbarkeit, auch mit ihr sind Optimierungshoffnungen verbunden. Der vorliegende Beitrag umreißt Psychotechnik und Intelligenzforschung zwischen 1903 und 1933. Seine Leitfrage lautet: Handelt es hierbei um Protoformen von Human Enhancement? Durch den Vergleich soll der Blick für beide Phänomenbereiche, Human Enhancement und Psychotechnik/Intelligenzforschung, geschärft werden.

I . Z u m T h e m a : » P s yc h o l o g i s i e r u n g d e s gesamten menschlichen Lebens« um 1900 Um 1900 gibt es eine Reihe von Disziplin- und Schulgründungen, die anhaltend die akademische und theoretische Landschaft veränderten. Die Soziologie wird mehrfach begründet, die Phänomenologie als philosophische Wirklichkeitswissenschaft hebt an, der Pragmatismus beginnt 117

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seine weitläufige Transformation philosophischer Konzepte und Denkfiguren. Diese Disziplinen und Bewegungen sind in viele Diskussionen mit einem Fach verstrickt: der Psychologie. In ihr verdichten sich in der Zeit um 1900 die Neuanfänge. Durch das Erscheinen von Freuds Traumdeutung wird 1900 zur Zäsur der Psychoanalyse. 1890 und 1912 markieren die Anfangsdaten der Gestaltpsychologie. Der Behaviorismus stellt 1913 ein neues Selbstverständnis der psychologischen Forschung in Aussicht. Psychoanalyse, Gestaltpsychologie, Behaviorismus – quer zu diesen Schulgründungen findet eine Neuausrichtung der Psychologie statt, die mit einem Namen und einem Konzept verbunden ist: Psychotechnik und Intelligenz. Sie bezeichnen mein Thema. Die Psychotechnik kommt Anfang 1900 in die Diskussion, die Intelligenzforschung findet in ihrem Umfeld statt. Um 1900 verdichten sich also die Neuansätze in der Psychologie. Sie wird dabei als eine Art neuer Leitwissenschaft, nämlich in theoretischer und praktischer Weise, ausgerufen. Angesichts der Intensität, mit der die Psychologie neu ausgerichtet wird, Erklärungswert gewinnt und Anwendungserwartungen auslöst, schreibt William Stern (1871-1938), der bedeutendste Intelligenzforscher in Deutschland zu jener Zeit: »[D]as Neue an ihr [an der Gegenwart] ist eine weitgehende Psychologisierung des gesamten menschlichen Lebens«.1 Was aber kennzeichnet diese Psychologisierung? Insbesondere: Was tragen Psychotechnik und Intelligenzforschung zu ihr bei?

1. Praxis und Anwendung Auf den Fahnen der Intelligenzforschung und vor allem der Psychotechnik steht ein neuer Praxisbezug, geradezu eine Praxisdominanz. Intelligenz implizierte zwar immer schon ein mehr oder weniger, aber erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird sie zu einer messbaren Eigenschaft. Es setzen Konzeptualisierungsversuche sowie zahlreiche Experimente und Studien zur Intelligenzverteilung ein. An Schülern, Auszubildenden, Geisteskranken werden Intelligenzmessungen durchgeführt. Besonders bei der Auslese (in Schule und Beruf) soll die Intelligenzforschung eine praktische Hilfe anbieten. Parallel und in Verbindung damit wird die Psychologie als Praxiswissenschaft ausgerufen, der Titel dafür ist: Psychotechnik. Er erklärt sich dadurch, dass die Psychologie – ähnlich wie Chemie oder Physik – eine angewandte Wissenschaft werden soll. Im Verständnis der Vertreter

1

William Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung, Leipzig: Barth Verlag 1920, S. 45.

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der Psychotechnik ist die allgemeine Psychologie eine Kausalwissenschaft wie andere Naturwissenschaften auch; daher muss die Psychotechnik als deren praktischer Zweig auch zu einer Art ingenieursmäßigem Anwendungsfach werden können. Der Psychologe soll technisch entwickelnd und beratend tätig werden wie der Maschinenbauer. Psychotechnik soll etwa in Fragen der schulischen und beruflichen Auslese, in der Formung von Organisationen, in Fragen der Erziehung oder in der Beurteilung und Prüfung von Aussagen vor Gericht praktisch werden. Die Forderung lautet, so der Psychotechniker Walther Poppelreuter, »daß auch die Fachpsychologie sich auf die wirklichen praktischen Lebensprobleme einstellen müsse«.2 Fritz Giese, ein anderer Psychotechniker, schreibt: »Unter Psychotechnik wird nachstehend mit Münsterberg verstanden die Wissenschaft der Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben«.3 Für eben jenen Hugo Münsterberg ist die »angewandte Psychologie seit einigen Jahren keine bloße papierene Forderung und auch kein bloßes Bündel zerstreuter Bemühungen, theoretisch Gewonnenes ins praktische Leben zu zerren, und keine bloß äußerliche Zusammenfassung der praktisch-psychologischen Bestrebungen in den Einzelgebieten, sondern es ist eine innerlich einheitliche, aus eigenen Wachstumsbedingungen sich entwickelnde umfassende Wissenschaft«.4 Zwischen Psychotechnik und Intelligenzforschung ergeben sich thematisch und personell Überschneidungen. Etwa beim oben zitierten William Stern, der vor allem als Intelligenzforscher und Begründer der Differentiellen Psychologie bekannt wurde, mit dem aber auch das Erstvorkommen des Terminus Psychotechnik verbunden ist. Das Zeichen der Zeit ist für Stern, dass der Mensch als vor allem psychisches Wesen entdeckt worden ist: »Die nichtpsychologischen Unterscheidungsmerkmale zwischen Mensch und Mensch, die früher ganz überwiegend alles Lebensschicksal bestimmten: die Verschiedenheit des Besitzes und der Herkunft, treten zurück; an ihrer Stelle sollen die psychischen Fähigkeiten in früher unbekannter Weise entscheidend wirken«.5 2

3 4

5

Walther Poppelreuter: Psychokritische Pädagogik. Zur Überwindung von Scheinwissen, Scheinkönnen, Scheindenken usw. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1933, S. IX. Fritz Giese: Theorie der Psychotechnik. Grundzüge der praktischen Psychologie I, Braunschweig: Vieweg 1925,S. 1. Hugo Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie [1912], Leipzig: Barth Verlag 1919, S. 9. W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen, S. 45. 119

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Sind Mensch und menschliche Wirklichkeit aber primär psychischer Natur, dann ist die Psychologie auch die Anwendungswissenschaft zur Gestaltung und Umgestaltung der menschlichen Welt: »Fürsorgeeinrichtungen für Schwachbefähigte, Erziehungsmaßnahmen für Abnorme, Gliederung des Schulwesens nach Begabungsgraden und -richtungen, Auslese der Hochbefähigten, Berufsberatung auf Grund der geistigen Eignung, Beurteilung von Delinquenten auf Grund ihrer psychischen Beschaffenheit – das sind einige der Hauptmaßnahmen, die von einer neuen Ethik gefordert oder bereits in Angriff genommen werden. Die Fähigkeiten werden in den Dienst der Allgemeinheit gestellt, und darum hat diese zu verlangen, daß sie in möglichst vollkommener Weise erkannt und behandelt werden«.6

Abb. 1: Inhaltsverzeichnis Hauptgesichtspunkte der Psychologie (1904) von Carl Felsch.

Die Intelligenzforschung wird von Stern der Psychotechnik zugeordnet: »Darum brauchen wir eine wissenschaftlich begründete Psychognostik und Psychotechnik der geistigen Fähigkeiten; und die allgemeine Befähigung, die wir Intelligenz nennen, bildet ein Hauptkapitel in diesem neuen Forschungsgebiet«.7

6 7

Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Abb. 2: Inhaltsverzeichnis Grundzüge der Psychotechnik (1914) von Hugo Münsterberg.

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Vergleicht man synoptisch die Inhaltsverzeichnisse der psychologischen Theorien mit der neuen psychologischen Anwendungswissenschaft, wird die Zäsur markant. Abbildung 1 zeigt das Inhaltsverzeichnis eines psychologischen Lehrbuchs von 1904, das im Untertitel durchaus den Anspruch erhebt, eine praktische Ausrichtung zu besitzen.8 Abbildung 2 zeigt das Inhaltsverzeichnis von Hugo Münsterbergs Werk Grundzüge der Psychotechnik von 1914. Während im Grundlagenwerk etwa die psychologischen Systeme wie Monismus, Dualismus, Spiritualismus oder Materialismus behandelt werden und anschließend von den vermuteten Elementen des Psychischen, den Empfindungen, ausgehend schrittweise zu komplexeren psychischen Phänomenen übergegangen wird (Denken, Urteil, Charakter), weist Münsterbergs Werk einen gänzlich anderen Aufbau auf. Es beginnt mit einem allgemeinen Teil, in dem drei Themen verhandelt werden: (1) »Die Aufgabe der Psychotechnik«, (2) »Die Psychologische Voraussage«, (3) »Die Psychologische Beeinflussung«. Im anschließenden »Besonderen Teil« werden Aufgabenfelder wie Gesundheit, Wirtschaft, Recht oder Erziehung aus psychotechnischer Perspektive behandelt. In dieser Synopse wird die Zäsur prägnant, welche die Psychotechnik darstellt. Die Praxisorientierung geht zum Teil soweit, dass eine theoretische Grundlage nicht einmal als nötig erachtet wird, und zwar aus zweierlei Gründen. Eine Grundlagentheorie ist nicht nötig zur Vermittlung psychotechnischen Wissens. In der Wirtschaft oder im Recht beispielsweise interessiert man sich nicht für theoretische Fragen, der »Praktiker läßt sich eben nur dadurch für das Neue gewinnen, daß man ihm, den Umweg über die Theorie ersparend, zunächst den praktischen Nutzen vor Augen führt«.9 Zum anderen sind Grundlagenfragen für die Anwendung auch erstaunlich unergiebig, wie Poppelreuter meint. »Die Zeit, wo Psychologie als eine Grundwissenschaft analog der Physik und Chemie fungieren wird, liegt m. A. n. noch in weiter Zukunft. Dagegen ist jetzt die Zeit, daß die Psychologie als praktische, angewandte, als Lebenswissenschaft getrieben werden muß. Will die Psychologie sich behaupten bzw. in der nächsten Zeit eine Weiterentwicklung erfahren, so muß für sie der Grundsatz gelten: ›Weise deine Berechtigung durch den Nutzen nach, laß alle theoretischen Streitigkeiten über die Grundfragen – ob philosophische oder geisteswissenschaftliche oder naturwissenschaftliche, ob Assoziations-, Apperzep-

8

9

Es handelt sich um Carl Felsch: Die Hauptgesichtspunkte der Psychologie mit Berücksichtigung der Pädagogik und einiger Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens, Göthen: Schulze 1904. Walther Poppelreuter: Zeitstudie und Betriebsüberwachung im Arbeitsschaubild. München, Berlin: Oldenbourg 1929, S. V.

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tions-, Struktur-, Entwicklungs- oder Gestaltpsychologie, ob Psychoanalyse oder Individualpsychologie usw. beiseite!‹ Z. B.: Die Psychologie der Aussage bzw. der Beobachtung, die ›Zeugenpsychologie‹ haben eine sehr große Bedeutung gewonnen, unabhängig davon, von welcher Art theoretischer Psychologie sie im Einzelnen getragen werden«.10

Diese Ansicht Poppelreuters ist – wenngleich sie nicht für den gesamten hier diskutierten Bereich zutrifft – nun doch erstaunlich. Wieso sollte diese praxisdominierte Wissenschaft keine theoretische Grundlage benötigen?

2. Die technisch-ingenieursmäßige Ausrichtung Die Antwort auf diese Frage liegt in der Art der Praxis, wie sie vor allem für die Psychotechnik kennzeichnend ist. Der Terminus Psychotechnik wird 1903 von William Stern zum ersten Mal verwendet. Prägend war allerdings Hugo Münsterberg (1863-1916) mit einer Arbeit von 1912, in welcher er neben der theoretischen die angewandte Psychologie anführt. Angewandte Psychologie unterscheidet sich für Münsterberg in eine »zurückblickende«, die auf geisteswissenschaftliche Fragen ihre Anwendung findet, und eine »vorwärtsblickende«, welche sich den »praktischen Lebensaufgaben« zuwendet. Die Psychotechnik als ›vorwärtsblickende‹ ist eine ingenieursmäßige Wirklichkeitsdisziplin. Angewandte Psychologie »soll also gewissermaßen eine psychologische Technik sein; sie soll zeigen, wie gewisse Ziele, die dem Menschen wertvoll sind, durch die Beherrschung des seelischen Mechanismus erreicht werden können. Die pädagogische oder die klinische Psychologie ist in der Tat solche Psychotechnik«.11 Münsterberg betont, die Psychotechnik sei wertfrei – und auch in diesem Sinne technisch. Denn die Psychotechnik empfiehlt nur Mittel für externe Ziele. »Die angewandte Psychologie stellt, wie jede technische Wissenschaft, fest, was geschehen soll, aber doch nur in der Art, daß sie sagt: du mußt diese Wege beschreiten und diese Hilfsmittel benutzen, falls du dieses oder jenes bestimmte Ziel erreichen willst. Ob dieses Ziel das richtige ist, das geht die technische Wissenschaft selbst nichts an«.12 10 Walther Poppelreuter: Psychokritische Pädagogik. Zur Überwindung von Scheinwissen, Scheinkönnen, Scheindenken usw. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1933, S. XI f. 11 H. Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben, S. 17. 12 Vgl. ebd., S. 18. 123

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Auch darin stellt sich die Psychotechnik als eine ingenieursmäßige Disziplin dar. Allerdings handelt es sich nur um das Selbstverständnis. Tatsächlich weist die Psychotechnik recht stabile sowie eindeutige sowohl implizite als auch explizite Wertsetzungen auf. Die berufliche Eignung stellt ein Feld dar, auf dem die Psychotechnik umfassend agierte.13 Ebenso arbeitet sie intensiv mit bei der Organisation und Gestaltung von Arbeitsabläufen. Sie erweist sich dabei als der industriellen Rationalität hochgradig verpflichtet. An einer Steigerung pädagogisch-schulischer Wirksamkeit ist sie kaum weniger interessiert. Auch die Intelligenzforschung beschäftigt sich mit Optimierungsfragen – individuell, organisatorisch, gesellschaftlich. Beide, Psychotechnik wie auch Intelligenzforschung, arbeiten im Feld einer (technischen) Steigerung, Optimierung, Verbesserung des Menschen. Das ist nun allerdings sehr grob gesagt. Was heißt es genau?

II. Die Untersuchungsfrage und der mögliche Beitrag Die von der angewandten Psychologie intendierte technische Formung der Psyche wirft die Frage auf: Handelt es sich hierbei um eine Vorform von Human Enhancement? Finden sich Steigerungsmotive, welche beispielsweise auf spätere Autoren des Post- oder Transhumanismus verweisen? Ich glaube, das ist nicht der Fall. In Psychotechnik und Intelligenzforschung geht es zwar um 1. Fähigkeiten und 2. Techniken zu deren Steigerung. 3. Gegenstand ist hier der »normale« imperfekte Mensch und nicht primär der Kranke oder der so genannte Idiot. Diese Aspekte werden in der Regel als Kennzeichen von Human Enhancement verstanden. Eine solche Übereinstimmung legt es folglich nahe, Psychotechnik und Intelligenzforschung nach 1900 als Protoformen von Human Enhancement zu betrachten. Gleichwohl habe ich meine Zweifel, dass es aufgehen würde, in der damaligen Psychotechnik 13 Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten des Psychotechnikers Walther Moede: Günter Spur: Industrielle Psychotechnik – Walther Moede. Eine biografische Dokumentation. München: Hanser 2008. Zur viel weiteren Verbindung von Wissenschaft und Kunst in der Sowjetunion, welche mir für Deutschland nicht gegeben scheint, vgl. Margarete Vöhringer: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen: Wallstein 2007; vgl. hierzu auch den Beitrag von Thomas Möbius in diesem Band. 124

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und Intelligenzforschung Vorläufer dieser aktuellen Bewegung zu sehen. Vielmehr scheint mir die Sachlage ambivalent. Es gibt benennbare Bezüge und ganz erhebliche Unterschiede. Aber genau das möchte ich ausnutzen, darin liegt für mich ein möglicher Beitrag der Untersuchung. Der Nutzen scheint mir ein dreifacher zu sein: 1. Die Psychotechnik erweitert die Vergleichsskala. Dadurch wird es möglich, Eigenheiten des Szientifischen Humanismus, etwa bei Huxley, prägnanter und präziser zu sehen; 2. Die Psychotechnik erweitert das Panorama der ersten Jahrzehnte nach 1900, wodurch sich das Umfeld der historischen Vorläufer von Human Enhancement möglicherweise besser abzeichnet. Über die Präzisierung hinaus (welche Punkt 1 betrifft) werden verschiedene Programme der Optimierung erkennbar, welche die Zeit kennzeichnen. 3. Einige methodische Fragen werden durch diesen Vergleich aufgerufen und gut diskutierbar. Einige Überlegungen zu methodischen Fragen möchte ich deshalb anschließen.

III. Methodische Überlegungen Die historische Suche nach Vorformen von etwas beruht auf einem Vergleich. Das Verfängliche an Vergleichen ist, dass sie leicht das finden, was sie suchen. Die Suche nach Ähnlichkeiten führt leicht zu Ähnlichkeiten, die Suche nach Differenzen lässt die Unterschiede zwischen Gegenständen ins Auge springen. Ich möchte daher einige Vorfragen zum Thema Vergleichbarkeit diskutieren. Es geht darum, zu klären, welche Antworten sinnvoller Weise gesucht werden können auf die Frage: Inwiefern gehören Psychotechnik und Intelligenzforschung einem vorausgesetztem Bereich von Optimierung an? Genau hier stellt sich bereits die erste Frage, nämlich: Was oder wer wird optimiert? Was ist die basale Einheit, die Referenzebene der Optimierung? Scheinbar ist diese bereits im Ausdruck Human Enhancement gegeben. Allerdings wird bei Human Enhancement zumeist am Körperlichen oder Stofflichen angesetzt. In psychotechnischen Texten spielt die Einheit Mensch allerdings kaum eine Rolle, auch der Körper nicht. Stattdessen finden sich Optimierungsüberlegungen auf den folgenden Referenzebenen:

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• •

Rolle: Es geht häufig um die Optimierung von Schülern, Arbeitern, Richtern, Medizinern, auch Soldaten; Fähigkeit: Häufig wird noch einmal spezifiziert. Es geht um Fragen der Leistungsverbesserung von Intelligenz, Gedächtnis (noch kleinteiliger: Merkgedächtnis), Handgriffen am Arbeitsplatz;

Es gibt allerdings auch andere Einheiten, an denen die psychotechnische Optimierung ansetzt. In den Texten finden sich auch Überlegungen zu den Referenzebenen: • Organisation: Technische Optimierung setzt zwar bei Einzelnen an, aber exemplarisch, um etwa ganze Betriebe zu optimieren; • Population: Namentlich beim Thema Intelligenz werden anders zugeschnittene Einheiten virulent, soziale Gruppen, nationale Populationen; • Kultur: Die Verbesserungsleistungen, welche mit Psychotechnik und Intelligenzforschung einhergehen sollen, werden wiederholt in einen breiten Bereich von Fortschritts- und Kulturaufgaben eingeordnet. Man kann also im Kontext von Psychotechnik und Intelligenzforschung auf Optimierungsbestrebungen stoßen, die mit Blick auf die Einheit Mensch außer Acht gelassen oder ihr fälschlich subsumiert werden. Eine zweite methodische Frage betrifft die Art der Technik, welche dabei zum Einsatz kommen soll. Der Psychotechniker Fritz Giese schlug 1925 vor, zwischen einer »Subjektpsychotechnik« und einer »Objektpsychotechnik« zu unterscheiden. Bei der Objektpsychotechnik sei die »Gegenstandszone« betroffen; sie werde mit Blick auf die »geistige Struktur« von Menschen optimiert. Unterschieden davon sei die Subjektpsychotechnik, in ihr sollen »psychologische Verfahren dazu dienen, die seelische Individualität anzupassen den kulturellen Zweckaufgaben der Sachlage«.14 Diese Unterscheidung deutet die Breite der Technikorientierung in der Psychotechnik an, sie hat aber den Nachteil, dass sie für einige Forscher nicht relevant, nicht einmal gültig ist. Von Walther Poppelreuter sind Objekttechniken entwickelt worden, deren Zweck in der permanenten Veränderung subjektiver Strukturen liegt. Sie gehen daher über die Unterscheidung von Giese hinaus. Worin besteht also genauer das Technische der Psychotechnik oder anderer Optimierungs- oder Überhöhungsprogramme? Das psychotechnische Verständnis von Technik ist durchaus schlicht gehalten. Es passt

14 F. Giese: Theorie der Psychotechnik, S. 2. 126

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zu ihrer ingenieursmäßigen Ausrichtung. Deutlich wird dies am Verständnis ihres Gegenstands, der Psyche. Ich zitiere Münsterberg: »Um Psychologie handelt es sich dort, wo die seelischen Erlebnisse, die Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gefühle, als Objekte aufgefaßt werden, denen gegenüber das Bewußtsein nur ein betrachtender passiver Zuschauer ist. Wie alle Objekte lassen sie dann nur die Frage zu: Was sind ihre Teile und wie hängen ihre Teile zusammen, was sind ihre Ursachen und was sind ihre Wirkungen? Der Psychologe betrachtet alles innere Leben somit als einen Bewußtseinsinhalt, dessen Elemente er sucht und dessen Gesetze er feststellt. Die Beschreibung und die Erklärung dieser psychologischen Objekte ist seine ausschließliche Aufgabe«.15

Die Psychologie sieht in diesem Verständnis der Psyche von Erleben und Bedeutung in einem phänomenalen Sinne vollkommen ab. Sie hat Objekte, und zwar Bewusstseinsinhalte, und fragt nach deren kausalen Zusammenhängen. Dieser einfache Strich in der Objektauffassung der Psyche stellt eine zweifache Kontinuität her: einerseits mit der naturwissenschaftlichen Forschung und andererseits mit der technischen Entwicklung. Die psychologische Forschung kann einerseits Laborforschung sein wie bei den anderen Naturwissenschaften auch. Sie verändert im Labor die experimentellen Bedingungen und beobachtet, wie sich die Objekte dann verhalten. Ein großer Teil der psychotechnischen Forschung, der Lerntheorien und Gedächtnistheorien, der Arbeitsforschung läuft auf diese Weise ab. Andererseits ergibt sich durch diese Objektauffassung der Psyche auch eine Möglichkeit ihrer expliziten Technisierung. Sie wird nun als Mechanismus verstanden, an dem daher auch Techniken ansetzen können. Dabei spielt die Gestaltung der Umwelt bis zu technischen Vorrichtungen in ihr eine Rolle. Denn mit den technischen Objekten befindet sich die Psyche nun prinzipiell auf einer Ebene. Die simple Auffassung von der Psyche als Mechanismus nivelliert den Unterschied zu Objekttechniken. Die Psyche als Mechanismus und vom Psychotechniker entworfene Apparaturen können miteinander verzahnt werden. Eine letzte methodische Frage betrifft die Hinsicht der Optimierung oder alternativ Überbietung. Gerade hier lassen sich historische Typen oder Zäsuren erkennen. In der Psychotechnik, Lernforschung, Arbeitsforschung geht es häufig um die Steigerung von Effizienz und von Effektivität. Man kann viele der Beispiele, um die es im Bereich Psychotechnik geht, daher auch unter dem Gesichtspunkt Rationalisierung diskutieren. Viele psychotechnische Autoren ordnen ihre Optimierung 15 H. Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben, S. 183 f. 127

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selbst Rationalisierungsbestrebungen zu. Psychotechnik wäre damit Zeitgewinn, allgemeiner vielleicht noch Ressourcengewinn oder Effizienzdenken. Allerdings – und dann merkt man, wie ambivalent die historische Konstellation ist – stellen einige Autoren ihre Arbeiten selbst in Bezüge, welche über Rationalisierung deutlich hinausgehen. Münsterberg sieht ausdrücklich differenzierte Bezüge zu Fragen der Eugenik.16 Bei William Stern wird die Intelligenzverteilung von Populationen im Anschluss an Francis Galton diskutiert.17 Passagen, die ausdrücklich solche Zeitbezüge herstellen, sind zwar selten, dennoch lassen sich viele der Anwendungsbereiche, in denen die Psychotechnik forscht, nicht allein unter dem Gesichtspunkt Rationalisierung begreifen (Zeugenaussagen, Reklame, Hygiene etc.). Soweit ein erster Einblick zu meinem Thema, meiner Untersuchungsfrage und einigen sich daraus ergebenden methodischen Fragen. Ich möchte nun einen Schritt weiter ins Material gehen und als erstes die Intelligenzforschung, insbesondere bei William Stern, und anschließend die Psychotechnik, insbesondere bei Walther Poppelreuter, diskutieren.

I V. I n t e l l i g e n z f o r s c h u n g : W i l l i a m St e r n Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kommt es unter anderem bei Francis Galton zu neu ansetzenden Überlegungen, welche die moderne Intelligenzforschung einleiten. Intelligenz wird zu einem messbaren Konzept. Zwar war auch zuvor Intelligenz ein Begriff, der ein mehr oder weniger gestattete. Aber eine eigentliche Zählbarkeit von Intelligenz war nicht möglich. Um 1900 etabliert sich eine regsame Intelligenzforschung. Das Konzept Intelligenz wird operationalisierbar definiert, verschiedene Messverfahren werden ausgearbeitet (Binet-Simon, Staffelverfahren, Meumanns Begabungstests), Experimente im Labor finden statt, Studien in großer Zahl und mit vielen Teilnehmern werden durchgeführt. Es ist insbesondere William Stern (1871-1931), der in Deutschland wichtige Beiträge dazu liefert. In seiner 1912 zuerst erschienenen Schrift Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung diskutiert er die inzwischen unternommenen Studien, fasst deren Ergebnisse zusammen und sichtet die Anwendungsbereiche der Intelligenzforschung. Stern gibt auch die moderne Definition von Intelli-

16 Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig: Barth Verlag 1914, S. 275-287. 17 W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen, S. 158-169. 128

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genz. Sie wird von ihm nicht als Denken, sondern als eine (latente) »Disposition« bestimmt, welche sich in Denkakten manifestiert:18 »Intelligenz ist die allgemeine Fähigkeit eines Individuums, sein Denken bewußt auf neue Forderungen einzustellen; sie ist allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens«.19

Natürlich stellt sich für Stern die Frage nach den Bedingungen dieser Disposition. Galton hatte bereits in Hereditary Genius Material zusammengestellt, welches die Vererbbarkeit von Anlagen belegen sollte, er verglich, welche Menschen mit großer Reputation, welche Juristen von anderen Juristen, welche Wissenschaftler von anderen Wissenschaftlern, welche Literaten von anderen Literaten abstammen. Eine andere Koordinate der Zeit war die Milieu-Diskussion, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommt und durch die sich gründende Soziologie an weiterer Überzeugungskraft gewinnt. Bei Stern finden sich beide Koordinatenachsen. Stern unterscheidet die Anlagen, welche vor allem ererbt sind und durch das Alter bestimmt werden, von den äußeren Bedingungen, die wiederum vor allem in Schule und Milieu lägen. Intelligenz sei eine Konvergenz dieser inneren und äußeren Bedingungen, weil die Disposition Anlage und Eigenschaft, ererbte Fähigkeit und daraus erworbene Fertigkeit stets vereint zeige. »So ist Intelligenz als fertige Eigenschaft, oder kürzer: als ›Fertigkeit‹ zweifellos von Umfang und Art des Schulunterrichts abhängig; und es ist im empirischen Einzelfall gar nicht mehr scharf zu scheiden, wieviel an den aufgewiesenen Intelligenz-Leistungen auf diese erworbene Fertigkeit und wieviel auf die ursprünglich angelegte Fähigkeit zu schieben sei«.

Nichtsdestoweniger eröffneten die ererbten Fähigkeiten, die Anlagen nur einen Spielraum, ein Potenzial, das in unterschiedlichem Maße verwirklicht werden könne. Der Spielraum und damit das Ererbte geben vor, was möglich ist, die Umwelt (vor allem Schule und Milieu) entscheidet darüber, was aus diesem Potenzial wird: »Aber alle diese Umwelteinflüsse – das muß das A und das Z unserer Erörterung bleiben – ›machen‹ nicht die Intelligenz. Sie mögen noch so stark sein – mehr als den sichtbaren Oberbau zu liefern zu dem Fundament, das unsichtbar aber fest in der angeborenen Anlage verankert ist, vermögen auch sie nicht«.20

18 W. Stern: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen, S. 1. 19 Vgl. ebd., S. 2. 20 Vgl. ebd., S. 16 f. 129

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Damit ist eine Grenze möglicher psychologischer Interventionen markiert. Psychotechnik und Intelligenzforschung können versuchen, psychische Intelligenzpotenziale optimal auszunutzen. Sie können sie aber nur innerhalb der Schranken des Gegebenen optimieren. Die Wissenschaften der Psyche stoßen damit von vornherein an eine Grenze, jenseits derer nur Biologie operieren kann. William Stern und die Psychotechniker erkennen diese Konsequenz. Man findet keine Angaben oder Spekulationen zur Vergrößerung des Potenzials, welches die Anlagen bieten. Bis 1933 fallen allenfalls eher marginale Äußerungen zur Eugenik. Jenseits einer biologischen Steigerung von Intelligenz finden sich daher zahlreiche Experimente und Studien zur Optimierung der Intelligenzentwicklung durch günstige Umwelteinflüsse. Ernst Meumann (1862-1915) etwa, dessen Lehrstuhl in Hamburg William Stern schließlich 1916 übernehmen wird, stellt in Intelligenz und Wille von 1908 und dann in Ökonomie und Technik des Gedächtnisses (1908, 1920 in 5. Auflage) eine Reihe von experimentellen Befunden vor, welche um Fragen der besseren Ausbeute kreisen. Welche Gedächtnismittel verbessern die Merkfähigkeit? Wie verändern spezifische Vorbereitung, angeleitete Beobachtung die Merkfähigkeit?21 Solche Studien und Empfehlungen sind heute sicherlich in der pädagogischen Psychologie zu einem Gemeingut geworden. Aber man sollte dabei nicht übersehen, dass Meumann ausdrücklich (und nicht in Anknüpfung an die antike Rhetorik) technische Verbesserungsmöglichkeiten sucht. Meumann ist interessiert am Messen von Leistungen, es geht ihm um »Zweckmäßigkeit«, »allgemeine Bedingungen und Gesetze«, »Mittel«, »Technik«. »Welche von diesen […] angedeuteten Lernweisen führt am schnellsten und leichtesten zum Ziel«? Wo handelt es sich um »Zeit und Kraft verschwendende Methoden«? Das ist der Horizont, in dem die pädagogische Praxis betrachtet werden soll.22 Im Hintergrund steht die Frage, »ob wir den Schulbetrieb nicht auch nach der Seite vervollkommnen können, daß wir die aneignende Geistesarbeit des Kindes auf Grund unserer vertieften Erkenntnis der Bedingungen geistiger Arbeit methodisch durchbilden, um sie technisch zu verbessern und ökonomischer zu machen«.23

21 Ernst Meumann: Ökonomie und Technik des Gedächtnisses. Experimentelle Untersuchungen über das Merken und Behalten. Leipzig: Julius Klinkharft 1920, S. 73 f. 22 Dass der schon erwähnte Psychotechniker Walther Moede ein Schüler Meumanns ist, überrascht daher nicht. 23 Alle Zitate aus E. Meumann: Ökonomie und Technik des Gedächtnisses, S. 6-10. 130

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Während Meumann auf die experimentelle Erforschung von Optimierungstechniken setzt, steht bei anderen Intelligenzforschern die Frage nach der richtigen sozialen Auslese der Schüler im Vordergrund. Es geht um die Frage, welche Schule für welchen Schüler geeignet ist. Auch Stern diskutiert sie im Zusammenhang mit Intelligenztests. Man kann diese Frage als Pendant zu Fragen der soziobiologischen Auslese verstehen. Wenn Intelligenz ein wichtiger Faktor ist, sei es für Kulturaufgaben, für das Lernen oder für die Berufswahl, die angewandte Psychologie aber an den Anlagen nicht direkt intervenieren kann, dann bleiben als Praxisfelder nur die Bereiche der optimalen Zuteilung der Anlagen zu gesellschaftlichen Bedürfnissen sowie der optimalen Ausschöpfung dieser Anlagen. Beide Bereiche sind insofern als komplementär zu betrachten: Die Arbeiten zur Schülereignung und Meumanns Lerntechniken ergänzen sich und stecken das Feld der angewandten pädagogischen Psychologie ab, optimierend tätig zu sein. Wie verhält es sich nun in der Psychotechnik?

V. P s yc h o t e c h n i k b e i Wa l t h e r P o p p e l r e u t e r Die Psychotechnik, wie sie vor allem in der Zeit zwischen 1912 und den 1930er Jahren virulent war, bemühte sich intensiv, die Auslese in der Berufswahl auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Auslese bedeutet dabei eigentlich die optimale oder optimierte Passung von individuellen Fähigkeiten und beruflich-gesellschaftlichen Bedürfnissen. Jeder sollte genau dahin gelangen, wo er am besten war – und nur dorthin, in keinem Fall anderswohin. Hintergrund ist das Problem der hochgefahrenen Spezialisierung. Es gibt einerseits unendlich verschiedene Individuen, andererseits auch stark verschiedene berufliche Anforderungen: »Von einer wirklichen feineren Anpassung der unendlich vielfältigen Persönlichkeiten an die unübersehbare Mannigfaltigkeit der wirtschaftlichen Berufsaufgaben kann auch nicht im geringsten die Rede sein«.24

Wo bisher der Zufall waltete, so Münsterberg, solle die Psychotechnik, »zwischen der Volkswirtschaft und der Laboratoriumspsychologie vermitteln«.25 Sie soll die wissenschaftlich begründete Passung von Fähigkeitsverteilung und beruflichen Anforderungsprofilen herstellen. Derart

24 H. Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben, S. 26. 25 Vgl. ebd., S. 1. 131

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werden Analysen der Anforderungen an Kraftfahrzeugführer26oder Fahrer der elektrischen Straßenbahn entworfen und in Laborsimulationen übersetzt. Im Labor werden die Fähigkeiten der Individuen gemessen: Wie viele Fehler machen die Versuchspersonen, wenn eine unübersichtliche Situation simuliert wird, welche derjenigen mit Passanten im Straßenverkehr ähnelt? Wie viel Komplexität vertragen sie? Wie schnell ermüden sie? Telefonistinnen werden anthropometrisch vermessen: »Länge der Finger, Atmung, Pulsgeschwindigkeit […] sowie Sehschärfe, Gehörschärfe, Deutlichkeit der Aussprache«, sie werden sodann Prüfungen der »Aufmerksamkeit, Intelligenz, Genauigkeit und Schnelligkeit« unterzogen.27 Ihr Gedächtnis wird geprüft, indem festgestellt wird, wie viele Zahlenreihen sie sich merken können. Ihre Aufmerksamkeit wird geprüft, indem sie in einem Text jeweils einen bestimmten Buchstaben finden und durchstreichen müssen. Psychotechnische Anwendungen wurden außerdem in der Reklame, im Gesundheitsbereich und vielen anderen Bereichen vorgenommen. Ich möchte aber in der Wirtschaft bleiben und dabei vor allem einen Autor diskutieren: Walther Poppelreuter. Poppelreuter (1886-1939), von der Ausbildung her Psychologe bzw. Psychiater, ist in mehrfacher Hinsicht eine schillernde Figur unter den Psychotechnikern. In seiner Forschung vor allem zwischen 1918 und Anfang der 1930er Jahre betätigt er sich als erfindungsreicher Sozialingenieur mit einem feinen Blick fürs Detail und wirtschaftspraktische Bedürfnisse. Er richtet nach einer Professur in Bonn ein Laboratorium für industrielle Psychotechnik an der RWTH Aachen ein und setzte Maßstäbe in der Arbeitswissenschaft. In der Zeit nach 1930 wurde er rasch ein Anhänger Hitlers. Ich möchte hier die industrielle Psychotechnik Poppelreuters vorstellen. Die »psychokritische Methodik« ist für Poppelreuter, der »Weg zur optimalen Leistung«.28 Ihre zentrale Annahme ist: Menschen handeln nicht optimal. Nicht optimal heißt: Sie handeln ungenau, begehen Fehler, lernen daraus nicht, handeln nicht effizient, vergeuden Ressourcen. Genau daran setzt die Psychotechnik an. Weil Menschen nie optimal handeln, sind sie weitgehend optimierbar. Dadurch ergibt sich die Mög-

26 Die Psychotechniker Walther Moede und Curt Piorkowski bauten während des Ersten Weltkriegs zusammen in Deutschland Prüf- und Schulungsstellen für Kraftfahrzeugfahrer auf. Vgl. G. Spur: Industrielle Psychotechnik – Walther Moede, S. 69 ff. 27 H. Münsterberg: Psychologie und Wirtschaftsleben, S. 26. 28 Walther Poppelreuter: Psychokritische Pädagogik. Zur Überwindung von Scheinwissen, Scheinkönnen, Scheindenken usw. München: Beck 1933, S.242. 132

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lichkeit der »Verbesserung der seelischen Leistungsfähigkeit«.29 Die Psychotechnik ist die »Maßnahme der Überwindung aller unvollkommenen Handlungen«.30 Seine Grundüberzeugung: »Die Natur des Menschen widerstrebt der Rationalisierung« sieht er als experimentell bestätigt an. Aber schon der Alltag bietet für Poppelreuter zahlreiche Belege dieser These. Wie rigide, wie kleinteilig Poppelreuter das bis in alltägliche Nichtigkeiten hinein verfolgt, mag eine Passage aus seinen 1929 veröffentlichen Arbeitspsychologischen Leitsätzen erläutern: »Man beobachte einmal die Menschen: Soll man im Laden bezahlen, so hat man das Geldstück in der Hand und hält es freischwebend, schon lange ehe der Verkäufer mit dem Verpacken fertig ist, natürlich eine ermüdende Geste. Wie viele Reisende kann man sehen, die schon Minuten vor dem Einlaufen des Zuges den schweren Koffer tragend halten!«31

Abb. 3: Der Aufzeichnungsapparat

Dieser Grundüberzeugung Poppelreuters entsprechend lauten die anthropologischen Leitsätze in dieser Schrift: »Der Anreiz, spontan Mängel zu beseitigen, ist viel geringer als die Duldsamkeit, mit der man sie hin29 W. Poppelreuter: Psychokritische Pädagogik, S. XI. 30 Vgl. ebd., S. 7. 31 Walter Poppelreuter: Arbeitspsychologische Leitsätze. In neuer Bearbeitung. Stuttgart: Kohlhammer 1958 [1929], S. 19. 133

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nimmt« (Leitsatz 1.2). »Fähigkeit und Antrieb des Menschen, Arbeiten ökonomisch zu verrichten, sind gering« (Leitsatz 1.3). Wie glaubt Poppelreuter – unter der Prämisse nichtoptimaler Anlagen – das Verhalten zu optimieren? Er hat eine Reihe technischer Apparaturen entwickelt, die mit dem Namen »Arbeitsschaubild« verbunden sind. Abbildung 3 zeigt exemplarisch einen dieser Apparate. An den Werkzeugen – sei es eine Drehbank, eine Schreibmaschine oder eine Abfüllanlage – werden elektrische Signalgeber angebracht, welche Aktivitäten an der Maschine aufzeichnen. Wird die Maschine bedient und dadurch ein Kontakt geschlossen, so registriert dies eine angeschlossene Apparatur, wie sie auf der Abbildung 3 oben zu sehen ist. Daraus wird eine Graphik erstellt, das so genannte Arbeitsschaubild. Dieser Vorgang ist auf der Abbildung 3 unten zu sehen. Der Apparat zeichnet die Aktivitäten der Arbeitenden im zeitlichen Verlauf auf. Abb. 4: Arbeitsschaubild

Abbildung 4 zeigt das Ergebnis dieser Aufzeichnung: ein Arbeitsschaubild.

134

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So viel zum Aufbau dieses Aufzeichnungsapparats. Welche Funktion hat er? In welche Praktiken ist er eingebettet? Aufzeichnungsapparat und Arbeitsschaubild haben vor allem zwei Funktionen. Sie dienen einerseits der Findung der Gestaltung optimaler Arbeitsumgebungen und -abläufe, andererseits zur dauerhaften Formung des Willens. Zur gestaltenden Optimierung von Abläufen und Arbeitsplätzen geht der ausgebildete Psychotechniker in einen Betrieb hinein und beobachtet die Aktivitäten, die er zudem mit der Apparatur aufzeichnet. Er kann dann auf dem Arbeitsschaubild erkennen, welche Leistung in welcher Phase unter welchen Arbeitsbedingungen zustande kam. Er kann darauf sehen, wann eine Pause gemacht werden musste, um etwa Material nachzufüllen. Oder aber: Arbeitet eine Person im Sitzen weiter, nachdem sie zunächst stehend arbeitete, und verschlechtert sich daraufhin ihre Arbeitsleistung, dann kann der Psychotechniker, welcher diese Verschlechterung der Leistung im Arbeitsschaubild erkennt und zugleich weiß, dass sie mit der Arbeit im Sitzen zusammenfällt, darauf schließen, dass der Arbeitsplatz schlecht eingerichtet ist, um die Arbeit im Sitzen zu erledigen. Er wird daraufhin den Arbeitsplatz umgestalten. Der Psychotechniker kann anhand des Arbeitsschaubilds erkennen, wie ein Wechsel in der Zusammensetzung einer Arbeitsgruppe diese aus dem Rhythmus bringt, den sie anschließend wieder finden muss. Die zweite Funktion des Arbeitsschaubilds liegt in der Betriebsüberwachung. Im Fall der Betriebsüberwachung kann das Arbeitsschaubild am Arbeitsplatz des Arbeiters sichtbar angebracht werden und Poppelreuter empfiehlt diesen Fall gegenüber der zentralen Darstellung im Büro eines Ingenieurs oder Betriebsleiters. Der Arbeiter erhält dann seine Arbeitsleistungen unmittelbar visualisiert. Sie stehen ihm – und anderen – vor Augen. Diese Visualisierung soll den Effekt einer Rückkopplung beim Arbeitenden auslösen. Am besten, so Poppelreuter, sei es, eine ideale Musterkurve hinzuzufügen, an der der Arbeiter sich orientieren soll. Istwert, Sollwert, Rückkopplung – das Arbeitsschaubild stellt eine Art Protokybernetik dar. Man könnte dies einseitig auslegen als Steigerung der Geschwindigkeit, aber das Arbeitsschaubild hat ebenso die Funktion, eine Geschwindigkeit zu fordern, die optimal ist über längere Zeiträume. Was hat es also mit den Arbeitsschauuhren in dieser Funktion auf sich? Was sind das für Apparate? Poppelreuter betont, dass das Arbeitsschaubild primär nicht ein Apparat, sondern eine Methode sei. Worin besteht dann aber das Methodische des Arbeitsschaubilds? Mit dieser Frage kehren wir zu den grundlegenden Annahmen Poppelreuters über die Imperfektion der menschlichen Natur zurück. Die permanente Aufzeichnung der Arbeitsschaubilder soll diese nichtoptima135

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le psychische Struktur optimieren. Durch die Visualisierung des suboptimalen Verhaltens sich und anderen gegenüber und die Darstellung eines wissenschaftlich begründeten optimalen Verhaltens soll die imperfekte Natur permanent zurückgedrängt werden. Permanent, denn die arbeitsschaubildliche Betriebskontrolle hat »ihren Zweck im Dauernden. Betriebliche Einrichtungen sind nichts Festes. Sie sind selbst dann, wenn man sie aufs äußerste schematisiert glaubt, im einzelnen unmerklich kleinen Veränderungen unterworfen, die dann, wenn längere Zeit vergeht, oft eine völlige Veränderung des ursprünglichen Tatbestandes bewirken. Es ist so wie in der Geologie: im scheinbar Stabilen finden unaufhörlich kleinste Veränderungen statt, die im Laufe der längeren Jahre ein geologisches Angesicht von Grund auf ändern. Derjenige ist kein Organisator, der glaubt, seine Aufgabe damit erfüllt zu haben, einem Produktionsprozeß die ›feste Form‹ gegeben zu haben; denn diese ›feste Form‹ gibt es eben nicht. Meine Ansicht ist, daß gerade das Prinzip der dauernden Aufzeichnung von Arbeitsschaubildern die Aufhabe erfüllt, in eine strömende und unbestimmte Entwicklung Festigkeit hineinzubringen. Mögen sich auch hier kleinste Veränderungen [...] der Aufmerksamkeit entziehen, über längere Zeit hinweg werden sie beim Vergleich der Arbeitsschaubilder sichtbar«.32

Es geht dabei nicht nur, zumindest nicht primär um den einzelnen Arbeiter. Der letzte der Arbeitspsychologischen Lehrsätze lautet: »Bei der allgemeinen Einführung der wissenschaftlichen Betriebsführung handelt es sich weniger um die objektiven Maßnahmen als solche, als um eine seelische Umstellung des ganzen Betriebes«.33 Zwei wichtige Punkte tauchen dabei auf. Zum einen erweitert hier der Psychotechniker sein Gegenstandsgebiet. Schien die Psychotechnik vor allem die Psyche des jeweiligen Individuums zu betreffen, so taucht nun der Gedanke auf, dass es größere Einheiten des Psychischen gibt, die ebenfalls psychotechnischer Einwirkung zugänglich sind: »Es gibt, so wie es die einzelne Psyche einer Persönlichkeit gibt, auch eine ›Persönlichkeit‹, einen Geist des Betriebes«.34 Zum anderen wird an dieser Stelle deutlich, worauf die Psychotechnik einwirkt, wo ihre Interventionszone liegt. Es geht um die Formung des Willens, darum einem Betrieb einen »Rationalisierungswillen« einzuformen, wie es Poppelreuter nennt: »Die Aufgabe des Zeitnehmers ist […] nicht so sehr, daß er einzelne Maßnahmen der Rationalisierung aneinanderfügt, sondern daß er den ganzen Geist des 32 Walther Poppelreuter: Zeitstudie und Betriebsüberwachung im Arbeitsschaubild. München, Berlin: Oldenbourg 1929, S. 79. 33 W. Poppelreuter: Arbeitspsychologische Leitsätze, S. 98. 34 Vgl. ebd. 136

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Betriebes im Willen der Rationalisierung erfolgreich zu beeinflussen versteht«.35

In seinem Werk Psychokritische Pädagogik von 1933 setzt Poppelreuter diese Überlegungen fort. Die Psychotechnik sei keinesfalls eine »›Grundtheorie‹, sondern ›durch wissenschaftliche Methodik erzielte Verbesserung der seelischen Leistungsfähigkeit‹«.36 In minuziösen Experimenten weist er Probanden nach, wie fehlerhaft und schlampig ihr Handeln, Denken und Wissen ist und wie folgenlos Fehler und Ungenauigkeit für sie bleiben. Von daher versteht sich der Terminus Psychokritizismus: »Psychokritizismus ist eine Methode, die gegen alles das angeht, was die Seele sich selbst und damit auch anderen vormacht, bzw. womit sie sich und die anderen täuscht«.37 Die psychokritische Pädagogik will Poppelreuter nicht als Schulpädagogik missverstanden wissen, sie ist vielmehr »›Anthropogogik‹, Menschenführung, oder ›seelische Beeinflussungslehre‹«.38 Wiederum wird die psychotechnische Intervention über die Formung des Willens unternommen. In einem eigenen Kapitel erläutert Poppelreuter, dass die psychokritische Methode als »Willensschulung«, als »besondere Willenstechnik« fungiere.39 Wie sieht dies konkret aus? In zahlreichen Experimenten weist Poppelreuter seinen Probanden nach, wie fehlerhaft diese eigentlich handeln. Sein Schluss ist: Die »Echtleistung« wird nicht ausdrücklich »gewollt«. Die Willensschulung beginnt dann durch Einsichtnahme in das Scheinwollen, die Fehler, die gemacht wurden und wodurch sie begründet sind. Abb. 5: Richtige und fehlerhafte Ausführungen

35 36 37 38 39

Vgl. ebd. W. Poppelreuter: Psychokritische Pädagogik, S. XI. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 71. 137

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Exemplarisch sei eines dieser Experimente im Auszug angeführt. Ich beschränke mich dabei auf die Technik der Entschlussfassung. (Poppelreuters Instruktion ist durchaus umfassender). Poppelreuter fordert seinen Probanden auf, eine Linie durch einen schmalen auf Papier gezeichneten Körper zu ziehen, der gezackt ist und auf beiden Seiten von Linien begrenzt wird. Die Aufgabe ist, beim Linienziehen nicht über die Begrenzungslinien des Körpers hinaus zu geraten. Nach den ersten Versuchsdurchführungen wird festgestellt, wie viele Fehler der Proband machte, also wie häufig er über die Grenze zeichnete. Abbildung 5 zeigt richtige und fehlerhafte Ausführungen, sortiert nach der Anzahl der Impulse, d. h. der nichtdisziplinierten Aktionen. Anschließend erfolgt eine erste Instruktion, in der eine »Du-sollst-Determinierung« hergestellt wird: Der Proband soll sich selbst vornehmen, es ernsthaft fehlerfrei durchführen zu wollen. Anschließend findet die eigentliche »psychokritische Beeinflussung« statt. Hier ein Auszug, in dem der Versuchsleiter mit Vl und der Proband mit Vb abgekürzt werden: »Vl: Setzen sie sich hin, schließen sie die Augen und hören sie zu! Bevor man eine Willenshandlung ausführt, pflegt man einen Entschluß zu fassen. Sie haben vorher die zweite Arbeitsserie gemacht und haben was gefaßt? Vp: Einen Entschluß. Vl: Wieviel Zeit haben sie darauf verwandt? Vp (achselzuckend): 1 Sekunde vielleicht. Vp: Nun passen sie auf! Wir wollen eine andere Methode versuchen, um sie zu sehr viel besseren Leistungen zu bringen. Diese besteht darin, daß sie diesen Entschluß nicht in 1 Sekunde fassen, sondern mehrere Minuten damit zubringen. Haben Sie verstanden? Vp: Ja! Vl: Ich habe ihre Arbeitsergebnisse vor mir liegen. Daraus ergibt sich, daß eine wesentliche Besserung im Laufe der Versuche nicht eingetreten ist; im Gegenteil, es ist eher eine Verschlechterung festzustellen. Stellen sie sich darauf ein, daß das im wesentlichen darauf zurückzuführen ist, daß Entschlüsse von 1 Sekunde tatsächlich keine große Wirkung haben. Man bildet sich ein, daß mit dem Fassen eines Willensentschlusses tatsächlich alles übrige von selbst gehen müsse; das ist aber falsch! Wir wollen jetzt den Willensentschluß von 1 Sekunde zeitlich verlängern auf 10 Minuten«.40

Poppelreuter ist sich im Klaren, dass es eine künstliche Situation ist, einen zehnminütigen Willensentschluss durchzuführen. Auch dafür stehen Techniken bereit. Im Wesentlichen bestehen sie in einer Disziplinierung der Versuchsperson, die konsequent nur auf das eine Ziel ausgerichtet 40 Vgl. ebd., S, 105. 138

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werden soll, sowie einer mentalen Antizipation der Aufgabe mitsamt ihren Schwierigkeiten. Es geht dabei nicht um eine Steigerung der Geschwindigkeit, sondern, wie Poppelreuter selbst anführt, um eine Einübung in eine Langsamkeit, die allerdings fehlerfrei ist und daher u. U. effizienter als schnelles aber fehlerhaftes Handeln. Anhand der experimentellen Ergebnisse versucht Poppelreuter die Wirksamkeit seiner »Methode« der Menschenführung zu belegen.

V I . P s yc h o t e c h n i k u n d I n t e l l i g e n z f o r s c h u n g : Protoformen von Human Enhancement? Mein Thema waren Intelligenzforschung und Psychotechnik. Die knappe Probe, welche ich unternehmen wollte, war, Theorien und vor allem praktische Interventionen vorzustellen, welche sich am Tellerrand von Human Enhancement zu bewegen scheinen. Versuchen wir dabei kurz die wichtigsten Punkte dieses unklaren Verhältnisses zu nennen. Für die Nähe von Intelligenzforschung und Psychotechnik zum Human Enhancement sprechen die folgenden Aspekte: • Die Psychotechnik geht von der Normalität nichtoptimaler Menschen aus und sucht deren Optimierung. • Es geht um Programme, welche die Steigerung menschlicher Fähigkeiten verfolgen. • Die Optimierung erfolgt technisch: Technische Methoden zum Teil auch technische Apparate wie bei Poppelreuter, Techniken des Lernens wie in der Intelligenzforschung oder pädagogischen Psychologie. Soweit so gut. Aber handelt es sich dabei um Human Enhancement? Einige Probleme fallen sofort auf. • Es geht um eine Steigerung im Sinne von Rationalisierung, nicht so sehr im Sinne einer Gewinnung neuer Möglichkeiten. • Es geht kaum um Visionäres, sondern um sehr konkrete Arbeitsvorhaben. Das Natur- und Technikverständnis erscheint geradezu trivial. Die Psyche wird als Mechanismus verstanden, den man gesetzmäßig untersuchen und ausnutzen kann. • Es geht zumeist weder um ein »engineering for the body« noch um ein »engineering of the body«. Dennoch ist die Sachlage ambivalent, betrachtet man scheinbar so triviale, zur Normalität gewordene Fragen wie die der beruflichen Auslese. Man kann darin einerseits ein zur Normalität gewordenes psychotechni139

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sches Verfahren erblicken, welches seine starke Annahme wissenschaftlich begründbarer Passung sicherlich deutlich abmildern musste. Insofern gibt es nur geringe Bezüge zu explizitem Human Enhancement. Blickt man in Aldous Huxleys Schöne neue Welt wird man entdecken, dass die genaue Passung individueller Fähigkeiten zu beruflich-gesellschaftlichen Bedürfnissen dort ein zentrales Thema ist. Also doch, wenn nicht Human so doch zumindest Social Enhancement? Allerdings ist diese Passung bei Huxley wiederum biologisch, nicht psychotechnisch gelöst. Psychotechniken tauchen dafür in Huxleys Roman an anderer Stelle auf. Außerdem: Als Prototyp von Human Enhancement fungieren sicherlich Technologien, die materiell in den Körper intervenieren.41 Auch wenn dies den Prototyp von Human Enhancement kennzeichnet, ist Human Enhancement dem Selbstverständnis nach keineswegs darauf beschränkt. Im »NBIC-Report« wird verschiedentlich die Rolle der Cognitive Sciences betont; dabei wird nicht immer das C nur in der Konvergenz zu NBI diskutiert. Ich glaube, es ist besser, wenn man nicht versucht, dies über die zu einfache Alternative »Human Enhancement: ja oder nein?« zu entscheiden. Stattdessen würde ich das Ergebnis so beurteilen: Psychotechnik und Intelligenzforschung sind keine Protoformen von Human Enhancement, sofern damit vor allem der leistungssteigernde oder -erweiternde technische Eingriff in den menschlichen Körper gemeint ist. Psychotechnik und Intelligenzforschung haben keine direkte körperliche Interventionsmöglichkeit zur Steigerung des Denkens, Handelns oder der Intelligenz. Gleichwohl eröffnen sie den Blick für die Verschiedenheit technischer Steigerungs- und Optimierungsprogramme im 20. Jahrhundert, von denen Human Enhancement eines ist, das in Huxley, Haldane oder Bernal historische Vorläufer hat. In drei Punkten zusammengefasst: 1. Man gewinnt eine Erweiterung der Vergleichsskala – und damit Möglichkeiten der Pointierung und Präzisierung. 2. Außerdem kann man eine im fraglichen Zeitraum bestehende Konstellation erfassen, welche breiter ist, als es die Frage nach den Vorläufern zu Human Enhancement impliziert. 3. Schließlich wird deutlich, dass man die Frage nach der Einheit, die optimiert wird, stellen muss. Geht es um Populationen? Um Perso-

41 Vgl. die »Human Enhancement«-Studie von Christopher Coenen u. a. für das Europäische Parlament von 2009, in der es heißt: »We define ›human enhancement‹ as any ›modification aimed at improving individual human performance and brought about by science-based or technology-based interventions in the human body«, S. 13. 140

INTELLIGENZFORSCHUNG UND PSYCHOTECHNIK 1903-1933

nen? Um Organisationen? Um Fähigkeiten? All dies tauchte im Bereich von Psychotechnik und Intelligenzforschung auf.

Literatur Coenen, Christopher/Schuijff, Mirjam/Smits, Martijntje/Klaasen, Pim/Hennen, Leonhard/Rader, Michael/Wolbring, Gregor: Human Enhancement (IPOL/ A/STOA/2007-13; PE 417.483), Brüssel: Europäisches Parlament 2009. Felsch, Carl: Die Hauptgesichtspunkte der Psychologie mit Berücksichtigung der Pädagogik und einiger Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens, Göthen. Verlag? 1904. Giese, Fritz: Theorie der Psychotechnik. Grundzüge der praktischen Psychologie I, Braunschweig: Vieweg 1925. Meumann, Ernst: Ökonomie und Technik des Gedächtnisses. Experimentelle Untersuchungen über das Merken und Behalten [1908], Leipzig: Julius Klinkharft 1920. Münsterberg, Hugo: Grundzüge der Psychotechnik. Leipzig: Barth Verlag 1914. Münsterberg, Hugo: Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie [1912], Leipzig: Barth Verlag1919. Poppelreuter,Walther: Zeitstudie und Betriebsüberwachung im Arbeitsschaubild. München, Berlin: Oldenbourg 1929. Poppelreuter, Walter: Arbeitspsychologische Leitsätze [1929]. In neuer Bearbeitung. Stuttgart: Kohlhammer 1958. Poppelreuter, Walther: Psychokritische Pädagogik. Zur Überwindung von Scheinwissen, Scheinkönnen, Scheindenken usw. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung 1933. Roco, Mihail C./William S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance, 2002. unter: http://www.wtec.org/ConvergingTechnologies/Report/NBIC_report.pdf, zuletzt gesehen am 4.12.2009. Spur, Günter: Industrielle Psychotechnik – Walther Moede. Eine biografische Dokumentation. München: Hanser 2008. Stern,William: Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung, Leipzig: Barth Verlag 1920. Vöhringer, Margarete: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion, Göttingen: Wallstein 2007.

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Regulation, Homöostase und Huma n Enha nce me nt – Eine kleine, k ybe rnetika ffine Gesc hic hte RAINER BECKER Abstract: Der vorliegende Text zielt in problematisierender Absicht auf eine Genealogie der Begriffe ›Regulation‹ und ›Homöostase‹. Zum einen versucht er die frühe Kybernetik der 1940er Jahre als einen historisch-diskursiven Strang heutiger ›Human Enhancement‹-Szenarien herauszuarbeiten. Anhand einer Präsentation historischen Materials wird selektiv das historische Entstehen mancher Möglichkeitsbedingungen vorgeführt. Zum anderen wird die frühe Kybernetik genealogisch in biopolitischen Zusammenhängen verortet. Durch einige historische Überblendungen bestimmter kybernetischer ›Enhancement‹-Szenarien mit Foucaults Biomacht-Diagnose sollen Überschneidungsmengen kenntlich gemacht werden. Über ein aussagekräftiges Enhancement-Beispiel bei Norbert Wiener nähert sich der Text im Ablauf stetig einem bestimmten, kybernetischen Begriff von ›Regulation‹. Der Weg läuft quer, über die im kybernetischen Kontext viel zitierte Homöostase-Theorie Walter Cannons, um ins vorletzte Jahrhundert zu gelangen, u. a. zu Claude Bernard. Zuletzt wird ein Blick über die Sattelzeit zurück geworfen: Wie zu sehen sein wird, stehen hier zwar weder bereits ›verbessernde‹ kybernetische Maschinerien, oder ganz ›modern‹ ›der Mensch‹, sondern noch bestimmte kosmologisch-metaphysische Fragen im Raum. Zudem sind dies Fragen, die noch nicht – wie Otto Mayr gezeigt hat – in einer durch ›Waagen‹-Metaphorik geprägten Zeit artikuliert werden, sondern noch in einer Zeit der ›Uhrwerke‹. Und doch kann so vielleicht auch sichtbar werden, dass bestimmte Probleme zwar historisch bestimmte Lösungen finden können, dass aber, genealogisch betrachtet, zugleich auch bestimmte Probleme insistieren können – nicht zuletzt im Vorlauf auf heutige Diskussionen im Kontext Human Enhancement.

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»Der Zweck eines Rückkopplungsmechanismus besteht darin, ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Er erfüllt diese Aufgabe auf eine subtile und undramatische Weise: Wenn er sie am besten erfüllt, scheint es, als tue er nichts. Seine sichtbaren Teile sind unscheinbar, und gewöhnlich ist er nur Bestandteil einer größeren Maschine.« Otto Mayr: Uhrwerk und Waage.1

I . Vo r g e s c h i c h t e Bestimmte aktuelle Debatten und Strategien von Human Enhancement haben Geschichte. Man kann sich diesen Geschichten genealogisch nähern: Ohne sie wären der Form und Möglichkeit nach bestimmte diskursive Strategien heutiger Diskussionen niemals denkbar geworden. Zum allgemeinen Verständnis meines Vorgehens muss ich ein wenig ausholen. Denn ich werde im Folgenden versuchen, zu einigen im Kontext Human Enhancement als prägend erachteten Konzepten der Regulation selektiv eine (bio-)politisch sensible Vorgeschichte zu erzählen. Dabei werden diese Konzepte zugleich mit Kybernetik in Verbindung gebracht, einer Kybernetik der ›ersten‹, nicht einer Kybernetik der ›zweiten Ordnung‹: einer ›Paleokybernetik‹ (Jean-Pierre Dupuy) die seit 1948 insbesondere durch Norbert Wiener weitläufiger bekannt ist. Wir werden sehen – oder besser es wird zu überlegen sein –, was sich jenseits von potentiellen Verunsicherungen bestimmter Vorannahmen aus diesen Vorgeschichten an produktivem Verständnis ableiten lässt. Einem Verständnis nicht zuletzt dessen, was mittels des Begriffs ›Regulation‹ die Debatten mit antreibt – auf ›beiden Seiten‹, wenn auch in verschiedener Form: Zum einen dient der Begriff u. a. zur Beschreibung als basal erachteter ›Mechanismen des Gegebenen‹, um Versuche wagen zu können, sie auf eine ›integrative‹ Weise zu überschreiten und zu erweitern. Zum anderen wird er zur Kritik, Integration und Einhegung gerade solcher Überschreitungsüberlegungen verwendet, um sie kritisch beschreiben zu können. In beiden Fällen ist nicht nur ein gehöriges Maß Mut im Spiel, es werden auch jeweils Vorstellungen bestimmter Freiheitsspielräume aufgerufen. Genauer: Spricht man heute affirmativ von einer ›Perfektionierung‹ des ›gesunden‹ Körpers, seiner als ›normal‹ verstandenen Form, sollte nicht vergessen werden, dass bereits die heute als ›natürlich‹ angesehene Menschenform vieles ist, aber vor allem ein historisches, ein kulturelles Produkt. Und gegenüber diesem historischen Produkt werden offenbar aktuell seitens bestimmter technowissenschaftlicher Projekte Versuche 1

Otto Mayr: Authority, Liberty and Automatic Machinery in Early Modern Europe, Baltimore/London: John Hopkins University Press 1986, S. 13.

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zur ausdrücklichen ›Verbesserung‹ ausgerufen: Als wäre diese Form historisch schlicht ›gegeben‹ und wohl auch insofern verbesserungswürdig. Als wäre nicht bereits diese Form historischer Effekt bestimmter ›Verbesserungen‹, Steigerungen. Und als hätten einige dieser Verbesserungen nicht in den letzten 400 Jahren, heute fast ›natürlich‹ geworden, immer wieder auf Linien bestimmter ökonomischer und bevölkerungspolitischer ›Wertsteigerungen‹ gelegen. Als hätten sie hierzu nicht jeweils neuartige epistemische Bedingungen benötigt. Heute liegen vielfältige Arbeiten zu Begriff und Geschichte von ›Norm‹, ›Normalem‹ und ›Normalität‹ vor, nicht zuletzt im Anschluss an Georges Canguilhem, Michel Foucault und Friedrich Link. Könnte das in diesen Texten genealogisch beschriebene ›Normale‹ sich verändert haben? Wird aus heutiger Perspektive hier nicht manche ›Normalität‹ historisch zurückverfolgt, die selbst eher eine des letzten Jahrhunderts ist? Scheint heute nicht zusehends selbst zu einer weiteren ›Vorgeschichte‹ geworden zu sein, was bislang in kritischer Absicht als Vorgeschichte von Industrialisierung und Moderne, als Vorgeschichte von ›Taylorismus‹ und ›Fordismus‹, als soziale, arbeitskrafttechnische wie medizinische Disziplinierung zu verstehen gegeben wurde, als andere Seite jener Moderne, wie man sie bis in die 1970er/80er Jahre hinein kannte? Einer anderen, ›dunkleren‹ Moderne, die gegenüber der bis dato geschehenen Fortschrittsgeschichte von Liberalismus und liberaler Menschenform eben u. a. auch als Zeitalter von ›Biomacht‹ lesbar werden konnte? ›Biomacht‹, eine Macht des ›Wachsens und Mehrens‹ von Individuen und Bevölkerungen: Diese Machtform erschöpft sich nicht in Repressionen, vielmehr artikuliert sie sich mittels produktiver Strategien des Hervorbringens von Lebendigem.2 Sie vollzieht sich nicht zuletzt ausgehend von einer Fabrikation steigernder, fast ›züchtender‹ epistemisch-praktischer Matrizen. Bereits Donna Haraway hat nicht nur subtil auf manche gegenwartsgeschichtliche Relevanz dessen hingewiesen, was im ersten Teil des von ihr subversiv angeeigneten Terminus ›cybernetic organism‹ in adverbialer Form als Bestimmung genutzt wird.3 Sie hat zur Charakterisierung postmoderner Verhältnisse zudem den Begriff ›techno-biopolitics‹ geprägt, einen Begriff, der auf einen gestiegenen

2 3

Vgl. Petra Gehring: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt/Main: Campus-Verlag 2006. In unangeeigneter Form ist der Begriff vielleicht fast als Matrize bestimmter Subjekt-Vorstellungen im Kontext Human Enhancement zu betrachten. 145

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Stellenwert bestimmter neuer Technologien in postmodernen BiomachtKonstellationen abhebt.4 Was wäre, wenn es abermals ein ›post‹ zur Postmoderne geben würde? Zum Verständnis der ›unmittelbaren‹ aktuellen Gegenwart werden immer wieder ›Vorgeschichten‹ notwendig sein. Solche Geschichten existieren heute bereits, zumindest teilweise. Sie werden oftmals noch eher schlicht, im Sinne quasi unumstößlicher, naturwüchsiger Prozesse geschrieben, im Singular, z. B. als Geschichte ›der Informatisierung‹, streckenweise auch kritischer, unter den Stichworten ›Postfordismus‹ und ›Neoliberalismus‹. Bei solchen historisch rückblickenden Fragen steht die unmittelbare Aktualität der Gegenwart zugleich aus der Zukunft unter Zugzwang. Sie soll heute als Präludium noch weitergehender sozialer Transformationen gelten, zumindest, wenn man manchen Visionen im Rahmen von Human Enhancement Glauben schenken will. Solche Zugzwänge reihen sich in rasende Gegenwartskonzerte ein und zwar nicht erst, seit bestimmte ›Wachstumsbeschleunigung‹ benannte Instrumente tonangebend werden. Vielleicht geht Gegenwart heute – zumindest bei einigen Protagonisten bestimmter Debatten – mit Geschichtsblindheit einher. Im Hinblick auf materielle, genealogische Rekonstruktionen ist es auch daher heuristisch wenig sinnvoll, hier ebenfalls historische Brüche zu konstatieren und besser, Aufmerksamkeit schlicht auf einige signifikante historische Transformationen zu lenken.5 Im Anschluss an Lyotard, Lily E. Kay, Deleuze, Haraway und andere ist meine These, dass um die Mitte des letzten Jahrhunderts nicht zuletzt in medizinischen, physiologischen und biologischen Diskursen einige zentrale Elemente heutigen Denkens und Handelns der Möglichkeit nach vorbereitet wurden. Zentrale diskursive und epistemische Bedingungen 4

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Vgl. z. B. Donna J. Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago: Prickly Paradigm Press, 2003, S. 11ff. Vielleicht ist gerade eine bestimmte Rhetorik des ›Bruchs‹ (nicht allein mit ›Gegebenem‹) ein Movens aktueller Debatten im Feld. Und umgekehrt gefragt: Brach z. B. die ›Postmoderne‹ wirklich vollständig mit der Moderne? Und ist, mit Ausnahme vielleicht von Bruno Latour, das aktuelle Reflexivwerden selbst mancher postmoderner Überlegungen wirklich ein epochales Geschehen mit einem Vorher und Nachher, liegen hier wirklich ›Brüche‹ vor? Signifikante, aber zugleich kleinteilige Veränderungen, ansonsten business as usual: Sedimentationen, Vertiefungen, graduelle Perspektivwechsel, keine vollständige Rekonfiguration. Viele der wichtigsten, heute immer weiter zurückliegenden Analysen drehten sich ja dann auch und gerade um bestimmte Verunmöglichungs-Strategien ›entsetzlicher‹ großflächiger politischer Ereignisse, Brüche, Erzählungen und umgekehrt auch um situierte Taktiken des alltäglichen Umgangs damit.

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der heutigen ›Normalität‹ von Körpern, Selbst- und Fremdverhältnissen – und damit auch der ›Boden‹ aktueller Überschreitungsversuche – wurden insbesondere durch den kybernetischen Diskurs der 1940er/50er Jahre vermittelt. Und dieser kybernetische Diskurs hat – zumindest in der Zeit des Kalten Krieges – niemals bestimmte ›moderne‹ Fahrwasser gänzlich verlassen: Auch insofern ist die ›erste‹ Kybernetik gegenüber der ›zweiten‹ interessant. Zudem hatte die ›erste‹ Kybernetik Vorläufer: Verschiedene Diskurse zwischen 1920 und 1945 bewegen sich stetig auf sie zu. Erste Bewegungen hin zu einem eigenständigen kybernetischen Diskurs stellen sich ab 1946 ein, mit Beginn umfänglicherer Institutionalisierungsbewegungen auf den so genannten Macy-Konferenzen. Kybernetik wird nun immer ausdrücklicher als biopolitisches Grundlagenprojekt lesbar: Das Denken des Lebendigen wird hier bereits immer ausdrücklicher mit zeitgenössischem ingenieurswissenschaftlichem KnowHow verknüpft, kybernetische Modelle und Metaphern vermitteln gegenseitige Übertragungen. So sind es dann nicht zuletzt auch einige sich ›elektronifizierende‹ Ingenieurswissenschaften, welche die Kybernetik im Aufstieg öffentlichkeitswirksam begleiten. Das Funktionieren bestimmter neuer ›medialer‹ Artefakte und eine neue, innovative, ›interdisziplinär vermittelnde Theorie‹ legitimieren sich öffentlich gegenseitig: »Cybernetics was powerful, because it worked«.6 Denn Kybernetik entsteht nicht nur von Anbeginn an in bestimmten biologie-affinen Kontexten, sondern auch fast genau parallel zum Bau erster ›Elektronengehirne‹. Wenn der sich zum neuen Leitmedium anschickende ›Computer‹ ab 1948 nach einer neuen, quasi-organischen Assoziations- und Anordnungsnorm bestimmter bisheriger Einzeltechnologien funktioniert – der ›von Neumann-Architektur‹ –, dann verknüpft Kybernetik ihre vorhergehenden diskursiven Stränge ebenfalls ab 1948 zu einem regelgeleiteten Diskurs, mit vergleichbarer historischer Breitenwirkung. Es ist ein aus Gemengen von Diskursen, Techniken, Institutionen und Praktiken herauskristallisiertes Amalgam, ein ›Dispositiv‹ im Sinne von Foucault, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt mit solchen vermittelnden Effekten stetig neue szientifische Basiselemente anzubieten beginnt. Und es sind diese Elemente, die sich zu Beginn des Kalten Kriegs zu bestimmten neuen, praktischen wie epistemischen Matrizen anordnen lassen und sich als ubiquitär anschlussfähig präsentieren. Die sich entwickelnden Stränge antworten jeweils ganz pragmatisch auf begrenzte zeitgenössische Probleme. Ihr Zusammenschießen zu einer ›Theorie‹, einem Diskurs, ermöglicht nicht allein in 6

Katherine Hayles: How we became posthuman: virtual bodies in cybernetics, literature, and informatics, Chicago/London: The University of Chicago Press 1999, S. 62; Hervorh. i. Orig. 147

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Bereichen von ›Kommunikation‹ und ›Vermittlung‹ das Aufspannen neuartiger, techno-epistemischer Möglichkeitshorizonte.7 Kybernetische Problematisierungen eröffnen immer weiter ausgreifende neue Perspektiven und ›Rationalisierungen‹. Und sie versprechen bereits bei ihrer ›Geburt‹ die Eröffnung neuer, (geräte-)technisch perfektibilisierender Möglichkeitshorizonte. Bereits in noch punktuelleren, unmittelbaren Vorstufen der frühen 1940er Jahre bieten sie sich als diskursiv-epistemische ›Enhancers‹ vielfältigster lebensweltlicher Phänomene an. Auf sie zurückgreifende Praktiken werden nicht nur schöpferisch mit neuen Perspektiven, Rastern und Werten verknüpft, sie ermöglichen zugleich neue, transformierte Wertschöpfungsformen. Zu diesem ›kybernetischen Enhancement‹ gehört dann zwar auch ›das Humane‹, aber nicht mehr dieses allein. Von ›dem Menschen‹ ausgehend verfolgt Kybernetik ihren Anspruch auf ubiquitäre Anwendbarkeit – in the animal and the machine. Sie eröffnet neue ›Sagbarkeiten‹ und strukturiert ›Sichtbarkeiten‹ auf neue Weise. Im Zuge ihres Ausschwärmens in vielfältige Bereiche – nicht zuletzt in biologische, aber auch in sozialwissenschaftliche – können sich Selbst- und Weltverhältnisse stetig kybernetisch re-formulieren. Sie werden sich nach 1950 in neue Gleichgewichte, in ein diskursives Framework im Zeichen von command, control, communication eintragen. Zur Vorbereitung grundlegender ›kybernetischer‹ Konzepte und ihrer neuer Möglichkeiten waren verschiedene diskursive Prozesse notwendig. Ich will mich im Folgenden allein mit bestimmten genealogischen Linien zu Begriff und Konzeptualisierung einer historisch immer ›freier‹ werdenden ›Regulation‹ und dem im Kontext relativ spät geprägten Terminus ›Homöostase‹ auseinandersetzen.8 Dabei verfolge ich u. a. das 7

8

Dies betrifft grundsätzlich eher epistemische Bewegungen. Holzschnittartig: In dem Maße, in dem sich der entstehende Cyber-Info-Diskurs mit Ausläufern zeitgenössischer Biologie überkreuzte, wurden später seine neuen Konzepte nicht nur weitläufiger ingenieurstechnisch praktikabel. Sie wurden dann auch wieder kompatibel mit einer sich parallel kybernetisch reformulierenden Biologie. Dies ist nicht allein für die Molekularbiologie relevant, wie es etwa Kay dargestellt hat, sondern mindestens auch für die parallel entstehende Neurowissenschaft. Ich schlage vor, die Vorgeschichte der Kybernetik an mindestens fünf diskursiven Strängen zu rekonstruieren: 1. Überlegungen zu einem Begriff quantifizierbarer Information und Übertragung jenseits von Speziesgrenzen (R. Fisher, H. Nyquist, N. Wiener, C.E. Shannon / W. Weaver); 2. ›Behavioristische‹ Konzepte von Zielführung und Teleologie (B.F. Skinner, W.B. Cannon, A. Rosenblueth, Wiener); 3. Eine quasi-idealistische ›Mathematical Biophysics‹, die mathematisch in unterschiedlichsten Materialitäten instantiierte Binär-Kalküle formalisiert und sichtbar macht (D. de Barenne, W. McCulloch / W. Pitts im Rekurs u. a. auf R. Carnap);

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Ziel, bestimmte (bio-)politische Konnotationen auch und insbesondere der kybernetischen Episode dieser Geschichte zu unterstreichen. Ich erhoffe mir hierbei u. a., das diesen vermeintlich ›deskriptiven‹ Begriffen inhärente, quasi-normative ›Enhancement-Potential‹ transparenter und bestimmte Naturalisierungsstrategien sichtbar werden zu lassen. Dies geschieht insbesondere durch die Präsentation einiger breiter kontextualisierter Fundstücke aus einem kybernetischen (II.), einem unmittelbar vorkybernetischen (III.) und einem weiteren Kontext im Blick auf das 19. Jahrhundert (IV.), eingerahmt durch einige die Sattelzeit überschreitende Linien im Anschluss an Canguilhem (V.). Das hierbei gewählte, offene Vorgehen soll stärker Fragen anstoßen als unmittelbar Antworten nahe legen. Indem es sich im Medium Geschichte bewegt, versteht es sich weniger von thetischen Setzungen her, es soll vielmehr stärker perspektivisch öffnend wirken. Beginnen wir unseren historischen Gang bei Norbert Wiener. Einige seiner gesundheitspolitischen Vorschläge artikulieren bereits in den frühen 1950er Jahren sehr deutlich bestimmte wegweisende Strategien. Deren prinzipielle Möglichkeit indes hatte sich bereits zuvor, im Kontext der stetigen Institutionalisierung kybernetischer Elemente und Modelle diskursiv vorbereitet.

I I . N o r b e r t W i e n e r : K yb e r n e t i k u n d p u b l i c h e a l t h Norbert Wiener (1894-1964) stellt in seiner einflussreichen, 1948 erschienenen Monographie Cybernetics Überlegungen zu staatlichen Gebilden an. Staaten versteht er im Rekurs auf Hobbes’ Leviathan, dem »aus niederen Menschen aufgebaute[n] Staatmensch«.9 Dieser ist – wie ähnliche Formen – selbst »aus Einheiten, Zellen aufgebaut«.10 Aber auch der einzelne Körper ähnelt ihm: er wird ebenfalls von abgleichenden Informationsströmen durchzogen – z. B. dem Geruchskommunikations-

4. ›Spieltheorie‹ (F. E. Fisher, von Neumann); 5. Überlegungen zu bestimmten neuen Begriffen wie ›Homöostase‹, zu ›Gleichgewichtszuständen‹ sowie zu neuen Konzepten der ›Selbst-Regulation‹ (C. Bernard, W. B. Cannon, N. Wiener). Ich greife im Folgenden allein den fünften Strang heraus. Aber auch und insbesondere der 3. Strang hätte im EnhancementKontext sicher einige Relevanz, gerade was Geburtslagen der Neurophysiologie und Kognitionswissenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrifft. 9 Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Hamburg: Rowohlt 1968, S. 191. 10 Ebd. 149

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system von Ameisen.11 Menschliche Kollektive leiden nun an etwas, das Wiener mangelnde ›Homöostase‹ nennt. Denn wenn sie eine gewisse Größe überschreiten, tendieren sie bisher ihm zufolge zu informationeller Dummheit: »Wie das Wolfrudel ist der Staat, obgleich, wie wir hoffen wollen, zu einem weniger hohen Grad, dümmer als die meisten seiner Komponenten.«12

Ein größerer »Organismus« krankt zumeist an einer mangelhaften »Beherrschung der Nachrichtenmittel«, was einen der wichtigsten »antihomöostatischen Faktoren in der Gesellschaft« ausmacht. In derjenigen Form von »Gesellschaft, die für den direkten Kontakt ihrer Mitglieder zu groß ist«, sind es zudem die herrschenden Medien, die für Wiener ein Problem darstellen.13 Sie sind noch »in den Händen der eng begrenzten Klasse der Reichen«, weswegen sie »natürlicherweise die Meinungen jener Klasse ausdrücken«.14 Was ist für Wiener hier nun aber eigentlich genau das ›homöostatische‹ Problem? »Es gibt keine wie auch immer geartete Homöostase. Wir sind in den Wirtschaftszyklen des Aufschwungs und Niedergangs verwickelt, in das Aufeinanderfolgen von Diktatur und Revolution, in die Kriege, die jeder verliert«.15

Wiener schenkt der Suche nach »Sitten« mit einem »bestimmten homöostatischen Wert« einige Aufmerksamkeit.16 Erste Fehlanzeige dieser Suche: Für ihn ist im Kontext einer liberalen Gesellschaft der »Glaube«, das »Dogma« eines freien Wettbewerbs i. S. von Adam Smith als »homöostatischem Prozeß« nicht wirklich weiter verfolgenswert: »Leider steht die Wirklichkeit dieser einfältigen Theorie entgegen«.17 Eine zweite, aktuellere Anzeige wird bereits ambivalenter thematisch: Dem Markt ist für Wiener mit John von Neumanns und Oskar Morgensterns Spieltheorie besser beizukommen. Aber auch deren Bild eines »Marktspiels« – es konzipiert mittels Überlegungen zur Maximierung des individuellen Nutzens und in maximaler Unkenntnis sozialer ›Gegner‹ diese jeweils als »vollkommen skrupellose Person« – ist eine »Abstraktion und eine Verdrehung der Tatsachen«.18 Wiener schwebt eine ›Homöostase‹ vor, 11 12 13 14 15 16 17 18

Ebd., S. 192. Ebd., S. 199. Ebd., S. 198. Ebd., S. 199. Ebd., S. 146. Ebd., S. 197. Ebd., S. 195. Ebd., S. 195f.

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wie sie noch »in einer kleinen Landgemeinde« durch soziale Kontrolle unter Anwesenden praktiziert wird.19 Die Problematik bleibt ungelöst, eine Suchbewegung wird sichtbar. Es ist abermals Wiener, der drei Jahre später dem Publikum von Science and Tomorrow beispielhaft erste ›humane‹ Anwendungsbereiche von Kybernetik verdeutlicht. Es wird u. a. eine neue public health empfohlen, die Vision einer neuen »mathematical-physical medicine« artikuliert.20 Im Anschluss an Warren McCullochs Forschung wird das Nervensystem durch einen »parallelism« zur »electronic computing machine« gefasst.21 Diese neuen Maschinen »do not show a strict localization of function« – Phrenologie ist verdächtig geworden.22 Geht man von einer Nichtlokalisierbarkeit von Funktionen aus, werden neue Blickwinkel der Problematisierung deutlich, die den medizinischen Mehrwert der neuen Theoriebildung ausmachen. Versprochen wird eine erweiternde und verbessernde Ergänzung vormaliger Prozeduren, eine komplexere Überblicksbildung: »[O]ver and above the localizable physiology and pathology of the elements [...] there is a grand [...] physiology and pathology of the system as a whole. [...] I repeat, functional disease may [...] have a localizable organic basis and yet the full consequences of this organic injury may only come to light if we consider the secondary consequences on the whole chain of organization«.23

In Wieners neuem Ansatz geht es darum, dort Probleme fassbarer machen zu können, wo in bisherigen Perspektiven offenbar noch schlicht organisch ›gesunde‹ Zusammenhänge erscheinen. Denn auch was nach 19 Ebd. 20 Norbert Wiener: »The Concept of Homeostasis in Medicine«, in: ders.: Collected Works with Commentaries, hg. von P. Masani, Cambridge/ London: MIT Press 1985, S. 384-390, hier S. 389. 21 Ebd. 22 Ebd. In Kybernetik ist von ›physiologisch‹ lokalisierbaren Fehlfunktionen die Rede: Die dreifache Rechnungsführung zeitgenössischer Rechenmaschinen wird in drei separaten Kompartimenten ausgeführt. Wenn ein »Minoritätsergebnis vom Majoritätsergebnis abweicht« (Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine, Frankfurt/Main: Metzner/Athenäum, 1952. S. 179f.) wird nach Wiener sehr wohl ein Rückschluss auf einen »fehlerhaften Teil« nötig – was zum »Entfernen und Ersetzen von defekten Elementen« (ebd., S. 179) führt. Vgl. auch Steve Heims: The Cybernetics Group. Cambridge/London: MIT Press 1991, S. 249; ders.: John von Neumann und Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Life and Death. Cambridge/London MIT Press 1981, S. 304. 23 Norbert Wiener: »Problems of organization«, in: ders.: Collected Works with Commentaries, Volume IV. hg. von P. Masani, Cambridge/London: MIT Press 1985, S. 394. 151

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der herrschenden Sichtweise gesund ist, kann Wiener zufolge ›krank‹ sein. Krankheiten werden thematisch, »which go beyond anything that the doctor or the postmortem surgeon can evaluate«.24 Wie konkretisiert Wiener solche bislang ›unsichtbaren‹ Krankheiten? Auch durch eine übermäßige Belastung ›organisch gesunder‹ Elemente und Funktionen kann eine Gesamtorganisation leiden und überlastet werden. Mittels Wieners neuer Medizin soll ein neues Gesundheitskonzept, sollen neue ›Krankheiten‹ neuer Ganzheiten, sollen neue Regulationsformen thematisch werden können. Dazu müssen diese aber erst einmal allgemein begreifbarer werden. Im Kontext wird recht anschaulich klar, was Wiener unter jener traditionsreichen Schifffahrts-Metaphorik der neuen ›Steuermannskunst‹ Kybernetik verstanden haben will. Denn eine steuernde, regelnde Stimme soll hier jegliches Ensemble, das ›Schiff‹, vollständig durchdringen, sie agiert subkutan: »The important thing for our purpose is that the voice of the ship is vested in the ship as a whole, and is not located in any particular member or member of its structure.«25

Letztlich thematisieren Wieners Analysen hier eine bestimmte Funktion organisierter ›Gesamtheiten‹: ›Homöostase‹. Wie dezentralisiert auch immer, diese Funktion ist ganz offensichtlich die ›Zentralfunktion‹. Ihr allein dient die »self-regulatory function of the living organism«.26 ›Homöostase‹ ist damit »not confined to any one locus or to any small number of loci in the organism, but belongs to the latter as a whole«.27 Das Fundament jener generellen Form von ›Homöostase‹ bildet ein biologisch-physiologisches ›Faktum‹: die negativ rückgekoppelte Regulation. Sie gewinnt einen fast ›allumfassenden‹ Einsatzbereich: »In short, the concept of the negative feedback is almost ubiquitous in physiology«.28 Im Rekurs auf kybernetische Konzepte wird Homöostase definierbar als etwas, das schlicht notwendig zu sein scheint, um Organismen die »quite narrow limits for continued life to be possible« nicht überschreiten zu lassen.29 Kybernetisch informierte, also ›negativ rückgekoppelte‹ Homöostase gilt bereits ausdrücklich als allgemeiner Normalisierungs24 25 26 27

Ebd., S. 396. Ebd. Ebd. Norbert Wiener: The Concept of Homeostasis, S. 387; vgl. auch N. Wiener: The Human Use of Human Beings (Cybernetics and Society), Boston: Houghton Mifflin 1950, S. 181. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 386 152

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mechanismus, als »an effective mechanism such that any serious departure from the normal initiates a process tending to bring conditions back to normal«.30 Zugleich wird eine defiziente Homöostase, werden bestimmte neue Krankheiten skizziert. Die Kernaussage der neuen ›mathematischen Medizin‹ Wieners lautet dann folgerichtig: Solche Krankheiten liegen dann vor, wenn einer oder mehrere der Homöostase-Mechanismen »has been removed or rendered incapable of action«.31 Mit leichter Hand wird das Homöostase-Konzept im medizinischen Grundbinarismus verortet: es wird »fact when there is a physiology of homeostasis there is also a pathology of homeostasis«.32 Weniger als lokalisierbare Teile betrifft diese ›Pathologie‹ ebenfalls die ganze ›Organisation‹: »a disease of organization rather than a disease which we can locate in a particular part«.33 Die Hauptgefahr einer solchen Krankheit besteht in einer prinzipiellen Unvorhersehbarkeit betroffener ›Maschinerien‹ – wenn z. B. die »nervous and mental machinery in unforeseen or unforeseeable ways« funktioniert.34 Die neuen ›disorders‹ sollen behandelbar werden. Das Problem besteht im Finden jeweils angepasster Prozeduren to »restore the disordered system to a normal level«.35 Konsequent kybernetisch bezeichnet Wiener hier kranke, ›unkorrigierte‹ Prozesse als in sich kreisende Bewegung, als »vicious circles«, als Teufelskreise, ›normale‹, geordnet verlaufende Prozesse hingegen als »virtuous circles«.36 Solche Regelkreise tragen immer bereits eine Tendenz zur Rückkehr in Normalbereiche in sich, eine »tendency to return us to the normal, or at least the viable«.37 Führen die ›schlechten‹ zu Krankheit, zum Verlust des Gleichgewichts, dann führen die ›guten‹ zurück zu Normalwerten. Aufbauend auf kybernetischen Teleologie-Konzepten – ›negative Rückkopplung‹ führt stetig zur Erreichung eines ›Sollwerts‹ – gilt auch im kybernetischen Kontext Homöostase: »Regelung beruht wesentlich auf der Weitergabe von Nachrichten, die den Zustand des Systems ändern«.38 Solche Rückkopplungen geschehen auf der Grundlage von »tatsächlichen statt [...] erwarteten« Vollzügen.39 Indem »zum zentralen Regulationsapparat« Abweichungen ›zurückgemeldet‹ werden, wird dieser ganz selbstverständlich 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Ebd., S. 388. N. Wiener: Problems of Organization, S. 392. Ebd. Ebd., S. 393. Ebd., S. 396. Ebd., S. 392. Ebd. Ebd. N. Wiener: The Human Use, S. 20. Ebd., S. 23. 153

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auf den Punkt genau eine Normalisierung jener Tendenzen einleiten.40 Mit Claude Bernard und Walter Cannon als ausdrücklichen Ahnherren wird ein gemeinsamer »general purpose« konstatiert: »physiological dynamic equilibrium«.41 Dieser generelle Zweck wird gedacht als ein über ein weiteres »goal« vermittelter, nämlich über den jeweiligen individuellen Lebenszweck, »purpose of life«.42 Dieser Zweck stellt niemals das Weiterbestehen ›der Menschheit‹ in Frage, er optiert immer wieder zugunsten einer »continued existence as men and as the human race in the face of our ever-changing environment«.43 In Individual- wie in Gattungsperspektive gilt das, was Wiener bereits 1948 in Cybernetics festgestellt hatte, dass Homöostase »für die Fortdauer des Lebens wesentlich« ist.44 Nicht zuletzt aus diesen ›letzten‹ Gründen erscheint es für Wiener selbstverständlich, dass »jedes vollständige Lehrbuch über Kybernetik [...] eine sorgfältige, detaillierte Erörterung der homöostatischen Prozesse enthalten« sollte.45 Wiener kann bereits 1951, noch immer auf medizinischem Gebiet, experimenteller auftreten: Hinsichtlich ›Homöostase‹ greift er nun auf Kontexte der Anästhesie zurück. In Analogie zum Thermostat wird ein neuer »right way to regulate anaesthesia« diskutiert.46 Die schwierige Aufgabe der Handhabung wird hier nicht mehr der »art« und »handycraft« ausgebildeter Anästhesisten anvertraut.47 Begeistert diskutiert wird ein neu in Entwicklung befindlicher »mechanical anaesthetist«, ein Apparat, der »regulates the depth of anaesthesia of an animal or a human by an injection device which injects barbiturates into the veins, or ether into the breathing mask, and the injection is measured in accordance with the depth of anaesthesia of the animal as made manifest through its electroencephalogram, which is directly interpreted into a mechanical basis for injection.«48

Wieners Phantasie humaner Integration in homöostatische ›Gleichgewichts-Maschinen‹, in »artificial feedback« einer »artificial homeo40 Ebd. 41 Vgl. Norbert Wiener: »Some Moral and Technical Consequence of Automation«, in: Science New Series 131/3410, S. 1355-1358. 42 Ebd., S. 774. 43 Ebd. 44 N. Wiener, The Human Use, S. 146. 45 Ebd., S. 147. 46 N. Wiener: »Homeostasis in the individual and society«, in: ders.: Collected Works with Commentaries, Volume IV. hg. von P. Masani, Cambridge/London: MIT Press 1985, S. 366. 47 N. Wiener: The Concept of Homeostasis, S. 384. 48 Ebd.; vgl. auch ders.:, Problems of Organization, S. 399. 154

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stasis«, beginnt sich zu entfalten, Einsatzbereiche wie Diabetes und Leukämie werden thematisch.49 Denn wenn mittels solcher Geräte interne Funktionen kurzfristig extern ausgeglichen werden können, dann lassen sich vielleicht auch intern gänzlich fehlende Funktionen extern kompensieren oder anschließen. Verglichen mit der zeitgenössischen ›eisernen Lunge‹ sollten die neuen Apparate aber ›handlicher‹ und unscheinbarer werden.50 Wiener schlägt hier nicht allein die viel zitierten ›menschenfreundlichen‹ Hör-, Seh- und Laufgeräte für jeweils derart ›Amputierte‹ vor,51 seine Phantasie geht weiter. Wie ist es mit Bereichen, die bisher ganz grundsätzlich jenseits jeder menschlichen Wahrnehmbarkeit liegen, »in which we are all deaf and blind«?52 Um die Fremdheit dieses Themenbereichs zu umreißen, wählt Wiener Analogien, so zu einem Menschen, der durch eine Frontal-Lobotomie ›homöostatische Funktionen‹ verloren hat53, oder zu einem Menschen, der von Geburt an niemals ein Schmerzempfinden hatte. Muss ein solcher ›primordial Amputierter‹ nicht angestrengt ›künstlich‹ versuchen, ›Hömoostase‹ walten zu lassen?54 Fühlbarmachen prinzipiell unfühlbarer, aber für das Leben zentraler Sachverhalte, sinnliches Enhancement: Kurz vor W. Ross Ashbys ›Homöostat‹ schlägt Wiener etwas wie ein homöostatisches ›PublicHealth-Gerät‹ vor. Er wählt hierzu eine Analogie zum Geigerzähler. Das Gerät soll offenbar subkutan funktionieren und ganz prinzipiell unspürbare Frühformen von Krankheiten ›melden‹, und zwar so melden, dass beim Nutzer ein frühes, ›homöostatisches‹ Umlenken riskanten Verhaltens forciert wird. Wie potentiellen zukünftigen Schmerz spürbar machen? Indem man ihn in die Gegenwart verlegt: »If we could only make the incipient stages of cancer or of heart disease desperately painful, we should go far to eliminate them from the list of killers. [...] With all the power that we now possess, the body corporeal does not posses an adequate homeostasis for all its needs. Even less does the body politic«.55

Was Wiener vorschlägt, scheint etwas wie ein prospektiver Konditionierungsapparat zu sein:56 Auf den ›Empfang‹ verschiedener potentieller 49 N. Wiener: The Concept of Homeostasis, S. 389f. 50 Vgl. N. Wiener: Problems of Organization, S. 397. 51 Vgl. N. Wiener: Homeostasis in the Individual; ders: The Concept of Homeostasis, S. 389.; vgl. S. Heims: Technologies of Life and Death. 52 N. Wiener: Homeostasis in the Individual. 53 N. Wiener: Some Moral and Technical. 54 Ebd., S. 774. 55 Ebd. 56 Vgl. z. B. zum Effekt von Elektrozäunen bei Tieren: N. Wiener: The Human Use, S. 72f. 155

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Krankheiten eingestellt, prüft er aktuelles Verhalten darauf, ob es nicht, längerfristig kumuliert, mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zu einer der schweren und besonders gefürchteten Krankheiten führen könnte. Wiener ist Menschenfreund: Sollte dank des Apparats dann wirklich einmal aus der berechneten Zukunft heraus eine Melodie erklungen sein, dann will sie sicher wohl niemand je wieder hören müssen. Wo Sinne fehlen – oder abstrakte Überlegungen nur unzureichend ausgeprägt sind – soll nachgerüstet werden können, zum eigenen Wohl und darüber hinaus. Angesichts solcher Visionen wird jeder immer bereits ›behindert‹ gewesen sein – mit seinen ›Defiziten‹ aber nie wieder konfrontiert werden müssen. Für Wiener besteht kein Zweifel, dass solche Geräte notwendig sind. Denn die in ihrem Licht erscheinenden »sensory defects [...] lead to a short life«.57 Wer hätte unter diesen Umständen etwas gegen eine Maximierung individueller Lebenszeit einzuwenden? Die Apparate optimieren nicht allein ›sinnlich‹, sondern auch quantitativ. Ohne viele Zwischenschritte kommt Wiener über Gedächtnisfragen auf die ›body politic‹ der US-amerikanischen Verfassung zu sprechen. Angesichts einer potentiellen »future catastrophe« – wir befinden uns am Beginn des Kalten Krieges – wird ein brennend pathetischer Appell zur Erhaltung des »social memory« eines nationalen »mode of life« formuliert:58 Dieses Gedächtnis gilt als zentraler Bestandteil politischer ›homöostatischer Mechanismen‹. Kurz darauf wird an dieser Stelle nicht nur von einer »informational homeostasis of the community« gesprochen, sondern – fast prophetisch – vom ›Wissen‹ der ganzen ›Gattung‹: »What the nervous system is to the individual, the ability to acquire knowledge by scientific observation, to store it and combine it in the collective memory of books, and to use it judiciously for human purposes, is to the race. The race acts as if to secure ends of racial survival.«59

Wieners ›mathematical medicine‹ von 1952 plant nicht nur individuell, sondern auch ins Kollektive hinein. Geht es beim individuellen Schritt noch darum, »each symptom of departure from the norm as it occurs« zu attackieren, soll dies auch noch einmal weiter gerahmt werden können: »The next, more complicated, is to put the patient in an environmental situation which is itself more or less automatically homeostatic and will tend to counter serious departures from equilibrium.«60 57 58 59 60

N. Wiener: Some Moral and Technical. Vgl. N. Wiener: Homeostasis in the Individual, S. 383. N. Wiener: Some Moral and Technical. N. Wiener: Problems of Organization, S. 399.

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Hierzu sind Untersuchungen notwendig zum »actual homeostatic mechanism of the body politic in its actual working«.61 Wiener propagiert – wie später Heinz von Foerster62 – Untersuchungen zu Stabilisierungsprozessen kollektiver Gebilde.63 Eine reine Orientierung an Ist-Werten? Wir jedenfalls treten einen Schritt zurück von Wieners Visionen und bewegen uns genealogisch schräg weiter, zurück in die Vergangenheit.

I I I . Wa l t e r C a n n o n : › H o m ö o s ta s e ‹ u n d Sta a t Es ist der Physiologe Walter Cannon (1871-1945), der ein für die Kybernetik stilbildendes ›Regulations‹-Konzept vorbereitete.64 Vorarbeiten zu seinem Begriff der ›Homöostase‹ wurden 1915 im Kontext von körperlichen Veränderungen bei Schmerz, Hunger, Furcht und Wut angestellt.65 Einige seiner Arbeiten mit Veteranen des Ersten Weltkrieges mündeten 1923 in erste Studien zum traumatischen Schock. Cannon bringt danach einen spezifischen Regulationstyp auf den Begriff. Dieser soll immer wieder auf Gleichgewichtszustände und deren Erhaltung zustreben. Cannon prägt dazu zwischen 1929 und 1932 den Begriff einer organischen Homöostase. Definiert wird dies in Abgrenzung zu ›equilibrium‹ in geschlossenen Systemen: »The coördinated physiological processes which maintain most of the steady states in the organism are so complex and so peculiar to living beings [...] that I have suggested a special designation for these states, homeostasis.«66

Homöostase soll einen Zustand beschreiben, der zwar veränderbar ist, aber zugleich ›relativ konstant‹ bleibt: »The word does not imply something set and immobile, a stagnation. It means a condition – a condition which may vary, but which is relatively constant«.67 Der Begriff sagt al61 N. Wiener, Some Moral and Technical. 62 Vgl. z. B. Heinz von Foerster: »Some Remarks on Changing Populations«, in: Frederick Stohlman Jr. (Ed.): The Kinetics of Cellular Proliferation, New York/London: Grune and Stratton 1959, S. 382-407; ders.: »Doomsday«, in: Science 133 (1961). S. 936-946; sowie ders.: »Population Density and Growth«, in: Science 133 (1961). S. 1931-1937. 63 Ebd. 64 Vgl. auch Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe, Basel 1971-2007. (Im Folgenden HWP), Bd. 6, S. 1185. 65 Vgl. Walter Cannon: The Wisdom of the Body [1932], New York: The Norton Library 1967, S. xiii 66 W. Cannon: Wisdom, S. 24. 67 Ebd. 157

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so selbst nichts aus über das Wie jeweils notwendiger regulativer Mechanismen. Solche Mechanismen werden konkreter erst im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der ›inneren Ökonomie‹ höherer Tiere vorstellig. Der Kontext wäre noch nicht über die Maßen spektakulär, wenn nicht bereits generalisierend soziale Analogien angeregt würden: »It seems not impossible that the means employed by the more highly evolved animals for preserving uniform and stable their internal economy [...] may present some general principles for the establishment, regulation and control of steady states, that would be suggestive for other kinds of organization – even social and industrial – which suffer from distressing perturbations.«68

›Regulation‹ kann hier in ein Bedeutungsfeld eintreten, das erstmals ausdrücklich die Vorsilbe ›Selbst‹ einer ›selbsttätigen Regelung‹, einer ›Selbstregulation‹ artikuliert.69 Diese Vorgänge werden zugleich abstrakt verallgemeinert und technisch beschreibbar gemacht. Im Umfeld Cannons geht es aber noch nicht um ›Rückkopplungen‹. Konkret werden Untersuchungen angestellt zu Fragen, wie »lebende Systeme gewisse Parameter konstant halten«.70 Hier und andernorts werden allgemeinere ›general functions‹ und ›bodily structures‹ abstrahiert. Es artikuliert sich eine verallgemeinerte Weise des Denkens darüber, wie solche Funktionen und Strukturen ›regulativ‹ in einer jeweiligen ›gesicherten Marge‹ gehalten werden können.71 Cannon nimmt an, dass »relations of biological and social homeostasis« bestehen,72 »analogies between the body physiologic and the body politic«.73 Neue Einsichten am Individualkörper könnten dem Körper des Kollektivs dienlich sein, gerade hinsichtlich seiner ›Defekte‹: »Might it not be useful to examine other forms of organization – industrial, domestic or social – in the light of the organization of the body? [...] May not the new insight into the devices for stabilizing the human organism [...] offer new insight into defects of social organization and into possible modes of dealing with them?«74

68 69 70 71 72 73 74

Ebd. Ebd., S. xivff. HWP, Bd. 6, S. 1184; W. Cannon: Wisdom, S. 177f. Ebd., S. 231ff. Ebd., S. 305. Ebd. Ebd., S. 305f.

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Nach Cannons Vorstellung verläuft in den Zellen eines ›arbeitsteiligen‹ Zellverbands alles harmonisch geregelt.75 Wo es im Sozialen oftmals an Stabilität fehlt, hat es der Organismus gelernt, to »protect itself for decades against perturbations«.76 Zwar gibt es im Bereich des Sozialen bereits Frühformen ›sozialer Homöostase‹, diese sind für Cannon aber bisher eher noch denjenigen ›niederer Tiere‹ vergleichbar. Noch immer herrscht eine Abfolge von »social swings and their reversal«, kein ausgeglichenes Ende ist in Sicht.77 Um 1930 fehlt auf sozialer Ebene noch etwas, das ›soziale Perturbationen‹ verhindert, einer Schwächung des Kollektivs durch ›Krankheitskeime‹ oder durch unbegrenzt wachsende soziale ›Geschwüre‹ vorbeugt und eine Stabilität der Population gegenüber anderen gewährleistet. Umgekehrt allerdings trennt für Cannon ein zentraler Unterschied Individuen vom Sozialen, nämlich der Tod. Er wird im Organismus durch langsame Zelldegeneration selbst der stabilisierenden Elemente ausgelöst: »[H]omeostatic devices, [...] powers of adjustment [...] are greatly restricted as one grows older«.78 Hier sind die Staatsapparate bereits weiter. Denn dort findet eine permanente Auffrischung solcher Kräfte statt: »[A] state or a nation, does not need to contemplate its own end, because its units are ceaselessly refreshed.«79 An beiden Orten wird Kybernetik später ansetzen können. Hier nun nochmals ein Schritt weiter, über Cannon hinaus, weiter in die Vergangenheit: Wir lösen uns im Folgenden vom kybernetischen Diskurs, seiner unmittelbaren Vorgeschichte und schauen über dessen historischen ›Tellerrand‹ hinaus – aber nicht unbedingt so, wie es kybernetische Selbstverortungen historiographisch vorzuexerzieren versuchen. In dem ab 1948 u. a. von Wiener vorangetriebenen ›neutralen‹ Selbstverständnis des kybernetischen Diskurses schwingen immer wieder bestimmte Elemente der Selbsthistorisierung mit, wenn im Anschluss an Fragen zu ›Homöostase‹ die Geschichte von ›Regulation‹ verhandelt wird. Von woher also könnte sie sich zusätzlich herleiten?

I V. R e g u l a t i o n u n d F r e i h e i t – C l a u d e B e r n a r d und die Biologie 1877 spricht der Physiologe Claude Bernard (1813-1878) von ›Schwankungen, die von einem regulierenden Gesetz beherrscht werden‹, ein 75 76 77 78 79

Ebd., S. 307. Ebd., S. 311. Ebd., S. 312. Ebd., S. 206. Ebd., S. 320. 159

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Jahr später von ›Gleichgewicht, Ausgleich, Balance‹. Die von Bernard untersuchten Zusammenhänge kommen durch ›Ausgleichsfunktionen‹ zustande: 1865 wird der Ausdruck ›inneres Milieu‹ geprägt. Für die experimentellen Verfahren der Arbeit Bernards hat dabei ein ausdrücklich physiologisch gewendeter Begriff von ›Regulation‹ zentrale Bedeutung.80 Er artikuliert Aspekte des Zufalls.81 Mittels einer selbstständig verlaufenden inneren ›Regulation‹, Stabilisierung lebenswichtiger Funktionen ist es dem Organismus laut Bernard möglich, ein ›freies Leben‹ zu führen, »den Zufällen der Umgebung zu begegnen, weil sie in einem Mechanismus des Ausgleichs der Unterschiede besteht«.82 Bernards Konzept tritt in Zusammenhängen auf, die in mehrfacher Hinsicht ›Freiheit‹ artikulieren. Im Umfeld seiner Texte aus den 1860er Jahren emanzipiert sich die Physiologie als experimentelle Wissenschaft. Canguilhem hält fest, dass es »ohne die Idee des inneren Milieus keine Autonomie der Physiologie als Wissenschaft« gegeben hätte.83 Mit ›subkutanem‹ Koordinatennetz richtet diese neue Wissenschaft sich nun funktionsanalytisch gegen bisherige mechanistische und vitalistische Konzeptualisierungen. Physiologische Konzepte werden dabei zu allererst schlicht als pragmatische Mittel konkreter experimenteller Eingriffe in organische ›Ganzheiten‹ verstanden. Solche Eingriffe in lebendige Körper beginnen dabei zugleich als tendenziell unbeeinträchtigend wahrgenommen zu werden. Nicht zuletzt mit diesem ›invasiven‹ Effekt konnte Bernard mittels Vivisektionen und Vergiftungsexperimenten mit dem Pfeilgift Curare spezifische Reaktionsweisen auf dieses Gift lokalisieren und verschiedene Funktionsebenen des Gesamtorganismus bestimmen.84 Mittels trial and error, Protokollen jeweils angewandter Giftmengen und des Orts der Anwendung wurden stetig ausfallende Funktionen lokalisierbar und irgendwann extern kompensierbar: »Wir können das Tier vollständig oder teilweise, ja sogar zu einem Drittel

80 G. Canguilhem: »Theorie und Technik des Experimentierens«, in: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 77f.; vgl. auch Ders.: »Zur Geschichte der Wissenschaften vom Leben seit Darwin«. in: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1979, S. 148; HWP, Bd. 8, S. 491. 81 Canguilhem spricht von Bernard als dem »Newton des lebenden Organismus« (ders.: Theorie und Technik, S. 81). 82 G. Canguilhem: Herausbildung des Konzeptes, S. 106. 83 G. Canguilhem: Theorie und Technik, 80. 84 Vgl. Claude Bernard: »Physiologische Untersuchungen über einige amerikanische Gifte: das Curare« [1864], in: ders.: Ausgewählte physiologische Schriften, Bern/Stuttgart: Hans Huber 1966, S. 83-133. 160

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oder Viertel usw. vergiften«.85 Gift, das zuvor einfach nur tötete, wird mittels Experimenten als Mittel einer medizinischen Regulation des Todes praktikabel: Tod wird als ›reversibel‹ vorstellig, spezifische »Bedingungen von Leben und Tod« einzelner Elemente von Organismen können herauspräpariert werden.86 Entlang ergebnisoffener, experimenteller Methoden schreitet so die sich konstituierende Biologie immer neuen Begriffsbildungen entgegen.87 Der hierbei proklamierten biologischen ›Freiheit‹ auf Individualebene korrespondieren pragmatische Forschungsfreiheiten, eine neue Experimentierfreudigkeit der neuen Wissenschaft. Zum Experimentator kann sich der moderne Kollektivsingular ›Mensch‹ empfehlen: Man greift zu ›wiederherstellenden‹ medizinischen Zwecken ein, um zugleich – ›verbessernd‹ – zum »Erfinder von Phänomenen«, einem »Vorarbeiter der Schöpfung« zu werden.88 Kein Wunder, dass sich diese Biologie wie selbstverständlich von Beginn an flankiert sieht durch eine passende pragmatische Moral, eine »Philosophie der Einwirkung der Wissenschaft auf das Leben«.89 Einerseits steht eine solche, im Kontext einer organischen ›Regulation‹ emanzipierte Biologie immer stärker in Linien der ›Emanzipation‹ von Konzepten eines im Singular verstandenen Lebens aus alltäglichen lebensweltlichen Kontexten. Andererseits wird ausgehend von Lebendigem, von einer gezielten Vergiftung von Tieren, ein Ausklang metaphysischer und theologischer Konzepte einer ›VorRegulation‹ ratifiziert. ›Der Mensch‹ wird als herrschaftlich-singuläres Subjekt einer ›freien‹ Praxis der neuen biologischen Experimentalwissenschaft eingesetzt und zugleich ihr bevorzugter Gegenstand. Im Jahr, in dem Bernard erstmals sein Konzept der ›Regulation‹ vorstellt, erscheinen Charles Darwins Origin of Species und Rudolf Virchows Cellularpathologie.90 Die weitere Entwicklung, ein immer stärker ›öffnender‹ und sichtbar machender Prozess, wird zugleich immer stärker mathematische Einflüsse geltend machen. Sie findet einen zentralen Fluchtpunkt Mitte des 20. Jahrhunderts, im Gefolge von Kybernetik und einer Computerisierung der Forschung: 85 Ebd. S. 126. 86 Ebd. S. 99. 87 Vgl. auch Karl E. Rothschuh: »Historische Wurzeln der Vorstellung einer selbsttätigen informationsgesteuerten biologischen Regelung«, in: Nova Acta Leopoldina. Abhandlungen der deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Band 37/1, 206, Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1972, S. 103. 88 C. Bernard, zit. n. G. Canguilhem: Theorie und Technik, S. 87. 89 Ebd. 90 Vgl. G. Canguilhem, Zur Geschichte, insb. 137ff sowie HWP, Bd. 8, S. 491ff. 161

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»Die Physiologie, die bislang Vivisektionistin war, wurde nun Mathematikerin. Was Auge und Hand nicht mehr zu unterscheiden oder zu fassen vermochten, wurde den Fähigkeiten von Detektorapparaten anvertraut«.91

Die in der Mitte des 20. Jahrhundert neu entstandenen biologischen Gebiete Genetik, Molekularbiologie und Biochemie verdanken sich »dem Einfluß, den die Informationstheorie und die Kybernetik sehr schnell auf das wissenschaftliche Denken im allgemeinen gewannen. Es versteht sich von selbst, dass es ohne den Einsatz von Techniken, die noch vor einem halben Jahrhundert unvorstellbar waren, [...] unmöglich gewesen wäre, jene Gesamtheit von Forschungen durchzuführen, die es am Ende ermöglicht haben, die [...] Funktionen der Vererbung in der Desoxyribonukleinsäure zu lokalisieren.«92

Hier nun ein weiterer Schritt zurück. Ein Schritt vielleicht in der Gewissheit, dass unter bestimmten Voraussetzungen aus Visionen Realitäten werden können, gerade wenn sie in kleinen Schritten, z. B. experimentell verlaufen. Bezugspunkte stellen sich als notwendig heraus, wenn Beharrungsvermögen angestrebt wird; in manchen Lagen müssen sie konstruiert, erfunden werden, in immer neuen Wendungen. Im Folgenden noch kurz ein Blick über die Sattelzeit hinaus: Weitere, kleine Schritte in unserer Geschichte werden sichtbar.

V. › R e g e l n ‹ , › R e g l e r ‹ , › R e g u l a t i o n ‹ – n e u z e i t l i c h e Vo r g e s c h i c h t e n Seit 1872 wird der Begriff ›Regulation‹ erstmals ausdrücklicher in Texten geführt. In Émile M.P. Littrés Dictionnaire de la langue française verweist er auf eine ›regelnde Tätigkeit‹ in sowohl politischer als auch mechanischer Hinsicht. Jene physiologische Bedeutung von ›Regulation‹, auf die sich historisierende Kybernetiker des 20. Jahrhunderts beziehen, wird in Umrissen erst 1876 bei Claude Bernard geprägt.93 Jen91 G. Canguilhem: Zur Geschichte, S. 153. 92 Ebd., S. 143f. 93 Vgl. Claude Bernard: »Über den Einfluß von zwei Arten von Nerven, welche die Farbänderungen des venösen Blutes in den Drüsenorganen hervorrufen«, in: ders.: Ausgewählte physiologische Schriften, Bern/Stuttgart: Hans Huber 1966. S. 79; HWP, Bd. 8, S. 491; vgl., politisch hoch brisant, dazu auch Hermann Schmidt: »Regelungstechnik. Die technische Aufgabe und ihre wirtschaftliche, sozialpolitische und kulturpolitische Auswirkung«, in: Zeitschrift des Vereins deutscher Ingenieure. Bd. 85/4 (1941), S. 81-88. 162

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seits des 19. Jahrhunderts besteht das Problem, dass für eine entlang von ›Regulation‹ fortschreitende Genealogie ein Kreuzen der modernen Epochenschwelle mangels früherer Fundstellen erschwert ist. Wo mit Beginn der Moderne die historische Selbstverortung des kybernetischen Gebiets abbricht, ›Regulation‹ und ›Regler‹ in bekannter, also technischphysiologischer Form rückdatiert werden, eröffnet insbesondere das Entstehen des Begriffspaars ›Regler / Regulator‹ neue Horizonte. Erst im 18. und 19. Jahrhundert – durch Watts Fliehkraftregler (1788) und durch Maxwells ›Dämon‹ (1871)94 – entsteht jenes physiologische Konnotationsfeld des Ausdrucks ›Regler / Regulator‹, das dann von der Kybernetik geprägt wurde.95 Der Kontext wird hier historisch erstmals als etwas ›Objekthaftes‹ vorstellbar. Denn bis ins 18. und teilweise bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts hinein ist die Bezeichnung ›Regler‹ vor allem durch politisch-religiöse Konnotationen bestimmt. 1678, in Ralph Cudworth True Intellectual System of the Universe, wird Gott als »Governour, Regulator, Methodizer« der Welt bezeichnet.96 Die Welt und ihre Bewegung werden zeitgenössisch u. a. anhand von Huygens Unruhfeder metaphorisiert: Eine solche Feder erhält im Lexicon technicum von John Harris auch erstmals eine technisch-mechanische Bezeichnung: ›regulator‹. Nicht mehr die Pendeluhr, wie noch bei Descartes, sondern die neuen tragbaren Federuhren sind es, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts das Verhältnis von Gott und Schöpfung metaphorisieren: Gott, so Leibniz polemisch, scheint nun genötigt »von Zeit zu Zeit seine Uhr aufziehen« zu müssen, »sonst bliebe sie stehen«.97 Nach Cudworth, Newton, Clarke und anderen ist im Kosmos – insbesondere um die geordnete Planetenbewegung aufrecht zu erhalten – ein göttlicher ›Regulator‹ erforderlich, »den sein ›Sensorium‹ (der Raum) von den Schwächen unterrichtet, die Seine Vorsehung sodann behebt«.98 Dagegen insistiert Leibniz auf einem Universum, in dem »Gott im voraus alle Dinge auf einmal geregelt hat«.99 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts steht dem vorausplanenden Gott von Leibniz – er unterlegt der Natur vorab eine geregelte Ordnung – der als Regulator in sein Werk eingreifende Gott Newtons, Cudworths und anderer gegenüber. Die »Verifizierung der Newtonschen Theorie im 18. Jahrhundert« bestätigt im Detail ironischerweise Leibniz: Regulatorische Kräfte innerhalb des 94 Vgl. auch K.E. Rothschuh: Historische Wurzeln, S. 93f. sowie N. Wiener: The Human Use, S. 162f.. 95 Vgl. z. B. N. Wiener: Homeostasis in the Individual, S. 65. 96 G. Canguilhem: Herausbildung des Konzeptes, S. 92. 97 G. W. Leibniz, Briefwechsel mit S. Clarke [1715/16], zit. n. ebd. 98 Ebd. 99 G. W. Leibniz, Die Theodizee, Vorrede, zit. n. ebd., S. 91. 163

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Kosmos lassen nun ›äußere Eingriffe‹ überflüssig erscheinen.100 Der Laplacesche Dämon und sein Gesetzesdeterminismus beginnen eine neue Kosmologie zu artikulieren. Laplace’ neues ›regelndes Prinzip der Bewegungen‹ übernimmt jene Funktion einer (Vor-)Regulation, wie sie Leibniz Gott zuordnete: Jener Erhalt erster Bedingungen geht auf einen wissenschaftlichen ›Dämon‹ über. Ein immer ausdrücklicher technisch werdendes ›Regulations‹-Konzept beginnt an die Subjektposition mancher neuzeitlichen Kosmologie zu rücken. Regler, Regulatoren und Regulationen stehen nun zwar weiterhin unter einem Vorzeichen der Konservierung anfänglicher Bedingungen, werden nun aber immer stärker dynamisiert. Auch für diese Entwicklung gibt es Vorläufer, z. B. eine politische Idee des ›ökonomischen Gleichgewichts der Tiere‹: Bereits 1659 hatte der englische Arzt Walter Charlton in seiner Naturgeschichte eine oeconomia animali angeregt. Der Gedanke eines das ›Gemeinwohl‹ sichernden, koordinierten Zusammenwirkens ›tierischer Maschinen‹ bildet Traditionslinien aus, deren physiologisch-technische und haushälterischsoziale Analogievorstellungen bis ins beginnende 19. Jahrhundert wirken, vom ›tierischen‹ hin zum ökonomischen Gleichgewicht der ›Natur‹: Mittels Rekurs auf die Physico-Theologie (1713) des Theologen William Derham proklamiert die Linné-Schule eine oeconomia naturae, eine prinzipiell konstante Proportion einer Zerstörung, Ausbreitung, Aufrechterhaltung und Struktur der Tier- und Pflanzenarten.101 Georg Ernst Stahl stellt gegen das vorherrschende Maschinen-Konzept des Körpers sein Konzept des Körpers als ›hydro-pneumatischer Feuermaschine‹. Es wird 1789 durch Lavoisier aufgenommen, in Teilen ›entvitalisiert‹ und mittels ausdrücklichen Rückgriffs auf Regler-Konzepte stetig analogisiert mit der zeitgenössischen »Wirkungsweise einer mechanischen Vorrichtung zur Ausgleichung und Regulation«.102 Doch auch dieser ›Regulation‹ Lavoisiers werden noch immer kaum Charakteristika zugebilligt, welche die Leibnizsche Idee einer Prädetermination überschreiten.103 Das ›Gleichgewicht‹, das Lavoisiers ›Regulation‹ berührt, ist wie deren ›Ausgleichs‹-Verfahren in Gesetzen fundiert: Natur hat ›überall Regler eingebaut‹. Sie ist »nur ein Aspekt der unveränderlichen Gesetzen unterworfenen und schon lange zu einem nicht zu störenden Gleichgewichtszustand gelangten physikalischen

100 Ebd., S. 94. 101 Vgl. auch ebd., S. 100; M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 195. 102 Vgl. G. Canguilhem: Herausbildung des Konzeptes, S. 98; vgl. auch K. E. Rothschuh: Historische Wurzeln, S. 93. 103 Vgl. auch M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 190. 164

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Ordnung«.104 In Analogie zum Einzelorganismus überträgt Lavoisier jene Form der noch unveränderlich, naturgesetzlich konnotierten ›Regulation‹ aufs Soziale: Die ›moralische Ordnung‹ funktioniert jener prästabilierten ›natürlichen‹ Ordnung analog, denn würde sie das nicht, hätten »die menschlichen Gesellschaften [...] niemals bestanden«.105 Wenn Krankheit aber durch eine Wiederherstellung von ›Gesundheit‹ beendet werden kann, kann sich eine steuernd-regelnde physiologische ›Selbsterhaltungskraft‹ zeigen: vis medicatrix naturae. Lavoisier versucht dies erstmals mechanisch zu denken, die Tradition der Gesellschaftsanalogie wird hierbei aufrechterhalten.106 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ruft dann Malthus ein »Prinzip der Gesundheit« auf den Plan: ›vis medicatrix rei publicae‹.107 Ein »sozialer Regler« beginnt als ›Regulation‹ des ›naturgesetzlichen‹ Bevölkerungsprinzips u. a. individuelles Verhalten und allgemeine Wohlfahrt über utility zu verknüpfen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt zuletzt Auguste Comte im Rekurs auf die Kosmologien von Laplace, Newton und anderen im ›Regulations‹-Kontext historisch erstmals weitläufiger ein Quantum an Freiheit und Veränderung an. Comtes ›Regulations‹-Konzept betont aber noch immer stark die Bedeutung von Erhaltungsprinzipien, proklamiert allein eine »Regulation [...] von oben und von außen«.108 Geschichte und Fortschritt erscheinen im Licht einer (vor-)geregelten Entfaltung von Ordnung, einer ›geregelten‹ Perfektibilisierung menschlicher Natur. Hier wird eine ›Umwelt‹ thematisch, die mittels ihres statischen Zustands zum »wichtigsten Regler des Organismus« wird.109 Erst durch solche ›Umwelten‹ können biologische, soziale und geistige Konstanz, ›Gesundheit‹ erzielt werden. Umgekehrt ist es eine zu starke Varianz, eine unklare ›Regulation‹ äußerer Umwelten, die Organismen ›krank‹ macht.110 Comte prägte Mediziner wie Charles Robin, der 1848 zu den Gründern der ersten Société de Biologie zählte.111 Sie trafen dort mit dem Physiologen Claude Bernard zusammen. Nicht zuletzt sein Konzept eines ›inneren Milieus‹ – eine nun ›innere Umwelt‹, die mittels ›Regula104 A. Lavoisier, zit. n. G. Canguilhem: Herausbildung des Konzeptes, S. 99. 105 A. L. de Lavoisier, zit. n. ebd. 106 Vgl. HWP, Bd. 8, S. 491. 107 Vgl. G. Canguilhem: Die Herausbildung des Konzeptes, S. 100. 108 Ebd.., S. 103. 109 A. Comte, Système de politique positive, zit. n. ebd. 110 Ebd., S. 103. Im Kontext wird Religion als »sozialer Regler« verstanden, das Gehirn als ›oberste‹ körperliche Instanz übernimmt die ›regelnde‹ Funktion, »das Innere gemäß dem Äußeren zu steuern« (A. Comte, Système de politique positive, zit. n. ebd., S. 103f.). 111 Ebd., S. 101. 165

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tion‹ ›freies Leben‹ auf Individualebene ermöglicht – wendet den Regulationsansatz Comtes buchstäblich ins Körperliche. In experimentalbiologischer Manier kann ›Regulation‹ auf physiologischem Boden zu stehen kommen.112

VI. Schluss Was wir heute unter ›Regelung‹ (›control‹) bzw. ›Regulation‹ verstehen, ist relativ jungen Datums. Erst 1962, in Folge des kybernetischen Einflusses auf die Begriffe, wird die DIN-Norm 19226 zur Regelungs- und Steuertechnik ratifiziert.113 Das Wort ›Kybernetik‹ indes wird im modernen Kontext bereits 1834 von Ampére als »Bezeichnung für die Wissenschaft von den Mitteln der Regierung« genutzt.114 Es sind nicht zuletzt Otto Mayrs wegweisende Texte zur politischen Geschichte der Regelungstechnik, die neue Perspektiven auf die Kybernetik erlauben. Denn Mayr zufolge artikuliert sich in Kybernetik schlicht eine politisch »liberale Einstellung«.115 Kybernetik ist für ihn nicht unabhängig von liberalen Regierungsformen zu denken – ganz entgegen den für die Neuzeit in ihrer sozusagen ›absoluten‹ Metaphorik so charakteristischen Uhrenmaschinen, die für ihn umgekehrt auf autoritäre Regierungsformen verweisen. Eigentümlich, dass solche Perspektiven heute eher selten sind.116 Wie steht es heute um den kybernetischen Diskurs? Selbst im Gefolge der seit einiger Zeit immer weiter ausklingenden Nutzung kybernetischer Kürzel – cyborg, cyberspace etc. – spricht man heute kaum mehr von Kybernetik. Eigentümliches Verschwinden: War sie nur ein Bündel von Hypothesen unter anderen, teilweise wirksam, teilweise überwunden? Oder kann man auch, umgekehrt, von signifikanter Wirkungsmacht – auch und gerade im Bereich Human Enhancement – ausgehen? Von 112 Vgl. Georges Canguilhem: »Theorie und Technik des Experimentierens bei Claude Bernard«, in: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 86f. 113 Vgl. O. Mayr: Frühgeschichte, S. 12ff. 114 G. Canguilhem: Herausbildung des Konzeptes, S. 90; vgl. auch Georg Trogemann et al. (Hg.): Computing in Russia. The History of Computer Devices and Information Technology revealed, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 2001. 115 Vgl. O. Mayr: Authority, Liberty, S. 472; O. Mayr: Frühgeschichte, S. 122 sowie N. Wiener: Kybernetik, S. 62ff. 116 Dies gilt gerade dort, wo mit Konzepten von ›Gouvernementalität‹ gearbeitet wird: Wie unausdrücklich und zugleich absolut kann sich die Autorität solcher Technologien der ›wägenden‹ Mitte, ›Homöostase‹ eigentlich setzen, z. B. gegenüber dem Juridischen? 166

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einer Wirkungsmacht, die den anfangs hypothetischen Charakter kybernetischer Unternehmungen fast vollständig überlagert hat? Von einer Wirkungsmacht, die sich mittels weitgehend widerstandslosen Funktionierens, mittels einer Funktionalisierung von Widerständen äußert?117 Um eine ›Verbesserung‹, ›Erweiterung‹, gar eine ›Perfektionierung‹ bestimmter humaner Phänomene zu erreichen, muss nicht nur eine bestimmte Kulturgeschichte vorausgehen. Um Beschreibungen von Phänomenen als verbesser- und erweiterbar überhaupt vollziehen zu können, müssen jeweils regelgeleitete symbolische Medien entstanden sein, z. B. auch ›technobiopolitisch‹ imprägnierte Sprachen. Diese müssen pragmatisch herangezogen werden können, um in ›verbessernder‹ Absicht Ist-Zustände zu beschreiben. Sind die heute zumeist noch immer mit kybernetischem Zungenschlag daherkommenden Konzepte von Regulation – wie ihre ›homöostatischen‹ Zwecke – nicht zumindest einige Elemente einer solchen Sprache; einer Sprache, die manches Dispositiv heute noch immer artikuliert? Wie aber könnte man dies sprachlich sichtbar machen und es im gleichen Zug kritisch und zugleich positiv ›wenden‹? Oder behutsam wendbar machen? All diese Fragen laufen teils wieder auf grundsätzlichere Probleme hinaus: Was wird in heutigen Debatten, also auf ›beiden Seiten‹ des Felds, in ›Regulations‹-Kontexten jeweils genau zu verstehen gegeben? Was gilt hier jeweils als ›Reguliertes‹, was als etwas ›Regulierbares›, was als ›Regel› und was als ›Regulator‹? Und zu jeweils welchem Zweck, mit welchem Effekt wird jeweils wie vorgegangen? Dies sind einige – und bleiben auch in Zukunft, jedenfalls in Grenzen – offene Fragen.

Literatur Ashby, William Ross: »Homeostasis«, in: Claus Pias (Hg.): Cybernetics / Kybernetik. The Macy-Conferences 1946-1953. Volume I / Band 1: Transactions / Protokolle, Zürich-Berlin: Diaphanes 2003. S. 593-619. Bernard, Claude: »Über den Einfluß von zwei Arten von Nerven, welche die Farbänderungen des venösen Blutes in den Drüsenorganen hervorrufen«, in: ders.: Ausgewaehlte physiologische Schriften. Bern/Stuttgart: Hans Huber 1966. S. 51-66. 117 Hiermit soll keine Hinterwelt eröffnet werden. Wenn man etwas von Heidegger lernen kann, dann ist es manche Einsicht in den Augenblick, wenn etwas – und sei es ein Medium – ›aufsässig‹ wird. Zur jüngsten, immer umfänglicher werdenden Diskussion im Kontext Kybernetik sei neben dem Autorenkollektiv tiqqun insbesondere auf die vielfältigen und grundlegenden Arbeiten von Claus Pias und Joseph Vogl verwiesen. 167

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: »Physiologische Untersuchungen über einige amerikanische Gifte: das Curare«, in: ders.: Ausgewaehlte physiologische Schriften. Bern/Stuttgart: Hans Huber 1966, S. 83-133. Canguilhem, Georges: »Theorie und Technik des Experimentierens«, in: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 7588. : »Zur Geschichte der Wissenschaften vom Leben seit Darwin«, in: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 134-153. : »Die Herausbildung des Konzeptes der biologischen Regulation im 18. und 19. Jahrhundert«, in: Wolf Lepenies (Hg.): Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 89-110. Cannon, Walter B.: »Organisation for physiological homeostasis«, in: Physiological Reviews 9/3 (1929), S. 399-431. : The Wisdom of the Body [1932], New York: The Norton Library, 19673. Dupuy, Jean-Pierre: The Mechanization of the Mind. On the origins of cognitive science. New french thought, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2000. Foerster, Heinz von: »Some Remarks on Changing Populations«, in: Frederick Stohlman Jr. (Ed.): The Kinetics of Cellular Proliferation, New York: Grune and Stratton 1959, S. 382-407. : »Doomsday«, in: Science 133 (1961), S. 936-946. : »Population Density and Growth«, in: Science 133 (1961), S. 936-946. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. Gehring, Petra: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt/Main: Campus-Verlag 2006. Haraway, Donna J.: The Companion Species Manifesto. Dogs, people, and significant otherness. Chicago: Prickly paradigm press 2003. Hayles, Katherine N.: How we became posthuman: virtual bodies in cybernetics, literature, and informatics. Chicago/London: The University of Chicago Press 1999. Heims, Steve Joshua: The Cybernetics Group, Cambridge/London: MIT Press 1991. : John von Neumann und Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Life and Death, Cambridge/London: MIT Press, 19813. Kay, Lily E.: Who wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code. Stanford: Stanford University Press 2000. Mayr, Otto: Zur Frühgeschichte der technischen Regelungen. München/Wien: R. Oldenbourg Verlag 1968. : Authority, Liberty and Automatic Machinery in Early Modern Europe, Baltimore/London: John Hopkins University Press 1986.

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Naturw issenschaftliche Weltdeutung und te c hnologisc he We ltgesta ltung im Blick a uf die Konstitution der Biotechnologie – Exemplarische Anal ysen und Folgerunge n für die Ge ge nw a rt ANDREAS WOYKE Abstract: Die Debatten über Human Enhancement sind durch eine enge Verkopplung zwischen naturwissenschaftlicher Weltdeutung und technologischer Weltgestaltung bestimmt. Ist dieser Zusammenhang im größeren Kontext eher implizit wirksam, so wird er im Rahmen des so genannten »Transhumanismus« explizit betont. Die Entwicklung der Biotechnologie seit dem 19. Jahrhundert ist sowohl vor dem Hintergrund einer naturalistischen Weltdeutung zu sehen als auch mit einer zunehmenden Technisierung der Natur verbunden. Die nähere Beleuchtung dieser Zusammenhänge kann zur Einsicht führen, dass sich aus einem universellen Naturalismus durchaus recht unterschiedliche Bewertungen einer forcierten technologischen Weltgestaltung ableiten lassen. Im Folgenden geht es vor allem darum, die Divergenz im Verständnis von »Natur« und »Technik« etwa von 1880 bis 1940 zu verdeutlichen und so zur Relativierung einer »Technisierung der Natur« wie einer »Naturalisierung der Technik« beizutragen. Im Blick auf die Gegenwart möchte ich für ein affirmatives Verständnis des natürlich Gegebenen und kulturell Gewachsenen plädieren und so auf die Problematik einer grundlegenden technologischen Perfektionierung des Menschen hinweisen.

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I. Einleitende Betrachtungen Angeregt durch US-amerikanische Debatten1 gibt es mittlerweile auch in Deutschland einen breit angelegten gesellschaftlichen Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen von Human Enhancement. Gestützt wird er durch den allgemeinen Trend zur Selbstverbesserung in einer leistungsorientierten Gesellschaft, durch konkrete Interessen in der Forschung, durch neue technologische Visionen und durch liberalistische und utilitaristische Ideen.2 Die besondere Stellung einer naturwissenschaftlich orientierten Weltdeutung zeigt sich heutzutage vor allem in ihren praktischen Konsequenzen und wird insofern eng mit einer forcierten technologischen Weltgestaltung verknüpft, welche sich zunehmend auch auf die basalen Ebenen der Natur und die Funktionsprinzipien des Lebendigen einschließlich des Menschen richtet. Ist dieser Zusammenhang im größeren soziokulturellen Kontext eher implizit wirksam, so wird er von Anhängern des so genannten »Transhumanismus« und anderen Technovisionären explizit betont, wobei sie u. a. auch auf Argumentationsmuster von Julian Huxley zurückgreifen. Huxley betont nicht nur eindringlich die Bedeutung einer universellen Weltsicht auf evolutionistischer Grundlage, mit der die Kluft zwischen den »zwei Kulturen« überbrückt werden soll,3 er verbindet diese Art der Weltdeutung auch mit der Hoffnung auf eine Einlösung (scheinbar) alter Menschheitsträume nach Selbststeigerung und einem gezielten Design des eigenen Lebens durch die Gestaltungsoptionen der Biotechnologie.4 Auch bei Eric Drexler 1

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3

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Vgl. Mihail C. Roco/William S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Technology, NSF/DOC-sponsored Report, Arlington 2002. Vgl. Bernward Gesang: Perfektionierung des Menschen, Berlin/New York: de Gruyter 2007; Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 169ff. Vgl. Julian Sorel Huxley: Man’s Place and Role in Nature, in: ders., New Bottles for New Wine. Essays by Julian Huxley, London: Chatto & Windus 1957, S. 41-60. »Most of us would like to live longer; to have healthier and happier lives; to be able to control the sex of our children when they are conceived, and afterwards to mould their bodies, intellects and temperaments into the best possible forms; to reduce unnecessary pain to a minimum; to be able at will to whip up our energies to their fullest pitch without later ill effects.« (J. S. Huxley: What Dare I Think? The Challenge of Modern Science to Human Action and Belief, London: Chatto & Windus 1931, S. 5). Nach Huxleys Ansicht hat die Wissenschaft »zwei psychosoziale Aufgaben, die in Wechselbeziehung zueinander stehen: Sie erhöht das geistige Fassungsvermögen und verleiht zugleich größere Macht. Sie erweitert die Welterkenntnis des Menschen [...] und sie mehrt seine Fähigkeit, verschiedene

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können wir eine ähnliche Verknüpfung zwischen Weltdeutung und Weltgestaltung feststellen: Er betont nicht nur den Vorbildcharakter biologischer Systeme für die Generierung einer künftigen Assembler-Technologie und die Relevanz der Erkenntnisfortschritte in Molekularbiologie und Biochemie, er verweist auch eindringlich auf die große Bedeutung eines verallgemeinerten Evolutionsverständnisses. Entscheidend für ihn ist allerdings nicht ein neues theoretisches Verständnis der Welt, sondern vielmehr die Ausnutzung der Reichweite naturwissenschaftlicher Erklärungen für eine grundlegende technologische Umgestaltung der Welt und der menschlichen Konstitution: »The principles of molecular machinery are already clear, and with them the consequences of cell repair machines. […] The ancient dream of achieving health and long life has become a goal one can plan for.«5

Der US-amerikanische Bio- und Medizinethiker George Khushf erkennt in der Nanotechnologie und anderen aktuellen Forschungsfeldern den Ausgangspunkt für eine große Konvergenz zwischen theoretischer und angewandter Forschung, die auch die Geistes- und Sozialwissenschaften einbeziehen und insofern Anlass für ein völlig neues Weltverständnis geben soll, innerhalb dessen Interpretation und Intervention unmittelbar miteinander vernetzt sind.6 Technologische Verbesserungen menschlicher Fähigkeiten und Eigenschaften, die über einfache Kapazitätssteigerungen durch den Einsatz von smart drugs, Dopingmitteln oder kosmetischen Operationen hinausgehen, gliedert Khushf explizit in diese große Konvergenz ein.7 Hier wird also in durchaus emphatischer Weise versucht, eine Brücke zu knüpfen zwischen einer neuen Art eines verein-

5 6

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Aspekte und Vorgänge der Welt zu beherrschen und zu lenken.« (J. S. Huxley: »Die Grundgedanken des evolutionären Humanismus«, in: ders. (Hg.): Der evolutionäre Humanismus. Zehn Essays über die Leitgedanken und Probleme, übers. von Margret Auer, München: C. H. Beck 1964, 1369, hier: S. 49). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Reinhard Heil in diesem Band. K. Eric Drexler: Engines of Creation. The Coming Era of Nanotechnology, New York: Anchor Books 1986, S. 116. George Khushf: »A Hierarchical Architecture for Nano-scale Science and Technology: Taking Stock of the Claims about Science made by Advocates of NBIC Convergence«, in: Davis Baird/Alfred Nordmann/Joachim Schummer (Hg.): Discovering the Nanoscale, Amsterdam: Kluwer 2004, S. 21-33. Khushf spricht dezidiert von stage-one und stage-two enhancements (G. Khushf: »Stage Two Enhancements«, in: Fabrice Jotterand (Hg.): Emerging Conceptual, Ethical and Policy Issues in Bionanotechnology, New York: Springer 2008, 203-218. 173

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heitlichenden Weltverständnisses jenseits der Differenz zwischen theoretischen und praktischen Perspektiven und einer affirmativen Bewertung einer grundlegenden Transformation der menschlichen Konstitution. Es scheint also nicht nur so zu sein, dass wir eine umfassend naturalistische Deutung der Welt einschließlich sich der daraus ergebenden Folgerungen für unser Weltbild und Selbstverständnis anerkennen müssen, sie führt gegenwärtig auch zur Forcierung einer technologischen Umgestaltung der Welt, die auch uns selbst zunehmend erfassen wird und der gegenüber es keine grundsätzliche Alternative gibt: »Whether we like it or not, Humanity 2.0 has entered the stage of beta testing, and we all have a stake in the new product.«8

Dieser Alternativlosigkeit soll im Folgenden durch eine Problematisierung des engen Verhältnisses zwischen naturwissenschaftlicher Weltdeutung und technologischer Weltgestaltung im Blick auf die vielschichtige Konstitution der Biotechnologie widersprochen werden. Hauptzielpunkt ist es, auf die Divergenz wichtiger Diskurse etwa im Zeitraum 1880 bis 1940 hinsichtlich des Verständnisses von »Natur« und »Technik« aufmerksam zu machen und daraus eine Relativierung der gleichermaßen problematischen Tendenzen einer »technisierten Natur« und einer »naturalisierten Technik« abzuleiten. Im Fokus auf die Gegenwart soll es abschließend darum gehen, durch eine Verknüpfung naturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektiven für ein affirmatives Verständnis des natürlich Gegebenen und des kulturell Gewachsenen zu plädieren und i. d. S. auch aktuelle Ansätze einer grundlegenden technologischen Perfektionierung des Menschen in ihrer Fragwürdigkeit deutlich zu machen.

II. Beziehungen zwischen »Natur« u n d » Te c h n i k « i n d e n An f ä n g e n d e r »Biotechnologie« Heute verwenden wir die Bezeichnung »Biotechnologie« für all jene industriellen Verfahren, bei denen es um die Herstellung oder gezielte Veränderung organischer Stoffe durch den Einsatz lebendiger Organismen oder organismischer Bestandteile geht. Ist die sogenannte »moderne Biotechnologie« vor allem durch die Entwicklung der Genetik und der Molekularbiologie im 20. Jahrhundert bestimmt, so sind die Konstituti-

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Ebd., S. 216.

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on und Explikation des Begriffs »Biotechnologie« sowohl mit größeren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen als auch mit gesellschaftsutopischen und philosophischen Aspekten vernetzt. Anhand einer exemplarischen Skizze dieser Entwicklungszusammenhänge soll es im Folgenden darum gehen, sowohl auf wichtige Anfänge einer Instrumentalisierung des Lebens aufmerksam zu machen als auch die Vielschichtigkeit und Divergenz der verschiedenen Positionen zu verdeutlichen. Bereits Georg Ernst Stahl (1659-1734) setzt sich in seiner Schrift Zymotechnia fundamentalis aus dem Jahre 1697 mit den Grundlagen einer allgemeinen Fermentationslehre auseinander und knüpft dabei einen engen Zusammenhang zwischen dem wissenschaftlichen Verständnis von Gärungsprozessen und der Ausnutzung ihrer praktischen und ökonomischen Potentiale.9 Stahl und seine Anhänger setzen sich zwar vehement von den Versprechungen der zeitgenössischen Alchemisten ab, Gold herstellen zu können oder durch die Synthese des lapis philosophorum ein universelles Heilmittel zur Verfügung zu stellen, aber sie betonen auch die mit der Chemie verknüpften wirtschaftlichen und medizinischen Chancen. In Mary Shelleys Novelle Frankenstein or the Modern Prometheus aus dem Jahre 1818 wirkt diese Auseinandersetzung fort, wenn den »alten Meistern«, die Unmögliches versprachen und nichts erreichten, die »neuen Meister« gegenübergestellt werden, die sehr wenig versprechen, aber Wunder vollbringen.10 Geht Stahl noch von einer spezifischen vis vitalis aus, die nur in lebendigen Organismen wirksam und für deren besondere physische Funktionen verantwortlich ist, so kann Friedrich Wöhler (1800-1882) durch seine Synthese von Harnstoff im Jahre 1828 zeigen, dass sich Stoffe organischen Ursprungs auch auf experimentellem Wege herstellen lassen. Die scharfe Unterscheidung zwischen Stoffen biologischer und 9

Georg Ernst Stahl: Zymotechnia fundamentalis seu fermentationis theoria generalis, Leipzig 1697. Als Vitalist versteht Stahl Gärungsprozesse allerdings nicht als biologische, sondern als chemische Prozesse: »There was a difference between processes that seemed to reflect a ›vital‹ power of organization […] and processes that arose spontaneously from the laws of chemistry: putrefaction, corruption, degradation, decay.« (Bernadette Bensaude-Vincent/Isabelle Stengers: A History of Chemistry, transl. by Deborah van Dam, Cambridge MA/London: Harvard University Press 1996, S. 213f.). 10 »›The ancient teachers of science‹ […] promised impossibilities, and performed nothing. The modern masters promise very little; they know that metals cannot be transmuted, and that the elixir of life is a chimera. But these philosophers […] have indeed performed miracles.« (Mary Shelley: Frankenstein or the Modern Prometheus [1818], ed. with an Introduction and Notes by Marilyn Butler, Oxford: Oxford University Press 1998, S. 61). 175

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chemischer Herkunft wird im Blick auf die Synthese eines Stoffes, der bisher nur aus Schlangenharn gewonnen werden konnte, sukzessive hinfällig11 und die sich rasant entwickelnde Organische Chemie übernimmt in Folge die Schlüsselrolle bei der Vermittlung zwischen dem Verständnis organismischer Prozesse und ihrer technologischen Nutzung. Aus einer Verknüpfung von Organischer Chemie, Biochemie, Mikrobiologie und Verfahrenstechnik entsteht jenes Anwendungsfeld, das als Vorläufer der klassischen Biotechnologie gelten kann und nach Stahl als »Zymotechnologie« bezeichnet wird.12 Der dänische Unternehmer Alfred Jørgensen (1848-1925) und der deutsch-amerikanische Chemiker John Ewald Siebel (1845-1919) gründen um die Jahrhundertwende zymotechnologische Institute, die wesentlichen Einfluss insbesondere auf die wissenschaftliche Fundierung des Brauereiwesens ausüben. Die über den Bereich der Hygiene und die Herstellung von Trinkalkohol hinausgehenden großen Erfolge beim Einsatz mikrobiologischer Verfahren lassen sie als grundlegende Alternative gegenüber der Chemischen Technologie erscheinen und prägen die Konstitution der Biotechnologie als eigenständiges Technologiefeld mit breitem Anwendungsspektrum. Die Bezeichnung »Biotechnologie« selbst geht auf den ungarischen Agraringenieur Karl Ereky (1878-1952) zurück, der eine grundlegende Umstrukturierung und Industrialisierung der Landwirtschaft seines Heimatlandes anstrebte.13 1917 entstand nach seinen Plänen eine riesige Kombination von Mast- und Schlachtbetrieb, in dem 50000 Schweine gehalten und täglich Tausende von Schweinen geschlachtet und verarbeitet werden konnten. Das Biotechnologische solcher Anlagen besteht für Ereky nicht in ihrer Dimension, im Einsatz automatisierter Fütterungstechniken oder ähnlicher Dinge, sondern darin, dass die Tiere ausschließlich als »biotechnologische Arbeitsmaschinen« begriffen werden, die eine bestimmte Menge eingesetztes Futter in eine bestimmte Menge verwert- und vermarktbares Fleisch überführen. Er setzt also im starken 11 F. Wöhlers Harnstoff-Synthese und die Synthese anderer Naturstoffe führen keineswegs zu einem abrupten Ende des Vitalismus, was etwa daran deutlich wird, dass prominente Chemiker wie J.J. Berzelius und J. von Liebig an der besonderen Syntheseleistung von Organismen festhalten (vgl. John Hedley Brooke: »Overtaking Nature? The Changing Scope of Organic Chemistry in the Nineteenth Century«, in: Bernadette BensaudeVincent/William R. Newman (Hg.): The Artificial and the Natural. An Evolving Polarity, Cambridge MA/London: The MIT Press 2007, S. 275292, hier: S. 281ff.). 12 Vgl. Robert Bud: Wie wir das Leben nutzbar machten. Ursprung und Entwicklung der Biotechnologie, übers. von Heike Mönkemann, Braunschweig: Vieweg 1995, S. 8ff. 13 Vgl. M.G. Fári/U.P. Kralovánszky: The founding father of biotechnology: Károly (Karl) Ereky, 2006. 176

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Maße auf eine umfassende Technisierung der Natur zum Zwecke einer grundlegenden Verbesserung landwirtschaftlicher Produktionsbedingungen und einer Steigerung der Qualität landwirtschaftlicher Produkte. Gegenüber dieser sehr knappen Skizze wissenschafts- und technikgeschichtlicher Zusammenhänge ist die Entwicklung der Biotechnologie aber auch mit größeren gesellschaftsutopischen und philosophischen Ideen und Vorstellungen vernetzt, die nun etwas ausführlicher betrachtet werden sollen. Angesichts der Vorherrschaft des mechanistischen Denkens und des Voranschreitens der Maschinisierung und Automatisierung der Lebens- und Arbeitswelt erkennt man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in einem weitläufigeren Konzept von Biotechnologie die Chance, das Interesse an einer florierenden industriellen Produktion mit dem Streben nach einer intakten und sauberen Umwelt und einer besonderen Auszeichnung des Lebendigen zu verbinden. Da auch Maschinen als Systeme interpretiert werden können, die emergent gegenüber den sie konstituierenden Teilen sind, stößt man sowohl auf Konzeptualisierungen des Lebendigen i. S. von »chemischen Maschinen« als auch auf solche, die ihm besondere Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Entwicklung zuschreiben, die auf technologischem Wege nicht zugänglich sind. Auf dem Zoologischen Weltkongress 1901 in Berlin werden verschiedene Ansätze zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Biologie und Technik in den wissenschaftlichen Diskurs der Zeit eingebracht. Der deutsche Biologe Gustav Tornier (1859-1938) plädiert für die Übertragung eines allgemeinen Begriffs von Technologie auf den Bereich der Lebewesen, die er als »Bionten« bezeichnet. Sowohl ihre gezielte Veränderung als auch ihr Einsatz im Rahmen technologischer Anwendungen können insofern als »Biontotechnik« begriffen werden.14 Erscheint uns Torniers Terminologie zunächst als Antizipation einer starken Technisierung des Lebendigen, so sollten wir bedenken, dass er letztlich nur Analogien zwischen technischen und biologischen Strukturen und Funktionen expliziert, die schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts Gegenstand der Forschung sind. Sollten wir uns heute gegenüber dem Gebrauch des Maschinenbegriffs im Blick auf zelluläre Organellen, molekulare Einheiten u. ä. nicht nur deshalb kritisch positionieren, weil hier fragwürdige Übertragungen aus dem technischen Bereich stattfinden, sondern vor allem deshalb, weil die Divergenz zwischen maschinentechnischen und biologischen Struktur- und Funktionsprinzipien mittlerweile naturwissenschaftlich eindringlich belegt wird, so erscheint es angesichts des Forschungsstandes zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus plausibel, Organe und andere größere biologische Bauteile wie Knochen, Gelenke 14 Vgl. R. Bud: Wie wir das Leben nutzbar machten, S. 68ff. 177

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und Blutgefäße als verfeinerte Maschinen zu betrachten. Ernst Kapp (1808-1896) verarbeitet diese Analogie in seiner Technikphilosophie durch den Begriff der »Organprojektion«, wonach der Gebrauch von Werkzeugen durch den Menschen als eine Art imitierender Erweiterung der natürlichen Ausstattung anzusehen ist.15 Auch die Entwicklung eines Organismus aus einer befruchteten Eizelle kann mit dem Verlauf maschineller Prozesse parallelisiert werden, da sie sich leicht durch die Entnahme einzelner Zellen manipulieren lässt. Der Biologe Wilhelm Roux (1850-1924) spricht explizit von einer »Entwicklungsmechanik der Organismen«.16 Julien-Joseph Virey (1775-1844) bindet den Technikgebrauch des Menschen ausdrücklich in den Zusammenhang evolutionärer Erklärungsmuster ein, indem er ihn als Kompensation der Instinktarmut des Menschen charakterisiert.17 Durch den von ihm geprägten Begriff der biotechnie ordnet er noch vor Kapp die Herstellung von Werkzeugen in den Horizont biologischer Erklärungen ein und macht damit die gesamte Technologie zu einem Teilbereich der Biologie. Vireys Ideen geraten zwar schnell in Vergessenheit, aber durch das Denken seines Landsmanns Henri Bergson (1859-1941) erfahren sie eine wirkmächtige Restitution und philosophische Erweiterung. Bergson bemüht sich einerseits um die Anerkennung einer evolutionären Entwicklung des Lebendigen, andererseits betont er aber auch, dass sie sich nicht auf kausalmechanische Gesetzmäßigkeiten reduzieren lässt.18 Jenseits des Widerstreits von Mechanizismus und Teleologie19 15 Ernst Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten [1877], Düsseldorf: Stern-Verlag 1978, S. 29ff. 16 Vgl. August Pauly: Darwinismus und Lamarckismus. Entwurf einer psychophysischen Teleologie, München: Ernst Reinhardt Verlagsbuchhandlung 1905, S. 69ff. Donna Haraway charakterisiert Rouxs Forschungsprogramm wie folgt: »Setting up a program and a method for the experimental analysis of development within a mechanistic world, he was to see himself as the Descartes of embryology.« (Donna Jeanne Haraway: Crystals, Fabrics, and Fields. Metaphors that shape Embryos, New Haven: North Atlantic Books 2004, S. 18). 17 Vgl. R. Bud: Wie wir das Leben nutzbar machten, S. 70f. Die Charakterisierung des Menschen als »Mängelwesen« durch Herder ist in den Kontext der vielschichtigen Diskussionen zur Theodizee-Frage im 18. Jahrhundert einzuordnen. Herder betont allerdings nicht wirklich die menschlichen Mängel, sondern argumentiert explizit kompensationstheoretisch, wenn er dem Menschen zwar die Instinktsicherheit und Stärke der Tiere abspricht, in dieser Defizienz aber den Ausgangspunkt für die Generierung von Sprache und Kultur erkennt (vgl. Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Stuttgart: Reclam 2008, S. 20ff.). 18 Bergson betont explizit, dass die wissenschaftliche Erforschung des Lebendigen notwendig zu einer Parallelisierung des Organismus mit einer 178

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versucht er die Evolution durch einen besonderen schöpferischen Impuls – den sogenannten élan vital – zu bestimmen.20 Im Unterschied zur Annahme einer Kontinuität innerhalb der Entwicklung des Lebens in der naturphilosophischen Tradition und der Biologie geht Bergson von einer Aufspaltung in mehrere Entwicklungszweige aus, die sich durch ein unterschiedliches Verhältnis zum »Geist« auszeichnen:21 Versickert er bei den Pflanzen in Dumpfheit, so kann er sich bei den Tieren in der Richtung des Instinkts und in der Richtung des Intellekts entfalten. Findet sich die höchste Stufe des Instinkts bei den Insekten, so äußert sich im Menschen die höchste Stufe des Intellekts. Instinkt und Intellekt zeichnet Bergson nun gerade hinsichtlich ihrer Beziehung zum Gebrauch einer im weitläufigen Sinne begriffenen Technik aus. Ist der Instinkt die unbewusste Fähigkeit zum Gebrauch der natürlich in Form der Körperausstattung vorhandenen »Werkzeuge«, so ist der Intellekt die bewusste Fähigkeit zur Herstellung und Verwendung neu generierter »Werkzeuge«.22 Der Mensch zeigt sich insofern in besonderem Maße als Homo faber, der nicht nur eine bis ins Unendliche reichende Zahl immer besserer technischer Geräte zu verfertigen vermag, sondern auch zum Schöpfer und Gestalter seines eigenen Lebens wird.23 Bergson hält zwar an der

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Maschine führen muss. Der wesentliche Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Philosophie besteht für ihn gerade darin, dass die Wissenschaften uns nicht den Grund der Dinge offenbaren, sondern vielmehr Wege zur praktischen Einwirkung auf die physische Welt einschließlich der Organismen erschließen (Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung [1907], übers. von Gertrud Kantorowicz, Zürich: Coron Verlag undatiert, S. 125ff.). »Dies die Philosophie des Lebens, der wir uns zubewegen. Sie erhebt den Anspruch, Finalismus und Mechanismus gleichermaßen hinter sich zu lassen, wobei sie indes […] diesem letzteren nähersteht als jenem.« (ebd., S. 89). »Die Lebensschwungkraft, von der wir sprechen, ist im Grunde ein Verlangen nach Schöpfung. Sie kann nicht absolut schöpferisch sein, weil sie die Materie, das heißt die Umkehrung ihrer eigenen Bewegung, vorfindet.« (ebd., S. 257; Hervorh. i. Orig.). Ein wesentlicher Mangel dieses Konzepts ist darin zu sehen, dass Bergson keinerlei nähere Bestimmung des élan vital liefert. Bei K.R. Popper heißt es hierzu: »[S]sein élan vital ist einfach ein Name, den er allem gab, was jene scheinbar zielgerichteten Veränderungen hervorrufen oder steuern könnte.« (Karl Raimund Popper: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg: Hoffmann und Campe 19742, S. 297; Hervorh. i. Orig.). Vgl. H. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 147ff. Ebd., S. 161ff. »Als Schöpfer unseres Lebens [...] arbeiten wir ununterbrochen daran, aus dem Stoff, den uns die Vergangenheit und Gegenwart, Vererbung und Umstände liefern, eine einzigartige, neue, originelle, unvorhersehbare Form zu kneten, wie diejenige, die der Bildhauer dem Ton verleiht.« (H. 179

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besonderen Auszeichnung der Syntheseleistungen des Lebendigen fest, er betont aber doch eindringlich den positiven Wert der technologischen Entwicklung und bringt deren Stand in einen engen Zusammenhang mit dem jeweiligen Zustand des menschlichen Bewusstseins: »Neue Ideen stehen auf. Neue Empfindungen wollen ans Licht. In Tausenden von Jahren […] werden unsere Kriege und unsere Revolutionen [...] kaum mitgezählt werden; von der Dampfmaschine aber und all den Erfindungen, die ihr Gefolge bilden, wird man vielleicht so sprechen wie wir Heutigen von Bronze und behauenem Stein; sie wird ein Zeitalter bestimmen.« 24

Bergsons Akzentuierung der historischen Bedeutung technischer Entwicklungen stützt insofern eine Verallgemeinerung des insbesondere mit der Dampfmaschinentechnologie verknüpften Begriffs der »industriellen Revolution«, hinsichtlich derer auch spätere Etappen der Technikgeschichte wie die Entwicklung der Elektrotechnologie, der Biotechnologie und der Informations- und Kommunikationstechnologien mit revolutionären Umbrüchen verknüpft werden können. Der Konstitution und Entfaltung der Biotechnologie kann für Bergson sogar eine besondere Stellung zukommen, weil sie einerseits durch ihren Rückgriff auf organismische Leistungen dem angenommenen Sonderstatus des Lebendigen gerecht wird, andererseits aber auch eine neue Stufe menschlicher Kreativität repräsentiert.25 Dass die noch in den Anfängen steckende und wissenschaftlich unterbestimmte klassische Biotechnologie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit solchen visionären Perspektiven verknüpft wird, ist auch im Zusammenhang der vielfältigen Diskussionen über die evolutionstheoretischen Ansätze von Darwin, Lamarck und anderen zu sehen. Lamarcks Vorstellung einer progressiven Vererbung erworbener EigenBergson: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge [1946], übers. von Leonore Kottje, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 113). 24 H. Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 162. 25 Bergson erkennt durchaus an, dass der Mensch im Verständnis und im technologischen Gebrauch der belebten Natur große Fortschritte erzielt hat: »Übrigens lässt sich die Nachahmung des Lebendigen durch Anorganisches ziemlich weit treiben. Nicht nur vollzieht die Chemie organische Synthesen, es gelingt auch, gewisse Vorgänge des organischen Geschehens, wie die indirekte Zellteilung und die Protoplasma-Strömung, ihrem äußeren Umriss nach künstlich wiederzugeben.« (ebd., S. 75). Wenn der Mensch in einem basalen Sinne wirklich Homo faber ist, dann liegt es letztlich auch nahe, dass er nicht an irgendwelchen ontologischen Grenzen Halt macht, sondern seine Fähigkeiten der technischen Generierung und Umgestaltung auch im Bereich des Lebendigen anzuwenden versucht. 180

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schaften von Generation zu Generation erscheint u. a. deshalb als attraktiv, weil sie sich mit einem technizistischen Verständnis des Lebendigen verbinden lässt: Wenn Organismen eine besondere Art von komplizierten Maschinen sind, dann kann man ihnen i. S. Lamarcks nämlich ein Potential zur beständigen Selbstverbesserung zuerkennen,26 welches zum Vorbild technologischer Anwendungen werden könnte. Das Verständnis der evolutionären Entwicklung des Lebens wird in diesem Kontext noch stark durch teleologische Motive bestimmt, was im Einklang mit der Naturphilosophie des Deutschen Idealismus, der Lebensphilosophie Bergsons und einem theistischen Evolutionismus i. S. von Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) zum Konzept der »Orthogenese« führt.27 Evolutionäre Prozesse sind in dieser Sicht nicht – wie bei Darwin – im starken Maße durch den Zufall bestimmt, sie weisen eine zweckhafte Ordnung auf und können insofern eine enge Parallelisierung zwischen biologischer und technologischer Evolution unterstützen. Der Zoologe August Pauly (1850-1914) entwirft eine psychophysische Teleologie, mit der er u. a. großen Einfluss auf die zeitgenössische Embryologie ausübt. Ähnlich wie Bergson geht auch Pauly davon aus, dass sich die Entwicklung des Lebens nicht zureichend durch kausalmechanische Gesetzmäßigkeiten und Zufallsprinzipien erklären lässt,28 sondern nur durch die Annahme eines zusätzlichen psychisch-schöpferischen Prinzips möglich ist; durch die Verknüpfung dieses Prinzips mit einem erweiterten Energiebegriff bemüht er sich darum, die Legitimität teleologischer Überlegungen naturwissenschaftlich zu stützen.29 Der mit ihm befreundete österreichische Biologe Raoul Heinrich Francé (1874-1943) 26 »Der häufige, durch die Gewohnheiten konstant gewordene Gebrauch eines Organs vermehrt dessen Fähigkeiten, entwickelt es und lässt es Dimensionen und eine Tatkräftigkeit erlangen, welche es bei den Tieren, die es weniger üben, nicht hat.« (Jean Lamarck: Zoologische Philosophie [1809], übers. von Heinrich Schmidt, Leipzig: Alfred Kröner Verlag 1909, S. 78f.). 27 Vgl. Berhard Bavink: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Zürich: S. Hirzel Verlag 19489, S. 532ff. 28 »Ihm, dem Zufall, den Aufbau von Körpern zuzuschreiben, die aus einem verwickelten System von Teilen bestehen, […] geht wider jene Denknotwendigkeit.« (A. Pauly: Darwinismus, S. 41). 29 »Es ist keine unerlaubte Ausschweifung in Metaphysik, sondern eine vollkommen korrekte, und jeden Augenblick an sich selbst und andern zu erprobende, rein erfahrungsmäßige Kausalverknüpfung, wenn Psyche zur Ursache physischer Vorgänge gemacht wird; […] es deutet vielmehr alles […] darauf hin, dass alle seelischen Vorgänge und alle Vermögen, in die wir diese Vorgänge zerlegen, energetischer Art sind […] und dass wir demnach, wenn wir Physisches aus Psychischem erklären wollen, nur in Wahrheit Physisches aus Physischem erklären […].« (ebd., S. 160). 181

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unterstützt ihn in dieser Auffassung und prägt ein Konzept von Biotechnologie, das sich ähnlich wie die monistischen Weltdeutungen Wilhelm Ostwalds (1853-1932) und Ernst Haeckels (1834-1919) explizit auf die Naturwissenschaften beruft, aber gänzlich jenseits einer forcierten technologischen Weltgestaltung anzusiedeln ist. Francé und Rudolf Goldscheid (1870-1931) prägen unabhängig voneinander in den 1920er Jahren den Begriff der »Biotechnik«. Goldscheid zählt zu den Initiatoren der Deutschen Soziologischen Gesellschaft und zeigt als Sozialist ein starkes praktisches Interesse an einer Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen. In seinem unfangreichen Werk Höherentwicklung und Menschenökonomie kritisiert er scharf sowohl die Anwendung von Darwins Prinzip survival of the fittest30 auf den Menschen als auch die von August Weismann (18341914) vertretene Keimbahntheorie, nach der der Mensch von seinen Eltern ein unveränderliches Keimzellplasma erwirbt.31 Im Unterschied hierzu verbindet Goldscheid evolutionäre und gesellschaftsutopische Perspektiven und geht davon aus, »dass verbesserte Lebensbedingungen auch zu einer Verbesserung des Erbguts führen würden«.32 Insofern findet sich bei ihm auch eine Verknüpfung zwischen der Biotechnik und einem Konzept von Sozialbiologie, das sich in eine Tradition von Sozialmedizin einordnen lässt, wie sie gerade im österreichisch-ungarischen Raum bereits seit dem 18. Jahrhundert praktiziert wird. Die Biotechnik sollte nach Goldscheid gerade Lösungen für jene Probleme erschließen, für die es von der etablierten Sozialmedizin keine Lösungsansätze gab, also insbesondere für Fragen der Auswahl, Veränderung und Übertragung von Merkmalen innerhalb der menschlichen Reproduktion.33 Einen wichtigen Zielpunkt hierbei sah er darin, sich von den vorherrschenden »Verfahren der Massenproduktion« zu trennen, die mit negativen Effekten wie Alkoholismus, Prostitution und schlechten Lebensbedingungen für einen Großteil der Menschen verbunden sind, und sich stärker »Verfahren der Qualitätsproduktion« zuzuwenden. So ähnlich wie die immer stärkere Einbeziehung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Prozesse der industriellen Fertigung zu einer beständigen Steigerung der Qualität der Produkte zu führen vermag, so soll die Biotechnik zu einer sukzessi30 Rudolf Goldscheid: Höherentwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung der Sozialbiologie, Leipzig: Verlag von Dr. Werner Klinkhardt 1911, S. 69ff. 31 Ebd., S. 225ff. 32 R. Bud, Wie wir das Leben nutzbar machten, S. 75. 33 R. Goldscheid: Höherentwicklung, S. 353ff. »Nicht die Quantität entscheidet somit von Anbeginn an über die Qualität, sondern die innere Qualität ist ein Produkt der äußeren Qualitäten, die organische Qualität ein Ergebnis der anorganischen Qualität.« (ebd., S. 383). 182

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ven Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse führen. Goldscheid verweist darauf, dass eine solche Parallelisierung zwischen technischer und menschlicher Sphäre nicht als eine Nivellierung der Eigengeltung menschlicher und sozialer Kategorien begriffen werden muss, wenn man Maschinen als organische Einheiten versteht und sich eher an einer organismischen als an einer mechanizistischen Metaphorik orientiert. Die Biotechnik wäre dann gerade eine Technik, mit der die Einseitigkeiten etablierter Technologien überwunden und die Forderungen nach einer menschen- und umweltfreundlicheren Technologie verwirklicht werden könnten. Im Blick auf die Ausschärfung eines klareren Begriffs von Biotechnik sind Goldscheids sozialbiologische Betrachtungen sicherlich weitgehend irrelevant, aber für die Konturierung gesellschaftsutopischer Visionen hinsichtlich einer technologischen Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen und der menschlichen Konstitution kommt ihnen vermutlich eine nicht unwichtige Rolle zu. Goldscheids Freund Raoul Heinrich Francé entwickelt einen konziseren Begriff von Biotechnik und bettet ihn in einen umfassenden holistischen Weltentwurf ein, mit dem er über die seiner Ansicht nach gescheiterten Versuche von Ludwig Büchner (1824-1899), E. Haeckel, W. Ostwald und anderen, auf naturwissenschaftlicher Grundlage ein einheitliches Weltbild zu begründen, hinauszugehen versucht. Er betont emphatisch, dass der Übergang in das »Zeitalter der ›biologisch‹ denkenden objektiven Philosophie« bevorsteht, »welche alle Denkvergangenheiten in höherer Einheit verbindet und zu erklären vermag«.34 Für Francé unterliegen seit dem 19. Jahrhundert alle an der Mathematik orientierten und mit einem mehr oder weniger starren Kategoriensystem operierenden Weltdeutungen einer allgemeinen Relativierung, was sich eindringlich in den Grundlagenkrisen der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt. Eine in seinem Sinne biozentrische Perspektive geht über diesen Relativismus weit hinaus und schafft so die Grundlage für eine Zusammenführung der verschiedenen Einzelwissenschaften zu einer neuen Einheit.35 Nach Francé ist die Welt durch einige fundamentale Gesetze bestimmt, die er in objektiv-idealistischer Weise sowohl als Seins- als auch als Erkenntnisgesetze begreift. Das »Funktionsgesetz« ist dabei von entscheidender Bedeutung für sein Verständnis von Biotechnik. Francé geht davon aus, dass nur das zu einem Gegenstand unseres Erle34 Raoul H. Francé: Bios. Die Gesetze der Welt, Stuttgart/Heilbronn: Walter Seifert Verlag 1923, Bd. 1, S. 14. 35 »Weil unser ›Ich‹ psychischen Gesetzen untertan ist […] finden wir mehr als bloß Kausalzusammenhänge, deshalb ist uns die Welt psychisiert, biologisiert, relativiert, daher besteht für uns die Notwendigkeit, die Zusammenhänge biozentrisch zu orientieren.« (Ebd., Bd. 2, S. 121). 183

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bens werden kann, was spezifische Funktionen besitzt bzw. was durch gesetzmäßige Beziehungen »zwischen Größen, Gebilden oder Vorgängen« bestimmt ist.36 Jede Funktion bedingt nun eine von ihr abhängige Funktionsform, was sich besonders eindringlich an Phänomenen der funktionellen Anpassung in der Biologie zeigt. Das, was wir als ein Spezifikum technischer Formen und Gebilde sehen, nämlich ihre besondere Funktionalität, zeigt sich damit als ein allgemeines Charakteristikum des Seienden: »Auch das geistige Schaffen hat seine technischen Formen, für die identische Gesetze gelten wie in der Physis. Und auch die unbelebte Natur hat unter dem Einfluss der in ihr vor sich gehenden Bewegungen […] technische Formen angenommen, deren vornehmste und allgemeinste die Materie selbst mit ihren chemischen und physikalischen Qualitäten ist. Schon die Begriffe ›seiende Welt‹ und ›Erscheinung‹ sind Funktionsformen des Weltprozesses, der biotechnische Grundbegriff also einer der elementarsten des gesamten Erlebens.«37

Francé argumentiert also explizit i. S. des Konzepts der Orthogenese und nimmt an, dass Prozesse einer sukzessiven Optimierung von Funktionen, wie wir sie gewöhnlich nur im Bereich der vom Menschen generierten technischen Artefakte wiederfinden, von zentraler Bedeutung für alle Schichten der Realität sind: »[…] jeder Prozess ist ein biotechnischer Vorgang, der rein mechanisch zu seinem Optimum drängt.«38 Wenn also technische und natürliche Welt den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, dann muss sich der Mensch in all seinem technischen Handeln vor allem darum bemühen, die Funktionsgesetze der natürlichen Welt ausgiebig zu studieren und gezielt zu imitieren: »Vom Anorganischen bis zu den Vorbildern im Bienenstaat und Ameisennest hat der Mensch in seinen technischen Leistungen stets nur die Natur kopiert, und – was viel wichtiger ist – er kann prinzipiell nie etwas anders machen.«39

Auch das menschliche Denken zeigt sich insofern als biotechnisch verfasst, als all seine Vorstellungen als funktionelle Anpassungen »zur Orientierung im Dasein zum Zwecke seiner Erleichterung« interpretiert werden können.40 Das Denken ist für Francé also kein Mittel zur Beherrschung der Welt, sondern vielmehr ein Instrument zur Förderung des 36 37 38 39 40

Ebd., Bd. 2, S. 3. Ebd., Bd. 2, S. 68. Ebd., Bd. 2, S. 73. Ebd., Bd. 2, S. 115. Ebd., Bd. 2, S. 122.

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Lebens durch die Generierung einer harmonischen Beziehung zu sich, zum Lebensmilieu, zu den Mitmenschen und zur Welt als ganzer. Die Biotechnik-Konzepte von Goldscheid und Francé stehen einerseits in einem krassen Gegensatz zu den anwendungsbezogenen Konzepten, wie sie von Ereky und den Vertretern der Zymotechnologie entworfen wurden, andererseits stimmen sie mit diesen – zumindest partiell – darin überein, dass die Biologie als noch junge naturwissenschaftliche Disziplin zur Grundlage einer neuen Art von Technologie gemacht werden kann. Die Diffusität und Vorläufigkeit aller Konzepte, aber auch die Emphase, mit der sie verbreitet werden, verschaffen ihnen eine breite Wirkung. Die Arbeiten von Francé werden bald auch ins Englische übersetzt und können so Einfluss auf Debatten im europäischen und außereuropäischen Ausland nehmen. Gerade in Großbritannien war das Bedürfnis nach einer Verherrlichung des Natürlichen und Lebendigen besonders groß, da die Industrialisierung dort im starken Maße zur Zersiedelung der Landschaft, zur Zerstörung der Umwelt und zur Verpestung der Luft geführt hat. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass es im Mutterland der industriellen Revolution ein besonders starkes Interesse an einer biologischen Technik gab. Der schottische Biologe Patrick Geddes (1854-1932) rezipiert ausgiebig die Arbeiten von Francé und verbindet dessen Konzept von Biotechnik mit seinen eigenen Ansätzen zu einem evolutionistischen Technikverständnis.41 Für Geddes besteht – ähnlich wie für Bergson – ein enger Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstand einer Zivilisation und den jeweils vorherrschenden Technologien. Im Blick auf seine eigene Zeit macht er die von dem Archäologen Arthur J. Evans (18511941) etablierte Unterscheidung zwischen paläolithischem und neolithischem Zeitalter fruchtbar:42 Während für das paläolithische Industriezeitalter Dampfmaschinen, schmutzige Kohlegruben und rauchende Schlote typisch sind, findet seiner Ansicht nach durch die Elektrotechnologie der Übergang in das neolithische Industriezeitalter statt. Deprimiert und ernüchtert durch die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs stellt Geddes später auch Überlegungen zu einer neuartigen »Geotechnik« an, die i. S. von Francé eine Harmonisierung zwischen den Bedürfnissen der Menschen und dem Erhalt der Lebensbedingungen erreichen soll. In dem zusammen mit dem Soziologen Victor Branford verfassten Werk The Coming Polity aus dem Jahre 1917 erkennt er wie Francé in den Erkenntnisfortschritten der Biologie und ihren verschiedenen Anwendun41 Vgl. R. Bud: Wie wir das Leben nutzbar machten, S. 86ff. 42 Patrick Geddes: Cities in Evolution: An Introduction to the Town Planning Movement and the Study of Civics [1915], London: Ernest Benn Limited 1968, S. 60ff. 185

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gen in der Landwirtschaft, der Hygiene und der Medizin den Ausgangspunkt für eine grundlegende Veränderung des mechanistischen Weltbildes und der mit ihm assoziierten Ausbeutungsmentalität. Entwickelt Francé sein Biotechnik-Konzept ausgehend von einer Betrachtung der technischen Leistungen der Pflanzen, so betont Geddes viel stärker die unmittelbare Relevanz der Biotechnik für die konkrete Verbesserung des menschlichen Lebens. Er entwirft auch ein großes gesellschaftsutopisches Szenario, hinsichtlich dessen die bestehende kriegerische, durch Militanz, staatliche Macht, Individualität und industrielle Produktion bestimmte Gesellschaft in eine friedliche Gesellschaftsordnung überführt werden soll, die sich an Bio- und Geotechnik, einer Verbundenheit mit der eigenen Nation, sinnvoller Arbeit und einer völkerverbindenden Politik orientiert. Angesichts der Fokussierung auf solche gesellschaftsutopischen Visionen sucht man auch bei Geddes vergeblich nach einer konkreteren Entfaltung eines Konzepts der Biotechnik. Das zusammen mit seinem Mitarbeiter Arthur Thomson verfasste zweibändige Werk Life: Outlines of General Biology bleibt trotz seines Umfangs ein Rudiment. Eine stark vereinfachende Darstellung von Thomson in einem Artikel für die Encylopaedia Britannica aus dem Jahre 1926 trägt dagegen zur Popularisierung des Begriffs der Biotechnik bei. Thomson bestimmt Biotechnik als gezielten technologischen Einsatz von Organismen für die Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen und löst sie damit aus jenen spekulativen Kontexten heraus, wie sie auch für Geddes noch von zentraler Bedeutung waren. Auf diese Weise findet der Begriff Eingang in das Denken der jüngeren Generation englischer Biologen, zu der auch Julian S. Huxley (1887-1975) und John B.S. Haldane (1892-1964) gehören. Haldanes äußerst einflussreiche programmatische Schrift Daedalus or Science and Future geht auf einen Vortrag zurück, den er bereits 1914 als Student in Cambridge hielt. Er prophezeit grundlegende Erkenntnisfortschritte in der Biologie und verknüpft diese mit weitreichenden biotechnologischen Innovationen, die u. a. zur Trennung zwischen Reproduktion und Sexualität, zur Explikation einer positiven Eugenik und zur Steigerung physischer, psychischer und intellektueller Fähigkeiten des Menschen führen sollen. Im Blick auf die naturwissenschaftlichtechnischen Utopien in den Romanen von H.G. Wells betont er eindringlich, dass diese Prophezeiungen keinesfalls unbesonnener sind als frühere technologische Visionen. So wie sich Wells auf die zu seiner Zeit erforschten Bereiche der Luftfahrt und der Radiotelegraphie bezieht, so bezieht sich Haldane auf die aktuelle biologische und biochemische Forschung, die seiner Auffassung nach ebenfalls bald zu konkreten techno-

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logischen Anwendungen führen werden.43 Er spricht explizit von »biologischen Erfindungen« und versteht darunter die Etablierung neuer Beziehungen des Menschen zu Tieren und Pflanzen wie zwischen unterschiedlichen Menschen (»between different human beings«), die sich vor allem an der Biologie und nicht an der Physik, der Psychologie oder der Ethik orientieren.44 Auch Julian Huxley ist vermutlich durch die Ideen von Goldscheid, Francé und anderen beeinflusst und gelangt ähnlich wie Haldane zu einer engen Verknüpfung zwischen der rasanten Erweiterung des Erkenntnisstandes in der Biologie und dem Einsatz biologischen Wissens für eine Optimierung der menschlichen Konstitution. In einem Vortrag aus dem Jahre 1926 greift Huxley die von Goldscheid etablierte Idee auf, im Rahmen einer gezielten Bevölkerungspolitik mehr auf Qualität als auf Quantität zu setzen,45 wobei er sowohl traditionelle Geburtenkontrolle als auch positive Eugenik als praktische Instrumente nennt. In einem späteren Aufsatz betont er noch stärker den engen Zusammenhang zwischen einer Fortentwicklung der Biotechnologie und einem allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt; biological und social engineering stehen insofern bei Huxley in einem ähnlichen Konnex wie wissenschaftlichtechnischer und gesellschaftlicher Fortschritt bei Francis Bacon, Condorcet und anderen frühen Fortschrittstheoretikern. Huxleys enger Freund Lancelot Hogben (1895-1975) bemüht sich demgegenüber um eine weniger visionäre Verknüpfung zwischen sozialen und biologischen Fragen und trägt so dazu bei, dass sich die Soziobiologie als naturwissenschaftliche Disziplin etablieren kann. Auch im Blick auf die Rolle der Biotechnologie versucht Hogben eine ausgewogenere Position einzunehmen: Er tritt nicht nur jeder Art von expliziter Eugenik entgegen, er sieht auch das Hauptziel einer an der Biologie und den besonderen Syntheseleistungen von Organismen orientierten Technologie weniger darin, Kontrolle über die belebte Welt zu gewinnen und 43 Vgl. Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction. Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie, Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag 1957, S. 54ff. 44 John Burdon Sanderson Haldane: Daedalus or Science and the Future. A Paper read to the Heretics, Cambridge/London: Kegan, Trench, Trubner & Co. 1925, S. 42. 45 Die Priorität von Qualität gegenüber Quantität zählt Huxley auch später zu den Kernmotiven des so genannten »evolutionären Humanismus«: »Ich sprach von Qualität. Sie muss der beherrschende Begriff unseres Glaubensystems sein – Qualität und Reichhaltigkeit wider Quantität und Gleichförmigkeit. […] Allein die quantitative Zunahme der Menschen hat in steigendem Maße die Qualität ihrer Lebensführung wie ihre Zukunft beeinflusst, und fast ausschließlich in ungünstigem Sinne.« (J. S. Huxley: Die Grundgedanken, S. 30f.). 187

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dies auch für eine technologische Verbesserung des Menschen zu nutzen; er sieht es vielmehr darin, eine allgemein menschen- und umweltfreundlichere Produktionsweise zu ermöglichen und auf diese Weise zu einem gesellschaftlichen Fortschritt beizutragen. Hogben distanziert sich von Haldanes Vorstellung grundlegender biologischer Innovationen und nähert sich wieder dem Ansatz von Geddes an, nach dem es vor allem um eine veränderte landwirtschaftliche Produktion gehen müsse, da diese unmittelbar zu einer Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen führen und der Verwobenheit alles menschlichen Handelns in natürliche Prozesskreisläufe besser gerecht werden könne. In der hier nur skizzenhaft nachgezeichneten frühen Geschichte der Biotechnologie von Stahls Zymotechnik bis zu Hogbens Idee einer ökologischeren Landwirtschaft stoßen wir auf sehr unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich einer näheren Bestimmung der Beziehungen zwischen Natur und Technik und hinsichtlich des Verhältnisses zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischen Anwendungen. Im Unterschied zur sicher nicht grundsätzlich falschen Rekonstruktion der Genese eines neuen Technologiefeldes i. S. einer Vernetzung von neuen theoretischen Erklärungsansätzen mit Versuchen zur praktischen Bewältigung konkreter Problemlagen ist das, was seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unter den Bezeichnungen Zymotechnologie, Biotechnik, Biotechnologie o. ä. diskutiert wird, durch ein diffuses Gemisch theoretischer wie praktischer Interessen und Positionen bestimmt. Wir treffen nicht nur auf eine Zusammenführung neuer naturwissenschaftlicher Disziplinen, die sich wie die Organische Chemie, die Biochemie, die Kolloidchemie und die Mikrobiologie in besonderem Maße auf den Grenzbereich zwischen belebter und unbelebter Natur beziehen, mit starken wirtschaftlichen Interessen und ersten Ansätzen zu umwelt- und menschenfreundlicheren Produktionsweisen. Wir stoßen auch auf große gesellschaftsutopische Szenarien mit einer engen Verschränkung zwischen biologischen und soziologischen Perspektiven, auf spekulative naturphilosophische und anthropologische Positionen und eben auch auf Überlegungen zu einer biotechnologischen Veränderung und Verbesserung der menschlichen Konstitution. Einerseits wird auch die belebte Natur einer Technisierung und einer Konzeptualisierung anhand des Maschinen-Paradigmas unterworfen, andererseits wird die menschliche Technik als Ausdruck einer allgemeinen technischen Tendenz der Natur interpretiert und insofern in naturalisierender Weise in einen großen evolutionistischen Zusammenhang eingeordnet. Ersteres zeigt sich besonders eindringlich in Erekys technizistischer Modellierung von Schweinen als »biotechnologischer Maschinen«, letzteres in dem BiotechnikKonzept von Francé. Explizite Überlegungen zu einer praktischen An188

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wendung biologischer Erkenntnisse und biotechnologischer Verfahren auf den Menschen tauchen bereits bei Goldscheid auf, sind dort aber nicht nur vor allem auf den Bereich einer gezielten negativen Eugenik bezogen, sondern auch in den Rahmen eines spekulativen Monismus eingeordnet, der im Widerspruch zum rigorosen Heraustreten des Menschen aus naturalen Kontexten steht. Erst durch die Rezeption und Transformation der Ideen von Goldscheid und Francé durch englische Biologen wie Haldane und Huxley wird jener enge Konnex zwischen Biologie, Biotechnologie und einer technologischen Perfektionierung des Menschen konstituiert, der heute in erweiterter Form auch die Diskussionen über Human Enhancement bestimmt. Es sind sicherlich recht unterschiedliche Gründe, die für die wirkungsgeschichtliche Auszeichnung dieser Rezeptionslinien verantwortlich sind. Genannt seien nur der Status von Haldane und Huxley als innovative Naturwissenschaftler, ihr starkes Interesse an einer Popularisierung und Politisierung ihrer Auffassungen, die zeitbedingte ideologische Verdächtigung und Abwertung aller spekulativen Ansichten aus Deutschland und auch der zunehmende Erfolg dessen, was Haldane als biological inventions bezeichnet. Man sollte m. E. aber nicht übersehen, dass der genannte Konnex und seine Folgewirkungen auf kontingenten Entscheidungen und Entwicklungen basieren, die viel mit einem mangelnden Geschichtsbewusstsein zu tun haben und keinesfalls i. S. aktueller Positionen zu einem unaufhaltsamen technologischen Fortschritt unkritisch akzeptiert werden müssen.

I I I . E i n e h o l i s t i s c h e We l td e u t u n g a l s E i nw a n d g e g e n H u m a n E n h a n c e m e n t – Exemplarische Überlegungen Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat eine umfassend naturalistische Weltdeutung im Anschluss an den naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt außerordentlich an Plausibilität gewonnen. Insbesondere in der öffentlichen Wahrnehmung wird dieser Eindruck durch die vielfältigen technologischen Anwendungen naturwissenschaftlichen Wissens bekräftigt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Bezeichnung »Naturalismus« und ein neuer Fortschrittsoptimismus eine starke Verbindung eingegangen sind und in ideologischer Weise aktuelle Debatten bestimmen. So bestreiten Naturwissenschaftler und naturalistisch orientierte Philosophen in zunehmend militanter Weise lebensweltlichen, religiösen und anderen weltanschaulichen Welt- und Selbstverständnissen ihre Berechtigung. Die aus den USA stammende Gruppierung The Brights und die Mitglieder der in Deutschland gegründeten 189

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Giordano-Bruno-Stiftung rufen zum Kampf gegen neue und alte Obskurantismen auf und stilisieren sich zu einer neuen Aufklärungsbewegung. Vertreter des Transhumanismus forcieren diese Bestrebungen und unterstützen ein durch die wissenschaftlich-technologische Entwicklung bestimmtes Fortschrittsmodell, innerhalb dessen der Mensch zunehmend besser seine naturalen und kulturellen Bedingtheiten auf technologischem Wege zu transzendieren vermag. Demgegenüber gilt es zunächst zu bedenken, dass moderne naturwissenschaftliche Theorien nicht nur ein beständig erweiterter Pool für die Explikation der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Vorstellung einer umfassenden Kontrolle der Natur sind, sondern vielmehr diese Vorstellung als solche immer deutlicher als unzeitgemäß und naiv ausweisen. Außerdem sollten wir verstärkt darüber nachdenken, dass die Erweiterung der naturwissenschaftlichen Weltdeutung nicht mit einer Beschränkung auf bestimmte Interpretationsweisen i. S. eines reduktionistischen Naturalismus und einer forcierten technologischen Weltgestaltung verbunden ist, sondern Spielraum für recht unterschiedliche Zugangs- und Deutungsweisen lässt, was durch die Überlegungen prominenter Naturwissenschaftler wie Ilya Prigogine und Werner Heisenberg eindringlich bestätigt wird. Die Quantenmechanik und insbesondere die Chaos- und Selbstorganisationstheorien haben zu einer grundlegenden Veränderung unseres Welt- und Naturverständnisses geführt46 und lassen alle Versuche einer Restitution des neuzeitlich-modernen Projekts einer subjekt- und ratiozentrischen Bemächtigung der Welt als zunehmend fragwürdig erscheinen. Der Erkenntnis- und Gewissheitsanspruch der abendländischen Rationalität scheint seine Grenze an der Naturordnung selbst gefunden zu haben, so dass das Erkenntnissubjekt offensichtlich zu einer neuen Bescheidenheit finden muss.47 Prigogines Plädoyer für

46 Vgl. Jan C. Schmidt: Instabilität in Natur und Wissenschaft. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2008; Andreas Woyke: »Kreativität bei chemischen Phänomenen als Ausgangspunkt für eine prozessualistische Naturphilosophie«, in: Günter Abel (Hg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie. 26.30. September 2005 in Berlin. Sektionsbeiträge, Bd. 2, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin 2005, S. 311-322; ders.: Die Entwicklung einer aprozessualen Welt- und Naturdeutung. Von einem Problem der Chemiedidaktik zu einer Rekonstruktion der abendländischen Geistesgeschichte vom Mythos bis zur Moderne, Saarbrücken: VDM 2007, S. 742ff. 47 Vgl. Andreas Woyke: »Gedanken zur modernen Aporetik instrumenteller Rationalität«, in: Zeitschrift für kritische Theorie 24/25 (2007), S. 85-100, hier: S. 85ff. 190

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einen neuen Dialog mit der Natur48 und Heisenbergs Betonung einer Einbettung des Menschen und seines Handelns in eine gestufte Ordnung der Natur,49 bekräftigen eine solche Forderung, finden allerdings bis heute keine angemessene Berücksichtigung. Wenn man anerkennt, dass es enge Zusammenhänge zwischen theoretischen Weltverständnissen und praktischen Formen des Umgangs mit der Welt gibt, dann können solche Perspektiven allerdings gerade im Blick auf die Einordnung und Bewertung technologischer Entwicklungen ein dezidiert kritisches Potential entfalten. Die Ansätze zu einer Technisierung der Natur und einer Naturalisierung der Technik, die bereits die Entwicklung der Biotechnologie bestimmen, müssen vor diesem Hintergrund beide als problematisch charakterisiert werden. Die Vorstellung einer rigorosen Technisierung der Natur nach dem Vorbild des Maschinen-Paradigmas wird der Komplexität und Eigengesetzlichkeit realer natürlicher Systeme in keiner Weise gerecht. Auch eine Naturalisierung der Technik, wie sie gegenwärtig vor allem in der Nanotechnologie betrieben wird, verschleiert die grundlegenden Unterschiede zwischen natürlichen und technischen Systemen: Weder ist die Natur durch Prozesse einer funktionalen Optimierung bestimmt, wie sie nur das Resultat bewusster Planung und Konstruktion sein können, noch kann man technologische Entwicklungen von ihrer Einbettung in kontingente soziale, historische, kulturelle und normative Kontexte abtrennen und per se i. S. einer deterministischen Perfektionierung interpretieren. Die Grenzen einer technisierten Natur und einer naturalisierten Technik zeigen sich nun auch bei der Betrachtung von Human Enhancement. Auch eine rigorose Technisierung des Menschen als Naturwesen, wie sie transhumanistischen Visionen zugrunde liegt, operiert mit naiven Machbarkeits- und Kontrollphantasien und ist weder naturwissenschaftlich noch philosophisch haltbar. Die Naivität solcher Vorstellungen wird auch daran deutlich, dass utilitaristische Ethiker ein Regulativ für mögliche problematische Folgewirkungen von technologischen Verbesserungen ernsthaft darin sehen, die jeweiligen Maßnahmen von Human Enhancement als reversibel zu konzipieren.50 Angesichts der Elaboriertheit moderner medizinischer Methoden ist hier zweifellos vieles denkbar, aber wir müssen auch anerkennen, dass es mit wachsender Eingriffstiefe 48 Vgl. Ilya Prigogine/Isabelle Stengers: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, übers. von Friedrich Griese, München/Zürich: Piper, 1993. 49 Vgl. Werner Heisenberg: Ordnung der Wirklichkeit, München/Zürich: Piper 1989. 50 Vgl. B. Gesang: Perfektionierung des Menschen, S. 93ff. 191

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letztlich immer schwieriger und schließlich unmöglich wird, eine solche Forderung zu verwirklichen. Eine Naturalisierung des Menschen wird insbesondere dort betrieben, wo er darauf verkürzt wird, einem diffusen Drang zur Selbstüberschreitung zu folgen. Die von Vertretern des Transhumanismus und liberalistischen Ethikern in den Status einer Selbstverständlichkeit erhobene Annahme von einer grundlegenden historischen Relativität von Menschenbildern scheint plötzlich keine Geltung mehr zu besitzen, wenn sich in Form der Selbstranszendenz ein von ihnen akzeptiertes Wesensmerkmal benennen lässt. Im Bezug auf ein allgemeines Verständnis von Evolution wird der Mensch zu jenem Wesen stilisiert, das seine eigene Evolution zu gestalten und sich so in immer effektiverer Weise zu optimieren vermag. Es ist evident, dass hier nicht nur grundlegende Missverständnisse über den Verlauf natürlicher Evolutionsprozesse fortgeschrieben werden, es ist ebenso offensichtlich, dass diese Art einer grundsätzlichen Flexibilisierung des Menschseins dessen kulturelle Konturierung darauf reduziert, naturale Bedingtheiten sukzessive zu überwinden. Hier wird nicht nur Hans Blumenbergs Betonung unterlaufen, dass der Mensch als historisches Wesen nur existieren kann, wenn er sich affirmativ zu seiner Geschichte verhält,51 hier wird auch so getan, als könnte er durch eine Verflüssigung seines Seins angesichts beständiger technologischer Perfektionierung der von Helmuth Plessner explizierten Ortlosigkeit seiner Existenz entkommen, ohne Zuflucht zu einem absoluten Weltgrund nehmen zu müssen.52 Nach Hans Jonas sollten wir uns nicht nur um eine Einordnung des Menschen ins Reich des Animalischen und die gesamte Natur bemühen und so seine naturalen Dimensionen affirmieren, wir sollten auch anerkennen, dass er als Kulturwesen transanimalische Züge trägt, die sich nicht nur in seinem Gebrauch von Werkzeugen und seiner technischen Veränderung der Welt, sondern auch in ihrer künstlerischen Repräsentation und metaphysischen Interpretation zeigen.53 An allen drei Charakterzügen wird deutlich, dass er nicht einer ins Leere laufenden Selbsttranszendierung folgen kann, sondern sich immer ins Verhältnis zu natürlich Gegebenem und kulturell 51 »Der sozusagen aus der Zoologie ausgebrochene Mensch hätte wie so viele ihm zunächst verwandte Tiere zugrunde gehen müssen, wäre es ihm nicht gelungen, ein historisches Wesen zu werden. Er ist nur, weil er die Zeit und damit seine Erfahrungen zu akkumulieren vermag und so seine Vergangenheit präsent hält.« (Hans Blumenberg: Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hrsg. von Manfred Sommer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 622; i. Orig. hervorg.). 52 Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch [1928], Berlin/New York: de Gruyter, 19753., S. 309ff. 53 Vgl. Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 34ff. 192

NATURWISSENSCHAFTLICHE W ELTDEUTUNG

Gewachsenem setzen muss, um in aktiver Auseinandersetzung damit verschiedene Varianten von Technik, Kunst und Metaphysik generieren zu können. In ähnlicher Weise betont auch der französische Anthropologe André Leroi-Gourhan (1911-1986), dass die besondere Anpassungsfähigkeit des Menschen an unterschiedliche Lebensbedingungen nur dann sinnvoll verstanden und genutzt werden kann, wenn man sie mit einem Wissen um seine biologischen Wurzeln und einem gewissen Vertrauen in seinen natürlichen und kulturellen Entwicklungsstand verbindet.54 Hinsichtlich der Zukunft des Homo sapiens stehen seiner Ansicht nach vier Option offen: Die Vernichtung durch Atomtod oder Umweltkatastrophen, das Vertrauen, dass wir uns i. S. von Teilhard de Chardin auf einen »Punkt Omega« zu bewegen,55 die Anpassung des Menschen an eine weitgehend künstliche Welt durch soziale und technologische Transformation und schließlich die Affirmation eines ganzen Menschen, der zu seinem Charakter als Natur- und Kulturwesen steht: »Welchen Wert die ersten Lösungen auch haben mögen, und sofern man nicht davon ausgeht, dass die Laufbahn des Menschen beendet ist, wird etwas von der vierten Lösung unvermeidlich im kommenden Jahrhundert angegangen werden, denn die Spezies ist zu eng mit ihren Grundlagen verbunden, als dass sie nicht spontan jenes Gleichgewicht herzustellen suchte, das sie zur Spezies Mensch gemacht hat.«56

Literatur Bavink, Bernhard: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften. Eine Einführung in die heutige Naturphilosophie, Zürich: S. Hirzel Verlag 19489. Bensaude-Vincent, Bernadette/Stengers, Isabelle: A History of Chemistry, transl. by Deborah van Dam, Cambridge MA/London: Harvard University Press 1996. Bergson, Henri: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge [1946], übers. von Leonore Kottje, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008.

54 Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/Main: Suhrkamp 20003, S. 489ff. 55 Vgl. Pierre Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos [Le Phénomene Humain; 1947], übers. von Othon Marbach, München: C. H. Beck 1981, S. 261ff. 56 Ebd., S. 498. 193

ANDREAS W OYKE

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ANDREAS W OYKE

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L ITERARISCHE K ONTEXTE

Im Fe uer sc hierer Sinnlichke it oder: Lad y Chatterle ys Gegenargument ALFRED NORDMANN Abstract: Im Roman Lady Chatterley’s Lover von D.H. Lawrence erscheinen Retortenbabys als maschinenkulturelle Strategie zur Befreiung des Geistigen vom Körperlichen. Dem widersetzt sich Lady Chatterley, indem sie sich der Dichotomie von technischer Konstruktion und natürlicher Körperlichkeit entzieht und sich selbst durch einen unnatürlichen Akt gleichsam neu erschafft. Ihr Gegenargument ist ein Beispiel für die Weiterung auch des historischen Blickwinkels auf Transhumanismus und Human Enhancement.

Ob wir von Posthumanismus oder Transhumanismus sprechen, von Human Enhancement als biotechnologische Erweiterung oder Überhöhung menschlicher Fähigkeiten, von Prothesenmenschen oder Cyborgs, oder ganz allgemein vom »Neuen Menschen« als Ziel wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen, so verrät schon die Vielzahl der Bezeichnungen, dass wir es hier mit einem historisch vielschichtigen Phänomen zu tun haben, dessen Geschichtlichkeit verstanden sein will. Was ergibt sich aber aus der Würdigung von Geschichte und Vorgeschichte visionärer Menschengestaltungsprojekte?1 1

Diese Frage ist dem Autor dieser Skizze wichtig, da er sich gegen die philosophische Auseinandersetzung mit transhumanistischen Programmen ausgesprochen hat – dann jedenfalls, wenn diese als eine Art vorausschauender Technikfolgenabschätzung posieren. Gerade dieser Versuchung erliegt ein philosophie- und wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz nicht. Zur Plausibilität heute kursierender Visionen und zur Frage, ob die Forschung diesmal wirklich vor einem Durchbruch steht, muss er sich nicht äußern und kann doch zur Bewertung dieser Programme beitragen (vgl. Alfred Nordmann: »If and Then: A Critique of Speculative NanoEthics«, in: NanoEthics, Bd. 1/1 (2007), S. 31-46; ders.: »Knots and Strands: An Argu199

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Fast automatisch, so möchte es scheinen, und in doppelter Hinsicht vollzieht sich damit eine Relativierung der heutigen Positionen. Mit der Vielzahl ihrer Vorgänger konfrontiert müssen sich die Vordenker des »Neuen Menschen« an der Geschichte gestorbener Hoffnungen und kleinlauter Rückzüge messen, vor allem aber wird die Originalität ihrer Visionen auf den Prüfstand gestellt. Wie aussagekräftig ist Nick Bostroms fantasieloses Versprechen eines künftigen Musikempfindens, das Mozart in den Schatten stellen wird,2 gegenüber den ideenreichen Entwürfen, die an Donna Haraways Cyborg Manifesto3 anschließen? Es steckt aber auch eine Gefahr in der philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung der Diskurse vom »Neuen Menschen«, dass nämlich die Genealogie oder Vorgeschichte heute populärer Denkmuster quasi-teleologisch auf gerade diese Denkmuster zusteuert und die Vielzahl der Quellen verdunkelt, aus denen sich technovisionäre Forschung speist. So scheint ein relativ gerader Weg von Julian S. Huxley und John Desmond Bernal zu Gerd Binnig und Ray Kurzweil zu führen, der aber an Comicbüchern, Videospielen, Gibsons und Haraways Cyborgs und dem weiten Feld der Science-Fiction, aber auch an postmodernen Proklamationen vom Ende des Subjekts vorbeiführt. Doch selbst ein umfassenderer Zugang birgt noch die Gefahr, dass er den technovisionären Diskurs stärkt, ihn womöglich dominant und unausweichlich erscheinen lässt. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass dem Human Enhancement wirkmächtigere Diskurse des human flourishing gegenüberstehen, dem technisch konzipierten Neuen Menschen Schillers Betonung der Kraft der Kultur4 und der genmanipulierten Optimierung die Perfektibilität als Bildungsideal.5

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ment for Productive Disillusionment«, in: Journal of Medicine and Philosophy, Bd. 32/3 (2007), S. 217-236; ders.: »Ignorance at the Heart of Science? Incredible Narratives on Brain-Machine Interfaces«, in: Johann S. Ach/Beate Lüttenberg (Hg.): Nanobiotechnology, Nanomedicine and Human Enhancement, Berlin: Lit-Verlag 2008, S. 113-132). Vgl. Nick Bostrom: »Why I Want to be a Posthuman When I Grow Up«, in: Bert Gordijn/Ruth Chadwick (Hg.): Medical Enhancement and Posthumanity, Berlin: Springer, S. 107-137; ders.: »Letter from Utopia«, in: Studies in Ethics, Law, and Technology, 2/1 (2008), S. 1-7. Donna Haraway: »A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and Socialist-Feminism in the Late Twentieth Century«, in Donna Haraway: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York: Routledge, S. 149-181. Vgl. Friedrich Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. V, hg. von Wolfgang Riedel, München, 2004, S. 570-669, insbesondere S. 641ff. Dass es sich hier um Gegensätze handelt, würde insbesondere George Khushf bestreiten (vgl. George Khushf: »The Ethics of Nanotechnology – Visions and Values for a New Generation of Science and Engineering«,

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Eine umfassende Philosophiegeschichte technovisionärer Diskurse vom »Neuen Menschen« muss darum auch eine Geschichte der vielen und vielstimmigen Gegenpositionen sein, die sich an ihnen entzünden. Dies würde zudem einer derzeit gängigen Verengung der Debatte entgegenwirken, der zufolge den technologisch informierten Visionären nur konservative Traditionalisten entgegenstünden, die an eine unantastbare Natur des Menschen glaubten, an der die gesamte bisherige Technikgeschichte vorbeigegangen sei. Mehr oder weniger gerecht dienen hier vor allem Francis Fukuyama und Jürgen Habermas als konservative Pappfiguren, vor denen sich das angeblich avanciertere, hartgesotten wirklichkeitsnähere Denken der Transhumanisten abhebt.6 Im Sinne der hier empfohlenen Ausweitung des historischen Blickwinkels möchte ich im Folgenden nur eine einzelne, vielleicht vereinzelte Reaktion auf die Idee des mechanisch verbesserten Menschen vorstellen. Sie zeichnet sich durch eine ganz erstaunliche Härte und Konsequenz aus, und findet sich in mehrfacher Hinsicht an einem Ort, an dem wir sie kaum vermutet hätten, nämlich dem 1928 erschienenen Roman Lady Chatterley’s Lover von David Herbert Lawrence (18851930).7 Eine Frage und eine Antwort verdeutlichen die geradezu brutale Härte dieses Romans. Clifford Chatterley fragt seine Frau mit ungläubigem Staunen: »Do you like your physique?« und womöglich zu ihrer eigenen Überraschung antwortet Connie ihrem kriegsversehrten, impotenten, an den Rollstuhl gefesselten Mann: »I love it!« (S. 252).8 Mit dieser Antwort kündigt sie ein Einverständnis auf, das sich an festgefügten Gegensätzen von körperlichem und geistigem Leben, Organischem und Mechanischem, englischer Tradition und industrieller

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in: Emerging Technologies and Ethical Issues in Engineering, Washington, DC: National Academy of Engineering 2003, S. 29–55; ders.: »Systems Theory and the Ethics of Human Enhancement: A Framework for NBIC Convergence«, Annals of the New York Academy of Sciences, Bd. 1013 (2004), S. 124–149). Zu einer Diskussion verschiedener idealtypischer Positionen hinsichtlich der Bewertung von Human Enhancement vgl. die Einleitung von Andreas Woyke in diesem Band. Auf Vorfassungen, biografische Hintergründe, literarische Zusammenhänge gehe ich hier nicht ein, sondern betrachte das in diesem Buch enthaltene Argument ganz wie es es dem heutigen Leser erscheint. Hinweise auf den »transhumanistischen« Zusammenhang bietet der Roman zur Genüge. Alle Seitenangaben beziehen sich auf die 2005 von Susan Ostrov Weisser betreute, in New York erschienene Ausgabe (David Herbert Lawrence: Lady Chatterley‘s Lover [1928]. New York: Barnes and Noble 2005). Ich zitiere durchwegs auf Englisch und gehe davon aus, dass der Zusammenhang der Darstellung gegebenenfalls ausreichende Orientierung bietet. 201

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Verelendung orientiert. Connies »I love it!« entzieht sich diesen Gegensätzen, weil sie von einem Körper spricht, der im Feuer schierer Sinnlichkeit gegossen und geschmiedet wurde, einem neu geborenen, selbst geschaffenen Körper – also weder natürlich gegeben noch technisch gesteigert. Ein grober Querschnitt durch den Roman legt dies offen und widerlegt vor allem das Vorurteil, dass es in Lady Chatterley’s Lover vor allem um die Entdeckung weiblicher Sexualität durch radikale Hingabe geht oder um die kitschige Lust am eigenen Körper, gar Huldigung des gemeinsam erlebten Orgasmus, der übrigens schon kurz vor der Hälfte des Buches auf Seite 143 stattfindet. Mein grober Querschnitt beginnt damit, dass Connie ihren Körper im Spiegel betrachtet: »what a frail, easily hurt, rather pathetic thing a human body is, naked; somehow a little unfinished, incomplete!« Diesem unfertigen, bedeutungslosen und unbedeutenden Körper kann das geistige Leben mit Clifford keinen Glanz verleihen (S. 75f.). Dabei ist »the mental life« nicht nur das notgedrungen mit Clifford verbrachte Leben, sondern ein Programm, das in selbstironischer Männerrunde mit Bolschewismus einerseits, kapitalistischer Maschinenkultur andererseits gleichgesetzt wird: Es zehre vom Hass auf ein wirkliches Leben und wirkliches Wissen, das auch seine Fürsprecher nicht mehr zu leben vermögen und das hervorgehen solle »out of your belly and your penis as much as out of your brain and mind« (S. 40, vgl. S. 38-43). Diesem uneinholbaren organisch-holistischen Ideal wird die logische Fortentwicklung der Maschinenkultur entgegengestellt, die nach Connies Selbstbespiegelung auch an ihrem unfertigen Körper ansetzt. Von einem Buch über die Zukunft geht das folgende Gespräch aus »when babies would be bred in bottles« und Frauen gegen Schwangerschaft geimpft würden (S. 79): »›I suppose,‹ said Lady Bennerley, contemplatively, ›if the love-business went, something else would take its place. Morphia, perhaps. A little morphine in all the air. It would be wonderfully refreshing for everybody.‹ ›The government releasing ether into the air on Saturdays, for a cheerful weekend!‹ said Jack. ›Sounds all right, but where should we be by Wednesday?‹ ›So long as you can forget your body you are happy,‹ said Lady Bennerley. ›And at the moment you begin to be aware of your body, you are wretched. So, if civilization is any good, it has to help us forget our bodies, and then time passes happily without our knowing it.‹ ›Help us to get rid of our bodies altogether,‹ said Winterslow. ›It’s quite time man began to improve upon his own nature, especially the physical side of it.‹ ›Imagine if we floated like tobacco smoke,‹ said Connie.« (S. 80)

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Ohne Glauben an das viel beschworene wahre und lebendige Körperwissen, fungiert es auch in diesem Gespräch als bloße Leerstelle, als bedeutungslose Alternative zur unbeirrbaren Maschinenlogik, die allenfalls Retortenbabies verspricht: »Something echoed inside Connie: ›Give me the democracy of touch, the resurrection of the body!‹ She didn’t at all know what it meant, but it comforted her, as meaningless things may do.« (S. 81)

Und so trifft Connie auf Mellor, der vom Hass auf die Maschinenkultur zutiefst durchdrungen ist (S. 128, 233f.) und schon in seiner Rolle als Wildhüter zu versprechen scheint, Connie mit ihrem Körper versöhnen zu können und somit der natürlich-organizistischen Alternative zum Industriekapitalismus neue Bedeutung zu verleihen. Tatsächlich mögen Connies Erwachen und erstarkte Weiblichkeit zunächst so erscheinen. Im gemeinsamen Orgasmus mit Mellor erfährt Connie sich in organischer Selbstaufgabe als tierisch-pflanzliches Wesen: »She could do nothing. She could no longer harden and grip for her own satisfaction upon him. She could only wait, wait and moan in spirit as she felt him withdrawing, withdrawing and contracting, coming to the terrible moment when he would slip out of her and be gone. Whilst all her womb was open and soft, and softly clamoring, like a sea-anemone under the tide, clamoring for him to come in again and make a fulfillment for her.« (S. 143)

Gegen die Vorstellung, dass er ihre Erfüllung macht, wehrt sich jedoch die modern Frau (S. 145). Bisher hatte sie sich durch Muskelkontrolle selbst Befriedigung verschafft, jetzt steht sie vor einer neuen Aufgabe, sich nämlich einen neuen Körper im Feuer ihrer eigenen Sinnlichkeit zu schaffen und somit ihre eigene Erfüllung zu machen. Diese Aufgabe ist es, die mit »I love it!« zum Programm wird und dieses Programm formuliert sie im Gespräch mit Clifford, ehe es sich in der erneuten Begegnung ihres mit Mellors Körpers verwirklicht: »›[…] The human body is only just coming to real life. With the Greeks it gave a lovely flicker, then Plato and Aristotle killed it, and Jesus finished it off. But now the body is coming really to life, it is really rising from the tomb. And it will be a lovely, lovely life in the lovely universe, the life of the human body.‹ ›My dear, you speak as if you were ushering it all in! […] Believe me, whatever God there is is slowly eliminating the guts and alimentary system from the human being, to evolve a higher, more spiritual being.‹

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›Why should I believe you, Clifford, when I feel that whatever God there is has at last wakened up in my guts, as you call them, and is rippling so heavily there, like dawn? […].‹« (S. 253)

Wiederum ist es offenbar eine im weitesten Sinne posthumanistische These, die diesem Gespräch den Hintergrund bietet. Clifford hat sie auf der letzten Seite von Alfred North Whiteheads Buch Religion in the Making gefunden: »The universe shows us two aspects: on one side it is physically wasting, on the other it is spiritually ascending« (S. 251). Dieser Vision eines geistigen Aufstiegs bei physischem Niedergang will Connie nicht zustimmen. Der geistigen Emanzipation von bloß tierischer Gegebenheit setzt sie die sinnliche Emanzipation von bloß natürlicher Körperlichkeit entgegen und zwar in Gestalt eines durchaus »unnatürlichen« Akts der schieren Sinnlichkeit: »It was not really love. It was not voluptuousness. It was sensuality sharp and searing as fire, burning the soul to tinder. Burning out the shames, the deepest, oldest shames, in the most secret places. It cost her an effort to let him have his way and his will of her. She had to be a passive, consenting thing, like a slave, a physical slave. […] The refinements of passion, the extravagances of sensuality! And necessary, forever necessary, to burn out false shames and smelt out the heaviest ore of the body into purity. With the fire of sheer sensuality. In the short summer night she learned so much. She would have thought a woman would have died of shame. Instead of which, the shame died.« (S. 266)

Hier widerlegt die physische Sinnlichkeit mit euphorischer Extravaganz Cliffords philosophische Thesen. Kaum anders als das gerupfte Huhn, das die Definition des Menschen als ungefiederten Zweibeiner ins Lächerliche zieht, lacht Connies nun wesentlich schamlose Natur die hündisch verzagte Männerwelt triumphierend aus und lässt das Ideal eines geistigen Aufstiegs weit hinter sich (S. 266f.). Unschwer lässt sich erraten, worin dieser unnatürliche Akt besteht, der Connie zu einer anderen, neuen, schamlosen Frau macht, die ihrem eigenen Bild von Weiblichkeit nicht mehr versklavt ist (S. 266, 272f.). Beim Analverkehr stirbt nicht sie vor Scham, sondern stirbt ihre Scham. Gerade an diesem heimlichen, angeblich unreinen Ort (S. 239f.) entfacht ihre sinnliche Anstrengung ein klärendes, reinigendes Feuer. An die Stelle der bloß empfänglichen See-Anemone, über die die Flut hinwegspült, tritt eine VerhüttungsMetaphorik, die von der Gewinnung eines reinen Metalls spricht und somit eine handwerklich-alchemistische Figur aufruft, wie sie auch im Gedärm des Kohlereviers herumspukt: Der faule Gestank, der über das Anwesen von Clifford, Connie und Mellor hinwegzieht, gebiert in 204

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Connies Vorstellung eine fantastisch neue Körperlichkeit für die nur scheinbar allen Lebens beraubte Unterschicht: »From the rather dismal rooms at Wragby she heard the rattle-rattle of the screens at the pit, the puff of the winding-engine, the clink-clink of shunting trucks, and the hoarse little whistle of the colliary locomotives. Tevershall pitbank was burning, had been burning for years, and it would cost thousands to put it out. So it had to burn. And when the wind was that way, which was often, the house was full of the stench of this sulphorous combustion of the earth’s excrement. But even on windless days the air always smelt of something under-earth; sulphur, iron, coal, or acid. And even on the Christmas roses the smuts settled persistently, incredible, like black manna from skies of doom.« (S. 13f.) »The common people were so many, and really, so terrible. So she thought as she was going home, and saw the colliers trailing from the pits, grey-black, distorted, one shoulder higher than the other, slurring their heavy, iron-shod boots. […] Supposing the dead in them ever rose up! But no, it was too terrible to think of. […] They had appeared out of nowhere in the thousands, when the coal had called for them. Perhaps they were only weird fauna of the coalseams. Creatures of another reality, they were elementals, serving the element of iron. Men not men, but animas of coal and iron and clay. Fauna of the elements, carbon, iron, silicon: elementals. They had perhaps some of the weird, inhuman beauty of minerals, the luster of coal, the weight and blueness and resistance of iron, the transparency of glass. They belonged to the coal, to the iron, the clay, as fish belong to the sea and worms to dead wood. The anima of mineral disintegration!« (S. 170f.)

Während technovisionäre Retortenbabies die Dualismen von Mechanismus und Organismus, von Geist und Körper immer nur bestätigen, überschreitet sie der im reinigenden Feuer der Alchemisten geschaffene neue Mensch. Dieses Feuer legt elementare Naturen frei, indem es Scham und Schönheit herausbrennt und in Schächten und Stollen eine bedrohlich andersartige Lebendigkeit aufruft. Der neue Mensch, der sich nicht schämt, entzieht sich dem Hass, der sich gegen alles Lebendige richtet – und das ist es womöglich, weshalb Lawrence seinen Roman mit einem enthaltsamen Brief Mellors an Connie beschließt, in dem das schwach flackernde Licht der Bergleute auf die irgendwann wieder aufflammende Lebendigkeit ihrer beiden Körper bezogen wird. »If things go on as they are, there’s nothing lies in the future but death and destruction, for these industrial masses. I feel my inside turn to water sometimes, and there you are, going to have a child by me. But never mind. All the bad times that ever have been, haven’t been able to blow the crocus out: not even

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the love of women. So they won’t be able to blow out my wanting you, nor the little glow there is between you and me.« (S. 324)9

Was ergibt nun dieser Ausflug in den Roman von D.H. Lawrence? Gewiss lässt sich aus diesem einen Dokument so wenig herleiten wie aus der einen Vision eines Ray Kurzweil oder Nick Bostrom. Und gewiss ist die durch den Analverkehr vollzogene Grenzüberschreitung nur ein schwaches Vorbild für den Ausbruch aus der sentimental vereinfachten Gegenüberstellung von technischer Erneuerung und organischer Naturverbundenheit. Aber dies zeigt Lady Chatterley’s Lover – dass es zunächst gilt, die diskursiven Räume zu öffnen, statt sie vorzuschnell zu dichotomisieren und in ethische Dilemmata zu überführen. Und auch dies – dass wir transhumanistischen Programmen vielleicht gar nicht mit ängstlich besorgten philosophischen Argumenten begegnen müssen, sondern gelassen den schamlosen Begehrlichkeiten vertrauen dürfen, die sich bloß technischen Gestaltungsfantasien ohnehin nicht unterwerfen.

Literatur Bostrom, Nick: »Letter from Utopia«, in: Studies in Ethics, Law, and Technology, 2/1 (2008), S. 1-7. : »Why I Want to be a Posthuman When I Grow Up«, in: Bert Gordijn/Ruth Chadwick (Hg.): Medical Enhancement and Posthumanity, Berlin: Springer 2008, S. 107-137. Haraway, Donna: »A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and SocialistFeminism in the Late Twentieth Century«, in Donna Haraway: Simians, Cyborgs and Women: The Reinvention of Nature, New York: Routledge 1991, S. 149-181. Khushf, George: »The Ethics of Nanotechnology – Visions and Values for a New Generation of Science and Engineering«, in: Emerging Technologies

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Die Erfindung eines Körpers, der weder organisch gegeben noch mechanisch gemacht ist, entzieht hiernach auch einem Geschichtsbild den Boden, das Connies und Cliffords ursprüngliches Einverständnis definierte und sie im geistigen Leben Zuflucht finden ließ: »This is history. One England blots out another. The mines had made the halls wealthy. Now they were blotting them out, as they had already blotted out the cottages. The industrial England blots out the agricultural England. One meaning blots out another. The new England blots out the old England. And the continuity is not organic, but mechanical« (S. 167). Der geistige Aufstieg wird nicht an die Stelle der physischen Körperlichkeit treten, wenn sich unerhört neue Körper in den Kohlegruben und durch reinigende Feuer schierer Sinnlichkeit bilden.

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IM FEUER SCHIERER SINNLICHKEIT

and Ethical Issues in Engineering, Washington, DC: National Academy of Engineering 2003, S. 29–55. : »Systems Theory and the Ethics of Human Enhancement: A Framework for NBIC Convergence«, Annals of the New York Academy of Sciences, Bd. 1013 (2004), S. 124–149. Lawrence, David Herbert: Lady Chatterley’s Lover [1928]. New York: Barnes and Noble 2005. Nordmann, Alfred: »If and Then: A Critique of Speculative NanoEthics«, in: NanoEthics, Bd. 1/1 (2007), S. 31-46. : »Knots and Strands: An Argument for Productive Disillusionment«, in: Journal of Medicine and Philosophy, Bd. 32/3 (2007), S. 217-236. : »Ignorance at the Heart of Science? Incredible Narratives on BrainMachine Interfaces«, in: Johann S. Ach/Beate Lüttenberg (Hg.): Nanobiotechnology, Nanomedicine and Human Enhancement, Berlin: Lit-Verlag 2008, S. 113-132. Schiller, Friedrich: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. V, hg. von Wolfgang Riedel, München, 2004, S. 570-669.

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Narrative Elemente der Science-Fiction in gegenw ärtigen Visionen von der Ve rbesse rung des Me nsc he n im Kontext konvergierender Technologien STEFAN GAMMEL Abstract: In den Diskussionen um die Verbesserung des Menschen (Human Enhancement) durch neue Technologien werden visionäre Positionen häufig als utopisch oder als Science-Fiction bezeichnet. Ziel dieses Beitrages ist es, zu analysieren, wie diese Zuschreibungen gebraucht werden und welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen technofuturistischer Vision und Science-Fiction-Literatur tatsächlich festzustellen sind.

I. Einleitung In gegenwärtigen Debatten um die Verbesserung des Menschen (Human Enhancement), die meist im Zusammenhang mit neuen bzw. konvergierenden Technologien (NBIC: Nano, Bio, Info, Cogno) geführt werden, ist es gängige Praxis geworden, visionäre Darstellungen wahlweise als Science-Fiction oder als Utopie (bzw. utopisch) zu bezeichnen. Während die Diagnose eines (auch hohen) fiktionalen Gehalts solcher Schriften im Allgemeinen selten bestritten wird, lässt sich in den Debatten beobachten, dass oft zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Fiktionalität unterschieden wird. Gemeint sind sicherlich zunächst die positiven Visionen im Gegensatz zu Horrorszenarien. Negativ bewertet werden aber auch übermäßig weit in die Zukunft ausgreifende Visionen, die potentiell leichter entsprechend negative Reaktionen auslösen oder diskreditierend und beeinflussend wirken können. Je nach 209

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(gesellschaftlicher) Lage ändert sich die Einschätzung, wie nützlich verschiedene Grade der Fiktionalität sind.1 Zuweisungen bezüglich des Gebrauchs fiktionaler Elemente in Texten über Human Enhancement im Kontext konvergierender Technologien werden nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgetauscht, um immer neu die Grenzen zwischen seriöser und ins Phantastische abdriftender Wissenschaft oder Pseudowissenschaft zu ziehen. Ebenso stehen populärwissenschaftliche Darstellungen u. a. in Regierungsbroschüren und Magazinen in der Kritik. In den letzten Jahren ist die Rolle solcher Abgrenzungsversuche stärker thematisiert worden.2 Zum einen wird, anschließend an das Konzept der boundary work3, deutlich, dass Science-Fiction unter diskurstheoretischen Gesichtspunkten dazu dient, in unterschiedlichen Diskursarenen Wissenschaftliches von Unwissenschaftlichem zu trennen. Zum anderen schaffen Motive der Science-Fiction in der governance neuer Technologien durch ihre Verwendung Öffentlichkeit – im positiven wie negativen Sinne; Science-Fiction-Romane regen die Risikodiskussion an. So verwundert es auch nicht, dass sich nach und nach (ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre) die Aufmerksamkeit der Wissenschafts- und Technikforschung sowie der Technikfolgenabschätzung auf ScienceFiction und entsprechende Szenarien richtet. Der Vorwurf eines zu starken fiktionalen Gehalts manifestiert sich sprachlich durch die Verwendung der Bezeichnungen bzw. labels: Science-Fiction, Utopie, utopisch, Vision, Spekulation und Märchen. Diese Etiketten liefern Kritikmotive in zweierlei Hinsichten: Temporal als zu weites Ausgreifen in die Zukunft oder unrealistische Einschätzung der Geschwindigkeit weiterer Entwicklungen. Dies schließt eine Reali1

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Sehr gut lassen sich solche Verschiebungen z. B. anhand des Gebrauchs von futuristischen Abbildungen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten veranschaulichen; vgl. hierzu Andreas Lösch: »Konstitutionen der Nanotechnologie durch ihre Zukunftsbilder«, in: Arianna Ferrari/Stefan Gammel (Hg.): Visionen der Nanotechnologie, Heidelberg: Aka Verlag 2010, S. 105-128. Vgl. z. B. Petra Lucht: »Sciencefiction als diskursive Arena«, Paper für den Workshop: Elemente der Wissensproduktion – Medialitäten von Visionen, Narrativen und Bildern der Nanotechnologie, Darmstadt, 10.11.11.2006 (Entwurf); Petra Schaper-Rinkel: »Nano-Visionen und NanoScience-Fiction in der Governance der Nanotechnologie«, Paper für den Workshop: Elemente der Wissensproduktion – Medialitäten von Visionen, Narrativen und Bildern der Nanotechnologie, Darmstadt, 10.-11.11.2006 (Entwurf). Vgl. Thomas F. Gieryn: Cultural Boundaries of Science: Credibility on the Line, Chicago: University of Chicago Press 1999.

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sierbarkeit der Ideen nicht prinzipiell aus, stellt sie aber außerhalb derzeitiger extrapolativer Anschlussmöglichkeiten. Modal als falsche Einschätzung der (prinzipiellen) Möglichkeit von Entwicklungen, z. B. »That’s the stuff of science fiction and is far from the reality of what nanotechnology is about and what it can do«,4 oder »dass es sich hierbei [das grey-goo-Szenario] um Spekulationen handelt, die eher dem Reich der Science Fiction als ernstzunehmender Problemanalyse entstammen«.5 Richard Smalley kombiniert gar in seiner Zurückweisung der Drexlerschen Nanobots Fantasy mit Technofuturismus: »Selbstreplizierende mechanische Nanobots kann es in unserer Welt einfach nicht geben. Nur Zauberfinger könnten – wie manche Nanotechnik-Visionäre behaupten – jedes Atom einzeln platzieren. Ein solcher Nanobot wird niemals mehr sein als ein futuristischer Traum«.6 Auch werden z. B. Pläne von Autokonstrukteuren zu nanotechnologischen Verbesserungen in folgender Weise kommentiert: »Manche ihrer Vorhaben klingen nach Sciencefiction«, um aber gleich im Anschluss anzumerken: »Doch längst haben Nanowissenschaftler anwendungstaugliche Neuerungen hervorgebracht, die sich in vielen Alltagsgegenständen wiederfinden«7. Durch diese Art der Formulierung, die in den Diskursen des Öfteren (am deutlichsten und häufigsten in popularisierenden Darstellungen) wiederkehrt, wird das Etikett Science-Fiction umgekehrt gebraucht: Die Vorhaben »klingen« nur danach und die Wendung »doch längst« verleiht allen anderen Plänen ein nachdrückliches »noch nicht«, die Betonung liegt aber auf »noch«. So kann die Zuweisung »Science-Fiction« negativ und ausgrenzend sein, sie kann aber auch ins Positive (und Faszinierende, Versprechende) gewendet werden, indem man einem bestimmten Gegenstand oder einer Technologie zuschreibt, sie bewege sich aus diesem Bereich heraus gewissermaßen auf uns zu oder klinge nur danach. Diese letzte Strategie kann man am besten anwenden, wenn es eine bestimmte konkrete Realisierung gibt (und sei sie auch noch so klein), von der es gelingt, eine rhetorische (und extrapolative) Brücke zu zukünftigen Entwicklungen zu schlagen, die rhetorisch Plausibilität oder gar Notwendigkeit vermitteln kann. Außerdem liegt sie auch dann nahe, wenn es die jeweilige Situati4 5

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David J. Sainsbury: »Opportunities and threats«, in: FST journal 8/4 (2004), S. 19. Armin Grunwald: »Ethische Aspekte der Nanotechnologie. Eine Felderkundung«, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 13/2 (2007), S. 76. Richard Smalley: »Chemie, Liebe und dicke Finger«, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial: Nanotechnologie 2 (2001), S. 67; Hervorh. von mir. Björn Lohmann: »Wie Nano das Auto verändert. Autos der Zukunft«, in: Spektrum der Wissenschaft Magazin 26.2.2009 (online). 211

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on in den öffentlichen Diskursen opportun erscheinen lässt, mit ScienceFiction (abgrenzend) zu kokettieren und so Akzeptanz und Ansehen bei verschiedenen Akteuren aus Politik, Gesellschaft und anderen Bereichen zu fördern sowie Bezug auf die aktuelle Dominanz von Utopien und Dystopien zu nehmen. Autoren weiter ausgreifender Visionen jedoch müssen sich angestrengter gegen das Etikett »Science-Fiction« verteidigen. Eric Drexler widmet dieser Frage eine längere Passage in Engines of Creation: »Some, though, may feel that ›sounding like science fiction‹ is somehow grounds for dismissal. This feeling is common and deserves scrutiny.«8 Drexler erklärt im Folgenden, dass ein hauptsächlicher Unterschied zwischen wissenschaftlicher Spekulation und Science-Fiction darin bestünde, dass erstere den aktuellen Stand von Technik und Wissenschaft getreulich in die Zukunft extrapoliere, als »prospects« durchaus mit möglichen Effekten auf Gesellschaft und Individuum, während ScienceFiction gegenwärtige Entwicklungen oberflächlich zurechtbiege und fortspinne, nur um den eigenen Plot plausibel machen zu können. Diese Unterscheidung Drexlers steht freilich auf tönernen Füßen, denn sie gibt nur eine innerhalb der Science-Fiction-Literatur gängige Trennung von hard Science-Fiction und freieren Formen wieder. Eine andere Strategie, der Klassifizierung als Science-Fiction zu entkommen, ist die Schaffung einer »Ahnenreihe«, einer Geschichte zum Beispiel der Nanotechnologie, die Seriosität und Glaubwürdigkeit verleiht. Die Rede »There is plenty of room at the bottom« des berühmten Physik-Nobelpreisträgers Richard Feynman (1959) wurde so als »Beginn« der Nanotechnologie wieder entdeckt, nachdem sie lange Zeit in Vergessenheit geraten war.9 Feynman spekulierte damals darüber, ob es möglich sei, kleinste Strukturen der Materie zu manipulieren. Es ergibt sich eine Art »apostolic succession«.10 Colin Milburn analysiert beide Strategien der Abgrenzung zur Science-Fiction und zeigt auf, dass sie letztlich das Gegenteil erreichen: Sie führen zu einer Verwischung der Grenze, da auch z. B. Drexler am Ende zugibt, dass seine Szenarien Science-Fiction-Charakter hätten.11 Außerdem kann eine Abgrenzungstaktik, wie sie aus der Wissenschafts8

K. Eric Drexler: Engines of Creation. The Coming Era of Nanotechnology, New York: Anchor Books 1986, S. 92f. 9 Christine Peterson vom Foresight Institute konstruiert eine Ahnenreihe sogar noch 30 Jahre weiter zurück, vgl. C. Peterson: »Thirty years before Feynman« (online). 10 Chris Toumey: »Apostolic Succession: Does Nanotechnology Descent from Richard Feynman´s 1959 Talk?«, in: Engeneering & Science 68 (2005), S. 16-23. 11 K. E. Drexler: Engines of Creation, S. 234f. 212

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gemeinde gegen Drexler initiiert wurde, auch dazu führen, dass letztlich zu viel an spekulativen Überlegungen (nach dem Geschmack der Gemeinde) über die »Grenze« aus der seriösen Wissenschaft heraus geschoben wird.12 Ziel dieses Beitrags ist es dagegen, erstens zu prüfen, inwieweit im Falle einiger Texte, die sich mit der Verbesserung des Menschen befassen, tatsächlich von Utopie oder Science-Fiction oder ihren Elementen gesprochen werden kann – anhand zentraler Definitionsmerkmale der literarischen Genres. Zweitens soll gezeigt werden, dass es gerade diese Merkmale bzw. ihre Ausprägungen sind, die z. B. Science-Fiction von futuristischen Texten konvergierender Technologien unterscheiden.

II. Human Enhancement und Utopie Am häufigsten wird Science-Fiction wohl mit den visionären Elementen in Texten zu Human Enhancement assoziiert, doch auch die Utopie als literarisches Genre wird bemüht, besonders wenn es sich um weiter ausgreifende und umfassendere Visionen handelt, die neben der technologischen Entwicklung auch gesellschaftliche Auswirkungen thematisieren. So bezeichnet Bill Joy in Why the future doesn’t need us Ray Kurzweils The Age of Spiritual Machines als Utopie mit dystopischen Szenarien. Ebenso spricht er im Zusammenhang mit Drexlers Texten von utopischer Zukunftsdarstellung oder utopischen Träumen.13 Im Sammelband von Frank Schirrmacher Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den Neuen Menschen träumen werden Eric Drexler und der Physiker und Informatiker Ralph C. Merkle zu einer Gruppe von »Wissenschaftlern und Utopisten« gezählt.14 Die Autoren des viel zitierten NBIC-Berichtes aus dem Jahr 2002 sprechen zwar nicht explizit davon, eine Utopie zu entwerfen, reden jedoch des Öfteren von einem »golden age«15 oder von einer neuen Renaissance.16 12 Vgl. Colin Milburn: »Nanotechnology in the age of posthuman engineering: Science fiction as science«, in: Configurations 10 (2002), S. 280. 13 Bill Joy: »Why the Future doesn’t need us«, in: Wired, 8.04 (2000); http://tinyurl.com/joygoo 14 Frank Schirrmacher (Hg.): Die Darwin AG, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 181. 15 Der Ausdruck spielt in diesem Zusammenhang auf den antiken Mythos von der idealen Urphase der Menschheitsgeschichte an. 16 Mihail C. Roco/William S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Technology, NSF/DOC-sponsored Report, Arlington 2002, z. B. S. x, 1, 6, 201. 213

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Nun ist die genaue Definition dessen, was man unter einer Utopie versteht, keineswegs unumstritten. Dies liegt schon alleine daran, dass Utopie nicht nur ein Begriff der Literaturwissenschaft, sondern auch der Philosophie, Soziologie und Politik ist. Zwischen Thomas Morus, dessen Utopia der literarische Prototyp des Genres ist und ihm seinen Namen gegeben hat, und z. B. Ernst Bloch, für den sich utopisches Ausgreifen über die Wirklichkeit hinaus in allen Manifestationen des menschlichen Geistes findet, liegt eine unüberschaubare Erscheinungsvielfalt des Utopischen. Abgesehen von einer Definition des Begriffs Utopie als pejorativ gebrauchtes Etikett gibt der Philosoph Wilhelm Kamlah einer eng am literarischen Ideal orientierten Definition den Vorzug: »Eine Utopie ist die literarische Fiktion optimaler, ein glückliches Leben ermöglichender Institutionen eines Gemeinwesens, die faktisch bestehenden Mißständen kritisch gegenübergestellt werden.«17

Die Utopie als Aktionsprogramm, als tatsächliche Aufforderung zum Handeln, kam erst auf, als »man sich seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr dessen bewußt wurde, daß der Mensch die politischen, sozialen, dann auch die wirtschaftlichen Institutionen, in denen er sich vorfindet, nicht einfach hinnehmen muß […].«18 Dabei orientiert sich in der klassischen Utopie die Frage nach besseren Institutionen nicht nur an einer Optimierung von organisatorischen Abläufen: »Den Menschen soll es besser gehen, und sie selbst sollen besser werden. In der Sprache des 18. Jahrhunderts ausgedrückt: Es wird zugleich nach dem Glück und nach der Tugend gefragt.«19

Zentrale Fragestellungen der Antike bleiben hier lebendig. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Seeber vertritt eine weniger strenge Definition von Utopie: Es ist ein die Wirklichkeit übersteigender Entwurf einer anderen Gesellschaft, »die besser (Idealstaat) oder auch schlechter als die Wirklichkeit ist, in jedem Falle aber anders sein muß. Eine solche Vorstellung kann in literarischen oder nichtliterarischen Texten vorkommen«; es handelt sich also um »utopisches

17 Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Mannheim: Bibliographisches Institut 1969, S. 17. 18 Ebd., S. 19 19 Ebd., S. 21 214

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Denken«20 in einem allgemeineren Sinne. Die beschriebene andere Ordnung muss jedoch immer als Spiegel auf Missstände der jeweiligen Entstehungszeit verweisen, was die Verwandtschaft der Utopie mit der Satire verdeutlicht. Damit es sich um eine literarische Utopie handelt, muss vom Dargestellten ein überredender Impuls ausgehen durch die »Rhetorik der Fiktion, die durch die Versinnlichung des Abstrakten (Beschreibung, Narration, Dialog) dem Entwurf die Illusion des Wirklichen und ›Wahrscheinlichen‹ gibt«.21 Richard Saage wiederum zeigt detailliert – orientiert an der strengen Definition Kamlahs –, dass sich die gegenwärtigen Visionäre einer Verbesserung des Menschen mit Hilfe der Nanotechnologie (und weiter gefasst der Konvergenztechnologien) nicht auf die klassische Utopietradition berufen können.22 Das Etikett »Utopie« geht mit Zuschreibungen von Märchenhaftigkeit, Zauberei und Science-Fiction eine »trübe Synthese« ein, oft wird einfach begrifflich ungenau und diffus alles so bezeichnet, was »den gegebenen Status quo transzendiert«23. Die Differenzen beginnen schon, wenn man die literarischen Referenzen betrachtet: Klassiker der utopischen Tradition wie Platons Politeia, Thomas Morus’ Utopia, Tommaso Campanellas La città del Sole, Edward Bellamys Looking Backward etc. spielen im Enhancement-Diskurs im Rahmen der NBIC-Technologien keine Rolle. Bei Utopien geht es »[…] im Kern um fiktive gesellschaftliche Modelle, die als institutionelle, sozio-ökonomische, wissenschaftlich-technische und moralische Alternativen auf die krisenhaften Fehlentwicklungen ihrer Herkunftsgesellschaft reagieren […]. In ihnen spielen zwar Wissenschaft und Technik […] eine zentrale Rolle; aber sie sind dem ›guten Leben‹ untergeordnet, weil sie zu dessen Ermöglichung beitragen. Auf ein kurzes Diktum gebracht, dient also die Technik in den positiven Szenarien dem Menschen und nicht umgekehrt.«24 In den Texten der Visionäre der Nanotechnologie und der Converging Technologies ist die Gesellschaft kein zentrales Anliegen, sondern eine anzupassende Größe, welche der technologischen Entwicklung gerecht werden muss. Während »im klassischen Utopiediskurs […] in den positiven Szenarien technologische Innovationen Hand in Hand mit 20 Hans Ulrich Seeber: Die Selbstkritik der Utopie in der angloamerikanischen Literatur. Münster: LIT Verlag 2003, S. 60. 21 Ebd., S. 70. 22 Richard Saage: »Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen und der klassische Utopiediskurs«, in: Alfred Nordmann/Joachim Schummer/ Astrid Schwarz (Hg.): Nanotechnologien im Kontext, Berlin: Akademische Verlagsgesellschaft 2006, S. 179-194. 23 Ebd., S. 181. 24 Ebd., S. 184. 215

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der moralischen Höherentwicklung des Menschen« gingen,25 ist Moral in den nanotechnologischen Verbesserungsfantasien kein Thema, es sei denn in ethischen (Abwehr-)Debatten oder als Gegenstand von GehirnEnhancement.26 Generell wird in der visionären Nanodebatte der Mensch auf das Körperliche reduziert, was materiell z. B. durch Implantate verbessert werden kann. Hierbei wird nicht – wie in den klassischen Utopien – auf die eigene Gegenwart und die Wünschbarkeit von Entwicklungen reflektiert, sondern einem Machbarkeitswahn gehuldigt, der, ausgehend vom Diktum, die Welt Atom für Atom neu zu gestalten, alles ins Reich der Ingenieurskunst verschiebt. In utopischen Werken wie z. B. Morus’ Utopia ist es mindestens Teil einer Rahmenhandlung, das vorgestellte Gesellschaftsmodell auch auf der fiktionalen Ebene kritisch zu hinterfragen. Im klassischen utopischen Diskurs ist bei allen Verbesserungen die Gleichheit aller Individuen ein zentrales Thema, wenn auch nicht schlichte Gleichmacherei. In den Nanovisionen erfolgen Entwicklungen dagegen unter streng kommerziellen Gesichtspunkten. Die klassische Utopie ist überhaupt nur denkbar, wenn man von einer offenen Zukunft und steuerbaren gesellschaftlichen Prozessen ausgeht. Im Gegensatz dazu ist der Ansatz der Konvergenz- und Nanovisionen ein sehr deterministischer: Technischer und darunter subsumiert gesellschaftlicher Fortschritt ist eine Verlängerung der Evolution27 mit anderen Mitteln, der Mensch kann höchstens einzelne Verbesserungen vornehmen und Fehlentwicklungen korrigieren. Aus dieser »evolutionären« Konzeption des Fortschritts speist sich auch die Doktrin der Notwendigkeit, mit der die prognostizierten Entwicklungen eintreten müssen. Vor allem in utopischen Werken seit Thomas Morus, die sich auch formal bewusst in dieser Tradition bewegen, wird dagegen deutlich, dass es sich bei den entworfenen Szenarien um mögliche Zukünfte handelt, um Spiegel der Gegenwart, und damit auch um offene Utopien. Trotz dieser Differenzen gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen klassischen utopischen Vorstellungen von der Verbesserung des Menschen und neueren Enhancement-Vorstellungen aus dem NBIC-Diskurs. Klassische Utopien unterwerfen sich wie die neuen Visionen – im Gegensatz zu Fantasy und Horror – immer mehr oder weniger der diskursiven Logik; allerdings ist in den neuen Visionen der menschliche Intellekt nicht mehr Hauptakteur, sondern selbst Gegenstand der techno25 Ebd., S. 185. 26 Vgl. z. B. M.C. Roco/W.S. Bainbridge: Converging Technologies, z. B. S. 5. 27 Nanovisionäre beziehen sich zwar oft auf »Evolution«, ignorieren aber das zentrale Element des Zufalls. 216

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logischen Entwicklung. Zudem erhob »mit Beginn des 19. Jahrhunderts [...] das klassische utopische Denken den wissenschaftlich-technischen Fortschritt zum Ausgangspunkt des alternativen Szenarios«.28 Hand in Hand mit einer Verschiebung der Utopien von eher statischen RaumUtopien (nicht zeitlich, sondern räumlich getrennt von der Ausgangsgesellschaft der Autoren) zu dynamischeren Zeit-Utopien (in die Zukunft verlagert) wurde die Bedeutung wissenschaftlich-techno-logischer Entwicklungen wesentlich verstärkt. Ebenso setzen die Visionen der Nanound Konvergenztechnologien auf Fortschritte in den Wissenschaften und Technologien, allerdings in einem exklusiven Sinne, denn diese Art des Fortschritts wird zum Überbegriff aller anderen Fortschritte. Unter den oben genannten Gesichtspunkten ergibt sich also eine Grundlage für einen Vergleich zwischen klassischen Utopien und visionären Elementen im Nanobereich, aber eben keine explizite Nähe. Wie Saage feststellt, ist es vielmehr die Quelle des »ursprünglichen Musters der Science-Fiction«,29 aus der sich die konvergenztechnologischen Visionen speisen, was schließlich auch die weiter oben beschriebenen Differenzen bedingt.

III. Science-Fiction Die literarische Gattung der Science-Fiction ist ein Kind des Wissenschafts- und Technikoptimismus des 19. Jahrhunderts.30 Entdecker, Wissenschaftler und Ingenieure sind die Helden des neuen dynamischen Zeitalters, denen z. B. Jules Verne (1828-1905) in seinen Romanen ein Denkmal setzt.31 Anfang des 20. Jahrhunderts erleben dann die so genannten »Pulps« – auf billigem Papier gedruckte Groschenromane – ihre Blütezeit, charakterisiert durch »eventful narrative, a binary code of good and evil, and [...] exotic and wonderful locales«.32 Hugo Gernsback (1884-1967) ist eine zentrale Figur dieser Pulp-Ära: Seine eigenen und die in seinen Magazinen veröffentlichten Science-FictionGeschichten weben simple Plots um ausführlich beschriebene technische 28 R. Saage: Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen, S. 182f. 29 Ebd., S. 184. 30 Vgl. Karlheinz Steinmüller: »Zukunftsforschung und Science Fiction: No Close Encounters?«, in: Klaus Burmeister/Karlheinz Steinmüller (Hg.): Streifzüge ins Übermorgen: Science Fiction und Zukunftsforschung, Basel: Beltz 1992, S. 13-32. 31 Richard Saage: Utopieforschung – eine Bilanz. Darmstadt: WBG 1997, S. 38. 32 Adam Roberts: The history of science fiction. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2006, S. 174. 217

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Neuerungen und Maschinen. Gernsback selbst verfocht den Ansatz, dass Science-Fiction den Lesern didaktisch Wissenschaft und Technik näher bringen solle, weshalb die Handlung von Geschichten letztlich immer nur Beiwerk waren. Insofern kann man Gernsback als Vorläufer der »Hard Science Fiction« betrachten, deren Maxime es ist, technische Entwicklungen dem jeweiligen Stand der Forschung entsprechend möglichst exakt zu extrapolieren, ohne phantastische Elemente.33 Im darauf folgenden »Goldenen Zeitalter« der Science Fiction in den 1940er bis 1960er Jahren, dessen Beginn mit den Schriften und der Herausgeber-Tätigkeit von John W. Campbell (1910-1971) verknüpft ist, bildet extrapolierte Technologie den Hintergrund für »can-do stories about heroes solving problems or overcoming enemies, expansionist humano-centric [...] narratives, extrapolations of possible technologies and their social and human impacts«,34 wobei gesellschaftliche Fragen nebensächlich sind und die Handlung in vielen Fällen ohne Handlungsverlust auf klassische Genres wie Western-, Abenteuer- und Reiseroman, Detektivroman etc. reduzierbar ist.35 Dieses »Goldene Zeitalter« schöpft viele seiner Motive aus den frühen Zukunfts-Romanen von Herbert G. Wells (1866-1946), den technikvisionären Schriften der Naturwissenschaftler John D. Bernal (19011971), John B.S. Haldane (1892-1964) und Julian S. Huxley (18871975) aus den 1920er und 1930er Jahren sowie allgemein aus den daraus hervorgegangenen technofuturistischen Strömungen.36 Neben klassischen Science-Fiction-Motiven wie der Eroberung des Weltraums, künstlichen Menschen, intelligenten Robotern usw. gehören dazu auch Themen posthumanistischer Visionen wie die Verschmelzung von Mensch und Maschine, der Upload des menschlichen »Geistes« in Computersysteme, Weiterführung der Evolution durch menschliche Steuerung etc. Umgekehrt erreicht in dieser Zeit auch die Beeinflussung des Technofuturismus durch die Science-Fiction-Literatur einen Höhepunkt. 33 Vgl. Jeff Prucher (Hg.): Brave new words: the Oxford dictionary of science fiction. Oxford, New York, NY u. a.: Oxford Univ. Press 2007, S. 87. 34 A. Roberts: The history of science fiction, S. 195. 35 Vgl. Florian F. Marzin: »Weltentwürfe: Die Konstruktion von Szenarien in der Science Fiction«, in: Klaus Burmeister/Karlheinz Steinmüller (Hg.): Streifzüge ins Übermorgen: Science Fiction und Zukunftsforschung, Basel: Beltz 1992, S. 235-248; Richard Saage: Utopieforschung - eine Bilanz. Darmstadt: WBG 1997. 36 Für eine Darstellung historischer Zusammenhänge besonders im Bezug auf technofuturistische Strömungen vgl. Christopher Coenen: »Der posthumanistische Technofuturismus in den Debatten über Nanotechnologie und Converging Technologies«, in: Alfred Nordmann/Joachim Schummer/Astrid Schwarz (Hg.): Nanotechnologien im Kontext, Berlin: Akademische Verlagsgesellschaft AKA (2006), S. 195-222. 218

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Autoren wie Isaac Asimov (1920-1992), Arthur C. Clarke (1917-2008) und Robert Heinlein(1907-1988) waren genre-bildende Vertreter technofuturistischer Strömungen und der Science-Fiction-Literatur zugleich; eine Konvergenz, die danach nicht wieder erreicht wird.37 Wenngleich auch bei diesen technofuturistischen Autoren der Goldenen Ära die Fokussierung auf »expansionist humano-centric narratives« dieselbe ist wie in den frühen Magazingeschichten Campbells, so wird hier stärker die Bedeutung technischen Fortschritts und wissenschaftlichen Denkens in den Handlungssträngen betont. Wenn man also davon ausgeht, dass visionäre Texte über die Verbesserung des Menschen im Zusammenhang mit Nano- und Konvergenztechnologien diesen im »Goldenen Zeitalter« der Science-Fiction geprägten »ursprünglichen« Mustern nahe stehen, ist folgendes gemeint: • Motive und Metaphern wie der unermüdliche Ingenieur als Held, der Naturgewalten oder feindlichen Mächten trotzt und sie unterwirft, die Idee der technischen Lösbarkeit aller Probleme, die ständige Verbesserung und heilsbringende Qualität von Technologie und Wissenschaft, Gadgets, die den Fortschritt greifbar machen etc. – eines oder mehrere dieser Elemente bilden das so genannte Novum, eine technische Neuheit, die zeigt, dass die Handlung in einer anderen Welt als der des Lesers stattfindet und diese strukturiert. • Der Chronotopos bezeichnet die zeitlich-räumliche Struktur der fiktionalen Welt, die beschrieben und vom Novum strukturell bestimmt wird. Im Chronotopos bewegt sich die Handlung; es bildet den temporalen und räumlichen Möglichkeitsrahmen und Horizont für Entwicklungen. Dies bezieht sich auch auf so genannte »future histories«, in denen historische Ereignisse geschildert werden, die aus der Zukunftsperspektive der Science- Fiction zu der geschilderten Wirklichkeit geführt haben.38 • Extrapolation und Prognostik: Die technischen Neuerungen, die beschrieben werden, sollen nicht reine Phantasiegebilde sein, sondern gegenwärtige technologische und wissenschaftliche Entwicklungen fortschreiben. Dieser extrapolative Anspruch hat zuallererst die Funktion, Plausibilität zu erzeugen. Die beschriebenen Entwicklungen schließen an die Welt des Lesers an und lassen die Fiktion als eine mögliche Zukunft erscheinen. An diese narrative Technik schließt sich aber häufig auch – vor allem im »Goldenen Zeitalter«

37 Vgl. Patrick Parrinder: Shadows of the Future. H.G. Wells, Science Fiction and Prophecy. Liverpool: Liverpool University Press 1995. 38 Vgl. James Gunn (Hg.): The New Encyclopedia of Science Fiction, New York: Viking Penguin 1988, S. 188f. 219

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der Science-Fiction und in den technofuturistischen Strömungen – ein prognostischer Anspruch an. Ein für Technik und Wissenschaft werbender Ton ist mehr oder weniger fester Bestandteil der golden age Science-Fiction. Offen didaktische Absichten in Gernsbacks Sinne lassen sich heute aber vornehmlich in Aktionen von Wissenschaftsorganisationen oder Regierungen und Behörden wieder finden, wenn es darum geht, »die Öffentlichkeit« für Technik und Wissenschaft zu begeistern.39

Vertreter weit ausgreifender Zukunftsvisionen sind darüber hinaus immer noch stark beeinflusst durch die futuristischen Autoren des »Goldenen Zeitalters«. Robert Freitas Jr., ein »Nanotechnologe«, der besonders auf dem Gebiet der Nanomedizin aktiv ist und der Informatiker Bill Joy sind stark durch diese Science-Fiction-Tradition beeinflusst,40 Drexler selbst schrieb 1995 noch ein Vorwort für die SF-Kurzgeschichtensammlung Nanodreams.41 Eine solche direkte Verbindung zu ScienceFiction-Literatur ist aber inzwischen ein Kriterium, das zum Ausschluss aus dem Kreise »seriöser« Wissenschaft führt, denn auf Abgrenzung wird genau geachtet.42 Darüber hinaus gibt es weitere Gründe, warum Science-Fiction als literarisches Genre und technofuturistische Strömungen seit den 1960er Jahren auseinander treten: Zum einen beeinflussen nicht-literarische, wissenschaftlich-technologische Visionen von Kybernetik, Informations- und Kommunikationstheorien, Biotechnologie etc. wie z. B. künstliche Intelligenz, Unsterblichkeit oder Mensch-Maschine-Schnittstellen den futuristischen Diskurs direkt ohne Umweg über die ScienceFiction.43 Zum anderen entwickelt sich die neuere Science-Fiction weg von den Paradigmen des »Goldenen Zeitalters« hin zu einer »social« Scien-

39 Ein Beispiel ist die »Expedition Zukunft«, ein »Zug der Zukunft«, der 2009 durch Deutschland fuhr und in mehreren Bahnhöfen hielt, um Menschen für die darin beworbenen »Zukunftstechnologien« zu begeistern. Er wird organisiert von der Max-Planck-Gesellschaft, in Zusammenarbeit mit Industrie und Bahn (vgl. z.B. http://tinyurl.com/zukunftszug). 40 Vgl. R. Saage: Konvergenztechnologische Zukunftsvisionen, S. 181. 41 Vgl. Colin Milburn: »Nanotechnology in the age of posthuman engineering: Science fiction as science«, in: Configurations 10 (2002), S. 279. 42 Dies gilt vor allem in der aktuellen US-amerikanischen Debatte. 43 Die wissenschaftlich-technologischen Visionen mögen in einem strengen Sinne nicht-fiktional sein, sie sind aber sicherlich auch nicht faktual, obwohl sie gerne mit dem Gestus auftreten, unmittelbar Gültiges bzw. unmittelbar und notwendigerweise gültig Werdendes zu beschreiben. 220

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ce-Fiction,44 die weniger das Novum als technisch-faszinierendes Gadget in den Mittelpunkt stellt, sondern die sozialen, kulturellen und ethischen Folgen eines Novums thematisiert. Beispiele dieser neueren Science Fiction Literatur, in der es durchaus auch Werke gibt, welche die Veränderung des Menschen etwa durch die Nanotechnologie als Novum thematisieren, sind Neil Stephensons The Diamond Age (1995) und Michael Flynns Nanotech Chronicles (1991). In Diamond Age ist die Nanotechnologie die alles dominierende Kraft, die das Leben bestimmt, da es möglich ist, praktisch alles Molekül für Molekül in »Matter Compilers« zu erzeugen. Trotzdem liegt das Augenmerk der Geschichte eher auf den sozialen und kulturellen Aspekten, die sich in einer solchen Welt ergeben und denen die Hauptprotagonisten ausgesetzt sind. Ähnlich verhält es sich in den Nanotech Chronicles, die in sechs Nano-SF-Geschichten die zukünftige Entwicklung der Nanotechnologien beschreibt, wobei die sechs Hauptprotagonisten jeweils unterschiedliche und nachvollziehbare moralische Positionen einnehmen, die sich im Handlungsverlauf anhand verschiedener Probleme entfalten. Diese Aspekte führen zu einer Distanz zu technofuturistischen Visionen, weshalb solche Science-FictionRomane u. U. auch eine Grundlage für die Auseinandersetzung mit ethischen Problemen der Nanotechnologien in der Ausbildung von Naturund Ingenieurwissenschaftlern liefern könnten.45 Im Gegensatz zu den beiden oben erwähnten Romanen ist Michael Crichtons Prey (2002) weniger geeignet, soziale oder ethische Aspekte zu reflektieren.46 Die Handlung schildert Vorgänge in einem Labor in der Wüste, in dem miniaturisierte Überwachungssysteme entwickelt werden, und aus dem nach einem Unfall Nano-Maschinen entweichen, die sich

44 Dazu gehören Teile des Cyberpunk und der so genannten »New Wave Science Fiction«; vgl. A. Roberts: The history of science fiction. 45 Vgl. Joachim Schummer/Rosalyn Berne: »Teaching Societal and Ethical Implications of Nanotechnology to Engineering Students Through Science Fiction«, in: Bulletin of Science, Technology & Society 25 (2005), S. 459-468. 46 Ein weiteres Beispiel ist Britt Gillettes Conquest of Paradise: An EndTimes Nano-Thriller (2003). Hier treten zum ursprünglichen Muster der Science Fiction noch religiöse Elemente hinzu, indem Nanotechnologie die Technologie ist, deren Einsatz und Macht schließlich in einem kruden Szenario weltpolitischer kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse die Apokalypse auslöst. Im Falle von Michael Crichtons Romas Prey hat sich allerdings gezeigt, dass die negative Rolle der Nanotechnologie wohl weniger auf sie selbst abfärbt als auf das Vertrauen in die politischen und wirtschaftlichen Akteure, die sie einsetzen und für ihren verstärkten Einsatz plädieren (vgl. Michael D. Cobb/Jane Macoubrie: »Public perceptions about nanotechnology: Risks, benefits and trusts«, in: Journal of Nanoparticle Research 6 (2004), S. 395-405). 221

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in der Folge selbst replizieren können, Intelligenz entwickeln und schließlich zu einer Gefahr für die Menschheit werden. Prey ist keine »social« Science-Fiction, sondern eine Mischung aus Abenteuer-SF und Gadget-SF. Allerdings könnte eben dieser Gebrauch der Nanotechnologie als Symbol dazu führen, dass die dargestellten moralisch verwerflichen Handlungen und die daraus entstehenden Gefahren im öffentlichen Diskurs auf die Technologie selbst abfärben: Hier entstehen die Sorgen all derjenigen, die proaktive Gegenmaßnahmen der »Imagepflege« von Industrie und Regierungen einfordern, damit die Akzeptanz von Zukunftstechnologien nicht gefährdet wird.47 Um diese Gefahr geht es letztlich auch Nick Bostrom, einem führenden Vertreter der technofuturistischen Bewegung des Transhumanismus, wenn er in einem Interview zum Verhältnis zwischen Transhumanismus und Science-Fiction Stellung nimmt: »Jonathan McCalmont [JM]: How would you characterise the relationship between trans-humanism and science fiction? Vernor Vinge might well have given you the term ›Singularity‹ but do the catgirls and cyberpunks make your life more difficult? Nick Bostrom [NB]: Personally, I’m not a great fan of science fiction, but this is probably just a matter of taste. Others seem to draw inspiration from science fiction. I would caution those who look to science fiction for insight into what the future might bring to beware of the good story bias. Stories must be interesting in order to sell, and what makes for an interesting story diverges (often radically) from what makes for a plausible forecast. JM: But wouldn’t you agree that the relationship goes deeper than mere representation? After all, noted science fiction author Vernor Vinge (who coined the term »Singularity«) is also a mathematician and a computer scientist. Also, you mentioned earlier that the WTA is concerned with discussing the implications of certain technologies, is that not what a lot of science fiction does? NB: Yes, science fiction does that, and some science fiction does it well. My worry is that even good science fiction serves two masters, truth and entertainment, and entertainment is usually top dog.«48

Bostrom macht zunächst klar, dass er kein Fan der Science Fiction ist und bezeichnet dies als Geschmackssache, eine klare Distanzierung, die wohl zu einer Art von »Abschirmung« seines argumentativen Eintretens 47 Vgl. Diana M. Bowman/Graeme A. Hodge: »Are we really the prey? Nanotechnology as science and science fiction«, in: Bulletin of Science Technology Society 27 (2007), S. 442. 48 Jonathan McCalmont,: »INTERVIEW - Nick Bostrom on the future, transhumanism and the end of the world«, in: SF Diplomat 19.12.2006, http://tinyurl.com/mcsjwk 222

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für den Transhumanismus dient. Der »good story bias« gilt allgemein sowohl für positive als auch für negative Szenarien, allerdings verkaufen sich letztere deutlich besser, was Bostrom sicher auch im Auge hat. Zudem möchten Autoren der Science-Fiction vornehmlich ihre Geschichten verkaufen, Bostrom möchte dagegen mit seinen Geschichten die transhumanistische Agenda verkaufen, was eine Selbstkategorisierung unter non-fiktionalen Texten sinnvoll erscheinen lässt, wenn man sich unter den gegenwärtigen Bedingungen in die forschungs-politische Arena begeben möchte. So möchte Bostrom nicht in den Verdacht geraten, gar zwei Herren zu dienen, es kann nur um die »Wahrheit« gehen. Was aber die »social« Science-Fiction angeht, so lässt sich die Distanzierung zu technofuturistischen Strömungen auch daran bemessen, dass sich diese Art der Science-Fiction immer mehr der klassischen Utopie annähert und es so zu Konvergenzen zwischen beiden kommt.49 Wie bedienen sich nun Transhumanisten wie Bostrom, andere Technofuturisten, popularisierende Vertreter wissenschaftlich-technologischer Visionen und werbende Industrie- und Regierungsbroschüren in ihren non-fiktionalen Texten der Science-Fiction und ihrer Elemente? Sicherlich weisen die als zukünftige Anwendungen vorgestellten Gadgets Ähnlichkeiten zu Elementen aus dem Fundus der Science-Fiction auf. Interessanter jedoch ist es, einen genaueren Blick auf zentrale, die narrative Technik betreffende, Elemente zu werfen: Verwendung des Novums, Chronotop, Extrapolation und Prognostik, Verfremdung. Diese sind sowohl in technofuturistischen Visionen, technologiepolitischen Schriften als auch in Publikationen anzutreffen, die über das Phänomen von Science-Fiction-Szenarien berichten.50

Novum Die Theorie, dass ein Novum eine SF-Geschichte bestimmt, wurde von dem Literaturwissenschaftler Darko Suvin ausgearbeitet. »[SF’s novum] is ›totalizing‹ in the sense that it entails a change of the whole universe of the tale, or at least of crucially important aspects thereof (and it is therefore a means by which the whole tale can be analytically grasped). […] Quantitatively, the postulated innovation [the novum] can be of quite different

49 R. Saage: Utopieforschung, S. 40. 50 Vgl. Petra Schaper-Rinkel: »Nano-Visionen und Nano-Science-Fiction ...«, S. 5f.; Antje Grobe / C. Eberhard / M. Hutterli: Nanotechnologie im Spiegel der Medien: Medienanalyse zur Berichterstattung über Chancen und Risiken der Nanotechnologie. Januar 2001 – April 2005. St. Gallen: Stiftung Risiko-Dialog 2005. 223

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degrees of magnitude, running from the minimum of one discrete new ›invention‹ (gadget, technique, phenomenon, relationship) to the maximum of a setting (spatiotemporal locus), agent (main character or characters), and/or relations basically new and unknown in the author’s environment.«51

Das Novum kann also eine Vielzahl von Formen annehmen, von konkreten Gadgets bis hin zu Beziehungsverhältnissen oder gesellschaftlichen Strukturen. Wie bereits beschrieben wurde, beschränkt sich die ScienceFiction des golden age auf die ersten der von Suvin genannten Beispiele. In Suvins Definition deutet sich schon an, dass es keineswegs immer um ein einzelnes Novum gehen muss. »In vielen neueren SF-Romanen (oder auch manchen Horror-Romanen) besteht die Abweichung jedoch nicht in einem singulären Moment, sondern in einem interdependenten Geflecht von Nova, oft dem Entwurf einer ganzen Welt samt ihren Bewohnern, oder doch zumindest in der Kombination der Veränderung von mehreren (von einander abhängigen oder unabhängigen) Grundparametern.«52

Mehrere, miteinander zusammenhängende Nova können vorkommen, die in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen können: a) Nebeneinander und verschiedenen Bereichen angehörend stellen verschiedene Nova eine Herausforderung für jeden Science-FictionAutor dar, wenn z. B. eine fremdartige Gesellschaftsform und dominante neue Technologien aufeinander abgestimmt eine fiktionale Welt strukturieren. b) Ein übergreifendes Novum (in den visionären Texten z. B. der »neue Mensch« oder die »Nanotechnologie«) wird begleitet von untergeordneten Nova, die eine besondere Erscheinungsform desselben darstellen (z. B. Nanobots, Materie-Konverter, das Konzept der ultimativen Beherrschung der Bausteine der Materie, neu hinzugewonnene körperliche Fähigkeiten). Im Falle »non-fiktionaler« visionärer Nanotexte ist dieses Szenario besonders häufig anzutreffen, da es auch der Textstruktur entgegen kommt: »Drexler’s seminal an influential Engines of Creation, outlining his program for nanotech research, is composed as a series of science-fictional vignettes.«53

51 Darko Suvin: Metamorphoses of Science Fiction, S. 46. Vgl. auch (James 1994: 108) (Prucher 2007: 133) 52 K. Steinmüller: Gestaltbare Zukünfte. Zukunftsforschung und Science Fiction. Gelsenkirchen: Sekretariat für Zukunftsforschung, 1995, S. 14. 53 C. Milburn: Nanotechnology in the age of posthuman engineering, S. 271. 224

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Drexlers Werk setzt sich aus vielen kleinen Vignetten zusammen, die nacheinander verschiedene Sub-Nova der Nanotechnologie behandeln und kleine Szenen entwerfen, die den Leser emotional ansprechen sollen. Sukzessive werden im Text die unterschiedlichen engines vorgestellt, durch die sich die Beherrschung des Nanokosmos vollziehen wird: Engines of Construction (Kapitel 1), Engines of Abundance (Kapitel 4), Engines of Healing (Kapitel 7) etc. In diesen Episoden finden sich regelmäßig Abschnitte wie folgende: »If we succeed […] then you may be honored with endless questions from pesky great-grandchildren: ›What was it like when you were a kid, back before the Breakthrough?‹ and ›What was it like growing old?‹ […] By your answers you will tell once more the tale of how the future was won.«54 »The Tale of the Temple: Once upon a time, there lived a people with an information problem. Though they had replaced their bulky clay tablets with paper, they used it oddly […].«55

Beide hier nur als Ausschnitt zitierte Stellen greifen deutlich auf narrative Techniken zurück, die charakteristisch sind für fiktionale Texte. Das zweite Zitat spielt explizit (»once upon a time«) mit dem MärchenGenre, um den Leser auf das Gefühl der Antiquiertheit einzustimmen, das ihn erwarten soll, wenn er analog zu der Geschichte damit bekannt gemacht wird, wie rückständig die gegenwärtige Technologie gegenüber der »kommenden Ära der Nanotechnologie« ist. Analog »funktioniert« auch der NBIC-Bericht: Die Herausgeber des Berichts geben in einem Überblick die Rahmung vor, in die sich im Weiteren Statements und visionäre Aufsätze zur Verbesserung der menschlichen Kognition, Gesundheit, nationalen Sicherheit etc. einfügen sollen. Auch diese Texte sind geprägt von Nova (Gadgets und Konzepte wie Konvergenz der Technologien), die sich im Einzelnen innerhalb der Aufsätze entfalten. José López analysiert Drexlers Engines of Creation und den NBICBericht bezüglich des jeweils verwendeten Novums und kommt zu dem Ergebnis, dass beide Texte jeweils von einer zentralen, den Text dominierenden Metapher strukturiert werden, der sich weitere Nova beigesellen. Im Falle Drexlers ist dies der »Breakthrough«,56 der Durchbruch in 54 K. E. Drexler: Engines of Creation, S. 239. 55 Ebd., S. 218. 56 José López: »Bridging the Gaps: Science Fiction in Nanotechnology«, in: Joachim Schummer/Davis Baird: Nanotechnology Challenges: Implications for Philosophy, Ethics and Society, Singapur u. a.: World Scientific Publications 2006, S. 339 225

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die Welt der Assembler und atomaren Welt-Baukästen, begleitet vom heldenhaften Ingenieur, der reduktionistischen Maschinen-Metapher etc. Im Falle des NBIC-Berichts ist es die »Konvergenz«57 der Nano-, Bio-, und Informationstechnologie sowie der Kognitionswissenschaften, die im Zentrum der »Erzählung« steht und nach und nach auch Sozial- und Geisteswissenschaften unter dem Paradigma der Reduzierbarkeit der Wirklichkeit auf Atombaukästen und Informationsmuster mit »konvergieren« lässt. Doch abgesehen von dieser verbindenden und strukturierenden Funktion innerhalb dieser »Nanotexte« besitzt das Novum noch eine weitere, nicht minder wichtige Eigenschaft. In vielen Texten der Science-Fiction-Literatur ist das Verhältnis zwischen Novum und dargestellter Welt ein wechselseitiges. Wenn in einer space opera die Handlung um das Novum der Weltraumfahrt gewoben wird, so werden der Bewegungsspielraum der Protagonisten, der herrschende Stand der Technik, die Interaktion innerhalb beschriebener Gesellschaften und zwischen verschiedenen Planeten wesentlich von der Natur und Konzeption der Art der Weltraumfahrt bestimmt. Allerdings findet sich in den seltensten Fällen eine über das Kriterium der Plausibilität hinausgehende Erklärung der Funktionsweise der verwendeten Technologien. Vielmehr erfährt der geneigte Leser mit fortschreitender Handlung und sich entwickelndem Plot mehr über diese Technologien: nicht nur weitere fiktionale technische Details, sondern vor allem, was diese Technologie kann, wozu sie gebraucht wird. Über diese Entfaltung des Potentials wiederum wird die Technologie vornehmlich definiert. In den Texten von Drexler, Bainbridge und Roco und auch des BMBF58 entfaltet sich als eigentliches Novum im Hintergrund »die« Nanotechnologie, die wie ein schwarzes Loch (eine Singularität) all die Szenarien und Vignetten, die über die Möglichkeiten ihrer Anwendung erzählt und ausgeschmückt werden, in sich »aufsaugt«, um erst als wahrnehmbares Objekt daraus hervorgehen zu können. In ihr Gravitationsfeld geraten aber nicht nur die Zweckbestimmungen verschiedener Anwendungen, sondern auch die Zeitlinien und die Konzeption der Zukunft, die von einem offenen Entwicklungsraum zu einer definitorischen Notwendigkeit verengt werden. Kleinere Texte wie Werbebroschüren oder Informationsmaterial wirtschaftlicher oder politischer Akteure über die Nanotechnologie bieten zwar keinen längeren homogenen Text, der ein Novum entwickelt, sie profitieren aber von den im Diskurs etablierten Nova, die aufgegrif57 Ebd., S. 364. 58 Vgl. z. B. Mathias Schulenburg: Nanopartikel – Kleine Dinge, große Wirkung, Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung 2008. 226

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fen werden und als Zentrum dienen, um Bezug auf etablierte Definitionen zu nehmen und diese beeinflussen zu können.

Der Chronotopos Der Chronotopos (griechisch: Zeit-Ort) wurde als Begriff durch den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin aus den Naturwissenschaften entlehnt und geprägt,59 nach dem Raum und Zeit in einer Erzählung eine Einheit bilden, und je für verschiedene Literaturgattungen unterschiedlich aufeinander bezogen sind und die Handlung unterschiedlich strukturieren. Dabei kommt es auf die Gestaltung der Schauplätze und ihre Darstellung an, ebenso wie auf die Handlungs(zeit)räume der Figuren in der Erzählung und Strukturen des Ablaufs von Geschehnissen im Bezug auf Handlungsort und Zeit. Der Chronotopos ist also die Kombination aus Landkarte und Zeitstrahl oder -zyklus. Bachtin selbst wandte seine Theorie auf die Analyse klassischer Literaturgattungen an wie den Schelmenroman, den griechischen Roman oder den Ritterroman. Während der Begriff bei Bachtin recht schillernd ist und kultur-, gattungs-, erzähltheoretische, gestalterische und produktions- und rezeptionsästhetische Dimensionen hat, verengt sich seine Bedeutung bei der Übertragung auf das Genre der Science-Fiction deutlich. Suvin (1979) machte den Begriff fruchtbar für die Analyse der Struktur eines SFRomans, wobei sich hier das »Zentrum« des Chronotopos in die beschriebene Zukunft verlagert und auf ihre »Geschichte«. Istvan Csicsery-Ronay fasst den Chronotopos in der SF so zusammen: »[A] chronotope is a literary ›space-time‹ where fictional things work according their own particular laws of time and space. Sf [science fiction] works generally depict one or more special chronotopes that are wonderfully strange and ultimately shockingly vast and powerful.«60

In der Science-Fiction als »Zukunfts-Genre« hat der Chronotopos zwei Dimensionen: eine synchrone, die Struktur der Raum-Zeit der beschriebenen Welt, und eine diachrone, welche die innere Entwicklungsmechanik dieser Welt beschreibt und im Sinne einer »future history« erklärt, wie und aufgrund welcher Umstände sich die Wirklichkeit des Lesers 59 Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.; Michael Wegner: »Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michail Bachtins«, in: Weimarer Beiträge 8 (1989), S. 1357-1367. 60 Istvan Csicsery-Ronay Jr.: »The Seven Beauties of Science Fiction«, in: Science Fiction Studies 23 (1996), S. 385-392. 227

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und Autors historisch zu der im Roman beschriebenen entwickelt hat. Wie von Csicsery-Ronay beschrieben, soll von diesen Chronotopoi eine Faszination ausgehen, als literary devices ziehen sie den Leser in ihren Bann, doch in ihrer verknüpfenden Kraft bestimmen sie auch tiefere Strukturen der Erzählung. Denn die »future history« ist ein extrapolatives Konstrukt, das technologische und gesellschaftliche Strömungen der Gegenwart fort spinnt. Von der Natur des Chronotopos hängt es letztlich maßgeblich ab, ob es sich dabei um die Darstellung alternativer Entwicklungen unter dem Primat der Plausibilität, der Prognostik oder gar des Determinismus handelt. Im Chronotopos finden sich die eigentliche Konzeption des Autors von »Zukunft« und das jeweilige Weltbild, das vor allem den non-fiktionalen Visionen zugrunde liegt. Ein Element, das wesentlich den Chronotopos bestimmt, ist das Novum, auf das alle Eigenschaften der Erzählung bezogen sind. Chronotopos und Novum bilden so eine untrennbare Einheit, da eines das andere bedingt. Vor diesem Hintergrund analysiert López Drexlers Engines of Creation und den NBIC-Bericht. Er zeigt auf, dass »[w]hat Drexler’s text achieves, unwittingly or not, is a narrative that re-ontologizes the past, present, and future. This is achieved by rebuilding the world synchronically and diachronically around the Breakthrough, the arrival of the molecular assembler.«61 In Drexlers Text wird die gesamte Welt unter dem Blickpunkt des atomaren Baukastens konzipiert und im Blick auf die Metapher der »Maschine«. Alles, was sich repliziert, also auch DNA, ist letztlich eine Maschine, die man verbessern kann. Oder man baut gleich ganz neue Maschinen wie Nanobots, um die »alte« Natur durch eine bessere zu ersetzen. Durch diese Nova wird synchron eine neue Welt vorgestellt, in der ausnahmslos alles auf spezifische maschinenhafte Konfigurationen von Atomen und Molekülen reduzierbar ist, diachron werden sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit dieser Konzeption unterworfen.62 Die Entwicklung hin zu einer nanotechnologischen Zukunft wird quasi-evolutionär deterministisch als unausweichlich dargestellt. Diese durch extremen Reduktionismus erkaufte Unausweichlichkeit wird greifbar in den beiden Dimensionen des Chronotopos, die Drexler in Engines of Creation entwickelt. Genau hier zeigt López, wie die Analyse der narrativen Techniken Einsicht gewährt in die Art und Weise, wie sich 61 J. López: Bridging the Gaps, S. 340. 62 »Our ability to arrange atoms lies at the foundation of technology. We have come far in our atom arranging, from chipping flint for arrowheads to machining aluminum for spaceships.« (K. E. Drexler: Engines of Creation, S. 3) 228

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eine Weltanschauung hinter scheinbar (nach eigenem Anspruch) primär wissenschaftlichen Überlegungen verbirgt. Der Mehrwert, den eine Analyse narrativer Techniken in visionären Nanotexten erzielt, ist zudem, dass der fiktionale Gehalt auch in seiner Funktion im »Gesamtplot« greifbar und kritisierbar wird. Besonderes Augenmerk muss darauf liegen, offen zu legen, wie sich die chronotopischen Strukturen visionärer Texte über ihren unmittelbaren Kontext hinaus in eine Debatte ausdehnen und z. B. ethische Diskurse indirekt strukturieren, indem sie ihnen ihre Zukunftskonzeption einprägen.

Verfremdung Ein weiteres – ebenfalls von Suvin in den SF-Diskurs eingeführtes – Element des Genres Science-Fiction, das eng mit Novum und Chronotopos zusammenhängt, ist die Verfremdung:63 Die Spannung zwischen der Erfahrung des Lesers in der jeweiligen Alltagswelt und dem Novum »[…] estranges the empirical norm of the implied reader. […] Clearly the novum is a mediating category whose explicative potency springs from its rare bridging of literary, extraliterary, fictional and empirical, formal and ideological domains […].«64 Verfremdung ist letztlich also eine Funktion des Novums, das durch seine Neuheit und Andersartigkeit die empirische Norm des impliziten Lesers unterläuft und Automatismen der Wahrnehmung außer Kraft setzen soll. Suvin bezieht sich in seinem Konzept der Verfremdung explizit auf Brecht und Viktor Shklovsky,65 deren Begriffe der Verfremdung (VEffekt) und ostranenie (Seltsammachen) er aber auf seine eigene Art und Weise auf die Science-Fiction als Gattung anwendet. Für Shklovsky ist ostranenie das Aufbrechen von Sehgewohnheiten und Automatismen; in der Literatur geschieht dies z. B. durch »neue Sprachbilder oder ungewohnte Erzählstrategien«.66 Brechts Begriff von Verfremdung67 weist weitgehende Überschneidungen mit der ostranenie auf, »bei ihm erhält

63 Bei Suvin (cognitive) estrangement, in der englischsprachigen Literatur auch alienation oder de-familiarization genannt (vgl. Simon Spiegel: »Der Begriff der Verfremdung in der Science-Fiction-Theorie«, in: Quarber Merkur 103-104 (2006), S. 13). 64 D. Suvin: Metamorphoses of Science Fiction, S. 64. 65 Ebd., S. 6. 66 S. Spiegel: Der Begriff der Verfremdung, S. 14. 67 »Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber gleichzeitig fremd erscheinen lässt.« (Bertolt Brecht: »Kleines Organon für das Theater« (1949), in: ders.: Schriften zum Theater. Bd. 7, 1948–1956, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964, S. 32). 229

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der Begriff aber zusätzlich eine dezidiert didaktische und politische Note und wird klar auf die Rezeption bezogen«.68 Suvin integriert die verschiedenen Ebenen, auf denen Verfremdung stattfinden kann, für seine Poetik der Science-Fiction auf sehr unterschiedliche Art und Weise.69 Hauptsächlich ist Verfremdung aber in der SF-Literatur und im Film ein Mittel, um durch ein verfremdetes Zukunfts-Szenario Seh- und Lesegewohnheiten des Rezipienten aufzubrechen, um ihm einen neuen Blick auf vermeintlich Altbekanntes zu eröffnen. Science-Fiction (in ihrer anspruchsvolleren Variante) ist damit ein gegenwartsbezogenes Genre, das gegenwärtige Tendenzen extrapolierend verfremdet und als Spiegel vorhält. In den Pulp-Varianten der Science-Fiction dagegen wird Verfremdung höchstens als Unterhaltungselement eingesetzt. Eric Drexlers Engines of Creation weist eben diese Eigenschaften der Verfremdung auf: Durch die Ausdehnung des Chronotopos von der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit hinein, durch die ReOntologisierung der Gegenwart unter der Begrifflichkeit des Atombaukastens und der Maschinen-Metapher wird einerseits das Fremde (nämlich die schöne neue Nanowelt) vertraut gemacht und gleichzeitig wird das Vertraute (die empirische Norm des impliziten Lesers) verfremdet, indem die »Nanomaschinerie« als die schon immer eigentliche Realität beschrieben wird.70 Und weiter: indem tiefgreifende Veränderungen des Menschen vertraut werden, wird die vertraute menschliche Konstitution gleichzeitig verfremdet, um schließlich die wisdom of repugnance zu unterlaufen. Der entscheidende Unterschied, der in Engines of Creations wie auch in anderen visionären Enhancement-Texten vorliegt, ist, dass die Spiegelfunktion außer Kraft gesetzt wird. Es gibt keine Distanz zwischen der angenommenen Realität des Lesers und der vorgestellten »zukünftigen« Welt, das eine ist nur die bald obsolete Vorstufe des anderen in einer notwendigen Entwicklung: In diesen Texten dient Verfremdung nicht dem Aufweisen von Alternativen durch einen frischen Blick auf das Gegebene, sondern dazu, den Rezipienten so aus seiner »Verankerung« in seiner Lebenswelt zu reißen, dass diese »unter seinen Füßen« als Defizienzmodus einer Zukunft neu konstruiert werden kann, welche die eigentliche Realität ist.

68 S. Spiegel: Der Begriff der Verfremdung, S. 15. 69 Ebd., S. 19. 70 Vgl. José López: Bridging the Gaps, S. 338. 230

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I V. S c h l u s s Als ein Fazit kann man festhalten, dass die visionären Texte über Human Enhancement und die neuen Technologien allgemein keine ScienceFiction-Literatur sind, sondern Motive und Genremerkmale der ScienceFiction so verwenden, dass zentrale Eigenschaften des literarischen Genres in den Dienst eines latenten Weltbildes gestellt werden, insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit »Zukunft«. Ein Vergleich der technologischen Visionen mit klassischen Utopien und den vielen Facetten des Genres der Science-Fiction ermöglicht es aber, die narrativen Elemente der Science-Fiction zu identifizieren, derer sich der visionäre Diskurs bedient. Die unterschiedliche Verwendung der narrativen Elemente kann als Folie genutzt werden, vor deren Hintergrund Strategien und Strukturen der visionären Diskurse identifiziert werden können, die auch in diskursiven Arenen gebraucht werden, welche den Visionen (zumindest vordergründig) nicht nahe stehen.

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Die Romane von Michel Houellebecq als literarischer Hintergrund für die Bew ertung von technologischen Perfektionierungsidealen 1 ANDREAS WOYKE Abstract: Als charakteristisch für moderne Lebensentwürfe kann das Bedürfnis angesehen werden, widersprüchliche Strukturen der Realität und der eigenen Existenz zu leugnen oder gar zu überwinden. Dabei trifft man in vieler Hinsicht auf ein seltsames Gemisch aus romantizistischer Weltflucht und technizistischer Machbarkeitsethik. Michel Houellebecq gelingt es in seinen Romanen, diese seltsamen Brechungen im modernen Bewusstsein eindringlich zu beleuchten. Er macht uns dabei sowohl die große Verführungskraft innerhalb verschiedener Versuche deutlich, menschliche Lebens- und Seinsformen z. T. rigoros im Sinne einer »Verbesserung« zu verändern, als auch die möglichen katastrophischen Folgen eines Scheiterns solcher Versuche. Die nähere Beleuchtung und Interpretation dieser Zusammenhänge soll dafür genutzt werden, aktuelle Zukunftsperspektiven im Blick auf eine technologische Perfektionierung des Menschen kritisch zu hinterfragen.

1

Für den vorliegenden Aufsatz wurde ein online publizierter Text gekürzt und überarbeitet (vgl. Andreas Woyke, »›Melancholische Sinnsuche‹ und ›sozio-technologische Machbarkeitsphantasien‹ bei Michel Houellebecq – Folie für die Bewertung aktueller Zukunftsperspektiven?«, in: Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kunst. Im Netz 6, 2006). 235

ANDREAS W OYKE

I . M o d e r n e Te n d e n z e n z u r Au s b l e n d u n g u n d Ü b e rw i n d u n g vo n W i d e r s p r ü c h e n Moderne Lebensentwürfe sind in vieler Hinsicht durch eine »Struktur der Widersprüchlichkeit« bestimmt,2 in der noch vorhandene Reste traditioneller Orientierungen und der ikonoklastische Drang nach dem immer wieder Neuen einander gegenüberstehen. Das Programm der Moderne ist vielleicht gerade deswegen von der Tendenz bestimmt, »Widersprüche entweder nicht wahrhaben oder aber sie aufheben zu wollen«.3 Hierbei treffen wir sowohl auf romantizistische als auch auf technizistische Ansätze zur Ausblendung oder Beseitigung widersprüchlicher Strukturen. Ausdruck einer romantizistischen Sinn- und Glückssuche sind die Flucht vor dem Neuen, vor einer kalten funktionalistischen Welt und der Versuch, eine realitätsferne und häufig emotional flache Harmonie zu stiften. Scheint ein solcher Romantizismus technologischen Machbarkeitsphantasien prima facie diametral entgegenzustehen, so tendieren diese beiden Orientierungen in der Moderne dazu, sich gegenseitig miteinander zu verschränken. Vielfach sind weder die persönliche Lebensführung noch die Gestaltung der Gesellschaft durch das Bemühen um einen konstruktiven Umgang mit dem Spannungs-verhältnis zwischen Freiheitsdrang und dem Widerstand verschiedener externer Strukturen bestimmt. Die Romane und andere Texte von Michel Houellebecq bilden m. E. gerade wegen ihren melancholischen und sarkastischen Brechungen einen äußerst instruktiven Hintergrund, um die Destruktivität aller technologischen und romantizistischen Heils-versprechungen zu bedenken und für die Verwirklichung differenzierterer Perspektiven zu sensibilisieren. Sie dienen daher im Folgenden dazu, die widersprüchliche Struktur deutlich zu machen, die aus der Konfrontation zwischen melancholischer Sinn- und Glückssuche und technologischen Machbarkeitsphantasien resultiert. Abschließend soll es darum gehen, diese Überlegungen in kritischer Perspektive auf aktuelle Legitimationen verschiedener Varianten einer technologischen Verbesserung der menschlichen Konstitution zu beziehen.

I I . Vo n d e r » Au sw e i t u n g d e r K a m pf z o n e « z u r s c h ö n e n n e u e n We l t d e r » E l e m e n ta r t e i l c h e n « Michel Houellebecq macht in seinen Texten und öffentlichen Äußerungen das Spannungsverhältnis zwischen melancholischer Glückssuche 2 3

Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 106ff. Ebd., S. 106.

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DIE ROMANE VON MICHEL HOUELLEBECQ

und technologischen Machbarkeitsphantasien in besonders eindringlicher Weise zum Gegenstand und zeigt uns sowohl den außerordentlichen Reiz technologischer Verbesserungsszenarien als auch ihr genuines Missverhältnis gegenüber der melancholisch gebrochenen Suche nach Sinn und Glück in einer »sinnlos« gewordenen Welt. Das Hineinlaufen in die grundlegenden Aporien eines auf der Basis instrumenteller Prämissen machbaren »guten Lebens« kann geradezu als Grundzug der Antihelden seiner Romane angesehen werden. Schon in seinem Erstlingswerk Ausweitung der Kampfzone begegnet uns ein desillusionierter, am allgemeinen Gegeneinander der Menschen und an der Kälte des zwischenmenschlichen Umgangs scheiternder Protagonist, der vom Selbstund Weltekel getrieben letztlich nur die Flucht aus der Welt zu wählen vermag: »Ich spüre meine Haut wie eine Grenze; die Außenwelt ist das, was mich zermalmt. […] Die sublime Verschmelzung wird nicht stattfinden; das Lebensziel ist verfehlt. Es ist zwei Uhr nachmittags.«4

In dem Roman Elementarteilchen wird der Konflikt zwischen Sinnsuche und optimistischem Machbarkeitswahn eindringlich deutlich: Hier ist es nicht mehr nur ein einzelner Melancholiker, der an der Selbstwidersprüchlichkeit modernen Bewusstseins zerbricht, hier wird uns die ambivalente Dynamik sozio-technologischer Heilsgewissheiten gezeigt, für die man sich begeistern kann, auch wenn man ahnt, dass sie ins Leere laufen werden. Houellebecq schildert das glücklose Leben der beiden Brüder Djerzinski, die in grundverschiedener Weise mit dieser Glücklosigkeit umzugehen versuchen: Bruno lebt in destruktiver Weise seine sexuellen Obsessionen aus, Michel verliert sich an die Träume einer molekularbiologischen Verbesserung des Menschen. Die praktische Umsetzung dieser Träume führt letztlich zu einer durchgängigen »metaphysischen Wandlung«, die alle bestehenden gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Wertvorstellungen ins Abseits stellt und zu einer völlig neuen Weltordnung führt. Während Bruno sein Heil in hem-mungslosem Sex sucht, erkennt Michel schon früh, dass das menschliche Dasein »enttäuschend, voller Beklemmung und Bitterkeit« ist,5 weshalb er Trost in der Reinheit der Mathematik zu finden versucht. Als Doktorand nimmt er an den revolutionären Experimenten des Physikers Alain Aspect teil, welche den Nachweis erbringen, dass zwischen Elementar4 5

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone, übers. von Leopold Federmair, Hamburg: Rowohlt 2000, S. 170. Michel Houellebecq: Elementarteilchen, übers. von Uli Wittmann, Köln: DuMont 1999, S. 74. 237

ANDREAS W OYKE

teilchen nichtlokale Wechselwirkungen im Sinne der so genannten EPRKorrelationen bestehen. In dieser Zeit lernt Michel den Molekularbiologen Michel Desplechin kennen, der das mangelnde Verständ-nis der Mechanistik genetischer Manipulationen gerade auf die besonderen Phänomene der Quantenwelt zurückführt. Er entschließt sich, die Erforschung dieser Zusammenhänge zum Thema seiner Habilitation zu machen. Bruno lebt derweil in der Überzeugung, dass der »letzte Mythos des Abendlandes besagte: Sex ist gesund; Sex ist möglich und gesund«.6 In einem Sexclub lernt er Christiane kennen, in die er sich verliebt und die ihn dazu führt, seinen bisherigen Lebensstil zu überdenken. Eine zentrale Passage des Romans ist die Diskussion von Bruno und Michel über Aldous Huxleys Brave New World von 1932. Bruno spricht seine Verwunderung darüber aus, wie weitgehend Huxleys Voraussagen in der Folgezeit realisiert wurden: Der Zeugungsvorgang unterliegt einer immer stärkeren Kontrolle, was in Zukunft zu einer völligen Trennung von Zeugung und Sex und einer sterilen Reproduktion des Menschen unter Laborbedingungen führen wird. Weder familiäre Bindungen noch unterschiedliche Lebensalter werden dann noch eine maßgebliche Rolle spielen. Wenn sich der Alterungsprozess nicht mehr eindämmen lässt, werden die Menschen ein schnelles und gänzlich undramatisches Ende durch Euthanasie wählen. Huxley beschreibt insofern »eine glückliche Gesellschaft, die keine Tragödien und keine extremen Gefühle mehr kennt«.7 Sexuelle Freiheit ist im vollen Umfang verwirklicht, jeder kann sich seiner persönlichen Entfaltung und den sinnlichen Begierden hingeben und alle negativen Gefühle wie Depression, Trauer, Zweifel und Wut lassen sich durch den Einsatz von Psychopharmaka beseitigen: »Das ist genau die Welt, auf die wir heute zustreben, die Welt, in der wir leben möchten.«8 Bruno ist sich im Klaren darüber, dass Brave New World gewöhnlich als eine Dystopie interpretiert wird, aber er hält das für pure Heuchelei: Eine durchgängige Kontrolle aller biologischen Funktionen, sexuelle Freiheit und eine allgegenwärtige Freizeitkultur sind genau das, was sich die meisten Menschen wirklich wünschen. Der einzig problematische Aspekt an Huxleys Utopie ist in der hierarchischen Aufteilung der Menschen in Kasten und deren gezielter genetischer Zucht zu sehen. Auch wenn Huxley sich hier geirrt hat, so kommt ihm doch das Verdienst zu, als einer der ersten erkannt zu haben, dass die Biologie die künftige Leitdisziplin sein wird. Für Michel ist dies nicht weiter verwunderlich, da Huxley »aus einer großen Familie engli-

6 7 8

Ebd., S. 147. M. Houellebecq: Elementarteilchen, S. 177. Ebd.

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DIE ROMANE VON MICHEL HOUELLEBECQ

scher Biologen stammt«.9 Sein älterer Bruder Julian stellt schon 1931 Überlegungen zur genetischen Kontrolle und Verbesserung des Menschen an und betont dabei explizit, dass hierin äußerst wünschenswerte Ziele zu sehen sind.10 Aldous Huxley bemüht sich zwar in der Folgezeit darum, den Eindruck zu verfestigen, dass es sich bei Brave New World um eine kritische Gesellschaftssatire handelt, aber er wird auch zu einem wichtigen Ideengeber der Hippiebewegung, indem er für sexuelle Befreiung und den Konsum psychoaktiver Drogen eintritt.11 In seinem letzten Roman Island von 1962 entwirft er die Utopie eines paradiesischen Inselstaates, in dem freie Liebe und friedliches Zusammenleben auf der Grundlage eines hohen technologischen Entwicklungsstandes verwirklicht sind. Für Michel unterscheidet sich diese Idyllik letztlich wenig von der, welche uns bereits Brave New World zeigt. Die metaphysische Wandlung, die sich seiner Meinung nach durch die modernen Wissenschaften ergeben hat, prägt die für die Moderne bestimmenden Tendenzen des Rationalismus und Individualismus, die allerdings notwendig auseinanderklaffen und sich nicht in einem utopischen Gesellschaftsentwurf vermitteln lassen. Gerade der Drang nach Individualisierung, getrieben von der Angst vor Alter und Tod, unterläuft letztlich alle Unternehmungen, die darauf setzen, Glück und Sinn in gesellschaftlicher Perspektive herzustellen. Wenn der ökonomische Wettbewerb durch das Angleichen wirtschaftlicher Unterschiede relativiert und Sexualität von der Bindung an Fortpflanzung befreit sind, dann lebt das Konkurrenzprinzip einschließlich seiner aggressiven Anteile im sexuellen Wettbewerb weiter. Das Ideal friedlichen Zusammenlebens in einer an purer Vernünftigkeit orientierten Gesellschaft mit freier und ungebundener Liebe erweist sich demnach als eine folgenschwere Illusion: »Die sinnliche Begierde an sich – im Gegensatz zur Lust – ist eine Quelle des Leidens, des Hasses und des Unglücks. Das haben alle Philosophen […] gewusst und gelehrt.«12

9 10 11 12

Ebd., S. 178. Vgl. hierzu den Beitrag von Reinhard Heil in diesem Band. Vgl. hierzu den Beitrag von Nicolas Langlitz in diesem Band. M. Houellebecq: Elementarteilchen, S. 181. Der Lösungsansatz dieses Problems bei den großen Utopisten – »von Platon über Fourier bis hin zu Huxley« – bestand nach Michel darin, »die sinnliche Begierde und das Leiden, das damit verbunden ist, zu stillen, indem sie deren unmittelbare Befriedigung organisieren«. Die moderne Gesellschaft fördert dagegen »die sinnliche Begierde in unerhörtem Ausmaß«, weist deren Befriedigung aber der Privatsphäre zu (ebd., S. 181f.). 239

ANDREAS W OYKE

Eine wirkungsvolle Utopie für alle muss daher Wege weisen, um die Menschen von der sinnlichen Begierde und dem mit ihr verbundenen Leiden zu befreien. Michel empfiehlt eine forcierte Anregung der menschlichen Libido und die Organisation von gesellschaftlich etablierten Formen ihrer unkomplizierten Stillung. Bruno insistiert auf »humanistischen Korrektiven«, wie sie bei Huxley in Brave New World durch die Wunderdroge Soma und in Island durch Meditationstechniken, den Gebrauch von Halluzinogenen oder hinduistische Praktiken realisiert sind. Michel findet diese Verquickung zwischen sozio-technologischer Machbarkeit und religiösen Heilsvorstellungen auch bei Julian Huxley wieder: Als Naturwissenschaftler kommt er nicht an der Einsicht vorbei, dass die materialistische Weltsicht dem religiösen Sinnverlangen der Menschen massiv entgegenwirkt, aber er gesteht auch zu, dass »Religion« auf die eine oder andere Weise letztlich ein unverzichtbares Element jeder Gesellschaft ist. Sein Versuch, eine Art von wissenschaftskompatibler Religion zu formulieren, erscheint Michel aber nicht nur wenig überzeugend, er betont auch, dass es bisher nicht wirklich gelungen ist, ein rationales Weltverständnis mit einer sinnvollen Lebensorientierung zu verbinden: »Da jede Hoffnung auf Vereinigung durch die Gewissheit des materiellen Tods vernichtet wird, ist es unvermeidlich, dass sich Eitelkeit und Grausamkeit weiter ausbreiten. Und in ihrer kompensatorischen Funktion […] ergeht es der Liebe genauso.«13

Bruno und Christiane sehen ihr Glück gerade durch die Unvermeidlichkeit des physischen Verfalls bedroht: Die sexuelle Vereinigung erlaubt ihnen eine temporäre Aufhebung ihrer individuellen Existenz und eine Eindämmung ihrer Melancholie, doch dieses Glück ist immer nur von kurzer Dauer und verliert durch den Zwang zu ständiger Wiederholung zunehmend an Qualität. Während Michel durch seine Forschung zur Veränderung der Welt beiträgt, erkennt sich Bruno als völlig nutzlos, da er über keinerlei praktische Fähigkeiten verfügt und letztlich völlig von einer funktionierenden Gesellschaft abhängig ist. Auch Michel erlebt deprimierende Momente in seiner wissenschaftlichen Arbeit und trifft seine desillusionierte Jugendliebe Annabelle wieder. Houellebecq charakterisiert die Hoffnungslosigkeit einer glücklichen Beziehung zwischen den beiden wie folgt:

13 M. Houellebecq: Elementarteilchen, S. 182f. 240

DIE ROMANE VON MICHEL HOUELLEBECQ

»Inmitten des Selbstmords der westlichen Welt war es klar, dass sie keine Chance hatten. Dennoch trafen sie sich weiterhin ein- oder zweimal in der Woche.«14

Die Glückssuche von Bruno und Christiane findet ein abruptes Ende, als Christiane in einem Swinger-Club nach mehrfachen Penetrationen einen Schwächeanfall erleidet und ihre Beine fortan gelähmt sind. Da Bruno sich zu spät dafür entscheidet, bei ihr zu bleiben und sich um sie zu kümmern, entscheidet sie sich für den Selbstmord. Für Bruno öffnet sich die Bodenlosigkeit seiner Existenz wieder in ihrer vollen Abgründigkeit: »Er wusste, dass sein Leben zu Ende war, ohne dieses Ende zu begreifen. Alles blieb düster, schmerzhaft und undeutlich.«15

Auch Michel sieht sich wieder ganz auf sich verwiesen, als Annabelle in Folge einer Krebserkrankung ins Koma fällt und bald darauf stirbt. Es bleibt ihm nur die Ahnung, ihr einige Zeit das Gefühl gegeben zu haben, geliebt zu werden. Er stürzt sich nun ganz in seine wissenschaftliche Arbeit und arbeitet verbissen an einer umfassenden Theorie zur allgemeinen Verbesserung des Menschen, in der er die Großtheorien der modernen Physik mit der Genetik und Molekularbiologie zu verbinden versucht. Dabei erkennt er die geschlechtliche Fortpflanzung als wesentliche Quelle unserer Sterblichkeit. Die Einsichten der Quantenmechanik führen ihn im Bezug auf Auguste Comte zur Forderung, dass auch im sozialen Bereich eine objekt- durch eine zustandsbezogene Ontologie zu ersetzen sei und sich nur auf diesem Wege Brüderlichkeit, Sympathie und Liebe ins menschliche Zusammenleben zurückholen ließen. So wie die materialistische Philosophie und Wissenschaft den Menschen von Gott befreit haben, so wirkt die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie gleichsam als eine Befreiung von der »Vorstellung einer unsichtbar vorhandenen Realität«.16 Seine Bekanntschaft mit den Illustrationen des irischen Book of Kells und seine Erinnerung an eine mögliche Liebe zu Annabelle bilden den Hintergrund dafür, »durch eine – wenn auch etwas gewagte – Interpretation der Postulate der Quantenmechanik die Bedingungen zur Möglichkeit der Liebe wiederherzustellen.«17 Der nach Michels späterem Selbstmord unter dem Titel Prolegomena zu einer vollkommenen Replikation publizierte Aufsatz wirkt wie eine Schockwelle auf die scientific community: Weltweit versuchen Molekularbiologen, 14 15 16 17

Ebd., S. 269. Ebd., S. 284. M. Houellebecq: Elementarteilchen, S. 338. Ebd., S. 342. 241

ANDREAS W OYKE

die vorgeschlagenen Experimente zu reproduzieren und die Berechnungsergebnisse zu bestätigen. Die praktischen Folgen sind überwältigend und verändern die Welt durchgreifend: Jeder genetische Code kann nun in eine stabile Standardform überführt werden, alle Lebewesen lassen sich störungs- und mutationsfrei klonen und so unsterblich machen. Der Biochemiker Frédéric Hubczejak leitet daraus revolutionäre Konsequenzen für die Zukunft der Menschheit ab: »Die Menschheit müsse verschwinden; die Menschheit müsse einer neuen geschlechtslosen, unsterblichen Spezies das Leben schenken, die die Individualität, die Trennung und das Werden überwunden hat.«18

Die Anhänger der monotheistischen Religionen begegnen dieser Programmatik mit großem Widerstand. Lediglich von Buddhisten erfährt sie gewisse Unterstützung, da im Zentrum der Lehre Buddhas ja die Befreiung von Alter, Krankheit und Tod steht, die sich möglicherweise nicht nur durch Meditation, sondern auch mit technologischen Mitteln erreichen lässt. Auch die Anhänger des traditionellen Humanismus begegnen Hubczjaks Plänen mit radikaler Ablehnung und halten ihnen die Werte von Menschenwürde, Freiheit und gesellschaftlichem Fortschritt entgegen. Es gelingt ihm jedoch, die schwierige Theorie von Michel Djerzinski zu popularisieren und so eine immer größere Öffentlichkeit mit dem Gedanken vertraut zu machen, »dass die Menschheit in dem Stadium, in dem sie angelangt war, die gesamte Entwicklung der Welt – und insbesondere ihre eigene biologische Entwicklung – steuern konnte und musste.«19 Im Jahre 2029 wird der erste Vertreter der neuen Spezies geschaffen, der Mensch erweist sich damit als »erste Spezies der bekannten Welt […], die die Bedingungen geschaffen hat, sich selbst zu ersetzen«.20 50 Jahre danach existieren nur noch wenige Menschen alter Art, es hat ganz den Anschein, als hätten sie sich mit ihrem eigenen Verschwinden abgefunden. Die neue Menschheit kann nunmehr wirklich glücklich sein, da sie den Egoismus, die Aggressivität und alle anderen negativen Eigenschaften der alten Menschheit überwunden hat: »Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im übrigen vor, dass wir uns selbst – wenn auch mit einer Spur von Humor – mit dem Namen ›Götter‹ bezeichnen, der so viele Träume bei ihnen ausgelöst hat.«21 18 19 20 21

Ebd., S. 348. Ebd., S. 350. Ebd., S. 356. M. Houellebecq: Elementarteilchen, S. 356.

242

DIE ROMANE VON MICHEL HOUELLEBECQ

Die letztlich unerfüllte Glücks- und Sinnsuche, die uns Houellebecq in den beiden grundverschiedenen Lebensformen Brunos und Michels vorführt, verbindet sich über die neuen theoretischen Ansätze aus Michels wissenschaftlicher Arbeit mit Plänen zur Umsetzung einer sozio-technologischen Machbarkeitsphantasie, innerhalb derer Grundprobleme des Menschseins durch die Konstitution einer neuen menschlichen Spezies gelöst werden sollen. Diese neuen Menschen zollen dem alten Menschen ihre Anerkennung für sein widersprüchliches Wesen zwischen dem Glauben an Liebe und Freiheit und der zerstörerischen Kraft des Egoismus, aber sie sind sich ihrer Überlegenheit über die, die sie geschaffen haben, voll bewusst und wissen, dass die Kämpfe der alten Menschheit, ihr Schmerz und ihre Beharrlichkeit bald vergessen sein werden. Michel trägt die tiefe Ambivalenz einer Zusammenführung von romantizistischen und technologischen Ansätzen zur Beseitigung bestehender Widersprüche in sich selbst aus und zerbricht letztlich daran: Er erkennt die Möglichkeit, dass sich das unglückliche Schicksal der Menschen auf technologische Weise ändern lässt und kann sich letztlich auch in gewisser Weise dafür begeistern, er überlässt aber die praktische Umsetzung dieser Veränderung anderen und wählt den Freitod, da er letztlich die Unvereinbarkeit einer universellen instrumentellen Rationalität mit ernsthaften philosophischen, religiösen und künstlerischen Sinndimensionen empfindet, welche die Menschen sinnentstellend vergröbert oder gänzlich aus den Augen verloren haben.

I I I . Vo m R e c h t a u f U n g l ü c k o d e r : Wa r u m s i n d die Neo-Menschen nicht zu beneiden? In dem Roman Die Möglichkeit einer Insel kehrt Houellebecq zu den groß angelegten Transformationsszenarien zurück, wie sie im Schlussabschnitt von Elementarteilchen umrissen werden. Er nähert sich seinem Thema über zwei Erzählstränge: Zum einen beschreibt er von der Gegenwart in die Zukunft blickend das Leben und Leiden des zynischen Komikers Daniel, der in die Pläne einer Weltverbesserungssekte verwickelt wird, zum anderen lässt er aus der Zukunft Daniels Klone über das von ihrem Urahn hinterlassene Tagebuch räsonieren. Die Angst vor Alter und Tod ist es, welche die spätmodernen Menschen in die Arme einer »neuen Religion« treibt, die sich synkretistisch aus Elementen des New Age, einer patriarchalisch verstandenen »freien Liebe«, vergröberten Motiven der etablierten Religionen und überzogenen technologischen Visionen zusammensetzt. Sie verspricht den Menschen ein technologisch machbares ewiges Leben, in dem Liebe und Lust kein Ende mehr 243

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finden werden. Das Leben der Neo-Menschen jenseits aller menschlichen Leidenschaften erweist sich allerdings als Zerrbild eines glücklichen, von sinnhaften Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt erfüllten Daseins. Marie 23, einer der späteren Klone, nimmt die Suche nach einer Insel auf, auf der ein Leben möglich sein soll, das die Aggressivität und Egozentrik des alten Menschseins ebenso überwinden kann wie die Eintönigkeit und Sterilität des neuen Menschseins. Daniel 24 erfährt davon und macht sich als Daniel 25 ebenfalls auf den Weg in eine Welt, in der die letzten Vertreter der alten Menschen nach atomaren und ökologischen Katastrophen dahinvegetieren und sich gegenseitig bekriegen. Daniel 1 zerbricht letztlich – ähnlich wie Bruno und Michel aus Elementarteilchen – an seinen Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen: Seine erste Frau Isabelle, die er wirklich liebt, verlässt er, da sie zu sehr unter ihrem Älterwerden leidet und schließlich auch die Lust am Sex verliert. Die viel jüngere, nymphomanisch veranlagte Esther beschert ihm eine kurze und glückliche Zeit erfüllter Sexualität, aber er kann schließlich nicht mehr damit umgehen, dass sie nebenher viele andere Liebhaber hat, worauf sie sich schließlich ganz von ihm abwendet und ihn seinem persönlichen Elend überlässt. Die einzig bedingungslose Liebe erfährt Daniel von seinem Hund Fox, weshalb er in Folge auch geklont wird und seinen Einzug in die Welt der Neo-Menschen hält. Daniel gesteht ein, dass er »der Sexualität eine zu große Bedeutung eingeräumt« hat, kann sich aber nicht von der Überzeugung lösen, dass Sex für ihn letztlich die einzige Glücksquelle ist und er auch im Alter nicht darauf verzichten möchte.22 Kleists Äußerung im letzten Brief an seine Schwester Ulrike – »die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war« – bestimmt dennoch oder vielleicht gerade deswegen stark seine Stimmung.23 Bei den Nachbarn seines Domizils in Spanien lernt Daniel ein Pärchen kennen, die Anhänger einer neuen Sekte sind, welche »die Elohim« als außerirdische Wesen verehren und ihre Rückkehr auf die Erde erwarten. Nach dem Propheten dieser Gemeinschaft soll auf Lanzarote ein Botschaftsgebäude errichtet werden, in dem sich die Elohim den auserwählten Menschen offenbaren und ihnen ihre Geheimnisse über die Überwindung von Alter und Tod anvertrauen sollen. Daniel, der sich über solchen pseudoreligiösen Quatsch vor allem amüsiert, lässt sich 22 Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, übers. von Uli Wittmann, Köln: DuMont 2005, S. 95. 23 Heinrich von Kleist, Brief an Ulrike von Kleist, 21.11.1811; in: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bd., hg. von Helmut Sembdner, München/Wien: Carl Hanser 1982, Bd. 4, S. 887. Der Übersetzer Houellebecqs greift leider nicht auf das Kleistsche Original zurück. 244

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mehr aus Langeweile darauf ein, Veranstaltungen der Elohimiten zu besuchen und deren Organisationsstruktur kennen zu lernen. Der Prophet erweist sich als reichlich oberflächlicher, sex- und machtbesessener Potentat, dem es weit eher um seine eigenen Vorteile als um irgendwelche altruistischen Interessen geht. Als einzig wirklich sympathischer Mensch erscheint Daniel der Künstler Vincent, der als Sohn des Propheten nach dessen Tod zu seinem Klon und Nachfolger stilisiert wird. Da das Gemeinschaftsleben der Elohimiten weitgehend von einem lockeren Umgangston, sexueller Promiskuität und einer allgemeinen Oberflächlichkeit bestimmt ist, stellt sich Daniel bald die Frage, inwiefern sie überhaupt an die Elohim und deren Versprechungen glauben. Der führende Wissenschaftler der Gruppe, Slotan Miskiewicz, der i. d. R. nur »der Professor« genannt wird, liefert hierzu die folgenden klärenden Argumente: Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass im Universum Formen höherer Intelligenz entstanden sind, die in der Lage sind, Leben hervorzubringen und effektiv zu manipulieren. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass der Mensch sich im Rahmen biologischer Evolution entwickelt hat und insofern die Vorstellung einer Erschaffung durch die Elohim nur metaphorisch verstanden werden kann. Im weiteren Gespräch berührt Daniel ein zentrales Problem einer durch Klonen zu realisierenden Unsterblichkeit: Das Klonen im Sinne der Reproduktion der genetischen Information und damit des Körpers wird sich wohl bald tatsächlich realisieren lassen, doch auf welche Weise will man es erreichen, die Persönlichkeit, die Erinnerungen und die Emotionalität eines Menschen zu reproduzieren? »Und wie konnte er das Gefühl haben, die Reinkarnation desselben Wesens zu sein, wenn das Gedächtnis nicht bewahrt wurde?«24

Der Professor verweist hierzu auf Experimente mit wirbellosen Tieren, bei denen gezeigt werden konnte, dass das materielle Substrat von Gedächtnisfunktionen aus dem Gehirn eines Tieres extrahiert und einem anderen etwa durch die Nahrung so zugeführt werden kann, das dieses zumindest z. T. über Verhalten verfügte, welches das erste gelernt hatte. Eine einfache Übertragung dieser Methode auf höhere Wirbeltiere hält er zwar für ausgeschlossen, aber er arbeitet gegenwärtig daran, ein komplexes neuronales Netzwerk nachzubauen, welches als Interims-Speicher für Gedächtnisinhalte auch beim Menschen genutzt werden könnte. Bei der Auswahl der Hauptdarstellerin für einen seiner sarkastischen Filme lernt Daniel Esther kennen, verliebt sich in sie und erlebt mit ihr 24 M. Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, S. 116. 245

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eine kurze Zeit echten Glücks. Die Schönheit, Jugendlichkeit und sexuelle Attraktivität Esthers lassen ihn jedoch rasch erkennen, wie angreifbar und verletzlich ihn das macht. Daniel 25 stellt in der Rückschau auf die Zeit seines Ahns fest, dass es wohl kein anderes Thema gab, das die alten Menschen mehr beschäftigt hätte, als die Liebe: »Die Liebe scheint für die Menschen der letzten Periode zugleich ein Höhepunkt und eine Unmöglichkeit, Gegenstand des Bedauerns und der Verehrung gewesen zu sein, kurz gesagt, der Brennpunkt, in dem sich alles Leid und alle Freude vereinigen konnten.«25

Bei einem weiteren Besuch bei den Elohimiten lernt Daniel den Propheten persönlich kennen und erlebt ihn als zwar lächerliche, aber doch sehr machtbewusste Persönlichkeit. Der Professor führt ihn durch die biotechnologischen Labore der Gemeinschaft und informiert ihn über den Stand seiner Forschung. Wenn sie die Abhängigkeit der biologischen Entwicklung von den natürlichen Zeitskalen überwunden haben werden, wird es ihnen gelingen, ein neues menschliches Lebewesen in einer einzigen Stunde hervorzubringen. Wie Daniel 25 in retrospektiver Perspektive feststellt, überschätzte der Professor jedoch seine Möglichkeiten, denn die ersten Neo-Menschen wurden erst dreihundert Jahre später durch Klonierungstechnik erzeugt. Auch seine Idee, Gedächtnisfunktionen über ein synthetisches neuronales Netzwerk auf menschliche Klone zu übertragen, erwies sich letztlich als völlig unbrauchbar. Als aussichtsreich erwies sich schließlich der Rückgriff auf Prozesse des konditionierten Lernens anhand von Lebensberichten und anderen Anweisungen, welche allerdings durch das Einspritzen von Gehirnextrakten des alten Organismus beschleunigt und verbessert werden konnten. Der Prophet überschätzt die Hingabewilligkeit und Gefolgstreue der Sektenmitglieder und wird aus Eifersucht von einem jungen Italiener getötet, wodurch es zu großen Machtstreitigkeiten in der Gemeinschaft kommt. Vincent erklärt sich schließlich bereit, die Rolle des Propheten zu übernehmen. Um die Anhänger zu beruhigen und die Öffentlichkeit von den Möglichkeiten der elohimitischen Religion zu überzeugen, wird er allerdings nicht als Vincent, sondern als der als Klon wiedergeborene Prophet selbst eingeführt: »Heute beginnt für uns ein neues Zeitalter, in dem das Verstreichen der Zeit nicht mehr dieselbe Bedeutung hat. Heute beginnt für uns das ewige Leben. Dieser Augenblick wird für immer im Gedächtnis bewahrt.«26 25 Ebd., S. 170. 26 Ebd., S. 271. 246

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Daniel überwirft sich bei einer Party mit Esther, er muss völlig verstört erkennen, dass sie ihm nicht jenes Maß an ungeteilter Zuneigung entgegenbringt, das er für sie empfindet: »Für Esther wie für alle Mädchen ihrer Generation war die Sexualität nur ein angenehmer Zeitvertreib, der […] keinerlei affektive Verpflichtung voraussetzte; vermutlich ist die Liebe […] seit jeher nur eine Fiktion gewesen, die von den Schwachen erfunden worden ist, um bei den Starken Schuldgefühle hervorzurufen und deren Freiheit und natürlicher Grausamkeit Grenzen zu setzen.«27

Die elohimitische Religion zieht derweil zu ihrem Siegeszug über die westliche Welt aus, absorbiert das dem Untergang geweihte Christentum und macht auch vor den asiatischen Ländern nicht Halt. Eine wesentlich größere Hürde stellen die islamischen Länder und die Ausbreitung des Islams im Westen dar. Doch auch hier führt die Verlockung auf ein ewiges, sorgenfreies Leben und auf die Befreiung von rigoristischen Wertvorstellungen langsam zum Niedergang. Obwohl das Unsterblichkeitsversprechen der Elohimiten letztlich auf einer noch schwächeren Grundlage als das Christentum basiert, bekennen sich viele Anhänger bedingungslos zur neuen Religion und begehen in Erwartung ihrer Wiederauferstehung rituellen Selbstmord: »Der Mensch hatte letztlich nie die Vorstellung der Unsterblichkeit aufgegeben, und auch wenn er unter Zwang seinem alten Glauben entsagen musste, hatte er die Sehnsucht danach nie vergessen, sich nie damit abgefunden, er war bereit, aufgrund einer x-beliebigen Erklärung, wenn sie nur ein ganz klein wenig überzeugend war, sich von einem neuen Glauben leiten zu lassen.«28

Die mangelnde Bindungskraft einer traditionsfernen Patchwork-Religion zeigt sich allerdings u. a. darin, dass die Menschen beginnen, besonders grausame Selbstmordrituale zu ersinnen und sich gegenseitig abzuschlachten. Die Sexualität als mögliches Korrektiv gegenüber derartigen Exzessen verliert zunehmend an Relevanz, mit einer zeitgemäßen Erneuerung der heiligen Prostitution versuchen ihr die Elohimiten entgegenzuwirken. Der Professor arbeitet dagegen daran, den Menschen von der Zufuhr externer Nahrungsmittel zu emanzipieren und ihn durch Photosynthese zu einem autotrophen Lebewesen zu machen. Daniels Niedergeschlagenheit wird noch vertieft, als er erfährt, dass Isabelle sich

27 M. Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, S. 307. 28 Ebd., S. 326. 247

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umgebracht hat, und vor allem als er seinen Hund Fox findet, der von einem Baggerfahrer überfahren wurde: »Ich weiß nicht warum, aber in jener Nacht ging etwas in mir zu Bruch, ein letzter Schutzwall, der weder bei der Trennung von Esther noch bei Isabelles Tod nachgegeben hatte.«29

Wie ihm Vincent versichert, ist auch Fox durch die Speicherung seiner genetischen Daten unsterblich geworden, so dass auch der Tod unserer Haustiere in Zukunft aus der Welt geschafft werden kann. Der ernsthafte Glaube an diese völlig neuen Möglichkeiten überzeugt Daniel zwar zumindest z. T. davon, dass der Mensch wohl tatsächlich an der Schwelle zu einer durchgreifenden Wandlung steht, da die Klonierungstechnik aber noch lange nicht wirklich praktiziert werden kann, vermittelt ihm das letztlich nur wenig Trost. Der Appell der Elohimiten an den individuellen Freiheitsdrang, die Emanzipation von Verantwortung für sich selbst und für andere treiben die Menschen in die Arme einer sinnleeren Glaubensgemeinschaft und in den hoffnungsfrohen Freitod. Der Weg eines langsamen Aussterbens der alten Menschen wird auf diese Weise ebenso gebahnt wie der Aufstieg der neuen Menschen, deren Hervorbringung schließlich technologisch möglich sein wird. Als Daniel seinen Lebensbericht beendet hat, verdämmert er schließlich in seiner Angst vor einer hoffnungs- und sinnlos gewordenen Welt. Esther, um die er sich nochmals heftig bemüht, erteilt ihm eine endgültige Abfuhr, sodass auch er sein letztes Glück darin findet, eigenhändig aus dem Leben zu scheiden. Seinen Abschiedsbrief, in dem er euphorisch über die Möglichkeit der Liebe spekuliert, nimmt Marie 23 zum Anlass, sich von der sterilen Welt der Neo-Menschen abzuwenden und sich auf die Suche nach einer neuen Form des Zusammenlebens zwischen alten und neuen Menschen zu begeben. Als echtes Indiz für eine solche Hoffnung auf eine bessere Welt gilt ihr dabei insbesondere der Schlussvers aus Daniels letztem Gedicht: »Und die Liebe, die alles so leicht macht Dir alles schenkt, und zwar sogleich; Es gibt in der Mitte der Zeit Die Möglichkeit einer Insel.«30

29 Ebd., S. 352. 30 M. Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, S. 394. »Et l’amour, où tout est facile, / Où tout est donné dans l’instant ; / Il existe au milieu du temps / La possibilité d’une île.« (ders.: La possibilité d’une île, Paris: Fayard 2005, S. 424). 248

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Wenngleich sich Daniel 25 selbst unklar darüber ist, wie ernst diese Andeutung zu nehmen ist, macht auch er sich auf den Weg. Obwohl er daran zweifelt, ob er den scharfen Wechsel von der streng reglementierten Welt der Neo-Menschen zur wilden und unkontrollierten Welt der letzten Vertreter der alten Menschen überleben wird, entfernt er sich mit seinem Hund Fox immer weiter vom geschützten Refugium der NeoMenschen. Dass die Gesetze einer ursprünglichen Natur in dieser wilden Welt noch in Kraft sind, zeigt sich ihm u. a. daran, dass Fox ein Kaninchen erlegt und er ihn von einer Zecke befreien muss. Die große Verringerung der alten Menschheit wurde begleitet von unvorhersehbaren Klimaschwankungen und ausgelöst durch die Explosion von zwei Atombomben an den Polen, wodurch eine Eisschmelze einsetzte, welcher der gesamte asiatische Kontinent mit der Ausnahme Tibets zum Opfer fiel. Flankiert wird sie von einer Rückkehr zu traditionellen Formen des Zusammenlebens und von verschiedenen Gewaltexzessen. Die zweite Verringerung der alten Menschheit resultiert aus der »Großen Dürre«, der nur wenige Überlebende entkommen. Auch Daniel 25 findet nach einiger Zeit wieder zu einem affirmativen Verhältnis gegenüber seinem Körper und dessen Natürlichkeit zurück; es ist ihm nun gar nicht mehr so wichtig, sein Ziel zu erreichen, er genießt es, mit Fox durch die Natur zu wandern, im Freien zu schlafen, die Sonne auf der Haut zu spüren und im kalten Wasser eines Flusses zu baden. Die Wilden, denen er begegnet, haben panische Angst vor ihm und stellen keinerlei Bedrohung dar. Alle Errungenschaften des Menschen im geistigen Bereich haben ihren Sinn und ihre Bedeutung verloren, lediglich ihre technischen Erfindungen flößen auch heute noch Respekt ein: »In diesem Bereich hatte der Mensch sein Bestes gegeben, darin hatte er sich am stärksten selbst verwirklicht und von Anfang an eine funktionale Perfektion erzielt, der die Neo-Menschen nichts Bedeutsames hinzufügen konnten.«31

Die Wilden bringen Daniel 25 in ihrer Angst »Opfergaben« in Form von Nahrungsmitteln dar, die er allerdings aufgrund seiner veränderten Physiologie gar nicht verwerten kann und Fox überlässt. Mit einem ebenfalls angebotenen wilden Mädchen versucht er sich sogar am bisher nicht praktizierten Geschlechtsverkehr, was ihm allerdings wegen ihrem unerträglichen Gestank nicht gelingt. Die Degeneriertheit und Aggressivität der Wilden überzeugen Daniel jedenfalls davon, dass unter ihnen keine Möglichkeit von Liebe oder anderen Idealen einer neuen Gemeinschaftlichkeit zu finden ist. Er setzt seine Suche fort und erleidet einen 31 Ebd., S. 415. 249

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herben Rückschlag, als Fox durch den Pfeil eines der Wilden getötet wird. Die Überzeugung, in einer durch und durch deterministischen Weltordnung zu leben, kann ihn über diesen Verlust allerdings besser hinwegtrösten, als es seinerzeit seinem Ahn gelang: »Das Bewusstsein davon, dass alles auf der Welt völlig determiniert war, unterschied uns vielleicht am deutlichsten von unseren menschlichen Vorgängern. Wie sie waren wir nur bewusste Maschinen, aber im Unterschied zu ihnen war uns bewusst, dass wir nur Maschinen waren.«32

Das Leben der alten Menschen unterschied sich letztlich nur wenig vom durch Instinkte bestimmten Dasein der Tiere, in dem Momente der physischen Befriedigung die einzige Art von Entspannung in die prägenden Empfindungen von Schmerz und Angst bringen. Auch das menschliche Dasein ist vor allem von Leid und Frustration beherrscht, lediglich die kurzen Augenblicke von Lust und sinnlicher Begierde eröffnen Chancen temporären Glücks. Die Konstitution der Neo-Menschen verfolgte gerade das Ziel, eine sanftere und rationalere Menschenrasse hervorzubringen, die ein glückliches Leben, fern von Lust und Leid zu führen vermag. Daniel 25 muss sich jedoch eingestehen, dass dieses Ziel gescheitert ist, da er sonst schließlich nicht auf die Suche nach einer anderen Art von Leben gegangen wäre. Die alten Rätsel um die Liebe zwischen Menschen, um die Möglichkeit menschlicher Gemeinschaft, wie sie Platon in unvergleichlicher Weise in seinem Mythos von den »Kugelmenschen« gestaltet hat,33 sind auch in der leidenschaftsfernen Welt der Neo-Menschen nicht wirklich gelöst oder zum Verschwinden gebracht. Als er das Meer erreicht und seine Körperfunktionen durch die Aufnahme des Meerwassers wieder normalisieren kann, beschließt er dort zu bleiben: »ich spürte keinerlei Begierde in mir, vor allem nicht die von Spinoza beschriebene, an meinem Sein festzuhalten; dennoch bedauerte ich, dass die Welt mich überleben würde.«34

In die Möglichkeit einer Insel wird das Potential sozio-technologischer Machbarkeitsphantasien besonders breit entfaltet, wobei überraschende Parallelen zu aktuellen Visionen und Forschungsansätzen bestehen. Der enge Zusammenhang der Verwirklichung solcher Szenarien mit den verzweifelten Versuchen des Menschen in einer sinn-, geist- und herzlos 32 M. Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, S. 428. 33 Vgl. Platon, Symposion 189d ff. 34 M. Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel, S. 440f. 250

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gewordenen Welt die alten Ideale von Liebe, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität wieder zu beleben, zeigt sich im Roman sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Daniel, der selbst ein Meister sarkastischer Tabubrüche und insofern gar nicht in der Lage ist, über seine Egomanie hinaus auf eine romantizistische Sinn- und Glückssuche zu gehen, zerbricht letztlich daran, dass er auf eine Frau trifft, die ihre egoistische Selbstverwirklichung für grundsätzlich wichtiger hält als alles Gerede von Liebe, Treue und idealer Gemeinschaft. Dabei steht fest, dass in der Sicht Houellebecqs Esther nicht als besonders verwerfliches Subjekt gebrandmarkt werden soll, sondern nur einen symptomatischen Fall für einen allgemeinen Trend zu gefühlloser Ichsucht darstellt. Der kollektive Wahn wird insbesondere an dem durchschlagenden Erfolg der elohimitischen Sekte deutlich, die eigentlich nur an überzogene Wunschträume und atavistische Regungen der Menschen appelliert und in keiner Weise ein menschengemäßes Leben im affirmativ verstandenen hic et nunc versprechen kann. Die Menschen lassen nicht nur den Corpus traditioneller Wertvorstellungen und Lebensformen sorglos fahren, sie nehmen sich selbst die Chance, in vernünftiger Weise selbsttätig Sinn in einer sinnlos gewordenen Welt zu setzen, indem sie egomanischen Gurus nachlaufen und darauf vertrauen, auch eine Verlängerung ihres individuellen Lebens in die Unendlichkeit wäre technologisch machbar. Während die neuen Menschen in Elementarteilchen sich gegenüber den alten Menschen wirklich überlegen fühlen und ihre Konstitution als ein dezidierter Fortschritt charakterisiert wird, der allenfalls mit etwas Wehmut über den Verlust menschlicher Leidenschaften verbunden ist, so offenbaren sowohl das sterile Leben der Neo-Menschen in Die Möglichkeit einer Insel als auch das bittere Resümee von Daniel 25, der sich auf die Suche nach der Insel begeben hat und gescheitert ist, dass von transhumanistischen Transformationsplänen keinerlei positiver Fortschritt zu erwarten ist. Das von Liebesverlangen und aggressiver Egomanie zerrissene Leben von Daniel 1 erscheint uns erbärmlich, aber es birgt doch ernsthafte Glücksmomente und bewusste Erkenntnismotive, das eintönige Leben von Daniel 25 und sein oberflächliches Wesen sind aber noch weit erbärmlicher und entbehren letztlich all das, was ein ganzheitlich verstandenes Menschsein ausmacht.

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I V. K r i t i s c h e P e r s p e k t i ve n z u r t e c h n o l o g i s c h e n Perfektionierung des Menschen im Blick auf d a s g e b r o c h e n e Ve r h ä l t n i s z w i s c h e n t e c h n o logischer Machbarkeit und Glückssuche Michel Houellebecq beleuchtet in seinen Romanen in eindringlicher Weise das gebrochene Verhältnis zwischen technologischer Machbarkeit und individueller Glückssuche und liefert dadurch einen entscheidenden Hintergrund für die kritische Auseinandersetzung mit konkreten Formen von Human Enhancement. In den aktuellen Diskursen über eine grundlegende technologische Verbesserung der menschlichen Konstitution stoßen wir auf ein komplexes Geflecht aus unterschiedlichen Interessen.35 Jenseits verschiedener »Oberflächenphänomene« mit größerer Breitenwirkung wie der scheinbar unausweichliche Trend zur Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit und die weitgehend geschichtsblinde Restitution entsprechender technologischer Visionen36 muss man in philosophischer Sicht gerade auch Ansätze einer argumentativen Rechtfertigung kritisch beleuchten, die mit emanzipatorischem Gestus auftreten, aber in Wahrheit nur zur Erosion sinnvoller normativer Orientierungen beitragen. Schlaglichtartig sollen im Folgenden drei recht unterschiedliche Beispiele für solche Ansätze betrachtet werden, nämlich Peter Sloterdijks Gedanken zu einem »Codex der Anthropotechniken«, Donna Haraways »Cyborg-Manifest« und Kevin Warwicks Plädoyer für eine sukzessive »Cyborgisierung«. Im Blick auf die Auseinandersetzung der Anthropologin Daniela Cerqui mit Warwicks Ideen soll abschließend der Rahmen für eine angemessene normative Positionierung abgesteckt werden.

1. »Regeln für den Menschenpark« Peter Sloterdijk hat mit seinem Text Regeln für den Menschenpark einen heftigen Diskurs darüber angestoßen, inwieweit die klassischen Ideale einer humanistischen Besserung des Menschen gescheitert sind und man sich nun ernsthaft Ansätzen einer technologischen Optimierung zuwenden sollte. Er legt seinen Überlegungen m. E. nicht nur einen reichlich

35 Vgl. Andreas Woyke: »Intergenerative Gerechtigkeit und Verantwortung im Blick auf nanotechnologische Anwendungen und Visionen«, Ethica 2010 (im Erscheinen). 36 Vgl. hierzu meinen Beitrag zur Konstitution der Biotechnologie in diesem Band. 252

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verkürzten Begriff von »Humanismus« zugrunde37, er wird auch den von ihm herangezogenen Referenzen von Heidegger, Nietzsche und Platon nicht wirklich gerecht. Sloterdijk sensibilisiert uns aber doch für die Frage nach einer gewissen Kontinuität zwischen humanistischen und technologischen Verbesserungsvorstellungen. Berücksichtigt man Sloterdijks frühere Position38 und seine Bemühungen, Grundmotive Heideggers und der Kritischen Theorie fruchtbar zu machen, dann lässt sich sein verhaltenes Zutrauen zu neuen technologischen Möglichkeiten auch als eine massive Enttäuschung darüber interpretieren, dass nicht nur der alte Humanismus, sondern auch alle anderen gesellschaftlichen, politischen und pädagogischen Versuche, einen »besseren Menschen« und eine »bessere Welt« zu schaffen, endgültig gescheitert sind und es nun auch für den Philosophen nur noch darum gehen kann, »das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren«.39 37 Der Aspekt von »Humanismus«, auf den sich Heidegger maßgeblich bezieht und auf den Sloterdijk ja eigentlich zu antworten versucht, hat nichts oder zumindest nur wenig mit jener über Texte vermittelten Traditionslinie von »Humanismus« zu tun, die im Vordergrund des Antwortschreibens steht. Heidegger geht es um die epochale Tendenz eines Aufstiegs des menschlichen Subjekts zum konstitutiven Mittelpunkt der Welt, wodurch die vorgängige Rolle der Welt bzw. des Seins ausgeblendet wird (vgl. Reinhard Maurer: »Das eigentlich Anstößige an Heideggers Technikphilosophie«, in: Reinhard Margreiter/Karl Leidlmair (Hg.): Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 25-35). Sloterdijks Nobilitierung eines anthropotechnischen Aktionismus ist insofern keineswegs etwas Neues, sondern lediglich eine Forcierung alter Machbarkeitsphantasien. Heideggers Humanismus-Brief als »trans-humanistischen oder post-humanistischen Denkraum« zu charakterisieren, liest also Aspekte in den Text hinein, die völlig quer zu dessen Grundintentionen stehen (Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000., S. 22). 38 »Die selbstläufigen Folgen des modernen Weltprozesses, so sehen wir mit anschwellendem Unbehagen, übergreifen die kontrollierten Projekte; und aus dem Herzstück des Unternehmens Moderne, aus dem Bewusstsein spontaner vernunftgelenkter Selbsttätigkeit, bricht eine fatale Fremdbewegung hervor, die uns in allen Richtungen entgeht.« (Peter Sloterdijk: Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 24). Kontrastiert wird diese gegenüber einer selbstläufigen Moderne kritische Position allerdings durch Äußerungen der folgenden Art: »Das Schlimmste ist möglich, aber auf jeden Fall nichts Schlimmeres als das, was geschieht, wenn es keine Selektion von intelligenteren und generöseren Menschen gibt.« (Peter Sloterdijk: »Nachwort. Etwas vor sich haben«, in: ders. (Hg.): Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 706-732, hier: S. 728). 39 P. Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark, S. 45. 253

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Man kann hierin m. E. genau jene disparate Verknüpfung zwischen der Suche nach Sinn und Glück und einer technologischen Verwirklichung dieser Ziele am Werke sehen, die Houellebecq einschließlich ihrer katastrophischen Folgen in seinen Romanen beschreibt.

2. Donna Haraways »Cyborg« Donna Haraway versucht zwar in ihrem »Cyborg-Manifest« vor allem das emanzipatorische Potential neuer Technologien für den Einzelnen und seine Vernetzung mit anderen zu betonen, mit ihrer Vorstellung einer technologischen Abkopplung des Menschen von natürlichen und kulturellen Gegebenheiten ist sie m. E. allerdings letztlich von ganz ähnlichen Machbarkeitsphantasien bestimmt wie Eric Drexler, Ray Kurzweil, William S. Bainbridge und andere aktuelle Technovisionäre.40 Sie bekennt sich klar zu einer utopischen Tradition, die sich eine Welt »ohne Gender, […] ohne Schöpfung […] ohne Ende« wünscht41 und bringt damit deutlich zum Ausdruck, dass eine universelle Befreiung des Menschen von allen natürlichen, kulturellen und historischen Bindungen das wesentliche Ziel einer technologischen Transformation von Welt und Mensch ist. Die Zugehörigkeiten zu »Gender, Rasse und Klasse«42 sind nicht bloß Konstrukte der manipulativen Macht einer repressiven Gesellschaft, sie sind – jenseits einer politisch oder auch theologisch motivierten Apologie des Status quo – als gegebene Größen anzuerkennen und in angemessener Weise zu affirmieren. Ihre Auffassung, dass letztlich nichts so etwas wie einen intrinsischen Wert besitzt,43 ist m. E. weniger das Grundmotiv eines kritischen Selbst- und Weltverständnisses, sondern Legitimation für eine gottgleiche Schöpfungspraxis des Men40 Ich beziehe mich hier nur skizzenartig auf Haraways »Cyborg-Manifest« und strebe keine detaillierte Interpretation ihres schwierigen und vielschichtigen Werks an. Aus ihrem Ansatz einer »situierten Ontologie«, innerhalb derer auch nichtmenschlichen Akteuren Eigenaktivität zuerkannt wird, lassen sich sicherlich auch kritische Perspektiven hinsichtlich einer grundlegenden technologischen Transformation der Natur ableiten (vgl. Jutta Weber: »Mannigfaltige Techno-Naturen. Von epistemischen Modellsystemen und situierten Maschinen«, in: Philosophia naturalis 43 (2006), S. 111-143, hier: S. 120ff.). 41 Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, übers. von Dagmar Fink, Carmen Hammer, Helga Kelle, Anne Scheidhauer, Immanuel Stieß und Fred Wolf, Frankfurt/Main: Campus 1995, S. 35. 42 Ebd., S. 41. 43 »Kein Objekt, Raum oder Körper ist mehr heilig und unberührbar.« (ebd., S. 50). 254

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schen, die sich über alle Werthaftigkeit des Gegebenen hinwegsetzt. Tatsächlich bestehende problematische Herrschaftsstrukturen kann man legitim nicht dadurch außer Kraft setzen, dass man versucht, ihnen auf technologischem Wege gleichsam ihre ontologische Basis zu entziehen.44 Gerade hier gilt es, in maßvoller Weise die mit einer dezidierten Unzufriedenheit an der bestehenden Welt assoziierte Sinn- und Glückssuche des Menschen mit vernünftigen Prämissen ihrer praktischen Verbesserung zu verknüpfen. Auch in säkularer Perspektive ist es insofern – gegen Haraway45 – immer noch der entschieden bessere Weg im Sinne des antiken Eudämonismus eine Verähnlichung des Menschen mit dem Göttlichen anzustreben,46 ohne dabei zu vergessen, dass der Mensch zu einem ernsthaften Verhältnis zu sich selbst nur durch ein affirmatives Verständnis seiner Endlichkeit und Fragilität kommen kann.

3. Kevin Warwick: Der »erste Cyborg« Kevin Warwick sieht als Technovisionär die Grenzen zwischen Menschen und Maschinen verschwimmen und fasst den Cyborg nicht nur als ein Ziel oder zumindest eine Möglichkeit künftiger Entwicklungen auf, er stilisiert sich selbst zum »ersten Cyborg«, indem er sich Computerchips implantieren lässt, um seine Kommunikations- und Wahrnehmungsfähigkeiten zu erweitern. Er setzt sich über alle grundlegenden 44 Haraway spricht davon, dass »Gender, Rasse und Klasse keine Grundlage mehr für eine ›essentialistische‹ Einheit« (ebd., 41) darstellen, ohne die grundsätzlichen Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Kategorien zu berücksichtigen. Alles soll verflüssigt und zum Gegenstand willkürlicher Veränderungen gemacht werden. In näherer Beleuchtung muss es allerdings darum gehen, die Verwiesenheit aller menschlichen Zugehörigkeiten und Bestimmtheiten auf vorgängige und übergreifende natürliche, kulturelle, soziale, politische, historische und andere Zusammenhänge zu reflektieren. Diese Verwiesenheit ist jeweils unterschiedlich ausgeprägt und muss angemessen differenziert beleuchtet werden. Im Bemühen um eine holistische Perspektive kann es allerdings durchaus sinnvoll sein, nach allgemeinen »ontologischen« oder »metaphysischen« Einbettungen zu suchen. Benachteiligungen, die innerhalb konkreter Verhältnisse aus bestimmten Zugehörigkeiten erwachsen, kann man legitim nicht dadurch relativieren oder beseitigen, dass man diese Zugehörigkeiten selbst auf technologische Weise manipuliert oder abschafft – wie es Haraway nahe legt. Entscheidend hierfür ist es vielmehr, die konkreten Verhältnisse auf gesellschaftlich-politische Weise zu verbessern und insgesamt substantiellere Welt-, Selbst- und Gesellschaftsbilder zu fördern. 45 »Wenn auch beide in einem rituellen Tanz verbunden sind, wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin.« (ebd., S. 72). 46 Vgl. Platon, Theaitetos 176b; Aristoteles, Ethica Nicomachea X 7, 1177b, 30f. 255

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anthropologischen und ethischen Fragestellungen hinweg und betont vor allem die vielfältigen Verbesserungen menschlicher Fähigkeiten durch Mensch-Maschine-Interfaces: massive Beschleunigung von Rechengeschwindigkeiten, Erweiterung von Speicherleistungen, verbesserte Wahrnehmungsfähigkeiten, eine höhere Anzahl von erfassbaren Dimensionen, erweiterte Kommunikationsmöglichkeiten: »The biggest advantage of all for machine intelligence is communication. In comparison with the capabilities of machines, human communication is so poor as to be embarrassing.«47

Es ist evident, dass Warwick seinen Überlegungen ein außerordentlich einseitiges Verständnis von »Kommunikation« zugrunde legt, das alle höherwertigen und komplexeren Kommunikationsphänomene wie intersubjektives Verstehen, das Erfassen unterschiedlicher Bedeutungen, die Rolle von affektiven Nuancen und die Reflexion über unterschiedliche Dimensionen von Sinn gar nicht erfassen kann. Ähnliches gilt für Warwicks eingeschränkte Begriffe von »Intelligenz« und »Emotion«, die im engen informationstheoretischen Kontext sinnvoll sein mögen, aber in keiner Weise zu einem ganzheitlichen Begreifen des Menschseins beitragen können. Seine Motivation für sein erstes Chip-Implantat hat letztlich nichts mit einem ernsthaften wissenschaftlichen oder therapeutischen Interesse zu tun, sie entspringt jener von übergreifenden Zielorientierungen entbundenen Selbstläufigkeit der technologischen Entwicklung, wie sie sich seit der Neuzeit zunehmend unbehindert entfalten kann:48 »I did not have a medical need, I just wanted to find out what it would be like. […] It will be extremely interesting to find out how it feels to have the ability to sense the world in ways that other humans cannot.«49

Außerdem ging es ihm darum herauszufinden, ob sich die Prognosen Orwells im Blick auf eine Gefährdung von Privatsphäre und Individualismus bestätigen, wenn der menschliche Körper mit Informationstechnologien vernetzt wird. Warwick kommt anhand seiner eigenen Erfahrungen zum Schluss, dass der ihm implantierte Chip nicht Dinge gegen 47 Kevin Warwick: »Cyborg Morals, Cyborg Values, Cyborgs Ethics«, in: Ethics and Information Technology 2003, S. 131-137, hier: 131. 48 »Der Mensch will tun, was er kann; aber der tiefere Grund dafür, dass er dieses will, ist doch erst, dass er vorher gar nicht weiß, was er kann.« (Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 213). 49 K. Warwick: Cyborg Morals, S. 133 und 135. 256

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ihn, sondern zusätzliche Dinge für ihn tut; sehr schnell erkennt er den Chip als ein Stück seines eigenen Körpers an. Als der Chip schließlich wieder entfernt wird, stellt sich sogar so etwas wie Trennungsschmerz ein: »it was as though a friend had died.«50 Er gesteht allerdings auch ein, dass die Veränderung des Gehirns und seiner Leistungen sich wesentlich von den Erweiterungen der physischen Möglichkeiten durch die bisherigen Technologien unterscheidet. Das Angebot, ein »besserer Mensch« durch informationstechnologische Implantate oder bio- und nanotechnologische Transformationen zu werden, mag u. U. tatsächlich für viele verlockend sein, aber die hiermit verbundene Ausblendung kritischer Intelligenz tendiert letztlich auch dazu, eine Alternativlosigkeit zu erzeugen, der sich dann jeder – so oder so – unterwerfen muss.

4. Eine anthropologische Perspektive Die Anthropologin Daniela Cerqui weist in der kritischen Auseinandersetzung mit Warwick vor allem darauf hin, wie unbestimmt und wenig durchdacht das Menschenbild ist, das derartigen Transformationsplänen zugrunde liegt. Sie betont, dass es gute Gründe gibt, um an einem substantiellen Verständnis des Menschseins festzuhalten, und dass es keineswegs einen nahtlosen Übergang von der biologischen zur technologischen Evolution gibt. Vor allem sollten ihrer Auffassung nach die gesellschaftliche Legitimierbarkeit und ethische Universalisierbarkeit von Transformationsplänen überdacht werden, wie sie von Technovisionären wie Warwick entworfen werden: »In other words, our future must be a collective choice, a result of interaction and confrontation between the different positions.«51

In diesem Sinne erscheint die klassische Verbesserungs- und Vervollkommnungsvorstellung, wie sie spätestens seit Arnold Gehlen auch Gegenstand der Anthropologie ist, keineswegs alternativlos. Als ein vernünftigeres Modell mag u. a. der Ansatz von André Leroi-Gourhan erscheinen, welcher die Unspezialisiertheit des Menschen und seine Offenheit für Anpassung gerade als ein Wesensmerkmal zu akzentuieren

50 Ebd., S. 134. Man kann zweifellos trefflich darüber spekulieren, ob es Warwick mit dieser Aussage wirklich ernst meint oder ob er hier nur der Lust an der Provokation frönt. 51 Daniela Cerqui/Kevin Warwick: »Re-Designing Humankind: The Rise of Cyborgs, a Desirable Goal?«, in: Pieter E. Vermaas u. a. (Hg.): Philosophy and Design. From Engineering to Architecture, New York: Springer 2008, S. 185-196, hier S. 193. 257

ANDREAS W OYKE

und zu affirmieren versucht: »In such a way of thinking, the human body does not need to be technically improved.«52 Der Mensch steht den neuen technologischen Möglichkeiten zwar wie ein veraltetes Säugetier mit archaischen Bedürfnissen und Antrieben gegenüber, doch wir sollten gerade auch im Blick auf eine berechtigte Sinn- und Glückssuche in einer sinnlosen und unübersichtlichen Welt nach wie vor auf ihn vertrauen und nicht leichtfertig, übersteigerten technologischen Machbarkeitsphantasien folgen, die mit fadenscheinigen Begründungen mit seinen natürlichen und kulturellen Bindungen zu brechen versuchen.53

Literatur Aristoteles: Ethica Nicomachea, recognovit brevique adnotatione critica instruxit I. Bywater, London: Oxford University Press, 1970. Blumenberg, Hans: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Cerqui, Daniela: »The Future of Humankind in the Era of Human and Computer Hybridization: An Anthropological Analysis«, in: Ethics and Information Technology 4 (2002), S. 101-108. /Warwick, Kevin: »Re-Designing Humankind: The Rise of Cyborgs, a Desirable Goal?«, in: Pieter E. Vermaas/Peter Kroes/Andrew Light/Steven A. Moore (Hg.): Philosophy and Design. From Engineering to Architecture, New York: Springer 2008, S. 185-196. Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, übers. von Dagmar Fink, Carmen Hammer, Helga Kelle, Anne Scheidhauer, Immanuel Stieß und Fred Wolf, Frankfurt/Main: Campus 1995. Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone [Extension du Domaine de la Lutte; 1994], übers. von Leopold Federmair, Hamburg: Rowohlt 2000. : Elementarteilchen [Les Particules élémentaires; 1998], übers. von Uli Wittmann, Köln: DuMont 1999. : Die Möglichkeit einer Insel [La possibilité d’une île; 2005], übers. von Uli Wittmann, Köln: DuMont 2005. : La possibilité d’une île, Paris: Fayard 2005. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bd., hg. von Helmut Sembdner, München/Wien: Carl Hanser 1982.

52 Daniela Cerqui: »The Future of Humankind in the Era of Human and Computer Hybridization: An Anthropological Analysis«, in: Ethics and Information Technology 4 (2002), S. 101-108, hier: S. 104. 53 Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/Main.: Suhrkamp 2000, S. 489ff. 258

DIE ROMANE VON MICHEL HOUELLEBECQ

Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, übers. von Michael Bischoff, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. Maurer, Reinhard: »Das eigentlich Anstößige an Heideggers Technikphilosophie«, in: Reinhard Margreiter/Karl Leidlmair (Hg.): Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, S. 25-35. Platon, Sämtliche Werke in zehn Bänden, griech./dt., nach der Übers. von Friedrich Schleiermacher, erg. durch Übers. von Franz Susemihl u. a., hg. von Karlheinz Hülser, Frankfurt/Main: Insel 1991. Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. : »Nachwort. Etwas vor sich haben«, in: ders. (Hg.): Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Bd. 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 706-732. : Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. Warwick, Kevin: »Cyborg Morals, Cyborg Values, Cyborgs Ethics«, in: Ethics and Information Technology 2003, S. 131-137. Weber, Jutta: »Mannigfaltige Techno-Naturen. Von epistemischen Modellsystemen und situierten Maschinen«, in: Philosophia naturalis 43 (2006), S. 111-143. Woyke, Andreas: »›Melancholische Sinnsuche‹ und ›sozio-technologische Machbarkeitsphantasien‹ bei Michel Houellebecq – Folie für die Bewertung aktueller Zukunftsperspektiven?«, Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kunst. Im Netz 6 (2006), unter: http://www.sicetnon.org/content/ technik/Melancholische_Sinnsuche.pdf. : »Intergenerative Gerechtigkeit und Verantwortung im Blick auf nanotechnologische Anwendungen und Visionen«, Ethica 2010 (im Erscheinen).

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K RITISCHE P ERSPEKTIVEN UND AKTUELLE B EZÜGE

»Better Living Through Chemistry« – Entstehung, Scheitern und Renaissance einer ps ychedelischen Alternative zur kosmetischen Ps ychopharmakologie NICOLAS LANGLITZ Abstract: In der öffentlichen Debatte um Human Enhancement wurde die heutige Psychopharmaka-Kultur immer wieder mit Aldous Huxleys Dystopie Schöne neue Welt (1932) verglichen. In dem vorliegenden Aufsatz soll dieses einseitige Bild anhand der Geschichte psychedelischer Drogen korrigiert werden. Deren Gebrauch wurde weit eher von Huxleys 1962 erschienenem Roman Eiland inspiriert, in dem die fiktive Droge Moksha den Menschen zu spirituellen Erfahrungen verhilft, die ihr gemeinschaftliches Leben bereichern. In den 1960er Jahren kam es zu einer Verbreitung »bewusstseinserweiternder« Substanzen und einer Verknüpfung ihrer Verwendung mit religiösen Vorstellungen. Der Aufsatz untersucht die »politische Neurotheologie«, die dem Konflikt zwischen der Counterculture und dem so genannten Establishment zugrunde lag und schließlich zum Verbot halluzinogener Drogen führte. Doch seit den 1990er Jahren hat deren wissenschaftliche Erforschung eine Renaissance erlebt – wenn auch unter anderen historischen Vorzeichen. Und wieder sind utopische Untertöne Huxleyscher Provenienz zu vernehmen, wenn Halluzinogene zum Zwecke einer spirituellen Arbeit an sich genommen und verabreicht werden. Durch die Analyse dieser historischen Zusammenhänge sollen Entstehung, Scheitern und Wiederkehr einer psychedelischen Alternative zur »kosmetischen Psychopharmakologie« näher beleuchtet werden.

I . K o n s e r va t i ve H u x l e y- L e k t ü r e n In den Bioethik-Diskussionen der letzten Jahre wurde immer wieder davor gewarnt, dass der Gebrauch von Psychopharmaka und anderen Biotechnologien Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt Wirklichkeit 263

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werden ließe. In Huxleys Dystopie aus dem Jahre 1932 wird eine totalitäre Gesellschaftsordnung beschrieben, die durch eine fiktive Droge namens Soma stabilisiert wird. Die Wirkung von Soma variiert mit der eingenommenen Dosis: von euphorisierend und halluzinogen bis hin zu narkotisierend. Körperliche Schäden zieht der Konsum nicht nach sich. Doch innerlich sperrt Soma die Menschen in einen goldenen Käfig. Es macht ihre Unfreiheit angenehm – ohne Höhen, aber auch ohne Tiefen – und ist insofern ein besseres »Opium für das Volk«. Zu den prominentesten und einflussreichsten zeitgenössischen Lesern dieses Romans zählen Leon Kass und Francis Fukuyama. Kass führte während der Amtszeit von George W. Bush den Vorsitz des US-amerikanischen President’s Council on Bioethics. Fukuyama war ebenfalls Mitglied dieser staatlichen Ethik-Kommission, von der sich die Bush-Administration in biopolitischen Fragen beraten ließ. Diesen beiden Intellektuellen folgend erklärte der US-Präsident 2001 in einer Fernsehansprache: »Wir sind in jener schönen neuen Welt, die 1932 noch so fern schien, angekommen«.1 An der wirkmächtigen Huxley-Lektüre von Kass und Fukuyama stechen zwei Eigentümlichkeiten ins Auge. Zum einen blenden beide aus, dass es sich bei der Schönen neuen Welt um ein totalitäres System handelt. In ihrer Lesart ist der Roman gerade nach dem von Fukuyama als »Ende der Geschichte« gefeierten Zusammenbruch des Ostblocks zukunftsweisend, weil darin die bioethische Entwicklungsrichtung liberaldemokratischer Ordnungen zum Vorschein komme. Die Bewohner von Kass’ und Fukuyamas Schöner neuer Welt sind freie Bürger, die nicht von einer Oligarchie manipuliert werden, sondern ausschließlich der Verführungskraft der Biotechnologien erlegen sind.2 Sie sollen heutigen Amerikanern gleichen, die den in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 zum unveräußerlichen Recht erhobenen pursuit of happiness mit Hilfe »kosmetischer Psychopharmakologie« betreiben. Mit diesem Begriff hatte Anfang der 1990er Jahre der Psychiater Peter Kramer den nicht-medizinischen Gebrauch psychotroper Substanzen zur Erreichung erwünschter mentaler Zustände beschrieben.3 In der so geschaffenen 1

2

3

White House (Office of the Press Secretary): »President Discusses Stem Cell Research« (2001). Alle Zitate aus englischsprachigen Quellen wurden vom Autor übersetzt. Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 2002, S. 17-21; Leon R. Kass: Life, Liberty and the Defense of Dignity. The Challenge of Bioethics, San Francisco: Encounter Books 2002, S. 8ff.; Philip Morgan et al.: »Brave New Worlds: Philosophy, Politics, and Science in Human Biotechnology«, in: Population and Development Review 31 (2005), S. 127-144. Peter Kramer: Glück auf Rezept. Der unheimliche Erfolg der Glückspille Fluctin, München: Kösel 1995.

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Welt des schönen Scheins steigern Substanzen wie Ritalin die kognitive Leistungsfähigkeit, doch die angestrebten Ziele werden nicht aus eigener Kraft erreicht. Mit Prozac sollen sich die Menschen »better than well« fühlen, doch auch ihr Glück ist nicht echt. Existentielle Probleme werden nur pharmakologisch überschminkt. Kass und Fukuyama sind deshalb überzeugt, dass der nicht-therapeutische Gebrauch von Psychopharmaka nicht zu einem gelingenden Leben beitragen kann, ja es letztlich sogar unmöglich macht. In Kass’ Augen geht es vielmehr darum, eine über die Religionen hinausreichende »religiöse Sensibilität« zu entwickeln, die uns das »Geschenk des Lebens« so annehmen lässt, wie es uns gegeben wurde. Jeder Versuch, die uns von Gott oder der Natur auferlegten Grenzen mit pharmakologischen Mitteln zu überwinden, bedroht Menschlichkeit und Menschenwürde. Der Einsatz von Biotechnologien zwecks neuropsychischem Enhancement führt auf eine abschüssige Bahn, die uns geradewegs in Huxleys Schöne neue Welt führen wird.4

I I . D i e u t o p i s c h e P s yc h o p h a r m a k o l o g i e der 1960er Jahre Der dieser Einschätzung zugrunde liegende Technikdeterminismus geht mit einer zweiten Auffälligkeit von Kass’ und Fukuyamas HuxleyLektüre einher: Wie viele andere Teilnehmer an der gegenwärtigen Bioethik-Debatte berufen sie sich zwar auf Huxleys Schöne neue Welt, lassen aber dessen 30 Jahre später erschienene Utopie Eiland unerwähnt. Dabei bietet dieser 1962 erschienene Roman ein ganz anderes Bild einer Gesellschaft, deren Ordnung ebenfalls durch ein Psychopharmakon bestimmt wird. Im Gegensatz zum Soma der Schönen neuen Welt leistet Moksha jedoch keinem Eskapismus Vorschub und raubt seinen Konsumenten auch nicht ihre Individualität und Authentizität. Im Gegenteil: In einer Initiationszeremonie wird die Droge den jungen Einwohnern der Tropeninsel Pala verabreicht, damit sie »aufhören, das zu sein, was man törichterweise zu sein glaubt, und werden, was man tatsächlich ist.«5 Bei den dabei gewonnenen Einsichten handelt es sich nicht um aus dem Drogenrausch geborene Hirngespinste. Während Soma glücklich macht, 4

5

L. R. Kass: Life, Liberty and the Defense of Dignity, S. 4ff. und S. 12; ders.: »Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Human Improvement«, 2003; ders.: »A Chat With George W. Bush’s Conscience«, 2008. Aldous Huxley: Eiland., übersetzt von Marlys Herlitschka, München: Piper 1984, S. 204. 265

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indem es »Urlaub von der Wirklichkeit« schenkt, werden die Einsichten und das Glück, zu denen Moksha verhelfen kann, als authentisch angesehen. In ihnen spiegeln sich das in Eiland geschilderte paradiesische Leben und eine spirituelle Realität, die jenseits des psychischen Erlebens einzelner Subjekte existiert. Ein Palanese erklärt dem europäischen Protagonisten des Romans, warum sie ihre Drogenerlebnisse nicht als Halluzinationen abtun: »Sie nehmen an, [...] daß das Gehirn Bewußtsein produziert. Ich nehme an, daß es Bewußtsein übermittelt. [...] Ich sage, daß die moksha-Medizin etwas in den untätigen Partien des Gehirns bewirkt, das eine Art neurologischer Schleuse öffnet, und so eine größere Menge von GEIST in den eigenen Geist einzudringen vermag.«6

Diese mystischen Erfahrungen einer Einheit von individuellem und kosmischem Geist und das grenzenlose Mitgefühl, zu denen diese Erlebnisse verhelfen, sind für die Palanesen von so tiefer Bedeutung, dass sie ihre gesamte Weltanschauung und Lebenspraxis durchdringen. In den 1960er Jahren avancierte Eiland schnell zu einem der einflussreichsten Bücher der so genannten Counterculture:7 Die Hippies lasen Huxleys Roman als utopischen Entwurf einer psychedelisch erleuchteten Gesellschaft. Das Buch lieferte ihnen die Blaupause für einen Umgang mit psychoaktiven Substanzen, durch den sie sich von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen suchten. Nach der »psychopharmakologischen Revolution« der 1950er Jahre hatte sich der Konsum von leistungssteigernden und euphorisierenden Amphetaminen sowie von Angst und Stress lindernden Tranquilizern in der US-amerikanischen Bevölkerung stark verbreitet. So half etwa das Beruhigungsmittel Miltown erst Geschäftsmännern, dann überforderten Hausfrauen bei der Bewältigung von Alltag und Arbeitsleben.8 Bei diesem nicht-therapeutischen Gebrauch von Psychopharmaka handelte es sich um cognitive enhancement und kosmetische Psychopharmakologie avant la lettre. Als sich Mitte der 1960er Jahre die Hippie-Bewegung formierte, rebellierte 6 7 8

Ebd., S. 167. Jay Stevens: Storming Heaven. LSD and the American Dream, New York: The Atlantic Monthly Press 1987, S. 184. Toine Pieters/Stephen Snelders: »From King Kong pills to mother’s little helpers. Career cycles of two families of psychotropic drugs: the barbiturates and benzodiazepines«, in: Canadian Bulletin of Medical History 24 (2007), S. 93-112; Nicolas Rasmussen: On Speed. The Many Lives of Amphetamine, New York: New York University Press 2008b; Andrea Tone: The Age of Anxiety. A History of America’s Turbulent Affair with Tranquilizers, New York: Basic Books 2008.

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sie gegen den Lebensstil dieser plastic people und auch gegen die Stabilisierung eines bürgerlichen Familienlebens mit Hilfe der als mother’s little helpers bekannten Pillen.9 1968 warnte der Historiker Theodore Roszak, der der amerikanischen Gegenkultur ihren Namen gab: »Wenn der Widerstand der Counterculture scheitert, [...] so wird uns nichts anderes erwarten, als das, was Anti-Utopiker wie Huxley und Orwell uns prophezeit haben.«10

Wie gegen Ende des Jahrhunderts der Konservative Leon Kass opponierten die Hippies gegen eine zunehmende Entmenschlichung, die sie in der technisierten Gesellschaft am Werk sahen.11 Doch Kass und die Blumenkinder wären wohl kaum überein gekommen, wie man das Abgleiten der verderbten amerikanischen Gesellschaft in die Schöne neue Welt verhindern könnte. Während sich Kass für eine restriktive Biopolitik stark macht, welche die natürlichen Grenzen des Menschseins gegen ihre biotechnologische Überschreitung schützen soll, hofften die Hippies, die biologische Beschränktheit des menschlichen Geistes mit Hilfe bewusstseinserweiternder Drogen zu sprengen. Im Gegensatz zu Kass verstanden sie die Natur des Menschen nicht als feststehenden moralischen Orientierungspunkt, sondern als kaum erforschtes Reservoir spiritueller Entwicklungsmöglichkeiten. Obwohl sie sich gegen die pharmakologische Selbstoptimierung im Dienste der »brummenden Maschinerie« des Kapitalismus wandten, begrüßten sie den Gebrauch von Drogen auf der Suche nach neuen und erfüllenderen Lebensformen.12 Ironisch schrieben sie sich DuPonts Werbeslogan »Better Living Through Chemistry« auf die eigenen Fahnen.13 So waren auch die Hippies Kinder der psychopharmakologischen Revolution, die nicht nur Miltown, sondern auch LSD hervorgebracht hatte. Auch sie unterschieden zwischen guten und schlechten bewusstseinsverändernden Substanzen, legten dabei aber eine gegenüber den etablierten Ansichten veränderte psychopharmakologische Wertordnung zugrunde: Alkohol, die als Appetitzüg9 10

11 12 13

Timothy Miller: The Hippies and American Values, Knoxville: The University of Tennessee Press 1991, S. 23-50. Theodore Roszak: The Making of a Counter Culture. Reflections on the Technocratic Society and Its Youthful Opposition, Anchor Books: Garden City (NY) 1968, S. xiii. T. Miller: The Hippies and American Values, S. 30. L. Kass: Life, Liberty and the Defense of Dignity, S. 277-297; T. Miller: The Hippies and American Values, S. 34-50. Martin Lee/Bruce Shlain: Acid Dreams. The Complete Social History of LSD: The CIA, the Sixties, and Beyond, New York: Grove Press 1992, S.70-71. 267

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ler und Wachmacher legal erhältlichen Amphetamine und die als Schlafmittel verschriebenen Barbiturate galten den Hippies als schlechte Drogen. Vor allem die heads lehnten auch das von vielen Vietnamveteranen konsumierte Heroin und andere illegale Drogen wie Speed und Kokain ab. Diese Substanzen sollten nur abstumpfen statt ein besseres Leben zu ermöglichen. Zu den als »Dope« bezeichneten guten Drogen zählten die Hippies hingegen Marihuana und die Halluzinogene. Diese sollten zu Authentizität, zwischenmenschlicher Nähe und erfüllter Spiritualität verhelfen und standen damit im Zentrum einer um diese Werte errichteten Gegenkultur, deren Vorbild nicht Schöne neue Welt sondern Eiland war.14

III. Politische Neurotheologie Dass die sich im Laufe der 1960er Jahre verbreitende Interpretation der Wirkung von Halluzinogenen an die fiktive Droge Moksha erinnert, kommt nicht von ungefähr. Eiland war von Huxleys eigenen Erfahrungen mit Meskalin und LSD inspiriert. Wenn die Hippies diese Substanzen und eine mit ihrem Gebrauch assoziierte Ästhetik als »psychedelisch« bezeichneten, so machten sie sich einen Begriff zu eigen, der bereits im Briefwechsel zwischen Huxley und dem Psychiater Humphry Osmond auftaucht.15 Mit dieser Wortschöpfung grenzten sich Huxley und Osmond von einer älteren medizinischen Terminologie ab, die LSD & Co. als »halluzinogen« oder »psychotomimetisch« bezeichnete, also als Halluzinationen erzeugend oder Psychosen nachahmend. Halluzino-

14 Fred Davis/Laura Munoz: »Heads and Freaks: Patterns and Meanings of Drug Use Among Hippies«, in: Journal of Health and Social Behavior 9 (1968), S. 156-164; Miller: The Hippies and American Values, S. 25-27 und S. 45-47. Die Huxley entlehnte spirituelle Interpretation der psychedelischen Erfahrungen war in erster Linie ein US-amerikanisches Phänomen. Obwohl die Halluzinogene in den gegenkulturellen Bewegungen Europas ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben, wurde ihr Gebrauch hier vor allem als Akt politischer Subversion verstanden. Die Drogenmystik dürfte auf dieser Seite des Atlantiks u. a. deshalb eine geringere Rolle gespielt haben, weil sie nicht gut mit dem von vielen europäischen Linken angenommenen historischen Materialismus vereinbar war und weil die europäischen Gesellschaften insgesamt säkularer orientiert waren als die USamerikanischen. 15 Aldous Huxley: Moksha. Auf der Suche nach der Wunderdroge, übersetzt von Herberth E. Herlitschka, München: Piper 1987, S. 125 und S. 134. Erste publizierte Verwendung des Begriffs in Humphry Osmond: »A Review of the Clinical Effects of Psychotomimetic Agents«, in: Annals of the New York Academy of Sciences 66 (1957), S. 418-434. 268

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gen-Intoxikationen waren nämlich in der psychiatrischen Forschung seit den 1920er Jahren als Modell der Schizophrenie verwendet worden.16 »Psychedelisch« bedeutete hingegen »die Seele offenbarend«. Dabei dachte Huxley nicht allein an die Psyche eines Individuums, wie es europäische Psychoanalytiker taten, die Halluzinogene im Rahmen »psycholytischer Therapien« einsetzten, um schneller zum Unbewussten ihrer Patienten vorzudringen.17 Huxley war vielmehr überzeugt, dass psychedelische Drogen die »Pforten der Wahrnehmung« öffneten und es dem Menschen so ermöglichen konnten, an einem kosmischen Bewusstsein Teil zu haben.18 Eine solche auf Transzendenz zielende Psychologie wurde bald zum Kernbestandteil des Human Potential Movements, das eine spirituelle Überschreitung des Humanen auf eine kosmische Alleinheit hin anstrebte. Halluzinogene Drogen wurden in diesem Zusammenhang mit dem Ziel der »Bewusstseinserweiterung« eingesetzt.19 In diesem Sinne versprachen die Halluzinogenforscher Robert Masters und Jean Houston, dass die intensive Arbeit mit diesen Substanzen es ermöglichen werde, »dass das menschliche Bewusstsein über seine gegenwärtigen Grenzen hinausgeführt wird zu Fähigkeiten, die noch nicht verwirklicht sind und von denen wir vielleicht nicht einmal zu träumen wagen«.20 Diese Untersuchung der Verbindungen zwischen Bewusstseinserweiterung, Spiritualität und Physiologie war ebenfalls schon durch Eiland vorgezeichnet worden. Die Bewohner von Pala haben zu diesem Zweck eine eigene wissenschaftliche Disziplin begründet, die sie Neurotheologie nennen.21 Obwohl der zugrunde liegende Ansatz bereits Ende des 19. Jahrhunderts von William James etabliert worden war, tauchte der Be-

16 Kurt Beringer: Der Meskalinrausch. Seine Geschichte und Erscheinungsweise, Berlin: Julius Springer 1927; Nicolas Langlitz: »Ceci n’est pas une psychose. Toward a Historical Epistemology of Model Psychosis«, in: BioSocieties 1 (2006), S. 158-180. 17 Torsten Passie: »Introduction«, in: Psycholytic and Psychedelic Therapy Research 1931-1995: A Complete International Bibliography, Hannover: Laurentius Publishers, S. 9-21. 18 Aldous Huxley: Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrungen mit Drogen, übers. von Herbert E. Herlitschka, München: Serie Piper 1981. 19 Donald Stone: »The Human Potential Movement«, in: Charles Glock/ Robert Bellah (Hg.), The New Religious Consciousness, Berkeley: University of California Press, 1976, S. 93-115. 20 Robert Masters/Jean Houston: The Varieties of Psychedelic Experience. The Classic Guide to the Effects of LSD on the Human Psyche, Rochester (VT): Park Street Press 2000 [1966], S. 316. 21 A. Huxley: Eiland, S. 114 und S. 171. 269

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griff in Huxleys Roman 1962 das erste Mal auf.22 Zur selben Zeit bemühte sich ein Psychologieprofessor in Harvard darum, eine solche Neurotheologie in experimentelle Praxis umzusetzen. Timothy Leary (1920-1996) betreute dort den Doktoranden Walter Pahnke, der in einer Doppelblindstudie zwanzig Theologie-Studenten während einer Karfreitagsmesse entweder Psilocybin (also den Inhaltsstoff der halluzinogenen »Zauberpilze«) oder ein aktives Placebo verabreichte. Pahnke kam zu dem nicht unumstrittenen Schluss, dass sich die von den Probanden beschriebenen Erfahrungen nicht von den in der mystischen Literatur beschriebenen religiösen Erlebnissen unterscheiden ließen.23 Doch Leary kehrte der Wissenschaft bald den Rücken. Der religiösen Interpretation seiner Halluzinogenerlebnisse folgend gerierte er sich zunehmend als Prophet einer pharmakologisch inspirierten Erweckungsbewegung. Nach seiner Entlassung aus Harvard propagierte er Halluzinogene als Allheilmittel, mit dem sich nicht nur kranke Individuen, sondern auch spirituelle Vakuen und Sozialpathologien aller Art kurieren ließen. Diese Zuversicht passte in die Zeit: Die psychopharmakologische Revolution der 1950er Jahre hatte geholfen, den therapeutischen Pessimismus der biologischen Psychiatrie des späten 19. Jahrhunderts zu überwinden. Keine Krankheit schien die pharmazeutischen Möglichkeiten zu übersteigen.24 Leary trieb diese Zuversicht nur noch einen Schritt weiter, wenn er behauptete, dass alle politischen Probleme »neurologisch-hormonell-chemisch« seien und mit Psychopharmaka behandelt werden könnten. So verwarf er Huxleys Rat, halluzinogene Drogen bis auf Weiteres einer intellektuellen Elite vorzubehalten und verfolgte 22 John Horgan: Rational Mysticism. Dispatches from the Border between Science and Spirituality, Boston: Houghton Mifflin Company 2003, S. 74; William James: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übersetzt von Eilert Herms/Christian Strahlhut, Frankfurt a. M.: Insel 2005. 23 Walter Pahnke/William Richards: »Implications of LSD and Experimental Mysticism«, in: Journal of Religion and Health 5 (1966), S. 175-208. Jakob Tanner, »›Doors of Perception‹ versus ›Mind Control‹. Experimente mit Drogen zwischen kalten Krieg und 1968«, in: Birgit Griesecke et al. (Hg.), Kulturgeschichte des Menschenversuchs im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009, S. 340-372, hier S. 348-353. Zu den »universellen Charakteristika« mystischen Bewusstseins, die Pahnke sowohl in der mystischen Literatur als auch in den Erfahrungsberichten seiner Probanden fand, zählten u. a. Einheitserlebnisse, Einsicht in die Identität oppositioneller Pole, Transzendenz von Raum und Zeit und ein Sinn für das Heilige. 24 Andrea Tone: »Tranquilizers on Trial. Psychopharmacology in the Age of Anxiety«, in: Andrea Tone/Elizabeth Siegel Watkins (Hg.), Medicating Modern America. Prescription Drugs in History, New York: New York University Press, S. 156-179. 270

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stattdessen einen egalitären Ansatz. Jeder sollte von seinem Grundrecht Gebrauch machen können, über das eigene Nervensystem frei zu verfügen. Learys Neuropolitik zielte darauf ab, anhand der spirituell konnotierten psychedelischen Erfahrung eine neue Gesellschaftsordnung zu etablieren.25 Aber trotz ihres oft radikalen Tonfalls erscheint seine »Politik der Ekstase« als ein beinahe unpolitisches Projekt: In Learys Augen führte aktive Opposition, wie sie die Bürgerrechtsbewegung oder die gegen den Vietnamkrieg protestierenden Studenten praktizierten, in eine nur noch tiefere Verstrickung mit den entfremdenden und unterdrückerischen »Spielchen« der Gesellschaft. Wie die frühen Christen beschwor Leary spirituelle Transzendenz zur Distanzierung und zum Widerstand gegenüber den Herrschenden.26 Die 1960er Jahre waren sowohl eine Zeit politischer Unruhen als auch eine Zeit tief greifender spiritueller Neuorientierung. Diese bis heute anhaltende als »vierte große Erweckung« bezeichnete Periode der USamerikanischen Religionsgeschichte wird vor allem durch Hinwendung zu erfahrungszentrierten Formen von Spiritualität charakterisiert. Die chemischen Offenbarungen, die viele Menschen in den 1960er Jahren nach Einnahme psychedelischer Drogen erlebten, trugen maßgeblich zu dieser Entwicklung bei.27 Doch die in der Counterculture entstandene Verbindung aus »Instantmystik« und »psychotropem Hedonismus« vertrug sich nicht mit dem in den USA weit verbreiteten »pharmakologischen Calvinismus«. Dieser von Gerald Klerman 1972 geprägte Ausdruck bezeichnet eine Einstellung, die den Gebrauch von Psychopharmaka zum Erlangen von Lust oder Erleuchtung ablehnt.28 Denn solche illegitimen Abkürzungen untergraben den werktätigen und wirtschaftlich produktiven pursuit of happiness. Der pharmakologische Calvinismus ist somit ein Teil des protestantischen Geistes des Kapitalismus, wie Max Weber ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben hat.

25 Timothy Leary: High Priest, New York: The New American Library 1968; ders.: Flashbacks. A Personal and Cultural History of an Era. An Autobiography, New York: G.P. Putnam’s Sons 1983, S. 49 f. 26 Armin Adam: Politische Theologie. Eine kleine Geschichte, Zürich: Pano Verlag 2006. 27 Robert Fuller: Stairways to Heaven. Drugs in American Religious History, Boulder (CO): Westview Press 2000, S. 84-89; Tanya Luhrmann: »The Art of Hearing God: Absorption, Dissociation, and Contemporary American Spirituality«, in: Spiritus 5 (2005), S. 133-157; William McLoughlin: Revivals, Awakenings, and Reform. An Essay on Religion and Social Change in America, Chicago: University of Chicago Press 1978, S. 179216. 28 Gerald Klerman: »Psychotropic Hedonism vs. Pharmacological Calvinism«, in: Hastings Center Report 2 (1972), S. 1-3. 271

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Weber unterschied zwischen zwei Idealtypen religiöser Ethik: Askese und Mystik. Am einen Ende des Spektrums möglicher Permutationen, die sich zwischen diesen beiden Polen auftun, steht der Asketizismus der protestantischen Ethik, der die USA so tief geprägt hat. Hier ist das Ziel, die Verderbtheit des Menschen durch Arbeit zu zügeln. Das Streben nach Erlösung verbindet sich mit weltlichen Geschäften. Durch ein erfolgreiches Berufsleben versucht der Gläubige sich Gewissheit über seine Prädestination zu verschaffen. Die Kontemplation oder Ekstase, die der Mystiker hingegen anstrebt, trägt zur Erreichung dieses nüchternen Ziels nichts bei. Die Mystik verlangt sogar eine Abkehr von der Welt und betrachtet weltliches Engagement als Gefahr für die Erlösung, die nur jenseits der Geschäftigkeit des Arbeitslebens zu finden ist. Außerdem strebt die Mystik Weber zufolge die Kultivierung einer »weltablehnenden Liebe« an, die mit dem unbrüderlichen Geist des Kapitalismus nicht vereinbar ist.29 Der Konflikt zwischen den Befürwortern psychedelischer Drogen und denjenigen, die bald begannen, ihre Illegalisierung voranzutreiben, war also auch religiös codiert. So lässt sich der Gebrauch von Halluzinogenen in der US-amerikanischen Untergrundkultur als ethische Praxis beschreiben, die Drogenmystik mit dem Streben nach Selbsterkenntnis verband und sich in Opposition zum protestantischen Geist des Kapitalismus stellte.30 Wie der Aktivist Jerry Rubin sagte: »Drogen nehmen bedeutet das völlige Ende der protestantischen Ethik: Scheiß auf die Arbeit, wir wollen uns selbst erkennen! Aber das Ziel ist natürlich, sich von den kranken Vorstellungen der amerikanischen Gesellschaft von Arbeit, Erfolg, Entlohnung und Status zu befreien und sich selbst zu finden durch Disziplin, harte Arbeit und Introspektion.«31

Im Laufe der 1960er Jahre wurde die Auseinandersetzung um die Halluzinogene immer mehr zu einem politischen Kampf um die spirituellen Fundamente der amerikanischen Gesellschaftsordnung. Es dauerte nicht lange, bis Learys politische Neurotheologie so viele Anhänger gefunden 29 Max Weber: »Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. Zwischenbetrachtung«, in: ders.: Schriften, 1894-1922, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2002, S. 609-652. Vgl. auch Robert Bellah: »Max Weber and World-Denying Love: A Look at the Historical Sociology of Religion«, in: Journal of the American Academy of Religion 67 (1999), S. 277-304. 30 F. Davis/L. Munoz: »Heads and Freaks«. 31 Zit. in: Jill Jonnes: Hep-Cats, Narcs, and Pipe-Dreams. A History of America’s Romance with Illegal Drugs, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996, S. 239. 272

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hatte, dass US-Präsident Richard Nixon Leary zum »gefährlichsten Mann Amerikas« erklärte.32 Der ausufernde Konsum psychedelischer Drogen unter Jugendlichen der amerikanischen Mittelschicht, eine wachsende Zahl damit verbundener Zwischenfälle und deren Skandalisierung in den Medien führten zu einer sukzessiven Illegalisierung der Halluzinogene zwischen 1966 und 1970. Obwohl deren wissenschaftliche Erforschung dadurch nicht direkt verboten wurde, brachte eine Vielzahl subtilerer Mechanismen diesen Zweig der Psychopharmakologie bald zum Erliegen. Die von Huxleys Roman Eiland inspirierten utopischen Hoffnungen auf eine alternative pharmazeutische Bewusstseinskultur wurden damit zunächst einmal zerschlagen.

I V. P s yc h e d e l i s c h e R e n a i s s a n c e Etwa seit den 1990er Jahren erlebt die Halluzinogenforschung eine Renaissance. 1986 gründete der Amerikaner Rick Doblin die Multidisciplinary Association for Psychedelic Studies. MAPS ist eine gemeinnützige Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Halluzinogenforscher zu vernetzen und finanziell und verwaltungstechnisch zu unterstützen. Die Gründung von MAPS war zunächst eine unmittelbare Reaktion auf das Verbot von Ecstasy (MDMA) im Jahr 1985. Doblin wollte fortan dafür kämpfen, psychedelische Drogen im Allgemeinen und MDMA im Besonderen aus der Illegalität zurück in »unsere gemeinsame Kultur« zu führen. Mit Unterstützung privater Sponsoren versuchte Doblin Studien zu finanzieren, um die Arzneimittelsicherheit und die klinische Wirksamkeit von Psychedelica zu belegen. Auch das 1993 gegründete Heffter Research Institute machte es sich zur Aufgabe, die Halluzinogenforschung wieder zu beleben, konzentrierte sich aber stärker auf Grundlagenforschung und die Substanz Psilocybin. Die Neurowissenschaftler, Chemiker und Psychiater, die Heffter ins Leben gerufen hatten, machten dabei kein Geheimnis daraus, dass der Schulterschluss mit der populär gewordenen Hirnforschung nicht allein aus wissenschaftlicher Neugier, sondern auch aus strategischen Erwä-

32 Richard Davenport-Hines: The Pursuit of Oblivion. A Social History of Drugs, London: Phoenix 2002, S. 265. Zum Begriff der politischen Neurotheologie und dessen Schmittscher Konnotation vgl. Nicolas Langlitz, »Political Neurotheology. Emergence and Revival of a Psychedelic Alternative to Cosmetic Psychopharmacology«, in: Francisco Ortega/Fernando Vidal (Hg.), The Neurosciences in Contemporary Society. Glimpses from an Expanding Universe. Frankfurt a. M.: Peter Lang (im Erscheinen). 273

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gungen erfolgte und einer Relegitimierung psychedelischer Drogen dienen sollte.33 Was diese neue Generation von Halluzinogenforschern trotz aller Meinungsverschiedenheiten eint, ist die Überzeugung, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen muss. Vor allem soll ein antagonistisches Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft, wie Leary es propagierte, unter allen Umständen vermieden werden. Ihr Ziel ist es, psychedelische Drogen in den wissenschaftlichen und kulturellen Mainstream zurückzuführen. Dazu bieten sich zunächst medizinische Anwendungen an, da nicht-medizinisches Enhancement schon im Bereich legaler Psychopharmaka umstritten ist. Deshalb verfolgt MAPS seine Mainstreaming-Agenda gegenwärtig etwa durch die Förderung von Studien zur MDMA-unterstützten Psychotherapie von Soldaten und Polizisten, die an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden. »Wir möchten zeigen«, erklärte Doblin, »dass MDMA auch Leuten im Herzen der Machtstrukturen, im Mainstream helfen kann.«34 Heffter agiert demgegenüber politisch weniger offensiv und betont, dass die moderne Forschung zur Entzauberung der Halluzinogene beiträgt: »Die Werkzeuge der heutigen Neurowissenschaft, einschließlich in vivoBildgebungstechnologien, haben den Halluzinogenen ein modernes Gesicht verliehen. Wissenschaftler sehen in ihnen keine Zauberdrogen mehr, sondern 5-HT2A-Rezeptor-spezifische Moleküle, die Membranpotentiale, neuronale Feuerungsraten und Neurotransmitter-Ausschüttungen in bestimmten Hirnregionen verändern.«35

Damit scheinen sich diese umstrittenen Substanzen ganz unauffällig in die moderne Pharmakopöe einzureihen. Ein zu Heffter gehöriger Pharmakologe erklärte im persönlichen Gespräch, dass man sich von Learys Generation und auch von MAPS vor allem dadurch unterscheide, dass man deren messianische Hoffnung aufgegeben habe, dass halluzinogene Drogen ein neues Zeitalter einläuten und die Gesellschaft revolutionieren würden.36 Ein anderes Heffter-Mitglied betont, dass psychedelische 33 Charles Grob: »Psychiatric Research with Hallucinogens: What Have We Learned?«, in: Charles Grob (Hg.) Hallucinogens. A Reader, New York: Jeremy P. Tarcher/Putnam, S. 263-291, hier S. 280. 34 Rick Doblin: »Interview with Rick Doblin (for NeuroSoup.com)« (2007). 35 David Nichols: »Hallucinogens«, in: Pharmacology & Therapeutics 101 (2004), S. 131-181, hier S. 168. 36 Alle in diesem Aufsatz zitierten Gespräche mit Mitgliedern des Zürcher Heffter-Labors wurden vom Autor im Rahmen einer ethnografischen Studie zur zeitgenössischen Halluzinogenforschung geführt. Ein auf dieser Feldforschung basierendes Buch ist in Vorbereitung. 274

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Erfahrungen nicht per se Nonkonformismus fördern müssen, sondern auch – wie in vielen Stammesgesellschaften – den kulturellen Zusammenhalt stärken können.37 Demnach hätten gerade die Neurobiologisierung und Entpolitisierung eine Renaissance der Halluzinogenforschung ermöglicht. Doch diese vorgebliche Entpolitisierung qua Verwissenschaftlichung ist selbst ein politischer Schachzug. Die heute angestrebte Annäherung zwischen halluzinogenen Drogen, Biomedizin und wissenschaftspolitisch relevanten Institutionen zielt nicht einfach darauf ab, die Halluzinogene gleichsam zu zähmen. Sie soll auch Betäubungsmittelgesetze, Therapien und – zumindest in Doblins ambitionierter Vision – auch die Gesellschaft als ganze verändern. Die psychedelische Revolution ist nicht völlig aufgegeben, sondern in eine gemäßigtere Reformbewegung umgewandelt worden. MAPS macht darüber hinaus auch kein Geheimnis daraus, dass man nicht nur rechtliche Reformen und medizinische Anwendungen von Psychedelica anstrebt, sondern darüber hinaus auch eine verstärkte Spiritualisierung der Politik. In einem 2002 erschienen Sonderheft des MAPS Bulletin heißt es z. B.: »Es herrscht ein Idealismus im Herzen der psychedelischen Gemeinde, der schwer zu erklären ist. Er basiert zum Teil auf der Überzeugung, dass selbst unvollständige mystische Einheitserlebnisse – ob sie nun von psychedelischen Drogen katalysiert wurden oder nicht – transformative Effekte haben können. Es besteht die Hoffnung, dass diese bleibenden Veränderungen mehr Toleranz und Wertschätzung von Vielfalt beinhalten, ein gesteigertes Umweltbewusstsein, Solidarität mit den Armen und Unterdrückten und eine Bereitschaft, schwierige Gefühle durchzuarbeiten anstatt sie auf einen äußeren Feind oder Sündenbock zu projizieren.«38

Obwohl MAPS Learys gegenkulturelle Politik ablehnt, verbindet die Organisation ein Motto der UNESCO, nach dem alle Kriege in den Köpfen der Menschen beginnen, mit Learys Credo, dass alle politischen Probleme »neurologisch-hormonell-chemische« Probleme seien und mit psychedelischen Drogen gelöst oder zumindest gelindert werden könnten.39 Der britische Transhumanist David Pearce hat für diese Agenda

37 C. Grob: »Psychiatric Research with Hallucinogens«, S. 283. Ethnologisch wird diese These zum Beispiel vertreten von Peter Furst: Hallucinogens and Culture, San Francisco: Chandler & Sharp 1976. 38 MAPS’ Einleitung zu Dennis Kucinich: »Spirit and Stardust«, in: MAPS Bulletin xii (2002), S. 19-24, hier S. 19. 39 »Since wars begin in the minds of men, it is in the minds of men that the defenses of peace must be constructed.« Zitiert im MAPS Newsletter 2 275

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den Begriff paradise-engineering geprägt. In einer kritischen Auseinandersetzung mit Schöne neue Welt hält er den »biokonservativen« Lektüren des Romans entgegen, dass »better living through chemistry« tatsächlich möglich sei. Er räumt zwar ein, dass die Effekte von LSD und Meskalin zu schwer kontrollierbar seien, um mit ihrer Hilfe ein an Eiland angelehntes Paradies auf Erden zu schaffen. Doch die schwindelerregenden Fortschritte der molekularen Neurowissenschaften und der Verhaltensgenetik würden bald neue Designerdrogen und andere Biotechnologien hervorbringen, die uns nicht nur leistungsstärker und glücklicher, sondern auch liebender, mitfühlender und spiritueller machen könnten. Wie Doblin sieht auch Pearce in MDMA einen Vorboten dieser himmlischen Pharmakologie.40 Hinsichtlich der öffentlichen Distanz gegenüber Formen pharmakologischer Selbstverbesserung kann man allerdings bezweifeln, ob sich die westlichen Gesellschaften im Zeitalter von Prozac gegenüber einer psychedelischen Alternative zur etablierten kosmetischen Psychopharmakologie geöffnet haben. Deshalb ist es auch fraglich, ob die politisierte Drogenmystik von MAPS tatsächlich mit dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Mainstream harmonieren kann. Doch die Abkehr von einem gegenkulturellen Selbstverständnis hat zumindest ein Ethos hervorgebracht, das nicht mehr in scharfem Widerspruch zur protestantischen Ethik des Kapitalismus steht. Jenseits einer radikalen Abkehr von der Gesellschaft sollen Alleinheits-Erfahrungen nun in einen »aktiven Bürgersinn« übersetzt werden.41 Das in der US-amerikanischen Wirtschaft verdiente Geld und der die kapitalistische Ökonomie antreibende Unternehmergeist werden genutzt, um die Halluzinogenforschung zu fördern und die Welt zu verändern. MAPS beschreibt sich inzwischen sogar selbst als »gemeinnütziges Pharma-Unternehmen«.42 Doch nicht nur die Kluft zwischen Mystik und Kapitalismus ist kleiner geworden, auch der amerikanische Protestantismus hat sich seit den 1960er Jahren verändert. Der Gegensatz zwischen der protestantischen Konzentration auf die Heilige Schrift und der Betonung intensiver spiritueller Erfahrungen durch die Drogenmystiker hat sich abgeschwächt. In seinem Buch über den Einfluss der Counterculture auf die traditionellen

(1990/1991), bei: http://www.maps.org/news-letters/v02n1/02101rep.html, vom 11. Dezember 2009. 40 David Pearce: »Brave New World? A Defence of Paradise-Engineering« (1998). 41 D. Kucinich: »Spirit and Stardust«, S. 19. 42 Rick Doblin: »A Clinical Plan for MDMA (Ecstasy) in the Treatment of Post-traumatic Stress Disorder (PTSD): Partnering with the FDA«, MAPS Bulletin xii (2002), S. 5-18, hier S. 5. 276

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Konfessionen gelangt der Religionshistoriker Mark Oppenheimer sogar zu der Feststellung, dass seit »Mitte der siebziger Jahre die Gegenkultur die Kultur geworden« sei.43 Die mit dieser Entwicklung einhergehende Betonung spiritueller Erfahrung im Unterschied zum etablierten Verständnis der Religionen als symbolischer Wertordnung führte in den USA zur Gründung privater Stiftungen, welche sich um eine Überwindung der Kluft zwischen Wissenschaft und Spiritualität bemühen. Das buddhistisch orientierte Mind and Life Institute, das Fetzer Institute oder die von einem evangelikalen Investor gegründete John Templeton Foundation fördern Studien, die »auf die Kraft von Liebe und Vergebung aufmerksam machen« und »spirituelle Realitäten« erforschen wollen. In diesem Rahmen werden auch neurotheologische Projekte gefördert, die – ganz im Sinne des späten Huxley – spirituelle Erfahrungen nicht auf Hirnzustände reduzieren, sondern das Gehirn als Sinnesorgan verstehen, das es uns ermöglicht, einer zwar immateriellen, aber doch real existierenden sakralen Dimension gewahr zu werden. Ein 2006 im Chronicle of Higher Education erschienener Artikel macht deutlich, dass heute die Rede von »spiritueller Realität« in den traditionell materialistisch orientierten Neurowissenschaften durchaus gesellschaftsfähig geworden ist.44 Die Mehrzahl der Experimente, die an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Religion durchgeführt werden, studieren die neuronalen Korrelate von Meditation und Gebet. Aber auch halluzinogen-induzierte Zustände werden untersucht.45 Hier treffen sich eine erfahrungszentrierte Spiritualität und der heuristische Individualismus der Neurowissenschaften darin, dass sie von soziokulturellen Einbettungen konkreter Erfahrungen abstrahieren. Natürlich basieren Teile der wiederbelebten Halluzinogenforschung weiterhin auf rein mechanistischen Konzeptionen, was etwa an der Restitution des Konzepts der Modellpsychose deutlich wird.46 Aber vielen 43 Mark Oppenheimer: Knocking on Heaven’s Door. American Religion in the Age of Counterculture, New Haven: Yale University Press 2003, S. 6. 44 Richard Monastersky: »Religion on the Brain«, in: The Chronicle of Higher Education 52 (2006), S. A14; Christian Schüle: »Geld lehrt beten. Wie die amerikanische Templeton Foundation ihren Reichtum einsetzt, um die Wissenschaft auf den Weg des Glaubens zu bringen«, in: DIE ZEIT vom 4. Mai 2006. 45 Auf diese Weise geförderte Forschungsprojekte waren zum Beispiel Rael Cahn: Neurophysiological Correlates to Sensory and Cognitive Processing in Altered States of Consciousness (Dissertation), University of California, San Diego 2006; Roger Walsh/Charles Grob (Hgs.), Higher Wisdom. Eminent Elders Explore the Continuing Impact of Psychedelics, Albany: State University of New York Press 2005. 46 In der Psychopharmakologie versteht man unter mechanistischen Studien Untersuchungen, die den neurochemischen Wirkmechanismus einer Sub277

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anderen Forschungsprojekten liegt auch ein Verständnis von Neurospiritualität zugrunde, wie wir es in Huxleys Eiland finden. So führte der Psychiater Roland Griffiths von der Johns Hopkins University 2006 eine Psilocybin-Studie mit spirituell aktiven Probanden durch. Als aktives Placebo diente Ritalin. In einem wohnzimmerartigen Setting mit klassischer Musik und unter Führung eines erfahrenen psychedelischen Therapeuten durchlebten 58% der Probanden eine »vollständige« mystische Erfahrung und zwei Drittel zählten den Trip zu den fünf bedeutsamsten Erfahrungen ihres Lebens (auf einer Ebene mit der Geburt eines Kindes oder dem Tod eines Elternteils). Ein Drittel erlebte während der Sitzung jedoch extreme Angst. Interessanterweise machten viele Teilnehmer auch unter Ritalin quasi-mystische Erfahrungen. Diese gingen jedoch weniger tief und hatten keine anhaltenden Folgen. Dagegen führten noch vierzehn Monate nach dem Experiment zwei Drittel der Teilnehmer ein gesteigertes Wohlbefinden und größere Lebenszufriedenheit auf ihre Psilocybin-Erlebnisse zurück. Es ging ihnen sozusagen »better than well«.47 Gegenwärtig führen sowohl Griffiths Team als auch von MAPS und Heffter unterstützte Psychiater klinische Studien mit Krebspatienten im Endstadium durch. MDMA, Psilocybin und LSD sollen ihnen helfen, durch eine bewusstere Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben, Angst und Depressionen zu überwinden, um die ihnen verbleibende Zeit besser nutzen zu können. Dieser Gebrauch einer psychedelischen Droge zur Vorbereitung auf den eigenen Tod wurde ebenfalls in Huxleys Roman Eiland vorweg genommen.48 Im Rückgriff auf Huxleys späte Utopie entwirft die Halluzinogenforschung also ein anderes Bild vom nicht-therapeutischen Psychopharmaka-Gebrauch als es Kass, Fukuyama und andere mit ihren Bezügen auf Huxleys frühe Dystopie Schöne neue Welt tun. Damit soll allerdings keineswegs gesagt sein, dass unsere soziale Wirklichkeit mehr der einen als der anderen Fiktion gleichen würde. Wir leben in keiner dieser beiden Welten. Und alle Warnungen bzw. Versprechungen, wir seien auf dem besten Weg in die eine oder andere, sind im Kontext gegenwärtiger medizinischer, politischer und weltanschaulicher Konflikte zu verstehen. stanz aufklären helfen. Im Falle der Modellpsychoseforschung sollen Erkenntnisse über die Wirkungsweise der Halluzinogene gleichzeitig die Pathophysiologie der Schizophrenie erhellen. 47 Roland Griffiths et al.: »Mystical-type experiences occasioned by psilocybin mediate the attribution of personal meaning and spiritual significance 14 months later«, in: Journal of Psychopharmacology 22 (2008), S. 621632; ders. et al.: »Psilocybin can occasion mystical-type experiences having substantial and sustained personal meaning and spiritual significance«, in: Psychopharmacology 187 (2006), S. 268-283. 48 A. Huxley: Eiland, S. 168f. 278

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Der Bezug auf Huxleys Zukunftsromane dient weniger einer adäquaten Repräsentation als vielmehr der politischen Intervention in die schwer auf einen Nenner zu bringende gesellschaftliche Wirklichkeit der Psychopharmakologie.

V. E n h a n c e m e n t j e n s e i ts m e s s b a r e r Leistungssteigerung? Jenseits der auf die eine oder andere Weise an Huxley orientierten Gesellschafts- und Zukunftsentwürfe fällt der Blick auf die zeitgenössische Psychopharmakologie nüchterner aus. Die angeblich schwindelerregenden Fortschritte der Neurowissenschaften, von denen der Transhumanist Pearce schwärmt und welche die Biokonservativen Kass und Fukuyama mit Sorge erfüllen, konnten bislang nicht in neue pharmakologische Entwicklungen umgesetzt werden. Rational drug design, also die gezielte Herstellung von Molekülen mit vorab definierten pharmakologischen Wirkungen, ist immer noch Wunschdenken. In der Geschichte der Psychopharmakologie waren alle entscheidenden Entdeckungen Zufallsfunde und bislang spricht wenig dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Was die schon heute verfügbaren Psychopharmaka betrifft, so ist deren Effektivität im Bereich von Human Enhancement begrenzt. Der niederländische Neurowissenschaftler Reinoud de Jongh kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die untersuchten Substanzen (z. B. vermeintliche cognitive enhancers wie Ritalin oder Stimmungsaufheller wie Prozac), die gewünschten Eigenschaften nur wenig über das normale Maß hinaus verbessern konnten. Zudem wurden diese Verbesserungen meist mit signifikanten Nebenwirkungen erkauft, die mitunter sogar den intendierten Effekt konterkarierten.49 Dass der steigende Konsum solcher neuroenhancer uns auf eine schiefe Bahn in Richtung Schöne neue Welt führt, ist aber wohl auch deshalb unwahrscheinlich, weil die gegenwärtige Situation in vielerlei Hinsicht den 1960er Jahren ähnelt. Damals war der Konsum von Stimulantien wie Ritalin zu nicht-medizinischen Zwecken etwa auf demselben Stand wie heute – nur waren es damals vor allem die Halluzinogene, die in der Öffentlichkeit für Aufregung sorgten. In der Folge wurden jedoch weder Huxleys Utopie noch seine Dystopie Wirklichkeit. Stattdessen ging der Gebrauch von Halluzinogenen und Stimulantien 49 Reinoud de Jongh et al.: »Botox for the brain: enhancement of cognition, mood and pro-social behavior and blunting of unwanted memories«, in: Neuroscience and Biobehavioral Reviews 32 (2008), S. 760-776. 279

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wieder zurück und die öffentliche Aufmerksamkeit wandte sich anderen Substanzklassen zu.50 Trotz der Renaissance der Halluzinogenforschung führen die Psychedelica seit ihrem Verbot sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesellschaft eine eher randständige Existenz. Allerdings haben der Philosoph Hubert Dreyfus und der Anthropologe Paul Rabinow darauf hingewiesen, dass gerade marginalisierte Praktiken ein kritisches Potential bergen, das zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse herangezogen werden könnte.51 In einer Zeit, in welcher der Konsum von cognitive enhancers und happy pills zum Paradigma des nicht-medizinischen Gebrauchs von Psychopharmaka aufgestiegen ist, könnte eine revitalisierte Psychedelik der zeitgenössischen Pharma-Kultur frische Impulse geben.52 Aber vielleicht müsste man dafür erst den Huxleyschen Rahmen verlassen, der das Nachdenken über die gesellschaftliche Bedeutung der Psychopharmakologie im 20. Jahrhundert so maßgeblich geprägt hat. Dass die Halluzinogene trotz ihrer Illegalisierung viele Menschen in ihren Bann gezogen haben, liegt wohl vor allem an der schillernden Qualität der von ihnen eröffneten Erfahrungen. Außer der von vielen geschilderten spirituellen Dimension psychedelischer Erlebnisse stechen häufig ästhetische Erfahrungsformen hervor. Franz Vollenweider, der Leiter des Zürcher Heffter-Labors Neuropsychopharmacology and Brain Imaging, beschreibt z. B., wie sich musikalische Eindrücke unter dem Einfluss von Psilocybin potenzierten. In einem Experiment sei einmal Musik aus zwei kleinen quäkenden Lautsprechern gedrungen und trotzdem habe es geklungen wie in einem Konzertsaal. Doch diese Steigerung ästhetischen Erlebens steht im Widerspruch zur Sinnesphysiologie. 1966 hatte der Schweizer Psychiater Kaspar Weber Berufsmusikern Psilocybin verabreicht. Obwohl diese ebenfalls angaben, die Musik intensiver zu erleben, verschlechterten sich ihre Fähigkeiten, bestimmte Tonfolgen wieder zu identifizieren und die Zeitstruktur eines Stückes zu

50 Nicolas Langlitz: »Das Gehirn ist kein Muskel«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. Januar 2010, S. 52. Nicolas Rasmussen: »America’s first amphetamine epidemic 1929-1971: a quantitative and qualitative retrospective with implications for the present«, in: American Journal of Public Health 98 (2008a), S. 974-985. 51 Hubert Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/Main: Athenäum 1987, S. 305 f. 52 Vgl. etwa Nicolas Langlitz: »Kultivierte Neurochemie und unkontrollierte Kultur. Über den Umgang mit Gefühlen in der psychopharmakologischen Halluzinogenforschung«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften (im Erscheinen). 280

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erfassen.53 Eine ähnliche Diskrepanz zwischen vertiefter Erfahrung und reduzierter Perzeptionsleistung zeigten auch Experimente zur Farbwahrnehmung unter dem Einfluss von Halluzinogenen.54 Möglicherweise scheitert die Objektivierung von psychedelischem Enhancement aber nicht allein an der eigentümlichen Natur der Substanzen, sondern auch an der epistemischen Beschränktheit laborwissenschaftlicher Forschung. Vollenweider hat diesen Sachverhalt im Gespräch einmal so auf den Punkt gebracht: »Es ist extrem schwierig, diese innerpsychische Wahrheit oder subjektive Realität zu erfassen. Man kann sie zwar mit Hilfe von Fragebögen und neuropsychologischen Experimenten kartografieren, aber diese Eingriffe lassen die Zustände in sich zusammen fallen. Es gibt so etwas wie Heisenbergs Unschärfeprinzip in der Halluzinogenforschung: schaut man die Neurophysiologie an, so entwischt einem die Erfahrung und umgekehrt.«55

Was für Konsequenzen hat diese Einsicht für das Verhältnis von Wissenschaft und Lebensführung? Wären die Psychedelica anders zu bewerten, je nachdem ob die erlebte Steigerung des ästhetischen Erlebens und des Mitgefühl auch objektivierbar ist? Oder klaffen hier nicht nur Objektivität und Subjektivität, sondern auch zwei Konzeptionen von Enhancement auseinander: auf der einen Seite Leistungssteigerung, auf der anderen ein Streben nach dem guten (oder besseren) Leben? Im Vergleich zu den hochfliegenden Hoffnungen der Hippies und ihrer Wiederbelebung durch die Aktivisten von MAPS fällt Vollenweiders Urteil über das Potential der Psychedelica jedoch nüchtern aus: »Ich habe mich immer gefragt, warum es in der Halluzinogenforschung häufig Leute gibt, die komische Sachen machen, ständig Drogen nehmen und darin das non plus ultra sehen. Die stellen es so dar, als ob man diese Substanzen nur nehmen bräuchte und schon ist man geheilt und es gibt Frieden auf der Welt. Wenn es wirklich so wäre, dann hätten wir das schon 1968 gehabt. Ich habe etwas gegen diese Glorifizierung. 53 Claudio Vannini/Maurizio Venturini: Halluzinogene. Entwicklung der Forschung, 1938 bis in die Gegenwart. Schwerpunkt Schweiz, Berlin: VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung 1999, S. 375-380. 54 Alan Hartman/Leo Hollister: »Effect of Mescaline, Lysergic Acid Diethylamide and Psilocybin on Color Perception«, in: Psychopharmacologia 4 (1963), S. 441-451. 55 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Rolle der Subjektivität in der psychopharmakologischen Halluzinogenforschung findet sich in Nicolas Langlitz: »The Persistence of the Subjective in Neuropsychopharmacology. Observations of Contemporary Hallucinogen Research«, in: History of the Human Sciences 23 (2010b), S. 1-21. 281

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Heute morgen habe ich an einem Artikel geschrieben und dabei Bach gehört. Beim Schreiben höre ich gerne Bach. Aber wenn ich mich nicht konzentrieren muss, dann mag ich lieber Jazz-Rock. Da muss es fetzen und knallen. Ich habe also verschiedene Mittel, um glücklich zu sein. So ist es auch mit den Halluzinogenen. Die sind keine Allheilmittel, das ist Unsinn. Und höchstwahrscheinlich sind sie nur für mehr oder weniger Gesunde.«

Dieser Hinweis auf mögliche nicht-medizinische Anwendungen von Psychedelica zeigt: Mit der Renaissance der Halluzinogenforschung tut sich erneut eine psychedelische Alternative zur kosmetischen Psychopharmakologie auf. Vielleicht liegt deren Potential aber nicht in der Ersetzung der schönen neuen Welt von Prozac und Ritalin durch die Realisierung einer psychedelischen Utopie. Stattdessen unterlaufen die schwer zu bändigenden Halluzinogene die szientistischen Machbarkeitsphantasien, über die sich die enthusiasmierten Fürsprecher psychopharmakologischen Enhancements und ihre alarmistisch gestimmten Gegner einig scheinen. In den hochgradig kompetitiv organisierten Gesellschaften der Spätmoderne erinnern diese Substanzen an die belebende Kraft spiritueller und ästhetischer Erfahrungen jenseits aller messbaren Leistungssteigerung.

Literatur Adam, Armin: Politische Theologie. Eine kleine Geschichte, Zürich: Pano Verlag 2006. Bellah, Robert: »Max Weber and World-Denying Love: A Look at the Historical Sociology of Religion«, in: Journal of the American Academy of Religion 67 (1999), S. 277-304. Beringer, Kurt: Der Meskalinrausch. Seine Geschichte und Erscheinungsweise, Berlin: Julius Springer 1927. Cahn, Rael: Neurophysiological Correlates to Sensory and Cognitive Processing in Altered States of Consciousness (Dissertation), University of California, San Diego 2006. Davenport-Hines, Richard: The Pursuit of Oblivion. A Social History of Drugs, London: Phoenix 2002. Davis, Fred/Munoz, Laura: »Heads and Freaks: Patterns and Meanings of Drug Use Among Hippies«, in: Journal of Health and Social Behavior 9 (1968), S. 156-164. Doblin, Rick: »The Two Functions of MAPS«, in: MAPS Newsletter 1 (1990), http://www.maps.org/news-letters/v01n3/01302fcn.html. : »Summer Overview«, in: MAPS Newsletter 11 (1991), http://www. maps.org/news-letters/v02n2/02201ovr.html. 282

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: »A Clinical Plan for MDMA (Ecstasy) in the Treatment of Post-traumatic Stress Disorder (PTSD): Partnering with the FDA«, in: MAPS Bulletin xii (2002), S. 5-18. : »Interview with Rick Doblin (für NeuroSoup.com)« (2007), http:// www.NeuroSoup.com/membersonly/rick_doblin_interview.htm vom 14. Dezember 2009. Dreyfus, Hubert/Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, übers. Von Claus Rath und Ulrich Raulff, Frankfurt a. M.: Athenäum 1987. Fukuyama, Francis: Das Ende des Menschen, übers. von Klaus Kochmann, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2002. Fuller, Robert: Stairways to Heaven. Drugs in American Religious History, Boulder (CO): Westview Press 2000. Furst, Peter: Hallucinogens and Culture, San Francisco: Chandler & Sharp 1976. Griffiths, Roland/Richards, William/M. Johnson et al.: »Mystical-type experiences occasioned by psilocybin mediate the attribution of personal meaning and spiritual significance 14 months later«, in: Journal of Psychopharmacology 22 (2008), S. 621-632. Griffiths, Roland/Richards, William/Una McCann et al.: »Psilocybin can occasion mystical-type experiences having substantial and sustained personal meaning and spiritual significance«, in: Psychopharmacology 187 (2006), S. 268-283. Grob, Charles: »Psychiatric Research with Hallucinogens: What Have We Learned?«, in: Charles Grob (Hg.) Hallucinogens. A Reader, New York: Jeremy P. Tarcher / Putnam 2002, S. 263-291. Hagner, Michael: »Das Unbewusste zwischen Subversion und neurowissenschaftlichem Biedermeier«, in: Christina von Braun/Dorothea Dornhof/ Eva Johach (Hgs.), Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009, S. 27-43. Hartman, Alan/Hollister, Leo: »Effect of Mescaline, Lysergic Acid Diethylamide and Psilocybin on Color Perception«, in: Psychopharmacologia 4 (1963), S. 441-451. Heffter Research Institute: Research at the Frontiers of the Mind. Case for Support, o.O. u. o. J. Horgan, John: Rational Mysticism. Dispatches from the Border between Science and Spirituality, Boston: Houghton Mifflin Company 2003. Huxley, Aldous: Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Erfahrungen mit Drogen, übers. von Herberth E. Herlitschka, München: Serie Piper 1981. : Eiland, übers. von Merlys Herlitschka, München: Piper 1984. : Moksha. Auf der Suche nach der Wunderdroge, übers. von Herberth E. Herlitschka, München: Piper 1987.

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Die Verbesserung der Natur in der Vision konvergierender Technologien ARIANNA FERRARI Abstract: Es ist das Ziel dieses Beitrags zu zeigen, dass die viel diskutierte Idee der technologischen Verbesserung des Menschen (Human Enhancement) durch konvergierende Technologien auf einem bestimmten Naturverständnis basiert. In diesem erscheint Natur zum einen als eine Summe von technologisch verbesserbaren Fähigkeiten und funktionalen Eigenschaften und zum anderen als etwas, das nicht nur vom Menschen kontrolliert und umgestaltet werden kann, sondern selbst auch als eine autonome Maschine funktioniert, als etwas, das sich selbst herstellt. Natur erscheint nicht mehr als etwas, das autonom im Gegensatz zur menschlichen Aktivität steht, sondern als etwas, das von der technologischen Aktivität des Menschen abhängt. Daher stellt sich die Frage nach dem Sinn technologischer Naturverbesserung. Ist endlose Verbesserung die einzig mögliche Interpretation einer kontingenten Natur?

I . Ve r b e s s e r u n g ( E n h a n c e m e n t ) i n d e r N B I C - Vi s i o n Aus der synergetischen Kombination von vier innovativen Forschungsund Technologiefeldern – Nanotechnologien, Biotechnologien, Informationstechnologien und Kognitionswissenschaften1 (nano, bio, info, cogno, NBIC) – sei eine vorher unvorstellbare Verbesserung menschli1

Hier ist der Unterschied zwischen Nano-, Bio- und Info-Technologien und Kognition-Wissenschaften zu beachten. Zur Rolle von »Cogno« in den konvergierenden Technologien vgl. Daniel Andler/Vincent Pagarde: Cognitive science within Convergence: A first attempt at delineating the field in Europe, 2006; vgl. auch Christopher Coenen: Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politischen Aktivitäten zu ›Converging Technologies‹, Berlin 2008. 287

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cher Leistungen, des gesellschaftlichen Nutzens von Wissenschaft und Technik, nationaler Produktivität sowie der Lebensqualität zu erwarten. So lautet die Botschaft eines Workshops, der im Jahr 2001 von der USamerikanischen National Science Foundation (NSF) und dem USHandelsministerium organisiert wurde. Die verantwortlichen NSF-Mitarbeiter hatten die Vision einer Revolution, einer erneuten »Renaissance«, in deren Zuge der Mensch vor allem dank der Prozesse der Informatisierung und technologischen Miniaturisierung fähig wird, sich selbst und seine Welt neu zu gestalten: »We stand at the threshold of a new renaissance in science and technology, based on a comprehensive understanding of the structure and behavior of matter from the nanoscale up to the most complex system yet discovered, the human brain. Unification of science based on unity in nature and its holistic investigation will lead to technological convergence and a more efficient societal structure for reaching human goals.«2

Konvergenzprozesse zeigen sich z. B. zwischen Informatik, Biologie und Nanotechnologie: Genetische Information kann durch Biosensoren und Mikrochips »ausgelesen«, werden, die Sensoren werden immer kleiner und in die Umwelt oder sogar in Lebewesen direkt integriert. Durch die Erzeugung von nanoskaligen Instrumenten werden immer komplexere Operationen möglich. Die Verbesserung individueller menschlicher Fähigkeiten wird in der NBIC-Vision mit der Verbesserung sozialer Prozesse verbunden, die individuelle wird also unmittelbar mit der gesellschaftlichen Ebene verknüpft. Die Verbesserung einer Leistung soll hinsichtlich ihres sozialen Kontextes beobachtbar und »messbar« werden. Diese technologischen Fortschritte sollen dafür herangezogen werden, explizit, gezielt und basal in die Natur einzugreifen bzw. die Natur gemäß unserer Bedürfnisse zu verändern. Der mit neuen geistigen und körperlichen Fähigkeiten ausgestattete und insofern verbesserte Mensch ist zugleich auch der Mensch, der seine Umwelt beeinflussen und neu gestalten kann. Nicht nur der menschliche Körper, für den eine Hybridisierung mit Maschinen vorgesehen ist, erscheint in dieser Vision als unvollkommen und mangelhaft. Auch Tiere und Pflanzen gelten als ineffiziente Produktionsmaschinen und die Umwelt wird als zu perfektionierendes System beschrieben: Neue Formen von nanobiotechnologischer Manipulation werden demnach eine »saubere« und 2

Mihail C. Roco/William S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies for Improving Human Performance: Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Technology, NSF/DOC-sponsored Report, Arlington 2002, S. 1.

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effiziente Landwirtschaft ermöglichen und artifizielle Bakterien und andere Mikroorganismen können wieder eine »saubere« Umwelt hervorbringen. Das Bild eines Menschen, der sich jetzt dank seiner eigenen Kreativität weiter entwickeln kann, enthält hier immer auch das Motiv, dass diese schöpferischen Kräfte auf das dem Menschen Äußere projiziert werden können, auf andere Menschen, auf die neuen konvergenztechnologischen Produkte und auf die Umwelt, die nichtmenschliche Natur. Um die besonders weitreichende NBIC-Vision einer Menschheit zu realisieren, die – bei Bewahrung der Individualität und verbesserter Produktivität – einem einzigen, verteilten und ineinander vernetzten Gehirn ähneln soll,3 muss der Fortschritt in allen möglichen Lebensbereichen verwirklicht werden, also auch in der Landwirtschaft, der sonstigen Nutzung von Pflanzen und Tieren sowie im Umgang mit der Umwelt insgesamt. Tatsächlich wird unter den vielfältigen Zielbestimmungen technologischer Konvergenz wie z. B. Fortschritte in der Mensch-MaschineKommunikation, Monitoring des eigenen Gesundheitszustandes, kognitives Enhancement, Verbesserung von Robotern und technologische Kompensation physischer und psychischer »Defekte« auch explizit die Neugestaltung von Tieren und Pflanzen aufgeführt: »The ability to control the genetics of humans, animals, and agricultural plants will greatly benefit human welfare; widespread consensus about ethical, legal and moral issues will be built in the process […]. Agriculture and the food industry will great increase yields and reduce spoilage through networks of cheap, smart sensors that constantly monitor the conditions and the need of plants, animals and farm products.«4

Der verbesserte Mensch, der Pflanzen und Tiere immer effizienter nutzt, ist Herr über die Natur, die menschliche wie die nichtmenschliche, die er beide grundlegend verändern kann. Die Verknüpfung von auf Verbesserung ausgerichteten Menschen- und Naturbildern zeigt sich aber nicht bloß hinsichtlich des Ziels einer besseren Kontrolle natürlicher Prozesse sowie von Lebewesen, sondern auch darin, dass Mensch und Natur in ähnlicher Weise beschrieben und konzipiert werden. Die Formen der Beschreibung eröffnen die Perspektive einer Verbesserung im Sinne einer Rekonstruktion der Natur und des Menschen. In den Visionen im Umfeld der so genannten konvergierenden Technologien erscheint die Natur als »plastischer« bzw. gestaltender Ingenieur, besonders deutlich im Fall der Nano(bio)technologien: Die Natur wird hier einerseits mit3 4

M. C. Roco/W. S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies, S. 6. Ebd., S. 5. 289

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tels eines mechanizistischen und reduktionistischen Vokabulars beschrieben – indem z. B. Zellen als Maschinen charakterisiert werden5 –, andererseits wird die spontane und selbstgestalterische Kraft der Natur gepriesen und imitiert.6 Der Treiber der Entwicklung als Selbstgestaltung ist die Verbesserung selbst in Form menschlicher Kreativität, die nun auch in der Lage ist, sich der kreativen Kräfte der Natur zu bedienen.7 In der Rede von einer Verbesserung der Fähigkeiten und Leistungen des Menschen sowie der Gesellschaft wird als Ziel des Fortschritts die Veränderung physischer oder psychisch-kognitiver Teilaspekte identifiziert und nicht eine umfassendere kulturelle und historische Entwicklung. Die Probleme unserer Zeit sollen durch punktuelle Leistungsverbesserungen gelöst oder zumindest besser bewältigt werden. Diese werden aber nicht spezifiziert, aufgrund der Hoffnung, dass es jedem möglich sein wird, sich nach seinen eigenen Bedürfnissen neu zu gestalten. Zweifellos tauchen diese Ideen nicht zum ersten Mal innerhalb der NBIC-Visionen auf. Sie finden sich bereits in wissenschaftlichen Programmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie z. B. Anfang der 1930er Jahre in der forschungspolitischen Agenda der US-amerikanischen Rockefeller Foundation: »Can man gain an intelligent control of his own power? Can we develop so sound and extensive a genetics that we can hope to breed, in the future, superior men? Can we obtain enough knowledge of physiology and psychobiology of sex so that man can bring this pervasive, highly important, and dangerous

5

6

7

»The exquisite solutions nature has found to control molecular motion, evident in the fascinating biological linear and rotary motors, has served as a major source of inspiration for scientists to conceptualize, design and build – using a bottom-up approach – entirely synthetic molecular machines. The desire, ultimately, to construct and control molecular machines, fuels one of the great endeavours of contemporary science.« (Wesley R. Browne/Ben L. Feringa: »Making molecular machines work«, in: Nature Nanotechnology, 1/1 (2006), S. 25-35, hier: S. 33). Vgl. Bernardette Bensaude-Vincent: »Self-Assembly, Self-Organization: A Philosophical Perspective on Converging Technologies, 2006, dies.: Les vertiges de la technoscience. Façonner le monde atome par atome, Paris: Éditions La Découverte 2009; Arianna Ferrari: »Nanocontrol of nature«, in: Kamilla Kjolberg/Fern Wickson (Hg.): Nano goes Macro – Social Perspectives on Nano-scaled Sciences & Technologies, Singapore: Pan Stanford 2010 (im Druck). Vgl. National Science and Technology Council (NSTC), Nanotechnology. Shaping the World Atom by Atom, Washington, 1999.

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DIE VERBESSERUNG DER NATUR

aspect under rational control? [...] Can we, in short, create a new science of Man?«8

Der Mensch hat immer auch versucht, die Natur mittels Technik zu kontrollieren und diese sich nutzbar zu machen. In der NBIC-Vision wird jedoch die technologische Entwicklung sehr stark i. S. eines technologischen Determinismus konzipiert. Sie erscheint als Königsweg, wenn nicht gar als einziger Weg zur Lösung einer Vielfalt von Konflikten und Problemen: »The twenty-first century could end in world peace, universal prosperity, and evolution to a higher level of compassion and accomplishment. It is hard to find the right metaphor to see a century into the future, but it may be that humanity would become like a single, distributed and interconnected ›brain‹ based in new core pathways of society. This will be an enhancement to the productivity and interdependence of individuals, giving them greater opportunities to achieve personal goals.«9

Hier geht es nicht mehr primär um das Streben nach einer Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden herrschen, sondern vor allem um Selbstverwirklichung mit technologischen Mitteln. Die neue Renaissance mittels konvergierender Technologien erscheint als eine Revolution für alle und jeden, da sie generell menschliche Fähigkeiten erhöht. Dabei soll es dem Einzelnen überlassen werden, wie er die erweiterten technologischen Möglichkeiten nutzen möchte. Die Ambivalenz und Problematik der hier vermittelten Botschaft bestehen darin, dass die zukünftige Gesellschaft eigentümlich neutral – nämlich allein mittels der Vision einer engen interaktiven Vernetzung ihrer Mitglieder – charakterisiert wird, zugleich aber die Idee der Leistungssteigerung bzw. -verbesserung zentral ist. Bei dieser handelt es sich aber um ein relationales Konzept, und es wird eine Dynamik angesprochen, für deren Einschätzung ein Anfangspunkt und konkrete Bewertungskriterien notwendig sind.10 Es besteht der Anspruch, dass die Veränderung einem Stillstand vorzuziehen ist, der immerhin keine Verschlechterung wäre. Zu berücksichtigen ist hier die soziale Dimension: Aufgrund ihrer Normativität kann eine Verbesserung nur im Bezug auf eine Gruppe oder ein Individuum und nach bestimmten Kriterien festge-

8

Warren Weaver, zit. n. Michel Morange: A history of molecular biology, Harvard: Harvard University Press 1998, S. 81. 9 M. C. Roco/W. S. Bainbridge (Hg.): Converging Technologies, S. 6. 10 Vgl. Armin Grunwald: Auf dem Weg in eine nanotechnologische Zukunft: Philosophisch-ethische Fragen, Freiburg/München: Alber 2008. 291

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stellt werden. Eine Verbesserung für bestimmte Gruppen oder Individuen kann dabei mit einer Verschlechterung für andere Gruppen oder Individuen einhergehen.

II. Die »Leistungsfähigkeit« der Natur im zeitgenössischen technologischen Diskurs In letzter Zeit stößt man in der Beschreibung natürlicher Bestandteile und Komponenten vor allem im nanotechnologischen Bereich zunehmend auf die Tendenz, die Natur so zu beschreiben, als ob ihre Eigenschaften eine besondere Leistung aufweisen würden, die zumindest prinzipiell vom Menschen technologisch genutzt oder nachgeahmt werden kann. Diese Auffassung ist sicherlich nicht gänzlich neu, da der Bezug auf Leistungsfähigkeit oder auf Funktionen einer anorganischen oder organischen Komponente Teil von wissenschaftlichen Beschreibungen ist. In den Naturwissenschaften gehen viele Beschreibungen von funktionellen Gesichtspunkten aus. In der Anatomie kann man etwa Organe topographisch, d. h. bezogen auf ihre Lage im gesamten Organismus, oder anhand physiologischer Funktionseinheiten beschreiben.11 Leistungsfähigkeit ist zudem eine fundamentale Referenz in den Ingenieurwissenschaften. Gleiches gilt für die Materialwissenschaften, in denen der Bezug auf die Leistungsfähigkeit eines Materials oder eines Bestandteils alltäglich ist, da entsprechende Kenntnisse hierüber für die Nutzung des Materials entscheidend sind. Auch in der Biochemie ist Leistungsfähigkeit ein wichtiges Kriterium in der Beschreibung von organischen Bestandteilen, etwa bei der Wirkung bestimmter Ionen auf die Zellfunktionen. Über diesen Sprachgebrauch hinaus kann man jedoch in der letzten Zeit zunehmend beobachten, dass organische Bestandteile vollständig auf eine Funktion reduziert oder ausschließlich im Bezug auf funktionelle Eigenschaften bzw. Leistungsfähigkeiten beschrieben werden. Im Rückgriff auf ein mechanisches Vokabular – bei dem Zellen als aus Pumpen und Schaltungen bestehende Maschinen beschrieben werden – konzentriert man sich auf funktionelle Teile und Aspekte der Zelle, die dann, so die Hoffnung, vom Menschen besser kontrolliert bzw. genutzt werden können: »Any molecular machine is fundamentally required to perform a useful function. [...] Here we present the first practical design directly applicable for the detection of DNA damage in fixed cells and tissues. From the enzymology 11 Vgl. Johannes W. Rohen: Funktionelle Neuroanatomie, Stuttgart: Schatauer, 20016. 292

DIE VERBESSERUNG DER NATUR

point of view, our molecular construct is in fact a designer fluorescent DNA– enzyme complex put together to perform a specific useful function. This assembly is by definition a molecular machine, as it contains one. […]. However, its artificial part (a fluorescently labelled and self-hybridized oligonucleotide) directs its performance toward a new function of DNA break labelling.«12

Die Zelle als Maschine, die von einem Ingenieur »hergestellt« wird, ist für einen bestimmten Zweck gemacht. Die Ausdrücke »Design«, »Funktion« und »Maschine« signalisieren eine Naturauffassung, in der organische Teile nach menschlichen Bedürfnissen gezielt rekonstruiert werden können. Nicht nur der Mensch, sondern auch die Natur selbst wird als Ingenieur beschrieben: »Mother Nature has her own set of molecular machines that have been working for centuries and have become optimized for performance and design over the ages. As our knowledge and understanding of these numerous machines continues to increase, we now see a possibility of using the natural machines, or creating synthetic ones from scratch, by mimicking nature.«13

Sowohl der Top-down-Ansatz des Miniaturisierungsprozesses in den Nanotechnologien als auch der Bottom-up-Ansatz, der von der unabhängigen und spontanen Kraft der Natur inspiriert ist, werden hier unter der umfassenden Perspektive der Natur als Produktionsmaschine betrachtet, die nun dank neuer Instrumente gesteuert werden kann. Es hat den Anschein, dass in dieser Auffassung die funktionelle Beschreibung zur einzig möglichen Beschreibung wird und dass die Natur somit gewissermaßen evolutionär nach einer Verbesserung ihrer eigenen Leistungsfähigkeit strebt. In dieser teleologischen Auffassung findet die Natur ihre Ziele in sich selbst, ist gerichtet auf Selbstperfektionierung. Im Mittelpunkt steht der Prozess der Gestaltung bzw. Veränderung und nicht das Endprodukt als konkrete Verwirklichung.14 Diese spezifische Beschreibung der Natur schlägt sich dann in grundlegenden Auffassungen innerhalb spezifischer wissenschaftlicher Bereiche nieder wie etwa im Bereich der Nanomedizin, die durch ein

12 Vladimir V. Didenko et al.: »Semi-artificial Fluorescent Molecular Machine for DNA Damage Detection«, in: Nano Letters 4/12 (2004), S. 2461–2466, hier: S. 2463. 13 C. Mavoidris/A. Dubey/M. L. Yarmush: »Molecular Machines«, in: Annual Review of Biomedical Engineering Vol. 6 (2004), S. 363-395, hier: S. 364. 14 Vgl. B. Bensaude-Vincent: Les vertiges de la technoscience. 293

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Kaskaden-Modell von Krankheit geprägt ist.15 Laut diesem Modell führen molekulare Veränderungen in der Zelle zu Veränderungen auf der zellulären Ebene, welche dann die Funktion von Geweben und Organen beeinflussen und Unwohlsein verursachen können. Dabei wird implizit ein Bedarf für frühe Interventionen suggeriert, verbunden mit einer physiologischen Interpretation von Krankheit als einem dynamischen Prozess, der sich in Raum und Zeit entwickelt. Marianne Boenink zeigt, dass dieser Ansatz im Bereich der Biomarker besonders deutlich wird, wo eine Bevölkerung auf der Basis von normalen oder abnormalen Funktionen analysiert und charakterisiert wird. Dabei wird Krankheit auch als ein linearer und automatischer, auf körperliche Phänomene reduzierbarer Prozess beschreiben, komplexere Zusammenhänge spielen keine Rolle. Darüber hinaus wird hier Krankheit als ein fehlerhafter Prozess aufgefasst, in dem Funktionen gestört oder zerstört worden sind. Die Gestaltbarkeit von Leben bzw. von Natur, hier verstanden als Hauptmerkmal der konvergierenden Technologien, ist laut Swierstra und seiner Gruppe sowohl ein Merkmal »bauender« Technologie als auch eine menschliche Tätigkeit, die organische Prozesse beeinflusst.16 Diese Unterscheidung zwischen Bauen und Beeinflussen folgt der von Hannah Arendt in Anlehnung an Aristoteles vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen »Arbeit« und »Aktion«, wobei »Arbeit« sich auf die Tätigkeit des Herstellens, »Aktion« sich hingegen auf das Handeln und damit auf die menschlichen Verhältnisse bezieht.17 Bei den konvergierenden Technologien steht die Idee eines Designs bzw. das Herstellen im Mittelpunkt und man gewinnt hier den Eindruck, dass auch die Sphäre der Aktion, des menschlichen Handelns, im Rekurs auf technologische Prinzipien auf eine neue Weise konzipiert werden kann. Eine solche Auffassung trägt zu einer Verwischung der Grenze zwischen Organischem und Anorganischem bei – besonders evident in der Synthetischen Biologie – und damit zu einer erheblichen Veränderung unserer »symbolischen Ordnung«.18 Die dadurch verursachte Orientierungslosigkeit ergibt sich 15 Vgl. Marianne Boenink: »Tensions and Opportunities in Convergence: Shifting Concepts of Disease in Emerging Molecular Medicine«, in Nanoethics 3 (2009), S. 243-255. 16 Vgl. Tsjalling Swierstra/Rinie van Est/Marianne Boenink: »Taking Care of the Symbolic Order. How Converging Technologies Challenge our Concepts«, in Nanoethics 3 (2009), S. 269-280. 17 Vgl. Hannah Arendt: The Human Condition, Chicago: The University of Chicago Press 1958. 18 Der Begriff der »symbolischen Ordnung« entstammt der anthropologischen Analyse von Mary Douglas: Purity and danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo, London: Routledge and Kegan Paul 1966. Technologische Innovationen können mit einer Neubewertung der 294

DIE VERBESSERUNG DER NATUR

aus einer damit verbundenen Forcierung der Kontingenz der Natur. Während die traditionelle Auffassung von Natur mit Dichotomien wie der zwischen »Natürlichem« und »Künstlichem« operiert, macht die durch diese Technologien bewirkte Verwischung solcher Grenzen zumindest prinzipiell alles möglich. Etymologisch bedeutet in der Tat Kontingenz etwas, das möglich ist, und das von einem Zufall oder einer Eventualität abhängt. Bereits innerhalb moderner naturwissenschaftlicher Theorien werden zwar die Wechselbeziehungen zwischen »Zufall und Notwendigkeit« betont, aber hier handelt es sich um eine forcierte Kontingenz, welche sich explizit mit konkreten Technovisionen verbindet lässt. Die Natur in diesen Visionen verschwindet deshalb als externer Bezugspunkt und Repräsentation einer Ordnung, welche gegenüber der Ordnung der menschlichen Sphäre vorgängig ist. Sie wird zu einem Reich der Eventualitäten und damit auch zum Spielfeld von technologischen Transformationen. Dass der Begriff der »Natürlichkeit« im Gegensatz zu »Künstlichkeit«, und dass die traditionellen Dichotomien problematisch sind, ist schon lange Objekt philosophischer Untersuchungen. Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, vor allem auch im Bezug auf den normativen Gebrauch einer Referenz zur Natur, bleibt der Unterschied zwischen »Gemachtem« und »Gewordenem«, also dem, dessen Existenz auf menschliche Einwirkung zurückgeht, und dem, was unabhängig von menschlicher Aktivität entsteht und existiert, von entscheidender Bedeutung für unsere Orientierung.19 Das Naturverständnis im Bereich der konvergierenden Technologien bricht mit diesem Unterschied und betont, dass die bestehende Natur vollständig verändert werden kann. Die Herstellung der Natur eröffnet aber gleichzeitig dem Menschen ein neues Reich der Möglichkeit, in dem er durch die neuen Technologien jetzt oder in der nahen Zukunft zum Designer der Natur werden kann. Die gegebene Natur würde dann zu einer menschlich hergestellten Natur. Wenn prinzipiell alles Natürliche rekonstruiert werden kann, orientiert an der Selbstgestaltung der Natur, wird aber alles auch durch den Menschen kontrollierbar. Es liegt vollkommen in unserer Verantwortung und Macht und insofern wird die vorausgesetzte Kontingenz wiederum zurückgedrängt. Die kontingente Natur der konvergierenden Technologien wäre nicht mehr ein Reich von Möglichkeiten, sondern eine Natur, die mehr oder weniger vollständig vom Menschen abhängt. Nichts bleibt symbolischen Ordnung verbunden sein (vgl. Martijntje Smits: »Taming monsters: The cultural domestication of new technology«, in: Technology in Society 28/4 (2006), S. 489–504, 2006). Vgl. hierzu: T. Swierstra et al.: Taking Care of the Symbolic Order. 19 Vgl. Dieter Birnbacher: Natürlichkeit, Berlin/New York: de Gruyter 2006. 295

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prinzipiell jenseits der menschlichen Gestaltungskraft und somit gibt es keine Möglichkeit mehr, sich an externen Kriterien oder Referenzpunkten zu orientieren. Alles würde dann an Bedeutung verlieren.20 Ob dies tatsächlich gelingt, ist eine andere Frage, aber die Vision verbindet sich mit einem durch die technologische Entwicklung eröffneten und als offen angesehenen Manipulationspotenzial.

I I I . K o n t i n g e n z u n d Ve r b e s s e r u n g Die Kontingenz der Natur verbindet sich in der Vorstellung einer durch die NBIC-Konvergenz eintretenden technologischen Revolution mit der permanenten und kontinuierlichen Verbesserung menschlicher Fähigkeiten. In der zukünftigen technologie-basierten Welt werden alle Bereiche des menschlichen Lebens – von der individuellen Ebene über die Gesellschaft bis hin zum Leben in der Natur – fundamental verändert und mit dem Ziel besserer Funktionalität rekonstruiert. Die Beschreibung der Verbesserung bleibt aber sehr allgemein und schwammig. Ziele wie Wettbewerbsfähigkeit, Frieden, nationale Sicherheit und soziale Koexistenz werden genannt, jedoch nicht konkret auf Rechte, individuelle Zustände und politische Maßnahmen bezogen. So wird der Eindruck vermittelt, dass Verbesserung potenziell endlos sei. Prinzipiell offene Idealvorstellungen wie Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz bedürfen aber konkreter Bedingungen hinsichtlich ihrer näheren Charakterisierung. Das Streben nach einer Verbesserung menschlicher Leistungsfähigkeit wird als etwas sich selbst Rechtfertigendes angesehen, begründet in der selbstgestalterischen Kraft des Menschen. Die grundlegende Spannung zwischen dem relationalen, normativen und sozialen Charakter des Verbesserungsbegriffs und der Offenheit und Kontingenz der Welt konvergierender Technologien wird ausgeblendet. Der Triumph der Kontingenz und der mit diesem verbundene Verlust klarer Unterscheidungen zwischen menschlicher und natürlicher Aktivität erfahren vielfältig Widerspruch und Widerstand. Zum Teil äußert sich dies in Versuchen einer Wiederbelebung der symbolischen Ordnung mit ihrer Gegenüberstellung von Belebtem und Unbelebtem, von Körper und Maschine. Oder das gesamte Projekt der konvergierenden Technologien wird als illusionär kritisiert. Die Kritik an der grundlegenden Auffassung der Natur als kontingent nimmt also entweder die Form eines Skeptizismus gegenüber den tatsächlichen Möglichkeiten einer techno-

20 Vgl. B. Bensaude-Vincent: Les vertiges de la technoscience; T. Swierstra et al.: Taking Care of the Symbolic Order. 296

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logischen Rekonstruktion der Natur an oder sie tritt als normative Ablehnung bestimmter angestrebter technologischer Anwendungen auf, die als Verletzung der menschlichen Würde und der »ordnungsgemäßen« Stellung des Menschen in der Natur charakterisiert werden. Ins Zentrum der Kritik rückt hier also die Vorstellung einer kontingenten Natur, die als wissenschaftstheoretisch oder ethisch problematisch gekennzeichnet wird. Die Kritik an der wissenschaftlichen Seriosität des Projekts konvergierender Technologien ist facettenreich und reicht von einer wissenschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion der Disziplinen bis hin zu Analysen der konkreten Relevanz dieser Konvergenz in der heutigen Forschung. Woyke schlägt etwa vor, die zelebrierte Neuheit der Nanotechnologie mit Blick auf ein wissenschafts- und technikgeschichtliches Kontinuum der chemischen Forschung zu hinterfragen, das aus den Bemühungen – insbesondere in der Entwicklung der Kolloidchemie – resultiert, Stoffe zu identifizieren, neu zu kombinieren und zu trennen.21 Wie Schummer gezeigt hat, stellt sich die Unvollkommenheit als inhärentes Merkmal des Wissens über Stoffe dar.22 Diese Verortung in der Geschichte dient aber laut Woyke keinesfalls einer Negation der Besonderheit der Nanotechnologie, sondern kann dabei helfen, das im Hintergrund liegende Weltbild besser zu verstehen, welches von instrumenteller Rationalität und Effizienzdenken dominiert sei. Für Dupuy steht im Hintergrund der konvergierenden Technologien das Projekt der Mechanisierung des Geistes, das mit der Entwicklung der Kybernetik begonnen hat. Forscher und Ingenieur verschmelzen in diesem Projekt, weil Kennen und Wissen mit Machen und Herstellen gleichgesetzt werden.23 Es triumphieren ein Paradigma des »Designs« sowie ein mechanizistischer Reduktionismus, bei dem alle Phänomene des Lebens und Geistes auf Algorithmen reduziert werden. Dupuy hält dies für problematisch. Ihm erscheint eine solche Auffassung als Ausdruck eines starken technologi-

21 Vgl. Andreas Woyke: »Konkrete Risiken der Nanotechnologie im grösseren Kontext – wissenschaftsgeschichtliche, wissenschaftsphilosophische und ethische Perspektiven«, in: Roger Busch (Hg.): Nano(bio)technologie im öffentlichen Diskurs. München: Herbert Utz Verlag 2008, S. 140-165. 22 Vgl. Joachim Schummer: »Philosophie der Stoffe, Bestandsnahme und Ausblick. Von der Entstofflichung der Welt zur ökologischen Relevanz einer Philosophie der Chemie«, in: Nikos Psarros/Klaus Ruthenberg/Joachim Schummer (Hg.): Philosophie der Chemie – Bestandsaufnahme und Ausblick, Würzburg: K&N 1996, S. 27-51. 23 Vgl. Jean-Pierre Dupuy: »Some pitfalls in the philosophical foundations of nanoethics«, in: Journal of Medicine and Philosophy, 32/3 (2007), S. 237261; ders.: The Mechanization of the Mind: On the Origins of Cognitive Science, Princeton: Princeton University Press 20092. 297

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schen Determinismus, als Ablehnung der Idee, dass Leben etwas Gegebenes sei, und als eine Rebellion gegen die menschliche Endlichkeit und Sterblichkeit.24 Ihr Sieg wäre zugleich ein Triumph der Kontingenz in der Natur. Sucht man nun in der heutigen Forschung nach tatsächlichen Beispielen für relevante Konvergenzprozesse, stellt man wiederum fest, dass technologische Konvergenz sehr unterschiedlich konzipiert und aufgefasst wird,25 insbesondere was die Rolle der verschiedenen Disziplinen betrifft. Die Nanotechnologie z. B. firmiert entweder als zentraler Bereich des Zusammenwachsens von Informations- und Biotechnologie, stellt also selbst das Resultat einer Konvergenz dar, oder sie erscheint als ein eigenes Feld innerhalb der konvergierenden Technologien.26 Ähnlich unklar ist auch die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien und der zugehörigen Wissenschaften, die zuweilen statt der Nanotechnologie als eigentlicher Schlüssel zum Verständnis des gesamten Konvergenzphänomens angesehen werden einschließlich seiner biologischen und sozialen Aspekte.27 Wirft man hinsichtlich der ethischen Dimension einen Blick auf die Debatte über die Vertretbarkeit von Human Enhancement, so findet man in den Argumentationen der Gegner die Achtung vor der althergebrachten symbolischen Ordnung und speziell eine auf Dichotomien wie organisch/nicht-organisch und natürlich/künstlich beruhende Naturauffassung. In seiner berühmten Kritik neuer Entwicklungen und Visionen der Biotechnologien, die er als bedrohlich für die liberale Demokratie ansieht, geht Francis Fukuyama auch auf mögliche negative Konsequenzen für die menschliche Natur ein:

24 Vgl. H. Arendt: The Human Condition. 25 Christopher Coenen (Konvergierende Technologien und Wissenschaften. Der Stand der Debatte und politischen Aktivitäten zu ›Converging Technologies‹. Berlin 2008) zeigt, dass – je nachdem in welchem forschungsund technologiepolitischen Zusammenhang auf Konvergenzprozesse Bezug genommen wird – sehr unterschiedliche Schwerpunkte im Bezug auf wissenschaftlich-technische Felder oder Anwendungsbereiche gesetzt werden: »[S]elbst bei der US-amerikanischen National Science Foundation (NSF), der Haupttreiberin der NBIC-Initiative, finden sich vom NBIC-Konzept abweichende Konzeptionen.« (ebd., S. 60). 26 Vgl. ebd.; Thorsten Fleischer: »Umgang mit den möglichen Folgen der Nanotechnologien. Von der Technikfolgenabschätzung zu neuen Schutzund Gestaltungskonzepten?«, in: Evangelische Akademie Iserlohn 2006, S. 53–66. 27 Vgl. Jaron Lanier: »One-Half of a Manifesto. Why stupid software will save the future from neo-Darwinian machines«, in: Wired 8/12 (2000); J.P. Dupuy: Some pitfalls; Ch. Coenen: Konvergierende Technologien. 298

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»Human nature shapes and constrains the possible kinds of political regimes, so a technology powerful enough to reshape what we are will have possibly malign consequences for liberal democracy and the nature of politics itself.«28

Ein derartiger Rekurs auf einen ontologisch geprägten natürlichen Zustand ist aus der Perspektive technologischer Konvergenz, in der die Natur in einem radikalen Sinne kontingent geworden ist, ohne Sinn, weil alles, was in der Natur existiert, aufgrund einer selbstgestalterischen Kraft funktioniert. So überrascht es nicht, wenn die Verteidiger von Human Enhancement in ihren Antworten auf Fukuyama und andere Kritiker argumentieren, dass »die« menschliche Natur, wie Fukuyama sie beschreibt, nicht existiere und es am ehesten noch in der Natur des Menschen liege, sich ständig zu verändern und neu zu gestalten. Hatte Fukuyama zu Beginn der 1990er Jahre noch argumentiert, dass der Triumph des Kapitalismus endgültig sei, weil dieser auf der menschlichen Natur basiere,29 diagnostiziert er nun, dass die technologische Entwicklung das Potenzial habe, unsere Natur zu ändern. Somit seien wir gewissermaßen gezwungen, die Geschichte fortzusetzen, weil sich statt eines Endes der Geschichte eine Entwicklung hin zu einem posthumanen Zustand abzeichne: »If you start moving into the area of genetic enhancement, where parents can give their children genetic improvements, you are setting up a situation in which that homogeneity of the human species can no longer be taken for granted, where elites, who are the first to take advantage of this, will start embedding their social advantages genetically in their children, which will not just increase existing inequalities but may undermine the very principle of equality, which is based on an empirical observation that people around the world are not all that different from one another. Under some scenarios, you could imagine almost a speciation of the human race into different types of human beings: musicians will endow their children with greater musical ability, or athletes will give their children better athletic abilities, such that this basic equality can no longer be taken for granted.«30

Dagegen erscheint den Verteidigern von Human Enhancement permanente Veränderung als Offenbarung des menschlichen Potenzials, das nun durch die technologische Entwicklung verstärkt ausgeschöpft wer28 Francis Fukuyama: Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, New York: Farrar, Straus & Giroux 2002, S. 7. 29 Vgl. Francis Fukuyama: The end of history and the last man, New York, Free Press, 1992. 30 Francis Fukuyama/John Rosenthal: Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, Canergie Council 2002. 299

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den könne. Inwieweit sich diese Vision mit dem Kapitalismus verbindet, kann in diesem Beitrag nicht vertieft diskutiert werden, auf jeden Fall sind aber in der NBIC-Vision der konvergierenden Technologien kapitalistische Werte wie Wettbewerbsfähigkeit und Effizienzdenken zentral. Der Zusammenhang zwischen Kontingenz der Natur, Eingriff in die Welt und permanenter Veränderung zeigt auch den technowissenschaftlichen Charakter der konvergierenden Technologien. In einer permanent verhandelbaren Welt werden die Kenntnisse der materiellen Natur mit utilitaristischen Motiven kontaminiert, da es vor allem um den Erwerb von Fertigkeiten und die Herstellung von Instrumenten geht, mit denen in die Natur eingegriffen werden kann.31 Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass dieser wissenschaftliche Modus sich im besonderen ökonomischen Kontext der neoliberalen Marktwirtschaft entwickelt, innerhalb dessen Technologien vor allem unter Effizienzkriterien betrachtet und unter starkem Konkurrenzdruck vermarktet werden. Die Kontingenz der Natur kann aber auch anders aufgefasst und interpretiert werden, nämlich indem man sie getrennt von der Plausibilität und Wünschbarkeit von Enhancement diskutiert. Im europäischen Konzept konvergierender Technologien wird die Frage nach der Vertretbarkeit der Verbesserung und damit der Veränderung der menschlichen Natur als solche weitgehend gemieden.32 Die technologische Entwicklung wird als prinzipiell offen und als von unterschiedlichen Zielen und Weltbildern beeinflussbar angesehen. Sie ist damit immer auch ein gesellschaftlicher Prozess und wird von sozialen Normen mitgestaltet.33 Ein Bezug auf Kontingenz findet dabei sowohl in der NBIC-Vision als auch in dem europäischen Konzept konvergierender Technologien statt. Nur ist es in der NBIC-Vision die gesamte Natur, die kontingent ist – aufgrund der permanenten, nach Verbesserung strebenden Selbstveränderung des Menschen –, während in der europäischen Konvergenzauffassung vor allem der Mensch selbst und seine Geschichte kontingent sind, 31 Vgl. Bruno Latour: Science in Action: How to follow scientists and engineers through society, Cambridge: Harvard University Press 1987; Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. und eingeleitet von Carmen Hammer und Immanuel Stieß, übers. von Dagmar Fink, Carmen Hammer, Helga Kelle, Anne Scheidhauer, Immanuel Stieß und Fred Wolf, Frankfurt/Main: Campus 1995; Paul Forman: »The primacy of science in modernity, of technology in postmodernity and of ideology of technology«, in: History of Technology, 23/1-2 (2007), S. 1-152. 32 Vgl. European Commission (Hg.): Converging Technologies. Shaping the Future of European Societies, Bruxelles 2004. 33 Vgl. Arianna Ferrari: »Is it all about human nature? The ethical challenges of converging technologies beyond a polarized debate«, in: Innovation. The European Journal of Social Science Research, 1/21 (2008), S. 1-24. 300

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weil er die Orientierung seiner Tätigkeiten und damit die Ziele technologischer Entwicklungen immer wieder neu bestimmen muss.

I V. S c h l u s s f o l g e r u n g e n Es wurde gezeigt, dass eine bestimmte Naturvision beeinflusst, was wir als Menschen als vertretbar erachten und wie wir dementsprechend die technologische Entwicklung gestalten. Die Konzeption der Natur beruht auf Vorstellungen zur Bedeutung des Lebens und unserer Erkenntnis der Natur und sie hat ethische Implikationen. Die Naturauffassung bestimmt so auch, was unserer Ansicht nach durch unser Wissen möglich ist und welches die wichtigsten Herausforderungen unseres »Leben in der Natur« sind.34 Folgt man dieser Perspektive, lässt sich der Sinn von Verbesserung in der NBIC-Vision der konvergierenden Technologien entschlüsseln. Wenn jeder externe Bezugspunkt verloren geht, da die Natur sich permanent ändert und neu erschafft, bleibt auch dem Menschen nichts anderes als eine prinzipiell endlose Neugestaltung seiner selbst. Mit dem Bedeutungszuwachs dieser Vision gewinnen die zugrunde liegenden Natur- und Technikbilder dann auch zunehmend Einfluss auf das Verständnis von Gesellschaft: William S. Bainbridge einer der Hauptautoren der US-amerikanischen NBIC-Vision, spricht z. B. von »memetic engineering«, um seiner Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass eine Umgestaltung der Gesellschaft auf Basis eines systematischen Studiums jener Mechanismen erfolgen kann, die seines Erachtens die Entstehung und Verbreitung so genannter »Meme«35 bestimmen.36 James Hughes propagiert die Möglichkeit eines »virtue engineering«, verstanden als eine gezielte Verbesserung des moralischen Verhaltens und eine zunehmende Eindämmung problematischer Einstellungen und Verhaltensweisen

34 Vgl. Arianna Ferrari: »Über Leitbilder der Nanobiotechnologien und Schwierigkeiten der Risikoberwertung«, in: Roger Busch (Hg.): Nano(bio)technologie im öffentlichen Diskurs. München: Herbert Utz Verlag 2008, S. 107-139. 35 »Mem« ist ein Begriff, der von Richard Dawkins in Analogie zum biologischen Begriff »Gen« geprägt wurde. Er bezeichnet ähnlich wie »Gen« eine Informationseinheit und wird als mutierender Replikator kultureller Evolution verstanden (vgl. Richard Dawkins: The selfish Gene, Oxford: Oxford University Press 1976). 36 Vgl. William S. Bainbridge: » The Evolution of Semantic Systems«, in Mihail C. Roco/Carlo Montemagno: The Coevolution of Human Potential and Converging Technologies. Annals of New York Academy of Sciences 1013, New York 2004, S. 150-177. 301

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durch eine systematische Anwendung neuer und zukünftiger Neuro- und Biotechnologien.37 In solchen Visionen wird die Gesellschaft als etwas Plastisches beschrieben, das sich auf der Basis technologischer Paradigmen umgestalten lässt, wobei die Gesellschaft in ähnlicher Weise zu einem »plastischen Ingenieur« stilisiert wird wie die Natur in den oben erwähnten Visionen. Vorstellungen dieser Art sind zwar nicht neu, sondern z. B. bereits im Behaviorismus zu finden. Zugespitzt werden sie hier aber durch das zugrunde liegende Verständnis der neuen Technologien, für die neue und radikale gesellschaftliche Anwendungsmöglichkeiten erdacht werden. Wesentlich ist auch hier wieder, dass diese Technologien stärker in die selbst als »plastischer Ingenieur« konzeptualisierte Natur eingebunden werden sollen. So dies gelingt, können sie dann ein außerordentliches Veränderungspotential im Sinne einer direkten Einführung menschlicher Ziele in die Natur erlangen. Darüber hinaus wird in dieser Auffassung evident, dass das zugrunde liegende Naturbild implizit ein starkes Argument für die Rechtfertigung endloser Verbesserung liefert: Wenn die Natur als Maschine und als Ingenieur aufgefasst wird, d. h. als veränderbares System, das auch sich selbst konstruiert, dann kann eine Veränderung als Optimierung auch als etwas im Sinne der Natur interpretiert werden. Die Idee der Leistungssteigerung wird so mit dem im Hintergrund liegenden Naturbild in Verbindung gebracht und kann auf diese Weise ethisch gerechtfertigt werden. Die Kontingenz der Natur lässt sich aber auch anders interpretieren: Die Zweckbestimmung von Technologien und die Ziele ihrer Entwicklung sind dann zwar von den dominierenden Werten, Naturverständnissen und Grundvorstellungen der Rolle von Technologien in einer Gesellschaft beeinflusst, aber sie werden ständig neu verhandelt. Es ist dann nicht die Plastizität der Natur, welche die Plastizität der menschlichen Welt bestimmt – wonach alles, Natur wie Kultur, nach gleichen Prinzipien funktionieren soll –, sondern Plastizität bedeutet hier die Offenheit der technologischen Zukunft. Sich auf die Frage nach der Vertretbarkeit und Plausibilität von Enhancement zu versteifen, lenkt von dringenderen und konkreteren Fragestellungen ab und läuft zudem Gefahr, selbst in eine Art von technologischen Determinismus zu verfallen.38 Überzeugender als die Konzeptualisierung der Welt mittels antiker und neuzeitlicher Dichotomien (Natürlichkeit/Künstlichkeit, Natur/Gesellschaft etc.) erscheint die Idee eines Dreiecks aus Natur, Artefakt und Kultur.39 Die37 Vgl. James Hughes: Virtue Engineering, 2006. 38 Vgl. Alfred Nordmann: »If and Then: A Critique of Speculative NanoEthics«, in: Nanoethics, 1/1 (2007), S. 31-46; ders./Arie Rip: »Mind the gap revisited«, in: Nature Nanotechnology 4 (2009), S. 273-274. 39 Vgl. B. Bensaude-Vincent: Les vertiges de la technoscience. 302

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ses Dreieck bildet den Rahmen einer Welt der Kontingenz, in der kein transzendenter oder heiliger Wert mehr existiert. Eine Rückkehr zu einem auf Dichotomien begründeten Weltbild erscheint aufgrund der treibenden Kraft der konvergierenden Technologien – zumindest in den Visionen, vielleicht aber auch mit Blick auf aktuelle Forschungsprojekte – nicht mehr möglich. Die Kritik der Idee einer Verbesserung menschlicher und natürlicher Leistungsfähigkeit durch Rekurs auf eine vorgängige Natur ist problematisch und braucht eine robuste wissenschaftstheoretische Basis, die dann diese kontingente Naturauffassung kontrastieren kann. Eine Akzeptanz der Kontingenz bleibt aber gleichwohl problematisch, außer wenn man die grundlegenden Ziele der technologischen Entwicklung allein mit Wettbewerbsfähigkeit und ökonomischer Effizienz identifiziert. Die Annahme einer prinzipiellen Offenheit der technologischen Entwicklung, Erbe der in der Soziologie weithin akzeptierten sozialkonstruktivistischen These, bietet Raum für Hoffnung. Sie bürdet allerdings dem Menschen ein sehr hohes Maß an Verantwortung auf, ein größeres als in einer Welt der Dichotomien, in der noch Vieles der Natur zugeschrieben werden konnte: Die materielle Welt wird demnach zunehmend human gestaltet und die soziale gezielter organisiert, wobei ständig neue Entscheidungen zu treffen sind. Darüber hinaus stößt man aber immer auch an die Grenzen der menschlichen Eingriffe in die Natur, da sie sich immer wieder gegenüber diesen Eingriffen als resistent erweist und die technologischen Möglichkeiten ihrer Manipulation in vieler Hinsicht ungewiss bleiben. Ins Zentrum rückt die ethisch-politische Arena, in der die technologische Entwicklung immer umfassender organisiert und mittels grundsätzlicher Wertentscheidungen ausgerichtet werden sollte.

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Eine Aus e ina nde rsetz ung mit dem Transhumanismus aus jüdischer Perspektive 1 HAVA TIROSH-SAMUELSON Abstract: Der Beitrag setzt sich aus jüdischer Perspektive kritisch mit dem Transhumanismus auseinander. Dies ist von besonderem Interesse, da alle Richtungen des heutigen Judentums den Biotechnologien bemerkenswert positiv gegenüberstehen und dementsprechend viele religiöse Juden und Jüdinnen Fortschritte in den Lebenswissenschaften begeistert annehmen. Vor diesem Hintergrund werden drei Prinzipien dargelegt, welche die jüdische Herangehensweise leiten: 1. Die Menschen sind nach dem Bilde Gottes geschaffen. 2. Der menschliche Körper gehört vor allem Gott und weniger den von Gott geschaffenen Menschen. 3. Die Menschen handeln als Partner Gottes und haben die Pflicht, die Welt zu verbessern. Dabei wird auch gezeigt, wie jüdische Denker anhand dieser Prinzipien aktuelle biowissenschaftliche und -technologische Fortschritte begrüßen. Nichtsdestoweniger bietet die jüdische Tradition auch eine kritische Perspektive, aus der hier zwei zentrale Elemente transhumanistischer Visionen betrachtet werden, nämlich die radikale Lebensverlängerung und die Cyber-Unsterblichkeit. Trotz ihrer Unterschiede basieren beide Ziele auf einer Verachtung des menschlichen Körpers. In kritischer Auseinandersetzung mit beiden Aspekten wird die Ansicht vertreten, dass eine Fixierung auf physisches Enhancement auf dem leidenschaftlichen Wunsch basiert, die Körperlichkeit des Menschen zu transzendieren. Eine solche Transzendenz ist indes aus verschiedenen Gründen in hohem Maße fehlgeleitet:

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Eine kürzere Version dieses Aufsatzes ist bereits unter dem Titel The Immorality of Immortality in Religion Dispatches erschienen (http:// www.religiondispatches.org). Der Aufsatz, dessen Originalversion für den vorliegenden Sammelband aus dem Englischen übersetzt wurde, ist eines der Ergebnisse des Forschungsprojekts »Facing the Challenges of Transhumanism: Religion, Science, and Technology« das vom Metanexus Institute finanziert wurde. Weitere Informationen zu dem Projekt finden sich auf unserer Website http://ww.asu.edu/transhumanism. 307

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weil versäumt wird, den Sinn des Lebens gründlich zu durchdenken, aufgrund eines Mangels an Respekt für die noch unbekannte Zukunft und schließlich wegen der Annahme, eine utopische Zukunft könne grundsätzlich im Hier und Jetzt verwirklicht werden.

I. Einleitung Technik verändert das menschliche Leben so schnell wie nie zuvor. Durch die Konvergenz von Nano-, Bio-, Roboter-, Informations- und Kommunikationstechnologien und den Kognitionswissenschaften wird der Mensch zunehmend zum Designprojekt. Mit Hilfe neuer Technologien entsteht eine Vielzahl neuer kognitiver Werkzeuge: die Verknüpfung von Künstlicher Intelligenz mit Schnittstellentechnik, Molekularbiologie und Nanotechnologie; die Steigerung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Menschen durch die Gentechnologie; die Bekämpfung von Krankheiten und das Verlangsamen des Alterungsprozesses sowie die Steuerung menschlicher Begierden, Emotionen und Geisteszustände. Durch Genmanipulation erhalten wir nicht nur die Möglichkeit, uns selbst mit dem Ziel umzugestalten, verschiedene Begrenzungen zu überwinden, sondern auch die Möglichkeit, zukünftige Generationen aktiv zu verändern und damit in den Evolutionsprozess selbst einzugreifen. Ergebnis hiervon wird eine posthumane Phase in der Entwicklung der menschlichen Gattung sein, in der die Menschen länger leben, neue körperliche und geistige Fähigkeiten besitzen und befreit sind von Leiden und Schmerzen, die durch Krankheiten und Altersgebrechen verursacht werden. Im »posthumanen« Zeitalter wird der Mensch nicht mehr von der Natur beherrscht werden, sondern vielmehr selber zum Beherrscher der Natur. Die Anhänger dieser Vision eines posthumanen Zeitalters nennt man »Transhumanisten«. Der Begriff »Transhumanismus« wird ursprünglich von Julian Huxley im Jahr 1957 geprägt,2 er wird heute jedoch als Sammelbegriff für eine relativ überschaubare, aber lautstarke Bewegung verwendet, die verschiedene, mehr oder weniger phantastische, Szenarien für die Zukunft der Menschheit entwirft und Unterstützung für konkrete Forschung und technologische Innovationen fordert. Die eigentlichen Wurzeln des Transhumanismus liegen in den auch durch die Eugenik beeinflussten Gedankenspielen, die John Burdon Sanderson Haldane, John Desmond Bernal und Julian Sorell Huxley3 in den 2 3

Julian Huxley: New Bottles for New Wine, London: Chatto & Windus 1957, S. 17. Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesen drei Vordenkern des Transhumanismus findet sich in Hava Tirosh-Samuelson, »The Historical

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TRANSHUMANISMUS AUS JÜDISCHER PERSPEKTIVE

1920er und 1930er Jahren angestellt hatten. Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs jedoch ließen die Hoffnung auf eine durch eine Zentralgewalt geschaffene neue und bessere Welt verblassen und diskreditierten zudem die Eugenikbewegung. In den 1960er Jahren entwarfen dann verschiedene Science-Fiction-Autoren wie Arthur C. Clarke, Isaac Asimov und Robert Heinlein sowie später auch Bruce Sterling, Greg Egan und Vernor Vinge neue optimistische Zukunftsszenarien und spekulierten über eine transhumane Zukunft.4 Ende der 1960er Jahre begann der Futurist Fereidoun M. Esfandiary, der später seinen Namen in FM 2030 (das Jahr seines 100. Geburtstages) änderte, die Bezeichnung »Transhumane« zur Charakterisierung von Personen zu verwenden, die zur Förderung einer posthumanen Zukunft beitragen. Gleichzeitig begannen verschiedene Organisationen damit, für Lebensverlängerung, Kryonik, Weltraumkolonisierung und andere Zukunftsvisionen einzutreten, während die Fortschritte in der Biotechnologie, Neurowissenschaft und Nanotechnologie zunehmend spürbar wurden.5 Marvin Minsky, ein angesehener Forscher zum Thema künstliche Intelligenz, machte sich für diverse Aspekte der transhumanistischen Visionen stark und sah sich hierin von anderen bekannten Wissenschafts- und Technikvisionären wie Ray Kurzweil, Eric Drexler, Frank Tipler und Hans Moravec unterstützt. In den 1980ern formulierte der englische Philosoph Max T. O’Connor, der sich selbst das Pseudonym Max More gegeben hat, eine transhumanistische Doktrin, in der er die »Prinzipien der Extropie«, als Grundlage für eine kontinuierliche Verbesserung des menschlichen Daseins postulierte.6

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Roots of Transhumanism: England in the 1920th«, das in dem Sammelband Building Better Humans? Refocussing the Debate on Transhumanism, hg. von Hava Tirosh-Samuelson und Kenneth L. Mossman, erscheinen wird. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Reinhard Heil in diesem Band. Weitere Informationen zum Transhumanismus in der Science-FictionLiteratur finden sich in: Katherine Hayles: How we Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature and Informatics, Chicago/London: University of Chicago 1999. Zur Geschichte der transhumanistischen Bewegung empfehle ich Nick Bostroms »Transhumanism FAQ: A General Introduction« von 2003, zu finden auf: www.nickbostrom.com. Die Aufsätze auf dieser Website bieten einen guten Einstieg zur Literatur und zu den Themen des Transhumanismus. Transhumanismus wird zunehmend zum Gegenstand systematischer wissenschaftlicher Analysen. Vgl. z. B.: Julian Savulescu/Nick Bostrom (Hg.): Human Enhancement, Oxford: Oxford University Press 2009; Bert Gordijn/Ruth Chadwick (Hg.): Medical Enhancement and Posthumanity, Dordrecht: Springer 2008. In diesen Büchern wird der Transhumanismus gleichgesetzt mit der Erweiterung biologischer und kognitiver Fähigkeiten. Transhumanismus bedeutet aber mehr als nur die Steigerung solcher 309

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Ende der 1990er Jahre veröffentlichte eine Gruppe von Transhumanisten die »Transhumanistische Deklaration«, in der sie Stellung zu verschiedenen moralischen Aspekten der Nutzung und Förderung des technologischen Fortschritts bezogen.7 1998 gründeten die Philosophen Nick Bostrom und David Pearce die »World Transhumanist Association«, deren heute weltweit rund 4500 Mitglieder in verschiedenen lokalen Verbänden und diversen Gruppen organisiert sind. Zudem spielt eine Reihe weiterer Organisationen eine wichtige Rolle in der transhumanistischen Bewegung, wie etwa das Extropy Institute, das Foresight Institute, das Immortality Institute, das Institute for Ethics and Emerging Technologies und das Singularity Institute for Artificial Intelligence. All diese Einrichtungen haben erheblich von der Kommunikationsrevolution der 1980er und 1990er Jahre profitiert, die den weltweiten Datenaustausch erheblich vereinfacht hat. Das Internet ist nicht nur ein Mittel zur Verbreitung transhumanistischer Ideen, sondern gleichzeitig integraler Bestandteil der eschatologischen Visionen der Transhumanisten. Ich werde später auf diesen Punkt zurückkommen, doch zunächst genügt es festzuhalten, dass der Begriff des Transhumanismus für eine Ideologie steht, die versucht, Kohärenz zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Ideen zu schaffen, die auf dem technologischen Fortschritt der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts basiert. Die Transhumanisten haben allerdings bislang noch keine systematische Philosophie hervorgebracht, auch wenn bereits einige Versuche in diese Richtung unternommen worden sind.8

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Fähigkeiten. In einem bald erscheinenden Buch (vgl. Fußnote 3) versuche ich, den Transhumanismus umfassend kritisch zu beleuchten. Die aktuelle Version der »Transhumanistische Deklaration»« findet sich auf der Website der Transhumanist World Association, die ihren Namen inzwischen in »Humanity +« geändert hat (http://humanityplus.org). Vgl. Simon Young: Designer Evolution: A Transhumanist Manifesto, Amherst, NY: Prometheus Books 2005; Robert Pepperell: The Posthuman Condition: Consciousness beyond the Brain, Bristol: Intellect Books 2003. Diese beiden Bücher nähern sich dem Thema Transhumanismus auf sehr unterschiedliche Weise. Für Young bedeutet Transhumanismus die Vereinigung von Wissenschaft und Ethik und er begreift ihn als Alternative zum akademischen Posthumanismus, zum religiösen Theismus sowie zum radikalen ökologischen Denken. Für Pepperell bedeutet Transhumanismus das Ende des Humanismus aufgrund seines inhärenten moralischen Versagens. Er geht zwar davon aus, dass der Humanismus noch für längere Zeit existieren wird, sagt aber letztlich seinen Untergang voraus und zwar aufgrund der scharfen Kritik seitens der Feministinnen, der Tierrechtsbewegung und der Anti-Sklavereibewegung, die seine moralische Begrenztheit aufgezeigt hätten.

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II. Eine jüdische Sicht a u f d e n Tr a n s h u m a n i s m u s Theologen und Moralphilosophen verschiedener Religionen haben bereits begonnen, sich mal mehr, mal weniger kritisch mit dem Transhumanismus auseinanderzusetzen. Die theologische Auseinandersetzung mit dem Transhumanismus, wie sie z. B. von Brent Waters, Philip Hefner oder Ronald Cole-Turner betrieben wird, befasst sich hauptsächlich mit der religiösen und kulturellen Bedeutung von Technologie.9 Technologie ist nicht nur eine reine Ansammlung verschiedener Dinge, sondern stellt vielmehr einen komplexen kulturellen Prozess dar, in dessen Verlauf Fragen nach der Bedeutung des Menschseins sowie nach dem Verhältnis zwischen Mensch, Gott und Natur aufgeworfen werden. Gerade deshalb müssen religiöse Denker sich auch mit dem Transhumanismus befassen, statt ihn als bloße Fantasterei und Science-Fiction abzutun, denn schließlich wird das, was die eine Generation noch als ScienceFiction ansieht, in darauf folgenden Generationen ja häufig zur Realität. Als gebürtige und überzeugte Jüdin, die ihr akademisches Leben jüdischen Studien widmet, befasse ich mich mit dem Thema Transhumanismus aus einer jüdischen Perspektive. Der jüdische Blickwinkel ist vor allem auch deshalb von Bedeutung, da aus dieser Perspektive die Biotechnologie traditionell positiv gesehen wird. Während viele Christen massive Bedenken gegenüber der Stammzellenforschung, den medizinisch assistierten Reproduktionstechniken sowie dem Klonen von Menschen (zu therapeutischen oder reproduktiven Zwecken) hegen, stehen Juden aller religiösen Ausprägungen neuen Entwicklungen in den Lebenswissenschaften prinzipiell positiv gegenüber.10 Der vorherrschende, 9

Für eine christliche Kritik des Transhumanismus vgl. Brent Waters: From Human to Posthuman: Christian Theology and Technology in a Posthuman World, Aldershot: Ashgate and Burlington VT 2006. Eine positivere christlich-theologische Bewertung der Biotechnologie findet sich in: Philip Hefner: Theology and Human Becoming, Minneapolis: Fortress Press 2003; ders.: »The Animal that Aspires to Be an Angel: the Challenge of Transhumanism«, in: Dialog: Journal of Theology 48/2, S. 164-173. Eine neutrale Analyse der Biotechnologie-Debatte, speziell im Hinblick auf Klonen und Stammzellenforschung, findet sich in: Ronald Cole-Turner (Hg.): Human Cloning: Religious Responses, Louisville, KY: Westminster John Knox Press 1997. Eines der zentralen Themen des Transhumanismus – die radikale Lebensverlängerung – hat in jüngster Zeit die Aufmerksamkeit von Religionswissenschaftlern auf sich gezogen, vgl. Derek F. Maher/Calvin Mercer (Hg.): Religion and the Implications of Radical Life Extension, New York: Palgrave Macmillan 2009. 10 Ausführlicher mit jüdischen Sichtweisen zur Biotechnologie befasst sich: Miryam Z. Wahrman: Brave New Judaism: When Science and Scripture 311

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orthodoxe Standpunkt wird von Rabbi David Bleich vertreten: »[...] solange die in der assistierten Zeugung angewandten Methoden nicht einen Verstoß gegen halachische Lehren zur Folge haben, sind diese Ermessenssache und durchaus zulässig.«11 Der führende konservative Jurist und Bioethiker Rabbi Elliot Dorff kann der neuen Biotechnologie ebenfalls Positives abgewinnen. Er bezieht sich hier auf die jüdische Glaubensvorschrift, die Welt zu verbessern und insbesondere auf die Vorschrift, Kranke zu heilen, sowie Leiden und Gebrechen vorzubeugen und zu lindern.12 Er bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »Juden haben die Pflicht, Krankheiten vorzubeugen und, wenn es in ihrer Macht steht, diese zu heilen. Diese Pflicht gilt genauso für genetisch bedingte Krankheiten wie für bakterielle, virale oder durch andere Umwelteinflüsse hervorgerufene Krankheiten.«13

Bei dem umstrittenen Thema des Klonens von Menschen zur Erzeugung von Nachkommen vertritt Rabbi Dorff die Ansicht, dass es zwar reguliert, aber nicht prinzipiell verboten werden sollte. Die jüdische Befürwortung von Reproduktionstechniken, die auch diejenigen Forschungsbereiche einschließt, die das Klonen von Menschen zur Folge haben könnten, ist vor allem im Staat Israel zu erkennen, wo juristische Argumentationsmuster und öffentliche Politik unmittelbar durch jüdische, religiöse Wertvorstellungen – und nicht weniger als durch säkulare Erwägungen – beeinflusst werden. In Israel ist der Umgang mit der Biotechnologie relativ freizügig und nur wenig reguliert. Die Gründe für die jüdische Begeisterung für neue Gentechniken und die damit einhergehende Bio- und Gentechnologie sind nicht schwer zu erklären. Abgesehen von dem religiösen Gebot sich fortzupflanzen und der Pflicht, die Kranken zu heilen und Leiden vorzubeugen oder zu lindern, beruht die jüdische Befürwortung neuer Gentechniken auf tief sitzenden Ängsten bezüglich der demografischen Schwäche des eigenen Volkes. Diese Ängste resultieren aus dem Verlust eines Drittels des jüdiCollide, Lebanon, N.H.: University of New England/Brandeis University Press 2002. Eine philosophische Auseinandersetzung findet sich in: Hava Tirosh-Samuelson, »Jewish Philosophy, Human Dignity, and the New Genetics«, in: Sean D. Sutton (Hg.): Biotechnology: Our Future as Human Beings and Citizens, Albany, NY: SUNY Press 2009, S. 81-121. 11 Vgl. David Bleich J.: »Cloning: Homologous Reproduction and Jewish Law«, in: Tradition 32 (1998): 47-86. Rabbi Bleich neigt zu einer strengeren Kritik als andere orthodoxe Rechtsgelehrte. 12 Vgl. Elliot Dorff: Matters of Life and Death: A Jewish Approach to Modern Medical Ethics, Philadelphia: Jewish Publication Society 2003. 13 Ebd., S. 157. 312

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schen Volkes während des Holocaust, der Tatsache, dass die Ashkenasim – die am stärksten unter der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten zu leiden hatten – eine übermäßig starke Anfälligkeit für genetisch bedingte Erbkrankheiten aufweisen sowie aus dem Umstand, dass in industrialisierten Ländern oft spät geheiratet wird und wenige Kinder gezeugt werden. Im Staat Israel gewinnt der demografische Druck eine besondere Bedeutung aufgrund des israelisch-arabischen Konflikts. Um diesem Druck entgegenzuwirken, ist die medizinische Gentechnologie ein anerkanntes medizinisches Spezialgebiet in Israel. Auf eine Bevölkerung von lediglich sechs Millionen kommen immerhin elf klinische Gentechnologiezentren, die Gentests, Gen-Screening und die Behandlung von Unfruchtbarkeit anbieten. Zusätzlich rechtfertigen orthodoxe und ultra-orthodoxe rabbinische Autoritäten eine Vielzahl von Reproduktionstechniken.14 Die jüdische Herangehensweise an die Biotechnologie stützt sich auf drei Prinzipien: erstens die Auffassung, dass der Mensch nach dem Bild Gottes erschaffen ist; zweitens die Ansicht, dass der menschliche Körper nicht etwa dem Menschen selbst, sondern Gott gehört, was die Menschen verpflichtet, Gesundheit zu fördern und den menschlichen Körper so zu pflegen, dass Leben erhalten wird; drittens schließlich der Glaube, dass die Menschen als Partner Gottes handeln und verpflichtet sind, die von Gott geschaffene Welt zu verbessern. Die Auffassung, dass der Mensch als Gottes Abbild erschaffen ist (Genesis 1,26f.), hat über die Jahrhunderte eine Vielzahl verschiedener Interpretationen erfahren. Viele lassen sich dahingehend deuten, dass der Mensch einen aktivistischen Standpunkt gegenüber der Welt einnehmen soll. Gerade weil der Mensch als Gottes Abbild erschaffen ist, wird er als »Partner Gottes in der Arbeit der Schöpfung angesehen.«15 Dies hat zur Folge, dass der Mediziner in der jüdischen Tradition als Werkzeug und Partner Gottes im andauernden Prozess des Heilens angesehen wird. Gerade weil der menschliche Körper Gottes Eigentum ist, sind die Menschen vor Gott dazu verpflichtet, jede Therapie zu entwickeln und auch anzuwenden, die hilfreich für den Erhalt des menschlichen Körpers sein könnte, da dieser ja letztendlich Gott gehört. Gleichzeitig jedoch kann Gott dem Menschen durchaus

14 Susan Martha Kahn: Reproducing Jews: A Cultural Account of Assisted Conception in Israel, Durham, N.C., London: Duke University Press 2000; Jacqueline Portuguese: Fertility Policy in Israel: The Politics of Religion, Gender and Nation, Westport, Conn.: Praeger 1998. 15 Die Idee leitet sich ab aus dem Babylonischen Talmud (Niddah 31a; Kiddushin 30b; Shabbat 10a), der lehrt, »dass drei Partner (Gott, Mann und Frau) für die Erschaffung eines menschlichen Wesens erforderlich sind.« 313

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Bedingungen zur Nutzung seines Körpers auferlegen und hierzu zählt, dass wir stets darum bemüht sein müssen, menschliches Leben und Gesundheit zu erhalten (piquach nefesh: das Prinzip der Lebenserhaltung). Nach jüdischer Tradition überließ es Gott dem Menschen, die Welt zu vollenden. Also haben die Menschen die Pflicht, Gottes Werk der Schöpfung zu verbessern und zu perfektionieren. Doch wie sollen die Menschen dieser Pflicht zur Verbesserung der Welt nachkommen? Juden beantworten diese Frage damit, dass das jüdische Gesetz, das nach jüdischem Glauben von Gott gegeben ist, aus denjenigen Wert- und Normvorstellungen besteht, die menschliches Handeln leiten. In unserer modernen, säkularen Welt definiert die Wissenschaft, was Wahrheit in der natürlichen und materiellen Welt ist, und dies schließt auch den Menschen als Teil der Natur ein. Aus einer jüdischen Sichtweise können Wissenschaft und vor allem Technologie genutzt werden, um rechtliche Probleme zu lösen und rechtliche Beschränkungen abzumildern. Darüber hinaus sollen Wissenschaft und Technologie genutzt werden, um Krankheiten zu heilen und menschliches Leid zu lindern. Es ist jedoch nicht die Wissenschaft allein, die uns die für unser Handeln notwendigen Normen und Werte liefert. Grundsätzlich entscheiden wissenschaftliche Fakten nie eine Kontroverse. Entscheidend ist vielmehr, wie man die Fakten im Einzelfall auslegt, und dies wiederum wird von persönlichen, religiösen und moralischen Wertvorstellungen bestimmt. Daher müssen jedes medizinische Vorgehen und jede empfohlene Therapie vor dem Hintergrund der traditionellen Prinzipien bewertet werden, bevor sie übernommen werden können. Obwohl das Judentum den Menschen als Abbild und Partner Gottes versteht, ermahnt es uns aber auch, dass die Menschen nicht Gott sind. Wir sind nicht wie Gott allwissend und müssen daher alle möglichen Vorkehrungen treffen, um weder uns noch anderen Menschen noch dem Rest der Welt in dem Bemühen, die Welt zu verbessern, Schaden zuzufügen. Zahlreiche jüdische Rechtsgelehrte, Theologen und Ethiker begrüßen daher die wissenschaftliche Forschung als potentiell fruchtbare Tätigkeit und sind der Überzeugung, dass eine zeitgemäße Interpretation des jüdischen Rechts Fortschritte in Wissenschaft und Technologie einbeziehen muss. Doch sie bestehen auch darauf, dass die wissenschaftliche Aktivität nicht nur um ihrer selbst willen aufgenommen werden darf. Zwecke und Mittel der Wissenschaft müssen anhand religiöser Werte beurteilt werden. Obwohl sich die jüdische Tradition wissenschaftlicher und medizinischer Forschung gegenüber nicht verschließt, ist sie sich gleichzeitig auch solcher Bereiche bewusst, in denen die Forschung unsere Demut und unseren Sinn für unsere Grenzen als endliche Kreaturen gefährdet. Die jüdische Tradition verlangt, dass wir jede wissenschaftli314

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che oder technische Neuerung nach moralischen und religiösen Aspekten bewerten und dass die Wissenschaft weder den Platz der Religion einnimmt noch als Ersatz für diese dient. Vor diesem Hintergrund möchte ich mich aus einer jüdischen Sichtweise mit zwei Aspekten des Transhumanismus auseinandersetzen: der radikalen Lebensverlängerung und der kybernetischen Unsterblichkeit.

III. Kritik zweier Kernaspekte des Tr a n s h u m a n i s m u s Der Transhumanismus umfasst die unterschiedlichsten Strömungen und Ziele. Zwei Aspekte jedoch stehen exemplarisch für seine zentrale Vision vom Menschen als Designprojekt für Menschheitsingenieure, nämlich radikale Lebensverlängerung sowie kybernetische Unsterblichkeit. Die beiden Ansätze unterscheiden sich sehr stark im Hinblick auf die Körperlichkeit des Menschen: Während der erste sich um Lebensverlängerung bemüht, hat der zweite die Unsterblichkeit zum Ziel; und während sich der erste vorwiegend auf Erkenntnisse der so genannten Lebenswissenschaften bezieht und ewige Jugend durch ein Hinausschieben des Todes auf unbestimmte Zeit verspricht, erhofft der zweite eine Transzendenz menschlicher Körperlichkeit und ein unbegrenztes Fortbestehen menschlichen Geistes in intelligenten Maschinen, basierend auf Fortschritten im Bereich der Künstlichen Intelligenz und in der Robotik. Während radikale Lebensverlängerung am Konzept des Menschen als einem eigenständigen Individuum festhält, das räumlich ausgedehnt in linearer Zeit existiert, sehen die Anhänger der kybernetischen Unsterblichkeit das Individuum lediglich als körperloses Informationsmuster, das potentiell mittels Datenaustausch zwischen leistungsstarken Computern für immer zu existieren vermag. Nach meinem Verständnis haben beide Ansätze trotz aller Unterschiede eines gemeinsam, nämlich ihre extreme Geringschätzung der Körperlichkeit des Menschen und ihr leidenschaftliches Bemühen, die körperliche Existenz des Menschen mit Hilfe verschiedener Technologien zu überwinden. Beide Ansätze sind, obwohl sie spirituelle Aspekte beinhalten, zutiefst säkular, und beide können mit der Vorstellung von Schöpfung – oder gar Schöpfung nach dem Bilde Gottes – nichts anfangen. Ich werde mich im Folgenden ausführlich mit diesen beiden Ansätzen befassen und erläutern, was ich an ihnen aus einer jüdischen Perspektive als problematisch empfinde.

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1. Radikale Lebensverlängerung Die Verlängerung des menschlichen Lebens ist ein herausragendes Ziel der transhumanistischen Bewegung. Aktuell ist die »Anti-AgingMedizin« die medizinische Fachrichtung mit dem größten Wachstum in den USA.16 Dies spiegelt die enormen wissenschaftlichen Fortschritte wieder, die bei der Erforschung der Ursachen des Alterungsprozesses gemacht wurden, sowie hinsichtlich der Erkenntnisse über den Einfluss genetischer, umweltspezifischer und von der individuellen Lebensführung abhängiger Faktoren auf Alterungserscheinungen wie nachlassende Körperkraft und Beweglichkeit, Rückgang kognitiver Fähigkeiten, nachlassende Energie und Vitalität, Rückgang sexueller Bedürfnisse, Gelenkschmerzen, Hautalterung, Gewichtszunahme und Krankheiten wie Herzleiden, Diabetes und Krebs. Das Ziel von »Anti-Aging-Programmen« ist es, dass der Mensch älter wird, ohne dabei zu altern. Es gibt unzählige Theorien über den Alterungsprozess, und da ich auf dem Gebiet der Gerontologie keine Expertin bin, kann ich die Richtigkeit der verschiedenen wissenschaftlichen Theorien in diesem Fachbereich nicht beurteilen. Ich möchte mich bei meinen Ausführungen daher auf Aubrey de Grey’s Ending Aging: The Rejuvenation Breakthroughs that Could Reverse Human Aging in Our Life Time (2007) konzentrieren. De Grey ist ein führender Transhumanist und tritt entschieden für radikale Lebensverlängerung ein. Für de Grey bedeutet Altern eine »humanitäre Krise« (S. 36). Er definiert Altern als »tödliche Pandemie« (S. 78) und ruft uns – in Analogie zum im Jahr 1970 erklärten »Krieg gegen den Krebs« – zum »Krieg gegen das Altern« (S. 312) auf. De Grey begreift das Altern als »Feind«, da es uns »unserer Kraft und unserer Lebensfreude beraubt, uns zu Krüppeln macht und uns schließlich umbringt«, wie auf der Website de Greys nachzulesen ist. Er sieht sich auf einem Kreuzzug gegen das Altern und betrachtet den Alterungsprozess aus der Sicht eines Ingenieurs, ja er bezeichnet sich sogar explizit als einen »Anti-Aging-Ingenieur« (S. 250). De Grey sagt voraus, dass seine Forschungen im Bereich der biomedizinischen Gerontologie, die er unter dem Titel Strategies for Engineered

16 Ein typisches Beispiel für Veröffentlichungen in diesem Bereich ist: Philip Lee Miller/The Life Extension Foundation (Hg.): Life Extension Revolution: The New Science of Growing Older without Aging (unter Mitarbeit von Monica Reinagel), New York: Bantham Book 2005. Eine Kritik dieser Branche findet sich in: Stephen S. Hall: Merchants of Immortality: Chasing the Dream of Human Life Extension, Boston, New York: Houghton Mifflin Company 2003. 316

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Negligible Senescence (SENS) durchführt, zu bahnbrechenden Erkenntnissen führen werden. In Anknüpfung an Theorien des Alterns, die vor allem auf freie Radikale oder mitochondriale Mutationen abheben, entwirft de Grey ein – seiner Auffassung nach – »umfassendes, detailliertes und stringentes Szenario, um den Zusammenhang zwischen freien Radikalen und der Zunahme von oxidativem Stress im gesamten menschlichen Körper aufzuzeigen« (S. 74). Er schlägt verschiedene Strategien für ein Verzögern des Alterungsprozesses vor. So müssten die im Zusammenhang mit den so genannten Telomeren stehenden Mechanismen eliminiert werden, welche Krebs verursachen. Dies könne durch die selektive Modifikation der Länge der Telomere (nach Gewebetypen) mittels gezielter Gentherapie erreicht werden. Ein wichtiger Ansatzpunkt sei auch die mitochondriale DNA außerhalb des Zellkerns, die mit zunehmendem Alter immer mehr geschädigt und letztlich funktionsunfähig wird. De Grey schlägt auch hier den Einsatz von Gentherapie vor – mit dem Ziel, mitochondriale DNA in den Zellkern hinein zu kopieren – sowie eine Reihe weiterer Strategien für die Manipulation mitochondrialer DNA in situ. Dieser Bereich stellt wohl den innovativsten Teil seines Programms dar, denn de Grey schlägt vor, »Sicherungskopien der Gene«, die sich in den Mitochondrien befinden, im sicheren Hafen des Zellkerns einzulagern, weit entfernt vom Dauerbeschuss durch freie Radikale im Mitochondrium selbst (S. 83). Eine Sicherungskopie dieser Gene innerhalb des Zellkerns würde jede Mutation durch freie Radikale praktisch irrelevant machen, da die Zelle weiterhin in der Lage wäre, die Proteine herzustellen, die in den ausgeschalteten Genen im Mitochondrium ursprünglich kodiert waren. Ebenfalls von zentraler Bedeutung für den Alterungsprozess seien die Proteine außerhalb unserer Zellen, etwa die, welche für die Arterienwände oder für die Elastizität der Haut entscheidend sind. Die Forschung befasst sich hier aktuell mit der Suche nach geeigneten Enzymen oder anderen Stoffen, die dem Körper dabei helfen können, durch Proteine bedingte Probleme zu lösen. Schließlich schlägt de Grey noch den Einsatz von Immuntherapien vor, die unser Immunsystem darauf ausrichten sollen, schädigende seneszente Zellen zu zerstören und dabei sämtliche von ihnen verursachten Probleme zu beseitigen. Die intensivere Erforschung der biochemischen Zusammensetzung von »Abfallmaterial«, das sich außerhalb der Zellen sammelt, werde die Entwicklung von Immuntherapien erleichtern. De Grey und andere Wissenschaftler, wie John Schloendorn von der Arizona State University, befürworten zudem die Suche nach nichttoxischen mikrobiellen Enzymen in Bodenbakterien, die gefahrlos in menschliche Zellen eingeschleust werden könnten. 317

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Was ist aus jüdischer Sicht problematisch an der Vision de Greys? Zuerst gilt es festzuhalten, dass de Grey Altern zwar als Krankheit und als humanitäre Krise definiert, aber an das Problem nicht etwa als ein Arzt herangeht, der sich um Heilung bemüht, sondern vielmehr als ein Ingenieur, dem es um die Lösung eines mechanischen Problems geht. Nicht von ungefähr ist die meistgebrauchte Metapher bei de Greys Programm die des Oldtimers. So wie ein Oldtimer weit über seine durchschnittliche Lebenserwartung hinaus fahrbereit bleiben kann – vorausgesetzt, das Fahrzeug wird regelmäßig gründlich gewartet –, so könne auch der Mensch seine Lebenserwartung unbegrenzt hinausschieben, wenn er sich regelmäßigen Regenerationsbehandlungen unterziehe. Die Betrachtung des menschlichen Körpers als »belastbare Maschine«, die regelmäßig gewartet werden muss, ist jedoch problematisch, da der Mensch mehr als einfach nur eine Maschine ist, auch wenn bestimmte Aspekte der menschlichen Körperfunktionen eine gewisse Ähnlichkeit mit Maschinen aufweisen. Die Automobil-Metapher zeigt, dass für de Grey und andere Transhumanisten der Mensch nicht mehr als die Summe seiner physiologischen Prozesse ist, die wiederum rein mechanisch und vollständig versteh- und damit auch kontrollierbar sind. De Grey gibt zwar zu, dass uns der menschliche Körper noch viele Rätsel aufgibt, ist aber davon überzeugt, dass wir durch den zukünftigen wissenschaftlichen Fortschritt das nötige Wissen erlangen werden, um menschliches Leben unbegrenzt zu verlängern. Durch regelmäßige Gentherapie werden wir älter, ohne dabei zu altern, und erfüllen uns somit den Traum von ewiger Jugend. Nach de Greys Ansicht ist diese Menschheitsvision ein so hehres Ziel, dass der Einsatz aller uns zur Verfügung stehenden Mittel für den »Krieg gegen das Altern« gerechtfertigt erscheint. Abgesehen von der beunruhigenden Gleichsetzung von Menschen mit Oldtimern halte ich de Greys Zukunftsvision aus folgenden Gründen für fragwürdig: Zuerst einmal bin ich nicht davon überzeugt, dass man das Altern per se als tödliche Krankheit betrachten sollte, auch wenn es natürlich stimmt, dass wir mit zunehmendem Alter anfälliger für Erkrankungen werden. Da der Mensch nämlich ein Organismus und kein mechanischer Apparat ist, unterliegt er dem natürlichen Kreislauf von Geburt, Heranwachsen, Altern und Tod, was den Rhythmus der Schöpfung und das Geschenk des Lebens widerspiegelt. Jeder Organismus altert und stirbt irgendwann gerade deshalb, weil er lebendig ist, und das Geschenk des Lebens wird durch seine Endlichkeit umso wertvoller. Zudem hat das Altern nicht nur negative, sondern auch positive Seiten, da wir mit dem Alter an Weisheit gewinnen, wenn wir uns den Herausforderungen unserer Gebrechlichkeit und dem Nachlassen unserer Kräfte stellen. Mit dem Altern erlangen wir Tugenden wie Mitgefühl, Akzep318

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tanz und Vergebung, die nur schwer zu erwerben sind, wenn das »gute Leben« auf Spaßhaben oder ewiges Vergnügen reduziert wird. Mit dem Wissen um unsere Sterblichkeit und Endlichkeit erleben wir unser Leben intensiver und reicher, treffen Entscheidungen anders und leben weniger verschwenderisch und oberflächlich als wir dies ohne Bewusstsein der Unvermeidbarkeit unseres Todes tun würden. Noch bedeutsamer scheint mir jedoch die Frage zu sein, was denn das Ziel der endlosen Verlängerung menschlichen Lebens sein soll: Wofür werden die Menschen leben, wenn sie unendlich leben? Womit befasst sich der Mensch, wenn sein Leben 150 oder 500 Jahre länger dauern wird? Wird das menschliche Leben aus mehr Konsum bestehen, aus mehr Unterhaltung, mehr »Spaß«, mehr Krieg, mehr Umweltzerstörung und mehr Langeweile? Selbstverständlich hat die Alterungs- und Langlebigkeitsforschung ihre Berechtigung, sofern sie dazu beiträgt, Leiden zu lindern, die durch Demenzerkrankungen wie Alzheimer und Parkinson verursacht werden. Allerdings bin ich der Überzeugung, dass alle Projekte zur Verlängerung menschlichen Lebens nicht getrennt werden dürfen von der tiefer gehenden Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens. Diese Fragestellung scheint in der transhumanistischen Literatur völlig zu fehlen, auch wenn sich in den letzten Jahren einige politisch engagierte Befürworter des Transhumanismus z. B. verschiedentlich mit Menschenrechtsthemen befasst haben. Man könnte in dem genannten Zusammenhang einwenden, dass das menschliche Leben nicht eines höheren Zwecks bedürfe und dass es schon selbst ein Segen sei, der keine weitere Legitimation benötigt. Dieser Einwand ist zweifellos berechtigt. Ich glaube jedoch, dass genau auf dieser Grundlage heute so viele Menschen – insbesondere in der westlichen, postindustriellen Welt – ihr Leben ohne ein bewusstes Lebensziel verbringen, also sich keiner Aufgabe verschreiben, die das Leben veredelt, und dass deshalb so viele Menschen Langeweile, Leere und ein Gefühl der Sinnlosigkeit empfinden, was letztlich zu destruktivem Verhalten gegen sich und andere führt. Die Vision, diesen aktuellen, anomalen Zustand mit Hilfe von Genmanipulation unendlich aufrecht zu erhalten, erscheint mir gespenstisch und die Realisierung der Vision für die Menschheit nicht wünschenswert. Zumindest aus jüdischer Perspektive betrachtet, bedeutet der Wunsch nach einer unbegrenzten Verschiebung des Todes die ultimative Form menschlicher Hybris und ist somit ein weiteres Beispiel für die Auflehnung des Menschen gegen Gott, der den Menschen als endliches Wesen geschaffen hat, mit einer Lebensgeschichte, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende besitzt. Anstatt unser physisches Leben endlos zu verlängern wäre es weitaus besser, wenn wir uns darum bemühten, unsere individuellen Lebensgeschichten bedeutsam und für andere lehrreich 319

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werden zu lassen. Solche Lebensgeschichten umfassen eine emotionale, soziale, ästhetische und spirituelle Dimension und beweisen, dass wir mehr sind als »belastbare Maschinen«. Es ist dieses schwer greifbare, vage »Mehr«, das wir stärker wertschätzen und würdigen müssen. Nicht etwa, weil es zu einer körperlosen Substanz genannt »Seele« gehört, sondern weil dieses »Mehr« untrennbar verbunden ist mit unserer Schöpfung als endliche und körperliche Wesen, die räumlich ausgedehnt existieren und dennoch die einzigartige Fähigkeit besitzen, ihre verkörperlichte Zeitlichkeit zu transzendieren und sich um das Schicksal zukünftiger Generationen zu sorgen. Genau diese Körperlichkeit versuchen aber die Transhumanisten mit ihrem wohl radikalsten Programm zu überwinden, der kybernetischen Unsterblichkeit.

2. Kybernetische Unsterblichkeit Der wohl radikalste Aspekt des Transhumanismus ist das Szenario, dass Menschen in der Lage sein werden, den Inhalt ihrer Gehirne – ihren »Geist« – in eine nichtbiologische Entität zu überführen und somit Unsterblichkeit zu erlangen. Ray Kurzweils Buch The Singularity is Near: When Humans Transcend Biology (2005) ist eine sehr kraftvolle Artikulation dieser transhumanistischen Vision kybernetischer Unsterblichkeit. Er entwirft ein Szenario der »Gehirnüberführung« (S. 198ff.), welche das »Scannen« eines menschlichen Gehirns beinhalten soll, bei dem alle hervorstechenden Merkmale eingefangen werden. Damit würde der Zustand des Gehirns in einem neuen, höchstwahrscheinlich sehr viel leistungsfähigeren Substrat wiederhergestellt. Nach Ansicht Kurzweils wird dies bald machbar sein und größtenteils gegen Ende der 2030er Jahre realisiert werden (S. 324). In diesem Szenario »werden wir weiterhin menschliche Körper haben, doch diese werden formbare Projektionen unserer Intelligenz werden. Solche softwarebasierten Menschen«, sagt Kurzweil voraus, »werden weit über das hinausgehen, was wir von den engen Beschränkungen des heutigen Menschen her kennen. Sie werden im weltweiten Netz leben und Körper entwerfen, wann immer diese gebraucht oder gewünscht werden, einschließlich virtueller Körper in verschiedenen Bereichen virtueller Realität, holografisch entworfener Körper […] sowie physischer Körper, die aus Schwärmen von Nanobots und anderen Formen der Nanotechnologie bestehen« (S. 325). Nach Kurzweils Auffassung wäre dies praktisch eine Form der Unsterblichkeit, wobei er jedoch einräumt, dass Daten und Informationen nicht auf ewig erhalten bleiben. Die Lebensdauer von Informationen hängt von deren Relevanz, Nutzen und Zugänglichkeit ab.

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Wie anderen Transhumanisten erscheint Kurzweil dies als Sinn von Transzendenz, die er im wörtlichen Sinne als ein Überschreiten versteht, als ein Hinausgehen über die »gewöhnlichen Kräfte der materiellen Welt […] mithilfe der Kraft von Mustern« (S. 388). Wohl müsse der Körper, die Hardware des menschlichen Computers, sterben, doch die Software unseres Lebens, die persönliche »Datei« unseres »Geistes«, könne im Netz weiterleben, in den posthumanen Zukunftswelten, in denen holografische Avatare körperlos miteinander kommunizieren werden. Aus der Sicht Kurzweils ist das »Hochladen« unseres Selbst auf eine von Menschenhand geschaffene Maschine etwas Spirituelles, da es dabei um Komplexität, Eleganz, Wissen, Intelligenz, Schönheit, Kreativität und bis zu einem gewissen Grad auch um Subtileres wie Liebe gehen werde. Zwar erscheint Kurzweil abgeneigt, über seinen persönlichen Glauben an Gott zu sprechen, doch stellt er mit Nachdruck fest, dass sich die Evolution unaufhaltsam auf eine Idealvorstellung Gottes hinbewege, auch wenn sie das Ideal nie ganz erreichen könne. Was ist nun also problematisch an Kurzweils Vision speziell aus einer jüdischen Perspektive? Die Frage ist keineswegs trivial, wurde der Zusammenhang der Unsterblichkeit mit dem Inhalt des Intellekts doch bereits von jüdischen Denkern des Mittelalters angesprochen. Der bekannteste unter ihnen war Moses Maimonides (1138-1204).17 In Anlehnung an den aristotelischen Gottesbegriff eines ewig sich selbst denkenden, reinen Geistes sah Maimonides Gott als einen sich ewig selbst denkenden Gedanken. Ein hoch entwickelter menschlicher Geist, nämlich der von herausragenden Philosophen und Propheten, könne ein perfektes Wissen erreichen, ein Glück der Unsterblichkeit, verstanden als unendliche, von der leiblichen Hülle unbelastete geistige Aktivität. Dennoch wäre es nicht zutreffend, Maimonides als den ersten Transhumanisten zu bezeichnen. Zwar glaubte er, dass es für manche Menschen möglich sein könnte, ein außergewöhnliches Verständnis der Struktur der Realität zu erlangen, und er glaubte sicherlich, dass der Prophet Moses ein solches Individuum war. Maimonides hielt Moses jedoch weder für Gott noch identifizierte er ihn mit den separaten Intelligenzen, der philosophischen Entsprechung der traditionellen Engel. Moses war unter den Menschen einzigartig, doch war er kein Engel und nicht Gott. Er bleibt ein Mensch, der in der Lage war, sein profundes Verständnis der Wirklichkeit in Gesetze zu fassen, die das menschliche Handeln leiten. Selbst in Hinblick auf Moses war Maimonides also darauf bedacht, diesen als 17 Exzellente neuere Übersichtsarbeiten zu Maimonides sind: Herbert A. Davidson: Moses Maimonides: the Man and His Works, Oxford: Oxford University Press 2005; Joel L. Kraemer, Maimonides: The Life and World of One of Civilization’s Greatest Minds, New York: Doubleday 2008. 321

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Menschen darzustellen und die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen nicht zu verwischen. Es ist genau diese Grenze, die der Transhumanismus in seiner Hybris zu tilgen versucht, indem er die Verschmelzung von Menschen mit intelligenten Maschinen imaginiert. Aus einer jüdischen Perspektive ist Kurzweils Vision gerade deshalb problematisch, weil er Menschen als software-basierte Entitäten und damit lediglich als Informationen verarbeitende Maschinen ansieht. Führende transhumanistische Forscher im Bereich der Künstlichen Intelligenz, wie Kurzweil, Marvin Minsky und Hans Moravec, glauben, dass sich das Zeitalter des Menschen seinem Ende zuneigt und malen sich eine nichtbiologische Zukunft aus, in der menschliche Körper selbst als Information angesehen werden. Der Triumph der Information über biologische Materialität ist nicht nur deshalb problematisch, weil er das religiöse Verständnis der Schöpfung und die Segnungen des Lebens an sich infrage stellt, sondern auch weil er Menschen als allgemeine Muster behandelt. Wenn wir den Menschen auf Informationen reduzieren, die auf einem Silizium-Substrat codiert werden können, begehen wir eine zweifache Sünde: Wir löschen einerseits die besonderen Merkmale aus, die ein Individuum aufgrund der Abweichung vom Muster einzigartig machen; und wir vergessen, dass ein großer Teil unseres konkreten Andersseins in unseren besonderen, biologischen Merkmalen wurzelt, nämlich unserer besonderen Verkörperung in einem Leib, der sich von jedem anderen unterscheidet. Selbst eineiige Zwillinge, zu denen ich zähle, verlieren nicht ihre einzigartige Individualität, obwohl sie sich das Erbgut teilen. Zwillinge müssen sich gegenseitig als einen Anderen respektieren, um zu sein, was sie in Wahrheit sind: ein besonderer, kostbarer und nicht auf physische Gleichartigkeit reduzierbarer Mensch. Meine Kritik richtet sich auch gegen die implizite Vorstellung von Vollkommenheit, die der Vision der kybernetischen Unsterblichkeit zugrunde liegt. Diese Vision beinhaltet, möchte ich behaupten, eine tiefe Verachtung für biologische Körperlichkeit und deren metabolische Grundlage und ersetzt diese durch eine nur scheinbar überlegene intelligente Maschine, die die Grenzen des biologischen und fehleranfälligen menschlichen Körpers überschreitet, den Fürsprecher des Transhumanismus so eifrig zu verbessern suchen. Genau diese Geringschätzung biologischer Materialität und der ihr inhärenten Unvollkommenheit kritisiere ich aus ethischen Gesichtspunkten und halte sie für inakzeptabel, da sie auf einer fehlgeleiteten Interpretation des Ideals der Vollkommenheit beruht. Wir haben den Punkt erreicht, an dem das Sprichwort »Irren ist menschlich« eine neue Bedeutung erhält. Menschen machen glücklicherweise durchaus Fehler, sie sind nicht so effizient wie Maschinen es sein können, und eben dadurch offenbaren Menschen ihre Verletzlich322

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keit, ihre Unsicherheit und ihre ethische Bedeutung. Es sind gerade das Irren, der Unfug und das Unbeholfene, worin sich unsere Freiheit manifestiert – die Freiheit, die uns unvorhersehbar, ineffizient und einzigartig macht und uns gleichzeitig in die Lage versetzt, Mitleid und Empathie für andere Personen zu empfinden, die genauso hochgradig unvollkommen sind wie wir. Zwar wurde der Schachgroßmeister Garri Kasparow von dem Supercomputer Deep Blue geschlagen. Aber Kasparow ist ein einzigartiges menschliches Wesen, das ethische, politische und emotionale Entscheidungen trifft, die für andere Menschen von Bedeutung sind. Die Reichhaltigkeit und Einzigartigkeit der menschlichen Persönlichkeit überschreiten die Kapazität von Deep Blue; dieser kann ja nicht einmal das Gesicht Kasparows erkennen.18 Aus einem jüdischen Blickwinkel wurde die Kritik entkörperlichter Existenz erstmals während der Debatte um Maimonides im 13. Jahrhundert formuliert. Seine Kritiker widersprachen der Ansicht, dass es im jüdischen Leben ausschließlich darauf ankomme, was wir denken; vielmehr sei es genauso wichtig, was wir tun und wie wir uns gegenüber anderen verhalten.19 Sowohl das Handeln in der Welt als auch der Umgang mit anderen Menschen erfordern einen Körper, und es sind Aktivitäten des beseelten Körpers, die von Gott belohnt werden. Unsere Einzigartigkeit und Besonderheit setzt Körperlichkeit voraus, mittels unserer Körper knüpfen wir Kontakte zu anderen Menschen und setzen uns zu ihnen in Beziehung. In diesen Interaktionen verfeinern wir unsere Tugenden und kämpfen wir mit unseren Lastern und Verfehlungen. Natürlich sind wir unvollkommen und mit Fehlern behaftet, doch gerade darin liegen die Besonderheit unserer Lebensgeschichten und die Kostbarkeit unserer vielen Entscheidungen und Vorlieben. Die Besessenheit von Vollkommenheit und deren allzu simples mathematisches und kognitions-zentriertes Verständnis bilden das Herzstück der kybernetischutopischen Vision des Transhumanismus.

18 Die philosophische Ausarbeitung der Auffassung, dass das Gesicht menschliche Individualität und Einzigartigkeit einfängt, geht zurück auf Emmanuel Levinas, vgl. Jeffrey Bloechl (Hg.): The Face of the Other & the Trace of God: Essays on the Philosophy of Emanuel Levinas, New York: Fordham University Press 2000. Es war Levinas, der mich dazu inspirierte, mein Projekt »Facing the Challenges of Transhumanism« zu nennen, da es gerade die Auslöschung des Gesichts ist, die uns durch die kybernetische Unsterblichkeit droht. 19 Eine ausführliche Diskussion zur Kontroverse um Maimonides findet sich in: Hava Tirosh-Samuelson: Happiness in Premodern Judaism: Virtue, Knowledge and Well-Being, Cincinnati: Hebrew Union College 2003, im 6. Kapitel; vgl. dazu dort auch die ausführliche Bibliographie. 323

HAVA TIROSH-SAMUELSON

Schließlich finde ich die Auffassung beunruhigend, dass die Menschen das eschatologische Ideal tatsächlich erreichen können. Auch hier spreche ich wieder als eine Jüdin, die sich mehr dem Streben nach dem Ideal als dessen Verwirklichung verpflichtet fühlt. Das Judentum artikulierte den utopischen Impuls, doch es brachte auch Denker hervor, die das utopische Denken hinterfragten und seine Gefahren verstanden.20 Das Streben nach dem Ideal stattet das Leben mit Sinn aus und gibt ihm eine Richtung. Doch wenn die Vorschrift zur Situationsbeschreibung wird, droht Unheil. Die Beschreibung des eschatologischen Ziels, wie es sich die Transhumanisten ausmalen, empfinde ich nicht als schön und elegant, sondern es erfüllt mich mit Schrecken und Abscheu. Vielleicht deutet meine Reaktion auf einen Mangel an Vorstellungskraft hin. Möglich erscheint mir aber auch, dass meine Abneigung, die transhumanistische Zukunft zu befürworten, auf einem historischen Wissen um die Zerstörungskraft utopischen Denkens gründet. Niemand verstand diesen Aspekt besser als Hans Jonas, jener kenntnisreiche Kritiker der modernen Technologie und ihrer utopischen Visionen eines verbesserten Menschen.21 Kurz gesagt, mir erscheint der Begriff kybernetischer Unsterblichkeit als ein Weg, den Tod zu überwinden, auf einem falschen Verständnis davon zu beruhen, was Menschsein eigentlich bedeutet, eben weil in ihm der organische menschliche Körper durch den Körper einer von Menschenhand gemachten Maschine ersetzt wird.

I V. F a z i t Schon heute haben moderne Technologien unser Leben auf vielfältige Weise verändert und sie werden das auch in Zukunft auf eine für uns un20 Russell Jacoby nennt eine Reihe von jüdischen Intellektuellen als Beispiele für einen »zeitgenössischen Anti-Utopismus«: Karl Raimund Popper (1902-1994), Hannah Arendt (1906-1975), Isaiah Berlin (1909-1997), Jacob Talmon (1916-1980) und Norman Cohn (1915-2007). Vgl. Russell Jacoby: Picture Imperfect: Utopian Thought for an Anti-Utopian Age, New York: Columbia University Press 2005. Dieser Liste könnte man durchaus auch noch die Philosophen Steven Schwarzschild (1924-1989) und Hans Jonas (1903-1993) hinzufügen. Zu Ersterem siehe: Menachem Kellner (Hg.): The Pursuit of the Ideal: Jewish Writings of Steven Schwarzschild, Albany: SUNY Press 1990; zu Letzterem vgl.: Hava Tirosh-Samuelson/Christian Wiese (Hg.): The Legacy of Hans Jonas: Judaism and the Phenomenology of Life, Boston/Leiden 2008), insbesondere den Aufsatz von Michael Löwy (S. 149-158), der sich mit einer Analyse von Jonas’ Kritik an Ernst Blochs Utopismus befasst. 21 Eine ausgezeichnete Jonas-Biografie ist: Christian Wiese: The Life and Thought of Hans Jonas, Waltham, MA: Brandeis University Press 2007. 324

TRANSHUMANISMUS AUS JÜDISCHER PERSPEKTIVE

vorhersehbare Weise tun. Wir sollten den Fortschritt in diesem Bereich nicht kategorisch ablehnen, da er dazu beiträgt, menschliches Leid und Elend zu vermindern. Ebenfalls sollten wir uns aber davor hüten, naiv jede beliebige Technologie gutzuheißen oder unsere technologische Zukunft ausschließlich in die Hände von Wissenschaftlern zu legen. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass Theologen, Philosophen, Historiker, Soziologen und Politikwissenschaftler verstärkt an der Auseinandersetzung über die technische Entwicklung teilnehmen, und dabei harte Debatten nicht scheuen. Gerade die jüdische Tradition bringt Debatten und intellektueller Auseinandersetzung – als Ausdruck unserer Spiritualität und unserer Verpflichtung, nach Erkenntnis zu streben – hohe Wertschätzung entgegen. Nach meiner Einschätzung befindet sich der Transhumanismus auf einem Irrweg, da er von einem rein mechanistischen Ansatz des Menschseins ausgeht, weil er geradezu besessen ist von Perfektion – hinsichtlich menschlicher Leistungsfähigkeit und nicht hinsichtlich moralischer Integrität – und aufgrund seines mangelnden Respekts für die unbekannte Zukunft. Der Transhumanismus ist eine utopische Vision, die wie alle Utopien daran krankt, dass sie irrtümlich davon ausgeht, ein Ideal lasse sich tatsächlich in der Gegenwart verwirklichen statt nur ein Wegweiser für die Zukunft zu sein. Anstatt sich der fixen Idee der Transhumanisten anzuschließen, menschliches Leben entweder endlos verlängern oder den Tod überlisten zu wollen, halte ich es für angebrachter, die Realität des Todes als integralen Bestandteil menschlichen Lebens zu akzeptieren und zu würdigen, wie wir leben und altern und schließlich auch sterben. Um in Würde zu leben, müssen wir unser brüchiges gesellschaftliches Gefüge wieder stärken und dafür sorgen, dass jeder Mensch ein würdevolles Familien-, Berufs- und Sozialleben führen kann. Wir müssen alles, was in unserer Macht steht, unternehmen, um Ausbeutung, Armut, Gewalt und Korruption zu überwinden und die menschliche Kreativität wieder zu beleben, die so häufig durch die Technik abgestumpft wurde. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche mit Respekt für ihre Mitmenschen aufwachsen, seien es ihre Eltern, Geschwister, Altersgenossen, Verwandte, Kollegen, Fremde oder sogar Feinde und dass wir allen jungen Menschen die Tugenden einprägen, die für einen respektvollen Umgang miteinander nötig sind, allen voran die Tugend der Bescheidenheit. Unsere Kinder werden nur lernen, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen, wenn wir ihnen beibringen, die Verpflichtung zur Verantwortung gegenüber anderen ernst zu nehmen und sich nicht nur um das eigene Wohlergehen zu kümmern, sondern

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HAVA TIROSH-SAMUELSON

auch um das Wohlergehen anderer, einschließlich zukünftiger Generationen sowie aller anderen Lebewesen. Was das Altern in Würde betrifft, halte ich es jedenfalls für wenig sinnvoll, unsere Kraft in einen zellbiologischen Umbau zu investieren, um damit den Alterungsprozess aufzuhalten. Vielmehr sollten wir die Schönheit des Lebensprozesses mit seinem Kreislauf aus Geburt, Heranwachsen, Altern und Tod anerkennen. Den Rhythmus des menschlichen Lebens im Einklang mit diesem Prinzip zu verstehen, ist ein Quell der Erkenntnis, wie uns bereits viele antike Denker gelehrt haben, besonders eindringlich Kohelet. Um auf positive Weise zu altern und letztlich zu echter Weisheit zu gelangen, müssen wir die Lehren der Alten aus allen Traditionen und Gesellschaften beachten und uns dem törichten Jugendkult widersetzen. Jugend hat gewiss ihren eigenen Wert, aber sie umfasst keineswegs die Gesamtheit der Bedeutung des Menschseins. Würdevolles Altern bedeutet nicht etwa nur, sich um Gewichtskontrolle, körperliche Bewegung und Nahrungsergänzungsmittel zu kümmern, sondern schließt ebenso die Beschäftigung mit Kunst, traditionellem Wissen und Religion ein, die uns Einblicke in den Sinn der menschlichen Existenz und in den dem Leben innewohnenden Wert ermöglichen. Wenn wir uns das würdevolle Altern zum Ziel setzen, werden wir nicht erlauben, dass unser Gesundheitssystem ausschließlich von den finanziellen Interessen der Versicherungskonzerne bestimmt wird, und wir werden dann medizinische Einrichtungen schaffen, in denen der Mensch in seiner Ganzheit und nicht nur als materieller Körper begriffen wird. Und da auch der Tod ein Teil vom Lebenszyklus sterblicher Wesen ist, müssen wir uns zudem um einen würdevollen Umgang mit dem Sterben bemühen, dem Prozess, der in der Bibel als ein Versammeln von Verwandten beschrieben wird. Sterben ist gewiss nicht schön, sondern ein Prozess voller Leiden, Qual und Schmerzen, die durch Palliativpflege gelindert werden können. Der Sterbeprozess muss jedoch weder demütigend noch entwürdigend sein, sondern kann, wie uns die Hospizbewegung gezeigt hat, durchaus würdevoll vonstatten gehen – wenn wir uns stets bewusst machen, dass jeder Sterbende eine bedeutsame Lebensgeschichte besitzt, die ihren Sinn nicht dadurch verliert, dass seine Körperfunktionen nachlassen und schließlich zum Erliegen kommen. Wenn wir über das Lebensende und Lebensverlängerung diskutieren – Themen, die immer schwierig und kontrovers sind – sollten wir diese Frage nach dem Sinn in den Vordergrund stellen. Das verlangt allerdings, dass die Auseinandersetzung mit der Körperlichkeit des Menschen nicht allein den Ingenieuren und Wissenschaftlern überlassen werden darf. Sie muss eine Vielzahl von Aspekten einschließen, die über moderne Wissenschaft und Technologie hinausgehen. Letztere haben un326

TRANSHUMANISMUS AUS JÜDISCHER PERSPEKTIVE

sere moralischen Werte für immer verändert und stellen eine Herausforderung für die Würde des Menschen dar. Indem wir uns weiterhin mit transhumanistischen Ansichten auseinandersetzen, werden wir neue Einsichten gewinnen, was Menschsein im 21. Jahrhundert bedeutet.

Literatur Bloechl, Jeffrey (Hg.): The Face of the Other & the Trace of God: Essays on the Philosophy of Emmanuel Levinas, New York: Fordham University Press 2000. Cole-Turner, Ronald (Hg.): Human Cloning: Religious Responses, Louisville, KY: Westminster John Knox Press 1997. Davidson, Herbert A.: Moses Maimonides: the Man and His Works, Oxford: Oxford University Press 2005. Dorff, Elliott: Matters of Life and Death: A Jewish Approach to Modern Medical Ethics, Philadelphia: Jewish Publication Society 2003. Gordijn, Bert/Chadwick, Ruth (Hg.): Medical Enhancement and Posthumanity, Dordrecht: Springer 2008. De Grey, Aubrey: Ending Aging: The Rejuvenation Breakthroughs that Could Reverse Human Aging in Our Life Time, New York: St. Martins’s Press 2007. Hall, Stephen S.: Merchants of Immortality: Chasing the Dream of Human Life Extension, Boston, New York: Houghton Mifflin Company 2003. Hayles, Katherine: How we Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature and Informatics, Chicago, London: University of Chicago 1999. Hefner, Philip: Theology and Human Becoming, Minneapolis: Fortress Press 2003. : »The Animal that Aspires to Be an Angel: the Challenge of Transhumanism«, in: Dialog: Journal of Theology 48/2 Jahr?, S. 164-173. Huxley, Julian S.: New Bottles for New Wine, London: Chatto & Windus 1957. Jacoby, Russell: Picture Imperfect: Utopian Thought for an Anti-Utopian Age, New York: Columbia University Press 2005. Kahn, Susan Martha: Reproducing Jews: A Cultural Account of Assisted Conception in Israel, Durham, N.C./London: Duke University Press 2000. Kellner, Menachem (Hg.): The Pursuit of the Ideal: Jewish Writings of Steven Schwarzschild, Albany: SUNY Press 1990. Kraemer, Joel L.: Maimonides; The Life and World of One of Civilization’s Greatest Minds, New York: Doubleday 2008. Kurzweil, Ray: The Singularity is Near: When Humans Transcend Biology, New York: Viking Press 2005.

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HAVA TIROSH-SAMUELSON

Maher, Derek F./Mercer, Calvin (Hg.): Religion and the Implications of Radical Life Extension, New York: Palgrave Macmillan 2009. Miller, Philip Lee/The Life Extension Foundation (Hg.): Life Extension Revolution: The New Science of Growing Older without Aging (unter Mitarbeit von Monica Reinagel), New York: Bantham Book 2005. Pepperell, Robert: The Posthuman Condition: Consciousness beyond the Brain, Bristol: Intellect Books 2003. Portuguese, Jacqueline: Fertility Policy in Israel: The Politics of Religion, Gender and Nation, Westport, Conn.: Praeger 1998. Savulescu, Julian/Bostrom, Nick (Hg.): Human Enhancement, Oxford: Oxford University Press 2009. Tirosh-Samuelson, Hava: Happiness in Premodern Judaism: Virtue, Knowledge and Well-Being, Cincinnati: Hebrew Union College 2003.. : »The Historical Roots of Transhumanism: England in the 1920th«, erscheint in: dies./Kenneth L. Mossman (Hg.): Building Better Humans? Refocusing the Debate on Transhumanism. /Wiese, Christian (Hg.): The Legacy of Hans Jonas: Judaism and the Phenomenology of Life, Boston, Leiden 2008. Waters, Brent: From Human to Posthuman: Christian Theology and Technology in a Posthuman World, Aldershot: Ashgate and Burlington VT 2006. Wiese, Christian: The Life and Thought of Hans Jonas, Waltham, MA: Brandeis University Press 2007. Young, Simon: Designer Evolution: A Transhumanist Manifesto, Amherst, NY: Prometheus Books 2005.

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AU T O R I N N E N

UND

AU T O R E N

Rainer Becker (Dr. phil. des.): Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie in Darmstadt, dort Ende 2008 Promotion. Derzeit Projekt zur Wissenschaftsforschung (Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin / Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg). Schwerpunkte: Diskursanalyse, Medienphilosophie, Wissenschaftsgeschichte, Politische Philosophie (Performativität, Poststrukturalismus, Biopolitik). E-Mail: [email protected]. Christopher Coenen (Dipl.-Pol.): Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialwissenschaften in Heidelberg und Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Seit 2002 u. a. Projekte zu ethischen und gesellschaftlichen Aspekten der Nanotechnologie, synthetischen Biologie und von Human Enhancement. Schwerpunkte: Technikfolgenabschätzung (neue und emergierende Technologien), Politik und Technologie, Geschichte von Technikvisionen und Utopien. Anschrift: Karlsruher Institut für Technologie, ITAS, Postfach 3640, D-76021 Karlsruhe, E-Mail: [email protected]. Arianna Ferrari (Dr. phil.): Jg. 1976, Studium der Philosophie in Mailand und Tübingen, Promotion in Co-Betreuung in Torino und Tübingen. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), Projekt zum Thema »Animal Enhancement«. Schwerpunkte: Tierethik, Umweltethik, Bioethik, Philosophie der Biologie, Technikphi-

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DIE DEBATTE ÜBER »HUMAN ENHANCEMENT«

losophie. Anschrift: Karlsruher Institut für Technologie, ITAS, Postfach 3640, D-76021 Karlsruhe, E-Mail: [email protected]. Stefan Gammel (M. A.): Studium der Philosophie, Germanistik und Anglistik in Stuttgart. Bearbeiter des Projektes »Visionen der Nanotechnologie« bis 2006 am IZEW in Tübingen, 2007 bis 2010 Wiss. Mitarbeiter in diversen EU-Projekten an der TU Darmstadt, Lehrbeauftragter an der TU, Nanobüro. Schwerpunkte: Ethik und neue Technologien (Promotion), Utopien und Science Fiction in Literatur und Philosophie, Temporalität und Ethik. Anschrift: Technische Universität Darmstadt, Institut für Philosophie, Schloss, 64283 Darmstadt. E-Mail: [email protected]. Reinhard Heil (M. A.): Jg. 1971, Studium der Philosophie, Soziologie und Germanistik in Darmstadt. Derzeit Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Schwerpunkte: Transhumanismus (Promotion), Social Relations of Science Movement (J. Bernal, J. B. S. Haldane, J. Huxley), Human Enhancement, Technikphilosophie, Politische Philosophie (Slavoj Žižek, Radikale Demokratie). Anschrift: Technische Universität Darmstadt, Institut für Philosophie, Schloss, 64283 Darmstadt. E-Mail: [email protected] Homepage: www.demokratietheorie.de. Andreas Kaminski (Dr. phil.): Jg. 1975, Studium der Philosophie, Germanistik und Soziologie an der TU Darmstadt und FU Berlin. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt, Postdoktorand am Graduiertenkolleg Qualitätsverbesserung im E-Learning durch rückgekoppelte Prozesse. Schwerpunkte: Technikphilosophie, insbesondere allgemeine Techniktheorie auf der Grundlage von Erwartungen (Vertrauen, Vertrautheit, Potenziale) sowie Informationstechnik (Ubiquitous Computing, E-Learning, Requirements Engineering); ferner Phänomenologie und Systemtheorie. Anschrift: Technische Universität Darmstadt, Institut für Philosophie, Schloss, 64283 Darmstadt. E-Mail: [email protected]. Nicolas Langlitz (Prof. Dr. med. Dr. phil.): Jg. 1975, Studium der Medizin und Philosophie in Berlin und Paris, Promotion in Medizingeschichte und Medizinanthropologie; Assistenzprofessor für Anthropologie an der New School for Social Research in New York, wo er an einem Buch über die Renaissance der Halluzinogenforschung seit der »Dekade des Gehirns« arbeitet. Weitere Informationen unter: www.nicolaslanglitz.de. 330

AUTORINNEN UND AUTOREN

Thomas Möbius (M. A., Dipl. soz.): Jg. 1974, Studium: Sozialwissenschaften, Neuere Deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit dort Promotion über Utopien in Russland am Institut für Sozialwissenschaften. Anschrift: Gleimstraße 36, 10437 Berlin. E-Mail: [email protected]. Alfred Nordmann (Prof. Dr. phil.): Jg. 1956, Studium: Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und Wissenschaftsgeschichte in Tübingen und Hamburg, Promotion in Hamburg, Professor für Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftsgeschichte an der TU Darmstadt und Visiting Centenary Professor an der University of South Carolina (USA). Schwerpunkte: Geschichte und Philosophie der Technowissenschaften, Wissenschaftsphilosophie. Anschrift: Technische Universität Darmstadt, Institut für Philosophie, Schloss, 64283 Darmstadt. E-Mail: [email protected]. Hava Tirosh-Samuelson (Prof. Dr.): Studium an der Stony Brook University (USA), Promotion an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Professorin für Geschichte, Leiterin des Fachbereichs und Zentrums für Jüdische Studien sowie Irving and Miriam Lowe Professor of Modern Judaism an der Arizona State University (USA). Schwerpunkte: jüdische Geistesgeschichte, Judentum und Wissenschaft, Judentum und Ökologie sowie feministische Theorie. Anschrift: Arizona State University, Coor Hall, Box 874302, Tempe, AZ85287-4302. E-Mail: [email protected]. Andreas Woyke (Dr. päd.): Jg. 1966, Studium der Chemie, Physik, Erziehungswissenschaft und Philosophie an der Universität Siegen, 2004 dort Promotion. Derzeit Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt; Habilitations-Projekt »Philosophische Implikationen von Nanoforschung und Nanotechnologie«; Forschungsgebiete: Natur-, Wissenschafts- und Technikphilosophie, Ideen- und Begriffsgeschichte, Philosophie der Antike, Prozessphilosophie, Glückstheorien, Theorien der Moderne, Religionsphilosophie; Anschrift: Technische Universität Darmstadt, Institut für Philosophie, Schloss, 64283 Darmstadt. E-Mail: [email protected].

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Science Studies Viola Balz Zwischen Wirkung und Erfahrung – eine Geschichte der Psychopharmaka Neuroleptika in der Bundesrepublik Deutschland, 1950-1980 August 2010, 580 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1452-7

Nicholas Eschenbruch, Viola Balz, Ulrike Klöppel, Marion Hulverscheidt (Hg.) Arzneimittel des 20. Jahrhunderts Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan 2009, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1125-0

Jochen Hennig Bildpraxis Visuelle Strategien in der frühen Nanotechnologie September 2010, ca. 338 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1083-3

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Science Studies Bernd Hüppauf, Peter Weingart (Hg.) Frosch und Frankenstein Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft 2009, 462 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-892-6

Marion Mangelsdorf, Maren Krähling, Carmen Gransee Technoscience Eine kritische Einführung in Theorien der Wissenschafts- und Körperpraktiken Oktober 2010, ca. 150 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN 978-3-89942-708-0

Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz, Peter Gendolla (Hg.) Akteur-Medien-Theorie Oktober 2010, ca. 640 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1020-8

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Science Studies Ralf Adelmann, Jan Frercks, Martina Hessler, Jochen Hennig Datenbilder Zur digitalen Bildpraxis in den Naturwissenschaften 2009, 224 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1041-3

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Susanne Burren Die Wissenskultur der Betriebswirtschaftslehre Aufstieg und Dilemma einer hybriden Disziplin Januar 2010, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1330-8

Michael Eggers, Matthias Rothe (Hg.) Wissenschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte Terminologische Umbrüche im Entstehungsprozess der modernen Wissenschaften 2009, 274 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1184-7

Johannes Feichtinger Wissenschaft als reflexives Projekt Von Bolzano über Freud zu Kelsen: Österreichische Wissenschaftsgeschichte 1848-1938

Gabriele Gramelsberger Computerexperimente Zum Wandel der Wissenschaft im Zeitalter des Computers Januar 2010, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-986-2

Wilfried Heinzelmann Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933. Eine Geschichte in sieben Profilen 2009, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1144-1

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Peter Schlögl, Krisztina Dér (Hg.) Berufsbildungsforschung Alte und neue Fragen eines Forschungsfeldes August 2010, ca. 250 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1370-4

August 2010, ca. 618 Seiten, kart., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1523-4

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