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German Pages 532 [534] Year 2023
Max J. Kobbert promovierte 1976 mit einer Arbeit über bewusste und nicht bewusste Prozesse der visuellen Wahrnehmung. Er war mit Schwerpunkt Wahrnehmungspsychologie an den Universitäten Münster und Regensburg, an der Kunstakademie Münster und am FB Design der FH Münster tätig.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40760-6
Max J. Kobbert Die zweite Entstehung der Welt
Bei jedem Menschen entsteht die Welt neu. Dieser Prozess beginnt schon vor der Geburt und setzt sich bis ins Alter fort. Was man als Wirklichkeit erfährt, umfasst die physische und die soziale Welt ebenso wie das eigene Selbst. Überindividuelle Wirklichkeit, Kommunikation, Gemeinschaft und Gemeinsamkeiten verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen, weil wir sie brauchen, als zentrale Aufgaben begriffen und immer neu geschaffen werden. Desinformationen und Spaltungstendenzen erschweren sie zusätzlich. Das Buch analysiert nicht nur die anthropologische Grundsituation, sondern enthält auch konkrete Beiträge zur Lösung drängender Probleme. Dabei spannt es einen weiten Bogen über Natur- und Geisteswissenschaften, über Sprache, Kunst und Musik. Bei aller Tiefgründigkeit bleibt das Buch allgemeinverständlich. Zahlreiche Anekdoten und über 150 Abbildungen lockern den Text auf.
Max J. Kobbert
Die zweite Entstehung der Welt Was uns trennt und was uns verbindet
Max J. Kobbert
Die zweite Entstehung der Welt
Max J. Kobbert
Die zweite Entstehung der Welt Was uns trennt und was uns verbindet
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Umschlagsabbildung: Max J. Kobbert Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40760-6 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40761-3
Inhalt Vorbemerkung.......................................................................................................................................11
1
Umsturz eines Weltbildes .....................................................................................................12 Wie kommt die Welt zustande? ...........................................................................................13
2
Alles verkehrt ..........................................................................................................................17 Warum steht die Welt nicht Kopf? ......................................................................................17
Als wäre die Welt verhundertfacht ......................................................................................22 3 Bildet das Auge die Welt ab? ...............................................................................................22
4
Das seltsame Fliegenauge......................................................................................................27 Wie kommt Ordnung in Billionen Lichtreize? ................................................................ 28
5
Die peinliche Sache mit dem Müll ......................................................................................33 Wo kommen die Farben her? ...............................................................................................33
Aus zwei Dimensionen werden drei ....................................................................................37 6 Warum sehen wir nicht alles flach? ....................................................................................38
7
8
9
Ausgebremst........................................................................................................................... 46 Sehen ohne Bewusstsein? .................................................................................................... 46 Ein Zauberer liest Gedanken............................................................................................... 50 Was spüren wir mit der Haut? ............................................................................................ 50 Ertasten von Farben ...............................................................................................................52 Ich als Rechteck ......................................................................................................................57 Wie nehmen wir unseren Körper wahr? ............................................................................57
5
Der Januskopf .........................................................................................................................63 10 Was ist das Besondere am Tastsinn? ...................................................................................65 Nachts im stockfinsteren Wald ............................................................................................67
11
Das Wespennest .....................................................................................................................72 Warum dieser furchtbare Schmerz?....................................................................................74
12
Der Geschmack von Tinte ....................................................................................................79 Woher kommen Riechen und Schmecken? ...................................................................... 80
13
Auf dem Brückengeländer ................................................................................................... 88 Warum fallen wir nicht um? ................................................................................................89
14
Wie eine Fledermaus .............................................................................................................95 Wie entsteht Klang? .............................................................................................................. 96 Jenseits der Schmerzgrenze ................................................................................................. 99
Genieße Blau, solange du jung bist! ..................................................................................102 15 Wie entwickelt sich die Wahrnehmungswelt? .................................................................102
16
Von Farben begleitete Zeichen ...........................................................................................114 Nimmt jeder die Welt anders wahr?..................................................................................115
17
Sterne, wo keine sind .......................................................................................................... 123 Echte Erlebnisse bei falschen Reizen? .............................................................................. 123
Der verschwundene Ton .................................................................................................... 128 18 Was hat unsere Welt mit der Realität zu tun? ................................................................. 129 Optikunterricht für Blinde .................................................................................................131
19
Uri Geller ...............................................................................................................................137 Was ist wirklich und was Täuschung? ..............................................................................137 Diamanten wie Sand am Meer .......................................................................................... 150
20
Der Spaß, eine Treppe hinunterzufallen ..........................................................................155 Warum träumen wir? ..........................................................................................................155 Im Traum wiederbelebt .......................................................................................................157 6
Aurora borealis .....................................................................................................................164 21 Woran merken wir, dass wir nicht träumen? ..................................................................164
22
Ein Muster legt sich über die Welt.....................................................................................171 Wodurch entstehen Halluzination und Wahn? ..............................................................172
Diese verdammte Sucht!......................................................................................................178 23 Was machen Drogen mit uns? ...........................................................................................178 Für 20 Sekunden ein anderer Mensch ..............................................................................187 24 Was machen psychische Störungen mit uns? ..................................................................188
25
Ein telepathisches Experiment...........................................................................................193 Gibt es paranormale Fähigkeiten? .....................................................................................193
Verpasste Chance ................................................................................................................ 199 26 Können wir Gefühle anderer verstehen? ......................................................................... 200 Cliffhanger an der Schwebebahn .......................................................................................210 Samy Molcho ........................................................................................................................212 Erste Erfahrungen mit einem neuen Lebensrätsel ..........................................................218 27 Sexualität – haben wir eine Wahl? ....................................................................................219
28
Einswerden........................................................................................................................... 229 Liebe – nur eine Illusion? ................................................................................................... 229
Die Geheimschrift ............................................................................................................... 240 29 Sprache – Worüber reden wir eigentlich? ....................................................................... 241 K. O. Götz und seine Bilder ............................................................................................... 254 30 Denken in Worten oder in Bildern? ..................................................................................255
31
Rudolf Arnheim und der Konstruktivismus .................................................................. 267 Meine Welt – ein Hirngespinst?........................................................................................ 268
7
Drastische Lektionen ...........................................................................................................281 32 Wie kommt Wissen zustande? ...........................................................................................281 Kann man vierdimensional wahrnehmen?..................................................................... 293 Auf dem Galtonbrett des Schicksals ................................................................................ 299 33 Eine Welt oder viele Welten? ..............................................................................................301 „42“ und die Magie der drei Dimensionen ..................................................................... 307
34
Gedankenwege durch Schöpfung und Evolution............................................................314 Sind alle Weltbilder gleich wahr? ......................................................................................316 Glaubensgewissheit und kritisches Denken ....................................................................319
Corona zerreißt Freundschaften ....................................................................................... 325 35 Lassen sich Fake News erkennen? .................................................................................... 326 Frühe Erfahrungen mit DDR-Propaganda ......................................................................337 Der springende Punkt ........................................................................................................ 344 36 Was verbindet uns? ............................................................................................................. 344 Wenn ein alter Mensch stirbt, brennt eine Bibliothek ab ..............................................352 Terror und Gastfreundschaft ............................................................................................ 362 37 Warum spielen wir? ............................................................................................................ 363 Spiel als Brücke in eine geschlossene Welt .......................................................................370 Ein digitales Mordopfer ......................................................................................................372 38 Überholt uns die Künstliche Intelligenz? .........................................................................373 Der C64 als Frauenkenner ................................................................................................. 380
39
Der Zombie in mir .............................................................................................................. 387 Sind wir Herr über uns selbst? .......................................................................................... 387 Schlafwandeln und ein Justizirrtum.................................................................................391 Goldfieber und die Grenzen der Selbstkontrolle.............................................................393
Ich! Ich! Ich! ......................................................................................................................... 397 40 Bin Ich nur eine Illusion? ................................................................................................... 397
8
Joseph Aloisius Ratzinger�������������������������������������������������������������������������������������������������� 407 41 Hat der Mensch einen freien Willen?������������������������������������������������������������������������������ 407 Das Brötchen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������417 Eine Entdeckung zur Bewusstseinsfrage������������������������������������������������������������������������� 421 42 Wie hängen Gehirn und Bewusstsein zusammen?������������������������������������������������������� 422 Wie hat mein Gehirn das angestellt?������������������������������������������������������������������������������� 437 Gespräch zwischen Eheleuten������������������������������������������������������������������������������������������� 440 43 Welche Bedeutung hat das Bewusstsein?������������������������������������������������������������������������ 441 Gespräch mit einem taubblinden Mädchen�������������������������������������������������������������������� 443 Überraschende Klänge auf Island������������������������������������������������������������������������������������ 460 44 Wofür brauchen wir die Musik?��������������������������������������������������������������������������������������� 461 Chill im Gorillahaus����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 466 Endgedanken����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 480 45 Die rechte oder die linke Hand?����������������������������������������������������������������������������������������481 Anhang������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 494 Glossar������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 494 Register������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 498 Abbildungsnachweis������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 505 Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 506 Quellen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������521 Über den Autor�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������532
9
Vorbemerkung Als dieses Buch entstand, konnte man nicht ahnen, welch dramatische Aktualität sein Hauptthema erfahren würden: die Subjektivität von Wahrnehmung und das Problem intersubjektiver Verständigung. Das Manuskript war gerade abgeschlossen, als am 24. Februar 2022 Wladimir Putin unter Missachtung des Völkerrechts die Ukraine überfiel und einen Krieg begann, der seit den Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg für Europa undenkbar schien. Seither ist die Welt eine andere, und viele Menschen müssen ihr Weltbild revidieren, die an „Wandel durch Handel“, an „Frieden schaffen ohne Waffen“ und an die Allgemeingültigkeit des Strebens nach einer humanen Welt geglaubt haben, wie es etwa in der Charta der Vereinten Nationen formuliert ist. In diesem Buch angesprochene Probleme, die durch Lügen und Fake News angerichtet werden, konkretisierten sich in erschreckender Weise. Putin und sein Umfeld haben für sein imperialistisches Weltbild eine Echokammer erzeugt, aus der ihn niemand mehr mit Argumenten herausbringt, die aber verheerende Wirkung auf die allen gemeinsame Realität hat. Seine militärische Machtfülle, motiviert von Ressentiments gegenüber den westlichen Demokratien, ist zur internationalen Gefahr angewachsen. Er hat nicht nur In- und Ausland mit Desinformationen überzogen. Er selbst ist zum Gefangenen einer unkorrigierbaren Weltsicht mit Fehleinschätzungen geworden, die sich an dem folgenschweren Irrtum festmachen lassen, die Ukraine in einer kurzen Spezialoperation in seinem Sinne umwandeln zu können und als Befreier vom Faschismus gefeiert zu werden. Er selbst wurde zum Opfer immanenter Fake News, als sein Geheimdienst FSB und das Militär ihm offenbar nur zu sagen wagten, was er hören wollte. Auch nahm er wohl an, die Gelegenheit sei günstig, weil der Westen gespalten und schwach, der amerikanische Präsident zu alt und die deutsche Regierung zu unerfahren sei. Tatsächlich trug sein Angriffskrieg dazu bei, dass der Westen zu seltener Einigkeit zusammenrückte, die Ukraine unterstützte, und dass die deutsche Regierung in kürzester Zeit reifte. Russland wurde politisch isoliert, wirtschaftlich und militärisch geschwächt, seine Bevölkerung gespalten in Informierte und Desinformierte. Schockartig wurde bewusst, dass die Werte einer humanen und demokratischen Weltordnung nicht selbstverständlich sind, sondern mit der Bereitschaft zu Opfern verteidigt werden müssen.
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Vorbemerkung
Ich habe die Hoffnung, dass – auch im Interesse Russlands – nicht Phobos und Deimos, Angst und Terror, sondern dass Demokratie mit ihrer kreativen Streitkultur, Freiheit in Verantwortung und Verständigung mit der steten Suche nach Wahrheit die Oberhand gewinnen. Allen, die diese Hoffnung teilen, widme ich dieses Buch. Münster, im März 2022
Max J. Kobbert
Abb. 1: Moskau im August 1966. Ich habe mir im Kaufhaus Gum Aquarellfarben besorgt, lehne an der Kremlmauer und male die Basiliuskathedrale. Ein etwa 10-jähriger Schuljunge kommt und schaut mir zu. Ich gebe ihm Blatt und Bleistift, und er zeichnet die nahegelegene Große Moskwa-Brücke. Nach einer guten Stunde verabschiedet sich der kleine Russe und schenkt mir die begonnene Zeichnung. Diese Geste hat wie viele andere Begegnungen mein Bild von den Russen nachhaltig positiv geprägt – im Kontrast zu meiner Meinung über manche ihrer Führer. Am 27. Februar 2015 wird auf eben dieser Brücke der russische Oppositionelle Boris Nemzow, unter Boris Jelzin Vizepräsident der Russischen Föderation, hinterrücks erschossen. Er hatte tags zuvor auf einer Pressekonferenz gesagt, „dass die russische Bevölkerung irgendwann erkennen werde, wessen Lügen sie aufgesessen sei. Dann würden die Menschen Putin hassen wie Hitler.“1 Niemand weiß, wie es nach den gegenwärtigen Verwerfungen weitergehen wird. Sicher ist, dass in der Zeit nach der Putin-Ära viele Brücken neu gebaut werden müssen, konkret, zwischenmenschlich und international.
11
Die zweite Entstehung der Welt
Umsturz eines Weltbildes Meine Mutter und ich leben nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlinge in einem Dorf zwischen Ruhrgebiet und Sauerland. Der Vater ist in Kriegsgefangenschaft, die Mutter arbeitet in einer Fabrik. Ich genieße als Vierjähriger die Freiheit, allein und unbeaufsichtigt die Welt zu erforschen. Ich wandere durch Felder, Wiesen und Siedlungen, finde überall große und kleine Freunde, streichle alle Hunde und Katzen, laufe mit Kühen, Pferden und Schafen über die Weiden. Ich atme den Duft von geschnittenem Heu und abgeflämmten Feldern, folge dem Harzduft von Nadelwäldern und laufe durch die Kathedralen der Buchen. Ich nasche Bucheckern, Himbeeren und Brombeeren, auch wenn mich ein paar Dornen kratzen. Ich plantsche durch kühle Bäche und spiele an den scharf riechenden buntschillernden Abwässern der Fabrik. Ich klettere über sonnenwarme Felsen, durchstöbere spannende Ruinen und zerschossene Autowracks. Ich liebe es, mich an den Rand einer grauen Felsklippe zu setzen und auf die Ruhr hinab zu blicken. Auf den Höhen lasse ich mich rücklings in eine duftende Blumenwiese fallen, einen gut schmeckenden Grashalm im Mundwinkel, genieße den kräftigen Geruch von Ginster und Weißdorn und schaue dem Spiel der Wolken zu. Sicher wie die Brieftauben unseres Nachbarn finde ich jeden Abend zurück zu unserem winzigen Zuhause in der Mansarde eines Fabrikgebäudes. Ich setze mich auf die Bank des einzigen kleinen Fensters, die Füße auf der Dachschräge, und schaue von dort in die Weite. Die Landschaft vor mir steigt sanft an, überzogen von grünen Flecken, dunklen Waldstücken und grauen Häusern. Ganz oben, ganz hinten in der Ferne, gleich unter den Wolken, sehe ich eine hohe Ruine, durch deren Bogenfenster der Himmel scheint. Sie fasziniert mich. Denn dort, davon bin ich überzeugt, ist das Ende der Welt. Dahinter muss sich, so meine ich, ein schwarzer Abgrund auftun, unendlich viel tiefer als bei der Klippe über der Ruhr. Vielleicht auch, so stelle ich mir vor, berührt dort der Himmel die Erde, und man kann die Wolken hinaufklettern. Ich will niemanden danach fragen, sondern das Geheimnis selbst herausfinden. Eines Morgens mache ich mich auf den Weg, in der Umhängetasche das Butterbrot, das meine Mutter mir jeden Morgen macht. Die Ruine mit den leeren Bogenfenstern, die ich am Horizont gesehen habe, ist das magische Ziel. Bergauf geht es querbeet durch fremde Wälder und Wiesen. Stunden müssen vergangen sein, als ich endlich das Ziel erreiche. Büsche versperren mir die Sicht. Brennend vor Neugier klettere ich auf das zerklüftete Gebäude. Jetzt wird sich mir das Geheimnis zeigen. Oben angekommen habe ich freie Sicht und – bin baff. Was ich sehe, ist kein Abgrund und kein Zugang in den Himmel. Vielmehr breiten sich vor mir in endloser Folge immer neue Felder, Wälder, Straßen und Siedlungen aus. Sie erstrecken sich viel weiter, als ich je zuvor habe sehen können, bis zu einem neuen Horizont in dunstiger Ferne.
12
Dahinter, so wird mir im gleichen Moment klar, sieht es wohl ähnlich aus. Tief enttäuscht gebe ich meine Suche nach dem Ende der Welt auf und kehre nach Hause zurück. Ich habe zwar nicht das Ende der Welt gefunden, aber ein neues Weltbild.
1
Wie kommt die Welt zustande?
Anders gefragt: Wie kommt es zu der Wirklichkeit, die ich um mich herum vorfinde? Da ist die Welt, und ich bin mitten darin. Menschen, Tiere, Dinge, der Himmel über uns – all das ist uns selbstverständlich. Für gewöhnlich machen wir uns keine Gedanken über das, was klar vor Augen liegt. Wir halten es einfach für gegeben. Erwachsene wissen aus Erfahrung, dass Meinungen und Wertvorstellungen von Mensch zu Mensch verschieden, also subjektiv sind. Damit, dass abstrakte Begriffe individuell verschieden aufgefasst werden, kennen wir uns aus. Jeder hat eine andere Vorstellung von Liebe, Gerechtigkeit oder Freiheit. Der Gedanke, dass auch die konkreten Dinge um uns herum subjektiv sein könnten, kommt kaum jemandem in den Sinn. Was wir vor Augen sehen und mit den Händen fühlen, was wir hören, riechen und schmecken – das alles ist doch objektiv vorhanden – oder etwa nicht? Seit der Antike haben Philosophen den Wahrheitsgehalt unserer Sinneserfahrung in Zweifel gezogen. Aber was gehen uns Gedankenspiele von vor über 2000 Jahren an? Gut – die Sinne können uns manchmal täuschen, aber damit können wir leben. Optische Täuschungen zum Beispiel sind eine unterhaltsame Spielerei, die mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun hat – so denken wir. Im Allgemeinen können wir uns darauf verlassen, dass alles seine Richtigkeit hat – so meinen wir. So wünschen wir es uns auch, denn wir lassen nicht gerne zu, dass unsere Gewissheiten in Zweifel gezogen werden. Das könnte ja unser ganzes Weltbild ins Wanken bringen. Da ist etwas dran. Während meiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Thema Wahrnehmung hatte ich nicht selten das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Doch die Verabschiedung von falschen Gewissheiten ist mit der Freude darüber verbunden, neue Einsichten zu gewinnen. Wenn wir uns diesem Wagnis aussetzen, können wir ein neues, festeres Fundament finden. Dafür gibt es gute Gründe. Die guten Gründe liegen nicht nur in einer persönlich befriedigenden Einsicht in das eigene Weltverständnis. Wir können nicht nur Vieles besser verstehen, d. h. in einen größeren Zusammenhang einordnen. Ein guter Grund besteht auch darin, dass wir eine neue Basis für das soziale Miteinander gewinnen. Die ist dringend erforderlich. Nicht zu Unrecht wird häufig beklagt, dass die menschlichen Gemeinschaften heutzutage im großen wie im kleinen Maßstab immer mehr zersplittern. Das hat viele Ursachen, die von der Unterschiedlichkeit persönlicher Vorlieben bis hin zu politischen Interventionen nach dem Motto „teile und herrsche“ reichen. Ob es um Familie, Religion, Parteien oder Staaten geht – alles scheint auseinanderzubrechen. 13
Die zweite Entstehung der Welt
Wer das nicht einfach hinnehmen will, wird bestrebt sein zu suchen, was uns verbindet. Die Lösung kann nicht in einer verordneten Uniformität liegen. Totalitäre Systeme haben in einer pluralistischen Welt keine Zukunft. Vielmehr gilt es herauszufinden und zu stärken, was uns verbindet, und die Unterschiede zu respektieren. Wenn wir von der Entstehung der Welt hören, dann denken wir vielleicht an die Schöpfungsgeschichte oder an den Urknall, der sich laut Berechnung der Kosmologen vor 13,8 Milliarden Jahren ereignete. Wir denken an die Bildung von Galaxien, an die Entstehung der Sonne und der Erde, an das Leben, das sich darauf entwickelte, an die Geschichte der Menschheit bis zu unserer heutigen Zivilisation. Das ist die Welt, von der wir wissen, die Welt, in die wir hineingeboren wurden. Aber unsere Welt hat noch ein anderes Alter, nämlich unser persönliches. Es hat damit zu tun, dass die Welt uns nicht unmittelbar gegeben ist – auch wenn es uns so erscheinen mag –, sondern vom sich entwickelnden Menschen aufwändig konstruiert werden muss. Für jeden Menschen neu, durch direkte Erfahrung und durch vermitteltes Wissen. Mit unserer Geburt, ja schon Monate vor unserer Geburt begann sich unsere eigene Welt zu bilden. Während im Mutterleib unsere Sinnesorgane entstanden und die ersten Reize vom Gehirn verarbeitet wurden, formte sich allmählich ein Modell von der Welt. Es entwickelte sich in der Kindheit und immer weiter im Erwachsenenalter. Wir erleben es aber nicht als Modell, sondern als unsere tägliche Wirklichkeit, ob wir Kind sind oder Erwachsener. Wir befinden uns im Innern dieser Welt wie in einer Blase, die wir nicht von außen sehen können und deshalb für die einzig wirkliche halten, solange wir keine Erfahrung machen, die sie in Frage stellt. So sind wir höchst überrascht, wenn wir von Ansichten hören, die so ganz und gar nicht zu unseren Selbstverständlichkeiten passen, besonders bei der Begegnung mit anderen Kulturen.
Abb. 2: Die sogenannten „Vexierbilder“ sind ein einfaches Beispiel dafür, wie das Gleiche von verschiedenen Menschen ganz verschieden gesehen werden kann. In diesem Kipp-Bild, das erstmalig auf einer Postkarte von 1888 erschien, kann man eine alte oder eine junge Frau sehen. Was haben Sie zuerst gesehen? 14
1
Wie kommt die Welt zustande?
Wenn wir offen sind gegenüber anderen Sichtweisen, merken wir, dass manche hergebrachten Anschauungen relativiert werden müssen. Es ist ganz normal, dass sich anfänglich Widerstand bildet gegenüber dem Ungewohnten. Alles in uns sträubt sich, wenn etwas, das uns selbstverständlich erscheint, in Frage gestellt wird. Doch wer das Wagnis auf sich nimmt, wird merken, wie sich der Horizont erweitert. Ähnlich wie bei der Erfahrung, die man macht, wenn man aus einem heimeligen Tal mühsam auf einen Berg steigt, wird man reich belohnt durch die Weitsicht, die sich jetzt auftut. Die Erweiterung der Sicht ist eng verbunden mit dem Verständnis für andere Menschen. Sie ist eine wichtige Basis für Toleranz und Respekt vor anderen Weltsichten und Lebensweisen. Wir werden uns in diesem Buch damit beschäftigen, was unsere Wirklichkeit ausmacht, wie die Wahrnehmung der Welt zustande kommt. Wir werden sehen, was das für den Einzelnen und für die Gemeinschaft bedeutet. Dieses Thema ist nicht graue Theorie, sondern betrifft ganz konkret unser aller Selbst- und Weltverständnis. Einerseits geht es darum, dass jedes Individuum wie eine Insel ist und seine eigene Welt von Wahrnehmungen und Ansichten entwickelt. Darüber hinaus geht es darum, wie und wieweit sich dennoch Gemeinschaft und Übereinstimmung bilden können, die wir uns wünschen und die wir brauchen. Der Verfasser hat sich über 50 Jahre lang in Forschung und Lehre mit der Wahrnehmung befasst. Daraus ist dieses Buch hervorgegangen. Es richtet sich an Jeden, der an Bildung interessiert ist. Deshalb soll so weit als möglich die manchmal etwas verschwurbelte Fachsprache vermieden werden. Andererseits ist es mir ein Bedürfnis, den Bedeutungsreichtum unseres Wortschatzes zu nutzen und nicht zu sehr zu versimpeln. Für eine Reihe von Bezeichnungen gibt das Glossar im Anhang eine Hilfe. Mir war die Empfehlung von Albert Einstein hilfreich: Man soll alles so einfach wie möglich erklären, aber nicht einfacher. Sollte Ihnen dennoch ein Kapitel zu unverständlich sein, lesen Sie einfach die Zusammenfassung am Kapitelende und dann weiter. Die Themen sind sehr weit gefächert – es geht ja um nicht weniger als die ganze Welt einschließlich des eigenen Ichs –, sodass vieles nur angerissen werden kann. Andererseits möchte ich nicht nur abstrakte Kurzfassungen anbieten, sondern an konkreten Beispielen Farbe hineinbringen. An einigen Stellen werde ich etwas in die Tiefe gehen, nämlich dort, wo die Forschungsfelder von Geistes- und Naturwissenschaften sich überlappen: im heiß diskutierten Themenbereich von psychischen Vorgängen und Hirnprozessen, von der Frage nach dem freien Willen bis zur Bedeutung des Bewusstseins. Außerdem habe ich mir erlaubt, die Kapitel mit anekdotischen Begebenheiten aus der eigenen Lebenserfahrung einzuleiten und anzureichern. Es handelt sich zum Teil um Zeugnisse aus einer Zeit, die den Jüngeren heute fast unwirklich fern erscheint. Sie sind wert, nacherlebt zu werden, weil für sie manche Erfahrungen heutzutage so nicht mehr möglich sind. Ältere werden sich in manchem wiederentdecken. Hier und da möchte ich dem Rat von Ortega y 15
Die zweite Entstehung der Welt
Gasset folgen: „Darum meine ich, es sollte ein jeder, der zum Denken berufen ist, außer seinen fachlichen Büchern auch eines schreiben, das von seinem Lebenswissen handelt.“2 Erwarten Sie kein in Stein gemeißeltes Weltbild von mir. Letztlich geht es um Ihr persönliches Bild von der Welt und von Ihnen selbst, das Sie vielleicht bereichern möchten. Kurz gesagt: Es geht in diesem Buch darum, dass die Welt bei jedem Menschen neu entsteht und welche Folgerungen daraus für uns als Gemeinschaft zu ziehen sind: 1. 2. 3.
Auf welche Weise bildet sich die Wirklichkeit bei jedem Menschen neu? Wie sind dennoch Gemeinsamkeiten und Gemeinschaft möglich? Was passiert bei alldem im Gehirn, und welche Rolle spielt das Bewusstsein?
16
Alles verkehrt Es ist ein schöner Sommertag. Ich bin mit fünf Jahren einer der Jüngsten in der Einklassenschule des Dorfes. Heute sitzen wir draußen im Grünen auf alten braunen Bänken, die im Kreis stehen. Rings umher zwitschern die Vögel in den Bäumen. Es duftet nach Heu. Der Unterricht geht zu Ende. Die Lehrerin stimmt zum Abschluss ein Lied an, und alle singen kräftig mit: „Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit …“ Danach toben wir auf dem Gras und auf den Bänken herum. Zwischen den Büschen spielen wir Fangen und Verstecken. Die Jüngeren machen Purzelbäume, die Älteren schlagen Rad. Ich springe auf eine Bank und beuge mich weit vor, immer weiter, bis ich durch die eigenen Beine nach hinten schauen kann. Das sieht ja komisch aus! Alle Kinder laufen auf dem Kopf, die Bäume und Häuser stehen verkehrt herum. Die Wiese ist oben und der helle Himmel unten. Jahre später kommt mir der Gedanke: Hätte ich nicht alles richtig herum sehen müssen?
2
Warum steht die Welt nicht Kopf?
Anders gefragt: Woher wissen wir, wo oben und unten ist? Die Unterscheidung von oben und unten gehört zu den elementarsten Selbstverständlichkeiten, die Ordnung in unsere Welt bringen. Aber sie ist alles andere als selbstverständlich. Fangen wir mit einem scheinbar einfachen Rätsel an. In der Schule haben wir gelernt, dass im Auge alles kopfstehend abgebildet wird. Das hat schon Anfang des 17. Jahrhunderts der Astronom Johannes Kepler beschrieben. Der Lichtstrahl, der wie in Abb. 3 von der Spitze eines Baumes ausgeht, durchläuft die Augenlinse und endet auf dem unteren Teil des Augenhintergrundes, ein Lichtstrahl vom Wurzelbereich des Baumes landet auf dem Augenhintergrund oben. Die Situation ist ganz ähnlich der, wie wir sie in einem Fotoapparat vorfinden. Auch dort werden auf der lichtempfindlichen Schicht – vormals ein Film, jetzt ein elektronischer Sensor – die Lichter der Welt kopfstehend projiziert. Seit dem Philosophen René Descartes ist darüber gerätselt worden, wie es kommt, dass wir trotzdem alles „richtig herum“ sehen, zudem als eine Welt, obwohl wir doch zwei Augen haben. In einem Buch über „Die Geschichte der Seele“ von 1839 kommt dies zum Ausdruck, ohne dass eine Lösung des Rätsels versucht würde: „Wir sehen das Bild, auf das unsere Augen gerichtet sind, weder doppelt noch verkehrt, wie dies nach der physikalisch-mathematischen Theorie doch sein sollte.“3 Es gab die Meinung, dass Neugeborene zunächst alles verkehrt herum sehen und allmählich lernen, das Abbild auf dem Augenhintergrund „herumzudrehen“. Oder dass es einer geistigen 17
Die zweite Entstehung der Welt
Anstrengung bedarf, das Abbild in die richtige Lage zu bringen, und dass wir etwa bei Müdigkeit dazu nicht in der Lage sind. Diese Annahmen entbehren jeder Grundlage. Klären wir einmal die Situation.
Abb. 3: So haben wir es gelernt: Wie bei einer Kamera bilden sich auf dem Augenhintergrund die Dinge kopfstehend ab. Doch dieses Schema gibt nur wieder, wie man sich den physikalischen Verlauf der Lichtstrahlen vorstellt. Was für uns oben und unten ist, wird im Auge noch gar nicht entschieden. Dabei ist ein etwas verrücktes Experiment hilfreich, das erstmals 1896 George Stratton durchführte und danach oft wiederholt worden ist, und zwar mit Umkehrbrillen. Diese Brillen sind mit Spiegeln oder Prismen so konstruiert, dass auf dem Augenhintergrund alles umgekehrt abgebildet wird, etwa die Spitze eines Baumes oben und die Wurzel unten – also gewissermaßen der Realität entsprechend. Aber was passiert? Tatsächlich erscheint die Welt nun kopfstehend, man greift bei alltäglichen Handlungen ständig daneben und braucht mehrere Tage Hilfe, um zurecht zu kommen. Theodor Erismann und Ivo Kohler machten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Untersuchungen, bei denen sie und ihre Probanden solche Brillen ununterbrochen mehrere Wochen lang trugen, Kohler selbst bis zu 124 Tage.4 Allmählich koordinierten sich Auge und Hand neu, nach drei Tagen hatte man gelernt, korrekt zu greifen und zu gehen, obwohl die Welt immer noch auf dem Kopf stehend erschien. Wichtig für den Lernfortschritt war, dass man die Welt nicht passiv auf sich wirken ließ, sondern dass man sich bewegte, aktiv mit den Dingen umging und sie beim Sehen abtastete. Das alltägliche Hantieren mit den Dingen gelang immer besser, und nach einiger Übung konnte man mit der Umkehrbrille auch Radfahren. 18
2
Warum steht die Welt nicht Kopf?
Abb. 4: Durch eine Umkehrbrille wird das gewohnte Oben und Unten vertauscht. Nach etwas mehr als einer Woche registrierten Erismann und Kohler einen bemerkenswerten Wandel. Die Welt schien nicht mehr auf dem Kopf zu stehen, es stellte sich der zwingende Eindruck ein, dass jetzt alles richtig herum und wieder in Ordnung sei. Doch auch wenn die Welt jetzt wieder zu stimmen schien – selbst die geduldigste Versuchsperson möchte natürlich den Umkehrapparat irgendwann wieder loswerden. Nach dem Absetzen ergab sich eine Phase neuerlicher Irritation. Jetzt, wo die ursprünglichen Bedingungen wiederhergestellt waren, erschien wieder alles falsch herum, allerdings nur für kurze Zeit, und die Welt war nach einer Phase der Wiederherstellung der alten Koordination zwischen Sehen und Handeln wieder zurechtgerückt. Bei späteren Untersuchungen mit Umkehrbrillen durch andere Autoren lernten die Probanden sogar, unter den neuen Bedingungen Auto zu fahren oder ein Sportflugzeug zu fliegen. Allerdings wurde der Punkt, dass die neue Orientierung schließlich als normal empfunden wurde, meistens nicht erreicht (siehe z. B. den Erfahrungsbericht von Rolf Reisiger von 2009).5 Dieser Widerspruch bedarf der Klärung. Er bietet ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, bei unterschiedlichen Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen zum gleichen Thema die jeweiligen Versuchsbedingungen zu hinterfragen. Erismann und Kohler verwendeten zunächst große, aber unhandliche, später kleinere Spiegelkonstruktionen. Bei den handlichen Prismenbrillen wie in Abb. 4, die in späteren Untersuchungen oft verwendet wurden, ist der sichtbare Bereich auf weniger als 10 % des gesamten Gesichtsfeldes eingeschränkt. Innerhalb dieses Bereichs wird zwar gelernt, Auge und Hand neu zu koordinieren, aber es kommt offenbar nicht zu einer Neudefinition von Oben und Unten, die Welt erscheint weiterhin kopfstehend. 19
Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 5: Mit der Umkehrbrille in Abb. 4 wird nur ein kleiner Ausschnitt des Gesichtsfeldes erfasst. Man vergleiche ihn mit Abb. 16, das dem gesamten Gesichtsfeld entspricht. Machen wir uns bewusst: Bei „unbewaffnetem“, also normalem Blick ist das Gesichtsfeld annähernd so groß wie bei einem Fotoapparat mit einem extremen Weitwinkelobjektiv. Die Natur hat uns gleichsam mit einem „Fisheye“ ausgestattet. In der Peripherie, im äußeren Bereich des Gesichtsfeldes, können wir zwar keine Details erkennen, aber sie ist von entscheidender Bedeutung für Raumorientierung und Raumerlebnis (s. Kap. 13 und 36). Vergleichen Sie einmal die Wirkung eines Films auf Breitleinwand mit der Wirkung auf einem kleinen Bildschirm und vergegenwärtigen Sie sich, wie Sie im ersten Fall in den großen Bildraum „hineingenommen“ werden. Bei einem kleinen Bildschirm bleibt dagegen der umgebende Raum des Zimmers wirksam. Bei der technisch bedingten Beschneidung des Gesichtsfeldes durch die Prismenbrille nimmt das periphere Sehen an dem Umlernprogramm gar nicht teil. In diesem Fall ist die von Erismann und Kohler beschriebene Neuausrichtung des Raumerlebens nicht zu erwarten. Mithilfe neuer Technologien könnte man besser als mit den bisherigen Hilfsmitteln feststellen, wie weitgehend ein Umlernen bei Umkehrbrillen tatsächlich möglich ist. Man müsste mit Virtual-Reality-Brillen hoher Auflösung und extremer Winkelgröße arbeiten, kombiniert mit aufgesetzten digitalen Kameras mit extremem Weitwinkel. Es müssten realitätsnahe Verhältnisse hergestellt werden, nur mit dem Unterschied, dass die Kameraaufnahmen in die Brille kopfstehend eingespielt werden. Vielleicht realisiert ein wahrnehmungspsychologisches Labor solche Umkehrbrillen und findet Probanden, die bereit sind, sie ein paar Wochen ununterbrochen zu tragen. Ich wage die Hypothese, dass unter diesen Umständen die verkehrte Welt den meisten Probanden schließlich richtig erscheint, wie es Erismann und Kohler beschrieben haben. Umlernprozesse dieser Art können etwas darüber verraten, wie das Zusammenspiel der Sinne zustande kommt, wie es mit der Motorik des Körpers ein schlüssiges Ganzes bildet und wie flexibel und anpassungsfähig das System ist.6 Jeder von uns hat ja auch gelernt, sich vor dem 20
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Warum steht die Welt nicht Kopf?
Spiegel zu schminken oder zu rasieren. So kurios die Umkehrbrillen-Experimente zunächst wirken – sie tragen zum Verständnis dessen bei, wie wir zu dem Bild unserer Welt kommen. Zugleich lehrt uns das Beispiel, wie man mit widersprüchlichen Ergebnissen in der Wissenschaft umgehen kann. Auf jeden Fall kann festgestellt werden, dass im Auge noch nicht entschieden wird, was oben und was unten ist. Entgegen verbreiteter Meinung wird das, was das Auge empfängt, dort noch gar nicht bewusst. Vielmehr ist das Auge die erste Station in einem vielstufigen Prozess. Licht löst im Auge Nervensignale aus, die hier vorverarbeitet und in die Tiefen des Gehirns geleitet werden. Erst dort bilden sich Erregungsmuster, die etwa zum Erlebnis „Baum“ führen. Auch die Entscheidung darüber, was wir als oben und unten ansehen, erfolgt in Hirnbereichen, die hinter den Augen liegen. Die Erregungsmuster aus dem Sehprozess werden mit Signalen aus dem Gleichgewichtssinn kombiniert. Dieser hat seinen Ursprung im Innenohr. Hinzu kommen Nervensignale aus verschiedenen Regionen unseres Körpers, z. B. von den Fußsohlen, die den Boden spüren. Erst das systematische Zusammenspiel dieser ganz verschiedenen Sinne entscheidet über oben und unten, richtet den Raum aus, in dem wir die Dinge der Welt und uns selbst einordnen. Machen Sie doch einmal folgendes einfaches Experiment: Sie legen sich, wie man so schön sagt, aufs Ohr und halten dabei die Augen offen. Wo ist für Sie jetzt „unten“? Probieren Sie es aus! Die Experimente mit Umkehrbrillen zeigen, wie anpassungsfähig das System ist, und dass es nicht ein für alle Mal festgelegt ist. In jeder Sekunde vollführt das Gehirn Millionen komplizierte Berechnungen aus Millionen von Sinnesdaten und inneren Quellen. Von diesen Berechnungen wird nichts bewusst außer dem Ergebnis: unsere Welt, in der wir uns bewegen, wo über uns sich der Himmel wölbt und unter uns die Erde liegt, auf der wir mit beiden Beinen sicher stehen. Kurz gesagt: Dass die Projektionen auf dem Augenhintergrund kopfstehen, hat nichts zu bedeuten. Denn was in unserer Welt oben und unten ist, entscheidet sich nicht im Auge. Es ist vielmehr das Ergebnis des Zusammenspiels vieler Sinne und lässt sich sogar ändern.
Literatur Erismann & Kohler 1950. Metzger 1975. Häfele 1993.
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Als wäre die Welt verhundertfacht Als ich aufs Gymnasium kam, war ich ein schlechter Schüler. Sogar in Zeichnen bekam ich eine 5, als einziger in der Klasse. Die Mitschüler fanden das ungerecht, ich sowieso, weil sie meinten, dass ich besonders gut zeichnen könne. Aber ich machte eben nicht, was der Lehrer von mir verlangte, sondern folgte eigenen Ideen. Außerdem konnte ich nicht erkennen, was die Lehrer an die Tafel schrieben, obwohl ich in der ersten Reihe saß. Weil es wenig brachte, nach vorn zu schauen, zeichnete ich derweil mit viel Phantasie Comic-Geschichten. Auf Wunsch meiner Eltern musste ich Geigenunterricht nehmen. Ich hätte lieber Klavier gelernt, aber das, so meinte meine Mutter, die selbst Klavierunterricht erteilte, sei nichts Besonderes. So quälte ich mich ein paar Jahre mit der Violine herum. Am schlimmsten war, im Schulorchester mitzuspielen. Jeweils zu zweit spielten wir aus einem Notenheft. Um die Noten auf dem Pult zu erkennen, musste ich mich weit vorlehnen. Mein Kamerad beschwerte sich, dass ich ihm die Sicht versperrte. Also lehnte ich mich zurück, sah nichts mehr und spielte natürlich falsch. Nun ärgerten sich alle, die Mitspieler, der dirigierende Lehrer und am meisten ich selbst. Es war einfach nur peinlich. Mein Freund Moritz – wir gefielen uns in der Rolle von Max und Moritz – meinte, dass ich es mal mit einer Brille versuchen sollte. Doch als ich sein Gerät ausprobierte, sah alles noch verschwommener aus. So dauerte es bis zu meinem 13. Lebensjahr, dass meine Eltern mit mir im Stadtzentrum von Münster zum Augenoptiker gingen. Interessiert ließ ich die Prozedur mit den klickenden Linsenmaschinen über mich ergehen. Mit der Testbrille ging ich hinaus vor den Laden – und war überwältigt. Staunend schaute ich hoch zum Turm der Lambertikirche und erkannte die filigranen Strukturen des gotischen Turms, die ich zuvor noch nie gesehen hatte. Ich sah die Gesichter der Passanten auf der anderen Seite der Straße, die Auslagen in den Schaufenstern, jeden Stein der Giebelhäuser. Tausende Details weckten meine Neugier. Ergriffen sagte ich zu meinen Eltern: „Mir ist, als wäre die Welt verhundertfacht worden!“ „Dann werden ja hoffentlich auch deine Zensuren besser“, meinte mein Vater trocken.
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Bildet das Auge die Welt ab?
Anders gefragt: Wie kommt die Welt in unseren Kopf? Oder ist die Frage falsch gestellt? Die Zeichnung in Abb. 3 ist mit einem dicken Fragezeichen versehen. Es gilt nicht nur der Frage, warum wir nicht alles kopfstehend sehen. Es gilt vor allem einem verbreiteten Irrtum darüber, wie das Sehen funktioniert. Die Zeichnung, die in ähnlicher Form tausendfach in allen 22
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Bildet das Auge die Welt ab?
möglichen Lehrbüchern ohne Fragezeichen zu sehen ist, suggeriert die Annahme, dass die Dinge der Welt „sich im Auge abbilden“. Dabei wird die Wahrnehmung als passiver Vorgang aufgefasst, der im Wesentlichen mit den Gesetzen der physikalischen Optik beschrieben werden kann. Das ist grundfalsch. Links ist ein Baum dargestellt, doch wir müssen uns vergegenwärtigen: Außerhalb des Auges befinden sich die physikalischen Ausgangsbedingungen für die Wahrnehmung; sie können selbst nicht direkt erfahren werden. Zum Beispiel sehen wir nicht, was Licht „wirklich“ ist. Wir können einen Lichtstrahl nicht von der Seite sehen. Wir erkennen nicht, ob Licht aus Teilchen oder Wellen besteht. Licht, das im Auge zum Reiz wird, verbraucht dabei seine Energie zur Auslösung eines biochemischen Vorgangs und existiert nicht mehr. Licht selbst im physikalischen Sinne ist sinnlich nicht erfahrbar, nur seine Wirkungen.
Abb. 6: An einem regnerischen Tag auf Kreta war ich spät am Tage in die Melidonihöhle hinabgestiegen. Es war dunkel, es gab keine Beleuchtung. Ich ertastete den Altar, in dem die Gebeine von 340 Kretern liegen, die hier 1824 umkamen. Plötzlich fuhr ein leuchtender Balken aus Sonnenlicht in die Höhle. Es gelang, den Moment mit der Kamera einzufangen, bevor draußen die Regenwolken wieder die Sonne verdeckten. Ein solcher Sonnenstrahl wird nur indirekt sichtbar, weil das Licht an Millionen von Staubteilchen gestreut wird und dadurch das Auge trifft. Wäre die Luft völlig rein gewesen, wäre kein Strahl zu sehen gewesen. Rechts in Abb. 3 ist eine Abbildung des Baumes dargestellt, doch das Auge empfängt kein Bild, sondern Millionen Einzelreize. Ein Bild entsteht erst dadurch, dass diese Reize von der Wahrnehmung in einem aufwändigen Prozess miteinander in Beziehung gebracht und im Gehirn zu einem Ganzen verarbeitet werden. Dieser Prozess ist nicht passiv, sondern kreativ und 23
Die zweite Entstehung der Welt
vollzieht sich weitgehend ohne Beteiligung des Bewusstseins. Was wir bewusst sehen, sind vor allem die Ergebnisse, etwa den Gegenstand „Baum“. Hier wollen wir diesen Vorgang in wesentlichen Zügen nachzeichnen, weil er von grundsätzlicher Bedeutung ist. Beginnen wir mit den optischen Voraussetzungen.
Abb. 7: Aufbau des Auges. Einfallendes Licht durchläuft zuerst die Hornhaut, dann die vordere Augenkammer, die von der Iris eingefasste Pupille, die elastische Linse und den Glaskörper, bis es in der Netzhaut auf lichtempfindliche Zellen trifft. Sie verwandeln die Lichtreize in elektrische Signale, die noch in der Netzhaut vorverarbeitet und über den Sehnerv in die Tiefen des Gehirns geleitet werden. Die Oberfläche der Objekte unserer physikalischen Umwelt reflektiert Photonen, die wir uns als Lichtteilchen oder kleine Energiepakete vorstellen können. Sie strahlen von jedem Punkt in alle möglichen Richtungen wie die Wollfäden beim Bommel einer Strickmütze. Ein kleiner Teil eines solchen Lichtbüschels trifft auf die Hornhaut des Auges. Dahinter wird dieser Teil so gebündelt, dass die Strahlen auf die Netzhaut des Augenhintergrundes fokussieren, also zusammenlaufen. Das geschieht durch ein System aus zwei Linsen, s. Abb. 7. Die erste besteht aus der vorderen Augenkammer, die von dem wassergefüllten Raum zwischen Hornhaut und Iris gebildet wird. Diese Linse übernimmt den größten Teil der Lichtbrechung, ist aber starr. Dahinter schließt sich das gallertige Gebilde an, das Augenlinse genannt wird. Über sie erfolgt die veränderliche Feineinstellung. Diese wird durch einen Ringmuskel geregelt, der die elastische Augenlinse umgibt und mit ihr durch feine Fasern verbunden ist. Mit zunehmendem Alter ist bei vielen Menschen die Feineinstellung überfordert, weil die Augenlinse im Laufe der Zeit Elastizität verliert und weniger gut auf verschiedene Entfernungen akkomodieren kann. Durch 24
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Bildet das Auge die Welt ab?
eine Brille wird die Brechkraft unterstützt. Bei Kurzsichtigkeit ist der Augapfel zu lang, da bedarf es zur Korrektur einer Zerstreuungslinse. Bei Weitsichtigkeit ist der Augapfel zu kurz, da bedarf es einer Sammellinse. Eine Gleitsichtbrille enthält verschiedene Krümmungszonen, die die Einschränkungen der Akkomodation von der Nah- bis zur Fernsicht ausgleichen. Auch die Iris, die die individuelle Augenfarbe trägt, besteht aus einem Ringmuskel. Sie umgibt die Pupille, das „Sehloch“, und lässt sie enger oder weiter werden, um die Menge des einfallenden Lichtes zu regeln. So schützt die Iris die lichtempfindlichen Organe im Augeninnern, die Rezeptoren, vor Überreizung durch starkes Licht. Bei Dämmerung lässt sie die größtmögliche Menge Licht einfallen. Die Pupille ist schwarz, weil das Auge seinen Job macht: Es lässt Licht hinein, aber nicht wieder heraus, denn die Rezeptoren, die lichtempfindlichen Organe, wandeln das Licht in eine andere Energieform um, die den Anfang des Sehprozesses ausmacht. Die Netzhaut oder Retina kleidet wie eine Tapete den Augenhintergrund aus. Auf einer Fläche, die so groß ist wie eine Briefmarke, drängen sich etwa 130 Millionen Photorezeptoren. Die überwiegende Mehrheit bilden die Stäbchen, die auf Licht aller Wellenlängen des sichtbaren Spektrums reagieren. Hinzu kommen drei Zapfentypen, 7 Millionen insgesamt. Sie enthalten als Filter in feiner Verteilung drei verschiedene Farbstoffe und messen für die entsprechenden Wellenlängen die jeweilige Lichtmenge. Dies ist die Basis für unser Farbensehen. Alle diese Rezeptoren arbeiten nach einem gemeinsamen Prinzip: Die winzige Energie eines Lichtteilchens wird dadurch verbraucht, dass sich ein Molekül, das Retinal, in seiner Form ändert. Dieser Vorgang wird millionenfach verstärkt zu einer Nervenerregung. Diese reicht aus, dass wir im Dunkeln einen Lichtfunken aufleuchten sehen. Bei Tage sind es Billionen von Lichtteilchen oder Quanten, deren verwandelte Energie zur Grundlage jedes „Augenblicks“ werden. Das muss man sich einmal vorstellen: Ein Lichtteilchen, das von einem Stern kam und Lichtjahre unterwegs war, verliert seine Existenz, indem wir den Stern sehen. Der zentrale Bereich der Netzhaut, die Fovea centralis, enthält farbempfindliche Rezeptoren in besonderer Dichte. Es ist die Zone schärfsten Sehens, die dem Blickpunkt entspricht. In sog. Sakkaden werden die Augen sprunghaft bewegt, so dass die Blickachse in rascher Folge auf Stellen ausgerichtet wird, die uns gerade interessieren. Z. B. erfassen wir beim Lesen dieser Zeilen jedes Mal 3 bis 5 Buchstaben, bevor das Auge weiterspringt. Außerhalb der 1,5 mm großen Fovea wird die Sehschärfe zunehmend geringer. Außen, in der Peripherie, gibt es nur sehr wenige farbempfindliche Zapfen. Trotzdem haben wir beim Blick auf eine große Wiese nicht den Eindruck, dass sie nur im Bereich des Blickpunkts grün ist. Dass die ganze Wiese grün aussieht, verdanken wir der Kreativität der Wahrnehmung: Sie übernimmt die Information aus dem Zentrum der Retina und einiger weniger Rezeptoren in der Peripherie und überträgt sie auf die Umgebung, solange es keine widersprechenden Informationen gibt. Dieses „pars pro toto“ gilt auch in anderer Hinsicht. Einige Winkelgrade neben der Fovea befindet sich der sog. „Blinde Fleck“. Es ist die Stelle des Augenhintergrundes, an 25
Die zweite Entstehung der Welt
dem der Sehnerv aus dem Auge austritt und deshalb kein Platz für Rezeptoren ist. Wir haben dennoch nie den Eindruck, dass im Gesichtsfeld ein Loch ist, auch nicht beim Blick mit nur einem Auge. Vielmehr erhält der Bereich, über den wir keine Information haben, die Farbe des Umfeldes. Linien, die durch diesen Bereich laufen, erscheinen nicht unterbrochen, sondern werden von der Wahrnehmung vervollständigt, selbst dann, wenn das Reizmuster hier tatsächlich unterbrochen ist. Schon diese Beispiele zeigen, dass die Wahrnehmung die Reizsituation aktiv und kreativ verarbeitet.
Abb. 8: Die Verteilung der lichtempfindlichen Zellen in der Netzhaut im Schema. Die farbig dargestellten Zapfen reagieren spezifisch auf drei verschiedene Wellenlängen des Lichts und bilden damit die Grundlage unseres Farbensehens. Die Stäbchen (grau dargestellt) reagieren auf Lichtwellen unspezifisch, sind dafür aber empfindlicher, was besonders bei schwachen Lichtverhältnissen zum Tragen kommt. Kurz gesagt: Die Welt bildet sich nicht einfach im Auge ab. Die Sehwelt wird vielmehr auf der Grundlage von Millionen punktuellen Reizen geschaffen, die in jeder Sekunde die Netzhaut im Auge treffen und von der Wahrnehmung kreative Arbeit verlangen.
Literatur Guski 1996. Metzger 1968.
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Wie kommt Ordnung in Billionen Lichtreize?
Das seltsame Fliegenauge Der Biologielehrer nimmt eine tote Fliege von der Fensterbank und legt sie unter das Mikroskop. Dann dürfen wir Schüler einer nach dem anderen hindurchschauen. Ein tolles Erlebnis. Die unscheinbare Fliege wird zu einem fremdartigen Monster. „Was fällt euch auf?“, fragt der Lehrer. Einer nennt die sechs Beine, was gleich die Frage aufwirft, warum die Fliege beim Laufen nicht durcheinanderkommt. Ein Mädchen bemerkt, dass die Flügel keine Federn haben wie die Vögel, sondern nur aus Haut bestehen. Ich bin von den großen Augen gebannt, die aus tausenden kleinen Augen bestehen. Ob die Fliege die Welt damit tausendmal sieht? „Nein“, erklärte der Lehrer, „die Fliege sieht die Welt mit ihren Facettenaugen wie ein Mosaik, zusammengesetzt aus lauter Flecken.“ Er zeigt mir, was ein Mosaik ist. „Für unsere Augen sieht die Welt dagegen glatt aus und bildet ein lückenloses Ganzes.“ Das leuchtet mir ein, und für viele Jahre gehört dieser Unterschied zu meinem biologischen Wissen. Bis ich auf einen interessanten Begriff stoße: den „Reizirrtum“.
Abb. 9: Diese in Bernstein eingeschlossene Augenfliege hatte mit ihren riesigen Komplexaugen die Voraussetzungen für einen perfekten Rundumblick. 27
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Wie kommt Ordnung in Billionen Lichtreize?
Anders gefragt: Wie werden aus punktuellen Reizen Dinge? Bei Tage treffen sechs Billionen Photonen die Netzhaut – pro Sekunde! Um daraus die visuelle Welt zu schaffen, muss das Wahrnehmungssystem diese Menge zunächst einmal ordnen. Natürlich ist die Reizverteilung auf dem Augenhintergrund durch die außerhalb der Augen liegenden Quellen der Reize vorstrukturiert. Allerdings teilt sich diese Struktur nicht direkt mit, sie muss nachgeschaffen werden. Schon ein kleiner Strich wie dieser – stellt einen gestaltlichen Zusammenhang dar, der nicht per se gegeben ist. Wenn wir darauf blicken, werden einige tausend Lichtrezeptoren gereizt. Wie entsteht aus diesen vielen Einzelreizen ein Strich? Machen wir uns zunächst klar, was wir nicht sehen. Wir sehen die Welt nicht als Mosaik, obwohl die Rezeptoren in Abb. 8 wie bei einem Mosaik nebeneinanderliegen. Vielmehr sehen wir die Welt als kontinuierliches Ganzes mit durchgehenden Linien und Flächen. Offensichtlich können wir aus der mosaikartigen Verteilung der Rezeptoren nicht schließen, wie die Wahrnehmungswelt aussieht. Wer das tut, begeht einen „Reizirrtum“. Dem unterlag auch der Lehrer in obiger Anekdote. Denn beim Fliegenauge ist die Situation nur oberflächlich gesehen eine andere. Das Komplexauge mit tausenden von Ommatidien in Abb. 9 sieht für uns aus wie ein Mosaik – ähnlich wie Abb. 8. Das heißt aber nicht, dass für die Fliege die Welt wie ein Mosaik aussieht. Beim Fliegenauge hat jedes Ommatidium außen eine Linse und im Innern einen Rezeptor. Im Unterschied dazu gibt es beim menschlichen Auge nur eine einzige Linse für alle Rezeptoren. Das Prinzip vieler einzelner Lichtrezeptoren ist beide Male das gleiche. Die voneinander getrennten Rezeptoren werden weder im einen noch im anderen Fall zum Wahrnehmungsgegenstand, daher wird kein Mosaik gesehen. Stattdessen werden in beiden Fällen aus den Einzelreizen Signale, die anschließend miteinander kombiniert und letztlich zu sichtbaren Dingen verarbeitet werden. Wie macht denn nun die Wahrnehmung aus diskreten Einzelreizen ein kontinuierliches Ganzes? Sie stellt zwischen den Signalen der einzelnen Rezeptoren Beziehungen her. Das beginnt schon in der Retina. Sie enthält etwa eine Million Ganglienzellen. Jede Ganglienzelle empfängt Signale aus vielen Rezeptoren eines etwa kreisförmigen Feldes, s. Abb. 10. Deshalb spricht man von rezeptiven Feldern. Eine trickreiche Verschaltung sorgt dafür, dass die meisten Ganglienzellen nur dann Signale an das Gehirn weiterleiten, wenn das Zentrum des rezeptiven Felders anders gereizt wird als sein Umfeld. Dabei spielen Bahnung und Hemmung, zwei gegenläufige neuronale Vorgänge, eine entscheidende Rolle. Wird etwa das Umfeld stärker beleuchtet als das Zentrum, dann erfolgt eine Meldung, die zur Wahrnehmung eines schwarzen Punktes auf hellem Untergrund führen kann. Werden Zentrum und Umfeld dagegen gleichartig gereizt, dann erfolgt in vielen Fällen keine Meldung, denn Bahnung und Hemmung heben sich gegenseitig auf. Anders gesagt: Wenn 28
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Wie kommt Ordnung in Billionen Lichtreize?
überall im Gesichtsfeld das Gleiche geschieht, dann ist das für die Wahrnehmung uninteressant. Informativ sind immer Unterschiede und Veränderungen, also Unstetigkeiten in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. So findet schon auf dieser Ebene eine wichtige Auswahl von Informationen statt.
Abb. 10: Die Rezeptoren der Netzhaut sind in tausende einander überlappende rezeptive Felder gruppiert, von denen hier eins dargestellt ist. Die jeweils nachgeschaltete Ganglienzelle wird aktiv, wenn Zentrum und Umfeld unterschiedlich gereizt werden. Beim Frosch spielt sich in diesem Sinne fast die ganze visuelle Verarbeitung im Auge ab. Das ist für seine Lebenswelt optimiert, in der Fliegen eine Hauptnahrung bilden: Ein schwarzer Punkt, der sich vor hellem Hintergrund bewegt, lässt den Frosch zielsicher danach schnappen. Beim Menschen ist die Vorverarbeitung in der Retina mit dem Nebeneffekt verbunden, dass der Sehnerv, der die Signale aus der Retina in die Tiefen des Gehirns führt, nur 4 mm dick und elastisch genug ist, um Augenbewegungen zuzulassen. Ohne diese Vorverarbeitung wäre ein dickes Nervenkabel nötig, das Augenbewegungen unmöglich machen würde. Man könnte meinen, dass die Reduktion von 130 Millionen Rezeptoren auf 1 Million Ganglien eine Vergröberung der Sehschärfe mit sich bringt. Doch das Gegenteil ist der Fall, zumindest im mittleren Bereich der Netzhaut. Die rezeptiven Felder überlappen sich stark mit dem Effekt, dass die Sehschärfe höher ist, als sie nach dem Abstand zweier Rezeptoren zu erwarten ist.
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Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 11: Seitenansicht und Längsschnitt des Gehirns im Schema. Der Balken (Corpus callosum) und die Commissura anterior verbinden die beiden Großhirnhälften. 30
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Wie kommt Ordnung in Billionen Lichtreize?
Abb. 12: Schema der visuellen Verarbeitungsebenen. Die unteren Ebenen sind retinotop, also auf die räumliche Ordnung der Netzhaut bezogen. Die oberen Ebenen beziehen sich auf erlernte Invarianzen, also unveränderliche Merkmale. Sie bilden die Voraussetzung für die Wahrnehmung einer in sich stabilen Umwelt, unabhängig vom momentanen optischen Reiz.
Abb. 13: Auf dem Bildschirm der Bushaltestelle gehen punktuell Lichter an und aus. Was wir stattdessen sehen, ist ein Schriftband, das über den Bildschirm zieht. Die Wahrnehmung stellt Beziehungen zwischen den Einzelreizen her und gestaltet daraus in mehreren Schritten ein kontinuierliches Ganzes, das sich bewegt. Die Signale der Ganglienzellen werden in visuellen Zentren des Gehirns V1 und V2, die im okzipitalen Kortex liegen, weiterverarbeitet. Allerdings geht es dort nicht mehr um Punkte, sondern um komplexere Merkmale. Dort gibt es tausende von Nervenzellen, die nur dann feuern, wenn Linien oder Kanten einer bestimmten Orientierung auf die Netzhaut projiziert 31
Die zweite Entstehung der Welt
werden, oder wenn dort Bewegung in einer bestimmten Richtung erfolgt. Andere Neurone, diesen nachgeschaltet, reagieren nur auf bestimmte Winkel, weitere auf bestimmte Muster. Der zunehmenden Komplexität folgt ein höherer Allgemeinheitsgrad. Dieser macht sich z. B. darin bemerkbar, dass bestimmte Neurone auf bestimmte Formen reagieren unabhängig davon, wo sie auf die Netzhaut projiziert werden, wie groß oder wie ausgerichtet sie sind. Das entspricht der erlebten „Formkonstanz“, bei der Objekte unter unterschiedlichen Bedingungen als gleich erkannt werden. Häufig auftauchende Muster werden gespeichert. Dies geschieht dadurch, dass synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen, die oft gleichzeitig aktiv sind, verstärkt werden. Es bildet sich ein Formengedächtnis, mit dem eingehende Reize verglichen werden. Jeder visuelle Input wird im Rückgriff auf gespeicherte Erfahrungen darauf hin geprüft, ob er neu ist oder bereits Bekanntem entspricht, ob er bedeutsam ist oder unbedeutsam. Davon hängt die weitere Verarbeitung ab. Es gibt Gruppen sehr spezifischer Nervenzellen, die z. B. nur dann aktiv werden, wenn ein bereits bekanntes Gesicht auftaucht. Sind diese Neuronengruppen, die in der hinteren Basis des Gehirns liegen, etwa durch einen Schlaganfall geschädigt, dann erkennt der Betroffene seine nächsten Angehörigen nicht mehr. Solange das Gehirn gut funktioniert, merken wir nicht, wie abhängig unsere Wirklichkeit von seiner Arbeit ist. Kurz gesagt: Die Reize der Rezeptoren im Auge werden nicht unmittelbar bewusst. Vielmehr stellen Wahrnehmungsprozesse auf nicht bewusster Ebene Beziehungen zwischen Einzelsignalen her, dann Beziehungen zwischen Beziehungen und so fort. Dabei entstehen zusammenhängende Ganzheiten, die mit bereits gespeicherten Erfahrungen verglichen werden und uns z. B. als Gesichter bewusst werden.
Literatur Guski 1996. Schönhammer 2009. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Die peinliche Sache mit dem Müll In der Küche quillt der Eimer mit dem Verpackungsmüll über: schmutzige Plastikdosen, leere Blechdosen und Kunststoffflaschen, Küchenfolie und Aludeckel. Das Zeug muss raus. Es ist spätabends. Die Mülltonnen – Entschuldigung: die Wertstofftonnen – stehen in einer dunklen Ecke des Gartens. Halbblind tappe ich hin. Allmählich gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Farben kann ich nicht erkennen, aber zur Orientierung reicht’s. Wo kam der Verpackungsmüll rein? Klar, in die gelbe Wertstofftonne. Also in die mit dem hellsten Deckel. Rein mit dem Zeug und zurück in die warme Stube. Am nächsten Tag sitze ich friedlich da und lese die Zeitung, als mich die Stimme meiner Frau ohne den gewohnten Liebreiz trifft. „Hast du gestern den Müll rausgebracht?“ „Ja, wieso?“ „Na, dann guck doch mal rein in die Tonnen.“ Ich gehe gucken und bin entsetzt. Der ganze schmutzige Plastik- und Blechkram liegt in der blauen Papiertonne. Allmählich geht mir ein Licht auf. Die Sache ist mir dreifach peinlich. Erstens, weil ich den Dreck in den falschen Behälter gekippt habe, zweitens, weil ausgerechnet mir als Wahrnehmungspsychologen das passieren musste, und drittens, weil ich unter den Augen des Nachbarn, der natürlich gerade jetzt vorbeikommt und grinst, das Zeug herausholen und umsortieren muss. Dabei hätte ich es wissen müssen …
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Wo kommen die Farben her?
Anders gefragt: Warum ist die Welt eigentlich bunt? Kaum jemand kann sich dem Reiz entziehen, der in der Vielfalt der Farben liegt. Etwa 7 Millionen verschiedene Farben lassen sich nach Farbton, Sättigung und Helligkeit unterscheiden. Die Maler wissen seit jeher um die ästhetischen Qualitäten von Farben und Farbkompositionen und arbeiten an immer neuen Farbklängen seit Menschengedenken. Evolutionsforscher weisen auf den Überlebenswert hin, die Dinge der Umwelt nach Farben unterscheiden zu können. Das fängt schon mit der Unterscheidung von reifen und unreifen Früchten an und ist für jeden nachvollziehbar, der im Frühsommer nach Walderdbeeren sucht. 1671 war Isaak Newton von der Spektralzerlegung am Prisma fasziniert, bei der sich das Licht in die Farben des Regenbogens auffächert, und er entwarf eine erste Theorie des Lichts. Er erkannte bald, dass seine Theorie über Lichtteilchen nicht die sieben Grundfarben erklären kann, die er im Spektrum unterschied. Daran änderte auch die Wellentheorie des Lichts nichts, die 1690 von Christiaan Huygens veröffentlicht wurde. Bis heute versagen die Mittel der Physik bei dem Versuch, Qualitäten wie Rot, Gelb und Blau herleiten zu wollen. 33
Die zweite Entstehung der Welt
Der sichtbare Teil des Spektrums reicht von 380 bis 720 Nanometer (nm) Wellenlänge. Die drei bereits genannten Zapfentypen in der Retina reagieren auf bestimmte Wellenlängen stärker als die anderen: der S-Typ auf 419 nm (was einem Blauviolett entspricht), der M-Typ auf 531 nm (was dem Grün entspricht) und der L-Typ auf 559 nm (was wir als Rotorange wahrnehmen). Schon im 19. Jahrhundert nahmen Farbforscher wie Thomas Young und Hermann Helmholtz drei Organe in der Netzhaut für genau diese drei Farben an, konnten es aber nicht beweisen. Unter dem Mikroskop sah man keine Unterschiede zwischen den Zapfen. Erst im späteren 20. Jahrhundert gelang eine Differenzierung, indem das Durchlicht physikalisch ausgemessen wurde. Die Pigmente in den Zapfen sind so schwach, dass ihre Farbigkeit unter dem Mikroskop für das Auge nicht zu erkennen ist. Erst die neuronale Verarbeitung, die den Rezeptoren nachgeschaltet ist, verstärkt die minimalen Reizunterschiede so, dass sie zur Grundlage des ganzen Farbenreichtums unserer Welt werden. Der Beweis der Dreifarbentheorie von Young und Helmholtz mittels Fotodetektoren fiel genau in die Zeit, als ich begann, Wahrnehmungspsychologie zu studieren, und schlug ein wie eine Bombe. Bis dahin nämlich gab es die konkurrierende Gegenfarbentheorie von Ewald Hering, die nun in den Schatten gestellt schien. Sie besagt, dass die Farbwahrnehmung auf drei Gegensatzpaaren beruht, nämlich von Rot und Grün, von Blau und Gelb und von Weiß und Schwarz. Neben vielen anderen Argumenten hatte diese Theorie für sich, dass sie den erlebten Grundfarben viel besser entspricht als die drei merkwürdigen Zapfenfarben. Doch solche Argumente waren weich gegenüber den harten Fakten, die nun für die Dreifarbentheorie sprachen.
Abb. 14: Die Grundfarbenpaare nach Ewald Hering. Fixiert man längere Zeit den Punkt links und blickt dann auf die graue Fläche rechts, sieht man als Nachbild die Gegenfarben. 34
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Wo kommen die Farben her?
Dann aber passierte in der weiteren Forschung etwas Bemerkenswertes: Mit dem immer feineren Instrumentarium der Sinnesphysiologie konnte verfolgt werden, was mit den Signalen aus den Zapfen passiert. Es ist ein hochkomplizierter Vorgang, der schon in der Retina beginnt und sich stark vereinfacht so beschreiben lässt: Die Zapfensignale werden zueinander in Beziehung gebracht: Der Unterschied zwischen der Erregung von M- und L-Typ führt zum Gegensatzpaar Rot und Grün, zusammen führen M- und L-Typ zum Gelb, das seinerseits den Gegenpart zum Blau bildet, das aus dem S-Typ gespeist wird. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass auch Schwarz und Weiß nicht etwa aus der Aktivität der farbenblinden Stäbchen, sondern ebenfalls aus der Aktivität der Zapfen hervorgehen. Damit kam die Farbforschung nach vielen Jahrzehnten unentscheidbarer Konkurrenz zu einem wahrhaft salomonischen Urteil. Beide Theorien haben Geltung: die Dreifarbentheorie für die Ebene der Rezeptoren, die Gegenfarbentheorie für die Weiterverarbeitung. Von allen Buntfarben erscheint Gelb besonders hell. Das hängt damit zusammen, dass Gelb aus der Summe der Signale aus dem M- und L-Typ entwickelt wird. Allerdings gilt dieses Helligkeitsempfinden nur bei guter Beleuchtung. Ist die Beleuchtung zu schwach, werden nur die Stäbchen gereizt. Diese aber haben ihre größte Empfindlichkeit nicht im Gelb-, sondern im Blaugrünbereich, ohne dass die Farbtöne als solche wahrgenommen werden. So passiert es, dass bei sehr schwachem Licht die blaue Mülltonne heller erscheint als die gelbe und beide verwechselt werden können. Das mag jeder bei Nacht einmal selbst überprüfen. Wie bei der Formwahrnehmung lässt sich bei der Farbwahrnehmung ein Prozess vom Einfachen zum Komplexen verfolgen. Er reicht von punktuellen Einzelreizen über die Verschaltung zu Gegensatzpaaren hin zum Verhältnis von Objektfarben zu ihrer Umgebung. Eine wichtige Station im Gehirn ist V4, in einer Falte des Okzipitalhirns gelegen. Hier finden Vorgänge statt, die der Farb- und Helligkeitskonstanz entsprechen: Ein Blatt Papier wird in der Dämmerung immer noch als weiß wahrgenommen, obwohl es weniger Licht abstrahlt als ein schwarzer Pullover am Tage. Bei gelblichem Kunstlicht können wir Farben noch relativ gut beurteilen, obwohl das Spektrum gegenüber dem Tageslicht verschoben ist. V4 übernimmt gleichsam eine Belichtungskorrektur und einen Weißabgleich, wie er in elektronischen Kameras simuliert wird. Der Vergleich mit elektronischen Kameras führt zu einem ganz wesentlichen Punkt. In ihren CCD-Sensoren wird das einfallende Licht nach drei Wellenlängenbereichen punktuell getrennt registriert. Diese entsprechen in etwa den Empfindlichkeitsbereichen der menschlichen Zapfen. Anschließend werden die Signale weiterverarbeitet. Dennoch wird niemand annehmen, dass Fotoapparate ein Farbempfinden haben. Das Zustandekommen von erlebten Qualitäten wie Rot, Grün und Blau setzt offenbar Klassifizierungen voraus, wie sie das menschliche Gehirn vollbringt. Noch vor Kurzem nahm man an, dass diese Aktivitäten durch die Neuronen von V4 geleistet werden, weil dort hinein die vorverarbeiteten Signale der Farbrezeptoren 35
Die zweite Entstehung der Welt
münden. Doch es ist eine offene Frage, ob an diesem Ort tatsächlich die physiologischen Vorgänge zu suchen sind, die den erlebten Farben entsprechen. Welche Zustände oder Prozesse im Gehirn Farbqualitäten codieren, ist nach wie vor Spekulation. Manche solcher Spekulationen sind aber gut begründet. Wir werden an anderer Stelle darauf zurückkommen. Trotz der offenen Fragen gilt als erwiesen: Farbqualitäten entstehen durch die Tätigkeit des Gehirns. Photonen haben unterschiedliche Wellenlänge und damit unterschiedliche Energie, aber keine Farbe. Ebenso wenig die elektrochemischen Impulse, die von den Photorezeptoren ins Gehirn gesendet werden. Die uns vertrauten Farben werden erst durch anschließende Wahrnehmungsprozesse erschaffen. Sie sind keine Umwelteigenschaften, die sich dem Menschen direkt mitteilen. Das ist auch nicht lebensnotwendig. Entscheidend ist, dass die Farbigkeit unserer Welt hilft, die Dinge besser unterscheiden und erkennen zu können. Dass wir uns darüber hinaus an der Farbigkeit der Welt erfreuen können, ist ein zusätzliches Geschenk. Kurz gesagt: Die Intensitäten von drei verschiedenen Wellenlängen des Lichts sind die Reizgrundlage für Millionen unterscheidbare Farben. Sie werden von drei verschiedenen Zapfentypen in der Retina registriert. Die Farbqualitäten, in denen uns die Welt erscheint, entstehen erst durch die Tätigkeit des Gehirns.
Literatur Guski 1996. Kobbert 2019. Schönhammer 2009. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Aus zwei Dimensionen werden drei Schon als Jugendlicher war ich fasziniert davon, dass ein Bild f lach ist, aber zwingend den Eindruck räumlicher Tiefe vermitteln kann. Um den Zusammenhang besser zu begreifen, zeichnete und malte ich zahlreiche Bilder hierzu. Ich studierte die Perspektivlehren von der Renaissance bis heute, die aber nur schematische Konstruktionsregeln gaben, ohne begreif bar zu machen, wie es zur Wahrnehmung der Dreidimensionalität kommt. Ich stellte mir selbst Aufgaben wie die, ein Bild zu malen, auf dem ich durch Wasser hindurch auf Steine sehe wie am Meeresstrand. Es misslang kläglich. Später experimentierte ich mit Stereoskopie, bei der zwei „Halbbilder“ von beiden Augen vereinigt werden. Die Wirkungen mit „unbewaffnetem“ Parallelblick und Kreuzblick kriegte ich selbst zwar hin, doch andere Betrachter hatten ihre Schwierigkeiten. Das bekam ich zu hören, als ich ein erstes Buch über Bernsteineinschlüsse mit entsprechenden Bildern versah. Stereogeräte und das Polarisationsverfahren vermitteln beste 3D-Eindrücke, sind jedoch für Publikationen wenig geeignet. Beim „Anaglyphenverfahren“ werden die Farben verfälscht, und im Druck ist die Wirkung schwach, aber am Monitor funktioniert der Tiefeneffekt hervorragend. In Büchern mit beigefügter CD konnte ich zeigen, wie fossile Tierchen in Bernstein schweben, die Außen- und Innenwelt von Diamanten wurde plastisch erfahrbar, Schneekristalle, fallende Tropfen und gefrorene Wasserfälle, Eisberge und Wolken. Was bleibt, ist mein Traum, in 3D erfahrbar zu machen, was man bislang nur als flächige Phänomene kennt: Blitzgewitter mit ihren raumgreifenden Verästelungen an der Küste Venezuelas oder Nordaustraliens, oder die Aurora borealis am Polarkreis mit ihren Fältelungen und Wirbeln, die ich bislang in normalen Fotos eingefangen habe. Wenn ich nicht mehr dazu komme, schafft es vielleicht ein anderer. Man müsste zwei Kameras in großer Entfernung zueinander gleichzeitig per Funk auslösen … 3D-Aufnahmen haben eine unvergleichliche Wirkung, denn sie erzeugen nicht ein Bild, das dem Betrachter gegenübersteht, sondern vermitteln ein Raumerlebnis, das den Betrachter mit einbezieht. Das haben Millionen von Menschen in 3D-Filmen erleben können. Techniken sind also vorhanden, aber die Frage, wie aus flachen Mustern Plastizität und dreidimensionaler Raum entstehen, ist damit nicht beantwortet. Die Antwort ist in der Art zu suchen, wie die Wahrnehmung arbeitet.
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Anders gefragt: Wie macht die Wahrnehmung aus flachen Mustern etwas Dreidimensionales? Vergegenwärtigen wir uns zunächst einmal, wie wir die Welt sehen. Machen wir uns bewusst, was so alltäglich ist wie nichts anderes. Das ist nämlich so merkwürdig, dass man es kaum glauben mag, wenn man darauf zum ersten Mal hingewiesen wird. Aber es ist gleichzeitig nicht zu bezweifeln, weil es zu den tagtäglichen Grunderfahrungen gehört. Wenn wir die Aufmerksamkeit von den Dingen um uns herum verlagern, nicht darauf, was wir sehen, sondern darauf, wie wir sehen, dann ergibt sich eine ganz und gar absonderliche Situation. Es ist nämlich so, als schauten wir mitten aus unserem Kopf heraus! Als wäre unser Gesicht ein großer Trichter, der sich gegenüber der Welt öffnet. Dieses Grunderlebnis steht in völligem Widerspruch zu dem, wie wir unser Gesicht im Spiegel sehen. Wir wissen, dass wir zwei Augen haben, doch im unmittelbaren Seherlebnis ist diese Information nicht enthalten, es sei denn, wir blicken abwechselnd mit dem linken und dem rechten Auge. Man hat das Phänomen als „Zyklopenauge“ bezeichnet, nach jenem Riesen in der griechischen Sage, der ein einziges Auge mitten auf der Stirn besaß, und der von Odysseus mit dem Speer geblendet wurde. Gefühlsmäßig blicken wir wie ein Zyklop mit einem Riesenauge in die Welt. Der Eindruck lässt sich auch nicht durch unser besseres Wissen korrigieren, dass wir zwei Augen haben. Ist das nicht verrückt?
Abb. 15: Das seltsame „Zyklopenauge“. Beim Sehen mit beiden Augen, also im Normalfall, haben wir das Gefühl, wie durch einen großen Trichter mitten aus dem Kopf heraus zu schauen. 38
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Abb. 16: Der ganz normale „Zyklopenblick“ in mein Arbeitszimmer, angeregt von einer Zeichnung von Ernst Mach (1922), die den Blick mit nur einem Auge zeigt.7 Hier ist die zweiäugige Sicht dargestellt, die die Wahrnehmung zu einer einzigen macht. Diese permanente Illusion ist unlösbarer Bestandteil der Welt, die unser Wahrnehmungssystem erschafft, und zugleich ein weiterer Hinweis darauf, dass diese unsere Wirklichkeit nicht darauf angelegt ist, ein 1:1-Verhältnis zur physikalischen Realität zu bilden. In der Evolution der Fähigkeit, sich visuell orientieren zu können, kamen keine Spiegel vor, und ohne einen solchen wäre den Menschen wohl nie bewusst geworden, wie merkwürdig die Grundsituation der visuellen Wahrnehmung ist. Was steckt hinter dem Phänomen des Zyklopenauges? Die visuelle Wahrnehmung schafft eine Ver-ein-fachung der Informationen, die aus beiden Augen stammen (den „Halbbildern“), sie bildet eine einzige Sehwelt, allerdings, wie wir sehen werden, auf einem komplizierten Umweg. 39
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Stellen wir uns nur einmal vor, wir hätten für jedes Auge gesondert ein Gesichtsfeld, das uns bewusst wäre. Das würde nicht nur eine Verdopplung des Aufwandes bedeuten, den unsere Aufmerksamkeit leisten müsste, wir müssten auch Punkt für Punkt entsprechende Orte vergleichen, um etwaige Abweichungen zwischen linkem und rechtem Halbbild festzustellen, und das in Sekundenbruchteilen, weil sich ständig die Blickrichtung verändert. Dagegen wäre der beliebte Bildervergleich einer Zeitschrift zwischen „Original und Fälschung“ eine Kleinigkeit. Genau ein solcher Vergleich der Halbbilder auf „Querdisparation“, also auf Differenzen in der Projektion von Umweltmerkmalen, findet tatsächlich statt, und er ist die Grundlage für das Erkennen von stereoskopischer Tiefe. Tierexperimente weisen darauf hin, dass dieser Vergleich im mittleren temporalen Hirnareal MT stattfindet. Hier befinden sich Nervenzellen, die abhängig von der Querdisparation aktiv werden. Sie erhalten den notwendigen Input aus V1 und V2, wo, wie bereits angesprochen, Konturen und einfache Formen in den Gesichtsfeldern beider Augen festgestellt werden.8 In Kap. 42 werden wir noch sehen, welche Bedeutung das stereoskopische Sehen für das menschliche Bewusstsein hat. Vorläufig können wir feststellen, dass der Vergleich auf Querdisparation nicht bewusst erfolgt. Bewusst wird nur das Ergebnis, nämlich die Anordnung der Dinge im dreidimensionalen Raum.
Abb. 17: Die beiden Punkte P und Q werden auf die Netzhaut in beiden Augen in unterschiedlichem Abstand voneinander projiziert. Aus der Differenz zwischen a und b, der Querdisparation, errechnet das Wahrnehmungssystem den Tiefenunterschied beider Punkte. 40
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Abb. 18: Eine Nervenzelle besteht aus Zellkörper, Dendriten und Axon. Die Dendriten empfangen Impulse, das Axon sendet Impulse aus, wenn ein Schwellenwert überschritten wird. Die Übertragung geschieht chemisch an Synapsen, und zwar durch Ausschüttung eines Neurotransmitters auf die nachgeschaltete Nervenzelle. Die Impulse bahnen oder hemmen die Aktivität nachgeschalteter Neuronen. Die Signale, die entlang der Axone transportiert werden, bestehen in allen Hirnregionen aus immer gleichen elektrischen Aktionspotentialen.
Abb. 19: Schema der Sehbahn. NO = Nervus opticus (Sehnerv), CO = Chiasma opticum (Sehnervenkreuzung), CGL = Corpus geniculatum laterale (seitlicher Kniehöcker), SCN = Nucleus suprachiasmaticus, CS = Colliculi superiores, Pi = Pinealorgan (Zirbeldrüse), V1 = visuelles Zentrum 1. 41
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Es ist an der Zeit, den Weg zu skizzieren, den die Signale aus den Augen in die Tiefen des Gehirns nehmen, um der Frage näherzukommen, wo und wie unsere bewusste Wahrnehmungswelt entsteht. Der Weg dorthin erwies sich im Laufe der Wissenschaftsgeschichte als zunehmend komplex. Vor über 500 Jahren vermutete Leonardo da Vinci, dass die Botschaften der Augen in die Ventriculi münden, flüssigkeitsgefüllte Hohlräume des Gehirns, und dass sich dort die Bühne befindet, auf der sich das Weltgeschehen widerspiegelt. Vor etwa 400 Jahren sah René Descartes die Zirbeldrüse als Ort der Seele an, in der die Meldungen der Augen und der anderen Sinnesorgane zusammenlaufen. Vor etwa 100 Jahren galt als Ort der visuellen Verarbeitung und des Bewusstseins das Hirnzentrum V1 im Bereich des Hinterkopfes. Inzwischen spielt es die Rolle einer Zwischenstation im Netzwerk der visuellen Informationsverarbeitung. Die Axone der Ganglienzellen, die die vorverarbeiteten Signale der Photorezeptoren weiterleiten, verlassen jedes Auge in zwei getrennten Strängen. An der Sehnervenkreuzung teilen sie sich systematisch auf, sodass im weiteren Verlauf die Informationen aus der linken Hälfte des Gesichtsfeldes in der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden, die Informationen aus der rechten Hälfte des Gesichtsfeldes in der linken Hirnhälfte. Nur die Fovea centralis beider Augen ist in beiden Hirnhälften repräsentiert, und zwar im Verhältnis zum übrigen Gesichtsfeld überproportional groß. Frühere Annahmen, dass in den seitlichen Kniehöckern stereoskopische Tiefe analysiert wird, weil dort Informationen aus beiden Augen in Nachbarschaft geraten, haben sich als falsch erwiesen. Hier erfolgt lediglich eine Weiterschaltung auf andere Neuronen, die die Signale zur Hirnrinde in die Region V1 leiten. Vor den seitlichen Kniehöckern zweigen einige tausend Sehnervenfasern in Hirngebiete ab, die nichts mit dem bewussten Sehen zu tun haben, deren Wirkung wir dennoch spüren. Dazu gehört der Wechsel zwischen Schlafen und Wachen. Dass wir bei schwachem Abendlicht müde werden und von hellblauem Morgenlicht wach werden, wird hier geregelt. Auch der Reflex, der die Pupillen je nach Lichteinfall enger oder weiter werden lässt, wird von hier aus gesteuert. Verfolgen wir, wie die Sehbahn nach den Kniehöckern weiter verläuft. Sie mündet in die primäre Sehrinde V1, wo elementare Formmerkmale und Bewegungsrichtungen für die linke bzw. rechte Gesichtsfeldhälfte festgestellt sowie Farbinformationen vorverarbeitet werden. Die Mündungsgebiete aus dem linken bzw. rechten Auge bilden ein Zebramuster, bei dem sie getrennt sind, aber interagieren können.
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Abb. 20: MRT-Aufnahme des visuellen Zentrums. Die Oberfläche des Kortex ist stark gefaltet. Hierbei bleiben aber die Nachbarschaftsbeziehungen innerhalb der Oberfläche erhalten wie bei einer Zeichnung auf Papier, wenn man es zusammenknüllt. Anders gesagt: Die retinotope Ordnung bleibt unverändert.
Abb. 21: Schädel eines Menschen aus dem 19. Jahrhundert mit schwerer Schädigung am linken Hinterkopf, vermutlich von einer Kriegsverletzung. Der Betreffende hat danach noch lange gelebt, denn die Knochenränder sind teilweise verheilt. Die Verletzung muss erhebliche Ausfälle in der rechten Hälfte des Gesichtsfeldes zur Folge gehabt haben. 43
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V1 projiziert in mehrere andere Hirnareale. V2 ist eine weitere Zwischenstation, die den Input nach seiner Funktion für Form, Farbe und Tiefe gliedert. V4 und IT sind für Farbe, Kontur und Form zuständig. Sie gehören zu dem System „Was sehe ich?“. V3, MT, MST und FAF sind für Bewegung, Raum und Tiefe zuständig und gehören zu dem System „Wo sehe ich etwas?“ Beide Systeme laufen getrennt und treffen im präfrontalen Kortex zusammen. Dort im Vorderhirn dienen sie mit ihrem Input der Planung, Ausführung und Kontrolle unseres Handelns. Alle Teilsysteme visueller Verarbeitung sind in beiden Hemisphären des Gehirns vertreten, getrennt für die linke und die rechte Gesichtsfeldhälfte. Über das Corpus callosum, den „Balken“, ein System aus 250 Millionen Nervenfasern, findet ein Austausch zwischen den Hemisphären statt. Das ermöglicht die Bildung einer zusammenhängenden Sehwelt. Mehr als ein Drittel der Großhirnrinde des Menschen beschäftigt sich mit der visuellen Wahrnehmung. Alle genannten visuellen Hirnareale sind Abteilungen und Zulieferer, die für das Endprodukt „Sehwelt“ die unterschiedlichsten Bestandteile und Aspekte beitragen. Die Frage, wie und warum die Hirntätigkeit das bewusste Erlebnis dieser Welt hervorbringt, soll uns noch an anderer Stelle beschäftigen. Jetzt soll noch einmal die Frage aufgegriffen werden, warum wir die Welt dreidimensional sehen. Die Netzhaut ist ja eine zweidimensionale Projektionsfläche. Manche Forscher meinten, dass wir deshalb eigentlich alles flächig sehen, und dass die dritte Dimension nur hinzugedacht sei. Aber das ist ein Reizirrtum. Das auf die Netzhaut projizierte Muster wird als solches gar nicht bewusst, sondern ist die erste Stufe eines langen Verarbeitungsprozesses. Man kann die Wirklichkeit als flaches Bild sehen, aber das verlangt viel Übung. Es ist eine künstliche Form der Wahrnehmung und ein Hilfsmittel, über das Maler verfügen, die die Welt „perspektivisch“ darstellen wollen. Normalerweise werden perspektivische Merkmale wie Fluchtlinien und Verkürzung, die im Muster auf der Netzhaut enthalten sind, von der Wahrnehmung automatisch in Tiefe umgesetzt. Immer wieder wurde behauptet, dass die Dreidimensionalität des Erlebnisraumes erlernt sei. Wenn das stimmt, müssten wir primär alles flächig sehen. Aber es gibt nichts, was dafürspricht. Im Gegenteil. Wenn dem Auge z. B. dieser Punkt geboten wird, dann sieht man eine Figur vor weißem Hintergrund. Stets schafft die Wahrnehmung eine dreidimensionale Situation. Wenn man dem Auge eine tatsächlich perfekte Fläche bietet, indem das ganze Gesichtsfeld von einer völlig homogen gefärbten Fläche ausgefüllt wird, dann sehen wir keine Fläche, sondern einen Raum von unbestimmter Tiefe, der von einem Nebel ausgefüllt scheint. Dieses Phänomen wird unter dem Begriff „homogenes Ganzfeld“ geführt. Es scheint paradox, aber damit eine Fläche als Fläche erscheint, muss sie begrenzt sein oder Textur zeigen, also Störungen in der Homogenität aufweisen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es in der Malerei starke Tendenzen, von dem ehemaligen Diktat perspektivischer Darstellung freizukommen. Aber gerade Bilder, die mit der Intention geschaffen wurden, in der Fläche zu verbleiben, sind der beste Beweis dafür, dass die dritte 44
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Dimension untrennbar zu unserer Wahrnehmung gehört. Denn wir können solche Bilder nicht anders sehen als Objekte vor uns. Sie liegen anschaulich immer in einer gewissen Entfernung von uns. Zur Höhe und Breite eines Bildes kommt stets die Distanz, in der es sich vor uns befindet. Niemals haben wir das Gefühl, uns innerhalb einer Fläche zu befinden. Alle Gegenstände oder Objekte sind entsprechend der ursprünglichen Bedeutung des Wortes uns „entgegengestellt“. Der Philosoph Karl Jaspers schrieb: Allen Anschauungen „ist eines gemeinsam: sie erfassen das Sein als etwas, das mir als Gegenstand gegenübersteht … Wir nennen diesen Grundbefund des denkenden Daseins die Subjekt-Objekt-Spaltung.“9 Diese Trennung einschließlich der dritten Dimension, die das Gegenüberstehen im räumlichen und im übertragenen Sinne bedingt, gehört zum Grundbestand unserer Welt. Goethe nannte es ein Urphänomen. Immanuel Kant hat in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ den dreidimensionalen Raum als Anschauungsform bezeichnet. Er ist nicht Produkt der Erfahrung, sondern gehört zu den in uns liegenden Vorbedingungen aller Erfahrung. Bei großen Entfernungen sind mehrere Faktoren dafür verantwortlich, dass wir Tiefenverhältnisse wahrnehmen. Dazu gehören Linearperspektive und Schattierung, Mittel, mit denen man z. B. Plastizität und Tiefe in Zeichnungen realisieren kann (s. auch Kap. 19). Bei kürzeren Entfernungen wird das beidäugige Tiefensehen über Querdisparation wirksam. Dabei ist die Raumwirkung besonders eindringlich und die Tiefenunterscheidung besonders präzise. Die aufwändige Analyse der Querdisparation geschieht in Hirnzentren, deren Arbeitsweise nicht bewusst wird. Auch über die Verarbeitung von Linearperspektive oder Schattierung machen wir uns in der alltäglichen Wahrnehmung keine Gedanken, sie vollzieht sich ohne bewusstes Zutun. Bewusst wird das Ergebnis: die Lokalisation der Dinge in einer dreidimensionalen Welt. Kurz gesagt: Wir sehen mit zwei Augen, haben aber das Gefühl, aus einem einzigen zu blicken. Die Wahrnehmung vereinigt die Informationen aus beiden Augen zu einem Ganzen. Aus Unterschieden zwischen beiden Quellen macht sie im Nahbereich Tiefenunterschiede zwischen den Dingen der Wahrnehmungswelt. Bei großen Distanzen erfolgt die Tiefenwahrnehmung z. B. durch Linearperspektive und Schattierung.
Literatur Guski 1996. Kandel, Schwartz & Jessell 1996. Kobbert 1976. Schönhammer 2009. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Ausgebremst Es passiert ausgerechnet während der Führerscheinprüfung. Aufs höchste gespannt umkrampfe ich den Lenker und stiere geradeaus. Soeben soll ich mit 50 km/h eine Wohnstraße entlangfahren, zu dieser Zeit gibt es noch keine 30er Zonen. Es gibt auch noch keine Anschnallgurte, sonst wäre der Fahrlehrer nicht fast durch die Windschutzscheibe geflogen. Denn plötzlich bremst der Wagen, dass es kreischt. Ich werde nach vorn geschleudert. Als ich mich wieder aufrichte, sehe ich ein Schulkind, das mit dem Schulranzen auf dem Rücken verdattert vor der Kühlerhaube steht. Offensichtlich ist es von rechts vor den Wagen gelaufen. Mir ist siedend heiß. Das war’s wohl mit dem Führerschein. Ich habe das Kind nicht rechtzeitig gesehen und der Fahrlehrer musste auf die Zusatzbremse auf seiner Seite treten, um das Schlimmste zu verhüten. Davon bin ich in diesem Moment überzeugt. Da ertönt von hinten die Stimme des Fahrprüfers. „Gut reagiert!“ sagt er trocken. Ich schaue den Fahrlehrer neben mir an. Der schüttelt den Kopf und zieht die Schultern hoch. „Ich habe nichts gemacht!“ Sein Fuß steht nicht auf dem Bremspedal. Meiner schon. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie es dazu gekommen ist.
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Anders gefragt: Kann man auf Sichtbares reagieren, ohne es zu bemerken? Anfang der 1970er Jahre berichteten Neurowissenschaftler wie Larry Weiskrantz, Ernst Pöppel und andere über Beobachtungen, die bei Kollegen zunächst auf Unglauben und Spott stießen.10 Es handelte sich um Patienten mit Hemianopsie, bei denen eine Hälfte des visuellen Kortex etwa durch einen Schlaganfall so stark geschädigt war, dass sie auf einer Hälfte des Gesichtsfeldes blind waren. Die Überraschungen begannen damit, dass ein Patient Hindernissen auswich, die er eigentlich nicht sehen konnte. Wurden Lichter in die blinde Gesichtsfeldhälfte projiziert, konnte der Patient nicht beschreiben, ob, was oder wo etwas aufgeleuchtet haben sollte. Wurde er aber aufgefordert, es zu zeigen, wies er in die richtige Richtung, ohne recht zu wissen, warum. Weiskrantz prägte für dieses Phänomen das Oxymoron „Blindsehen“. Manche blindsichtigen Patienten konnten sogar Farben und einfache Figuren wie Kreis und Kreuz unterscheiden. In allen Fällen betonten die Patienten unerschütterlich, nichts gesehen und nur geraten zu haben. Besonders erfolgreich waren sie darin, unmittelbar nach Auftauchen eines Objekts im blinden Gesichtsfeld zielsicher und reaktionsschnell danach zu greifen. Vergingen mehr als zwei Sekunden nach der Präsentation, waren sie dazu nicht mehr in der Lage. Sie konnten die blindsichtig gewonnen Informationen nicht behalten und für Handlungspläne nutzen. Auch war es 46
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ihnen nicht möglich, auf komplexe Bilder zu reagieren. Wie lassen sich diese merkwürdigen Befunde erklären? Lange wurde diskutiert, ob die betroffenen Bereiche des Sehzentrums nicht vollständig zerstört waren, sondern in Resten noch funktionierten. Genaue Messungen ergaben allerdings, dass V1 hier keinerlei Aktivitäten mehr zeigte. Die Aufmerksamkeit der Forscher wandte sich subkortikalen Hirnbereichen zu. Wie schon erwähnt, zweigen hinter der Sehnervenkreuzung und vor dem seitlichen Kniehöcker von den etwa eine Million Nerven der Sehbahn einige tausend Fasern ab. Sie münden in den Thalamus, der den größten Teil des Zwischenhirns ausmacht. Der Thalamus ist ein entwicklungsgeschichtlich sehr altes Hirngebiet mit Eingängen aus allen Sinnesorganen, mit Verbindungen zum Kortex, insbesondere auch zu motorischen Zentren. Seine Rolle für die Verarbeitung visuellen Inputs wurde bei den Säugetieren zunehmend vom visuellen Kortex übernommen. Ein Rest der alten Funktion aber blieb offenbar erhalten. Befunde legen nahe, dass der Thalamus – ähnlich wie die visuellen Zentren des Kortex – über eine Karte des Gesichtsfeldes verfügt. Dies und seine Verbindungen zu motorischen Zentren lassen die Leistungen blindsichtiger Personen erklären. Allerdings haben sie keine Entsprechung im Bewusstsein, das offenbar auf kortikale Prozesse angewiesen ist. Auch bei gesunden Menschen wird gelegentlich die thalamische Abkürzung vom Reiz zur Reaktion genommen. Z. B. erfolgt auf rasche Bewegungen im seitlichen Gesichtsfeld auf diesem Wege eine Steuerung der Augenmuskulatur, die den Blick unmittelbar und zielgenau auf das fragliche Objekt richtet, bevor die aufwändige Arbeit der visuellen Zentren zur bewussten Identifizierung dieses Objekts geschieht. Was einst dafür sorgte, rechtzeitig auf den Sprung des Säbelzahntigers zu reagieren, dient heute dazu, sofort auf die Bremse zu treten, wenn ein Kind vor das Auto läuft! Oliver Sacks hat die Öffentlichkeit auf eine bemerkenswerte Störung aufmerksam gemacht. Mrs. S. hat nach einem Schlaganfall ihre Intelligenz und den Sinn für Humor behalten. Aber sie verhält sich eigenartig. Sie beschwert sich, dass die Schwester ihr weder Kaffee und Nachtisch gebracht hat, obwohl beides links auf dem Tablett steht. Sie schminkt sich, aber nur die rechte Hälfte des Gesichts, und versteht den Hinweis nicht, sich auch links zu schminken. Sie isst vom Teller immer nur die rechte Hälfte und beklagt, zu wenig bekommen zu haben. Allmählich begreift sie, dass ihre Welt nicht vollständig ist. Sie denkt sich den Trick aus, mithilfe eines Rollstuhls, der sich um die Achse drehen lässt, zu essen. Sobald sie meint, der Teller sei leer, dreht sie sich rechts herum, bis der Essensrest rechts im Gesichtsfeld auftaucht, und isst weiter.11 Die Störung heißt Hemi-Neglect und tritt auf, wenn im Gehirn der rechte untere Scheitellappen (Parietallappen) geschädigt ist. Seine Funktion ist offenbar unverzichtbar dafür, die 47
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Aufmerksamkeit, die eng mit dem Bewusstsein verbunden ist, auf wechselnde Ziele zu richten. Obwohl die Sehzentren normal funktionieren, sind die Betroffenen außer Stande, ihre Aufmerksamkeit auf die linke Seite der Dinge zu richten. „Links“ ist für sie kein Begriff mehr, mit dem sie etwas anfangen können. Ihrer Welt fehlt jeweils die Hälfte, doch sie halten sie für vollständig.
Abb. 22: Nach der Aufforderung, eine Uhr zu zeichnen, trägt ein Patient mit Hemi-Neglect die Ziffern nur in eine Hälfte des vorgegebenen Kreises ein. Er ist überzeugt, die ganze Uhr korrekt gezeichnet zu haben. Das betrifft auch die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen. 1978 wurden an der Universität Mailand Patienten mit Hemi-Neglect gebeten, sich vorzustellen, mitten auf dem berühmten Domplatz der Stadt zu stehen, und sollten ihn nun vollständig beschreiben. Sie nannten die angrenzenden Gebäude und Straßen, bis sie überzeugt waren, alles erfasst zu haben. Tatsächlich hatten sie nur die rechte Seite des Platzes beachtet. Nun wurden sie gebeten, sich in der Vorstellung um 180 Grad zu drehen und noch einmal den kompletten Platz zu beschreiben. Nun schilderten sie die andere Hälfte des Platzes. In beiden Fällen waren sie sich sicher, den ganzen Platz beschrieben zu haben! Wie manche Folgen eines Schlaganfalls kann auch diese Störung durch monatelanges Training eventuell wieder verschwinden. Der Maler Anton Räderscheid erlitt mit 75 Jahren einen Schlaganfall und malte zwei Monate später ein Selbstportrait. Es zeigte nur die rechte Hälfte seines Gesichts. Er selbst war aber überzeugt, das ganze Gesicht gemalt zu haben, und ließ sich nicht davon abbringen. Im Lauf mehrerer Monate tauchten in der linken Hälfte seiner Selbstporträts allmählich einzelne schwarze Striche auf, dann auch Farben, bis die Selbstportraits zwar noch etwas asymmetrisch, aber wieder vollständig wurden.12 Kurz gesagt: Manche Signale, die die Augen empfangen, führen zu schnellen und zielgenauen Reaktionen, die nicht mit bewusstem Sehen verbunden sind. Sind Teile des Sehzentrums zerstört, sind dennoch Reaktionen auf optische Signale möglich, obwohl bewusst nichts gesehen 48
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wird. Bestimmte Hirnschädigungen haben zur Folge, dass die linke Seite der Dinge nicht mehr zu existieren scheint.
Literatur Kerkhoff 2004. Pöppel, Held & Frost 1973. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Ein Zauberer liest Gedanken Zusammen mit Alexander und seiner Frau Marianne besuche ich im sauerländischen Attendorn den alten Bühnenzauberer Theodor von Schledorn, alias Bellachini. Er lebt zurückgezogen inmitten der Utensilien seiner ehemaligen Shows. Wir sind aus wahrnehmungspsychologischer Perspektive an Zauberei interessiert, denn sie ist für uns angewandte Phänomenologie. Wir erzählen ihm etwas von unserem theoretischen Hintergrund, und er erzählt uns etwas von seinen Tricks. Von Karten, die verschwinden, von Bällen, die sich vermehren und von plötzlich aufflatternden Tauben. „Dort hinter dem Vorhang“, sagt er, während wir zu einem Türdurchgang gehen und er den Vorhang lupft, „ist die schwebende Jungfrau“. Kaum, dass wir die Andeutung eines Apparates erspähen, lässt er den Vorhang wieder fallen. „Das will ich Ihnen lieber nicht verraten“, sagt er verschmitzt. „Magier-Kodex, Sie verstehen.“ Wir bitten ihn, uns eins seiner Kunststücke vorzuführen. Privatissime sozusagen. „In Ordnung“, sagt er und fügt nach kurzem Nachdenken hinzu: „Ich werde Ihre Gedanken lesen.“ Er schließt die Augen und bittet Marianne, an irgendetwas in diesem Zimmer zu denken. Sie schaut in dem mit Möbeln und geheimnisvollen Geräten gefüllten Raum umher. „Ok“, sagt sie schließlich und schaut Bellachini erwartungsvoll an. Er öffnet die Augen, greift ihr Handgelenk und geht langsam und gemessen mit ihr im Raum umher. Er mustert sorgfältig einen Gegenstand nach dem anderen. Dann geht sein Blick empor zu einer kleinen Wandvase. Er nimmt das kleine Erikasträußchen heraus und überreicht es ihr. „Das schenke ich Ihnen“, sagt er lächelnd. Ihr steht der Mund offen. Es ist genau dieses Sträußchen, an das sie gedacht hat.
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Was spüren wir mit der Haut?
Anders gefragt: Was bemerken wir an unserer Kontaktzone zur Außenwelt? Alkmaion von Kroton, der als der erste Hirnforscher der Antike gilt und z. B. die Sehbahn entdeckte, unterschied 4 Sinne: Sehen, Hören, Riechen und Schmecken. Erst Aristoteles nannte als 5. Sinn den Tastsinn. Diese Anzahl galt über 2000 Jahre lang und zeigt sich noch heute als abgesunkenes Kulturgut, wenn vom „6. Sinn“ gesprochen wird und damit außersinnliche Wahrnehmung gemeint ist. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Gleichgewichtssinn als 6. Sinn beschrieben. Inzwischen werden seitens der Sinnesphysiologie etwa 13 verschiedene Sinne unterschieden. Allein für die Wahrnehmung des eigenen Körpers gibt es mehrere Sinne, auf die wir noch zu sprechen kommen werden. Das Tasten kann nicht, wie weithin gebräuchlich, als ein einzelner Sinn betrachtet werden, denn hierbei wirkt die taktile Sensibilität der Haut untrennbar 50
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zusammen mit den Bewegungssinnen. Auf dieses Gebiet der Haptik gehen wir noch gesondert ein. Widmen wir uns zunächst dem mit zwei Quadratmetern Fläche größten Organ, das wir haben, der Haut. Sie bildet unsere Grenze zur Umwelt, ist Schutzschicht und Kontaktzone zugleich. Sie umhüllt, was zu unserem Körper-Ich gehört. Damit wir jederzeit über die unmittelbare Beziehung zur Außenwelt unterrichtet sind, sind in der Haut mehrere hundert Millionen Rezeptoren verteilt. Ihre Aktivität wirkt oft nur im Hintergrund des Bewusstseins, doch können wir sie leicht in den Vordergrund rücken. Lenken wir einmal die Aufmerksamkeit auf die ruhende Hand. Bald merken wir ein permanentes Kribbeln bis in die Fingerspitzen, vielleicht sogar das Pochen des Pulses. Entsprechendes geschieht, wenn wir uns auf einen Fuß oder einen anderen Körperbereich konzentrieren. Die höchste Dichte und Empfindlichkeit haben die Rezeptoren auf der Zungenspitze, auf den Lippen und den Fingerbeeren. Dort haben wir eine Sensibilität, die es erlaubt, nur 1–3 mm auseinanderliegende Berührungspunkte zu unterscheiden. Auf dem Rücken dagegen nehmen wir noch zwei Berührungspunkte als einen einzigen wahr, wenn sie mehrere Zentimeter auseinanderliegen.
Abb. 23: Rezeptoren in der Haut. 51
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Wie viele Sinne hat die Haut? Das ist nicht so einfach zu beantworten, denn es kommt darauf an, ob die Anzahl unterschiedlicher Rezeptoren oder die Anzahl unterschiedlicher Empfindungen gezählt wird. In Abb. 23 sind zunächst einmal vier verschiedene Organe dargestellt, die auf mechanische Reize wie Druck und Vibration reagieren: die Pacini-Körperchen im Fettgewebe, die Ruffini-Körperchen und die Meißner-Körperchen in der Lederhaut sowie die Merkel-Körperchen in den Papillen der Oberhaut. Die Meißner-Körperchen erfassen nur Änderungen der Druckintensität, Merkel- und Ruffini-Körperchen melden darüber hinaus auch gleichbleibenden Druck, die Pacini-Körperchen signalisieren Beginn und Ende einer Druckänderung. Alle zusammen bilden in ihrer Rolle für das taktile Erleben eine untrennbare Einheit. Zwischen Berührung und Druck ist der Übergang fließend. In die Oberhaut münden zudem freie Nervenendigungen. Manche sind beteiligt bei der Wahrnehmung von angenehmen Berührungen, andere bilden die Rezeptoren für Temperatur oder Schmerz. Jeder hat schon die Erfahrung gemacht, dass das Setzen einer Spritze weh tun kann oder nur als Berührung wahrgenommen wird. Das liegt daran, dass die Rezeptoren einzeln in der Haut verteilt sind und dass die Art der Empfindung davon abhängt, in welches Hirngebiet welcher Rezeptortyp seine Afferenzen schickt. 2021 erhielten David Julius und Andan Patapoutian den Nobelpreis für ihre Entdeckung, wie Druck, Temperatur und Schmerz erspürt werden. Mechanische, thermische und chemische Einflüsse sorgen dafür, dass an den Neuronen je verschiedene Rezeptormoleküle als Ionenkanäle fungieren und so Aktionspotentiale ausgelöst werden.13
Ertasten von Farben 2005 gibt es in den Medien eine Sensation. In der Fernsehsendung „Wetten dass“ ist die blinde Gabriele Simon aus Osnabrück Wettkönigin geworden. Sie hat verschieden gefärbte und gemusterte Stoffe vorgelegt bekommen, sie befühlt und treffsicher in ihrer Farbigkeit benannt. Sie sagt, sie spüre das an der Härte der Stoffe. Das Publikum ist begeistert. Sie hat einen Auftritt bei Günther Jauch. Das Publikum jubelt. Die Bildzeitung und andere Medien sprechen von Betrug. Textilhersteller weisen darauf hin, dass die Härte von Textilien vom Material, nicht aber von der Farbe abhängt. Der Deutsche Blindenverband bezweifelt, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Ausländische Blindenverbände zeigen sich erstaunt und erwarten wissenschaftliche Untersuchungen. Moderator Thomas Gottschalk besucht Frau Simon zuhause und lässt sich ihre Fähigkeit noch einmal vorführen, mit gleichem Ergebnis wie bei der Show. Ich rufe bei Gabriele Simon an und bekomme ihre Mutter ans Telefon, die sie managt. Ich stelle mich als Hochschullehrer vor, der sich in der Forschung sowohl mit der visuellen
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Was spüren wir mit der Haut?
wie mit der haptischen Wahrnehmung eingehend beschäftigt und von der Darbietung ihrer Tochter fasziniert ist. Ich berichte, dass ich selbst vor Jahren Experimente zu der Frage gemacht habe, ob Farben ertastet werden können. Sie verliefen alle negativ bis auf Befunde bei offenbar besonders sensiblen Personen, die immerhin den Unterschied zwischen schwarzen und weißen Flächen wahrnehmen konnten. „Klar, wegen der Wärmeunterschiede“, antwortet Frau Simon, und hat damit Recht. Ich sage, dass ich bedaure, dass es inzwischen so viele Anfeindungen und Betrugsvorwürfe in den Medien gäbe, und dass ich sehr daran interessiert sei, als Wahrnehmungsforscher die Fähigkeit ihrer Tochter zu untersuchen. Dadurch ließen sich Vorwürfe von Betrug und Tricks endgültig entkräften. Auch hätte ich Einblick in manche Tricks von Illusionisten und könnte insofern als Fachmann herhalten. Nein, daran hätten sie kein Interesse, die Tochter hätte in letzter Zeit schon genug durchgemacht. Das könne ich gut nachvollziehen, sage ich, aber es würde die Leistung ihrer Tochter erheblich aufwerten und sie in der Öffentlichkeit rehabilitieren, wenn wissenschaftlich bestätigt würde, was sie bisher nur in Shows gezeigt habe. Wenn bewiesen würde, dass sie tatsächlich über eine besondere Fähigkeit verfügt, für die es bislang keine Erklärung gibt. Dass kein Trick benutzt würde, etwa mit einem kleinen Farberkennungsgerät. Wie sie vielleicht wisse, gebe es seit einiger Zeit solch ein Blindenhilfsmittel, das Farben optisch analysiert und akustisch in Farbwörter übersetzt. Es soll Blinden z. B. beim Kauf von Kleidung helfen. „Davon haben wir gehört, aber so etwas haben wir nicht“, sagt Frau Simon und legt auf. Schade.
Der Temperatursinn hat eine doppelte Aufgabe. Erstens kontrolliert er die Umgebungstemperatur daraufhin, inwieweit sie von der Körpertemperatur abweicht, die bei uns Warmblütern konstant bei etwa 36° C gehalten werden muss. Zudem dient er dazu, die Temperatur von Objekten unserer Umgebung zu prüfen. Ob wir frieren, ob uns angenehm warm oder ob es uns zu heiß ist, ob sich ein Gegenstand kalt, warm oder heiß anfühlt, geht auf zwei oder drei Typen freier Nervenendigungen zurück. Sie signalisieren, wie weit die registrierte Temperatur die des Körpers über- bzw. unterschreitet. Bei Temperaturen über 45° C sprechen auch die Kälterezeptoren an, weshalb es bei Hitze zu einer paradoxen Kälteempfindung kommen kann. Die höchste Dichte von Thermorezeptoren haben wir übrigens in der Mundschleimhaut. Dass man sich direkt oder im übertragenen Sinne „den Mund verbrennen“ kann, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Bei starker Hitze erstatten auch die Nozizeptoren Meldung, die Schmerzrezeptoren. Sie reagieren auf die Schädigung von Körperzellen, etwa wenn wir die Haut schneiden, aufschürfen, quetschen oder verbrennen, oder wenn die Haut entzündet ist. Dem Thema Schmerz werden wir uns noch gesondert widmen. Jucken wird gelegentlich als der kleine Bruder des Schmerzes bezeichnet. Wer unter Neurodermitis leidet, wird dies als Untertreibung bezeichnen. Auslöser ist im Allgemeinen Histamin, 53
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eine Substanz, die die freien Nervenendigungen reizt. Brennnesseln, Feuerquallen und viele stechende Insekten setzen sie frei. Aber auch die körpereigenen Mastzellen im Blut enthalten Histamin. Sobald sie potentielle Feinde wie Viren oder Bakterien erkennen, aktivieren sie damit die Immunabwehr. Bei Allergien überreagieren die Mastzellen auch auf harmlose Substanzen wie etwa Pollen und führen zu Jucken, Schwellungen und Heuschnupfen. Wenn wir baden gehen, dann erscheint uns das Wasser zunächst oft abschreckend kalt. Nach kurzer Zeit aber „gewöhnen wir uns daran“, wie man sagt. Dahinter steckt die Eigenschaft vieler Rezeptortypen, dass sie mehr oder weniger rasch adaptieren, d. h., dass sie nach einer gewissen Zeit ihre anfängliche Aktivität reduzieren. Wir spüren dann nicht mehr die Kälte des Wassers oder die umschließende Kleidung. „Mit den passenden Schuhen vergisst man die Füße“, heißt es bei dem chinesischen Philosophen Zhuangzi. Adaptation ist auch die Erklärung für die sogenannte Drei-Schalen-Täuschung: Wir legen die linke Hand in eine Schale mit heißem Wasser, die rechte Hand in eine Schale mit eiskaltem Wasser. Nach ca. einer Minute legen wir beide Hände in eine Schale mit lauwarmem Wasser. Es erscheint jetzt der linken Hand kalt und der rechten Hand warm. Unser Wissen, dass es sich um die physikalisch gleiche Temperatur handelt, ändert nichts daran, dass wir in beiden Händen unterschiedliche Empfindungen haben. Schon als Kinder haben wir bemerkt, wie empfindlich die langen „Schnurrhaare“ einer Katze scheinen. Dabei sind die Haare selbst völlig unempfindlich, sie bestehen aus totem Keratin, empfindlich sind vielmehr die Bereiche der Haarwurzeln. Jeder Follikel ist von einem Nervennetz umgeben, das eine Auslenkung des Haars als Reiz meldet, s. Abb. 23. Dadurch werden die Haare zu Fühlern, die die Sensibilitätszone des Körpers über die Hautoberfläche hinaus ausdehnen.
Abb. 24: Lange hat man gerätselt, wozu die „Pinsel“ an den Ohren des Luchses dienen. Man vermutete, dass sie seine Hörfähigkeit verbessern. Wahrscheinlicher ist, dass mit den sensiblen Follikeln die Windrichtung festgestellt wird. Der Luchs ist ein Jäger, hat aber einen starken Eigengeruch, vor dem die Beutetiere fliehen. Daher ist es für den Luchs wichtig, sich gegen den Wind anzupirschen. 54
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Dieses Prinzip ist im ganzen Tierreich weit verbreitet, und es gilt auch beim Menschen. Wenn uns jemand über die Haare streicht, dann haben wir nicht das Gefühl, dass die Kopfhaut berührt wird, obwohl dort die Rezeptoren sitzen. Vielmehr lokalisieren wir die Berührung in einigem Abstand, wo wir gar keine Rezeptoren haben. Über den Körper verteilt haben wir mehrere Millionen Haare, und gut 100 000 davon tragen wir auf dem Kopf. In ihrer Gesamtheit bilden sie eine Schutzzone über der Hautoberfläche, die uns bereits warnt, bevor die Körperoberfläche selbst tangiert wird. Wenn wir frieren, Angst haben oder in anderer Weise emotional erregt sind, wird diese Schutzzone, dieser Rest des Fells, das die fernen Vorfahren trugen, erweitert. Dann haben wir „Gänsehaut“, und es „stehen die Haare zu Berge“. Sie werden in diesen Fällen durch kleine Muskeln aufgerichtet, die an jedem Follikel ansetzen. Das geschieht reflektorisch, bewusst wird nur das kribbelnde Gefühl, das sich beim Aufrichten der Haare einstellt. Dieser Reflex trug einstmals auch dazu bei, gegenüber Angreifern größer und imposanter zu erscheinen. Andere Reflexe, die von der Reizung der Haut ausgehen, sind noch alltäglicher. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie schnell die Hand zurückzuckt, wenn sie etwas Heißes oder etwas Unerwartetes spürt. Bei hinreichend starker Reizung der freien Nervenendigungen in der Haut erfolgt eine heftige Salve von Nervensignalen, die auf diesem Wege unmittelbar eine entsprechende Muskelkontraktion veranlasst, ohne dass der zeitraubende Umweg über bewusste Kontrolle zwischengeschaltet würde. Allerdings können wir manche Reflexe bewusst beeinflussen. So können wir etwa, wenn wir wollen, in eine Kerzenflamme greifen, um sie auszudrücken. Hautempfindungen gehen emotional oft „unter die Haut“. Was uns berührt, betrifft auch unsere Gefühle. Das gilt nicht nur für unangenehme Empfindungen wie Schmerzen. Das gilt auch für die sanften „Streicheleinheiten“, die jedes Kind braucht, um sich normal entwickeln zu können. Aus der ungestörten Hingabe an zärtliches Streicheln erwächst das Urvertrauen, das die Basis gelungener sozialer Beziehungen ausmacht. Wie sehr ohne die vertrauten Berührungen auch Erwachsenen etwas fehlt, hat die Corona-Pandemie ab 2020 deutlich gemacht. Weltweit wurden Sozialkontakte eingeschränkt, um eine Ansteckung unwahrscheinlicher zu machen. Der Händedruck, ein Zeichen der Verbundenheit unter Bekannten und solchen, die es werden wollen, wurde tabu. Großeltern durften ihre Enkel nicht mehr in den Arm nehmen. Telefon, Skype und andere digitalen Medien waren kein Ersatz; sie erinnerten vielmehr immer neu daran, dass das „social grooming“ fehlte, die wechselseitige Berührung, die uns anrührt. Sei es ein warmer Sommerregen, sei es ein Sturm, sei es beim Schwimmen, sei es im Whirlpool oder nur die morgendliche Dusche – es ist immer eine besondere Erfahrung, wenn das große Organ Haut angenehm berührt wird. Auf die sexuellen Erlebnisse, die ja mehr als nur die Haut betreffen, gehen wir an anderer Stelle gesondert ein. Wir können spüren, wenn der zarte Flügel einer Fliege auf unsere Stirn fällt, die taktile Sensibilität ist extrem fein. Mit dieser 55
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Fähigkeit kann man auch den Puls fühlen. Der bei Erregung bekanntlich schneller wird. Womit wir wieder bei der kleinen Geschichte von Bellachini angelangt sind … Kurz gesagt: Mit dem größten Sinnesorgan, der Haut, empfinden wir u. a. Berührung, Temperatur und Schmerz. Mit den Haaren erweitern wir die Fühlsphäre, nicht weil die Haarspitzen, sondern weil die Haarwurzeln sehr sensibel sind.
Literatur Grunwald 2017. Guski 1996. Schönhammer 2009. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Ich als Rechteck Ich fühle mich wach. Bläuliches Morgenlicht erfüllt den Raum und schimmert auf dem länglichen Rechteck aus Blaustahl, das ich bin. Es ist seltsam und befremdlich, ich bin aber durchaus nicht so entsetzt wie Gregor Samsa in Franz Kafkas „Verwandlung“. Am meisten wundere ich mich darüber, dass ich mich sehen kann, so ganz ohne Augen. Das Rechteck aus wenige Millimeter dickem Stahlblech liegt leicht durchgebogen auf dem Bett. Es hat eine bestimmte Breite und Länge, die ich fühlen zu können meine. Indem mir das bewusst wird, wache ich endgültig auf. Ein wirklich interessanter Traum, denke ich und weiß sofort, was ich tun muss, bevor das Traumbild verschwindet. Ich stehe auf, suche mir ein Blatt Papier und einen Bleistift. Ich zeichne freihändig das Rechteck, das ich eben noch gewesen bin, auf etwa eine Spannenlänge verkleinert, erst hochkant, dann ein zweites Mal liegend. Ich suche ein Lineal und ermittle die Proportionen beider Rechtecke. Das erste hat ein Seitenverhältnis von 1:3,78, das zweite das Verhältnis 1:3,94. Ich hege den Verdacht, dass das in etwa meinen Körperproportionen entsprechen könnte. Ich glaube das zwar nicht so recht, weil ich meine Schultern breiter einschätzen würde als es diesem schmalen Handtuch entspricht. Doch ich will es wissen und messe meinen Körper aus. Ich komme auf 186 cm Scheitelhöhe und 48 cm Schulterbreite. Daraus ergibt sich ein Verhältnis von 1:3,87. Und das – ich kann es kaum glauben – ist fast exakt der Mittelwert meiner gezeichneten Rechtecke. Ein im wahrsten Sinne des Wortes traumhaftes Ergebnis! Was ich im Traum sah, war ich tatsächlich selbst, allerdings aufs Äußerste abstrahiert und reduziert auf meine Körperproportionen!
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Wie nehmen wir unseren Körper wahr?
Anders gefragt: Wie merken wir, wo unsere Körperteile sind und was wir tun? Nichts scheint uns so selbstverständlich und unmittelbar gegeben wie der eigene Körper. Doch auch das Körper-Ich ist, ebenso wie die Welt außerhalb, das Ergebnis einer aufwändigen und sich ständig verändernden Konstruktion des Gehirns. Auch das Körperempfinden gründet sich auf einem permanenten Fluss von Informationen aus Millionen von Rezeptoren. Einen Teil dieses somatoviszeralen Sinnessystems (Soma = Körper, Viscera = Eingeweide) haben wir angesprochen, die Hautsinne. Nun geht es weiter in die Tiefe. Die Tiefensensibilität (Propriozeption) umfasst den Sinn für Lage und Stellung der Körperglieder, den Bewegungssinn und den Kraftsinn. Die Meldungen der Rezeptoren all dieser Sinne wie auch die der Hautrezeptoren münden in den sensorischen Kortex, der links und rechts 57
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vom Scheitel bis zum Ohr verläuft (s. Abb. 11). Dort ist unser ganzer Körper repräsentiert. Dabei sind unterschiedliche Körperregionen in unterschiedlichem Maßstab kartiert. Lippen, Zunge und Daumen nehmen viel Platz ein, Rücken und Oberschenkel wenig. Die rechte Hirnregion erhält ihren Input von der linken Körperhälfte, die linke Hirnregion von der rechten Körperhälfte. Die unterschiedlichen Rezeptortypen nehmen dabei schmale Streifen in Anspruch, die zueinander parallel liegen.
Abb. 25: Der somatosensorische und der motorische Kortex14. Der erste repräsentiert den ganzen Körper für die Sinnesmodalitäten der Haut, der Muskeln, Sehnen, Gelenke und der inneren Organe, der zweite für die Aktivierung der Muskulatur. Diesem somatosensorischen Kortexareal ist das motorische Areal benachbart, in dem der ganze Körper ein zweites Mal kartiert ist. Dieses Areal hat zentrale Bedeutung für die Steuerung der Bewegungen unserer Körperglieder, etwa beim Laufen, Hantieren, Kauen oder Sprechen. Die Größe der Kartenbereiche in beiden Kortexarealen ist veränderlich. Gebiete, die besonders intensiv beansprucht werden, dehnen sich durch Annexion benachbarter Hirngebiete aus; so ist etwa bei Klavierspielern der Handbereich sensorisch und motorisch deutlich ausgeweitet.
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Wie nehmen wir unseren Körper wahr?
Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Wir befinden uns in einer Diskussionsrunde und melden uns zu Wort, indem wir aufzeigen. Dabei haben wir das Gefühl, dass wir die Hand heben und dass der Arm gleichsam mitgezogen wird. Anatomisch und physiologisch gesehen passiert etwas Anderes: Im Frontalhirn entsteht der Plan, die Hand zu heben. Kortikale und subkortikale Systeme entwickeln daraufhin ein Programm zur Realisierung. Dabei sind der somatosensorische und der motorische Kortex beteiligt sowie das Kleinhirn, das Unterprogramme zur Aktivierung der Muskeln bereitstellt. In diesem Fall werden vor allem Rücken- und Schultermuskeln aktiviert. Sie sorgen dafür, dass der Kopf des Oberarmknochens im Schultergelenk rotiert und dadurch der Arm gehoben wird. Rezeptoren in Schultergelenk und Muskeln kontrollieren die Stellungsänderung und melden Vollzug. Obwohl die Aufmerksamkeit auf die Hand gerichtet ist, die wir aktiv zu heben meinen, realisiert das Gehirn den Vorgang auf die Weise, dass der Bereich um das Schultergelenk aktiviert wird und die Hand dabei passiv nach oben geschoben wird. Die Arbeitszentren Schultergelenk und Rücken treten überhaupt nicht in den Fokus des Bewusstseins. An diesem Beispiel wird deutlich, dass das, was wir bewusst tun und wie unser Körper es realisiert, ganz unterschiedlich strukturiert sein kann. Von den subalternen Vorgängen in uns merken wir im Allgemeinen wenig, obwohl ihre Arbeit unverzichtbar ist. Irgendwie erinnert das an einen Unternehmer, der keine Ahnung davon hat, wie seine Arbeiter und Angestellten seine Pläne realisieren. Ergreifen wir die Gelegenheit, das ein wenig zu ändern. Denn schließlich geht es hierbei um nicht weniger als um uns selbst und unser Selbstverständnis. Schließen wir einmal die Augen und bewegen beide Hände ganz asymmetrisch im Raum um uns herum. Zum Schluss versuchen wir, die Handflächen aufeinander zuzuführen, sodass sich alle gegenüberliegenden Finger gleichzeitig berühren. Den meisten Menschen gelingt das recht gut, und das ist erstaunlich. Wie gelingt das ohne visuelle Kontrolle? Für jede Bewegung, die wir vollführen, werden Muskeln durch die Efferenzen motorischer Nerven verkürzt. Diese Motoneurone sind selbst betriebsblind für den Erfolg ihrer Aktion. Dafür befinden sich in den Muskeln sog. „Muskelspindeln“, die eine Längenveränderung registrieren. Wichtig ist dabei das Gegenspielerprinzip. Wenn wir z. B. den Arm beugen, wird der Bizeps verkürzt. Auf der Gegenseite wird der Triceps als Antagonist (Gegenspieler) gestreckt. Diese Streckung wird von den Muskelspindeln registriert und ermöglicht eine Kontrolle der Bewegung. Die Dichte der Muskelspindeln hängt von der Körperregion ab. Sie sind in Bereichen der Feinmotorik, in den Muskeln der Hand und des Gesichts, über hundertmal dichter verteilt als etwa im Oberschenkel. In den Sehnen, die die Muskeln mit den Knochen verbinden, befinden sich die sog. „Golgi-Sehnenorgane“. Sie registrieren sehr genau die Spannung, die durch die aufgewendete
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Muskelkraft erzeugt wird. Damit liefern sie zusammen mit den Muskelspindeln wichtige Parameter für den Ablauf des intendierten Bewegungsprogramms. Auch in den Gelenken befinden sich Rezeptoren, z. B. Ruffini-Körperchen, die wir schon als Rezeptoren in der Haut kennengelernt haben. Sie messen die Gelenkstellung und damit die relative Ausrichtung der Gliedmaßen zueinander. Zusammen mit dem Gleichgewichtsorgan, das wir noch behandeln werden, registrieren sie sie Stellung des Körpers und seiner Glieder im Raum. Bei der oben genannten Aufgabe bei geschlossenen Augen werden während der Bewegung tiefensensible Signale aus Millionen von Rezeptoren auf nicht bewusster Ebene verrechnet. Bewusst wird die Bewegungsabsicht, der Bewegungsfluss und die Zielstellung der Hände, die sich zum Schluss berühren. Unsere subalternen Systeme haben wieder einmal eine erstaunliche Leistung vollbracht, die Daten eines hochkomplexen Systems verrechnet und zu einem präzisen Ergebnis geführt. Manche Rezeptoren in unserem Körper befinden sich ganz woanders, als wir es intuitiv lokalisieren würden. Wenn ein Boxer seinen Gegner mit einem Knockout zu Boden schickt, dann meinen wir vielleicht, dass der Treffer am Kinn der Auslöser ist, was ja auch der Bezeichnung „Glaskinn“ für empfindliche Boxer zugrunde liegt. Tatsächlich sind nicht die Rezeptoren im Kinn und der damit verbundene Schmerz entscheidend. Vielmehr überträgt sich der Schlag auf bestimmte Druckrezeptoren in der Halsschlagader. Sie dienen normalerweise dazu, den Blutdruck zu kontrollieren und ggf. zu senken. Beim Knockout ist der Reiz so stark, dass er einen plötzlichen Blutdruckabfall im Gehirn verursacht und der Boxer ohnmächtig wird. Die Halsschlagader verfügt noch über einen zweiten wichtigen Rezeptor. Wenn wir etwa beim Tauchen längere Zeit die Luft anhalten, wird das Bedürfnis, Luft zu holen, immer stärker. Hierfür verantwortlich ist nicht etwa der Mangel an Sauerstoff, sondern ein Überschuss an Kohlendioxid, das Stoffwechselprodukt der Atmung. Es wird von einem Chemorezeptor gemessen, der in der Halsschlagader liegt. Er ist wesentlich an unserem Atemrhythmus und damit an unserer Lebenserhaltung beteiligt. Je tiefer wir in die Vorgänge unseres Körpers eindringen, umso mehr wird die ungeheure Komplexität der Lebensprozesse bewusst, die sich unbewusst vollziehen. Sie sind wie ein Ozean, von dem wir nur das Kräuseln der Wellen an der Oberfläche bewusst wahrnehmen. Eine einzige Leberzelle, 10 mal kleiner als dieser i-Punkt, enthält hunderte von molekularen Regelkreisen, die dazu beitragen, unseren Körper zu entgiften, Fett- und Gallensäure sowie verschiedene Proteine zu synthetisieren. Von all dem spüren wir nichts, bis vielleicht eines Tages das biologische Wunderwerk außer Tritt gerät und wir mit den Symptomen einer Leberentzündung zum Arzt müssen.
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Wie nehmen wir unseren Körper wahr?
Wir wissen im Allgemeinen nur wenig von dem, was in unserem Körper geschieht. Aber auch über unser Äußeres haben wir ein subjektives Körperbild, das trotz Spiegel, Fotos und Waage erheblich von dem abweichen kann, wie wir von anderen gesehen werden. Der Physiker und Philosoph Ernst Mach schrieb 1922: „Als junger Mensch erblickte ich einmal auf der Straße ein mir höchst unangenehmes widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht wenig, als ich erkannte, dass es mein eigenes sei, welches ich an einer Spiegelniederlage vorbeigehend durch zwei gegeneinander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte.“15 Ein extremes Beispiel für verzerrte Selbstwahrnehmung ist die Anexorie (Magersucht). Dabei handelt es sich um eine psychische Erkrankung, von der besonders junge Frauen betroffen sind. Sie halten sich selbst dann noch für zu dick, wenn sie bereits bis auf die Knochen abgemagert sind. Das zeigt sich etwa in Zeichnungen, in denen sie sich selbst in üppigen Formen darstellen. Nicht wenige sterben an Unterernährung, weil sie kaum etwas essen oder sich den Finger in den Hals stecken, um zu erbrechen. Wenn wir die Mitmenschen sehen oder im Spiegel uns selbst, sehen wir genau genommen nur Haut und Haare. Deren Erscheinung messen wir größte Bedeutung bei, indem wir sie pflegen und aufhübschen. Vielleicht denken wir einen Moment darüber nach, dass es nur die Hülle ist, mit der sich der Körper umgibt und sein Inneres schützt, in dem alle wichtigen Vorgänge ablaufen. Es ist das verborgene Innere, in dem die Verdauungsorgane wie etwa die Leber aus Nährstoffen Energie und lebenserhaltende Substanzen gewinnen. Dort entziehen die Lungen dem Blut Kohlendioxid und tauschen es gegen Sauerstoff, den sie an das Kreislaufsystem abgeben. Das Blut als unser Lebenswasser ist mit seinen Mineralstoffen heute noch ähnlich zusammengesetzt wie das Meer, in dem unsere fernsten Vorfahren herumschwammen, bevor sie sich durch eine Haut abkapselten und ein Leben zu Lande ermöglichten. Das lebenslang schlagende Herz sorgt unermüdlich dafür, dass jedes Eckchen des Körpers versorgt wird und dass Abfallstoffe von den Nieren entsorgt werden können. In Blut und Lymphe patrouillieren Killerzellen und andere Organe unseres Immunsystems, ständig beschäftigt damit, schädliche Mikroorganismen abzuwehren. Mit anderen Mikroorganismen in uns leben wir in Symbiose; ihre Zahl ist größer als die unserer Körperzellen. Unsere Knochen geben dem Körper Stabilität und bilden die Voraussetzung für die Mechanik unserer Bewegungen. Im Innern der Knochen bilden sich die roten Blutkörperchen, die für den Sauerstofftransport unerlässlich sind. Wenn all das im Innern gut funktioniert, geht es auch der Haut gut. Insofern ist es nicht ganz verkehrt, wenn wir der Verpackung der körperlichen Wertsachen so viel Aufmerksamkeit schenken. Hinter der Stirn schließlich liegt unser größter Schatz, das Gehirn mit seinen Neurotransmittern, Milliarden Zellen und Verkabelungen, die all unser Fühlen, Denken und Handeln ermöglichen. Zusammen mit dem Rückenmark ist es verbunden mit einem fein verästelten Nervensystem, das bis in die Fingerspitzen reicht, das einerseits die Signalflut aus den Sinnen kanalisiert und andererseits die Meldungen an die Motorik, mit der wir aktiv werden.
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Die zweite Entstehung der Welt
Was die Haut verhüllt, sehen wir nicht, manches aber spüren wir. Indem es uns bewusst wird, wird es Teil unseres Körper-Ichs. Kurz gesagt: Auch den eigenen Körper und seine Bewegung erfahren wir nicht direkt, sondern über zahlreiche Sinnesorgane z. B. in Muskeln, Sehnen und Gelenken. Hierdurch, durch eigene Vorstellungen und durch das Wissen über Vorgänge in unserem Innern, die nicht unmittelbar sinnlich erfahrbar sind, bildet sich das Körper-Ich. Das eigene Körperbild kann z. B. bei Magersucht extrem von der Art abweichen, wie andere Menschen uns sehen.
Literatur Grunwald 2017. Guski 1996. Penfield & Rasmussen 1950. Schönhammer 2009. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Was ist das Besondere am Tastsinn?
Der Januskopf Ich bin zusammen mit einer Gruppe von blinden Erwachsenen im Antikenmuseum von Kassel. Wir haben dort eine Ausnahmegenehmigung erhalten, die Objekte betasten zu dürfen. Zu den Besuchern zählt mein Freund Erich Kühnholz, der als junger Mann im Zweiten Weltkrieg sein Augenlicht verlor. Er ist jahrzehntelang als Richter tätig gewesen und widmet sich seit seiner Pensionierung einer neuen Leidenschaft, dem Plastizieren in Ton. Dabei setzt er bildnerisches Gestalten, das er bis zu seiner Erblindung zeichnend realisiert hat, in einem anderen Medium fort. Seine visuelle Vorstellungsfähigkeit hat er sich über die Jahrzehnte hinweg erhalten. Er bezeichnet sich selbst als „Sehender ohne Augen“, und die Plastiken, die er schafft, richtet er ausdrücklich an den sehenden Betrachter. Die links in Abb. 16 skizzierte Keramik eines gestürzten Bisons stammt von seiner Hand. Der Bär Abb. 30 gehört zu seinen frühen Versuchen. Nun stehen wir vor einer antiken Plastik aus Marmor, die wie ein Januskopf zwei Gesichter zeigt: auf der einen Seite ein bärtiges Männergesicht, auf der anderen ein Frauengesicht. Erich Kühnholz ist dabei, das Doppelporträt abzutasten, als er mich fragt, welches Gesicht mir besser gefalle. „Das Mädchen“, antworte ich ohne Zögern. „Was?“ erwidert er entsetzt, „das ist doch kaum als Gesicht zu erkennen!“ Als ich mit der Hand darüberstreiche, verstehe ich ihn. Das Mädchengesicht sieht ebenmäßig aus, fühlt sich aber rau an wie gröbstes Schmirgelpapier. Bei einer haptisch so unangenehmen Oberfläche lässt sich die Form kaum ertasten. Dagegen fühlt sich das Männergesicht glatt an, die Hand erfährt ebenmäßige Gesichtszüge. Für das Auge dagegen ist es schwarzfleckig verunstaltet, was für die tastende Hand keine Rolle spielt. Offenbar haben Umwelteinflüsse schon vor langer Zeit die beiden Seiten des Marmors unterschiedlich angegriffen. Saurer Regen bewirkt bei Marmor eine Aufrauung der Oberfläche, biologischer Bewuchs eine schwarze Kruste. So hat diese Plastik für Auge und Hand eine im doppelten Sinne janusköpfige Wirkung erhalten.
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Abb. 26: Doppelporträt, Marmor, griechisch-römisch. Seit der geschilderten Begebenheit ist die Marmorfigur restauriert worden, sodass der haptisch/optische Unterschied fast verschwunden ist. (Foto nach der Restauration, mit freundlicher Genehmigung der Antikensammlung Kassel)
Abb. 27: Erich Kühnholz (schwarzblind) bei der Arbeit an einer Pieta. Rainer Sedlacek wurde ohne Augen geboren. Er weiß nicht, was er sich unter Licht und Farbe vorstellen soll. Es sind für ihn leere Wörter. Er nimmt an einem Keramikkurs für Blinde teil. Wie die anderen blinden Teilnehmer bekommt er die Plastik einer Taube in die Hände, die der sehende Bildhauer Jochen Pechau Jahre zuvor gefertigt hat. Ein paar Stunden später 64
sollen die Teilnehmer die Taube in Ton nachbilden. Das gelingt mehr oder weniger gut, Ton ist für Blinde ein schwieriges Material, weil es an den Fingern klebt, die zugleich das Material gestalten und die Form erfühlen müssen. Die Plastik von Rainer Sedlacek wirkt auf mich gelungen, allerdings fallen mir bestimmte Unterschiede gegenüber dem Vorbild auf, und ich sage es ihm. Daraufhin antwortet er, dass ihm das vorgelegte Modell falsch erschienen sei und dass er sich davon nicht leiten lassen wollte. Er sei auf einem Bauernhof aufgewachsen und habe lebhafte Erinnerungen daran, dass er Tauben in der Hand gehalten und gestreichelt habe. Darum ist seine Taube schlank, wie sie sich der streichenden Hand mitteilt (und nicht so aufgeplustert, wie sie dem Auge erscheint). Der Schwanz ist nicht breit gefächert, sondern konisch verjüngt entsprechend dem Eindruck, dass sich die Federn in der Hand zusammenschließen. Als ich ihm meinen visuellen Eindruck von einer lebenden Taube beschreibe, ist er erstaunt, kann es sich aber vorstellen, wie er sagt.16
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Was ist das Besondere am Tastsinn?
Anders gefragt: Wie erspüren wir die Welt mit Händen und Füßen? Zu den elementarsten Bedürfnissen des Menschen gehört, die Dinge der Welt nicht nur mit dem Fernsinn des Auges, sondern auch mit den Nahsinnen des Körpers zu erfahren. Dazu gehört das Erwandern unbekannten Geländes mit den Füßen, dazu gehört aber vor allem das tastende Erforschen mit den Händen. Davon wissen die Kustoden von Museen ein Lied zu singen, und es tauchte der Verdacht auf, dass es nur die Schilder „Nicht berühren!“ seien, die dazu reizten, das Verbot zu übertreten. Die Vermutung wurde untersucht mit folgendem Ergebnis: Waren Verbotsschilder aufgestellt, übertraten knapp 50 % der Besucher das Verbot. Waren keine Verbotsschilder aufgestellt, fassten mehr als 80 % die Objekte an. Das Bedürfnis, gerade seltene, kostbare und neuartige Objekte zu betasten, wie sie in Museen ausgestellt sind, lässt sich so verstehen, dass Abzutasten für viele bedeutet, die Dinge so zu erfahren, wie sie wirklich sind. Das Auge lässt sich täuschen, aber der Tastsinn nicht, so ist die verbreitete Meinung, weil er als Nahsinn die Dinge unmittelbar erfahren lässt. Bekannt ist die biblische Geschichte vom ungläubigen Thomas, der von der Auferstehung Jesu hört und sie nicht glauben will, es sei denn, dass er die Finger in die Wundmale Jesu legen kann. Wir haben oben am Beispiel des Drei-Schalen-Versuchs gesehen, dass die Hautsinne sich sehr wohl täuschen lassen. Das gilt auch für die haptische Wahrnehmung, bei der die Hautsinne und die Eigenbewegung des Körpers zusammenwirken, und zwar in vielerlei Hinsicht. Ein schönes Beispiel ist die „Aristotelische Täuschung“. Man überkreuzt Zeige- und Mittelfinger und überstreicht so mit den Fingerkuppen die eigene Nasenspitze. Es ergibt sich der verrückte Eindruck, dass man gegen alles bessere Wissen zwei Nasenspitzen hat! 65
Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 28: Aristotelische Täuschung. Der Drang, auf Ausstellungen alles greifen und betasten zu wollen, ist auch die Fortsetzung des kindlichen Explorationsdranges. Bei Kindern und Erwachsenen ist das „Begreifen“ im doppelten Sinne ein Sich-Aneignen, ein Verinnerlichen und ein Anteilhaben am Neuen, Besonderen. Zwar werden auch haptisch alle Eindrücke nicht unmittelbar, sondern über zahlreiche Rezeptoren vermittelt, doch das wird nicht bewusst. Vielmehr hat man den Eindruck, dass jegliche Distanz aufgehoben und die unmittelbare Nähe erreicht ist. Die griechische Wurzel des Wortes „Haptik“ hängt mit dem lateinischen „capere“ zusammen, von dem wiederum unser „kapieren“ als geistiges Ergreifen, Sich-Aneignen abgeleitet ist. Durch die Eigenbewegung der Hand wird das Potential der Hautsinne wesentlich verfeinert. Das zeigt sich etwa beim Lesen der Braille-Blindenschrift, bei der alle Buchstaben und Zahlen im Raster von sechs erhabenen Punkten codiert sind. Wenn der Zeigefinger auf einen solchen Buchstaben gedrückt wird, sind nur sehr wenige Blinde imstande, das Zeichen zu erkennen. Streichen sie dagegen darüber, erschließt sich die Schrift geschulten Blinden sofort. Beim Darüberstreichen und durch die damit verbundene wechselnde Reizung der Hautsinne wird die lokale Adaptation der Hautrezeptoren vermieden. Entsprechend bewegen wir die Finger, wenn wir Materialien prüfen. Wir nehmen Textilstoff oder Papier zwischen Daumen und Zeigefinger und bewegen sie gegeneinander. Wir streichen mit der Hand über die rauen Steine einer alten Mauer, über den glatten Lack des neuen Autos, über das warme Holz des Tisches oder über den weichen Kleiderstoff. Immer verdichten sich die Meldungen tausender Rezeptoren zu einer oder wenigen Qualitäten. Wir streichen mit der Hand über den Rücken einer Katze, eines Hundes oder Pferdes. Wir erfreuen uns an der Wärme und an der sanft geschwungenen Fläche des weichen Fells, spüren das Leben des 66
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Was ist das Besondere am Tastsinn?
Tieres. Denken wir nur einen Augenblick daran, woran wir sonst nie denken: an das komplexe Zusammenspiel tausender Berührungs-, Druck-, Vibrations- und Wärmerezeptoren in der Hand, an ebenso viele Dehnungs-, Spannungs- und Stellungsrezeptoren in Hand, Arm und Schulter, die für unser Erlebnis die Voraussetzungen liefern. „Kinästhesie“, die Wahrnehmung der eigenen Körperbewegung, bildet zusammen mit den Hautsinnen in der Haptik eine Einheit. Das gilt z. B. auch für die permanente Erkundung der Bodenbeschaffenheit beim Gehen, die nur dann ins Bewusstsein tritt, wenn etwas Ungewohntes auftritt, wenn wir z. B. barfuß auf einen spitzen Stein treten.
Nachts im stockfinsteren Wald 1964 beteilige ich mich an der landesweiten Aktion „Student für Berlin“ und betreue zusammen mit vier weiteren Studentinnen und Studenten für ein paar Wochen vierzig Berliner Jungs im Sauerland. Wir machen Spiele, singen, wandern und beobachten Tiere. Einer der Jungs findet ein Hirschgeweih und freut sich über seine Trophäe. Wir machen eine Nachtwanderung durch den Wald, durch den wir tagsüber schon oft gezogen sind. Während zwei Dutzend Lichter von Taschenlampen durch die Bäume funzeln, meint einer: „Den Weg würde ich inzwischen im Schlaf finden.“ Das bringt mich auf eine etwas verrückte Idee. Am nächsten Abend habe ich frei. Ich nehme etwas Proviant mit und wandere los. Auf der anderen Seite des Waldes klettere ich auf einen Hochsitz. Mit der Dämmerung kommen die Rehe auf die Lichtung. Doch mein eigentliches Abenteuer wartet noch auf mich. Als es ganz dunkel ist, steige ich die Leiter hinab. Ich habe vor, den Wald bei völliger Finsternis zu durchqueren. Die Taschenlampe habe ich absichtlich in der Herberge gelassen. Sie würde mich nur in Versuchung führen, meine neue Erfahrung zu zerstören. Als ich mich mit den Füßen vom Hochsitz zum Waldweg taste, stelle ich fest, dass es tatsächlich stockfinster ist. Beim Blick nach oben ist kein Stern zu sehen, der Himmel ist wolkenverhangen, ich sehe buchstäblich die Hand vor Augen nicht. Die Dunkelheit hüllt mich ein wie ein schwarzes Tuch. Aber ich kenne ja den Weg, darauf verlasse ich mich. Ich spüre den Übergang vom weichen Gras zur Festigkeit des Weges und fühle mich sicher. Schritt für Schritt nehme ich den Untergrund mit seinen leichten Unebenheiten wahr, ich stapfe und scharre, um die Schrittgeräusche zu variieren. Irgendwie höre ich es, wenn ich an dicken Bäumen vorbeigehe, vertrauten Merk-Malen auf meinem Weg. Kein Mensch begegnet mir. Absolut nichts ist zu sehen. Außer den Geräuschen, die ich selbst verursache, ist es totenstill. Umso intensiver nehme ich die Gerüche des Waldes auf. Altes Laub und Pilze
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Die zweite Entstehung der Welt dominieren. An einer Stelle weht mir der penetrante Geruch eines Fuchses entgegen. Nach einer Biegung weiß ich, dass ich eine Abzweigung nehmen muss. Ich taste mit den Füßen herum, bis ich sie gefunden habe und wieder sicher bin. Der Untergrund variiert. Ich spüre kleine Steinchen und Äste, dickere Wurzeln erkenne ich wieder und bestätigen die Richtung, die ich zu nehmen habe. Nach einer Weile trete ich in Schlamm. Ich weiche der Pfütze aus, suche nach einem trockenen Wegstück und finde mich plötzlich auf Moos und Laub wieder. Etwas irritiert gehe ich umher, fühle Äste und Blattwerk an Gesicht und Händen. Um die aufkommende Panik zu unterdrücken, gehe ich Schritt für Schritt rückwärts und bin erleichtert, als ich wieder in der Schlammpfütze lande. In diesem Augenblick ertönt ein Stöhnen. Ich erstarre. Das Stöhnen wiederholt sich. Oder ist es ein Grunzen? Ein Schnaufen? Es muss aus wenigen Metern Entfernung kommen. Ich habe keine Ahnung, um welches Tier es sich handeln könnte. Ein Wildschwein? Bei dem Gedanken wird mir flau im Magen. Schlammpfütze oder nicht – ich sehe nur zu, dass ich weiterkomme, ohne selbst Geräusche zu machen. Blindlings im wahrsten Sinn des Wortes tappe ich so schnell wie möglich weiter. Werde ich verfolgt? Bricht da etwas durchs Unterholz? Meine Sinne sind aufs Äußerste angespannt. Meine Augen habe ich weit aufgerissen, auch wenn es nichts nützt. Mit ausgestreckten Händen und nur noch mit dem Gedanken, heil zurück zu kommen, stolpere ich die letzten Windungen des Weges zurück und bin froh, als ich mich auf freiem Feld weiß und in der Ferne die Lichter der Herberge leuchten.
Eine Vielzahl von Materialeigenschaften erfahren wir haptisch: hart, weich, locker, elastisch, schwer, leicht, flüssig, zäh, rau, glatt, splittrig, scharf, körnig, sandig, staubig, seidig, samtig, klebrig, glitschig, schleimig. Diese und andere fühlen wir nicht nur, wir spüren sie mit, wenn wir Entsprechendes sehen, weil es mit haptischen Erfahrungen assoziiert wurde, und wir spüren sie vielleicht sogar, wenn wir die Wörter hören oder lesen. Sie haben ebenso wie kalt, warm und heiß fast immer eine emotionale Note, gehen unter die Haut. Was wir spüren, berührt uns. Vom Wohligen, Lustvollen bis zum Quälenden, Schmerzhaften sind wir intensiv persönlich beteiligt. Viele Begriffe aus der Haptik überträgt die Sprache in andere Bereiche, und wir wissen, nein wir spüren sofort, was gemeint ist. Wir verstehen gleich, wenn eine Stimme als warm, eine andere als rau, eine dritte als schneidend bezeichnet wird, wenn eine Person als hart, als glatt oder als nachgiebig charakterisiert wird, ob sie sich locker oder steif gibt, widerborstig oder schleimig. Victor von Weizsäcker hat in seinem „Gestaltkreis“ die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen beschrieben, und nirgends ist der Zusammenhang so eng wie im Haptischen. Lassen wir uns einmal mit geschlossenen Augen ein unbekanntes Objekt vorsetzen, das wir dann 68
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ertasten. Wir bewegen die Hände darauf zu und verharren im Moment des ersten Kontakts. Wir spüren die Härte des Materials, die wir bis auf Weiteres für den ganzen Gegenstand annehmen. Aus unserer Bewegung, geleitet von der Berührung, entwickelt sich aus einem ungefähren Etwas allmählich die Gestalt des Objekts. Das gleitende Darüberstreichen wird zum gewölbtem Oberflächenrelief und zum bauchigen Volumen. An glatten Stellen streicht die Hand rascher, an Konturen und Winkeln bewegt sie sich sorgfältiger. Die Hand streicht schneller, solange sie nicht durch Unstetigkeiten gebremst wird. Die Hände umgreifen, was zum Detail wird, fassen in eine Rundung, die zu einer Höhlung wird, und wir erkennen, dass es sich um eine Vase handelt. Die Form hat sich aus der berührungsgeleiteten Selbstbewegung der Hände entwickelt, teils Erwartungen aus früheren Erfahrungen folgend. Der Haptikforscher Geza Revesz meinte 1938, dass Blinde nicht zu einer ganzheitlichen und damit auch nicht zu einer ästhetischen Auffassung eines größeren Gegenstandes kommen können. Dies folgerte er u. a. daraus, dass Blinde in einer Umrisslinie aus Draht wie Abb. 29 keinen Bären erkennen können. Ein solcher Umriss aber ist eine typisch visuelle Konstruktion, die alles, was von vorn zu sehen ist, von der unsichtbaren Rückseite trennt. Eine solche Linie gibt es im Haptischen nicht. Die streichende Hand erfährt stattdessen Oberflächenverläufe. Deshalb besteht zwischen den Formen Abb. 29 und 30 ein grundsätzlicher Unterschied, obwohl sie sich visuell sehr ähnlich sind.
Abb. 29 und 30: Bär als Umrissfigur nach G. Revesz 1938 und als Tonfigur, modelliert von dem kriegsblinden Erich Kühnholz 1976 Der Tastvorgang erfolgt sukzessiv. Daraus ergibt sich nach Revesz, dass keine simultane Gesamtauffassung möglich ist. Diese Annahme ist von dem Wahrnehmungsforscher Theodor Erismann als Reizirrtum erkannt worden. Er zitiert 1951 einen Blindgeborenen, der seine Befunde auf den Punkt bringt: „Ich erfasse, sagte er, die Objekte wohl in der Aufeinanderfolge 69
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ihrer Bestandteile durch meine Bewegungen – aber nachher haben die so erfassten Gegenstände nichts mehr mit Bewegungen zu tun; Bewegungen laufen in der Zeit ab, und wenn ich einen Gegenstand abgetastet habe, so sind die Bewegungen vorbei und nicht mehr –, das Bild des abgetasteten Gegenstandes bleibt aber als räumliche Gegebenheit, als etwas Dauerndes im Nebeneinander und Zugleich der Teile …“17. Diese Auffassung wurde in der Folgezeit vielfach bestätigt. Trotzdem stößt man immer noch auf die Behauptung, dass die visuelle Wahrnehmung simultan, die haptische dagegen sukzessiv erfolge und deshalb hier kein simultanes Wahrnehmungsbild möglich sei. Auch die visuelle Wahrnehmung z. B. einer Wohnanlage erfolgt durch sukzessive Exploration, die letztlich zur Vorstellung eines Ganzen wird. Auf eine besondere Eigenart der haptischen Wahrnehmung gegenüber der visuellen hat Revesz dagegen zu Recht aufmerksam gemacht: das stereoplastische Prinzip. Nehmen wir etwa ein Radiergummi in die Hand und umspielen es mit den Fingern. Wir nehmen ein solch kleines Objekt in seiner plastischen Gänze wahr, von allen Seiten gleichwertig und zugleich, es ist innerhalb der psychischen Präsenzzeit von zwei Sekunden, also innerhalb der erlebten Gegenwart, für uns allseitig vorhanden. Es gibt kein Vorn und Hinten wie für das Auge, keine Perspektivität. Diese Wahrnehmungsweise ist einzigartig. Lassen Sie sich einmal einen beliebigen kleinen Stein in die Hand geben, ohne ihn anzusehen. Versuchen Sie, mit geschlossenen Augen seine Form und Eigenschaften zu erkunden. Sie werden ihn wahrscheinlich zwischen die drei Finger Daumen, Zeige- und Mittelfinger nehmen und ihn während des Ertastens drehen und wenden. Sie nehmen ihn dann gleichzeitig von verschiedenen Seiten wahr, mit verschiedenen Fingern und zudem in ständiger Bewegung. Aus diesem hochkomplizierten raumzeitlichen Vorgang entsteht für Sie allmählich eine immer konkretere Vorstellung von dem Objekt, von seiner Form und Oberflächenbeschaffenheit. Die Erfahrung lässt sich erweitern mit dem Versuch, anschließend eine oder mehrere Zeichnungen davon anzufertigen und schließlich damit zu vergleichen, wie das Objekt aussieht. Es ist ein denkbar einfaches Experiment, aber ich verspreche Ihnen eine unvergessliche Erfahrung. Ein weiterer Unterschied zur visuellen Erlebnisweise liegt in der Bipolarität des Tastens. Wenn ich die Tastatur oder den Touchscreen bediene und fühle, spüre ich zugleich meine Fingerspitzen. Wenn ich jemanden berühre, spüre ich zugleich mich selbst. Wenn ich in einem schmalen Durchgang beide Schultern stoße, nehme ich das Mauerwerk wahr und zugleich die Breite meines Körpers. Mit jeder Hantierung, mit jedem Schritt, mit jeder meiner Bewegungen, die mit einer Berührung verbunden ist, erfahre ich zugleich meine Grenzen und entwickle mein Körper-Ich weiter. Objekterfahrung und Selbsterfahrung gehen Hand in Hand.
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Kurz gesagt: Bei der haptischen Wahrnehmung verbinden sich die Hautsinne mit den Bewegungssinnen. Sie geht uns emotional unter die Haut und scheint besonders realitätsnah, obwohl auch sie sich täuschen lässt. Sie ist stets zweiseitig orientiert: Wir fühlen die Umwelt und uns selbst.
Literatur Grunwald 2017. Guski 1996. Revesz 1938. Schönhammer 2009. Wagener 2000.
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Das Wespennest Wir wohnen in einem Neubaugebiet am Südrand von Unna. Ein großartiger Spielplatz für uns Kinder. Der gelbe Lehmboden eignet sich hervorragend, um kleine Gruben für Murmelspiele und große Gruben für Buden zu graben. Manchmal sitzen wir zu viert in der Bude, haben in einem Öfchen aus Ziegelsteinen Feuer gemacht, über uns ein Dach aus Brettern mit einer Lücke für den Rauch. Die Berge aus Sand und Lehm und die unfertigen Neubauten mit ihrem typischen Zementgeruch reizen zum Versteckspiel. Es könnte so herrlich sein, hätte sich nicht direkt am Rand der Siedlung, an dem Feldweg, der zum Bauern führt, in einem Mauseloch ein Volk von Wespen eingenistet. Es müssen mehrere tausend sein, die dort herumschwirren, täglich werden es mehr, und sie belästigen die Anwohner in wachsendem Maße. Keiner traut sich mehr, Kartoffeln, Steckrüben oder Eier vom Bauern zu holen, denn durch die Roggenfelder zu laufen ist tabu. Irgendwann tun sich ein paar Männer zusammen, die der Sache ein Ende machen wollen. Bergleute und Fabrikarbeiter, die entschlossen zupacken können. Von Artenschutz ist sechs Jahre nach Kriegsende noch nicht die Rede. Nach Feierabend bedecken sie Körper und Gesicht so weit wie möglich mit ihren Monturen, dann geht es mit Stangen und einem Benzinkanister zur Sache. Wir Kinder dürfen nicht mitkommen und beobachten das Ganze nur aus der Ferne. Wir sehen Feuerschein und hören Rufe. Am nächsten Morgen nähere ich mich vorsichtig dem Ort des Geschehens. Ich habe mein Kinderfahrrad dabei, das ich gebraucht zum Geburtstag bekommen habe. Eine Rauchfahne steigt senkrecht aus dem Wespennest empor. Ich lege das Fahrrad ab und gehe auf Zehenspitzen auf das schwarze Loch zu. Es riecht verbrannt, die Stelle ist nass. Es ist unheimlich still, kein Insekt ist zu sehen. Sind wirklich alle tot? Die Neugier treibt mich, und ich mache einen großen Fehler. Ich nehme ein Stöckchen und stochere damit in dem Loch herum. Da ertönt ein drohendes Brummen, und aus dem Loch erhebt sich ein Schwarm, der schnell größer und größer wird. Hastig hebe ich das Fahrrad auf und trete los, weg von der Siedlung, weil der Schwarm mir den Weg versperrt. Ich radle immer schneller. Der Schwarm hält unvermindert mit und umkreist meinen Kopf, so schnell ich auch fahre und der Fahrtwind bläst. Ich trete so heftig, wie ich es mit meinen sieben Jahren kann, ich strample um mein Leben. Das Rad holpert über den ausgefahrenen Lehmweg mit seinen tausend Buckeln, ich fürchte zu fallen und sehe schon vor mir, wie ich dort wehrlos liege, der Schwarm sich auf mich stürzt und alle Wespen auf mich einstechen. So viel Angst habe ich noch nie gehabt. Da! Mitten in der Fahrt setzt sich eine Wespe an mein linkes Ohrläppchen. Ich spüre, wie sie sich mit ihren bekrallten Beinen festhält und zusticht. Ich höre eine zweite Wespe am gleichen Ohr brummen und fühle auch ihren Stich, direkt neben dem ersten. Eine dritte Wespe dröhnt um das Ohr herum,
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und auch sie sticht wie auf Kommando zu. Danach lässt der Schwarm von mir ab und verschwindet. Die Angst macht einem höllischen Schmerz Platz, der sich über die ganze linke Seite meines Kopfes ausbreitet. Auf einem Riesenumweg über die Bauernschaften – denn am Wespennest will ich nicht wieder vorbei – gelange ich ausgepumpt und gequält zuhause an. Dort nimmt sich mein Vater – er ist Arzt – der Sache an. Ich erzähle ihm die Geschichte, etwas undeutlich, denn mein Kopf ist links stark geschwollen und ich kann den Mund kaum bewegen. „Das waren übrigens Erdwespen, keine Gemeinen Wespen“, behauptet mein Vater. Da bin ich allerdings anderer Meinung. „Sie waren wohl ziemlich wütend, als sie nachhause kamen und ihr Nest zerstört war“, sagt er und kühlt dabei mein Ohr. „Als du da herumstochertest, warst du natürlich der Bösewicht, und sie haben ein Strafkommando ausgeschickt. Sei froh, dass sie nach drei Stichen zufrieden waren.“ Seine nüchterne Art, unangenehme Dinge aus der Distanz des Wissenschaftlers zu betrachten, hat mir später oft geholfen. Wenn ich auch in diesem Moment eher Trost erwartet hätte.
Abb. 31: „Schmerz“, Erwin-Josef Speckmann, Künstler und Hirnforscher, Skulptur aus rostendem Stahl, 2007. 73
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Anders gefragt: Welchen Sinn haben Schmerzen und wie kommen sie zustande? Schmerz ist das Schlimmste und Unangenehmste, was man subjektiv empfinden kann. Schmerz ist in erster Linie ein Warnsignal, das helfen soll, den Körper vor schädigenden Einflüssen zu schützen. Wenn wir uns an der heißen Flamme die Finger verbrennen, ziehen wir die Hand zurück. Wenn wir uns den Kopf stoßen oder am rostigen Stacheldraht die Haut aufreißen, passen wir beim nächsten Mal besser auf. Wenn wir Zahnschmerzen haben, muss der Zahn behandelt werden oder raus. In all diesen Fällen dient das unangenehme Erlebnis dazu, noch Schlimmeres zu vermeiden. Es gibt Menschen, die von Geburt an kein Schmerzempfinden besitzen (CIPA-Syndrom). Der seltene Gendefekt ist mit der Unfähigkeit zu schwitzen verbunden. Sie sind nicht zu beneiden. Sie verbrennen sich oft Mund und Körperglieder, ohne dass sie es merken, ihr Körper ist von Narben zahlloser Verletzungen übersät. Sie spüren zwar Druck, aber es tut ihnen nichts weh. Sie beißen Finger, Zunge und Lippen ab, laufen auf entzündeten und gebrochenen Beinen umher, bis es nicht mehr geht. Vormals galt in der Wissenschaft die Auffassung, dass Schmerzen zustande kommen, wenn ein Rezeptor, der z. B. für Druck zuständig ist, übermäßig stark gereizt wird. Aber das war ein Irrtum. CIPA-Patienten sind der Beweis dafür, dass es etwas gibt, was ihnen fehlt. Im Spektrum der somatoviszeralen Sensibilität gibt es Nozizeptoren, freie Nervenendigungen, die bei Gewebeschädigung Aktionspotentiale aussenden. Sie können multimodal sein, also auf verschiedene Reize wie mechanische oder thermische Schädigungen sowie auf Substanzen, die bei Entzündungen freigesetzt werden, reagieren. Der Zellkörper des zugehörigen Neurons sitzt im Rückenmark, wo die Erregung auf ein zweites Neuron weitergeleitet wird, das zum Thalamus führt. Von dort zieht ein drittes Neuron zum Kortex. Der physiologische Begriff Nozizeption und der psychologische Begriff Schmerz müssen unterschieden werden. Im Schlaf etwa können nozizeptive Signale bis zum Thalamus gelangen, aber weil sie nicht zum Kortex weitergeleitet werden, kommt es zu keiner Schmerzempfindung. Andererseits gibt es zentrale und chronische Schmerzen aufgrund von Prozessen im Kortex, denen kein noxischer Reiz zugrunde liegt. Außerdem gibt es neuropathische Schmerzen, die durch Druck oder andere inadäquate Reize auf schmerzleitende Nerven zustande kommen. Gleich, an welcher Stelle solch ein Nerv gereizt wird, der Schmerz wird immer am ursprünglichen Ort der Endigung empfunden. So kommt es bei einem Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule typischerweise zu Missempfindungen an den Fingern. Nach Amputationen tritt sehr häufig „Phantomschmerz“ auf, der jahrelange Beschwerden machen kann. Das amputierte Körperglied, etwa ein Bein, tut weh, obwohl es nicht mehr existiert. Besonders bei Wetterwechsel kommt es zu quälendem Brennen, Stechen 74
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oder Jucken, wogegen der Betroffene machtlos ist. Als Ursache werden u. a. inadäquate Reize im Narbengewebe diskutiert, aber auch Störungen im Körperschema infolge der Amputation. Manche Schmerzen lokalisiert man an anderer Stelle als dort, wo die Schädigung auftritt. Man spricht dann von übertragenem oder projiziertem Schmerz. Das gilt besonders für viszerale Nozizeption, also Schmerzen, die die inneren Organe betreffen. Bei einer Gallenkolik etwa entsteht der Reiz durch Kontraktion der Gallenblase, die im Oberbauch liegt, der Schmerz aber wird in der rechten Schulter wahrgenommen. Bei einem Herzinfarkt werden oft Schmerzen in der linken Schulter bis zum Arm gespürt. Ursache hierfür ist, dass im Rückenmark somatische und viszerale Neurone auf gleiche Nerven zusammenlaufen, die zum somatosensorischen Kortex führen. Zu den häufigsten Schmerzerkrankungen gehört Migräne. Frauen sind etwa doppelt so oft betroffen wie Männer. Sie erfolgt anfallsartig oft mehrmals im Monat und kann Stunden bis Tage andauern. Sie äußert sich oft einseitig im Kopf durch pochende oder stechende Schmerzen. Oft wird sie begleitet von anderen Formen des Unwohlseins wie Übelkeit und Überempfindlichkeit gegen Licht und Lärm. Ein Teil der Betroffenen beobachtet vor oder während der Anfälle eine Aura, flimmernde farbige Zickzack-Muster oder andere Sehstörungen. Die Ursache wird in der zeitweiligen Überaktivität bestimmter Nervenzellen im Hirnstamm angesehen, die den Gesichtsnerv (Trigeminus) anregen, Schmerzsignale an das Gehirn zu senden. Blutgefäße des Gehirns werden gedehnt und entzünden sich. Das Pochen des Schmerzes geht mit dem Puls einher. Die Empfindlichkeit für Schmerzen ist veränderlich. Bei Hyperalgesie ist sie z. B. durch eine Entzündung örtlich erhöht. Bei Allodynie führen Berührungs- oder Temperaturreize zu einer „falschen“ Schmerzempfindung. Viele kennen das: Etwas Kaltes im Mund kann vorübergehend einen stechenden Zahnschmerz verursachen und den Beginn einer Entzündung anzeigen. Die bekannten bohrenden Zahnschmerzen entstehen meistens durch eine Entzündung im Bereich des Zahnnervs, verursacht durch eine tiefgehende Karies. Sie sind wichtiges Signal für die Notwendigkeit einer Zahnbehandlung, ggf. auch einer Extraktion. Wenn der Schmerz ausbleibt, weil der Nerv abgestorben ist, ist das nicht von Vorteil. Denn dann kann die Entzündung unbemerkt auf den Kiefer übergreifen und noch größere Schäden anrichten. An der Schmerzwahrnehmung sind mehrere Bereiche des Kortex beteiligt. Die Lokalisation erfolgt im somatosensorischen Kortex. Die gefühlsmäßige Bewertung in Richtung auf die eigentliche, quälende Qualität des Schmerzes erfolgt in Zentren wie dem Gyrus cinguli, der Inselrinde und der Amygdala, die im Innern des Großhirns liegen. Neben den aufsteigenden afferenten Bahnen der Nozizeption gibt es efferente, die die Schmerzintensität verändern. Der Körper selbst kann z. B. Endorphine produzieren, die auf die Signalübertragung an den 75
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Synapsen hemmend wirken. Bekannt geworden sind Beispiele von z. T. schweren Verletzungen bei Soldaten, die weiterkämpften, weil sie zunächst nichts spürten. Schon bloßes Jogging setzt Endorphine frei, die nicht nur high machen, sondern auch Schmerzen verringern. Schmerzlindernde Medikamente (Analgetika) wirken ebenfalls hemmend auf die synaptische Signalübertragung. Der Saft der Mohnpflanze wurde bereits von Hippokrates (5.–4. Jahrhundert v. C.) angewandt. Lokalanästhetika hemmen dagegen schon die Entstehung von Signalen am Ort des Reizes. Unter Vollnarkose wird der Organismus in den Zustand eines künstlichen Schlafes versetzt. Das Bewusstsein und damit auch die Schmerzempfindung werden vorübergehend ausgeschaltet. Dies geschieht heute durch eine Kombination unterschiedlicher Substanzen, darunter auch Opioiden, die inhaliert oder injiziert werden. Lachgas (N2O) wurde im 19. Jahrhundert zuerst auf Jahrmärkten zur Belustigung verwendet, bevor es in der Medizin als Narkosemittel zum Einsatz kam. Inzwischen hat es sich zur Party-Droge entwickelt, die allerdings nicht nur zu Erheiterung, sondern auch zu Bewusstlosigkeit führen kann. Dadurch, dass aufsteigende Afferenzen der Nozizeption durch Efferenzen aus höheren Hirnzentren oder durch Reizung anderer Hautsinne moduliert werden können, ist auch nichtmedikamentöse Schmerzreduzierung möglich, etwa durch Akupunktur, TENS oder Hypnose. Im ersten Fall werden bestimmte Hautpartien durch Nadeln gereizt mit der Absicht, dadurch z. B. Muskelverspannungen zu lösen oder innere Organe zu beeinflussen. Bei TENS erfolgt eine elektrische Nervenstimulation über die Haut, die in die schmerzhaften Körperregionen andere Empfindungen überträgt und so die Schmerzerregung maskiert. Hypnose diente wie Lachgas ursprünglich zur Publikumsunterhaltung, bevor sie von dem Neurologen Jean-Martin Charcot in die Medizin übernommen wurde. Inzwischen gibt es zahlreiche Forschungen zum neurobiologischen Hintergrund der Hypnose.18 Der Proband wird in einen schlafähnlichen Zustand gebracht mit dem Unterschied, dass die Kommunikation mit dem Hypnotiseur aufrechterhalten bleibt. Hierbei wird der Schmerz vorstellungsmäßig isoliert und reduziert mit dem Ziel, ihn auch im Wachbewusstsein nicht mehr als störend zu empfinden. Innerhalb gewisser Grenzen ist eine Schmerzreduzierung auch durch Autosuggestion zu erreichen, besonders zusammen mit Entspannungsverfahren wie beim autogenen Training. Der umgekehrte Fall – die unerwünschte Steigerung von Schmerzen durch zentralnervöse Verarbeitung – kann durch das sog. Schmerzgedächtnis entstehen. Wiederholte Schmerzen hinterlassen Spuren in Rückenmark und wahrscheinlich auch im Gehirn. Sie führen zu einer Verstärkung und Vermehrung synaptischer Verbindungen, die eine Vervielfachung eingehender Schmerzsignale bewirken. Dem kann z. B. durch Lokalanästhetika im Rückenmark entgegengewirkt werden.
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Schmerzqualität und Schmerzintensität sind bislang nicht zu objektivieren. Daher gibt es auch immer wieder Streit darüber, ob und wieweit Tiere Schmerz empfinden (z. B. beim Angelsport). Bis in die 1980er Jahre war die Überzeugung verbreitet, dass Neugeborene keine Schmerzen empfinden, und man führte Operationen ohne Betäubung durch.19 Schmerz ist nicht nur eine intensiv unangenehme Empfindung, sondern zugleich ein Motiv zur Vermeidung der Ursache. Häufig kann, wo man selbst machtlos ist und die Menschen sich Jahrtausende lang quälten, die Medizin heute helfen. Appendizitis (Blinddarmentzündung) ist mit starken Schmerzen verbunden und kann tödlich enden, doch seit Ende des 19. Jahrhunderts hilft eine Operation, die inzwischen Routine ist. Sinnlos wird Schmerz, wenn es nichts gibt, wovor er warnen und was man abstellen könnte, wenn man ihm, wie bei chronischen Schmerzen, durch nichts entrinnen kann, wie etwa bei unheilbarem Bauchspeicheldrüsenkrebs. Dann kann er so übermächtig werden, dass man keinen klaren Gedanken mehr fassen kann und sich den Tod wünscht. In diesem Fall helfen nur noch starke Schmerzmittel wie etwa Opioide. Sie wirken, indem die Weiterleitung von Schmerzreizen unterbrochen wird dadurch, dass die Rezeptoren an Synapsen fremdbesetzt werden. Manche Menschen fügen sich selbst Schmerzen zu; so kann das „Ritzen“ der Arme, das bei jungen Erwachsenen häufiger vorkommt, eine Reaktion auf psychische Belastungen sein. Den körperlichen Schmerz empfinden sie als eine Entlastung, die allerdings nur vorübergehend wirkt. Hier verspricht eine psychotherapeutische Behandlung Aussicht auf Erfolg. Wenn jemand nach Schmerz und Erniedrigung verlangt, um zu sexueller Erregung zu gelangen, liegt eine masochistische Störung vor. Sie gilt als nicht behandelbar. Für das Thema Bewusstsein spielt der Schmerz eine besondere Rolle. Als Gegenpol zur Freude ist er der Diabolus im Spektrum des Erlebbaren, auf dessen Störfeuer man im Allgemeinen gern verzichten möchte. Andererseits gibt es nichts, was das Erlebte so prägnant als eigene Wirklichkeit gegenüber der physikalischen Realität kennzeichnet wie der Schmerz: I hurt myself today To see if I still feel I focus on the pain The only thing that’s real Johnny Cash: „Hurt“20
Kurz gesagt: Schmerzen sind Warnsignale. Menschen ohne Schmerzempfinden können in lebensbedrohliche Situationen kommen. Schmerzen werden durch bestimmte Reize hervorgerufen oder durch Störungen in Hirnregionen, die für die Empfindungen zuständig sind. 77
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Im letzteren Fall sind sie nur eine sinnlose Qual. Sie können äußerlich oder zentralnervös gemildert werden.
Literatur Kleinsorge & Klumbies 1959. Sandkühler 2001. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019. Zenz 2006.
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Der Geschmack von Tinte Das erste dreisilbige Wort, das ich sprechen konnte, war „Appetit“. Das war für mich als Flüchtlingskind in den schlechten Nachkriegsjahren außerordentlich nützlich. Denn jeder hatte Spaß daran, diese Äußerung aus dem kleinen Dötz hervorzulocken und ihn dann zu verwöhnen. Darüber hinaus entwickelte ich eine Eigeninitiative, die peinlich werden konnte, wenn wir zu Besuch waren. Nie vergaß meine Mutter zu erzählen, wie ich einmal, als niemand hinsah, vom Tisch der Gastgeberin eine ganze Monatsration Butter stibitzte. Das war ein Viertelpfund, und bevor jemand herbeistürzen konnte, hatte ich sie schon verputzt. Nachdem meine Mutter mich ein- oder zweimal zum Kindergarten gebracht hatte, musste ich den langen Weg allein laufen. Er führte durch den „Vogelsang“, ein bewaldetes Tal mit einem Bach und über hügelige Felder in den Nachbarort, wo ich an den „Krüppelanstalten“ vorbeikam, wie sie damals unverblümt hießen. Meine Unbefangenheit, überall hineinzuspazieren, hatte mir auch dort viele Freunde beschert. Da war der Mann mit dem Krukenberg-Arm, der mir mit der Unterarmzange einen Apfel reichte. Da war der Mann, der mit zwei künstlichen Händen auf der Schreibmaschine tippte und mich Pfefferminztee trinken ließ. Da war der beidseitig Oberschenkelamputierte, auf dessen flachem Wägelchen ich herumfahren durfte. Unweit befand sich das Diakonissenhaus, wo ich gern die Stufen zur Haustür hochkletterte, denn die freundlichen Schwestern mit den weißen Hauben hatten immer ein paar Plätzchen für mich übrig. Wenn ich dann – regelmäßig zu spät – beim Kindergarten ankam, hatte ich oft keinen Hunger mehr und verzichtete gern darauf, dass mir der bittere Schokoladenpudding in meine Blechtasse gefüllt wurde. Ich muss drei oder vier Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter mit mir in einem feinen Haus mit geschnitzten Möbeln zu Besuch war. Fremde Wohnungen weckten stets meine Neugier, sie rochen stets anders und waren voll neuer Dinge. Auf dem dunklen Schreibtisch stand ein Tintenfass. Ich weiß noch, wie ich es greife, kurz an der schwarzen Öffnung rieche und dann die interessante Flüssigkeit austrinke. Vielleicht habe ich das Alleinstellungsmerkmal zu wissen, wie Tinte schmeckt. Die seinerzeit übliche Eisengallustinte soll ja giftig sein, aber es hat mir offenbar nicht nennenswert geschadet. Bis heute weiß ich den Geschmack von damals, aber ich kann ihn nicht hinreichend beschreiben, außer, dass er etwas sauer war. Auch an Gerüche von früher erinnere ich mich, ohne dass ich sie beschreiben könnte. Noch heute weiß ich, wie es in Tante Lissas Schublade roch, in der die Buntstifte lagen. Ich würde den Geruch sofort wiedererkennen, doch seit meiner Kindheit ist er mir nicht mehr untergekommen. Vielleicht rührte der Geruch von den blauen Kopierstiften her, die dabei
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lagen, und an denen ich auf keinen Fall lecken durfte (wie es Onkel Willi immer tat), weil sie giftig waren. Der Weg zur Volksschule führte durch eine langgestreckte Siedlung. Ich freute mich jedes Mal auf den ausgedehnten Heimweg, denn dann wurde überall Mittagessen gekocht. Ich genoss es, die Gerüche einzuatmen, die mich umwehten, und nacheinander aß ich in meiner Vorstellung mit. Es gab Blumenkohl und Erbsensuppe, Steckrüben, Milchreis und Bratkartoffeln, bei manchen Häusern sogar Braten, der bei uns zuhause immer nur sonntags auf den Tisch kam. Manchmal machte ich einen Umweg beim Bäcker vorbei, nur um den herrlichen Geruch frisch gebackenen Brotes genießen zu können. Der Hunger wurde auf dem Heimweg nicht gestillt, der Genuss aber war königlich.
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Woher kommen Riechen und Schmecken?
Anders gefragt: Wie unterscheiden wir, welche Substanzen uns guttun und welche nicht? Wenden wir uns zunächst dem Geruch zu. Der Mensch kann etwa 10 000 Gerüche unterscheiden. Damit kommt er fast auf die gleiche Anzahl wie ein Hund, dessen Geruchssinn ja besonders ausgeprägt ist, allerdings braucht der Mensch eine höhere Konzentration der Geruchsstoffe, um sie wahrnehmen zu können, weil er weniger Riechzellen in der Nasenschleimhaut besitzt. Gerüche entziehen sich weitgehend der Beschreibung. Trotz mancher Versuche ist es nicht gelungen, ein Ordnungssystem der Gerüche zu schaffen. Urin riecht nach Urin, Rosen riechen nach Rosen. Häufige Benennungen wie fruchtig, blumig, faulig, würzig, brenzlich, harzig, animalisch beziehen sich auf Quellen, die selbst nur unscharf bestimmt sind. Früchte riechen verschieden und manche Blumen stinken. Wenn Parfumeure oder Sommeliers Aromen beschreiben, dann klingt das für den Laien oft gestelzt. Doch ihnen sind mehr Geruchsquellen geläufig, und so ist die Feststellung von einem Hauch Zeder oder Eiche, Vanille, Lakritze, Anis, Pfeffer, Nelken, frischem Gras oder Heu für den Kenner durchaus eine sinnvolle Mitteilung und umschreibt die Valeurs einigermaßen nachvollziehbar. Gerüche sind grundsätzlich emotional getönt, sie muten angenehm oder unangenehm an, wobei nur 20 % aller Gerüche als angenehm empfunden werden. Im Gesichtsausdruck zeigt sich: Wohlgeruch ruft ein Lächeln hervor, Gestank dagegen den Ausdruck von Ekel. Schwächere Konzentrationen sind angenehmer als starke. Es gibt Gerüche, die mit der Konzentration ihre Qualität ändern. Die Substanz Jonon, die viele Pflanzen verströmen, riecht in geringer Konzentration nach Veilchen, in hoher Konzentration nach Holz. An viele Gerüche adaptiert man schnell. Zigarettenrauch in einem Raum wird nach kurzer Zeit kaum noch bemerkt (und 80
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Woher kommen Riechen und Schmecken?
bleibt nichtsdestoweniger schädlich). Solche „Gewöhnung“ gibt Raum für die Wahrnehmung anderer Gerüche. Gerüche werden lange im Gedächtnis behalten. Besonders im episodischen Gedächtnis, in dem persönliche Erlebnisse Niederschlag finden, sind Gerüche stark verankert, obwohl sie sprachlich nicht bezeichnet werden. Die Rede vom „Stallgeruch“ besagt: Das vertraute Milieu riecht angenehm, auch im weiteren Leben. Fremde stinken, ist aus beiden Richtungen zu hören und kann das soziale Miteinander erschweren. Jemanden „nicht riechen können“ ist oft wörtlich zu verstehen. Essgewohnheiten und Stoffwechselstörungen tun ein Übriges. Geruch und Geschmack werden seit Platon und Aristoteles als „niedere Sinne“ bezeichnet, weil sie angeblich nicht, wie Hören und Sehen, der Erkenntnis dienen. Vergil hatte offenbar eine andere Auffassung. Er beschreibt eine Begegnung des Helden Aeneas mit seiner Mutter, der Göttin Venus. Im Gespräch und von Angesicht erkennt er sie nicht. Sie wendet sich von ihm ab. „Da erglänzt ihr rosiger Nacken. Und göttlicher Duft entströmt aus ihren ambrosischen Locken ihr von dem Scheitel. Das Kleid floss wallend herab zu den Füßen, und sie erschien ganz Göttin im Schreiten. Und jener erkannte plötzlich die Mutter.“21 Nicht im Hören ihrer Stimme, nicht im Anblick ihres Gesichtes erkennt er die Göttin, sondern erst im Gang und im ambrosischen Geruch ihrer Locken. Für das Leben und das Lebensgefühl haben Geruch und Geschmack entscheidende Bedeutung. Sie haben unverzichtbare Türsteherfunktion für das, was wir in uns aufnehmen und wovon unser Überleben abhängt. Wie sehr Verlust oder Änderung des Geruchssinnes Einschränkung von Lebensqualität bedeutet, ist in der Corona-Pandemie seit 2020 weltweit deutlich geworden, weil das Sars-CoV-2-Virus ihn vorübergehend ausschalten oder verfremden kann. Nicht selten trat Parosmie auf, bei der Vieles anders und vor allem unangenehm riecht. Speisen und Getränke können verfault und widerlich riechen, sodass Übelkeit erzeugt wird. Partielle Geruchsblindheit (Anosmie) ist in der Bevölkerung recht häufig. Beispielswiese können 40 % keinen Urin riechen, 36 % kein Malz und 7 % keinen Fisch. Dies ist genetisch bedingt und weist darauf hin, dass der olfaktorische Sinn (Geruchssinn) in der Regel über einen angeborenen Grundbestand von Rezeptorarten verfügt. In seltenen Fällen tritt Phantosmie auf, eine Geruchshalluzination, die sich ohne das Vorhandensein eines entsprechenden Riechstoffes bemerkbar macht. Im Tierreich spielen Pheromone, also Duftstoffe, mit denen Artgenossen kommunizieren, eine zentrale Rolle, insbesondere bei der Sexualität. Manche Fluginsekten nehmen die Pheromone eines Sexualpartners auf mehrere Kilometer Entfernung wahr. Auch bei Säugetieren wird die Paarungsbereitschaft durch Pheromone signalisiert, oft durch ein besonderes Geruchsorgan, das vomeronasale Organ, das etwa beim „Flehmen“ der Pferde aktiviert wird. Beim Menschen hat man Reste davon in der Nasenscheidewand gefunden, doch ist unklar, ob es noch eine Funktion hat. 81
Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 32: Bei Ameisen wird jeder, der nicht den Duft der eigenen Königin trägt, zum Feind. Einschlüsse in 45 Millionen Jahre altem Bernstein zeigen Kämpfe unter Artgenossen. Als sie vom flüssigen Harz eingeschlossen wurden, konnten sie sich nicht mehr riechen und begannen, sich gegenseitig zu zerstückeln. Für den normalen Geruchssinn des Menschen gibt es Substanzen, die aphrodisierend wirken können und von der Parfumindustrie entsprechend verwendet werden. Dazu gehören pflanzliche Düfte wie Jasmin und Sandelholz sowie tierische Düfte wie Moschus und Ambra. Auch der körpereigene Geruch der Geschlechter ist beim Menschen noch wirksam, wenn auch sehr ambivalent und individuell. Als Napoleon Bonaparte seiner Josephine schrieb „Nicht waschen – komme in drei Tagen“, meinte er sicher nicht die schmutzige Wäsche. Die Behaarung im Schambereich hat die biologische Funktion, den sexuellen Eigengeruch zu verstärken. Das gilt auch für die Behaarung der Achseln. Besonders auffällig ist die Ambivalenz gegenüber männlichem Achselschweiß, in dem ein Testosteronderivat wirksam ist. Viele Frauen finden ihn vor und während der Ovulation anziehend, außerhalb dieser Zeit abstoßend. Sich zu Waschen galt in früheren Jahrhunderten als Risiko zu erkranken. Tatsächlich werden Cholera und Typhus durch verunreinigtes Wasser übertragen. So wurde es besonders im Rokoko Mode, Körperausdünstungen mit Puder und Parfum zu überdecken. Und obwohl heutzutage unser Trink- und Waschwasser besten Ruf genießt, werden verbleibende Körpergerüche durch eine zunehmende Zahl von künstlichen Odeurs, Parfums und Deodorants hinter dem Paravent der Scham versteckt. 82
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Woher kommen Riechen und Schmecken?
Der olfaktorische Sinn hat 20 Millionen Rezeptoren hauptsächlich im Nasendach. Jeder Rezeptor hat mehrere Zilien, dünne Fortsätze, die in die Schleimhaut der Nase ragen. Die Zilien tragen Rezeptormoleküle, an denen jeweils bestimmte Duftstoffe andocken und damit ein Signal auslösen. Viele Duftstoffmoleküle passen an die Rezeptoren räumlich wie ein Schlüssel zum Schloss, andere scheinen mit den Rezeptoren chemisch zu reagieren. Jeder Rezeptor trägt einen Typ von 380 verschiedenen genetisch bestimmten Rezeptormolekülen. Der Mensch hat nur 3 Gene für das Farbensehen, aber ca. 1000 Gene für Duftrezeptoren, von denen die meisten gar nicht genutzt werden – Reminiszenzen aus längst vergangenen Epochen unserer Evolution.
Abb. 33: Aufsicht auf das Siebbein an der vorderen Schädelbasis. Unter der millimeterdünnen Knochenplatte liegt die Nasenhöhle. Die weißen Löcher sind die Durchtrittsstellen der Axone der Riechzellen. Diese münden in die Riechkolben, die als Teile des Gehirns paarig in den beiden Furchen links und rechts im Bild zu liegen kommen. Grobes Vorgehen bei Corona-Tests führte vereinzelt dazu, dass das Siebbein durchstoßen wurde und Hirnwasser austrat. Die Axone der Riechzellen laufen vom Nasendach durch die Löcher im Siebbein des Schädels direkt in den Riechkolben, einen vorgeschobenen Teil des Gehirns. Damit ist der Weg vom Reiz ins Gehirn so kurz wie bei keinem anderen Sinn. Die Signale der Axone münden in zu ihrem Typ passende spezifische Nervenknäuel. Diese Glomeruli im Riechkolben entsprechen 83
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den 380 Typen von Rezeptoren. Andere Hirnregionen können die Aktivität im Riechkolben modifizieren. Z. B. neigen die Glomeruli bei Hunger, Durst und Sex dazu, synchron zu feuern. Bei einem Auffahrunfall kann es zu einem Totalverlust des Geruchssinnes kommen, wenn die Scherkräfte am Siebbein die Neuronen zerschneiden. Allerdings ist eine teilweise Regeneration möglich. Denn die 20 Millionen Riechzellen und die Zellen des Riechkolbens gehören zu den Neuronen des Menschen, die ohnehin ständig erneuert werden. Die Erregungen im Riechkolben lassen sich mit einem Elektroolfaktogramm, das technisch dem EEG (Elektroenzephalogramm) entspricht, sichtbar machen. Bei unterschiedlichen Gerüchen ergibt sich, wenn die Glomeruli synchronisiert feuern, ein jeweils spezifisches Muster. Damit zeigt sich ein Ansatz, mit dem sich Geruchsqualitäten bestimmten Erregungsmustern im Gehirn zuzuordnen lassen.22 Aus dem Riechkolben werden die Signale in drei Strängen weitergeleitet: Mit dem ersten treten beide Riechkolben in Verbindung, was über Intensitätsunterschiede eine Richtungsbestimmung des Duftes ermöglicht, der zweite innerviert den vorderen Kortex, wo Handlungsentscheidungen getroffen werden, und den Thalamus, das übergreifende Sinneszentrum. Der dritte führt über die Amygdala, wo die emotionale Bewertung erfolgt, zum Riechkortex, dessen Arbeit für die bewusste Wahrnehmung von Gerüchen notwendig ist. Er liegt direkt oberhalb der Riechkolben. Wenig bekannt ist, dass bei der Geruchswahrnehmung nicht nur die genannten Rezeptoren im Nasendach tätig werden, sondern zudem freie Nervenendigungen in der Schleimhaut von Mund und Nase. Sie gehören zum Trigeminus-Nervensystem, weshalb man von der trigeminalen Chemorezeption spricht. Sie machen sich besonders bei stechendem Geruch und scharfem Geschmack bemerkbar, wobei gelegentlich die Grenze zum Schmerz überschritten wird, z. B. bei Chlor, Ammoniak, Senf, Meerrettich, Chili und Alkohol. Vom 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurde bei Ohnmachtsanfällen zum Erwecken gern Riechsalz verwendet (heute nicht mehr, weil Rütteln an der Schulter genauso gut hilft). Auch diese Ammoniakverbindung gehört zu den Geruchsstoffen, deren Reiz vom Trigeminus zum Gehirn geleitet werden.
Geschmack Feinschmeckern wird eine feine Zunge nachgesagt. Doch wer das Experiment macht, mit zugehaltener Nase eine Mahlzeit genießen zu wollen, wird schnell bemerken, dass man allein mit der Zunge in einer gustatorischen Einöde landet. Neben der unüberschaubaren Vielzahl von Gerüchen kann man die reinen Geschmacksqualitäten an einer Hand abzählen. Seit 1864 werden die Grundqualitäten süß, sauer, salzig und bitter unterschieden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Japan „Umami“ entdeckt, das so viel wie „lecker“ bedeutet und 84
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Woher kommen Riechen und Schmecken?
herzhaftem Fleischgeschmack entspricht. Inzwischen ist Umami international als fünfte Qualität anerkannt. Untersuchungen legen nahe, in die Liste auch alkalisch, metallisch und fettig aufzunehmen. Der chemische Nahsinn Geschmack ist zusammen mit dem Geruch von elementarer Bedeutung für einen funktionierenden Stoffwechsel und damit für das Überleben. Er prüft Substanzen darauf hin, ob sie für uns bekömmlich oder abträglich sind. Es ist der älteste Sinn. Schon Einzeller sind darauf angewiesen zu prüfen, welche Substanzen sie aufnehmen bzw. abweisen müssen. Ihr Verhalten zeigt Appetenz und Aversion und damit eine Milliarden Jahre alte Vorstufe zu Appetit und Ekel, wie wir es kennen. Während Fische und Würmer Geschmack mit der Körperoberfläche aufnehmen, manche Insekten wie unsere Stubenfliege auch mit den Füßen, nehmen wir ihn, wie bei den meisten Tieren üblich, im Eingangsbereich des Verdauungstraktes wahr.
Abb. 34: Für jeden Geschmackstyp sind überall auf der Zunge Geschmackszellen verteilt, allerdings in unterschiedlicher Dichte.23 Süß und Umami sind für uns positive Qualitäten. Süß sind Kohlehydrate, lebensnotwendige Energieträger. Unsere fernen Vorfahren mussten danach suchen und verbrauchten dabei Energie. Heute bekommen wir den billig herzustellenden Zucker im Überangebot und nehmen zu, weil unsere Körperzellen ihn für schlechte Zeiten in Fett verwandeln, statt dass wir seine Energie bei körperlicher Bewegung verbrauchen. Leider ist die Evolution nicht schnell genug, um die Wirkung des angeborenen Süß-Rezeptors den Gegebenheiten unserer Zivilisation anzupassen, mit dem bekannten Problem des Übergewichts. Umami dient dazu, dass unser Bedarf an Proteinen erfüllt wird. Hier sind es Umweltprobleme durch den milliardenfachen Appetit auf leckeres Fleisch, die ein zivilisatorisches Gegensteuern notwendig machen. Die Ernährungsindustrie ist dabei, pflanzliche Eiweißlieferanten wie Hülsenfrüchte, Nüsse und Getreide so aufzuarbeiten oder Fleisch im Labor zu züchten, dass das Verlangen nach Umami und Proteinen hinreichend befriedigt wird. Sauer und salzig, vor allem aber bitter sind oft Warnsignale bei giftigen Stoffen. Es ist bezeichnend, dass wir 25 Gene für die Wahrnehmung von Bitterstoffen haben, aber nur drei für 85
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Süßes. Die Bedeutung dieses Schutzes zeigt sich auch daran, dass die Empfindungsschwelle für bitter am niedrigsten ist. Positiv an Bitterstoffen ist, dass sie die Bildung von Magen- und Gallensaft und dabei den Appetit anregen. Säuren und Salze benötigen wir in geringen Mengen, etwa Vitamin C (Ascorbinsäure) und Elektrolyten für die Nerven- und Muskelfunktionen. Entsprechend sind wir für diese Stoffe in kleiner Dosis empfänglich, in hoher Konzentration widern sie uns an. Kochsalz in sehr geringer Konzentration erscheint uns sogar süß. Geschmacksempfindungen beeinflussen sich gegenseitig: Destilliertes Wasser schmeckt sauer, wenn zuvor Süßes genossen wurde, und schmeckt süß, wenn zuvor Saures genossen wurde. Zu einem vollen Geschmackserlebnis gehört die Vielfalt, und so suchen vor allem Erwachsene auch Qualitäten, die über das lediglich Süße und Angenehme hinausgehen. Typisch ist der Genuss der Pampelmuse, die zugleich süß, sauer und bitter ist. Da auch Geschmäcke adaptieren und dadurch gleichbleibende Nahrung über kurz oder lang fad wird, ist häufiger Wechsel angesagt. Es macht einen Unterschied, ob wie bei der frühen Astronautennahrung alle Substanzen zu einem Einheitsbrei verquirlt sind oder ob der Teller für Abwechslung sorgt. Nicht alles eignet sich, wie jeder Koch z. B. von Kräutern weiß, gleich gut zum Kombinieren. Saures und Süßes steigern sich gegenseitig in der Wirkung. Reizhunger, der über das Bekömmliche hinausgeht, kann gefährliche Folgen haben bis zu Wettbewerben darum, wer den höchsten Scoville-Wert – ein Maß für die Schärfe – beim Genuss von Chili oder gar bei Dragon’s Breath erträgt. Das volle Geschmackserlebnis braucht vor allem den Beitrag des Geruchssinnes mit seinen vielen tausend Qualitäten. Aromen wie z. B. Minze beeinflussen die Süße. Da jede Qualität in verschiedenen Intensitätsgraden realisiert werden kann, ist die Vielfalt von Geschmackserlebnissen schier unerschöpflich. Beim Essen spielt das retronasale Riechen eine wichtige Rolle, bei dem die Riechstoffe aus dem Rachenraum zum Nasendach aufsteigen. Man achte einmal darauf, wie beim Essen und dem gleichzeitigen Ausatmen durch die Nase der Geschmack gesteigert wird! Entsprechendes kann man beim Genuss von Wein beobachten. Ähnlich wie beim Tasten Hautsinn und Bewegungssinn zusammenwirken, so vereinigen sich beim Schmecken zwei Sinne, Geruch und Geschmack. Geschmackszellen finden sich auf der Schleimhaut der Wangen, des Gaumens und des Rachens, vor allem aber auf den warzenartigen Geschmackspapillen der Zunge. Sie tragen Rezeptoren für mehrere Geschmackstypen. Alle sind am Zungengrund und am Rand der Zunge zu finden. Rezeptoren für süß finden sich an der Zungenspitze konzentriert, für salzig an den vorderen Zungenseiten, für sauer an den hinteren Zungenseiten, für bitter im hinteren Zungenbereich. Außerdem trägt die gesamte Zungenoberfläche taktile Rezeptoren, besonders dicht an der Spitze. Dass für stechenden Geruch und scharfen Geschmack Rezeptoren in der Schleimhaut von Mund und Rachen zuständig sind, wurde bereits erwähnt. Geschmackszellen werden wie Geruchszellen etwa alle zwei Wochen erneuert. Sie haben keine eigenen Axone, sondern geben ihre Signale durch gesonderte Nervenfasern ab. 86
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Woher kommen Riechen und Schmecken?
Verschiedene Nerven führen von den Schmeckzellen zum Hirnstamm, dem phylogenetisch ältesten Hirnbereich. Sie innervieren hier zahlreiche vegetative, also nicht bewusst gesteuerte Funktionen wie Speichelfluss, Schlucken und Würgen. Andere Fasern führen zur Amygdala (Mandelkern), die wesentlich an der emotionalen Bewertung der Signale beteiligt ist, und zu gemeinsamen Arealen mit dem olfaktorischen System, das oberhalb der Augenhöhlen liegt. Für das Zustandekommen bewusster Geschmackserlebnisse sind weitere Nervenfasern zuständig, die zum Thalamus und von dort zu den Geschmacksfeldern führen. Sie liegen neben dem Bereich des somatosensorischen Kortex, in dem der Mundraum repräsentiert ist. Kurz gesagt: Riechen und Schmecken sind am Eingang des Verdauungstrakts die entscheidenden Sinne für das, was der Körper braucht und was er nicht verträgt. Für Unangenehmes gibt es mehr Rezeptoren als für Angenehmes. Unser Hang nach Süßem entstammt einer Zeit, als noch viel Energie darauf verwendet werden musste, es zu erlangen. Jetzt führt er zu ungesundem Übergewicht.
Literatur Burdach 1988. Gruber 2001. Guski 1996. Monyer 2005. Schönhammer 2009. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Auf dem Brückengeländer Ich hatte immer lange Schulwege und liebte sie mehr als die Ziele. Zur Volksschule in Unna führte der Weg an einer Müllkippe vorbei, auf der es stets etwas Interessantes zu sehen und zu finden gab. In Soest nahm ich den Weg über den Stadtpark, wo ich als Sextaner im Frühjahr reichlich Maikäfer fand und wo es durch das Osthofentor hindurch ging, das mit spannenden Waffen aus dem Mittelalter vollgestopft war. In Münster ging es zum Gymnasium über den grünen Promenadenring am Buddenturm und am Zwinger vorbei, die beide eine unheimliche Vergangenheit hatten. Auf den Wegen musste jedes Gartenmäuerchen, die Mauer des Stadtwalls, jede Rasenbegrenzung und jeder herumliegende Balken dazu herhalten, dass ich darüber hin balancierte. Straßen ging ich auf dem Bordstein entlang. Im Osten von Soest verläuft mein Schulweg über eine Brücke, die über eine doppelgleisige Bahnlinie führt. Gern schaue ich langen Güterzügen zu und zähle die ratternden Waggons unter mir. Eines Tages sticht mich der Hafer. Ich will die Brücke auf dem eisernen Geländer überqueren. Es ist etwa so breit wie meine Hand und vielleicht einen Steinwurf lang. Das muss doch zu schaffen sein. Ich schaue mich um. Es ist kein Mensch zu sehen, der mich davon abhalten könnte. Es ist kein Auto in der Nähe, das mich stören könnte. Ich schwinge mich auf den Anfang des Geländers, richte mich auf und rücke den ledernen Schulranzen zurecht. Es ist ja doch recht tief bis zu den Gleisen, bestimmt tiefer als beim Fünfmeterbrett im Freibad. Aber das hält mich nicht davon ab, meinen Plan zu verwirklichen. Fuß vor Fuß gehe ich vorwärts. Es ist merklich anders an als beim Gang über eine Mauer, aber ich finde meinen Rhythmus, fühle mich sicher, die Sache gelingt, es ist großartig. Doch jäh endet der Höhenflug der Gefühle. Ich habe etwa die Hälfte geschafft, als sich ein Zug nähert. Die Dampflok keucht heran, tutet durchdringend, und noch einmal. Das Rattern wird stärker und ist im vibrierenden Geländer zu spüren. Schon ist die Lok unter mir. Die Rauchwolke aus dem paffenden Schornstein hüllt mich ein. Ich sehe nichts mehr. Rußpartikel fliegen mir in die Augen, dass sie brennen. Ich beginne zu schwanken, greife ins Leere. Angst überfällt mich, ich springe zur linken Seite ab, zur richtigen Seite. Auf dem Boden der Brücke zittern mir die Knie. Meinen Eltern habe ich die Geschichte nie erzählt. Es reichte, mir den Schrecken vorzustellen, den der Lokführer empfunden haben mag, als er den kleinen Schuljungen hoch oben auf dem Brückengeländer balancieren sah. 10 Jahre später stehe ich an einem Bachbett, über das ein Baum gefallen ist. Der Stamm führt in vielleicht zwei Meter Höhe über das Wasser. Eine Kleinigkeit, denke ich. Ich setze den Fuß darauf und mache den ersten Schritt. Ich wackle hin und her, rudere mit den Armen. Die Knie werden weich, ich steige ab. Warum geht es nicht mehr? Bin ich unbeholfener geworden? Oder ängstlicher? Ich
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rette meine Selbstachtung und sage mir, dass ich außer Übung bin, besser noch: dass ich vernünftiger geworden bin.
Abb. 35: Zum ersten Mal mache ich die Erfahrung, etwas verlernt zu haben. Als Kind wäre ich mit Leichtigkeit über diesen Baumstamm balanciert, als Erwachsener bringe ich es nicht mehr fertig.
13 Warum fallen wir nicht um? Anders gefragt: Woher wissen wir, in welcher Lage sich unser Körper befindet? Unter Astronauten ist bekannt, dass Frank Borman, Kommandant von Apollo 8, sich auf dem ersten Flug um den Mond mehrfach erbrochen hat. Was das in der engen Raumkapsel bei aller Freude über den Anblick der Mondrückseite und des blauen Planeten Erde für die Insassen bedeutete, kann man sich ausmalen. Schwerelosigkeit ist ein Zustand für den menschlichen Körper, für den uns die Evolution nicht eingerichtet hat, und der auch nach längerer Übung nicht von jedem in gleicher Weise bewältigt wird. Kinetose (Reisekrankheit) ist den meisten Menschen vertraut. Fast alle Formen treten in Situationen auf, die unsere fernen Vorfahren nicht kannten und für die wir biologisch nicht 89
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eingerichtet sind. Vielen Menschen wird auf einem Schiff bei Seegang übel, in der Achterbahn, im Flugzeug oder schon als Beifahrer im Auto. Im 360-Grad-Kino wird bei Kamerafahrten manchem schwindlig und er fällt hin, weil seine vermeintlichen Ausgleichsbewegungen nicht der Realität entsprechen. Gleiches kann beim Tragen von Virtual-Reality-Brillen passieren, wenn man nicht auf einem sicheren Stuhl sitzt. Jeder kennt das Phänomen, dass nach einer Fahrt im Karussell sich die Welt zu drehen scheint. Das ist schon merkwürdig. Denn wir wissen doch, dass das nicht sein kann. In all diesen Situationen kommt etwas aus dem Takt, was normalerweise nicht bewusst und doch ständig aktiv ist, nämlich der Gleichgewichtssinn. Er ermöglicht uns den aufrechten Gang, er erlöste einst die Vordergliedmaßen von der Funktion, darauf laufen zu müssen und machte die Hände frei dafür, etwas zu tragen und allerlei Neues zu bewerkstelligen. Ihre Feinmotorik und Sensibilität konnten sich weiterentwickeln und ermöglichten all die Handlungen, die uns Heutigen selbstverständlich sind. Der Gleichgewichtssinn, so wenig er im Allgemeinen Beachtung findet, war wesentlich an der Menschwerdung beteiligt und trägt nach wie vor seinen Teil zu der Entwicklung menschlicher Kultur bei. Dabei hat sich das Gleichgewichtsorgan selbst so gut versteckt, dass es erst Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben wurde. Robert Barany bekam dafür 1914 den Nobelpreis. Das Vestibularorgan, wegen seiner verschlungenen Form auch Labyrinth genannt, liegt beidseitig im Innenohr, geschützt durch das Felsenbein, den härtesten Knochen des Schädels. Es besteht aus drei Bogengängen und zwei Säckchen, die zusammen mit der Cochlea verbunden sind, die dem Hören dient. Die 2 x 5 Organe registrieren Beschleunigungen des Körpers einschließlich der Schwerkraft, seine Lage und seine Bewegung im Raum.
Abb. 36: Das Labyrinth: Vestibularapparat und Hörschnecke. 90
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Die drei knöchernen Bogengänge sind annähernd kreisförmige Röhren, die mit Flüssigkeit (Endolymphe) gefüllt sind. Die Ebenen, in denen sie angeordnet sind, stehen senkrecht aufeinander und entsprechen damit den drei Hauptraumrichtungen. Jeder Bogengang enthält innerhalb einer Verdickung die Cupula, eine gallertige Masse, die wie eine elastische Wand den Bogengang verschließt. In die Cupula ragen Sinneszellen. Sie registrieren feinste Verbiegungen. Eine solche Verbiegung erfolgt aufgrund der Trägheit der Endolymphe jedes Mal, wenn der Kopf in der entsprechenden Ebene gedreht oder geneigt wird. Die Sinneszellen sind so empfindlich, dass sie schon bei einer Auslenkung von 0,005 Winkelgrad pro Sekunde aktiv werden. Wenn sie gereizt werden, setzt reflexartig eine Augendrehung im Gegensinn zur Kopfdrehung ein. Das sorgt dafür, dass wir das Angeblickte im Focus behalten. Wie kommt es, dass die Welt sich nach einer Karussellfahrt zu drehen scheint? Die Endolymphe in den Bogengängen wird während der Fahrt allmählich mitgenommen, bis sie sich genauso schnell dreht wie das Karussell. Bleibt das Karussell stehen, ist die Endolymphe noch in Bewegung und drückt von der anderen Seite auf die Cupula. Der Effekt ist, dass die Welt nun im Gegensinn zur Karusselldrehung zu rotieren scheint. Sacculus und Utriculus sind zwei winzige Säckchen von nur 2 bzw. 3 mm Größe und doch von großer Bedeutung, weil mit ihnen im wahrsten Sinn des Wortes alles steht und fällt. Sie enthalten eine zähe Schicht, die an der Unterseite mit der Wandung verbunden ist. Dort ragen wie bei den Bogengängen Haarzellen in die Masse hinein. Auf der Oberseite der Schicht haften Otolithen („Ohrsteine“), winzige Kristalle aus Kalziumkarbonat (Kalk). Bei Beschleunigungen verschieben sich diese kleinen Kalksteine gegenüber der Wandung und verbiegen damit die Sinneshärchen. Diese Verbiegung wird in eine Nervenerregung umgesetzt. Bei aufrechtem Kopf liegt der Utriculus waagerecht, der Sacculus senkrecht. Wenn der Mensch steht oder geht, ziehen die Kristalle des Sacculus nach unten und seine Haarzellen melden die Schwerkraftrichtung, während der horizontale Utriculus stumm bleibt. Wenn der Mensch liegt, erstattet dagegen der Utriculus Lagemeldung, weil nunmehr seine Kristalle in Schwerkraftrichtung abscheren. Durch Kombination der Signale aus Utriculus und Sacculus wird jede lineare Beschleunigungsrichtung gemeldet, nicht nur infolge der Gravitation, sondern auch bei jedem Sprung und jedem Sturz, beim Beschleunigen und Bremsen während der Autofahrt, beim Auf und Ab in Lift, Flugzeug oder Achterbahn. Bei Tanz und Sport treten kreisförmige und lineare Beschleunigungen auf, das ganze vestibuläre System ist in Aktion. Im bewussten Erleben äußert sich das in eigener Weise: Ich drehe mich, die Welt dreht sich, in meinen Bewegungen spüre ich das ganze Leben meines Körpers, beim Tanz zugleich das des Partners – Endorphine werden freigesetzt, es ist ein Erlebnisrausch. 91
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Abb. 37: Am Erlebnisrausch in der Achterbahn ist das Vestibularorgan wesentlich beteiligt. Lisebergpark in Göteborg. Das Vestibularorgan enthält afferente, also zum Gehirn laufende Nervenverbindungen, aber auch efferente, also vom Gehirn ausgehende, die die Empfindlichkeit je nach Bedarf steuern. Afferenzen gehen zum Hirnstamm, der das Gleichgewichtsorgan mit dem Bewegungsapparat einschließlich der Augenmuskulatur und dem Kleinhirn mit seinen Bewegungsprogrammen verbindet. Andere Afferenzen gehen zum limbischen System, das für Emotionen verantwortlich ist, und zum Hypothalamus, der vegetative Funktionen steuert. Der Erlebniskomplex aus Angst und Glücksgefühlen mit rasanten Beschleunigungen, von dem die Betreiber von Fahrgeschäften leben, beruht auf diesem Zusammenhang. Es besteht eine enge Vernetzung zwischen dem Gleichgewichtssinn und den somatosensorischen Sinnen mit ihren Meldungen aus Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken. Auch findet ein Abgleich mit den visuellen Signalen statt. Die Balance, die uns ständig aufrecht hält, erfolgt großenteils über Reflexe, die über den Hirnstamm gehen. Dabei werden entsprechende Muskeln in Körper und Gliedmaßen ohne bewusste Kontrolle innerviert. Balance ist eine multisensorische Leistung unter Führung des Vestibularorgans, die auch motorisch den ganzen Körper einbezieht. Sie funktioniert gewöhnlich ebenso unablässig wie unauffällig, nur bei Störungen und in Ausnahmesituationen gerät sie in den Focus der Aufmerksamkeit. Schon Jeder hat Bekanntschaft mit Kinetose gemacht, die mit Schwindel und Übelkeit verbunden ist. Auslöser hierbei sind Widersprüche zwischen 92
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den Signalen verschiedener Sinne. Wenn wir durch eine Virtual-Reality-Brille etwa eine Achterbahnfahrt ansehen, dann signalisieren unsere Augen Bewegung, während das Gleichgewichtsorgan Ruhe meldet. Befinden wir uns auf einem Schiff bei Seegang unter Deck, dann ist der umgekehrte Fall gegeben: Die Augen vermitteln einen ruhenden Raum, während der Vestibularapparat Schaukeln signalisiert. Der Widerspruch und damit die Kinetose werden verringert, wenn wir auf dem Deck stehen und den Horizont beobachten, denn dann ergeben die Signalsysteme aus Auge, Labyrinth und Körpersinnen ein schlüssiges Situationsbild. Für die visuelle Wahrnehmung sind dabei Bewegungen nicht im zentralen, sondern im peripheren Bereich des Gesichtsfeldes entscheidend. Daher treten Kinetosen bei VR-Brille, Breitleinwand oder im 360-Grad-Kino auf, kaum dagegen bei der Betrachtung eines kleinen Bildschirms. Entscheidend sind auch die Geschwindigkeitsverhältnisse. Dass sich der nächtliche Sternenhimmel über uns zu drehen scheint, hatten schon die alten Babylonier bemerkt. Die Drehung ist aber zu langsam, als dass sie unmittelbar wahrgenommen wird, sie erschließt sich erst aus Beobachtungen in gewissen Zeitabständen. Anders ist die Situation im Planetarium, wenn die Rotation des Sternenzelts im Zeitraffer simuliert wird. Dann sieht es so aus, als ob die Erde kippt, auf der man steht, und man gerät aus dem Gleichgewicht, falls man sich leichtsinnigerweise nicht in einen der Zuschauersessel gesetzt hat. Falls Sie denken, das Phänomen sei eine Täuschung, bedenken Sie: Bei der Simulation im Zeitraffer weiß man nicht nur, was Galilei beschrieben hat, sondern man spürt es, dass nämlich die Erde sich dreht und nicht der Sternenhimmel mitsamt Sonne und Mond! Im Zustand der Schwerelosigkeit fehlt die Gravitationsrichtung als Konstante. Das Vestibularsystem reagiert dann nur auf Eigenbewegungen des Astronauten, z. B. bringt ein Hin und Her zwischen den Kabinenwänden einen irritierenden Wechsel zwischen dem scheinbaren Oben und Unten mit sich. Die Folge sind Orientierungschaos und Übelkeit. Der Astronaut muss lernen, sich rein visuell zu orientieren. Er behilft sich damit, einigermaßen plausible Merkmale seiner Umgebung stellvertretend für oben und unten zu wählen. Das gelingt nicht jedem in gleicher Weise. Manche Astronauten wie Ron Evans dagegen begeistern sich: „You just cannot relate to it until you’ve had the experience of being in zero G. It’s absolutely delightful.”24 Warum kommt es bei Kinetosen ausgerechnet zu Übelkeit und Erbrechen? Schädigende Substanzen haben oft neurologische Wirkungen, zu denen auch eine Desorganisation der Sinne gehört. Man kennt das etwa von Alkohol oder manchen Pilzen. Der Körper reagiert mit dem Reflex, sich dieser Substanzen durch Erbrechen zu entledigen. Dieser Reflex erfolgt automatisch, sobald eine Desorganisation der Sinnesmeldungen vorliegt, gleich aufgrund welcher Ursache. Er bildet sich erst jenseits des Kleinkindalters, Säuglinge werden nicht seekrank.
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Kurz gesagt: Der Gleichgewichtssinn ist nicht nur wichtig für unsere Orientierung im Raum. Er hat den aufrechten Gang ermöglicht, der die Hände frei gemacht hat für Handlungen und für die Herstellung von Werkzeugen. Bei widersprüchlichen Meldungen zwischen Gleichgewichts- und Gesichtssinn kommt es zur Kinetose, uns wird schlecht.
Literatur Guski 1996. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Wie eine Fledermaus Am Psychologischen Institut der Uni Münster veranstalten wir ein Seminar zu der Frage, wie Blinde die Welt wahrnehmen. Wir haben einen blinden Gast eingeladen. Der Rittersaal am Rosenplatz ist mit erwartungsvollen Studierenden gefüllt, als er pünktlich zur Tür hereinkommt. Ohne Blindenstock oder Blindenhund. Er schnippt ein paarmal mit den Fingern in verschiedene Richtungen und sagt dann: „Dieser Raum ist 10 m lang und 6 m breit, gegenüber sind mehrere Fensternischen. Es sind ungefähr fünfzig Personen im Raum. Guten Tag, meine Damen und Herren!“ Ja, er sei völlig schwarzblind, sagt er und hat Vergnügen daran, dass ihm das manche nicht glauben wollen. In den kommenden Wochen wollen wir herausfinden, ob und ggf. wie es auch Sehenden möglich ist, Hindernisse ohne Hilfe des Gesichtssinnes wahrzunehmen. Dazu richten wir eine bewegliche Wand ein, auf die wir als Probanden mit verbundenen Augen zugehen. Es zeigt sich, dass wir sehr schnell lernen, nicht gegen die Wand zu laufen, sondern etwa eine Spanne davor stehen zu bleiben. Was hat uns dazu veranlasst? Manche sagen, dass sie die Nähe der Wand mit der Haut spüren, sie riechen, dass die Luft irgendwie dichter zu werden scheint oder wärmer. Wir decken Gesicht und Arme ab und wiederholen den Versuch. Mit gleichem Ergebnis. Die Haut spielt also keine entscheidende Rolle. Manche sagen, dass vielleicht das Gehör mitspielt. Wir legen den Weg mit weichem Teppichboden aus, der den Klang der Schritte verschluckt – und jeder läuft gegen die Wand. Aha. Reicht also die Wahrnehmung des Trittschalls? Jetzt bekommt die Versuchsperson A nicht nur die Augen verbunden, hat Gesicht und Arme verhüllt, sondern bekommt noch Kopfhörer aufgesetzt und trägt ein Mikrofon vor der Brust. Sie kann den eigenen Trittschall nicht hören, stattdessen hört sie Anweisungen von einer zweiten Person B, die im geschlossenen Nachbarraum sitzt. Diese hört über Kopfhörer den Trittschall von Person A und soll laufend angeben, ob sie weitergehen oder stehenbleiben soll. Es funktioniert! Unmittelbar vor der Wand bekommt Person A die Anweisung, stehen zu bleiben. Irgendetwas ändert sich offenbar am Klang, wenn die Wand in der Nähe ist. Aber was? Durch elektronische Analyse des Trittschalls stellen wir fest, dass sich dessen Echo bei Annäherung verändert, und zwar werden dann höhere Frequenzen stärker reflektiert. Dies wird zum entscheidenden Signal, rechtzeitig vor der Wand stehenzubleiben. Bemerkenswert ist, dass dieser Schlüsselreiz auch wirkt, wenn man sich über seine Natur nicht im Klaren ist und z. B. meint, dass die Luft dichter oder wärmer geworden ist oder dass wir einen siebten Sinn haben. Übrigens unterliegen auch manche Blinde diesem „Reizirrtum“. Sie können sich zwischen Hindernissen frei bewegen wie eine Fledermaus und möchten es manchmal nicht glauben, dass diese Fähigkeit über das Gehör geht.
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Anders gefragt: Wie ist es möglich, aus dem Wirrwarr von Schallwellen etwas herauszuhören? Wenn wir die Ohren nicht zuhalten oder anderweitig verschließen, sind wir den ganzen Tag über irgendwelchen Schallereignissen ausgesetzt. Vor grellem Licht können wir uns schützen, indem wir die Augenlider schließen; fassen wir etwas Heißes an, können wir die Hand zurückziehen; etwas Ekliges im Mund können wir ausspucken. Aber unser Hörorgan können wir nicht verschließen wie etwa die Robben. Klängen sind wir den ganzen Tag über ausgesetzt, ob wir wollen oder nicht, und sogar im Schlaf werden wir nicht verschont, da reißt uns spätestens das Geräusch des Weckers heraus. Unsere Klangwelt ist immer präsent. Damit ist das Hören in besonderer Weise dafür prädestiniert, uns vor eventuellen Gefahren zu warnen. Ein Rascheln im Laub, das Sirren einer Wespe oder das Herannahen eines Autos lassen uns sogleich aufmerken, es löst eine Blickbewegung in Richtung auf die Geräuschquelle aus und entsprechende Handlungsbereitschaft. Besonders in der Dunkelheit können die leisesten Geräusche uns in Anspannung und Angst versetzen. Fremde Schritte, Atemgeräusche, ein Knacken oder Knarren – die Filmemacher wissen wohl, wie sie mit solchen Mitteln Schauer erzeugen können. Lästig ist die Klangpräsenz besonders bei wiederholten unerwünschten Geräuschen. Sie brauchen gar nicht besonders laut zu sein. Es ist allein die Warnfunktion, die in ständigen Stress versetzt und krank machen kann. Dagegen ist die Präsenz der gewohnten Alltagsklänge etwas, was im Allgemeinen positiv zu unserer vertrauten Umgebung gehört. Menschliche Stimmen, auch die eigene, Musik, Vogelgezwitscher, das Rauschen der Bäume, das Brummen des Kühlschranks oder des Computers, ein Eisenbahnzug in der Ferne, die Geräusche, die beim eigenen Hantieren entstehen – sie alle sind Teile unserer näheren und weiteren Lebenswelt, in die wir eingebettet sind und in der wir uns zuhause fühlen wie in einem klanglichen Nest. Manche empfinden sogar Autoverkehr in der Nähe als vertrautes Nestgeräusch. Vor allem für das soziale Miteinander ist die auditive, also die Gehörswahrnehmung wichtig. Viele meinen, bei Blinden sei die Lebensqualität stärker eingeschränkt als bei Gehörlosen. Tatsächlich haben Untersuchungen ergeben, dass der Verlust der Klangwelt im Allgemeinen tiefgreifender ist. Das berichten z. B. Menschen, die beides verloren haben. Ohne die Teilnahme am sprachlichen Kontakt der Mitmenschen, ohne Musik und ohne die Einbettung in die klangliche Umwelt werden viele Betroffene misstrauisch und bitter. Ihrer Bedeutung entsprechend ist für die Klangwahrnehmung seitens der Natur ein erstaunlicher Apparat entwickelt worden. Er nutzt die Eigenart physikalischer Medien, dass sie sich in Schwingung versetzen lassen. Ob feste Körper, Flüssigkeiten oder Gase – sobald sie angestoßen werden, entsteht eine Longitudinalwelle: Die Moleküle geben ihre kinetische Energie an ihre Nachbarn weiter, und während sie zurückschwingen, pflanzt sich die Welle fort, oft in 96
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alle Richtungen. Ob im Wald ein morscher Ast knackt oder ob zwei Verliebte zärtliche Worte tauschen, das physikalische Übertragungsprinzip ist stets das Gleiche. Normalerweise ist die Luft erfüllt von einem Gemisch von Schallwellen aus unterschiedlichen Quellen, die sich alle überlagern, wenn sie unser Ohr erreichen. Unser Hörorgan hat die Aufgabe, dieses Gemisch zu entmischen, Richtung und Entfernung der Bestandteile festzustellen und sie zu identifizieren.
Abb. 38: Aus solchen Schalldruckschwankungen lässt das Gehör eine Arie von Verdi entstehen. Der Ausschnitt zeigt 0,05 Sekunden aus 7 Minuten Gesamtdauer. Man muss sich diese Aufgabe einmal vor Augen führen. Abb. 38 zeigt einen winzigen Ausschnitt aus dem Schalldruckverlauf, der bei einer Sopranarie von Verdi entstanden ist. Er ergibt sich aus der Überlagerung der Stimmfrequenzen mit den Schwingungen der Instrumente des Orchesters. Diese Folge von Schalldruckschwankungen trifft das Ohr und bildet das Ausgangsmaterial für die Wahrnehmung der Musik. Das Gehör schafft es, dass wir daraus die Stimme der Sängerin sowie die verschiedenen Instrumente heraushören, die Streicher, die Bläser usw. Wie ist das möglich? Die Schallwellen treffen nacheinander das Außenohr, das Mittelohr und das Innenohr. Die Ohrmuschel ist mit ihrer charakteristischen Form für das Richtungshören wichtig. Sie lenkt die Schallwellen in den Gehörgang, wo sie auf die dünne Membran des Trommelfells stoßen. Im Mittelohr werden die Schwingungen des Trommelfells durch drei winzige Knochen mechanisch verstärkt: Hammer, Amboss und Steigbügel. Der Hammer hält das Trommelfell in Spannung und übernimmt dessen Schwingungen. Er leitet sie an den Amboss weiter, der sie an den Steigbügel übergibt. Dieser bringt das ovale Fenster in Schwingung, das den Eingang zum Innenohr bildet. In der flüssigkeitgefüllten Cochlea durchlaufen die Schallwellen den Vorhofgang. Am Corti-Organ werden sie als Reiz wirksam. Durch den Paukengang laufen die Wellen zurück bis zum elastischen runden Fenster. Dahinter liegt die Eustachische Röhre, die das Mittelohr mit dem Rachenraum verbindet und dem Druckausgleich dient. 97
Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 39: Außenohr, Mittelohr und Innenohr. Gehörgang und Eustachische Röhre sind mit Luft gefüllt, die Cochlea mit Flüssigkeit (Endolymphe).
Abb. 40: Querschnitt durch die Cochlea mit dem Corti-Organ. Der Ort des Querschnitts entspricht einer bestimmten Frequenz, die an dieser Stelle als Reiz wirksam wird. 98
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Durch die Cochlea winden sich auf einer Länge von 35 mm parallel der Vorhof-, der Pauken- und der Schneckengang. Im Schneckengang liegt das Corti-Organ, das als Rezeptoren die Haarzellen enthält. Es liegt auf der Basilarmembran, die den Schneckengang vom Paukengang trennt. Die Schwingungen des Steigbügels am ovalen Fenster führen zu einer Schwingung der Basilarmembran mitsamt dem aufliegenden Corti-Organ. Die Basilarmembran schwingt jedoch nicht auf der ganzen Länge synchron, sondern frequenzabhängig. Von der Basis zum Ende verliert sie an Steifigkeit. Dadurch gerät sie an der Basis bei hohen Frequenzen in Resonanz, am Ende bei niedrigen. Jedem Ort im Verlauf der Schnecke ist eine bestimmte Frequenz zwischen 20 000 und 16 Hz zugeordnet. Bei jeder Schwingung verschieben sich das Corti-Organ und die aufliegende Tektorialmembran etwas gegeneinander. Diese Verschiebung lenkt die steifen Haare der Rezeptorzellen seitlich aus und führt zur Aussendung eines Aktionspotentials. Es gibt 3500 innere und 12 000 äußere Haarzellen. Es sind hauptsächlich die inneren Haarzellen, die afferente Meldungen an das Zentralnervensystem abgeben und zur Klangwahrnehmung führen, also relativ wenige Rezeptoren, wenn man sie mit den 150 Millionen Rezeptoren vergleicht, die im Auge liegen. Es war eine überraschende Entdeckung, dass die äußeren Haarzellen nicht als Rezeptoren dienen, sondern efferente Signale erhalten. Sie sorgen dafür, dass die Trennschärfe für Frequenzen erhöht wird. Die Sensibilität der Haarzellen ist extrem. Die leisesten wahrnehmbaren Töne bewegen die Haare in der Größenordnung eines Wasserstoffatoms! Bei den lautesten sind die Amplituden eine Million Mal größer. Darüber liegt eine Grenze, bei der das Gehör sich durch einen Reflex schützt, der den Steigbügel gegenüber dem ovalen Fenster verkantet und dadurch die Weiterleitung vermindert. Ab einem Schalldruckpegel von 110 dB(A) wird die Toleranz überschritten. Dann können die Haare der Rezeptoren brechen und die Hörfähigkeit irreversibel geschädigt werden. In Discotheken ist eine solche Lautstärke bei Dauerbeschallung keine Seltenheit. Als Folge kann sich lebenslange Schwerhörigkeit ergeben, weil sich diese Haarzellen nicht erneuern können.
Jenseits der Schmerzgrenze Ich muss um die 9 Jahre alt gewesen sein, als es mir gelang, innerhalb weniger Sekunden zwei verschiedene akustische Maxima auszulösen. Tante Christel, eine Freundin meiner Mutter, die ich eigentlich sehr mochte, fuhr ihren schwarzen VW-Käfer. So bekam ich die seltene Gelegenheit zu einer Autofahrt, was ich aber nicht im gleichen Maße zu schätzen wusste wie die beiden Frauen. Ich saß auf der Rückbank und hantierte mit einer Spielzeugpistole mit Knallplättchen, die mir Tante Christel geschenkt hatte.
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Die zweite Entstehung der Welt Mir war übel wie immer bei Autofahrten. Ich mochte die Schaukelei nicht und nicht den Benzingeruch und wollte aussteigen. Ich übertönte das laute Geräusch des luftgekühlten Motors mit der deutlichen Äußerung meines Wunsches. Tante Christel fuhr unbeirrt weiter. Ich beugte mich vor und ließ die Pistole knallen, direkt neben ihrem rechten Ohr. Innerhalb einer Sekunde versetzte mir die liebe Tante Christel mit der linken Hand schwungvoll und treffsicher eine schallende Ohrfeige. Damit wurden kurz hintereinander die beiden Spitzenreiter in der Lautstärkentabelle des Musikwissenschaftlers Eckart Altenmüller realisiert: die Spielzeugpistole am Ohr mit 180 dB Schalldruck und die Ohrfeige mit 170 dB.25
Die Empfindung der Lautstärke ist abhängig davon, mit welcher Frequenz die afferenten Nerven feuern. Mit steigendem Schalldruckpegel steigt ihre Feuerrate. Auch bei Ruhe finden Spontanentladungen statt, die wir als solche normalerweise kaum bemerken. Sie können aber durch zentralnervöse Vorgänge so verstärkt werden, dass sie als subjektives Klingeln, Brummen oder Pfeifen empfunden werden und als dekompensierter Tinnitus zu einer Beeinträchtigung führen. Für die empfundene Tonhöhe ist der Ort entscheidend, wo die gereizten Haarzellen im Corti-Organ liegen. Dieser Ortscode ist auch für die Weiterverarbeitung der auditiven Signale maßgeblich. In allen Zwischenschaltstationen bis hin zum auditorischen Kortex folgt die Anordnung der Neuronen dem Prinzip der Tonotopie, also dem ursprünglichen Ortscode für die Schallfrequenzen. Die mit dem Corti-Organ verbundenen afferenten und efferenten Nervenfasern sind im Zentrum der Schnecke zum Hörnerv gebündelt. Von dort geht es zum Hirnstamm. In der dortigen „Olive“ werden die Signale beider Ohren auf Intensitätsunterschiede verglichen, denn beim Durchtritt durch den Kopf vermindert sich der Schallpegel um bis zu 20 dB. Zudem werden die Schallwellen zeitlich versetzt wirksam. Auch dieser Phasenunterschied wird in der Olive ermittelt. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, die Richtung einer Schallquelle festzustellen und Stereo zu hören. Allerdings erlauben beide Methoden nicht zu entscheiden, ob der Schall von vorn oder von hinten, von oben oder von unten kommt. Für diese Entscheidung wird die Schallmodulation verwertet, die durch die Form der Ohrmuschel zustande kommt. Im Mittelhirn werden die auditorischen Meldungen mit visuellen und haptischen Signalen für die Lokalisation von Objekten koordiniert. Über weitere Schalt- und Verarbeitungsstationen wird der auditorische Kortex im oberen Temporalhirn erreicht. Dort und im angrenzenden sekundären auditorischen Kortex liegt das Hörzentrum, in dem die Analyse komplexer Schallmuster erfolgt. Hierzu gehört das Wernicke-Areal, dessen Funktionen für das Sprachverständnis notwendig sind. In dem Bereich des Frontalhirns, das an das 100
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Temporalhirn angrenzt, liegt das Broca-Areal. Es ist für das Sprechen zuständig, für die Stimmbildung durch den Kehlkopf und für die Artikulation durch Mund und Zunge. Wernicke- und Broca-Areal sind im Gehirn für die meisten Funktionen nur einseitig vertreten, bei den Rechtshändern auf der linken Seite, bei den meisten Linkshändern ebenfalls links. Beim linksseitigen Schlaganfall sind oft diese Zentren unterversorgt, und es kann neben Lähmungserscheinungen in der rechten Körperhälfte zu erheblichen Einschränkungen in Sprechen und Sprachverstehen kommen. Kurz gesagt: Klänge sind das Ergebnis einer hochsensiblen und aufwändigen Analyse des Gemisches von Schallwellen, das uns ständig trifft. Das Außenohr hilft, die Richtung der Schallquelle zu orten, das Mittelohr dient der Verstärkung schwacher und der Minderung starker Reize. Das Innenohr sortiert den Schall nach Frequenzen. Analyse und Identifikation geschehen in unterschiedlichen Hirnregionen.
Literatur Bruhn, Oerter u. Rösing 1993. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Genieße Blau, solange du jung bist! Zu den großen Alltagsrätseln gehört, dass in der Waschmaschine regelmäßig Socken verschwinden. Man möge mir als Wissenschaftler nachsehen, dass ich diesem Phänomen nicht mit gleicher Gründlichkeit nachgegangen bin wie manch anderer Frage. Ich habe stattdessen eine pragmatische Lösung für das Problem gefunden, dass die Sockenpaarlinge mit einer Halbwertzeit von einigen Waschgängen ihre Partner verlieren. Ich kaufe nämlich seit etlichen Jahren nur noch die Sorte Bristol Pure, und der Hersteller ist so freundlich, sie seit eben dieser Zeit in unveränderter Form herzustellen. Ich brauche bei meiner bevorzugten Art des Shoppings nur immer an gleicher Stelle zuzugreifen und kann mit minimalem Zeitaufwand den Laden wieder verlassen. Niemals hat es von irgendeiner Seite Beschwerden über den häufigen Partnerwechsel meiner Socken gegeben, bis, ja bis meine Frau eines Morgens mich kritisch mustert und zu dem Ergebnis kommt: „So gehe ich aber nicht mit dir aus!“ Verdattert suche ich an meiner Kleidung einen Makel festzustellen. Ist ein Reißverschluss nicht zu oder sind die Knöpfe in den falschen Löchern, ist die Hose bekleckert oder habe ich das Hemd von gestern an? Was eben so passieren kann. „Guck doch mal auf deine Socken!“ hilft sie mir auf die Sprünge. Angestrengt untersuche ich beide Objekte, kann aber keine Löcher an den Fersen oder ein anderes Manko entdecken. „Die Farben!“ „?“ „Eine Socke ist schwarz, die andere blau!“ erklärt die ehemalige Lehrerin in jenem Tone, der keinen Widerspruch duldet. Ich sehe keinen Unterschied. Sollten Frauen besser Farben unterscheiden können als Männer, wie gelegentlich behauptet wird? Vielleicht erschwert das gelbliche Lampenlicht die Unterscheidung. Mir kommt eine Idee. Ich hole aus dem Keller eine der billigen LEDTaschenlampen, die weißes Licht durch die Mischung von Blau und Gelb erzeugen, und richte sie auf die Socken. Und siehe da: Eine Socke ist schwarz und die andere blau. Jetzt sehe ich es auch. Meine Frau hat mal wieder Recht. Zwar war mir Alters-Tritanopie ein Begriff, aber der Gedanke, dass ich persönlich davon betroffen sein könnte und ich mich als betagt ansehen muss, schleicht sich erst jetzt ins Bewusstsein. Ich tröste mich damit, einen Trick gefunden zu haben, diese Farbsehschwäche überlisten zu können.
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Wie entwickelt sich die Wahrnehmungswelt?
Anders gefragt: Wie kann man sich das allmähliche Zustandekommen der Erlebniswelt vorstellen? Der alte Streit darum, wieviel angeboren und wieviel erworben sei, macht mehr und mehr der Einsicht Platz, dass Entwicklung ein dynamischer Prozess ist. Ohne bestimmte 102
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biologische Voraussetzungen wäre gar keine Entwicklung möglich, und ohne geeignete Umweltbedingungen könnten sich die biologischen Potentiale nicht verwirklichen. Entwicklung ist ein permanenter Interaktionsprozess zwischen beiden Seiten, der besonders im frühen Stadium genetisch vorprogrammiert ist und später zunehmend von kulturellen Einflüssen geprägt wird. Dennoch sind wir weder Sklaven unserer Gene noch Hörige kultureller Meme, denn die Entwicklung zum Individuum beinhaltet einen gewissen Grad an Autonomie, mit der wir sowohl auf unsere Biologie wie auf das soziale und kulturelle Umfeld rückwirken können. Wir sind nicht, wie der wissenschaftliche Mainstream in Ost und West jahrzehntelang suggerierte, als Reiz-Reaktionsmaschine hinreichend beschrieben. Vielmehr sind wir handelnde Wesen, die aus einem mentalen Zentrum heraus Ideen und Pläne entwerfen und verwerfen, sie realisieren, Erfolg und Misserfolg wahrnehmen und daran lernen, weitere Ideen und Pläne zu entwickeln. Im sozialen Miteinander bemerken wir die Wirkung unserer Stimme, unserer Worte, unserer Mimik und Gestik, unseres Handelns und Unterlassens, bewerten die Effekte und modifizieren unser Verhaltensrepertoire je nach Absicht und Kontext. Durch all diese imaginären und realen Interaktionen nehmen wir selbst Einfluss auf das, was wir sind und werden. Dies verdanken wir großenteils einem Gehirn, das 20 % der Energie verbraucht, die dem Körper zugeführt wird, obwohl es nur 2 % des Körpergewichts ausmacht. Einem Gehirn, das zu über 90 % mit internen Prozessen beschäftigt ist, zu denen auch Denken, Fühlen, Vorstellen, Sich-Erinnern, Ideen und Pläne, Freude, Trauer, Zweifel, Träume und Wünsche gehören, genauer gesagt, zu denen die neuronalen Korrelate, also die entsprechenden Hirnvorgänge dieser psychischen Vorgänge gehören. Wahrnehmung ist nicht passiv, sondern aktiv suchend und selektiv nach Maßgabe unserer Bedürfnisse, Interessen und Werte. Das beginnt schon bei den Augenbewegungen, setzt sich fort im Gang zur Disco oder zum Buchladen bis hin zu Plänen für Reisen oder kulturelle Veranstaltungen. Auch die Perzeption und Übernahme von Einflüssen seitens der Eltern, Pädagogen, Medien usw. geschieht nicht automatisch, sondern selektiv entsprechend bestehender Einstellungen. Man denke nur an Trotzphase und Pubertät, in denen sich Eigenständigkeit über ausgesprochene Lust am Widerspruch formt. Von besonderer Bedeutung ist die Wahrnehmung im eigenen engen Handlungsrahmen. Alle unsere Aktivitäten sehen, hören oder spüren wir. Sie sind rückgekoppelt zur Steuerung der Motorik, darüber hinaus zur Beobachtung der Effekte unseres Tuns, die wiederum die mentalen Ausgangsbedingungen ändern. Viktor von Weizsäcker sprach vom „Gestaltkreis“ von Wahrnehmen und Bewegen als Kennzeichen des Lebens. Dieser permanente Gestaltkreis ist zugleich Quelle für kreatives Handeln wie etwa beim Maler, dessen entstehendes Bild zugleich Wirkung und Rückwirkung bedeutet bis zu dem Punkt der Fertigstellung, den er allein bestimmt. Ontogenetische, also individuelle Entwicklung ist stets ein persönlicher und einzigartiger Prozess, den niemand exakt nachzeichnen kann, nicht einmal man selbst. Denn auch das 103
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autobiographische Gedächtnis ist nicht nur lückenhaft und vergesslich, sondern selektiv und kreativ in Richtung auf ein Selbstbild, das man für sich akzeptiert. Diese Einzigartigkeit des Entwicklungsweges mitsamt seinem Ergebnis, dem Individuum, steht nicht in Widerspruch damit, dass in der Ontogenese allgemeine Prinzipien gelten wie etwa, dass ohne Ernährung kein Wachstum möglich ist und dass dieses Wachstum genetischen Programmen folgt. In diesem allgemeinen Sinne soll jetzt skizziert werden, was man über die Entwicklung der Wahrnehmung weiß und begründet vermuten kann.26
Die Zeit bis zur Geburt Für gewöhnlich wird die Zeit des Menschen von dem Moment an gerechnet, an dem er nach etwa 40 Schwangerschaftswochen geboren wird und er, wie man sagt, das Licht der Welt erblickt. Doch für das kleine Wesen hat die Wahrnehmung der Welt – und die Wahrnehmung seiner selbst – schon lange zuvor begonnen. Allerdings nicht über die Augen, sondern über die Haptik, die den Komplex aus Hautsinnen und Bewegungssinnen umfasst. Die haptischen Sinne beginnen ihre Entwicklung schon in der 7. Schwangerschaftswoche (SSW), also noch vor dem Übergang vom Embryo zum Fötus, wenn alle Organe zu arbeiten beginnen. Vier Wochen zuvor hat das Zentralnervensystem seine Bildung begonnen. Wenn das System für Geschmack und Geruch ab der 20. SSW seine Entwicklung beginnt, ist das haptische System schon weit fortgeschritten. Es funktioniert bereits, wenn um die 24. SSW Gehör und visuelles System ihre Entwicklung erst beginnen. Bei der Geburt sind alle Sinne funktionsfähig, nur das visuelle System ist noch nicht ausgereift. Die ersten pränatalen Erfahrungen macht der Fötus also haptisch. Ob und ab wann diese mit einem elementaren Bewusstsein erfolgen oder gleichsam im Schlaf, ist eine Frage, die nach derzeitigem Forschungsstand nicht eindeutig beantwortet werden kann, aber schon früh zeigt sich ein Schlaf-Wach-Rhythmus. Sicher ist, dass Perzeption und Motorik großenteils auch ohne Beteiligung des Bewusstseins funktionieren und ihre allmähliche Koordination keiner willentlichen Kontrolle bedarf. Die Funktion der Hautsinne zeigt sich zuerst bei Meidungsreflexen, die über das Rückenmark, also noch ohne Beteiligung des Kortex erfolgen. Schon in der 7. SSW weicht der Kopf zurück, wenn die Lippen berührt werden. Der kleine Mensch ist in dieser Zeit etwa einen Zentimeter groß. Bis zur 14. SSW breitet sich die Sensibilität auf den ganzen Kopf, die Arme und schließlich den ganzen Körper aus, während zeitgleich die Motorik ausgeprägt wird. Neurone des Rückenmarks lassen ihre Ausläufer in die Haut und ins Innere des Körpers sprießen und bilden dort die freien Nervenendigungen, die für unterschiedliche Sinnesempfindungen zuständig werden. 104
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Indem der Fötus Körper und Gliedmaßen bewegt, wird die Propriozeption in Muskeln, Sehnen und Gelenken aktiviert. Die praktisch zeitgleichen Afferenzen und Efferenzen bilden zentralnervös stabile Muster sensomotorischer Koordination aus. Sie sind die Grundlage für die allmähliche Formung des Körper-Ichs. Ab der 15. SSW öffnet und schließt der Fötus in seinen Wachphasen die Hände, berührt aktiv seine intrauterine Umgebung und den eigenen Körper. Dabei kommt besondere Bedeutung der Neigung zu, den Daumen in den Mund zu stecken und den Saugreflex zu trainieren, der nach der Geburt ausgereift sein muss. Nach der 24. SSW öffnet der Fötus bereits den Mund, bevor ihn der Daumen erreicht – die erste planvolle Handlung des kleinen Menschen. In der 17. SSW wachsen fast am ganzen Körper feine Härchen. Dieses Lanugohaar wurde vormals als phylogenetisches Relikt eines Fells gedeutet, zumal es ab der 33. SSW wieder abgestoßen wird – vergleichbar mit dem Schwanz, der beim Embryo noch sehr ausgeprägt ist und sich dann rückbildet. Tatsächlich hat in dieser Phase das Lanugohaar eine interessante und wichtige Aufgabe. Wie bei den Hautsinnen angesprochen, haben Haare durch die Rezeptoren an den Follikeln die Funktion von Fühlern. Während der Fötus Arme, Beine oder den ganzen Körper im Fruchtwasser bewegt, werden tausende dieser Rezeptoren stimuliert. Dadurch wird wiederum in zeitlichem Zusammenhang mit den Eigenbewegungen die Haut als Grenze des Körper-Ichs begründet. Vermutlich ist der Antrieb zu den Eigenbewegungen in dem Lustgewinn zu sehen, den die Selbststimulation hervorbringt. Es ist naheliegend anzunehmen, dass der Genuss zu streicheln und gestreichelt zu werden, der bei Kindern wie bei Erwachsenen vorhanden ist, hier seine Anfänge hat. Entsprechendes gilt für die Neigung des Fötus, sich ans Gesicht zu fassen. Wie stark dieser Drang noch beim Erwachsenen ist – man berührt, kaum bewusst, mehrere 100-mal am Tage sein Gesicht –, wurde in der Zeit der Corona-Pandemie 2020 deutlich, wo wegen der potentiellen Virenübertragung dringend davon abgeraten wurde. Wenn, wie angenommen wird, diese Selbstberührung die Funktion einer Selbstberuhigung hat, ist die Forderung nach Verzicht darauf ebenso problematisch wie die Einschränkungen der körperlichen Sozialkontakte während der Corona-Krise, etwa zwischen Enkeln und Großeltern. Manchmal tut nichts so gut, wie in den Arm genommen zu werden. Auf Schallereignisse reagieren Föten bis zur 23. SSW nicht. Erst mit der 24. SSW ist das Gehör so weit ausgereift, dass erste Klänge wahrgenommen werden können. Das Erste, was das Ungeborene hört, sind die Herztöne der Mutter und ihr Atem. Von außen erreichen das werdende Kind vor allem tiefe Frequenzen. Cochlea und Corti-Organ haben schon ihre endgültige Größe, afferente Impulse erreichen bereits den Hirnstamm und den Colliculus inferior, eine zentrale Hörregion. Wie beschrieben, werden Schallereignisse mittels der Haarzellen im Corti-Organ gewissermaßen ertastet. Die werdende Mutter kann davon ausgehen, dass sie das kleine Wesen vom sechsten Monat an mit Musik gleichsam streicheln kann. 105
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Die vertrauten Geräusche im Mutterleib haben langanhaltende Wirkung über die Geburt hinaus. Wenn schreienden Säuglingen entsprechende Tonaufnahmen von der eigenen Mutter vorgespielt werden, beruhigen sie sich schnell. Die Stimme der Mutter dringt durch direkte Schallübertragung stärker durch als andere Stimmen und hat von daher das Potential, prägend zu wirken, insbesondere in den letzten Schwangerschaftsmonaten. Die gewohnte Sprachmelodie führt dazu, dass Neugeborene die Muttersprache bevorzugen. Auch Musik, die Ungeborene gegen Ende der Schwangerschaft hören, führt finnischen Untersuchungen zufolge zu entsprechenden Vorlieben nach der Geburt. Die Geburt ist für das Kind ein radikaler Umbruch seiner Welt. Bis dahin schwebt es in der Geborgenheit des körperwarmen Fruchtwassers, weich umhüllt von den Eihäuten, gewiegt im rhythmischen Gang der Mutter, umgeben von gedämpften Klängen. Es kennt nur diese Umwelt und seinen Körper, den es über seine Bewegungen als den eigenen erfährt. Zarte Berührungen mit der Nabelschnur oder mit den nachgiebigen Hüllen werden nur übertroffen von der Heftigkeit eigener Tritte und Püffe gegen die weichen Wände. Nun aber wird es für den kleinen Menschen eng. Passgenau umschließt der Uterus seinen gewachsenen Körper. Das Kind sendet Hormone aus, dass die Geburt losgehen kann. Wenn die Wehen beginnen, zieht sich der Muskel der Gebärmutter zusammen, von Wehe zu Wehe wird es immer enger. Die Wehen wirken auf das Kind wie eine Massage, die das ganze Nervensystem aktiviert. Stresshormone machen es wach und bereit, das Kommende zu bewältigen. Endorphine werden freigesetzt und verringern die unangenehmen Empfindungen. Der Gebärmutterhals weitet sich, der Muttermund öffnet sich. Das Kind dreht seinen Kopf in den Geburtskanal. Die Mutter unterstützt die reflexhaften Wehen durch aktives Pressen. Beim Durchtritt durch den engen Damm verschieben sich – ohne das Gehirn zu schädigen – die noch nicht zusammengewachsenen Schädelknochen, der Kopf wird länglich verformt und die Nase flachgedrückt. So gelangt der Kopf in die neue Welt. Gedämpft durch die geschlossenen Augen dringt das erste Licht. Der Schädel nimmt wieder seine Form an. Beim Durchtritt des Oberkörpers wird der Brustkorb zusammengedrückt, das Fruchtwasser entweicht aus den Lungen. Damit werden sie frei für den ersten Atemzug, der sich gleich nach der Geburt im ersten Schrei entlädt. Die Evolution hat dem Menschen ein großes Gehirn gegeben, jedoch teuer erkauft durch einen Geburtskanal, der mit der Größe des Kopfes nur knapp Schritt gehalten hat. Bei keinem Säugetier ist der Geburtsvorgang so problematisch wie beim Menschen, sowohl für die Mutter wie für das Kind. Archäologische Funde bezeugen, dass dies schon vor tausenden von Jahren für beide den Tod bedeuten konnte. Der Kaiserschnitt, in Deutschland bei etwa 30 % der Geburten angewandt, bietet einen medizinischen Ausweg, doch ist auch er nicht ohne Risiken. Es können Probleme bei der Initialisierung des Atmens entstehen, weil hierbei das Fruchtwasser nicht auf natürlichem Wege aus den Lungen gepresst wird. Dies 106
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muss durch geeignete Maßnahmen kompensiert werden, sonst sind aufgrund von Sauerstoffmangel Hirnschädigungen zu erwarten, die dann Folgewirkungen für das ganze Leben und Erleben haben können. Gleiches ist allerdings auch bei einer natürlichen Geburt durch Strangulation mit der Nabelschnur möglich. Glücklicherweise werden heute 97 % aller Kinder gesund geboren.
Abb. 41: Der „Babyflaum“ vieler Neugeborener bildet den Rest der Lanugobehaarung, die beim Fötus zur Grundausbildung des Körper-Ichs beiträgt.
Die Zeit nach der Geburt Das kleine Wesen friert. Es strampelt. Das wärmt etwas. Sein ganzes Leben lang war seine Umgebung bisher 37° C warm, nun ist sie plötzlich kalt. Erstmals spürt es den Druck einer Unterlage, nachdem es bis dahin in Wasser geschwebt hat. Das beruhigende Schaukeln fehlt. Ein unbekanntes Gemisch von Stimmen und Geräuschen, lauter als alles zuvor, dringt in die kleinen Ohren. Öffnet es die Augen, schaut es in das grelle Licht von Lampen und wird irritiert von unverständlichen Bewegungen. Da tut es gut, wenn es den Blick abwenden und auf dem Bauch der Mutter liegen kann. Es spürt ihre Nähe und Wärme, hört ihre Stimme und wird im Rhythmus ihrer Atembewegungen gewiegt. Dort nimmt es einen wunderbaren Geruch wahr, dem der Kopf folgt, bis die geöffneten Lippen eine Brustwarze erfasst haben. Das Kleine beginnt mit Wonne, die Vormilch zu saugen, genießt den Geschmack, und alles andere ringsherum, von dem es überfallen wurde, tritt in den Hintergrund. Die Milch aufzunehmen macht viel Arbeit und müde, und rasch schläft es ein. Der Säugling verschläft etwa 75 % seiner Zeit. Dafür hat er in seinen Wachphasen umso mehr zu tun, was in den Schlafphasen aller Wahrscheinlichkeit nach weiterverarbeitet wird. 107
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Aus allen Sinnen strömt eine Flut noch unverständlicher Reize ein. Gut, dass sein Körperschema in der intrauterinen Phase durch die Integration von Eigenbewegung und Signalen der Körpersinne soweit vorbereitet ist, dass es als zentrales Bezugssystem dienen kann. So können neue haptische Erfahrungen eingeordnet werden. Die Unterscheidung zwischen Eigenwelt und Außenwelt ist durch die Bipolarität haptischer Erfahrungen bereits grundsätzlich erfolgt und wird mit jedem Gegenstand, den der Säugling berührt und ergreift, weitergeführt. Die dreidimensionalen Optionen der Eigenbewegung und die Dreidimensionalität der kinästhetisch wahrgenommenen Welt bilden die Grundordnung für alle wahrgenommenen Dinge. Die erste entscheidende Zone des Körperschemas ist der Mundraum. Mund, Zunge und Rachen sind besonders dicht mit Rezeptoren besetzt, auch die Motorik ist für Mund und Zunge schon bei der Geburt weit entwickelt. Das ist primär für Trinken und Essen von Bedeutung, aber auch für die Exploration von Dingen der Umgebung. Unterschiedlichste Materialqualitäten und feinste Strukturen werden hier neben Geruch und Geschmack erfahren. Auf das Aroma von faulen Eiern bzw. von Vanille reagieren Neugeborene in der Mimik ähnlich wie Erwachsene. Fäkalgeruch stört sie dagegen wenig. Die Hand dient zunächst dazu, dem Mund die Dinge zur Untersuchung zuzuführen, teils, um sie auf Essbarkeit zu überprüfen und zu verzehren, teils, um sie kennenzulernen, teils, um lustvolle und beruhigende Erlebnisse etwa mit dem Schnuller zu wiederholen. Auch für den Erwachsenen ist es sinnvoll, sich gelegentlich den Mundraum und seine Leistungen bewusst zu machen, etwa so: Nehmen Sie ein Doppelstück Schokolade und schieben es sich in den Mund. Dort teilen sie es in zwei Hälften und fügen sie mit den Unterseiten exakt zusammen, nachdem sie befeuchtet wurden, sodass sie zusammenkleben. Dann runden Sie das Ganze zwischen Zunge und Gaumen zu einer möglichst perfekten Kugel. Nichts davon haben Sie gesehen. Achten Sie einmal darauf, ob Sie sich ihr orales Werk visuell vorstellen und damit eine Betrachterperspektive einnehmen oder ob Sie es haptomorph, also stereoplastisch ohne eine Unterscheidung von vorn und hinten erleben (s. Kap. 10). Beim Hören ergibt sich in den ersten Lebensmonaten eine allmähliche Steigerung der Empfindlichkeit für tiefere Frequenzen, ebenso eine zunehmende Fähigkeit, Richtung und Entfernung von Schallereignissen festzustellen. Eine aufwändige Entwicklung vollzieht sich beim Sehen, sobald die Lichter der Welt erblickt werden. Bereits am ersten Tag der Geburt zeigen die Augen die Tendenz, einer Bewegung zu folgen. Die Sehschärfe nimmt innerhalb des ersten Lebensjahres etwa um das Dreifache zu. Ebenfalls nimmt die Größe des Gesichtsfeldes zu, innerhalb dessen das Kleinkind auf Reize reagiert. Die Fovea centralis hat ihre besondere Leistungsfähigkeit erst mit dem 4. Lebensjahr erreicht. Die Akkomodationsbreite der Augenlinse ist beim Säugling extrem. Sie kann auf Objekte scharf gestellt werden, die nur 2 cm vom Auge entfernt sind. 108
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Die visuelle Wahrnehmung des Säuglings hat großen Nachholbedarf gegenüber den anderen Sinnen. Diese erfuhren bereits vor der Geburt mechanische, akustische und chemische Reize und führten zu motorischen Reaktionen. Damit das Sehvermögen sich entwickeln kann, braucht es eine strukturierte optische Umgebung. In Tierversuchen z. B. an Katzen hat sich gezeigt, dass sensorische Deprivation (Reizentzug) in den ersten zwei Monaten nach der Geburt dazu führt, dass bereits angelegte Detektoren in den visuellen Zentren V1 und V2, die systematisch auf Kanten und Bewegungen reagieren, wieder verkümmern. Nach einem bestimmten Zeitfenster stellen sie ihre Bereitschaft ein, und die Katzen werden niemals fähig zu jagen oder auf Bäume zu klettern. Bei aller Vorsicht, Ergebnisse aus Tierversuchen zu übertragen, darf gefolgert werden, dass Säuglinge und Kleinkinder optische Anregung brauchen, nicht durch einen flimmernden Bildschirm, sondern durch eine Umgebung mit Gegenständen, die sie auch anfassen, bewegen, hören und riechen können. Nur so bilden sie intermodal, also unter Einbeziehung aller Sinne, und zugleich unter Einbeziehung ihrer Eigenbewegung eine in sich stabile Welt in aller Vielfalt, mit der sie erfolgreich interagieren können. Nach dem Mundraum gewinnt der Greifraum zunehmende Bedeutung, d. h. die Umgebung des Kindes, soweit es die Dinge darin unmittelbar erreichen und manipulieren kann. Das Kind lernt, Hartes und Weiches zu unterscheiden, Raues und Glattes, Eckiges und Rundes, es lernt Dinge kennen, die es bewegen und verändern kann sowie solche, die unveränderlich fest sind. Weil es das, was es ergreift, auch gleichzeitig sieht, lernt es bald, allerlei zuvor gefühlte Materialeigenschaften allein schon mit den Augen zu erkennen. Das Zentralnervensystem ist hervorragend eingerichtet dafür, in veränderlichen Reizmustern Invarianzen, also Unveränderliches aufzufinden. Die einfachsten anschaulichen Begriffe müssen erst errungen werden. Nehmen wir als Beispiel ein Rechteck. Es kommt in natürlicher Umgebung selten vor, dass wir auf ein Rechteck genau senkrecht schauen, also so, dass es sich auf dem Augenhintergrund tatsächlich mit vier rechten Winkeln abbildet. Eine Ausnahme bilden Bildschirme. Die meisten Gegenstände mit rechteckiger Oberfläche bilden sich als schiefwinkliges Viereck ab, etwa eine Tischfläche oder die Platten des Gehwegs, wobei sich das Abbild mit jeder Eigenbewegung verändert und andere schiefe Winkel einnimmt. Der visuellen Verarbeitung gelingt es, aus der Gesamtheit der veränderlichen optischen und kinästhetischen Reize unter Berücksichtigung der Raumsituationen als Invariante die Rechtecksform als Anschauungsbegriff zu destillieren, d. h., „Formkonstanz“ zu schaffen. Eine wichtige Klasse von Objekten sind Gesichter, deren Abbild auf der Netzhaut sich je nach Entfernung, Lage und Ausdruck verändert und die dennoch als identisch erkannt werden müssen, um z. B. als Gesicht der Mutter von anderen Gesichtern unterschieden werden zu können. Solche Invarianzbildungen geschehen beim Kleinkind schon auf nonverbaler Ebene. Sie sind die Grundlage für den späteren Erwerb von sprachlichen Begriffen.
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Der dreidimensionale Wahrnehmungsraum selbst kommt offenbar nicht durch Erfahrung zustande, sondern bildet die Voraussetzung aller Erfahrung. Die intrauterin vollzogenen Körperaktionen mitsamt den damit verbundenen sensorischen Meldungen vollziehen sich in einem Raumsystem, das später auch zur Grundlage für das Visuelle wird. Es gibt Hinweise, dass das Kind schon vor der endgültigen Ausreifung des Gesichtssinns darauf eingerichtet ist, auf visuelle Tiefenreize zu reagieren. Wenige Wochen alte Säuglinge erschrecken, wenn ein Schatten sich symmetrisch vergrößert, also auf sie zuzukommen scheint. Bei einem sich verkleinernden Schatten zeigen sie sich neugierig. Sobald das Kleinkind krabbeln kann, scheut es vor einem Kliff zurück, an dem es herabfallen könnte, etwa an einer Tischkante. Einige Faktoren zur Tiefenwahrnehmung sind offenbar angeboren. Diese Anlagen müssen allerdings durch geeignete Reizbedingungen aktiviert und differenziert werden. Das gilt auch für die Querdisparation. Wenn Säuglinge gelegentlich schielen, ist das unbedeutend. Eine dauerhafte Schielstellung (Strabismus) führt allerdings dazu, dass ein Auge dominiert und das andere unterdrückt wird, weil Doppelbilder störend wirken. Eine 3DWahrnehmung über die Verrechnung der Querdisparation bleibt in diesem Fall verwehrt. Wird die Schielstellung der Augen in frühen Jahren korrigiert, kann die stereoskopische Wahrnehmung gerettet werden. Welche Bedeutung fehlende Anregung und fehlende soziale Zuwendung auf die Entwicklung von Kindern haben, wurde in Untersuchungen an Waisen aus Rumänien deutlich, die zur Zeit von Ceauşescu unter Bedingungen sozialer Deprivation aufwuchsen. Über 60 000 Waisen lebten in Heimen ohne persönliche Zuwendung und ohne Spielzeug, saßen im Bett oder auf dem nackten Fußboden. Im Verhältnis zu anderen Kindern waren sie kleiner, hatten ein kleineres Hirnvolumen, zeigten einen IQ von durchschnittlich 73, kaum Sprachfähigkeiten und deutliche Bindungsschwächen. Nur, wenn die verwahrlosten Kinder in Pflegefamilien kamen, bevor sie zwei Jahre alt waren, konnten sie ihre Defizite vollständig aufholen. Bei der Geburt sind im Gehirn weit mehr Nervenzellen als beim Erwachsenen vorhanden. Sie bilden zunächst eine offene Struktur, die ihre Funktionsfähigkeit allmählich durch immer klarere Vernetzung verfeinert. Hierbei gibt es eine rigorose Konkurrenz zwischen den Neuronen um synaptische Kontakte. Bestand haben solche, die zahlreiche Synapsen gewinnen, über die Hälfte geht bei der Apoptose, dem kontrollierten Absterben von Zellen, zugrunde. Der Verlust wird mehr als aufgewogen durch eine zunehmend geordnete Verschaltung. Der Vorgang wird Pruning genannt, vergleichbar dem gezielten Beschneiden von Pflanzen. Bei Kleinkindern ist jedes Neuron über ca. 15 000 Synapsen mit anderen verbunden, bis zum Ende der Kindheit sinkt diese Zahl aufgrund ständiger Selektionsprozesse. Lernprozesse in Wahrnehmen, Denken und Handeln gehen mit dem Auf- und Abbau synaptischer Verbindungen Hand in Hand.
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Das Gehirn wächst bis zum 6. Lebensjahr, danach nur noch wenig. Das Wachstum rührt nicht von einer Vermehrung der Nervenzellen her, sondern von der Myelinisierung. Hierbei erhalten die Axone der Neuronen einen isolierenden Mantel, der die Weiterleitung von Signalen um das 16-fache beschleunigt. Die Geschwindigkeit von Wahrnehmung, Motorik und kognitiven Funktionen steigt erheblich. Die Kommunikation innerhalb des Gehirns wird ausgebaut. Während der Pubertät nimmt die Menge an weißer (myelinisierter) Hirnsubstanz im Verhältnis zur grauen zu, ein Hinweis auf die Verstärkung von Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnteilen. Diese Zeit ist im Erleben und Verhalten Jugendlicher durch viele tiefgreifende Veränderungen gekennzeichnet. Die Kindheit wird abgelegt, das Verhältnis zu Eltern und anderen Autoritäten schwierig. Auch die Selbstwahrnehmung wird kritischer. Diesen Änderungen entsprechen neuronale Umstrukturierungen besonders im Frontalhirn, das für Planung, Bewertung und Impulskontrolle zuständig ist. Dopamin und Sexualhormone wirken auf Verhalten und Emotionen ein, die Balance durch hemmende Mechanismen wird erst allmählich gefunden. Bildhaft gesprochen findet im Schädel eine Metamorphose statt, die der Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling entspricht. Am Ende der Pubertät ist die Hirnentwicklung weitgehend abgeschlossen, der Schmetterling will fliegen und sucht einen Partner. Jeden Tag sterben einige tausend Hirnzellen. Bei der Gesamtmenge von ca. 100 Milliarden Neuronen ist das nicht allzu dramatisch, zumal einige auch neu gebildet werden. Im Übrigen kommt es für ein lebendiges Gehirn vor allem darauf an, dass immer wieder neue synaptische Verbindungen geknüpft werden, wie dies bei allen mentalen und motorischen Lernprozessen geschieht. Neue Erfahrungen etwa auf Reisen, sportliche Betätigung, anregende Gespräche, Lesen und andere kognitive Herausforderungen sind bis ins hohe Alter wichtig, damit das Gehirn nicht in Alltagsroutinen verkümmert. Selbst solche Routinen bedürfen manchmal einer bewussten Erneuerung, weil ihr raumzeitliches Muster erodieren kann. Man sollte sich nichts vormachen – das Alter ist mit zahlreichen Einschränkungen verbunden. Das ist der Preis für jedes Jahr über 35, das wir der Natur abtrotzen, der durchschnittlichen Lebenserwartung des Steinzeitmenschen. Glücklicherweise hat die Zivilisation eine Reihe von Tricks entwickelt. Das beginnt schon mit dem Gebrauch einer Brille. Die Augenlinse gehört neben Nase und Ohren zu den wenigen Körperteilen, die das ganze Leben lang wachsen. Dabei verfestigt sich ihr Inneres, die Elastizität lässt nach. Beim Kind beträgt die Akkomodationsbreite der Augenlinse noch 13 Dioptrien. Sie nimmt allmählich ab und beträgt im hohen Alter nur noch 0,5 dpt. Inzwischen kann diese Schwäche durch Gleitsichtgläser gut kompensiert werden. Das Innere der Linse wird oft gelblich. Das hat AltersTritanopie zur Folge, eine Sehschwäche, die Blautöne geringer Sättigung nicht mehr von Grau oder Schwarz unterscheiden lässt. Die Eintrübung kann bis zum grauen Star (Katarakt) gehen und schließlich zur Erblindung führen. Die alten Babylonier kannten schon den Starstich, bei 111
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dem die trübe Augenlinse mit einer Nadel in das Augeninnere gestoßen wurde. Dadurch kann das Auge wieder sehen, allerdings bei einer Weitsichtigkeit von 19 dpt. Heutzutage wird die Linse oder ihr Zentrum durch eine Kunststofflinse ersetzt, die die Sehfähigkeit wiederherstellt einschließlich der Möglichkeit, auch Blau in allen Schattierungen genießen zu können. Nicht wiederherzustellen ist dagegen der weite Spielraum, innerhalb dessen sich je nach Lichteinfall die Iris zusammenzieht und öffnet. Die Pupille bleibt im höheren Alter klein, was das Sehen in der Dämmerung und damit nächtliches Autofahren erschwert. Echte Nachtblindheit ist selten, dann arbeiten die Stäbchen in der Netzhaut nicht mehr richtig. Um deren Stoffwechsel zu stärken, kann es nicht schaden, Möhren zu essen. Sie enthalten eine Vorstufe zu Vitamin A, das die Retina braucht. Altersschwerhörigkeit (Presbyakusis) ist ein bekanntes Leiden. Sie zeigt sich besonders in der zunehmenden Schwierigkeit, Sprechen zu verstehen, insbesondere bei Hintergrundgeräuschen. Durch einen Hörverlust besonders bei hohen Frequenzen gelingt es immer weniger, Stimmen herauszuhören, denn sie sind vor allem durch ihre Obertöne charakterisiert. Man bekommt in Gesprächen nicht mehr alles mit, leidet unter Informationsmangel, will nicht dauernd nachfragen, wird misstrauisch und meidet zunehmend soziale Kontakte. Der Teufelskreis kann mit einem Hörgerät durchbrochen werden, das individuell angepasst wird. Wenn man taub geworden und das Innenohr irreversibel geschädigt ist, kann ein Cochlea-Implantat helfen. Es ist ein mehrteiliges Gerät, das die über ein Mikrofon empfangenen Schallwellen in elektrische Impulse umwandelt. Diese werden von einem Elektrodenträger, der in die Windungen der Cochlea eingeführt wird, nach Frequenzen geordnet direkt auf den Hörnerv übertragen. Auch die taktile Sensibilität lässt im Laufe des Lebens nach. Sie ist am Ende der Pubertät am höchsten und nimmt vom 30. Lebensjahr an allmählich ab. Ursache ist eine Verringerung der Anzahl von Ruffini- und Meißner-Körperchen in der Lederhaut, die für das Tasten mit den Händen wichtig sind und in den Fußsohlen einen Beitrag dafür leisten, sicher stehen und gehen zu können. Das wirkt sich im hohen Alter in diesbezüglichen Unsicherheiten aus. Untersuchungen an Physiotherapeuten haben ergeben, dass ihre taktile Leistungsfähigkeit mit dem Alter nicht abnimmt. Das spricht dafür, dass der angesprochene Schwund durch entsprechende Übung aufgehalten werden kann. Daraus und aus vielen anderen Beobachtungen lässt sich die Konsequenz ziehen, mit zunehmendem Alter keinesfalls in Passivität zu verfallen, sondern verstärkt alle Sinne zu gebrauchen. Schwimmen beispielweise ist eine Tätigkeit, die den ganzen Körper fordert und alle Sinne anspricht. Auch das Streicheln sollte man nicht allein frisch Verliebten, jungen Eltern und Tierliebhabern überlassen, sondern mit dem Partner teilen, solange es geht. Kurz gesagt: Genetische Programme, Umweltbedingungen und eigene Aktivität bestimmen die Entwicklung der Wahrnehmungswelt. Bereits vorgeburtlich werden Erfahrungen gemacht, 112
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Wie entwickelt sich die Wahrnehmungswelt?
die Sensorium und Motorik koordinieren und das Körper-Ich als etwas von der Umgebung Getrenntes begründen. Nach der Geburt entwickelt sich die Wahrnehmungswelt vom Mundraum über den Greifraum zu dem von den Fernsinnen dominierten Raum. Der Gesichtssinn ist erst im vierten Lebensjahr ausgereift. In der Pubertät wird das Gehirn teilweise umstrukturiert, was auch die Sicht auf die Dinge und das Selbstbild verändert. Im höheren Alter lässt die Leistungsfähigkeit fast aller Sinne nach, was durch Hilfsmittel und Training zum Teil kompensiert werden kann.
Literatur Guski 1996. Jütte 2000. Kaufmann-Hayoz 1989. Kobbert 2008. Oerter 1973, 2014.
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Die zweite Entstehung der Welt
Von Farben begleitete Zeichen Ich veranstalte ein Seminar über Licht und Farbe, an dem angehende Künstler, Kunsterzieher, Designer und Architekten teilnehmen. Wir versuchen zu klären, ob wir Farben gleich oder unterschiedlich empfinden. Bald stellt sich heraus, dass erstaunliche Unterschiede bestehen. Es zeigt sich auch, dass eine Antwort auf diese Frage für die Teilnehmer von unterschiedlicher Bedeutung ist. Von Künstlern wird erwartet, dass sie authentisch sind. Ein Gemälde entsteht im Wechselspiel zwischen Künstler und entstehendem Werk nach Maßgabe dessen, was der Künstler wahrnimmt und was ihm wichtig ist. Fremdbestimmung durch Dritte wird abgelehnt. Designer oder Architekten dagegen stehen in der Verantwortung, etwas zu schaffen, was auf die Bedürfnisse anderer Menschen zugeschnitten ist, und müssen sie im Spannungsfeld zur eigenen Authentizität berücksichtigen. Können sie ohne Weiteres von ihrem Farbempfinden auf das anderer schließen? Bald wird klar, dass dies nicht in jeder Hinsicht möglich ist. Und es zeigt sich, dass auch die Künstler großes Interesse haben daran, was andere Menschen bei ihren Bildern empfinden.
Abb. 42: Zeichnung einer Synästhetikerin. Eine teilnehmende Künstlerin hat ein Bild angefertigt, um uns eine Eigentümlichkeit ihrer Wahrnehmung zu vermitteln. Das Bild besteht aus einer Reihe von Wörtern und
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Zahlen, deren Buchstaben und Ziffern sie farbig unterlegt hat. Z. B. ist jedes „O“ rot unterlegt, ebenso jede „3“. „E“ und „2“ sind gelb. „A“ ist blau oder violett, je nachdem, mit welchen anderen Buchstaben es kombiniert ist. Sie sagt, dass sie vor Jahren bemerkt hat, dass sie Synästhetikerin ist. Es ist ihr erst bewusst geworden, als sie erstaunt feststellte, dass andere Personen nicht so wahrnehmen wie sie selbst. Sie nimmt Buchstaben und Zahlen immer zusammen mit Farben wahr, gleich, ob sie sie sieht oder hört. Dabei seien die Kombinationen immer die gleichen. Fast entschuldigend merkt sie an, dass ihre Zeichnung das, was sie erlebt, nicht ganz richtig wiedergibt. Denn es sei nicht so, dass die Buchstaben und Ziffern selbst farbig sind. Vielmehr treten die Farben begleitend auf, ganz ohne Form. Leider sieht sie keine Möglichkeit, es besser zu vermitteln. Sie sähe die Farben getrennt von den Zeichen wie Klänge, die gleichzeitig ertönen.
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Nimmt jeder die Welt anders wahr?
Anders gefragt: Haben die Mitmenschen eine anders geartete Erlebniswelt als wir selbst? Jeder hat seine eigene Perspektive. Weil zwei Menschen niemals den gleichen Raum einnehmen, ist zwangsläufig der Standpunkt verschieden, von dem aus wir etwas sehen, und was für den einen verdeckt ist, ist für den anderen vielleicht sichtbar. Wenn zwei sich gegenseitig anschauen, ist das Umfeld ein jeweils anderes. Solche Unterschiede betrachten wir allerdings als unerheblich, weil wir physisch in der Lage sind, den Standpunkt des anderen und damit seine Perspektive einzunehmen. Im Allgemeinen gehen wir im Alltag davon aus, dass wir und die Mitmenschen eine gemeinsame Welt teilen. Das scheint so selbstverständlich, dass kaum jemand darüber nachdenkt. Die letzten Kapitel haben gezeigt, wie bei jedem Menschen eine eigene individuelle Welt entsteht. Wie kommt es dazu, dass wir einen ganz anderen Eindruck haben? Aus mehreren Gründen. Erstens ist davon auszugehen, dass die physikalische Welt strukturiert ist und daher auch die Reize, die jeden Organismus treffen, in vergleichbarer Weise strukturiert sind. Zweitens ist davon auszugehen, dass die biologischen Prozesse in allen Individuen auf vergleichbaren Prinzipien beruhen. Drittens sind die Erfahrungen innerhalb der Gemeinschaft, in der das Individuum aufwächst, von ähnlicher Art, so auch die Ergebnisse sprachlichen Austauschs. Gewisse Unterschiede, die wir bemerken, sind wir oft bereit, in wechselseitiger Kommunikation abzugleichen. So entsteht die „soziale Wirklichkeit“, die eine gedankliche Konstruktion ist und im Grunde genommen aus lauter Einzelwirklichkeiten besteht. Das wird oft erst dann deutlich, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die andersartige biologische oder kulturelle Voraussetzungen mitbringen. Es gibt viele Fälle, in denen die Wahrnehmungsbedingungen ganz offensichtlich verschieden sind. Das ist z. B. bei Farbenblindheit der Fall. Die Betroffenen können bestimmte Farbtöne 115
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nicht oder nur schlecht unterscheiden oder nehmen überhaupt keine Farbqualitäten wahr. Besonders häufig ist die Deuteranopie. Hierbei kann Rot nicht von Grün unterschieden werden. Das ist für den „Normalsichtigen“ schwer nachvollziehbar, handelt es sich doch für ihn um einen besonders starken Farbgegensatz. Umgekehrt ist es unmöglich, einem Rot-Grün-Blinden zu beschreiben, worin der doch so offensichtliche Unterschied besteht. Rot-Grün-Blindheit und Rot-Grün-Schwäche sind in Europa bei etwa 8 % der Männer zu finden, aber nur bei 0,4 % der Frauen. Dieser Geschlechtsunterschied ist damit zu erklären, dass das Gen für die Ausprägung des Filters für die M-Zapfen auf dem X-Chromosom liegt. Fehlt dieses Gen, dann gibt es für den halben Bereich des sichtbaren Lichtspektrums lediglich einen Rezeptortyp, und es kann zusammen mit den S-Zapfen insgesamt nur langwelliges von kurzwelligem Licht unterschieden werden. Der ganze Bereich von Grün über Gelb und Orange bis Rot einschließlich Braun erscheint dann in einer einzigen Qualität. Frauen verfügen über zwei X-Chromosomen und haben damit ein Gen für die M-Zapfen in Reserve, bis auf den seltenen Fall, dass zufällig beide X-Chromosomen die gleiche Abweichung aufweisen. Dann erscheint auch ihnen der halbe Spektralbereich in einer einzigen Qualität. Und es gibt keine Methode um festzustellen, ob es sich bei dem, was sie dabei empfinden, um ein Grün, ein Gelb, ein Orange, ein Rot oder um eine ganz andere Qualität handelt. Die Alters-Tritanopie wurde schon angesprochen, bei der die gelbliche Eintrübung der Linse zu Blaublindheit führt. Der Maler Claude Monet, dem wir z. B. die wunderbaren Bilder aus seinem Garten in Giverny verdanken, litt darunter. Er litt umso mehr, als er die Veränderung der Wirkung seiner Bilder mit Widerwillen wahrnahm. Er wollte die Malerei schon aufgeben, als er sich zu einer Staroperation überreden ließ. Sie gelang. Doch nun erschienen ihm seine zuletzt gemalten Bilder alle falsch, er versuchte sie zu korrigieren, was nicht gelang. Er kam mit den Änderungen seiner Farbwahrnehmung nicht zurecht, verfiel in Depressionen, hörte auf zu malen und starb drei Jahre nach der Operation. Neben Störungen des Farbensehens, die durch den Ausfall von Zapfentypen oder die Eintrübung der Linse zustande kommen, gibt es Beeinträchtigungen durch den Ausfall bestimmter Hirnregionen. Kortikale Achromatopsie kann durch einen Schlaganfall oder durch einen Tumor verursacht werden. Sie äußert sich dadurch, dass die Welt ihre Farbigkeit teilweise oder ganz verliert. Viele Tiere sind sensibel für andere Spektralbereiche als wir. Bienen können Ultraviolett sehen, dafür sind sie blind für das, was uns rot erscheint. Vögel haben außer den drei Zapfentypen, die unserem Farbsystem entsprechen, einen vierten Zapfentyp für Ultraviolett. Das schwarze Gefieder der Krähen etwa zeigt sich ihnen in einer Farbigkeit, die uns verborgen bleibt. Unsere eigenen Zapfen, die für das kurzwellige Licht empfindlich sind, reagieren zwar auch auf UV, doch können wir es nicht von Blauviolett unterscheiden, weil für die Diskriminierung ein weiterer Zapfentyp für den kurzwelligen Bereich erforderlich wäre. 116
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Abb. 43: Oben: Sumpfdotterblumen, wie wir sie sehen. Unten: Der Versuch einer bildlichen Übertragung, wie die Biene sie sieht, in unsere Farbenwelt. Lichtwellen, die uns gelb erscheinen, sind für sie das langwelligste Licht ihres Spektrums, weshalb hierfür rot gewählt wurde. Die Spitzen der Blütenblätter reflektieren beide Enden des Bienenspektrums und sind deshalb in Purpur wiedergegeben. Oft zeigen die Blüten für Bienen ein differenzierteres Farbmuster als für uns. Die Blüten senden in Geruch und Aussehen Signale nicht an uns, sondern an die bestäubenden Insekten. Beide entwickelten sich in Koevolution schon zur Kreidezeit, ca. 100 Millionen Jahre vor dem ersten Auftreten der Menschen.27 Unser trichromatisches System mit 3 Zapfentypen hat sich vor etlichen Millionen Jahren aus einem dichromatischen System entwickelt, indem ein Zapfentyp für die langen Wellenlängen sich in zwei Typen aufspaltete. Es war gleichsam die Geburtsstunde für die Unterscheidung von Rot und Grün. Die theoretische Möglichkeit, dass sich beim Menschen weitere Zapfentypen bilden, ist bereits vereinzelt Realität. In diesen Fällen ist auf dem X-Chromosom das Gen für weitere OpsinVarianten entdeckt worden. Ob dadurch das Farbensehen etwa durch völlig neue Qualitäten bereichert worden ist, konnte noch nicht festgestellt werden, ist aber denkbar. Andere Farbqualitäten als die, die wir sehen, können wir uns auch nicht vorstellen. Oder können Sie es? Es handelt sich um Qualia, nicht reduzierbare Eigenschaften des bewussten Erlebens, die sich nicht in Worte fassen oder anderweitig objektivieren lassen (s. Kap. 43). Daraus ergibt sich, dass auch bei objektiv gleichen Wahrnehmungsbedingungen nicht unbedingt das Gleiche erlebt wird. Das Erleben ist subjektiv, d. h. für jedes Subjekt individuell gegeben, 117
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und es gibt keinen Weg festzustellen, ob Sie z. B. bei „Rot“ das Gleiche empfinden wie ich oder irgendeine andere Person. Vielmehr können wir davon ausgehen, dass es wohl Ähnlichkeiten gibt – sonst hätten wir große Verständnisprobleme –, aber auch große Spielräume. In eigenen Untersuchungen habe ich festgestellt, dass ein Pigment, das von manchen als reines Rot beschrieben wurde, von einzelnen anderen als reines Orange angesehen wurde, und dass andere das, was manche als reines Orange ansahen, als reines Gelb beschrieben (s. Abb. 92). Überdies ist die emotionale Wirkung von Farben unterschiedlich. Z. B. kann der gleiche rote Farbton von manchen als beängstigend, von anderen als belebend, das gleiche Grün als wohltuend oder als giftig beschrieben werden. Solche Unterschiede gehen meistens unter bei Bemühungen, durchschnittliche Wirkungen festzustellen, die z. B. für Designer von Interesse sind, die für ein großes Publikum arbeiten. Von naturgesetzlich festgelegten Farbwirkungen und -Bedeutungen, wie sie Goethe und vielen Künstlern vorschwebten, kann keine Rede sein. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind in der Wahrnehmungsweise begründet. Eine Erfahrungsbereicherung bilden Versuche, anderen Wahrnehmungswelten näherzukommen, selbst wenn man zugleich die Grenzen hierfür spürt. Die in Kap. 14 beschriebene Hinderniswahrnehmung mit verbundenen Augen ist ein Beispiel, bei der man eine Ahnung davon bekommt, wie Blinde ihre Umgebung wahrnehmen. Ein anderes Beispiel: Manche Schlangenarten können Wärmebilder sehen. Das ist uns verwehrt, weil unser visuelles Spektrum seine Grenze beim Infrarot hat. So bleibt unseren Sinnen vieles der physikalischen Realität verborgen, wir können aber manches mit technischen Mitteln feststellen und in unsere Farbenwelt übertragen, s. Abb. 44.
Abb. 44: Wasser wie Feuer. Mit einer Wärmebildkamera werden die Strömungsmuster sichtbar, die sich in der Badewanne bilden, wenn heißes Wasser in kaltes fließt. Gelb bedeutet warm, blau kalt. 118
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Unser Wärmesinn gibt uns in der Regel Auskunft über die allgemeine Umgebungstemperatur oder über die Temperatur einzelner Objekte. Darüber hinaus können wir unseren Wärmesinn nutzen, um uns ein Bild zu machen, das vielleicht dem entspricht, was eine Klapperschlange sieht. Abb. 45 gibt das Beispiel für einen solchen Versuch durch eine Studentin. Sie ertastete mit den Fingerspitzen der linken Hand (die taktil meistens sensibler ist als die rechte) die rechte Hand und übertrug die erspürten Wärmezonen in die Farben eines Bildes.
Abb. 45: Gemaltes Wärmebild einer Studentin. Sie ertastete mit den Fingern der linken Hand die rechte und setzte ihre Eindrücke in Farben um, von Gelb für Warm bis Blau für Kalt. Rechts die rechte Hand, nachdem sie gerieben und dadurch wärmer wurde. Während wir ein Wärmebild zwar mühsam, aber im Prinzip aus der unmittelbaren Sinneserfahrung konstruieren können, während wir Hindernisse im Dunkeln bei etwas Übung mit dem Gehör erkennen, sind uns andere Wahrnehmungsweisen von Tieren gänzlich verschlossen. Insekten können polarisiertes Licht sehen und erkennen damit den Sonnenstand auch bei bedecktem Himmel. Zugvögel haben einen Magnetsinn, der sie auch leitet, wenn keine Sterne zu sehen sind. Zitterrochen nehmen die Körperelektrizität ihrer Beute wahr. All das gehört zur jeweiligen Umwelt dieser Tiere, an die sie optimal angepasst sind. Entsprechend sind wir Menschen biologisch an eine bestimmte Umwelt angepasst. Beispielsweise liegt die Empfindlichkeit unserer Lichtrezeptoren nicht zufällig im Bereich von 380 bis 720 nm Wellenlänge. Es ist der winzige Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums von den Gamma- bis zu den Radiowellen, den die Sonne seit vielen Millionen Jahren maximal abstrahlt, und der zudem von der Atmosphäre durchgelassen wird. Das Auge hat sich in seiner Entwicklung genau auf diesen kleinen Ausschnitt eingerichtet und kann dadurch auch bei schwacher Beleuchtung seinen Dienst leisten. 119
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Bemerkenswert sind die Seitenlinienorgane, über die Fische und Amphibien verfügen. Mit ihnen spüren sie andere Tiere, die vorbeischwimmen, auch bei Dunkelheit. Diese Organe bestehen in manchen Fällen aus „Lorenzinischen Ampullen“, mit denen sie elektrische Felder wahrnehmen. In anderen Fällen bestehen sie aus Haarzellen. Sie tragen Haare (Cilien), die ins Wasser ragen. In der Haut werden Verbiegungen der Haare von Rezeptoren registriert und führen zu Signalen. Dieses Prinzip wurde im Laufe der Evolution weiterentwickelt, und jeder Mensch profitiert davon. Wir erinnern uns: Jedes unserer Körperhaare wird durch das Nervengeflecht an den Follikeln zum Tastorgan, in den Bogengängen des Vestibularapparats registrieren Haarzellen alle Kopfdrehungen, Haarzellen in Utriculus und Sacculus sichern das Gleichgewicht, und nicht zuletzt: Haarzellen in der Cochlea sorgen dafür, dass wir hören können. Dieses Prinzip findet eine kulturelle Fortsetzung, die 1945 erfunden wurde und vielen Blinden als wichtigstes Hilfsmittel gilt: im Langstock. Sehenden erscheint der weiße Stock, mit dem Blinde sich mit großer Sicherheit zu bewegen wissen, als primitives Instrument. Doch er fungiert wie ein Tasthaar der besonderen Art. Der Stock selbst mit seiner Kugelspitze ist wie ein Haar fühllos, aber die Hand, die ihn führt, ist das Pendant zu dem Nervengeflecht an den Haarfollikeln. Der Blinde führt den Stock pendelnd auf dem Boden vor sich her. Damit werden Hindernisse, Treppen, Bordsteinkanten usw. bemerkt, Entfernungen, Höhenunterschiede und Oberflächeneigenschaften. Nach einem gewissen Training vermag sich der Blinde damit ein Bild seiner Umwelt zu verschaffen, mit dem er besser zurechtkommt, als die meisten Sehenden meinen. Bei manchen Menschen hat man den Eindruck, dass sie einen Sinn haben, der den meisten abgeht. Bekannt ist die „Wetterfühligkeit“, eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Wechseln des Luftdrucks, der Luftfeuchtigkeit oder der Temperatur, die sich auf Befinden und Leistungsfähigkeit auswirken. Das Phänomen ist noch wenig erforscht. Möglich ist eine überempfindliche Reaktion auf Reize, die ab einer gewissen Schwelle jedermann bemerkt. Solche Schwellenunterschiede zwischen Menschen zeigen sich in allen Sinnesbereichen. So besitzen manche Menschen eine extreme Sehschärfe, die es ihnen ermöglicht, mit bloßem Auge etwa den Ring des Planeten Saturn zu erkennen. Manche Besonderheiten der Wahrnehmung werden durch langes Training erworben, das nicht so sehr die Rezeptoren, sondern die zentralnervöse Verarbeitung ihrer Signale im Kontext der entsprechenden Erfahrungsgesamtheit betrifft. Das gilt z. B. für Verkoster. Degusteure und Lebensmittelsensoriker brauchen nicht nur feine Sinne, sondern viel Erfahrung mit Genussmitteln. Die Kunst der Sommeliers in Bezug auf Geruch und Geschmack ist nicht möglich ohne die Kenntnis tausender von Weinen samt ihrer Herkunftsorte und Jahrgänge. Ärzte und Physiotherapeuten können durch bloßes Abtasten des Körpers (Palpieren) an feinsten Merkmalen Erkrankungen von Muskeln, Knochen und inneren Organen diagnostizieren. Diamantaire erkennen an Diamanten Farbnuancen, die der Laie nicht sieht. Musiker und Instrumentenbauer sind sensibel für feinste Klangunterschiede. Zu den Schwellenunterschieden kommt eine unterschiedliche Bewertung der gleichen 120
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Reizquelle. So empfinden manche als Lärm, was anderen Musik ist, empfinden manche als schmerzhaft, was anderen ein belangloser Klaps ist. In die Bewertung geht oft auch der soziale Kontext ein. So empfindet man Kitzeln als erheiternd oder als unangenehme Belästigung, je nachdem, wer in welcher Situation die soziale Raumschwelle unterschreitet. Solche Wahrnehmungsunterschiede sind jedem vertraut. Bewertungen und Gewohnheiten sind in hohem Grad abhängig von dem kulturellen Umfeld, in dem man aufgewachsen ist, und damit können Wahrnehmungen stark modelliert werden. Man denke nur an die Prägung durch unterschiedliche Esskulturen. In China werden mancherorts Hunde, Katzen und Schlangen gegessen, was bei Westlern Widerwillen auslöst. Dagegen mögen Chinesen kein Mineralwasser mit Kohlensäure, und Käse ekelt sie an, er ist für sie nur verdorbene Milch. Hinzu kommt der genetische Unterschied, dass 94 % der Chinesen unter Laktoseintoleranz leiden, aber nur 15 % der Deutschen. Innerhalb der menschlichen Vielfalt gibt es auch Erlebnisweisen, die über alles Genannte hinausgehen und nicht für jeden nachzuvollziehen sind, ohne dass sie, wie etwa Halluzinationen, als pathologisch einzustufen wären. Dazu gehören die Synästhesien. Unter 100 000 Bewohnern einer Stadt dürften sich etwa 50 befinden, die geborene Synästhetiker sind. Bei einem großen Teil von ihnen treten Farben auf, wenn sie Zahlen und Buchstaben hören oder lesen wie in dem einleitend geschilderten Beispiel. Bei anderen sind es musikalische oder andere Klänge, die zusätzlich Farberlebnisse auslösen. Auch die Verbindung von Gerüchen, Geschmäcken und sogar von Schmerzen mit Farben kommen vor. Meistens ist die Verbindung mit Farben gegeben, vereinzelt gibt es auch Verknüpfungen unter anderen Sinnesmodalitäten, so können manche Synästhetiker Töne schmecken. Diese Zusammenhänge sind stets zwingend und gleichbleibend. Stets gibt es einen „Auslöser“ (z. B. der Buchstabe A) und einen „Mitläufer“ (z. B. die Farbe Blau). Die Verbindung ist idiosynkratisch, d. h. für jeden Synästhetiker individuell. Solche Synästhesie ist nicht erlernt, sondern meistens seit frühester Kindheit gegeben. Bei Frauen kommt Synästhesie dreimal so oft vor wie bei Männern, bei Kindern ist sie häufiger als bei Erwachsenen. Menschen, die diese Besonderheit besitzen, halten sie für eine selbstverständliche, reale Eigenschaft der Welt und sind erstaunt, wenn sie erfahren, dass die meisten Menschen die Welt nicht wie sie wahrnehmen. Ebenso erstaunt sind sie, wenn sie sich mit anderen Synästhetikern austauschen und feststellen, dass die Zuordnungen individuell ganz verschieden sind. Wenn die synästhetische Besonderheit der Wahrnehmung im Laufe des Lebens verschwindet, wird sie als Verlust erfahren. Bis heute ist nicht endgültig geklärt, wie sie zustande kommt. Sie lässt sich nicht erlernen und nicht verändern. Interessant ist der Befund, dass im Gehirn neugeborener Affen und Katzen Verbindungen zwischen Hör- und Sehzentrum bestehen, die sich nach wenigen Monaten auflösen. Im jungen Gehirn auch beim Menschen gibt es viele neuronale Verbindungen, die später verkümmern, wenn sie nicht ständig aktiviert werden. Möglicherweise haben sich bei 121
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Synästhetikern frühe Verknüpfungen ungewöhnlich verfestigt. Trotz der offenen Fragen besteht kein Zweifel darüber, dass Synästhesien ein Produkt des Gehirns sind, auch wenn die Phänomene für die Betroffenen untrennbar zu ihrer Wirklichkeit gehören. Synästhesien sind auffällige Beispiele dafür, wie verschieden Wahrnehmungswelten sein können. Weniger offensichtlich sind viele andere Unterschiede, die wir nicht oder kaum bemerken. Sie werden im täglichen Umgang miteinander selten zur Sprache gebracht, und manchmal haben wir einfach keine Worte dafür. Warum etwa dem einen etwas schmeckt und dem anderen nicht, lässt sich nicht objektiv begründen, und wir gehen der Sache weiter nicht nach. Es gibt keine Norm für unser Erleben, vielmehr hat jeder seine Besonderheiten, die teils biologisch mitgegeben, teils durch eine individuell verschiedene Biografie von Erfahrungen geprägt sind. Selbst innerhalb eines bestimmten Kulturkreises hat jeder Mensch durch seine Eltern, persönlichen Erlebnisse, Schulungen und Tätigkeiten seinen ganz eigenen Kontext gebildet, auf dessen Hintergrund er jede neue Erfahrung bewertet, verwirft oder verinnerlicht. Jeder Mensch ist anders und nimmt deshalb auch anders wahr. Umso erstaunlicher ist es, dass wir uns einigermaßen verstehen. Dem soll an anderer Stelle nachgegangen werden. Kurz gesagt: Jede Wahrnehmungswelt ist in eigener Weise beschaffen, weil jede Entwicklung auf eigenen Erfahrungen beruht. Hinzu kommen Unterschiede in den biologischen Dispositionen, was am Beispiel der Farbenblindheit und der angeborenen Synästhesie besonders deutlich wird.
Literatur Cytowic 1995. Guski 1996. Speckmann u. a. 2019.
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Sterne, wo keine sind Der Teich ist gefroren. Das reizt zu neuen Taten. Ich bin etwa 9 Jahre alt und ziehe zum ersten Mal Schlittschuhe an. Das heißt, ich schnalle mir ganz einfach Stahlkufen unter die normalen Straßenschuhe. Mein Freund hat sie auf dem Dachboden gefunden. Davon, dass man mit den alten Dingern im Knöchelbereich leicht umknickt, haben wir keine Ahnung. Aber so weit kommt es gar nicht. Kaum wage ich mich aufs Eis, falle ich rücklings auf den Hinterkopf. Ich spüre den Schlag, aber noch etwas anderes. Es wird mir blau vor den Augen, dann wechselt das Blau zu Schwarz. Nach einigen Momenten stehe ich etwas benommen wieder auf und ich kann allmählich wieder alles sehen. Der Schmerz ist nicht so stark wie das Erstaunen darüber, dass die Welt sich vorübergehend in Blau verwandelte und verschwand. Einige Jahre später gehe ich mit Freunden nachts eine Landstraße entlang. Es ist stockfinster, kein Stern ist zu sehen, nichts. Ich gehe voran und fühle den Weg mit den Füßen, immer an der Grenze von Asphalt und Schotter entlang. Da kommen uns kräftige Schritte entgegen, knirschend auf dem Schotter. Dem Klang nach muss es ein großer Mann sein. Er weicht uns nicht aus, und bevor wir es tun können, bekomme ich unvermittelt einen heftigen Schlag mitten ins Gesicht. Ich sehe eine Kaskade von hellen Lichtern. Schon ist der Mann im Dunkeln verschwunden, aber die Lichter funkeln noch eine Weile in Farben. Faszinierend.
17 Echte Erlebnisse bei falschen Reizen? Anders gefragt: Rührt das, was wir sehen und spüren, immer von der Außenwelt? Dass unsere Wahrnehmungswirklichkeit keine unmittelbare Wiedergabe physikalischer Realitäten ist, sondern teilweise ein Eigenleben führt, zeigt sich in besonderer Weise bei Wirkungen „inadäquater Reize“. Das sind solche, die von denen abweichen, die gewöhnlich die Rezeptoren stimulieren und am Anfang der Afferenzen stehen. Wir hatten ein Beispiel schon in Zusammenhang mit den sog. Phantomschmerzen von Amputierten kennengelernt, bei denen Schmerzen und andere Empfindungen an Körpergliedern zu spüren sind, die nicht mehr existieren. Sie werden z. T. durch Reizungen im Narbengewebe des Stumpfes herbeigeführt. Die Nervenerregungen münden nach wie vor in die gleichen Hirnregionen des somatosensorischen Kortex, und diese Orte, nicht die peripheren Ursprungsorte, entscheiden darüber, was der Betroffene wo spürt. Anders gesagt: Entscheidend ist der Ort in dem vom Gehirn generierten Körper-Ich, nicht der Ort des physikalischen Reizes. Bei einem Schlag aufs Ohr schmerzt nicht nur die Ohrmuschel, sondern man kann auch außer dem Schlaggeräusch „die Englein singen hören“. Die Neurone in der Cochlea werden 123
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mechanisch gereizt, was ein länger anhaltendes Klangerlebnis hervorruft. Bei einem Tinnitus können, wie schon angesprochen, interne neuronale Aktivitäten der Hörzentren des Gehirns zu dauerhaft störenden Geräuscherlebnissen führen. Späterblindete sehen durchaus nicht immer nichts oder alles schwarz, sondern berichten gelegentlich darüber, dass plötzlich das ganze Gesichtsfeld von einer Farberscheinung überflutet wird. Das wird als störend empfunden und kann, wenn es z. B. blutrot ist, Erschrecken und Angst auslösen. Auch hierfür sind interne Ausstrahlungen neuronaler Erregungen verantwortlich zu machen, die ohne äußeren Anlass die Sehzentren affizieren. Entsprechendes gilt für die charakteristisch strukturierte farbige Aura, die bei vielen Migränepatienten auftritt (s. Kap. 11). Aus der Kindheit ist vielen das Experiment bekannt, mit der Zunge die Pole einer 4,5 VBatterie zu verbinden. Dabei entsteht ein süß-saures Geschmackserlebnis in Verbindung mit einer Kitzelempfindung. Die Rezeptoren werden veranlasst, Erregungen ins Gehirn zu leiten. Diese werden dort im Sinne der Modalitäten interpretiert, für die die Rezeptoren gewöhnlich zuständig sind. Bei einer 9V-Blockbatterie können auch Nozizeptoren aktiviert werden, wovon sich jeder leicht überzeugen kann. Elektrische Schläge sind den meisten aus eigener Erfahrung bekannt. Geht man bei geringer Luftfeuchtigkeit über einen Teppich, lädt sich der Körper elektrisch auf. Fasst man dann einen metallischen Körper an, findet ein plötzlicher Austausch der Elektronen statt, und man bekommt einen leichten elektrischen Schlag. Das kann auch passieren, wenn man jemandem die Hand gibt. Gefährlich sind diese kleinen Stromschläge nicht. Einen kräftigen Schlag bekommt man am Viehweidezaun. Ein Stromschlag beim Haushaltsstrom kann das Herz gefährden. Der je nach Stromstärke leichte bis starke Schmerz kommt durch die Muskelverkrampfung zustande, die der Strom auslöst. Es fühlt sich dann so an, als hätte man einen Schlag auf den Muskel bekommen. In der Medizin werden vereinzelt inadäquate Reize zu diagnostischen Zwecken angewandt. Bei Gleichgewichtsstörungen kann die Ursache im Labyrinth oder im Zentralnervensystem liegen. Bei der kalorischen Labyrinthprüfung wird der äußere Gehörgang mit kaltem und warmem Wasser gespült. Das führt zu einer Dichteänderung der Endolymphe, diese wiederum zu einer Reizung in den Bogengängen. Letztere hat bei intakter Funktion reflektorisch bestimmte Augenbewegungen zur Folge, bei warmem Wasser zum gereizten Ohr hin, bei kaltem Wasser vom Ohr weg. Funktioniert der Test bei beiden Ohren gleich gut, ist die Gleichgewichtsstörung nicht im Vestibularorgan zu suchen. Bereits erwähnt wurde das Kribbeln in den Fingern bei einem Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule. Aus der Feststellung, welche Finger diese unangenehmen Sensationen spüren, kann der Arzt feststellen, welche Nervenwurzel der Halswirbelsäule eingeklemmt ist. Bei der Elektroneurographie wird durch künstliche elektrische Reizung die Nervenleitgeschwindigkeit 124
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Echte Erlebnisse bei falschen Reizen?
geprüft. Dies ist gefahrlos, aber mit Missempfindungen verbunden, weil dabei auch diverse sensorische Bahnen affiziert werden. Kennen Sie das auch? Wenn ich in helles Licht schaue, muss ich niesen. Dieser „photische Reflex“ kommt bei einem Drittel der Menschen vor. Er hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ein Strang des Gesichtsnervs Nervus trigeminus, der für die Nasenhöhlen zuständig ist, in unmittelbarer Nähe des Sehnervs vorbeiläuft. Bei starker Lichtreizung springt ein Teil der Erregung auf den Trigeminus über und wird vom Gehirn so interpretiert, als würde die Nasenschleimhaut gereizt, was den Niesreflex auslöst. Biologisch macht das sogar einen gewissen Sinn, denn beim Niesen werden reflexartig die Augen geschlossen, und das schützt die Photorezeptoren, wenn man in die Sonne blickt. „Inadäquate Reize“ gibt es beim Sehen vielfach. Erhält man einen Faustschlag auf das Auge, sieht man buchstäblich Sterne. Durch den plötzlichen Druck auf den Augapfel werden Neurone der Netzhaut gereizt, und dies führt letztendlich zum gleichen Ergebnis, als wenn man Lichtfunken aufblitzen sieht. Astronauten haben mehrfach berichtet, dass sie in der Startphase der Rakete, wenn die Beschleunigung mehrere g beträgt, ein verzweigtes Muster sehen, das das ganze Gesichtsfeld ausfüllt. Dabei handelt es sich um das Netz aus Blutgefäßen, das auf der Retina aufliegt und ihr bei starker Beschleunigung gleichsam seinen Stempel aufdrückt. Auch berichten Astronauten übereinstimmend, dass sie im Weltall pro Minute mehrere Lichtblitze sehen. Dabei handelt es sich um Effekte der kosmischen Strahlung aus Protonen und schwereren Teilchen, die den Körper und somit auch die Lichtrezeptoren affizieren. Unverhofft werden so kosmische Ereignisse „sichtbar“, die auf der Erdoberfläche nicht bemerkt werden, weil sie von der Atmosphäre absorbiert werden. Wenn man sich eine Zeitlang im Dunkeln aufhält und die Empfindlichkeitsschwelle der Augen dadurch abgesenkt ist, kommt es oft zu „Phosphenen“ oder „entoptischen Erscheinungen“. Dazu kann schon reichen, dass man die Augenlider zusammenkneift. Solche schwachen mechanischen Reize genügen, um farbige Felder, die sich konzentrisch ausdehnen und pulsieren, blütenartige Formen, Arrangements von Punkten oder Texturen hervorzurufen. Ich habe bei meiner Vordiplomarbeit Gelegenheit gehabt, über Tage hinweg viele Stunden lang bei völliger Dunkelheit und bei völliger Stille in dem unterirdisch gelegenen schalltoten Raum einer HNO-Klinik zu verbringen und dabei Phosphene von zahlreichen Beobachtern zu protokollieren. Die Erscheinungen hatten die Tendenz, im Laufe von Stunden immer deutlicher zu werden, und ich musste die Versuche gelegentlich abbrechen, wenn die Gefahr bestand, dass die Erscheinungen den Charakter von Halluzinationen bekamen und für real gehalten wurden. In solchen Fällen wurde mir als Versuchsleiter vorgehalten, ich sei es, der diese Phänomene durch Projektionen und dergleichen erzeuge. Übrigens führte das völlige Fehlen externer Schallquellen dazu, dass auch die Hörschwelle abgesenkt wurde und der eigene Herzschlag deutlich zu hören war. Ferner wurde von Klangerlebnissen berichtet, die denen 125
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beim Tinnitus entsprechen, zu interpretieren als eine Art Hintergrundrauschen neuronaler Eigentätigkeit des Gehirns. Phosphene lassen sich auch provozieren, indem an den Schläfen Elektroden angelegt und mit elektrischen Impulsen von 1 mA Stromstärke beschickt werden. In diesen Fällen wird unmittelbarer Einfluss auf die elektrochemische Signalübertragung im Sehnerv genommen. Bei solchen Experimenten wurden vor allem parallele Linien, Strahlenformen, Bögen und konzentrische Ringe gesehen, gehäuft bei einer Frequenz von 20–30 Hz. Meistens waren die Erscheinungen hell auf dunklem Grund, Farben traten nur selten auf.
Abb. 46: Entoptische Erscheinungen nach Dunkeladaptation. Zeichnungen einer Studentin. Die angesprochenen Empfindungen und Phänomene haben gemeinsam, dass sie eine andere Reizart oder Reizquelle haben als gewohnt. Wichtig ist, dass in allen Fällen – auch bei der alltäglichen Wahrnehmung! – nicht der Ort und die Natur des Reizes, sondern der Zielort im Gehirn darüber entscheidet, welche Empfindung auftritt, welche Qualität sie hat und wo sie lokalisiert wird. Darum wird uns auch „schwarz vor Augen“, wenn durch einen Sturz auf den Hinterkopf das Blut aus dem visuellen Zentrum weicht. Warum allerdings im oben geschilderten Fall das Gesichtsfeld zunächst von Blau geflutet wurde, bleibt bis auf Weiteres ungeklärt.
Abb. 47: Links eine Variante der Fechner-Benham-Scheibe. Bei Rotation mit 240 U/min sieht man farbige Ringe, die rechts idealisiert dargestellt sind. Bei Rotation im Gegensinn erscheint außen Blau und innen Rot. Ein langzeitbelichtetes Foto würde nur graue Ringe zeigen. 126
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Ein Rätsel zum Thema inadäquate Reizung gibt seit 180 Jahren die schwarzweiße FechnerBenham-Scheibe auf. Bei Rotation wird die Retina in bestimmten Folgen von Hell und Dunkel gereizt. Bei rascher Drehung verschmilzt das Gesehene zu konzentrischen Ringen, die nach allgemeiner Erwartung in unterschiedlichen Grautönen erscheinen sollten. Stattdessen sieht man bei einer bestimmten Drehgeschwindigkeit blasse, aber deutliche Farbringe im Rot-, Grünund Blaubereich. Vielleicht hat Gustav Theodor Fechner 1838 zufällig einen Code geknackt, mit dem im visuellen System Farbsignale verschlüsselt sind. Eine befriedigende Erklärung des Phänomens steht noch aus. Es müsste festgestellt werden, in welcher Form Neuronen der Sehbahn auf die Scheibe reagieren, und ob dies mit farbspezifischen Signalen korrespondiert. Schließlich sei hier noch ein Sonderfall im Zusammenhang von Reiz und Empfindung genannt, den wir alle kennen: das juckende bis schmerzende Brennen der Augen beim Zwiebelschneiden. Das verletzte Zellgewebe der Zwiebel bildet ein Gas, das entweicht (Propanthial-S-Oxid). Dieses reagiert mit der Tränenflüssigkeit der Augen und bildet Moleküle, die die Bindehaut reizen. Es handelt sich also um die Besonderheit einer chemischen Reizung außerhalb von Geruch und Geschmack. Die Augen produzieren dann noch mehr Tränenflüssigkeit, um die reizenden Moleküle fortzuspülen. Kleiner Tipp: Da das Gas der Zwiebel nach oben steigt, sollte man sich beim Schneiden nicht, wie es die meisten tun, darüber beugen.28 Kurz gesagt: Was man als Lichter, Klänge, Schmerzen etc. empfindet, entscheidet sich nicht am Ort der Rezeptoren, sondern an den Zielorten der sensorischen Nervenerregungen im Gehirn. Deshalb kommt es auch bei inadäquater Reizung des Sehnervs zu Lichterscheinungen oder durch Eigenaktivität der Hörzentren zum Tinnitus. Phantomschmerzen bei Amputierten zeigen, dass eine Empfindung auch dann in einem bestimmten Körperteil lokalisiert wird, wenn es nicht mehr existiert.
Literatur Eichmeier & Höfer 1974. Kobbert 2019a.
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Der verschwundene Ton In meinen Veranstaltungen zum Thema Licht und Farbe demonstriere ich gern eine Plasmakugel. Im Innern dieser edelgasgefüllten Glaskugel entstehen durch hochfrequenten Wechselstrom leuchtende Plasmafäden, die sich wie die Tentakel eines geheimnisvollen Wesens bewegen. Das Deckenlicht haben wir ausgeschaltet, damit das Phänomen seine ganze Wirkung entfalten kann. „Das Schöne ist“, sage ich, „dass man hier mit dem Licht wie mit einem Lebewesen interagieren kann“ und berühre mit der Spitze des Zeigefingers die Kugeloberfläche. Sofort sammelt sich dort ein besonders helles Lichtbündel, zuckt hin und her und folgt den Bewegungen des Fingers. „Jetzt bitte ich um absolute Ruhe“, sage ich und lege meine Handfläche voll auf die Kugel. Ein heftiger Schauer von hellen Blitzen tanzt zwischen dem Zentrum der Kugel und meiner Hand. „Hören Sie etwas?“ frage ich, wundere mich aber gleichzeitig, dass ich nichts höre, obwohl ich direkt danebenstehe. Bei früheren Demonstrationen sandte die Kugel ein hohes helles Kreischen aus, aber jetzt bleibt sie still. Ist etwas mit dem Gerät nicht in Ordnung? Ich erwarte, dass die 20 Kiloherz, in denen der Wechselstrom des Apparates schwingt, jetzt auch als Ton zu hören sind, so wie in früheren Jahren. Da sehe ich im Dämmerlicht, dass sich manche Anwesende die Ohren zuhalten. „Ja, furchtbar!“ ruft eine Studentin. Schlagartig wird mir bewusst, dass ich es bin, der den Ton nicht mehr hören kann. Natürlich, sage ich mir, mit dem Alter nimmt das Hörvermögen für hohe Frequenzen ab. Trotzdem ist es für mich wie ein Schock. Denn ich habe in meiner Wahrnehmung einen ganzen Tonbereich verloren. Plötzlich existiert für mich etwas nicht mehr, was vormals wie selbstverständlich zu meiner Welt ge-hörte. Es ist für mich unwiederbringlich zum Ultraschall geworden. Stattdessen habe ich jetzt im hochfrequenten Klangbereich einen Tinnitus. Ein permanentes weißes Rauschen und Fiepen, auf das ich gut verzichten könnte, produziert von Irrläufern der Hirnaktivität.
Abb. 48: Die Plasmakugel wird mit einer Frequenz von über 20 000 Hz angesteuert. Jüngere Menschen können solch hohe Töne meistens wahrnehmen. Mit zunehmendem Alter werden sie zum Ultraschall und verschwinden aus der Erlebniswirklichkeit. 128
18 Was hat unsere Welt mit der Realität zu tun? Anders gefragt: Gibt es verlässliche Beziehungen zwischen der physikalischen Außenwelt und dem, was wir erleben? Wenn die Wahrnehmung bei jedem Menschen zu einem individuellen Wirklichkeitserleben führt und oft ein merkwürdiges Eigenleben zeigt, erhebt sich die Frage, wie es mit ihrer Rolle bestellt ist, uns eine verlässliche Auskunft über die Beschaffenheit unserer Umwelt zu liefern. Darum soll es jetzt um die Beziehung zwischen der erlebten Wirklichkeit und der physikalischen Welt gehen. Genau diese Frage beschäftigte Gustav Th. Fechner, dem wir die vorhin besprochene Schwarz-Weiß-Scheibe mit ihren Farbeffekten verdanken (Charles Benham war daran insofern beteiligt, als er daraus ein Spielzeug machte). Fechner begründete 1860 die experimentelle Psychologie und verließ damit den Bereich bloßer Spekulation, religiöser Dogmatik und begrifflicher Gedankenspiele, die bis dahin die Lehre von der Seele bestimmten. Wichtiger Teil von Fechners neuer Disziplin war die Psychophysik. Wie der Name schon sagt, sollte es um die Beziehung der Psyche zur Physik gehen, und zwar im doppelten Sinne: Die äußere Psychophysik untersucht die Beziehungen zwischen physikalischer Realität und erlebter Wirklichkeit, die innere Psychophysik (heute Neuropsychologie genannt) untersucht die Relationen zwischen erlebter Wirklichkeit und neuronalen Prozessen. Beide Programme haben sich in den Wissenschaften als ungemein fruchtbar erwiesen und sind gegenwärtig mehr denn je aktuell, zumal in der Zwischenzeit die Hirnforschung Methoden und Ergebnisse hervorgebracht hat, die Fechner sich kaum hat vorstellen können. Dennoch nimmt die Zahl offener Detailfragen mit jedem Ergebnis weiter zu, und manche grundlegenden Fragen sind immer noch ungeklärt, wie etwa die, ob Geist und Gehirn als verschiedene Substanzen anzusehen sind (Dualismus), als eine Substanz (Monismus), oder ob die Frage selbst falsch gestellt ist, weil der Substanzbegriff unpassend ist. Hierauf kommen wir später noch zurück. Fechner bezog sich auf Vorarbeiten des Physiologen Ernst Heinrich Weber in der haptischen und auditiven Wahrnehmung. Dieser hatte erstmals die Beziehung zwischen einem physikalisch gemessenen Reiz und der Stärke der Empfindung in eine Formel gebracht: Der „eben merkliche Unterschied“ zwischen zwei Reizstärken wächst proportional zur Reizstärke. Wenn beispielsweise bei einem Gewicht von 10 g ein Gewicht von 11 g eben merklich höher erscheint, dann muss ein Gewicht von 100 g auf 110 g erhöht werden, damit ein Unterschied bemerkt wird (Webersches Gesetz). Fechner entwickelte aufgrund weiterer Beobachtungen das Gesetz, dass die Erlebnisintensität mit dem Logarithmus der Reizstärke zunimmt. Kritiker haben darauf hingewiesen, dass die Gültigkeit dieses Gesetzes auf mittlere Intensitäten beschränkt ist und daher nicht den Rang eines Naturgesetzes hat. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch die Gültigkeit von Naturgesetzen beschränkt sein kann. So haben die berühmten
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drei Bewegungsgesetze Isaak Newtons im Bereich der Lichtgeschwindigkeit und im subatomaren Bereich keine Geltung. Fechner war sich bewusst, dass er nicht Wahrnehmungen oder Empfindungen als solche messen konnte, wohl aber ihre Intensitäten und Intensitätsunterschiede. Das Merkmal Intensität haben alle Sinnesempfindungen, ob es sich um Lautstärke, Helligkeit oder Geruch handelt, und entsprechende physikalische Größen lassen sich messen, seien es Schalldruck, Lichtstärke oder Konzentration. Auf dieser quantitativen Ebene lassen sich Relationen zwischen Physik und Erleben auffinden. Fechner entwickelte mehrere Methoden zur Messung von Empfindungsstärken, die sich auch etwa zur Größenschätzung anwenden und ins Verhältnis zu gemessenen Größen setzen ließen. Diese Methoden (Grenzwert-, Konstanz- und Herstellungsmethode) finden bis heute in der Psychologie Anwendung. Zum Feld der Psychophysik gehört auch die Ermittlung von Schwellen, d. h. innerhalb welcher Grenzen physikalische Größen als Sinneseindruck wirksam werden. So liegt der Bereich menschlichen Hörens bei Schallschwingungen zwischen 16 Hz und 20 000 Hz. Außerhalb dieser Grenzen liegen Infraschall und Ultraschall, der für Wale und Elefanten bzw. für Hunde und Fledermäuse wahrnehmbar ist. Bei manchen Schwellenmessungen können sich Überraschungen ergeben, z. B. beim Geschmack. Kaliumchlorid, das in vielen Medikamenten enthalten ist, schmeckt je nach Konzentration ganz verschieden. Bei 0,01 Mol/l schmeckt es ausgesprochen süß, bei 0,04 Mol/l bitter, bei 0,1 Mol/l bitter und salzig, bei 0,2 Mol/l salzig, bitter und sauer. Für die Abhängigkeit der Sinneswahrnehmungen von den physikalischen Reizen einerseits und für die Eigenständigkeit der phänomenalen Wirklichkeit andererseits ist die Farbwahrnehmung ein bemerkenswertes Beispiel. Von der riesigen Klaviatur elektromagnetischer Wellen, die über 80 Oktaven umfasst, nimmt das Auge weniger als eine Oktave wahr. An die Grenze von 380 nm Wellenlänge schließt sich Ultraviolett an, an die Grenze von 720 nm Infrarot. Der kleine Ausschnitt bekommt in unserer Wahrnehmung eine neue Ordnung. Die beiden wahrnehmbaren Extreme – Rot und Violett – sind einander anschaulich ähnlich, und so schließt sich der Ausschnitt der Wellenlängen zum Farbenkreis, wobei die Lücke mit Purpur (Magenta) geschlossen wird, einer Farbe, für die es im physikalischen Spektrum keine Entsprechung gibt. Das fiel schon Isaak Newton auf, der in seiner Theorie des Lichts feststellen musste, dass sich die Farbqualitäten physikalisch nicht erklären lassen.
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Abb. 49: Spektrum und Farbkreis. Jenseits des unsichtbaren Infrarots gibt es einen Bereich, für den wir wiederum sensibel sind. Es ist die Wärmestrahlung, auf die die Thermorezeptoren der Haut ansprechen. Wärme wird durch Strömung, Kontakt und Strahlung übertragen. Halten wir die Hände über einen Heizkörper, so spüren wir den aufsteigenden Wärmestrom. Halten wir die Hände neben den Heizkörper, so spüren wir die Wirkung der Wärmestrahlung. Es sind zwei verschiedene physikalische Vorgänge, die das gleiche Erlebnis „Wärme“ veranlassen. Andererseits erleben wir Wärme qualitativ als etwas völlig anderes als das Licht, obwohl in physikalischer Hinsicht beide dem gleichen elektromagnetischen Kontinuum entstammen.
Optikunterricht für Blinde In der Blindenstudienanstalt Marburg lerne ich einen blinden Physiklehrer kennen. Er hat sich Metallplättchen unter die Absätze genagelt. Über ihren Klang und ihr Echo bewegt er sich sicher durch die Stadt. Er lädt mich zu einer Physikstunde ein. Das würde
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Die zweite Entstehung der Welt mich gewiss interessieren, er nimmt dort gerade Optik durch. Gern nehme ich das Angebot an und mische mich, als sehender Besucher vorgestellt, unter die Schüler. Die Lehrmittel hat der Physiklehrer selbst zusammengestellt. Eine Wärmelampe steht für die Sonne, deren Wirkung mit Gesicht und Händen erfahren werden können. Zwischengestellte Gegenstände werfen „Schatten“, in denen kühlere Zonen liegen. Weiße Flächen vermitteln das Thema „Reflektion“. Unterschiedliche Entfernungen des Heizstrahlers sollen erfahren lassen, dass die auftreffende Lichtmenge mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt. Ich bin beeindruckt, wie interessiert und verständig die Schüler den Lehrstoff aufnehmen. Da werde ich von einem der Schüler gefragt, worin denn nun der Unterschied zwischen Licht und Wärme bestehe. Die Frage musste ja kommen. Ich überlege, ob es darauf eine gute Antwort gibt. Nach kurzem Nachdenken sage ich, dass es verschiedene Erfahrungsweisen elektromagnetischer Wellen seien. Man könne es vielleicht mit den verschiedenen Erfahrungsweisen mechanischer Schwingungen vergleichen, bei denen niedrige Frequenzen mit der Haut als Vibration gespürt und hohe Frequenzen mit dem Ohr als Schall gehört werden können. Diesen Unterschied kennen ja alle. Entsprechend würden elektromagnetische Wellen niedriger Frequenz mit der Haut als Wärme und solche mit hoher Frequenz mit den Augen als Licht wahrgenommen. Die Schüler und auch der Lehrer scheinen mit der Antwort zufrieden zu sein. Doch dann fragt mich eine Schülerin, wie sich denn Licht anfühlt. Ich ringe nach Worten, vergeblich. Das, muss ich zugeben, könne ich leider nicht beschreiben.
Nachdem wir erneut auf qualitative Eigenheiten der Wahrnehmungswirklichkeit gestoßen sind, kehren wir wieder zurück zur Frage der Beziehungen zwischen physikalischer und phänomenaler Welt. Wir können festhalten, dass es zwischen den Intensitäten physikalischer Größen und den Intensitäten erlebter Eigenschaften nachweisbare Beziehungen bestehen. Es gibt noch andere Arten von Beziehungen. So können bestimmte quantitative physikalische Verhältnisse als bestimmte Qualitäten erlebt werden. Ein Grundton und seine Obertöne lassen sich physikalisch als ganzzahlige Schwingungsverhältnisse beschreiben. Wahrgenommen wird ein Akkord, der harmonisch klingt, und nur das geschulte Ohr erkennt darin die Relation von Einzeltönen. Fechner interessierte sich für ein anderes einfaches Beispiel: die Proportion von Rechtecken. Er war nicht nur Begründer der experimentellen Psychologie, sondern auch Begründer der empirischen Ästhetik. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass unter allen Proportionen, die ein Rechteck einnehmen kann, dasjenige am harmonischsten wirkt, das dem Goldenen Schnitt entspricht. Dabei verhält sich die kürzere Seite zur längeren wie die längere zur Summe beider Seiten, Φ ≈ 0,61803.
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Abb. 50: Rechteck im Goldenen Schnitt. Spätere Untersuchungen zur ästhetischen Wirkung von Proportionen waren im Ergebnis uneinheitlich. Es zeigte sich beispielsweise, dass die Formate von Gemälden meistens vom Goldenen Schnitt abweichen, oft sind sie gedrungener. Allerdings wirkt ein strukturiertes Bild anders als ein leeres Rechteck, und der Inhalt eines Bildes stellt eigene Forderungen an das Gesamtformat. Bietet man dem Beobachter unterschiedlich proportionierte leere Rechtecke und lässt beurteilen, wie harmonisch sie wirken, so ergeben sich zwei Maxima in der Verteilung der Urteile: eins beim Quadrat und eins beim Goldenen Schnitt. Der Goldene Schnitt ist seit der Antike bekannt. Er passte in die Zahlenmystik, die sich mit der Naturphilosophie und dem Ptolemäischen Weltbild verband. Er war lange Zeit bei der Proportionierung in Malerei und Architektur maßgebend, insbesondere in der Renaissance. Auch als Merkmal des Pentagramms und anderer geometrischer Figuren sowie seine Verwirklichung in der Natur etwa bei Blüten und Früchten hat dazu beigetragen, ihm eine normative Rolle zuzumessen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts werden in Kunst und Musik normative Tendenzen als Einengung kreativer Entfaltung zunehmend abgelehnt oder für ungültig erklärt. Davon unabhängig behält der Goldene Schnitt seine Sonderrolle, die sich auch mathematisch zeigt. Addiert man von 1 ausgehend zu jeder Zahl die vorausgehende, so erhält man die Fibonacci-Reihe 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 … Bemerkenswert ist, dass sich der Bruch zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zahlen zunehmend dem irrationalen Wert des Goldenen Schnitts nähert. Ob die Art der Informationsverarbeitung des Gehirns dem Goldenen Schnitt irgendeine eine Sonderrolle zukommen lässt, ist völlig ungeklärt. Die Häufigkeit, mit der bestimmte Formate in unserer Lebenswelt vorkommen, scheint keine große Rolle zu spielen. Das Din-A-Format (1/√2) genießt keinen ästhetischen Sonderstatus, obwohl es uns neben dem Quadrat am häufigsten begegnet. Neben Fragen der Ästhetik sind andere praktischer Natur. Die Psychophysik der Raumwahrnehmung etwa befasst sich damit, in welcher Relation der erlebte Raum zum physikalischen steht, so dass wir uns orientieren und handeln können. Ein Hauptproblem dabei ist, dass der physikalische Raum dreidimensional ist (auf die Theorien höherer Dimensionalität gehen wir später noch ein), dass die Netzhaut des Auges aber optische Reize zweidimensional erfasst. Zudem sind die Reize in ständiger Veränderung und Bewegung begriffen, teils durch Bewegung der Objekte, teils durch Eigenbewegung der Augen und des Körpers. 133
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Die Wahrnehmung konstruiert einen Raum, der ruhend erscheint und in dem wir selbst uns bewegen. Diese Raumkonstanz ist das Resultat zahlreicher Mechanismen, in denen die Eigenbewegungen ebenso verrechnet werden wie systematische Veränderungen der Reize, etwa die Zunahme der Winkelgröße von Objekten, auf die wir uns zubewegen. Auf die Meldungen des Gleichgewichtsorgans und der zahlreichen Körpersinne, die ebenfalls Eingang finden, sind wir bereits eingegangen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir hinnehmen und voraussetzen, dass der Raum um uns herum einfach da ist, steht in krassem Gegensatz zu dem Aufwand, mit dem nichtbewusste Prozesse dafür sorgen, dass er als ruhendes Bezugssystem zustande kommt. Nur in Ausnahmefällen wie Schwindel oder unter Drogeneinfluss gerät der komplexe Aufbau unserer Welt ins Wanken und lässt uns ahnen, was wir der Wahrnehmungsleistung zu verdanken haben. Alle sinnlichen Erfahrungen ordnen sich in diesen Raum ein. Die Zweidimensionalität der retinalen Muster findet keinerlei Entsprechung in einer zweidimensionalen Welt, die ja bedeuten würde, dass auch wir selbst uns innerhalb einer solchen vorfinden müssten. Wir selbst erleben uns stets in Distanz zu den Objekten, d. h. die dritte Dimension ist stets mitgegeben, auch wenn die gesehenen Objekte nur Höhe und Breite aufweisen. Anders gesagt: Die zweidimensionalen Muster auf der Netzhaut bestimmen nicht die Dimensionalität des Phänomenalen, vielmehr werden sie stets übersetzt in Objekte innerhalb einer dreidimensionalen Wahrnehmungswelt. Schon im Alter von wenigen Monaten nehmen Kleinkinder trapezförmige Muster als im Raum gedrehte Rechtecke wahr. Das Gesicht der Mutter wird als das gleiche wahrgenommen, ob es sich näher oder ferner von den Augen des Kindes befindet, obwohl sich das retinale Abbild dabei um ein Vielfaches verkleinert bzw. vergrößert. Bei aller Größenvarianz bleiben andere Merkmale erhalten, insbesondere das relative Gefüge der Abstände innerhalb des Gesichts der Mutter. Was die maschinelle Gesichtserkennung heutzutage leistet, leistet die Wahrnehmung des Kleinkindes bereits im frühen Stadium. Die entscheidende Leistung der Wahrnehmung besteht darin, Invarianzen in den Änderungen der Reizmuster zu entdecken. Sie sind möglich dadurch, dass die Reizmuster nicht zufällig strukturiert sind, sondern in systematischer Beziehung zu physikalischen Ordnungen stehen, etwa zur jeweiligen Raumlage. Um ein Beispiel des Wahrnehmungsforschers James J. Gibson zu nennen: Beim Blick auf eine Rasenfläche nimmt auf der Netzhaut die Abbildungsdichte der Grashalme nach oben hin zu. Ein entsprechender Gradient (der Verlauf einer Änderung) ist als Invariante bei jedem Blick auf eine Ebene, auf der wir stehen, wirksam. Die Wahrnehmung transformiert den Dichtegradienten der flächigen Abbildung in eine Raumerstreckung in die Tiefe. Beim Säugling wird die Größenänderung der retinalen Abbildung des Gesichts der Mutter in eine Tiefenänderung unter Beibehaltung der Gesichtsgröße transformiert. Diese Größenkonstanz, bei der retinale Größenunterschiede in Tiefenunterschiede umgerechnet werden, ist eine der elementarsten Leistungen der Raumwahrnehmung (s. Kap. 6). Um 1970 führte ich als Mitarbeiter des psychologischen Instituts der Universität Münster im Rahmen des experimentellen Praktikums mit den Studierenden ein einfaches Experiment durch. 134
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Wir setzten eine Reihe von Probanden auf einen Stuhl im Flur des Instituts. Dort hatten sie mittels eines Lichtzeigers den Punkt auf dem Boden anzugeben, der in der Mitte zwischen ihrem Standort und der gegenüberliegenden Wand am Ende des Flurs liegt. Dabei schauten sie nur mit dem dominanten Auge, das andere war abgedeckt. Dann fotografierte ich den Flur von dem gleichen Standpunkt aus und wir machten ein entsprechendes Experiment, bei dem das Foto unter gleichen Winkelverhältnissen auf eine transparente Leinwand projiziert wurde (Abb. 51). Die Probanden wurden gebeten, sich vorzustellen, in diesem Raum zu sitzen und auf der Leinwand mit dem Lichtzeiger auf dem abgebildeten Boden die Mitte zwischen ihrem imaginären Standpunkt und dem Ende des Flurs anzuzeigen. In beiden Fällen stimmten die durchschnittlichen Angaben fast genau mit der Mitte im tatsächlichen Flur überein, auch die Streuung der Werte war ähnlich. Dass die Schätzung in der virtuellen Bildwelt ebenso gelingen konnte wie in der Realität, ist dem Umstand zu danken, dass die Größenkonstanz im Bild wie in der Realität gleich funktioniert. Darauf basiert auch die heutige Virtual Reality, in der optische Projektionsverhältnisse simuliert werden. Sie funktionieren am besten, wenn die Winkelverhältnisse denen der Realität entsprechen.
Abb. 51: Flur im psychologischen Institut der Universität Münster um 1970. Heute wissen wir, dass neuronale Netzwerke so verschaltet sind, dass sie Invarianzen, also Unveränderlichkeiten, entdecken und damit genau das leisten, was für eine verlässliche Orientierung notwendig ist: Objekte in einem konstanten Raum als Bezugssystem zu lokalisieren auf der Grundlage sich ständig verändernder haptischer und visueller Reize. Die Bildung von Invarianzen beginnt bei der Wahrnehmung schon damit, dass jede Augen- oder Kopfdrehung, die das retinale Bild verschiebt, soweit kompensiert wird, dass die Umwelt als unbewegt wahrgenommen wird. Die Konstanz setzt sich fort darin, dass jede Eigenbewegung als Bewegung innerhalb dieses festen Bezugssystems erscheint. Gedächtnis und kognitive Verarbeitung 135
Die zweite Entstehung der Welt
sorgen dafür, dass dieses Gefüge sich über aktuell gesehene Objekte hinaus erweitert. Es bezieht schließlich auch Inhalte und Strukturen ein, die wir nicht selbst wahrnehmen, sondern indirekt durch kommuniziertes Wissen über die Welt erfahren.
Abb. 52: Mit dem kopernikanischen Weltbild vollzog sich eine Abkehr vom „Höhlengefühl“ der Antike und der Bibel zum „Weitengefühl“ der Neuzeit, hier ausgedrückt in dem Holzstich, der 1888 in „L’atmosphere“ von Camille Flammarion erschien. Dazu passen die Verse von Giordano Bruno (1548–1600), der wegen seiner ketzerischen Weltsicht auf dem Scheiterhaufen endete: „Die Schwingen darf ich selbstgewiss entfalten, / Nicht fürcht’ ich ein Gewölbe von Kristall, / Wenn ich der Äther blauen Duft zerteile. / Und nun empor zu Sternenwelten eile, / Tief unten lassend diesen Erdenball.“29 Kurz gesagt: Die erlebte Welt ist zweifach auf die physikalische Realität bezogen: 1. auf die physikalische Umwelt (äußere Psychophysik), 2. auf die Hirnvorgänge (innere Psychophysik = Neuropsychologie). Für 1) konnten teils gesetzmäßige Beziehungen und Schwellenwerte festgestellt werden. Für 2) stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Gehirn und Geist (Körper und Seele), dem an anderer Stelle nachgegangen wird.
Literatur Barrow 1997. Bischof 1966. Gibson 1973. Guski 1996. Metzger 1968. Witte 1960.
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Uri Geller Heutige Zauberer verheimlichen im Allgemeinen nicht, dass sie nur mit Illusionen spielen, oder, wie es der Zauberkünstler Alexander Adrion sagte, mit der „Intelligenz des Auges“, die zwar erstaunlich ist, aber auch ihre Schwächen hat. Sie erzeugen Verblüffung, weil man ihre Effekte nicht mit der Alltagserfahrung zur Deckung bringt, mit Mitteln, die kaum zu durchschauen sind. Gern kokettieren die Illusionisten, wie sie sich oft nennen, mit dem Scharfsinn der Zuschauer und führen sie mit ihren Erklärungsversuchen aufs Eis. Nicht wenige Zuschauer glauben, dass die Behauptung, alles sei Illusion, selbst eine Irreführung ist. Sie sind felsenfest davon überzeugt, dass übernatürliche Kräfte am Werk sind. Einige wenige Magier behaupten, genau darüber zu verfügen, und weisen den Verdacht, dass sie mit Tricks arbeiten, weit von sich. Zu ihnen gehört Uri Geller. Der in Tel Aviv gebürtige Mentalist, der mit seinen Shows und Fernsehauftritten zum Multimillionär geworden ist, behauptet, seine übersinnlichen Fähigkeiten als Fünfjähriger erhalten zu haben, als er zum ersten Mal mittels Gedankenkraft einen Löffel verbog. Umso mehr halte ich all meine Sinne wach, als ich ihm persönlich begegne. Wir sitzen in einer Gaststätte in Nürnberg und kommen miteinander ins Gespräch. Er schaut mich mit seinem durchdringenden Blick aufmerksam an und bleibt gelassen und freundlich, als ich ihn mit Erklärungsversuchen provoziere. Ich sage, manche meinen, er arbeite mit chemischen Mitteln oder mit präpariertem Besteck. „No, no, not any tricks!“ antwortet er und ruft den Kellner. Er lässt sich einen Löffel bringen und gibt ihn mir zur Untersuchung. Ich finde nichts Ungewöhnliches, prüfe seine Festigkeit und präge mir sein Aussehen genau ein, bevor ich ihn Uri Geller zurückgebe. Der schiebt den Ärmel hoch, nimmt den Löffel in seine feingliedrige, helle Hand und reibt ihn ohne große Kraftanstrengung zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Unglaubliche geschieht. Direkt vor meinen Augen, in vielleicht dreißig Zentimetern Abstand, beginnt sich der Löffel an seiner Schmalstelle zu biegen, weiter, weiter und nimmt eine groteske Form an. Nach vielleicht einer Minute bricht er mit einem „Pling“ in zwei Teile. Uri Geller reicht mir das Ergebnis. Es ist derselbe Löffel von vorhin, nun verbogen und zerbrochen. Ich bin sprachlos. Alle Theorien zur Erklärung fallen in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
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Was ist wirklich und was Täuschung?
Anders gefragt: Wie können wir zwischen Erkenntnis und Irrtum unterscheiden? Allen bekannt sind optische Täuschungen, von der Fata Morgana bis zur Mondtäuschung, bei der der Mond am Horizont größer aussieht, als wenn er hoch am Himmel steht. Sie werden gern als 137
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skurrile Einzelerscheinungen dargestellt, die verblüffen, aber mit der Wahr-Nehmung nichts zu tun haben. Man möchte sich gern auf die Sinne verlassen können, ganz im Sinne der Redensart: „Ich glaube nur, was ich sehe.“ Jahrhunderte lang galt eine andere Maxime. Vor ca. 2400 Jahren war Platon davon überzeugt, dass es ein Reich der Ideen gibt, in dem das Wahre zusammen mit dem Schönen und Guten seine ewige Heimstatt hat, wogegen die Sinne, allen voran das Auge, uns irreführen. Die Platonische Lehre, die sich gut mit den Lehren der Kirche verbinden ließ, hat das Abendland lange Zeit davon abgehalten, die erstaunlichen Leistungen des Auges und der anderen Sinne zu würdigen und zu erforschen. Das blieb im Mittelalter muslimischen Gelehrten vorbehalten, allen voran Al-Haitam (Alhazen, 965–1040). Er erkannte, dass nicht, wie Euklid, Ptolemäus, Aristoteles und die alten Ägypter meinten, Sehstrahlen vom Auge ausgehen, sondern dass Licht ins Auge eintritt und von der Linse gebrochen wird. Er beschrieb auch als erster die Mondtäuschung. Vor ca. 2000 Jahren beschäftigte Plutarch die Frage, warum Feuer bei Nacht heller leuchtet als bei Tage. Er hatte zwei Theorien, eine physikalische und eine psychologische: nach der ersten hält die finstere Luft das Feuer zusammen, sodass es nicht zerrinnt. Nach der zweiten ist es „eine Eigenart unseres Wahrnehmungsvermögens, dass ebenso wie Warmes neben Kaltem besonders warm … scheint, so auch Helles neben Dunklem besonders leuchtend erscheint, indem das Vorstellungsbild durch die kontrastierenden Eindrücke gesteigert wird.“30 Plutarch selbst hielt die physikalische Erklärung für einleuchtender. Doch sie ließ sich nicht bestätigen. Nach heutigem Wissen ist tatsächlich das Kontrastprinzip wirksam, das Plutarch hellsichtig der Wahrnehmung zugeschrieben hat. Es besteht ganz allgemein darin, dass Unterschiede, die seitens der Reize bestehen, von der Wahrnehmung oft gesteigert werden. Sehen wir uns Abb. 53 an und vergleichen die beiden runden grauen Felder miteinander. Das linke erscheint dunkler als das rechte, obwohl beide physikalisch identisch sind. Wenn der Blick auf die Mitte der Abbildung gerichtet ist, wirkt der Unterschied sogar noch größer. Was passiert? Links registriert die Wahrnehmung, dass die Kreisscheibe dunkler ist als ihr Umfeld. Rechts registriert sie, dass sie heller ist als ihr Umfeld. Beide Unterschiede erfahren eine Pointierung, eine Übertreibung mit dem Ergebnis, dass das linke graue Feld dunkler erscheint als das rechte. Das Kontrastprinzip ist universell. Es ist ein Trick der Wahrnehmung, schwache Unterschiede deutlich zu machen. Erschweren Sie einmal der eigenen Wahrnehmung die Arbeit und legen auf Abb. 53 ein Stück Transparentpapier. Die Situation wird dadurch unklarer. Vor allem aber: Jetzt erscheint der Unterschied der beiden grauen Felder noch größer, obwohl die objektiven Unterschiede innerhalb der linken bzw. der rechten Hälfte geringer sind! Ist das nicht verrückt? Man erkennt, dass das Kontrastprinzip besonders in solchen Fällen dienlich ist, wo die Reizbedingungen ungünstig sind, etwa bei Nebel, und wo die Wahrnehmung gezwungen ist, das Bestmögliche aus der Situation zu machen. 138
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Abb. 53: Simultankontrast. Optische Täuschungen sind vor allem deshalb bedeutsam, weil sie stets etwas darüber verraten, wie die Wahrnehmung arbeitet. Die äußere Realität lässt sich nicht unmittelbar erkennen. Vielmehr muss unsere Welt aus aktuellen Reizen, aus bisherigen Sinneserfahrungen und aus dem Zusammenspiel mit unseren körperlichen Tätigkeiten aufwändig konstruiert werden. Dabei hat die Wahrnehmung ständig Probleme zu lösen. Eins dieser Probleme ergibt sich daraus, dass die physikalische Welt dreidimensional ist, dass die Projektionen auf die Netzhaut im Auge aber stets zweidimensional sind. Die Wahrnehmung versucht oft, aus den zweidimensionalen Projektionen etwas Dreidimensionales zu (re-)konstruieren. Das Grundproblem wird bei dem „Necker-Würfel“ deutlich.
Abb. 54: Necker-Würfel. In Abb. 54 sieht man im Allgemeinen eine Art Drahtwürfel. Es handelt sich um eine ambivalente Kippfigur. Mal schaut man auf die Unterseite, mal auf die Oberseite, mal springt die eine, mal die andere Ecke nach vorn. Meistens sieht man ein räumliches Gebilde. Kaum einmal kommt es vor, dass man es als flächiges Gebilde sieht, so wie es eigentlich gezeichnet wurde: als ein Muster aus schiefen Trapezen, Dreiecken und einem Parallelogramm. Ein Würfel, bestehend aus sechs Quadraten, ist einfacher als ein Sammelsurium aus schiefwinkligen Figuren. Deshalb beschreibt die Gestaltpsychologie die Bevorzugung des Würfels damit, dass die Wahrnehmung stets die einfachstmögliche Gestalt realisiert. Diese Erklärung durch eine angeborene Ordnungsliebe der Sinne ist aber strittig. Daneben gibt es die Deutung, die von 139
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einem Vorlauf der haptischen und kinästhetischen Objekterfahrung ausgeht, der dann die visuelle Ordnungsbildung folgt. Nach Ausreifung von Körpermotorik und Haptik wird ein Würfel als konstantes Objekt erfahren, wenn er in den Händen gedreht und gewendet wird. Seine gleichzeitigen Projektionen auf dem Augenhintergrund werden mit den haptischen Informationen in Zusammenhang gebracht. Dieser systematische Zusammenhang bringt die Wahrnehmung dazu, die veränderlichen optischen Muster als Teilansichten von etwas Gleichbleibendem aufzufassen, das uns schließlich – auch ohne haptische Kontrolle – als im Raum gedrehter Würfel erscheint. Nicht nur im Falle des Necker-Würfels gilt: Das retinale Muster auf dem Augenhintergrund ist grundsätzlich mehrdeutig, und die Wahrnehmung hat alle Hände voll zu tun, eine eindeutige Welt zu schaffen, ohne dass unser Bewusstsein zu sehr von Uneindeutigkeiten irritiert wird. Viele Tricks, derer sie sich bedient, verraten sich an optischen Täuschungen. Oft haben sie mit dem Phänomen der Größenkonstanz zu tun, siehe Abb. 55.
Abb. 55: Die Winkelgröße eines Menschen, der doppelt so weit entfernt steht wie ein anderer, ist halb so groß (a). Auf dem Augenhintergrund ergibt sich ein Muster wie b) mit zwei verschieden großen Projektionsbildern. Wir sehen aber nicht einen Menschen, der halb so groß ist wie ein anderer, sondern sehen zwei gleich große Menschen in unterschiedlicher Entfernung. In der Alltagswirklichkeit ist das eindeutiger als bei einer Zeichnung, deren Wirkung stets ambivalent zwischen Flächigkeit und Räumlichkeit schwankt. 140
19 Was ist wirklich und was Täuschung?
Das grundlegende Phänomen, bei dem die Wahrnehmung Größenunterschiede in Entfernungsunterschiede verwandelt – bei anschaulich gleichbleibender Gegenstandsgröße –, nennt man Größenkonstanz. Oft liest man, dass Dinge mit zunehmender Entfernung kleiner erscheinen. Meistens passiert aber etwas Anderes. Der Fußgänger, der uns überholt, wird anschaulich nicht kleiner, sondern er bleibt sich gleich und entfernt sich von uns. Von den physikalischen Projektionsverhältnissen auf die Wahrnehmungsweise zu schließen, ist ein Reizirrtum, eine gedankliche Täuschung. Auf dem Phänomen der Größenkonstanz basiert z. B. die Müller-Lyer’sche Täuschung. Sie wurde wie viele andere optische Täuschungen im 19. Jahrhundert entdeckt, als die menschliche Wahrnehmung in Wissenschaft und Kunst zunehmend thematisiert wurde. Vergleicht man die beiden horizontalen Linien in Abb. 56, so erscheint die mit den auswärts gekehrten Winkeln größer. Die anschauliche Differenz fällt individuell unterschiedlich aus, vereinzelt kann sie 30 % überschreiten. Abb. 57 zeigt, wie sich die Täuschung erklären lässt. In beiden Fotos sehen wir ein aufgeschlagenes Buch, einmal mit Blick auf den Buchrücken, das andere Mal mit Blick auf die Innenkante. Buchrücken und Innenkante sind objektiv gleich lang, erscheinen aber verschieden.
Abb. 56: Müller-Lyer’sche Täuschung.
Abb. 57: Bei der Projektion von Raumsituationen auf den Augenhintergrund ergeben sich oft Muster im Sinne der Müller-Lyer-Figuren. Buchrücken (links) und Buchinnenkante (rechts) sind im Bild tatsächlich gleich lang. 141
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Wir sehen Deckel und Seiten des Buches als schräg im Raum stehende Rechtecke. Dass es sich in der Bildfläche um Trapeze handelt, wird kaum bewusst. Die Winkelgröße des Buchrückens ist relativ groß, weil er dem Auge am nächsten ist. Die Winkelgröße der Innenkante ist relativ klein, weil sie vom Auge weiter entfernt ist als die anderen Teile des Buches. Um Größenkonstanz zu erreichen, „korrigiert“ die Wahrnehmung die Größenunterschiede. Die Projektion des Buchrückens erfährt eine Verkleinerung, die Projektion der Innenkante eine Vergrößerung. Die Müller-Lyer-Figuren mit den einwärts bzw. auswärts gekehrten Winkeln sind Schemata, auf die die visuelle Wahrnehmung automatisch reagiert, sobald sie im retinalen Muster auftauchen. In den meisten Fällen dient dieser Vorgang der Größenkonstanz und damit einer realitätsgerechten Wahrnehmung. Interkulturelle Vergleiche haben gezeigt, dass diese Täuschung in westlichen Kulturen, nicht aber in Kulturen auftritt, in denen rechte Winkel selten vorkommen. Offenbar ist das Schema eine der Invarianten, die sich besonders in dem uns vertrauten Umfeld ontogenetisch entwickeln, wo bei Bauklötzen, Pappkartons, Papier- und Bildschirmformaten bis hin zur Architektur Rechtwinkligkeit vorherrscht. Hierher gehört auch eine beeindruckende Täuschung, die der Kognitionswissenschaftler Roger Shepard entdeckt hat. Abb. 58 zeigt eine Variante davon. Die Oberseite des linken Kubus scheint ganz andere Proportionen zu haben als beim rechten Kubus. Tatsächlich sind die Parallelogramme, in denen die beiden Oberseiten gezeichnet sind, genau deckungsgleich und lediglich in der Fläche gedreht. Hintergrund der Täuschung ist, dass wir keine Parallelogramme sehen, sondern in den Raum gekippte Rechtecke. Dadurch erhält die vertikale Komponente der Zeichnung in beiden Fällen eine Streckung, die die linke Oberfläche schlanker und die rechte gedrungener erscheinen lässt. Wieder wirkt der Mechanismus der Größenkonstanz, der versucht, die vermeintlichen perspektivischen Verkürzungen durch Streckung zu kompensieren. Dass er in diesem Falle nicht zu einer realitätsgerechten Wahrnehmung führt, sondern zu einer Täuschung, liegt daran, dass es nicht gelingt, die beiden Muster rein flächig aufzufassen. Die dreidimensionale Wirkung ist zu suggestiv.
Abb. 58: Eine Variante der Shepard-Täuschung Die Mondtäuschung ist ebenfalls ein Effekt der Regel, dass die anschauliche Größe davon abhängt, in welcher Entfernung wir den gesehenen Gegenstand lokalisieren. Der Mond erscheint 142
19 Was ist wirklich und was Täuschung?
am Horizont größer als hoch am Himmel. Dies beschrieb schon Alhazen, der physikalische Gründe diskutierte und verwarf. Woher kommt der scheinbare Größenunterschied? Wenn der Mond oben steht, ist zwischen ihm und dem Betrachter nichts zu sehen. In Horizontnähe dagegen liegt dazwischen eine tiefenerstreckte Landschaft mit Bäumen, Häusern, Bergen etc., und er selbst wird hinter allem anderen lokalisiert. Bei gleicher Winkelgröße wird das, was weiter entfernt lokalisiert wird, größer gesehen – eine Nebenwirkung der Größenkonstanz. Übrigens: Dass Mond und Sonne gleich groß erscheinen, ist ebenfalls eine Täuschung. Dass sie, wie bei der totalen Sonnenfinsternis 1999 (s. Abb. 59), exakt zur Deckung kommen können, ist einem unwahrscheinlichen kosmischen Zufall zu verdanken. Denn die Sonne ist 400-mal so groß wie der Mond, aber auch 400-mal so weit entfernt, sodass die Winkelgrößen übereinstimmen. Diese Unterschiede entziehen sich der sinnlichen Erkenntnis. Unsere unmittelbare Erfahrungswirklichkeit ist auf den menschlichen Handlungsraum beschränkt. Über das, was darüber hinausgeht, können wir nur indirektes Wissen beziehen. Sonne, Mond und Gestirne lokalisieren wir im Allgemeinen auf der Himmelsoberfläche. Diese bildet tagsüber anschaulich eine flache Schale, wenn der Horizont zu sehen ist und er den Rand des Himmels in die Ferne zieht. Nachts, wenn kein Horizont zu sehen ist, dafür aber die etwa 6000 Sterne, die unter optimale Bedingungen mit bloßem Auge zu erkennen sind, wölbt sich der Himmel anschaulich zur Halbkugel. Diese Beobachtungen kann jeder für sich nachprüfen. Sie ändern sich auch nicht dadurch, dass wir wissen, dass die Sterne in sehr unterschiedlichem Maße Lichtjahre von uns entfernt sind. Das Wissen, dass die Sonne 400-mal weiter entfernt ist als der Mond, lässt sie nicht weiter entfernt erscheinen. Die unmittelbare Sinneserfahrung ist recht resistent. So sehr, dass es nicht wenige Menschen gibt, die gegen alle wissenschaftliche Erkenntnis fest davon überzeugt sind, dass die Erde eine Scheibe ist. Schließlich sieht das doch jeder, der in einer ebenen Landschaft oder auf hoher See auf einem Schiff steht. Der Amerikaner Mike Hughes verunglückte 2020 mit seiner selbstgebastelten Dampfrakete bei dem Versuch, durch Fotos aus 1500 m Höhe den Beweis für die Scheibenform der Erde anzutreten.
Abb. 59: Totale Sonnenfinsternis am 11. August 1999, aufgenommen bei Karlsruhe. Die Bedeckung durch den Mond ist so perfekt, dass ein Perlenring von Protuberanzen zu sehen ist, die aus der Sonnenoberfläche herausgeschleudert werden. 143
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Beim Necker-Würfel, bei den Müller-Lyer-Figuren und bei der Shepard-Täuschung haben wir gesehen, dass schiefe Winkel in der Fläche zu rechten Winkeln im Raum werden, wenn eine flächige Figur als dreidimensionale Form aufgefasst wird. Dabei können sich unmögliche Raumsituationen ergeben wie in den Zeichnungen, durch die der holländische Grafiker M. C. Escher bekannt geworden ist. Mit ihnen verwandt ist das Penrose-Dreieck Abb. 60. In jeder Ecke sehen wir, dass sich zwei Balken rechtwinklig treffen, aber es ergibt sich keine schlüssige Gesamtform. Woran das liegt, ist nicht leicht zu erkennen, weil auch hier wie beim NeckerWürfel die entscheidenden Winkel als rechte erscheinen. Tatsächlich bilden sie in der Zeichenebene Winkel von 60°. Bitte nachmessen! Die grundsätzliche Ambivalenz zwischen flächiger und räumlicher Auffassung retinaler Muster stellt die Wahrnehmung permanent vor das Problem, eine Gleichung mit unbekannten Größen zu lösen. Das zeigt sich auch in Zusammenhang mit Farben. In Abb. 61 sehen wir einen Würfel, dessen Flächen aus einem Muster bunter Quadrate bestehen. Eine Fläche der Oberseite ist markiert. Die Aufgabe ist, dasjenige Farbfeld auf der rechten Seite zu finden, das die gleiche Farbe hat. Dabei geht es nicht um die Farben des realen Würfels, sondern um die Farben auf dem Foto.
Abb. 60: Penrose-Dreieck
Abb. 61: Farbiger Würfel
Man glaubt es nicht, aber es ist das Feld mit dem hellen Violett, der hellsten Farbe auf der rechten Seite. Was ist passiert? Wieder hat sich die Wahrnehmung bemüht, eine möglichst realitätsgetreue Auffassung zu verwirklichen, allerdings nur für die räumliche Auffassung des Farbwürfels und zu Lasten der flächigen Auffassung, entgegen der Aufgabe. Was nicht sofort auffällt, vom Wahrnehmungsprozess aber sofort und automatisch berücksichtigt wird, ist, dass das dargestellte Objekt beleuchtet ist und einen Schatten wirft. Die rechte Seite ist verschattet, und die relative Dunkelheit ihrer Farbfelder muss „korrigiert“, also aufgehellt werden. 144
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Diese Leistung der Wahrnehmung bezeichnet man, entsprechend zur Größenkonstanz, als Helligkeitskonstanz. Die „Korrektur“ hat hier zur Folge, dass die im Foto gleichen Pigmentfarben völlig verschieden aussehen. Man kann die Gleichheit der beiden Farbfelder nur erkennen, wenn man alle anderen Bereiche des Bildes abdeckt. Die „optische Täuschung“ führt dazu, dass man einmal mehr die erstaunliche Leistung des visuellen Apparates bewundert, die trotz ständiger Beleuchtungsunterschiede und ständigen Beleuchtungswechsels in der Umwelt für Helligkeits- und Farbkonstanz sorgt, ganz ohne unser bewusstes Zutun. Sie ist ebenso erstaunlich wie die Raum- und Größenkonstanz unserer Welt, die die Wahrnehmung aus allen Veränderungen und Unterschieden der Reize herausdestilliert. Auf der Retina, die in Abb. 8 schematisch dargestellt ist, liegt über den Rezeptoren das verzweigte Netz der Blutgefäße, die die Retina versorgen. Es wirft ständig seinen Schatten auf die Rezeptoren, aber wir sehen es nicht. Wir können es aber sichtbar machen. Dazu brauchen wir nur fünf Minuten lang die Augen geschlossen zu halten, etwa ganz bequem draußen im Liegestuhl. Dann blicken wir für einen kurzen Moment auf eine helle Fläche, etwa den Tageshimmel, und schließen die Augen sofort wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde sehen wir dann das feine Netz aus Blutgefäßen, das der Retina aufliegt. So interessant es ist, diesen Teil des eigenen Auges einmal zu sehen, ist noch merkwürdiger, warum wir es normalerweise nicht sehen. Denn dieser Schatten wird ja permanent auf die Retina projiziert. Die Erklärung für das Phänomen lautet, dass die Wahrnehmung an Dauerreize adaptiert und sie damit unwirksam macht. Es würde die visuelle Wahrnehmung stören, wenn das Gesehene ständig von dem Schatten des Adernetzes überlagert würde. Dieser ist zwar objektiv vorhanden, wird aber neutralisiert, und so wird das Gesichtsfeld frei für die Wahrnehmung von Merkmalen der Umwelt. Ein schönes Beispiel dafür, dass die Wahrnehmung nicht nur wie beim blinden Fleck Ergänzungen vornimmt, wo kein Reiz vorhanden ist, sondern auch dauerhaft vorhandene Reizmuster eliminiert. Beides dient einer störungsfreien Wahrnehmung der Umwelt. Es zeigt sich, dass „optische Täuschungen“ keine Kuriositäten ohne besondere Bedeutung sind. Sie lassen erkennen, wie hintergründig aktiv die Wahrnehmung Wirklichkeit vermittelt. Sie selektiert aus der Flut der Reizangebote das für uns Wesentliche, lässt Gleichbleibendes unauffällig werden und pointiert Unterschiede, ergänzt Unvollständiges und ordnet schiefwinklige Figuren zu regelmäßigen Objekten im Raum. Optische Täuschungen sind im Reich der Bilder die Narren, die, indem sie Lügenmärchen erzählen, Wahrheiten über das Zustandekommen unserer Wirklichkeit ans Licht bringen. Wodurch erkennen wir denn nun Täuschungen? Solange wir sie nicht durchschaut haben, sind es für uns keine Täuschungen, sondern einfach Teile unserer subjektiven Wirklichkeit. So ist es etwa bei Sonne und Mond, die gleich groß aussehen und damit für uns gleich groß sind. Wie die Sterne befinden sie sich für uns „an“ dem blauen Himmelszelt, wie es in dem Volkslied heißt. Dieser Eindruck ist kaum zu verändern, auch wenn wir inzwischen von Astronomen 145
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darüber belehrt wurden, dass die Gestirne sich weiträumig in einem unfasslich großen Weltraum verteilen. Entscheidend für ihre Erscheinungsweise ist, dass sie sich unserem Zugriff entziehen und dadurch keine sinnlichen Informationen erlauben, die unseren visuellen Eindruck korrigieren. In einer anderen Situation sind Astronauten, die sich zwischen Erde und Mond befinden. Durch die veränderte Perspektive stellen sich die Lagen der Gestirne und die Größenverhältnisse etwa von Mond und Sonne neu dar, und auch die Kugelgestalt der Erde wird unmittelbar sichtbar. Entsprechendes gilt für das Blau des Himmels. Wir sehen es als Farbe des Himmelsgewölbes über uns und lokalisieren es hinter Mond und Sonne. Tatsächlich ergibt es sich aus Lichtstreuung an Teilchen der Atmosphäre, die von der Erdoberfläche bis in über 100 km Höhe reicht, also direkt vor unseren Augen beginnt. Das Blau liegt also tatsächlich vor Mond und Sonne. Astronauten sehen dieses Blau als zarten Schleier, der die Erdkugel umschließt. Mit dem Perspektivenwechsel haben wir eine erste Quelle für die Unterscheidung von Wirklichkeit und Täuschung benannt. Nehmen wir ein seit der Antike bekanntes Beispiel: Ein Stab, schräg in Wasser getaucht, scheint geknickt zu sein. Machen wir den Versuch mit einem Aquarium, so zeigt sich, dass diese Täuschung nur beim Blick von oben auf die Wasseroberfläche auftritt. Schauen wir uns dagegen die Sache von der Seite an, indem wir durch die Glaswand des Aquariums blicken, bleibt der Stab gerade. Im Alltag ist der Perspektivenwechsel ein häufiges Mittel, um unseren Eindruck zu überprüfen. Wir ändern die Position, falls etwas teilweise verdeckt ist, oder gehen näher heran, um es besser zu sehen. Dem anschaulich geknickten Stab im Wasser können wir auch auf andere Weise auf die Schliche kommen. Machen wir den Versuch und fahren ihn mit der Hand entlang, während er teilweise ins Wasser getaucht ist. Es ist ein merkwürdiges Erlebnis zu bemerken, dass die Knickstelle sich gerade anfühlt. Bei solchen Widersprüchen neigen wir dazu, der Hand mehr zu vertrauen als dem Auge, das uns in dieser Situation weiterhin hartnäckig meldet, dass der Stab geknickt sei. Es zeigt sich der Vorteil, dass wir über eine Vielzahl verschiedener sinnlicher Modalitäten verfügen, die sich gegenseitig beim Aufbau einer verlässlichen Welt ergänzen. Die multisensorische Erfahrung bewahrt uns oft davor, auf die irrige Meldung eines einzelnen Sinnes hereinzufallen. Wir kennen es alle vom Möbelkauf: Die schöne Maserung des Holzes entpuppt sich als bloßer „Look“ einer raffiniert gestalteten Oberfläche aus Kunststoff, allerdings erst, wenn wir sie anfassen und Kälte spüren anstelle der für Holz typischen Wärme. Um dem Eindruck entgegenzutreten, dass die haptische Information in jedem Fall die wahre sei, denken wir nur an den Drei-Schalen-Versuch in Kap. 8. Dort spüren wir mit beiden Händen einen Unterschied, der tatsächlich nicht besteht. In diesem Fall wird unser Urteil von dem Wissen entschieden, dass die mittlere Schale gleichmäßig lauwarmes Wasser enthält. Mit dem persönlich erworbenen Wissen haben wir eine weitere Quelle dafür, einen momentanen sinnlichen Eindruck beurteilen zu können. In diesem Fall beruht auch das Wissen auf eigener 146
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sinnlicher Erfahrung. Ein weiteres Beispiel: Kleidung kann bei Kunstlicht farblich ganz anders wirken als bei Tageslicht, wobei im Allgemeinen letzteres als maßgeblich angesehen wird. Von diesem persönlich erworbenen Wissen zu unterscheiden ist Wissen, das wir von anderen Personen, aus Büchern oder sonstigen Medien übernommen haben. Dazu gehört etwa das Wissen, dass die Erde eine Kugel ist und nicht die Scheibe, die wir bei ebener Umgebung mit den Augen wahrnehmen. Oft sind es Bilder und Videos, die die unmittelbare Wahrnehmung der Dinge durch eine mittelbare ergänzen. Von den tatsächlichen Verhältnissen beim Farbwürfel Abb. 61 können wir uns dadurch überzeugen, dass wir das ganze Bild bis auf die fraglichen Teilflächen etwa mit schwarzen Kartonstücken abdecken. Bei der Shepard-Täuschung Abb. 58 können wir die beiden Parallelogramme ausschneiden und beim Übereinanderlegen feststellen, dass sie gleich sind. In diesen Fällen isolieren wir die fraglichen Teile aus ihrem Kontext und können sie so neu beurteilen. Ein Kontextwechsel kann also desillusionierend wirken. Wir kennen das etwa vom Autokauf her. Im Autohaus steht der neue Wagen hoch auf dem Podest im Glanz zahlreicher Lampen und reizt zum Kauf. Sieht man ihn später auf dem Parkplatz zwischen all den anderen Autos, sieht er recht gewöhnlich aus. Das Kleid, das von einem tollen Model getragen super aussieht, verliert gelegentlich etwas von seiner Wirkung, wenn sich frau damit selbst im Spiegel sieht. Der gleiche Wein, der in der Bodega bei gutem Essen im Kreis von Freunden hervorragend schmeckte, enttäuscht manchmal, wenn er daheim getrunken wird. Somit haben wir einige Methoden gesammelt, mit denen wir Platons Kritik begegnen können. Sinnliche Wahrnehmung ist durchaus geeignet, Wirklichkeit und Täuschung zu unterscheiden: Perspektivenwechsel, Kontextwechsel, multisensorische Vergleiche, persönlich erworbenes und übernommenes Wissen. Dass übernommenes Wissen und Ideen irrig sein und auf Fehlinformationen beruhen können, wird uns noch an anderer Stelle beschäftigen. Nicht zu vergessen sind physikalische Messmethoden. Hierfür brauchen wir keine Physiker zu sein. Indem wir Zollstock, Thermometer oder Waage verwenden, kommen wir den objektiven Verhältnissen so nahe wie möglich. Ein Rest subjektiver Wahrnehmung bleibt auch hierbei bestehen; denn wir müssen ja eine Skala oder eine Digitalanzeige korrekt ablesen. Wo jemand beim Fiebermessen 38,6° abliest, sieht ein anderer vielleicht 38,7°. Neben den Sinnestäuschungen gibt es auch Täuschungen, die darauf zurückgehen, wie wir Informationen verarbeiten. Ein Beispiel. In einem Seminar über „Anschauliches Denken“ im Wintersemester 1988/89 lasse ich die 20 Studierenden eine „mental map“ (kognitive Karte) anfertigen. Jeder erhält ein Blatt Papier, auf dem lediglich ein Punkt für „Münster“, wo das Seminar stattfindet, und ein Punkt für „Hamburg“ eingezeichnet sind. Nun nenne ich nacheinander einige weitere europäische Städte, und jeder markiert sie dort, wo er sie entsprechend der Vorstellung von der Landkarte Europas vermutet. In Abb. 62 sind für alle Städte die Mittelwerte berechnet und eingezeichnet. 147
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Abb. 62: „Mental map“ aus den Durchschnittswerten von 20 Personen. Vorgegeben waren lediglich die Orte für Münster und Hamburg. Die Quadrate geben an, wo die Städte lokalisiert wurden. Die Punkte geben die tatsächliche Lage nach Maßgabe einer Europakarte an. Die Pfeile verdeutlichen die Abweichungen. Überlebenswichtig ist, dass wir überhaupt imstande sind, kognitive Landkarten unserer näheren und weiteren Umgebung zu bilden. Die Fähigkeit zeigt sich auch hier, wo die Lage der Orte zumindest in ihrer Richtung bis auf Ausnahmen im groben Ganzen getroffen wurde. Interessant sind die Abweichungen von der objektiven Lage der Orte. Die erfragten Städte sind gegenüber der Bezugsstrecke Münster – Hamburg durchschnittlich doppelt so weit entfernt platziert worden, wie es der tatsächlichen Lage entspricht. Hier kommt zum Ausdruck, dass Hamburg allen Teilnehmern besonders vertraut ist. Das verringert die kognitive Distanz zu dieser Stadt und vergrößert die anderen Distanzen entsprechend. Amsterdam wird zwar in der passenden Richtung, aber um mehr als das Dreifache entfernt lokalisiert. Hier wirkt sich eine Tendenz, die Hauptstädte anderer Staaten in die Ferne zu rücken, im Verhältnis zur tatsächlichen Nähe besonders stark aus. Am auffälligsten ist die Lokalisation von London. Es wird weit in den Norden verschoben, obwohl London objektiv südlich von Münster liegt – was kaum ein Münsteraner glaubt, bis er es auf einer Karte nachgeprüft hat. Hier zeigt sich eine Eigenart kognitiver Karten, die sich in vielen Untersuchungen bestätigt hat: Die Lokalisation von Städten im Ausland folgt in starkem Maße der Lokalisation der übergeordneten Einheit, nämlich des zugehörigen Landes. England als Ganzes liegt von Münster aus gesehen im Nordwesten, 148
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entsprechend wird in dieser Richtung London platziert. Als ein Zeitzeugnis kann die Lokalisation von Leipzig angesehen werden. Objektiv liegt es näher an Münster als Berlin, aber es wird erheblich weiter entfernt lokalisiert. Hier macht sich bemerkbar, dass dieses Experiment 1988 durchgeführt wurde, ein Jahr vor der „Wende“. Die kognitive Distanz zu Leipzig war seinerzeit größer als zu Berlin.
Abb. 63: Aus einem anonymen Tweet des Internets. In Abb. 63 befindet sich ein Fehler. Haben Sie ihn bemerkt? Viele Menschen suchen minutenlang, und es sind nicht die dümmsten. Unser Leseverhalten ist sehr „tolerant“ gegenüber Druckfehlern. Beim normalen Lesen werden nicht einzelne Buchstaben aufgenommen, sondern Worteinheiten, bei denen es auf die Buchstabenreihenfolge weniger ankommt als auf die Gesamtgestalt der Wörter. Dopplungen von Wörtern überlesen wir leicht. Das Phänomen der „inattentional blindness“, der selektiven Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeitsblindheit, ging vor ein paar Jahren mit einem Sportvideo von D. J. Simons und C. F. Chabris durch die Medien, bei dem der Betrachter zählen sollte, wie viele Ballwechsel innerhalb der weißgekleideten Mannschaft erfolgen. Die wenigsten bemerkten den Gorilla, der sich zwischen den Sportlern bewegte. Dieses Beispiel führte vor, wie eingeschränkt die Wahrnehmung ist, wenn die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt fokussiert wird. Diese Beschränktheit ist der Preis, den wir für eine wichtige Fähigkeit zahlen, nämlich in kurzer Zeit eine Flut von Informationen auf für uns wesentliche Merkmale hin zu selektieren und zu ordnen. Für rasches Lesen etwa, bei dem in Sekundenschnelle hunderte von Informationseinheiten zu bewältigen sind, reicht oft hin, wenn innerhalb der Buchstabenreihenfolge eines Wortes Anfang und Ende stimmen. Probieren wir es einmal mit folgendem Satz: „Biem Lseen eiens Bhcus ürebsheen wir vleie Datelis.“ Diese Fähigkeit, unvollständige und fehlerhafte Informationen zu ergänzen und zu einem schlüssigen Ganzen werden zu lassen, das uns zufriedenstellt, bildet natürlich zugleich ein Einfallstor für Irrtümer, Desinformation und Manipulation.
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Diamanten wie Sand am Meer Wir machen Urlaub auf den Azoren, den portugiesischen Vulkaninseln im Atlantik. Typisch sind die schwarzen Strände. Wieder zuhause kratze ich den schwarzen Sand aus dem Profil der Wanderschuhe. Aus purer Neugierde schaue ich mir die ca. 0,3 mm großen Körner unter dem Mikroskop an. Ich erwarte unregelmäßige Krümel, zerriebene Lava. Zu meiner großen Überraschung entpuppen sie sich aber als schwarze Kristalle, die meisten in Oktaederform. Sofort denke ich an Carbonados, schwarze Diamanten, wie sie in Brasilien und Afrika gefunden werden. Das kann doch nicht wahr sein! Sind wir am Strand auf Billionen von Diamanten herumgelaufen? Schon sehe ich vor meinem geistigen Auge Saugbagger und Bulldozer die kleinen Strände leerräumen, um Industriediamanten zu gewinnen, ein Horrorszenario. Nein, ich darf niemandem von meiner Entdeckung erzählen.
Abb. 64: Schwarze Kristalle aus dem Sand der Azorenküste, ca. 0,3 mm groß. Aber sind es überhaupt Diamanten? Klar, Diamanten sind vulkanischen Ursprungs wie diese Kristalle. Aber in solcher Menge? Ich muss daran denken, dass die Astronomen in 50 Lichtjahren Entfernung einen Stern „Lucy“ (BPM 37093) entdeckt haben, der ganz aus Diamant bestehen soll. Für die Carbonados gibt es die Hypothese, dass sie ihren Ursprung im interstellaren Raum haben. Bevor ich mich verrückt mache, will ich es genauer wissen. Ich untersuche die Kristalle mit stärkster Vergrößerung. Ich habe mich kürzlich mit Rohdiamanten beschäftigt und erwarte von daher auf den Oberflächen Dreiecksstrukturen, die für sie typisch sind. Solche Dreiecke habe ich auch auf Carbonados gesehen. Aber hier bei den Kristallen von den Azoren zeigen sie sich nicht. Also sind Zweifel angebracht. Jetzt wäre sinnvoll, ihre Härte festzustellen. Diamant hat die Mohs-Härte 10, die höchste, die es gibt. Mein Härtebesteck lässt sich an den winzigen
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19 Was ist wirklich und was Täuschung? Krümeln nicht anwenden. Also was tun? Ich streiche die Kristalle zu einem Häufchen zusammen und schlage mit dem Hammer das Ende eines Holzdübels hinein. Hiermit reibe ich über ein Mikroskopierglas. Es entstehen Kratzspuren. Also liegt die Härte der Kristalle über 5,5. Jetzt versuche ich es an einem Bergkristall. Wieder entstehen Riefen. Also liegt die Härte über 7, der Härte von Quarz. Es wird spannend. In meiner Mineraliensammlung habe ich einen Korundkristall. Der hat wie Rubin die Härte 9 und kann nur von Diamant geritzt werden. Ohne Rücksicht auf Verluste reibe ich darauf herum und prüfe das Ergebnis unter dem Mikroskop: keine Kratzspuren! Also muss die Härte der ominösen Kristalle bei etwa 8 liegen. Was kann da infrage kommen? Ich recherchiere in Mineralienbüchern und stoße auf schwarzen Spinell (Pleonast). Der hat die Härte 7,5– 8 und kristallisiert als Oktaeder wie der Diamant. Und wie dieser ist er vulkanischen Ursprungs. Das muss es wohl sein. Also keine Strände voller Diamanten. Irgendwie bin ich erleichtert. Wie man sich doch täuschen kann. Und enttäuschen. Und wie wichtig es sein kann, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Nicht selten unterliegen Menschen Täuschungen, die sie trotz aller Widersprüche zu dem, was ihre Mitmenschen als Fakten bezeichnen, für wahr halten. „Realitätsverlust“ im engeren Sinne kommt infolge von bestimmten psychischen Erkrankungen vor, von Drogeneinfluss oder traumatisierenden Erlebnissen. Eine Spielart im Spektrum des „Normalen“ ist die Uneinsichtigkeit, also die Überzeugung, im Recht zu sein, obwohl alles dagegenspricht. Legendär wurde das Verhalten von Gerhard Schröder, als er nach der Bundestagswahl 2005 nicht eingestand, gegen Angela Merkel verloren zu haben, sondern großspurig behauptete, die Deutschen hätten in der Kandidatenfrage eindeutig für ihn votiert. 2021 war Armin Laschet nach der für ihn und seine CDU verlorenen Bundestagswahl immer noch davon überzeugt, die Mehrheit der CDU-Mitglieder hätten ihn als Kanzlerkandidaten gewollt. Tatsächlich war es der Bundesvorstand gewesen, der sich gegen erheblichen Widerstand aus der Basis für ihn entschieden hatte. Folgenreich war die grundlose Behauptung von Donald Trump 2020, ihm sei die Wahl zum Präsidenten gestohlen worden. Sie führte am 06.01.2021 zur Erstürmung des Capitols durch seine Anhänger. Wenn zwischen der subjektiven Wirklichkeit und davon abweichenden Informationen eine „kognitive Dissonanz“ besteht, wird der Konflikt nicht selten durch Leugnung der Informationen beantwortet (L. Festinger 1978). Diese Tendenz wurde in den genannten Fällen bestärkt dadurch, dass die Informationen nicht nur das eigene Bild von den bestehenden Verhältnissen, sondern auch das eigene Selbstbild tangierten. Wie sehr auch das Denken Täuschungen unterliegen kann, hat ein logisches Problem gezeigt, das der Mathematiker Joseph Bertrand 1889 erfunden hat und durch eine amerikanische Spielshow als das „Ziegenproblem“ berühmt wurde. Der Moderator lässt den Kandidaten unter drei verschlossenen Türen wählen. Hinter einer steht ein teures Auto, hinter den beiden anderen stehen 151
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zwei Ziegen als Nieten. Nachdem der Kandidat eine Tür gewählt hat, öffnet der Moderator eine der beiden anderen Türen, und zwar eine, hinter der eine Ziege steht. Nun gibt der Moderator dem Kandidaten die Möglichkeit, sich neu zwischen den beiden verbliebenen Türen zu entscheiden. Die Kernfrage ist: Soll der Kandidat wechseln, oder kann er genauso gut bei seiner ersten Wahl bleiben? Über 90 % aller Personen bleiben bei ihrer ersten Wahl. Auch über 60 % der befragten Akademiker entscheiden so. Sie meinen übereinstimmend, dass nun die Chance 50:50 ist, warum sollten sie also ihre Entscheidung ändern? Das tut niemand gern ohne Aussicht auf eine Verbesserung. Wankelmut hat stets einen Beigeschmack von Schwäche. Dagegen empfahl 1990 Marilyn vos Savant, angeblich die Frau mit dem höchsten IQ, der je gemessen wurde, zu wechseln. Damit zog sie den Spott zahlreicher Mathematiker und Naturwissenschaftler auf sich. Ihr wurde vorgeworfen, die simpelsten Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu missachten, nach denen der Zufall unabhängig von vorangegangenen Ereignissen ist. Genau das aber ist der entscheidende Punkt. Bei dem Problem handelt es sich um eine bedingte Wahrscheinlichkeit, die allerdings nicht leicht zu durchschauen ist. Hier eine Lösung, die das anschauliche Denken zu Hilfe nimmt, siehe Abb. 65.
Abb. 65: Das „Ziegenproblem“ und seine Lösung. 152
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Möglich sind die Fälle 1, 2 und 3. Angenommen, der Kandidat wählt anfänglich Tür A (jeweils dick umrahmt). Die Wahrscheinlichkeit, das Auto zu treffen, ist in jedem Fall 1/3. Die Wahrscheinlichkeit, eine Ziege zu treffen, 2/3. Der Moderator öffnet nun eine Tür mit Ziege, in den Abbildungen als durchgestrichen markiert. Damit entfällt diese Möglichkeit, eine Niete zu treffen. Das ändert aber auch die Chancen bei einer Neuentscheidung. Nur in dem Fall, dass schon die erste Wahl auf die Tür mit dem Auto traf, würde der Kandidat bei einem Wechsel verlieren. In beiden anderen Fällen führt ein Wechsel zum Gewinn. Die Chance, das Auto zu bekommen, steigt also bei einem Wechsel auf das Doppelte von 1/3 auf 2/3! Illusionisten spielen bei ihren Zaubertricks auf der ganzen Klaviatur von optischen Täuschungen über selektive Aufmerksamkeit bis hin zu Denkfallen und verstehen dabei, ihre Manipulationen im Beiläufigen zu maskieren. Ihre Methoden reichen von dem simplen Fall, dass Schwarzes vor einem schwarzen Hintergrund verschwindet, bis hin zu komplizierten Systemen, die durch die scheinbare Einfachheit des Materials und der Darbietung kaschiert werden. Stets arbeiten und denken sie in zwei Wirklichkeiten, für die Zuschauer auf der Ebene der Show und für sich selbst auf der Ebene der Tricks. Während der Zuschauer das Wahrscheinliche sieht, arbeitet der Illusionist mit dem Unwahrscheinlichen, um schließlich mit dem Unmöglichen zu verblüffen. Wie letztlich Uri Geller Löffel verbiegt und wie es die Ehrlich Brothers schaffen, in ihrem Lamborghini über die Bühne zu fliegen, muss ihr Geheimnis bleiben.
Abb. 66: Kinder lieben es, mit Schatten zu spielen. Es ist ein reizvoller Zugang zum Verhältnis von Schein und Wirklichkeit. 153
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Illusionen sind ein reizvolles Spiel zwischen Sinneserfahrung, Gefühl und Verstand. Das Wort „Illusion“ führt in sich als Bestandteil „ludus“, das Spiel. Ob Bühne, Film, Roman oder Bild – in allen Formen der Kunst werden Rezipient und Mitspieler hineingenommen in den schwindelerregenden Rausch des Tanzes zwischen Wirklichkeitsebenen. Kurz gesagt: Optische Täuschungen können etwas darüber verraten, wie die Wahrnehmung aus Sinnesreizen unsere Wirklichkeit entstehen lässt. Da optische Reize ins Auge zweidimensional projiziert werden, die Erlebniswelt aber dreidimensional ist, gibt es oft Mehrdeutigkeiten. Täuschungen werden erkannt, wenn unterschiedliche Erfahrungsweisen miteinander in Beziehung gebracht werden. Schlüssige Konzepte auf der Grundlage von Perspektiven- und Kontextwechsel, multisensorischem Vergleich, physikalischen Messmethoden, von persönlich erworbenem und übernommenem Wissen sind Maßstab im persönlichen wie im wissenschaftlichen Rahmen und lassen Irrtümer erkennen.
Literatur Ditzinger 2006. Guski 1996. Kobbert 2003, 2010. v. Randow 1992. Simons & Chabris 1999.
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Der Spaß, eine Treppe hinunterzufallen Der früheste Traum aus der Kindheit, an den ich mich erinnern kann, geschah auf der Schwelle von Schlaf und Wachheit, es war das, was man einen Wachtraum nennt. Der Traum wurde zu einem der verrücktesten, die ich je hatte, und er hat sich mir tief eingeprägt. Ich stand im ersten Stock eines Hauses am oberen Ende einer steilen Holztreppe, die geradlinig nach unten bis ins Erdgeschoss führte. Ich geriet ins Straucheln und fiel mit lautem Holterdipolter im Purzelbaum die Treppe hinunter. Unten angelangt, rappelte ich mich sogleich auf. Verwundert merkte ich, dass mir nichts weh tat und dass ich völlig in Ordnung war. In diesem Moment wurde mir bewusst: Es ist nur ein Traum. Sonst hätte es weh tun müssen wie bei einem früheren echten Fall, bei dem ich mir schmerzhafte Prellungen zugezogen hatte. Mir ging durch den Kopf: Wenn es nur ein Traum ist, kann ich ja das tolle Erlebnis ohne Gefahr wiederholen. Ich zog mich am Geländer hoch und stieg die Treppe hinauf. Oben angelangt, ließ ich mich mit viel Spaß erneut hinunterfallen. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt. Gern wollte ich das Ganze noch einmal wiederholen. Doch der Aufstieg war anstrengend und ich dachte mir: Es ist doch ein Traum, vielleicht kann ich mich einfach mit einem Schwupps nach oben wünschen. Doch das klappte nicht. Ich musste mir die Mühe machen, hinaufzuklettern, obwohl es nur ein Traum war. Nach dem dritten Hinunterpoltern wachte ich gut gelaunt endgültig auf.
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Warum träumen wir?
Anders gefragt: Welchen Hintergrund haben die merkwürdigen Erlebnisse im Schlaf? Im tagnächtlichen Rhythmus vollzieht sich ein seltsamer Wechsel zwischen Wachheit und Bewusstlosigkeit. Es gibt Menschen, die vor dem Einschlafen Angst haben, weil sie fürchten, nicht wieder aufzuwachen und zu sterben. Andere wünschen sich, weil des Schlafes Bruder unvermeidlich irgendwann kommen wird, dann am liebsten während des Schlafes für immer zu entschlafen. Im Buddhismus gilt der Schlaf als kleiner Tod, verbunden mit einer geistigen Wiedergeburt. In der Bibel sind die Menschen „wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das verdorrt“ (Psalm 90, 5). Im Koran heißt es: „Allah nimmt die Seelen hin, zur Zeit ihres Sterbens, und die nicht sterben, während ihres Schlafens. Er hält die zurück, über die er den Tod verhängt, und sendet die anderen wieder bis zu einer bestimmten Frist.“ (Sure 39, 43). Mit dem Aufwachen, unserer täglichen Wiedergeburt, gewinnen wir das Bewusstsein wieder. Dank unseres autobiographischen Gedächtnisses können wir an den Vortag anknüpfen, erfahren uns als dieselbe Person, die ihn erlebt hat und setzen so die Kontinuität 155
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unserer Existenz und unserer Wirklichkeit fort. Dazwischen aber, so flüchtig, dass sich manche nicht daran erinnern, liegen die Träume, merkwürdige Erzeugnisse eines merkwürdigen Bewusstseinszustandes. Träume sind von der Alltagswelt abgehoben und haben ihre eigene Wirklichkeit. Während wir uns mitten darin befinden, bezweifeln wir nicht ihre Gültigkeit, und auch die seltsamsten Ereignisse nehmen wir hin, als müsste alles so sein. Diese Welt ist eine eigene, oft fremd, und wenn bekannt, dann doch verfremdet. Auch wir selbst befinden uns zwar nach wie vor im Zentrum des Ganzen, doch nicht selten mit ungewohnten Fähigkeiten. Gefühle wie Neugier und Angst, Freude und Verzweiflung, Stolz und Scham sind nicht weniger echt als im Wachbewusstsein. Träume, in denen wir uns voller Angst wie gelähmt fühlen und nicht vom Fleck kommen, stellen sich ebenso ein wie solche, in denen wir uns voller Lust in allen drei Dimensionen frei von der Schwerkraft bewegen können. Dabei wundern wir uns sogar manchmal darüber, dass wir diese ungebundene Fortbewegung nicht häufiger genießen, wo sie doch so einfach ist. Es gibt die Hypothese, dass sich hier Relikte von Bewegungsmustern bemerkbar machen, die unsere fernen Vorfahren vor über 400 Millionen Jahren im Wasser ausführten. Vielleicht ist es auch nur die Verwirklichung des Wunsches zu fliegen, wie es die Vögel tun. Er veranlasste Leonardo da Vinci zum Entwurf der ersten Flugapparate.
Abb. 67: Mit 21 Jahren träumte ich, ich säße im Schneesturm auf einem großen Baum und sähe unter mir Mammuts vorüberziehen. Der Traum erschien mir ungewöhnlich realistisch, zumal ich die Rauigkeit der Borke fühlte und spürte, wie das Stampfen der Tiere den Baum vibrieren ließ. Ich erwachte und zeichnete die Szene auf, bevor sie verblassen konnte. Taktile Erlebnisse im Traum sind sehr selten. 156
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Während der Körper weitgehend ruht – die Willkürmotorik ist fast vollständig ausgeschaltet –, laufe ich durch Zimmer, Städte, Landschaften, die ich so nie zuvor gesehen habe. Während der Mensch, der ich vor dem Einschlafen war und der nun ruhig atmend auf dem Bett liegt, nicht ansprechbar ist, treffe ich im Traum bekannte und unbekannte Menschen und rede mit ihnen.
Im Traum wiederbelebt Ich träume, ich sei mit meiner Frau und den beiden Enkeln verreist. Es ist Vormittag, meine Frau ist nicht da. Auf der Suche nach ihr gehe ich mit den Enkeln auf die sonnenbeschienene Hochterrasse des Hotels. Wir schauen herab auf den baumumstandenen Hof und sehen dort unser Auto, aus dem meine Frau gerade aussteigt. Neben dem Auto steht meine weißhaarige Mutter. Sie trägt ihren Lieblingsdress, weiße Hose und weiße Bluse. Sie schaut nach oben, winkt und lacht und macht Späßchen. Ole, der jüngere Enkel, ruft „Hallo, Uroma!“, läuft die Treppen hinunter und schließt sie freudig in die Arme. Ich wundere mich im Traum nur darüber, dass meine Frau meine Mutter aus ihrem Zuhause so schnell hat holen können und überschlage die Fahrzeit. Dass sie schon seit zehn Jahren tot ist, kommt mir nicht in den Sinn. Mir fällt auch nicht auf, dass sie auf zwei unversehrten Beinen steht, obwohl sie die letzten acht Jahre ihres Lebens einseitig amputiert war. Auch nicht, dass Ole sie im Gegensatz zu seinem vier Jahre älteren Bruder nie erlebt hat. All diese Ungereimtheiten werden mir erst nach dem Aufwachen bewusst. Es ist möglich, dass der Traum aus Themen zusammengesponnen wurde, die mich in den letzten Tagen beschäftigt haben. Wir befinden uns seit einem halben Jahr in der Coronakrise, ich gehöre in mehrfacher Hinsicht zur Risikogruppe, wir sind dabei, unser Testament neu zu verfassen. Interessant ist aber, dass der Traum das Thema Tod gleichsam auf den Kopf gestellt hat. Er hat meine Mutter wieder lebendig werden lassen und unversehrt zurück in die Familie gebracht.
Nun, so ganz ruht der Mensch nicht, während er träumt. Drei- bis sechsmal in jeder Nacht fangen die Augen an, sich unruhig zu bewegen. Atemfrequenz, Puls und Blutdruck steigen um 10 bis 20 %, ein Elektroenzephalogramm (EEG) zeigt Hirnwellen in hohen Frequenzen (20–50 Hz), wie sie auch im Wachbewusstsein auftreten. Vorzugsweise in solchen REM-Phasen, die etwa 20 % des Schlafs ausmachen, ereignen sich Träume, wie Schlafforscher festgestellt haben, die Schläfer in eben diesen Zeiten geweckt haben. Die REM (Rapid-Eye-Movements) scheinen wie die anderen physiologischen Parameter zu signalisieren, dass sich der Schlafende in einem besonderen Bewusstseinszustand zwischen Wachen und Tiefschlaf befindet. 157
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In den letzten Jahren hat die Hirnforschung gezeigt, dass die Beziehung zwischen REMPhasen und Träumen nicht eindeutig ist. Nicht in allen REM-Phasen lassen sich Träume nachweisen. Dagegen werden gelegentlich Träume auch aus Phasen berichtet, die nicht durch rasche Augenbewegungen gekennzeichnet sind (NREM, Non-Rapid-Eyes-Movements). Bei genauer Differenzierung ergab sich, dass sich bei solchen Träumen zwar das Gehirn global im NREM-Zustand mit einer Aktivität im 1–4-Hz-Band befindet. Eine „heiße Zone“ des Hirns ist aber zugleich hochfrequent aktiv, und zwar in Teilen von Okzipitalhirn und Parietalhirn, in denjenigen Zonen des Gehirns, die mit dem Sehen und der Aufmerksamkeitssteuerung zu tun haben. Diese Zonen sind bei Träumen offenbar immer aktiv, besonders stark bei solchen, die den Charakter von Szenen und Geschichten haben. Bei Träumen, die einer reinen Gedankentätigkeit ähneln, wird die Aktivität des Präfrontalhirns stärker, so wie bei mentalen Tätigkeiten im Wachzustand. Auch in „luziden Träumen“ ist das Fontalhirn mit aktiv. Das sind „Klarträume“ wie der oben geschilderte Treppentraum, in denen der Betreffende sich bewusst ist, dass er träumt. Paul Tholey hat sie untersucht. Er betont als Merkmal solcher Träume im Unterschied zu anderen, dass man Entscheidungsfreiheit über sein Handeln hat und auch aktiv in den Traum eingreifen kann. Sigmund Freud berichtet von Personen, die willentlich Träume abbrechen und für einen anderen Verlauf neu beginnen wie ein Schriftsteller, der seine Geschichte umschreibt.31 Luzide Träume machen weniger als 1 % aller Träume aus. Klarträume können therapeutisch genutzt werden, um etwa wiederkehrende Albträume aktiv zu bewältigen. Gelegentlich verbinden sich luzide Träume mit dem Erlebnis, sich außerhalb des eigenen Körpers zu befinden. In vielen Kulturen gibt es Medien und Schamanen, die sich, gelegentlich mit Hilfe von Drogen, in Trance versetzen und dann aus dem Reich der Geister oder Ahnen berichten. Solche außerkörperlichen Erfahrungen spielen sich innerhalb der Erlebniswirklichkeit ab. Dies zeigt sich vor allem daran, dass sie Vorstellungen widerspiegeln, die von dem jeweiligen kulturellen Weltbild geprägt sind. Die Annahme, dass die Seele den Körper faktisch verlässt und dann wieder zurückkehrt, hat sich nicht objektivieren lassen und ist wohl als Konsequenz bestimmter Weltbilder zu sehen. Man muss damit rechnen, dass Berichte über entsprechende Grenzerfahrungen ähnlichen Erinnerungsverfälschungen unterliegen wie viele Zeugenaussagen vor Gericht, die nichtsdestotrotz subjektiv wahr sind und nach bestem Wissen und Gewissen erfolgen. Wichtig ist zu bedenken, dass alle Träume, die wir von uns selbst oder von anderen kennen, Erinnerungen an Träume und Beschreibungen von Erinnerungen sind. Da es keine Möglichkeit gibt, sie zu objektivieren, ist immer damit zu rechnen, dass sie auch bei bester Absicht Veränderungen unterliegen. In der Traumforschung versucht man darum, Traumberichte möglichst ereignisnah zu erhalten, vorzugsweise nach Weckung in einem Schlaflabor. Aber auch über Fragebogen, Traumtagebücher u. a. werden Traumberichte gesammelt und ausgewertet. 158
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Laborträume enthalten relativ wenige sexuelle und aggressive Inhalte, beziehen sich dagegen nicht selten auf die Laborsituation, was zeigt, dass die Umgebung Einfluss auf die Traumberichte hat. In 90 % der Träume ist der Träumende selbst am Geschehen beteiligt, in dem kleinen Rest ist er nur Beobachter wie bei einem Film. Ein Drittel der Träume enthält bizarre Inhalte, die im normalen Leben unmöglich sind. Alle Träume sind visuell, nur nicht bei Blindgeborenen. Ein Drittel enthält auditive Inhalte, besonders Gesprochenes. Vormals meinte man, Träume seien schwarz-weiß. Das liegt aber daran, dass von Farbigkeit nur selten spontan berichtet wird. Bei Nachfrage zeigt sich, dass häufig farbig geträumt wird. Das gilt auch für die Frage, ob in Träumen Denken eine Rolle spielt. Darüber wird spontan wenig berichtet, weil die Schilderungen hauptsächlich konkrete Geschehnisse zum Thema haben. An Geschlechtsunterschieden ergab sich in Untersuchungen, obwohl sie 30 Jahre auseinander lagen, übereinstimmend: Träume von Männern finden häufiger im Freien statt, enthalten häufiger aggressive und sexuelle Inhalte und mehr unbekannte Personen. Bei Frauen kommen häufiger Bekannte vor und spielt Kleidung eine größere Rolle. Verbreitet ist die Annahme, dass lange Träume in Sekundenschnelle ablaufen. Sie geht auf Louis Alfred Maury zurück, einen der ersten Traumforscher. Maury berichtete 1861 von einem ausführlichen Traum, der in der Zeit der französischen Revolution spielte. Er war an allerlei Gräueln beteiligt und hatte sich vor Gericht zu verantworten. Schließlich musste er aufs Schafott steigen. „Das Messer der Guillotine fällt herab; er fühlt, wie sein Haupt vom Rumpf getrennt wird, wacht in der entsetzlichsten Angst auf – und findet, dass der Bettaufsatz herabgefallen war und seine Halswirbel, wirklich ähnlich wie das Messer der Guillotine, getroffen hatte“, schreibt Sigmund Freud in seiner Schrift über den Traum, mit der er im Jahr 1900 die Psychoanalyse begründete.32 Maury folgerte aus seinem Traum, dass, durch einen äußeren Reiz ausgelöst, in Sekundenschnelle ein langer Traum ablaufen kann. Diese Behauptung wurde sehr populär, doch gibt es keine überzeugenden Belege für ihre Stichhaltigkeit. Vielmehr haben Untersuchungen gezeigt, dass Traumereignisse in gleicher Geschwindigkeit ablaufen wie das Tagesgeschehen. Dass äußere Reize das Traumgeschehen beeinflussen, wurde wiederholt bestätigt. Viele Menschen haben z. B. die Erfahrung gemacht, dass Geräusche vom Wecker oder von einer Stimme in den Traum integriert werden. Immer wieder ist festgestellt worden, dass Tageserlebnisse sich im Traum neu bemerkbar machen. In Zeiten der Inquisition wurde das ausgenutzt. So empfiehlt Thomas Carena 1659: „Spricht jemand im Traum Ketzereien aus, so sollen die Inquisitoren daraus Anlass nehmen, seine Lebensführung zu untersuchen, denn im Schlafe pflegt das wiederzukommen, was unter Tage jemand beschäftigt hat.“33 Auch vom umgekehrten Fall, dass Träume in das Realleben einwirken, sind viele Beispiele bekannt. Man denke an die prophetischen Träume der Bibel, von Joseph, dessen Träume seine 159
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Brüder verärgerten, von dem Pharao, dessen Träume die Zukunft Ägyptens kündeten. Man denke an den Traum von Thutmosis IV, in dem ihm prophezeit wurde, dass er Pharao werden würde, wenn er den Sphinx freilegen würde, von dem zu seiner Zeit nur der Kopf aus dem Sand ragte. Er legte ihn frei und wurde Pharao. Manche Träume sind mit starken Angstgefühlen verbunden. Alpträume quälen und können zum Erwachen führen. Sie sind bei Kindern im Alter von 6–10 Jahren am häufigsten, sie berichten davon, verfolgt oder verletzt zu werden oder in die Tiefe zu stürzen. Mit pavor nocturnus ist das angsterfüllte Aufschrecken, oft aus dem Tiefschlaf heraus, gemeint. Traumatische Erlebnisse wie die von Kriegserlebnissen und sexueller Gewalt können sich mit der ganzen Intensität der Affekte im Traum wiederholen. Geschieht dies im Wachbewusstsein, spricht man von Flashbacks. Ein früher Bericht über einen Angsttraum steht im Alten Testament (Buch Daniel, Kap. 2 ff). Nebukadnezar, König von Babylon, hat einen schrecklichen Traum, von dem er erwacht. Er lässt alle Weisen und Zauberer kommen. Er fordert von ihnen, dass sie ihm den Traum sagen und ihn deuten. Sollten sie dazu nicht in der Lage sein, würden sie in Stücke gehauen. Er selbst habe den Traum vergessen. Als die Weisen antworten, dass diese Forderung kein Mensch erfüllen könne, sondern nur Götter, sollen sie getötet werden. Daniel, ein Gefangener aus Juda, ruft Gott an, dass er ihm das Verborgene offenbar mache. Er tritt vor Nebukadnezar und berichtet, dass in dessen Traum ein großes glänzendes Bildnis erschien. Dieses wurde von einem Stein getroffen, sodass es in tausend Stücke zersprang, und der Stein wurde zu einem Berg. Daniel deutet den Traum. Er, Nebukadnezar, sei das goldene Haupt des Bildnisses. Sein Königreich wird zerfallen und der Gott des Himmels wird ein Königreich errichten, das ewig besteht. Im Altertum wurden Träume oft als göttliche Botschaften verstanden. In Assur und im alten Ägypten wurden Traumlexika für die Deutung erarbeitet. In Griechenland gab es den Ritus, im Tempel des Asklepios zu schlafen, weil man sich vom Gott der Heilkunst im Traum Rat zur Gesundung erhoffte. Nach Homer kommen Träume aus einem Land der Unterwelt, unweit des Totenreichs, und suchen die Schlafenden auf. Als Odysseus heimkehrt, unerkannt von seiner Gattin, sagt Penelope zu ihm: „Fremdling, es gibt doch dunkle und unerklärbare Träume, Und nicht alle verkünden den Menschen künftiges Schicksal. Denn es sind, wie man sagt, zwo Pforten der nichtigen Träume: Eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet. Welche nun aus der Pforte von Elfenbein herausgehn, Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung; Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn, Deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen.“34
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Hiermit vergleichbar gibt es bei Tertullian und bei Augustinus Träume, die eine Gottesgabe darstellen, und andere, die Machwerke des Bösen sind. Unter letzteren sind insbesondere die unkeuschen Träume des Körpers zu verstehen.35 Aristoteles war der erste, der den Traum als Tätigkeit der Psyche interpretierte. Er hielt Träume für Nachwirkungen von Sinneseindrücken und verglich sie mit den Nachbildern, die sich nach einem Blick in die Sonne bemerkbar machen. Auch Artemidor verstand im 2. Jahrhundert manche Träume als Nachwirkungen des Tages: „So träumt zum Beispiel der Liebhaber zwangsläufig von einem Zusammensein mit seinem Lieblingsknaben, der von Angst Geplagte vom Gegenstand seiner Angst, der Hungrige wieder vom Essen …“. Für bedeutungsvoll hielt er solche Träume, die Aufforderungen enthielten, nach dem Aufwachen bestimmte Handlungen auszuführen.36 Nach Immanuel Kant ist der Traum ein Spiel der Phantasie, dem er selbst sich hilflos ausgeliefert sieht: „Man träumt sich oft nicht auf seine Füße erheben zu können, oder sich zu verirren, in einer Predigt steckenzubleiben, oder aus Vergessenheit statt der Perücke in großer Versammlung eine Nachtmütze auf dem Kopf zu haben.“ Den einzigen Zweck des Traums vermutet er in seinem Beitrag, während des Schlafes die inneren Organe lebendig zu halten, damit wir nicht versehentlich im Tiefschlaf sterben.37 Für Sigmund Freud ist der Traum der Hüter des Schlafes. Ihm zufolge werden durch die Traumarbeit unbewusste Wünsche, die für die Person inakzeptabel sind, so verändert, dass sie akzeptabel sind, und halluzinatorisch verwirklicht. „Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben.“38 Dass viele Träume nicht erinnert werden, interpretiert Freud dahingehend, dass in ihnen die Traumarbeit nicht gelungen sei und sie daher verdrängt würden. Allerdings sind derlei Deutungen so wenig überprüfbar wie solche in frühen Orakelsprüchen, die oft vieldeutig blieben und damit unwiderlegbar wurden. Wenn grundsätzlich angenommen wird, dass Träume ihre Ursprünge verschleiern, wird die Deutung beliebig und nur durch die Theorie kanalisiert. So deutet Freud z. B. den Hut ebenso wie den Stock als Symbol für das männliche Genitale, eine Landschaft ebenso wie eine Schachtel als Symbol für das weibliche Genitale und das Überfahrenwerden ebenso wie das Reiten als Geschlechtsverkehr. Vor allem sind nicht erinnerte Träume keinem Menschen zugänglich und damit in keiner Weise interpretierbar, siehe Nebukadnezars pavor nocturnus. Nicht selten sind Traumberichte Erfüllungen der Erwartungen des Psychoanalytikers, eine Gefahr, die Freud selbst schon bemerkte.39 Mittlerweile hat sich die Traumforschung von der Traumdeutung fortentwickelt. Die Frage, warum der Mensch träumt, stellt sich neu. Wenn der Traum nicht göttliche Botschaft und nicht Wächter gegenüber unbewussten Konflikten ist, erhebt sich allein schon aus biologischer Sicht die Frage, ob der Traum eine Funktion hat. Den Traum als bloßes Epiphänomen abzutun, als belanglose Begleiterscheinung nächtlicher Hirnprozesse, ist unbefriedigend. Wie schwierig eine Klärung dieser Frage ist, zeigt eine Untersuchung von 1996. Es wurden geschiedene Frauen nach ihren Träumen befragt. Frauen, die von ihrem Ex-Mann träumten, 161
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hatten das belastende Erlebnis der Scheidung nach einem Jahr besser verarbeitet als solche, die nicht von ihrem Ex geträumt hatten. Es ist nicht auszuschließen, dass die entlastende Wirkung nicht vom Traum als solchem, sondern vom Berichten darüber ausging, zumal man seit Sigmund Freud weiß, dass die „Talking Cure“, bei der Patientinnen und Patienten über ihre Probleme erzählen, wirksam ist. Ebenso gut könnte man aber annehmen, dass der Traum selbst eine „Talking Cure“ ist, Selbsttherapie in Form eines endogenen Psychodramas. Wie auch immer, der Punkt verlangt danach, weiter untersucht zu werden. Verbreitet ist die Annahme, dass im Schlaf Erfahrungen des Tages verfestigt und ins Langzeitgedächtnis überführt werden, was mit den meisten Trauminhalten allerdings schlecht überein zu bringen ist. Crick & Mitchison behaupten im Gegensatz dazu: „Wir träumen, um zu vergessen“. Sie verweisen auf Computersimulationen des „deep learning“, die sich an neuronalen Netzen orientieren. Dort können sich unsinnige Verknüpfungen entwickeln, die schließlich dominieren und das ganze System zum Absturz bringen. Zufallsverknüpfungen, die als Träume erlebt werden, könnten solche Fehlentwicklungen unterbrechen. Manche Schlafforscher sind der Ansicht, dass wir die ganze Nacht hindurch träumen, wenn auch in wechselnder Intensität in REM- und NREM-Phasen. Man könnte annehmen, dass Träume zeitliche „Platzhalter“ während des Schlafes sind, die dafür sorgen, dass nach dem Erwachen eine realitätsgerechte Einordnung und Fortsetzung der im Schlaf verbrachten Zeit erleichtert wird. Hierfür wäre unerheblich, ob die Trauminhalte sinnvoll oder sinnfrei sind. Für die Platzhalterthese spricht, was bei Ausbleiben einer solchen Lückenfüllung geschieht: In einer „balancierten Narkose“ gibt der Anästhesist nicht nur Analgetika, die den Schmerz unterbinden, sondern auch Hypnotika wie etwa Propofol, die einen künstlichen Schlaf hervorrufen. Dieser kann traumlos sein mit der Folge, dass im Moment des Aufwachens der Eindruck entsteht, nahtlos an den Moment des Einschlafens anzuknüpfen. Dabei geht wie bei einem Filmschnitt die zwischenliegende Zeit „verloren“. Ähnliche Erlebnisse berichten manche Patienten, die nach Tagen oder Wochen aus dem Koma erwachen. Michael Schredl (2008) weist darauf hin, dass vielleicht weniger die Träume selbst, sondern die Erinnerungen an sie eine wichtige Funktion haben können, etwa im Bereich der Kreativität. Dazu gibt es eine Reihe von Beispielen. August Kekulé befasste sich mit der Anordnung der sechs Kohlenstoff- und sechs Wasserstoffatome des Benzols, als er einnickte und von einer Schlange träumte, die sich in den Schwanz beißt. Dieses alte Achemistensymbol des Uroboros brachte ihn auf die Ringstruktur des Benzols, die er 1865 veröffentlichte. Alexander Mitscherlich gibt für diesen Traum eine psychoanalytische Deutung nicht ohne Süffisanz. Das Schlangensymbol sei aus der sexuellen Notlage des Forschers in seinem Junggesellenzimmer zu verstehen. „Dass das Bild der Schlange, die den eigenen Schwanz ergreift, auch noch als Benzolring sich lesen lässt, ist ein echter Zufall.“40 Manche Psychoanalytiker werden zum Opfer ihrer Fixation darauf, überall sexuelle Symbole zu sehen. Sigmund Freud selbst maß dem 162
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Traum durchaus kreatives Potential bei: „Wir haben einerseits Belege dafür, dass selbst feine und schwierige intellektuelle Arbeit, die sonst angestrengtes Nachdenken erfordert, auch vorbewusst geleistet werden kann, ohne zum Bewusstsein zu kommen. Diese Fälle sind ganz unzweifelhaft, sie ereignen sich zum Beispiel im Schlafzustand und äußern sich darin, dass eine Person unmittelbar nach dem Erwachen die Lösung eines schwierigen mathematischen oder anderen Problems weiß, um das sie sich am Tage vorher vergeblich bemüht hat.“41 1869 erträumte Dimitri Mendelejew das Periodensystem der Elemente, an dem er lange gearbeitet hatte. Als er aufwachte, notierte er es gleich und musste es nur wenig verbessern. 1886 erschien das Buch über „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson, in dem er einen Traum umsetzte, in dem er selbst zum Doppelgänger wurde. James Watson und Francis Crick suchten nach der Struktur der Desoxyribonukleinsäure DNA, als Watson 1953 von einer Wendeltreppe träumte und damit die entscheidende Idee zum Aufbau des Moleküls einbrachte, das die Erbinformationen trägt. 1965 soll Paul McCartney die Melodie geträumt haben, die er gleich nach dem Aufwachen auf dem Klavier spielte und die in „Yesterday“ zu einem Welterfolg der Beatles wurde. Diese Aufzählung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Träume nur selten kreative Konsequenzen haben. Eine Untersuchung hat ergeben, dass knapp 8 % aller Träume das Potential haben, etwa beim Malen oder Schreiben Anstöße zu geben oder beim Lösen von Problemen zu helfen. Aber vielleicht ist das die falsche Sichtweise. Denn Kreativität ist ohnehin ein rares Gut, und die Bereitschaft, auf die eigenen Träume zu achten, liefert auf jeden Fall eine zusätzliche Chance. Kurz gesagt: Nacht für Nacht haben wir die seltsamsten Träume. An viele erinnern wir uns nicht mehr. In diesem Bewusstseinszustand ist die Willkürmotorik ausgeschaltet. Die Ursache der Träume ist strittig. Ob Konflikte oder Tageserlebnisse weiterverarbeitet werden, ob wir träumen, um zu vergessen, oder ob Träume zeitliche Platzhalter für die Kontinuität der erlebten Zeit sind, ist ungeklärt. Gelegentlich werden im Traum Probleme gelöst, die uns tagsüber beschäftigt haben.
Literatur Erke 1966. Freud 1900. Gehring 2008. Schredl 2008. Siclari 2017. Zimmer 1995.
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Aurora borealis „Es ist unglaublich!“ „Wenn ich nicht so frieren würde, würde ich sagen, ich träume.“ „Vorhin zeigte das Thermometer minus 40 Grad. Naja, wer reist schon im Februar nach Alaska. Aber das nehme ich gern in Kauf.“ „Gestern war es genauso kalt und sternenklar. Trotzdem gab es keine Aurora.“ „Schau, der grüne Streifen wird immer größer!“ „Und leuchtender!“ „Jetzt zieht er sich schon über den halben Horizont!“ „Dort über den Bergen scheint ein gelber Bogen zu entstehen!“ „Schau! Er wird zur Spirale, und immer größer!“ „Das Zentrum liegt genau über dem Sternbild Orion, die Sterne leuchten hindurch!“ „Der grüne Streifen geht jetzt oben ins Violette!“ „Ich sehe da eher ein Rot!“ „Ganz oben sehe ich es auch so!“ „Die gelbe Spirale nimmt schon den halben Himmel ein!“ „Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll.“ „Wie schnell sich alles verändert!“ „Obwohl die Erscheinungen ja riesig sind.“ „Gut, dass wir heute Nacht hier sind. Letzte Woche war der Himmel ständig bewölkt.“ „Der ganze Himmel ist im Farbenrausch. Und in ständiger Verwandlung. Aber jetzt sieh mal den unteren Rand des grünen Bogens!“ „Das gibt’s gar nicht!“ „Du siehst es also auch?“ „Ja, der untere Rand ist messerscharf, nicht so wolkig unscharf wie alles andere.“ „Ja, aber sieh mal die Farben an diesem Rand!“ „Wellig wie der Wellenschliff bei einem Messer, und die Wellen laufen unheimlich schnell den Rand entlang!“ „Und in allen Farben: grün, gelb, rot, blau, violett!“ „Das glaubt uns keiner!“
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Woran merken wir, dass wir nicht träumen?
Anders gefragt: Können wir Wirklichkeit und Traum unterscheiden? Ludwig Wittgenstein notiert 1922 einen sonderbaren Traum. Er träumt, dass seine Schwester Mining (Hermine) 164
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ihm wegen seiner Geistigkeit schmeichelte und dass er sich darüber freute. „Darauf erwachte ich und schämte mich meiner Eitelkeit und Gemeinheit, und in einer Art Reue … machte ich ein Kreuz … Ich empfand auf einmal meine völlige Nichtigkeit und sah ein, dass Gott von mir verlangen konnte was er wollte mit der Bedingung nämlich, dass mein Leben sofort sinnlos würde, wenn ich ungehorsam bin.“42 Der Text ist nicht nur bemerkenswert in Zusammenhang mit Wittgensteins zwiespältigem Verhältnis zur Religion, sondern auch deswegen, weil hier zwischen Traum und Wirklichkeit keine Grenze gezogen wird, sondern ein fließender Übergang besteht. Seine im Traum empfundene Eitelkeit nimmt er als etwas so Reales, dass er sich dafür verantwortlich fühlt und im Wachbewusstsein Reue empfindet. Ja, fast wirkt die geträumte Szene realistischer als seine verwirrte Reaktion danach. Dazu passt, was Anne Eusterschulte in Zusammenhang mit der Phänomenologie des Schwindels anmerkt: „Das plötzliche Aufschrecken aus einem Traum inmitten der Nacht, das Auffahren aus einem unbeabsichtigten Schlaf, ein plötzliches Hereinstürzen in eine Wachheit, kann in eine zutiefst körperlich erfahrene Dissoziation des Icherlebens wie der Weltwahrnehmung führen.“43 Bei den Aborigines werden Traum- und Wachzustand als gleichwertig angesehen. Die sog. „Traumzeit“ ist nicht mit den nächtlichen Träumen gleichzusetzen. Das zentralaustralische Wort alcheringa wurde im Englischen missverständlich mit dreaming, deutsch „Traumzeit“ übersetzt. Alcheringa bedeutet für die Aborigines vielmehr die spirituelle Ordnung des Kosmos, aus der die Realität in einem permanenten Schöpfungsprozess hervorgeht. Sie kann sich gleicherweise dem Wachbewusstsein wie dem Traum mitteilen. Dies wird in mündlicher und in bildlicher Form zum Ausdruck gebracht.44 Platon lässt Sokrates im Gespräch mit Theaitetos die Frage diskutieren, wie sich Traum und Wachsein unterscheiden lassen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass dies nicht möglich ist. „Und da die Zeit des Schlafens und des Wachens ziemlich gleich ist, und die Seele in jedem von diesen Zuständen behauptet, dass die ihr jedesmal gegenwärtigen Vorstellungen auf alle Weise wahr sind: so behaupten wir, und zwar eine gleiche Zeit hindurch, einmal, dass das eine, dann wieder ebenso, dass das andere seiend ist, und beharren beidemal gleich fest auf unserer Meinung.“45 Die Philosophin Anna Gehring stellt die Frage: „Wie gehen wir damit um, dass wir uns unseres eigenen Wachseins nicht vergewissern können? Es gibt ja keine Ebene oberhalb der Erfahrung, in der wir jeweils gerade stecken. Logisch gesehen existiert also kein Ort, von dem her Traumerleben und Wachwirklichkeit noch einmal objektiv unterscheidbar sind.“46 In den folgenden Abschnitten lassen wir uns von ihrer Monographie zu diesem Thema leiten. Nach dem bereits erwähnten Artemidor sind Träumen und Wachen einander sehr nahe. Sie befinden sich in einem gemeinsamen Erfahrungsraum, wo der Verzicht auf das Traumwissen 165
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Verzicht auf einen Teil der erfahrbaren Wirklichkeit bedeutet. In der Renaissance wurde das Traumbuch des Artemidor erstmals gedruckt und erfuhr starke Resonanz. Descartes ist 1641 der erste, der für das Traumgeschehen das Gehirn verantwortlich macht, wo er auch, speziell in der Zirbeldrüse, den Sitz der Seele verortet. In seinen Meditationes, in denen er den Zweifel als Methode anwendet, bemerkt er zu den Träumen: „Während ich aufmerksamer hierüber nachdenke, wird mir ganz klar, dass nie durch sichere Merkmale der Schlaf vom Wachen unterschieden werden kann, und dies macht mich so stutzig, dass ich gerade dadurch in der Meinung zu träumen bestärkt werde.“ Dennoch macht er einen Unterschied zwischen beiden, auch wenn dieser weder dem Wachenden noch dem Träumenden hilft, seinen Zustand zu erkennen. Der Traum nämlich bezieht seine Vorstellungen, wie er sagt, aus dem Wachen. Nur die Wahrnehmung im Wachzustand schöpft aus der Wirklichkeit, wenngleich sie sich täuschen kann, während sich der Traum grundsätzlich den trügerischen Anschein des Wirklichen gebe. Indem sich das Denken sowohl von der Wahrnehmung wie vom Traum abhebt, bleibt als einzig sichere Erkenntnis seine berühmte Schlussfolgerung: Cogito ergo sum, übersetzt in „Ich denke, also bin ich“. Schließlich, nachdem er seine Zweifel selbst relativiert hat, gelangt Descartes erneut zur Traumfrage und ergänzt das philosophische Argument um ein psychologisches: „Jetzt sehe ich, wie groß der Unterschied zwischen beiden ist: niemals verknüpft das Gedächtnis die Träume mit allem anderen, was wir im Leben tun; bei dem jedoch, was wir im Wachen erleben, ist dies der Fall.“47 Anders gesagt: Im Wachen werden alle Erfahrungen räumlich und zeitlich zu einem Sinnganzen verbunden und geordnet, während die Träume aus isolierten, oft verworrenen Szenen bestehen, die nur sporadisch Bezüge zu anderen Erfahrungen herstellen. Damit verwandt ist der Hinweis von Thomas Hobbes 1655: „Wer träumt, wundert sich nicht über die ungeordneten Erscheinungsbilder, denn im Traum fehlt es auch an Erinnerungen, die Vergleiche erlauben würden. Im Traum erscheint alles gegenwärtig.“48 Aus eigener Erfahrung muss ich dem widersprechen. Wiederholt habe ich geträumt, mich verirrt zu haben. Dann versuche ich regelmäßig, mich zu erinnern und systematisch den gegangenen Weg zurückzugehen oder dem erinnerten Plan zu folgen. Wenn es gelingt, fühle ich im Traum Zufriedenheit. Wenn es nicht gelingt, fühle ich Panik aufsteigen. Leibniz stellt gegen Descartes seine Behauptung, dass Träume eine innere Kohärenz haben, die ein eigenes Universum bildet. Über die Frage, ob im Wachen oder im Traum Wirkliches zu finden sei, entscheide die Wahrscheinlichkeit. Die Behauptung von Kohärenz bei Träumen findet sich kaum bei einem anderen Philosophen, doch möchte ich aus eigener Erfahrung bestätigend hinzufügen: Oft träume ich von mir bekannten Orten und Landschaften. In jedem Traum, auch wenn sie Jahre auseinanderliegen, zeigen sie gleiche geografische Eigenschaften und sind insofern kohärent. Zugleich aber weisen sie erhebliche und gleichbleibende Unterschiede zu ihren realen Vorbildern auf. Durch diese Unterschiedlichkeit sind Verwechslungen 166
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mit der Alltagswirklichkeit unmöglich, sodass Traumgeschehen und Wacherleben nicht vermengt werden. Mir ist nicht bekannt, dass solche (im Sinne des Wirklichkeitserlebens durchaus sinnvolle) Unterschiede untersucht worden wären. In der Aufklärung ist die wissenschaftliche Vernunft maßgebend. Christian Wolff schreibt: „Wenn man nun die Wahrheit gegen den Traum hält, und dabei acht hat, worin sie voneinander unterschieden sind, so wird man keinen anderen Unterschied bestimmen können, als den ich vorhin gegeben, nämlich dass in der Wahrheit alles ineinander gegründet ist, im Traume nicht, und daher im ersten Falle die Veränderungen der Dinge eine Ordnung haben, im Traume hingegen lauter Unordnung ist.“49 Für Immanuel Kant ist im Gegensatz zu Leibniz Kennzeichen des Traumes die mangelnde Kohärenz. Auch im Wachen befinden wir uns gelegentlich im Zustand der Zerstreuung, doch in geringerem Maße. Dass Träume nicht miteinander verbunden sind, schützt vor Verwechslungen mit der Wachwelt. Allerdings erkennen wir die Träume als Täuschung nur aus der Perspektive der Wachheit.50 In der Romantik entwickelt sich ein Interesse an Träumen, die ihren Reiz gerade aus ihrer Phantastik beziehen. Es ist sicher kein Zufall, dass in dieser Zeit im Deutschen der Begriff „Psychologie“ aufkommt. Die Suche gilt Phänomenen jenseits der Vernunft. Georg Christoph Lichtenberg empfiehlt zu träumen und behauptet: „Es gehört mit unter die Vorzüge des Menschen, dass er träumt und es weiß … Die Träume verlieren sich in unser Wachen allmählich herein, man kann nicht sagen, wo das Wachen eines Menschen anfängt.“51 Vermutlich spielt Lichtenberg auf Erfahrungen mit luziden Träumen an. Als „jemand, der Neuland bestellt“, wie Georg Philipp von Hardenberg seinen Namen „Novalis“ versteht, wendet er sich gegen den Geist der Aufklärung und damit gegen den Primat der Vernunft. In einer Umwertung aller Werte flieht Novalis das Licht des allzu Wachen mit seinen rationalen Verkümmerungen und sucht die Nacht in ihrer geheimnisvollen Offenheit. Die Sehnsucht, der blaue Faden der Romantik, zeigt sich bei ihm unverhüllt als Todessehnsucht, denn „ewig ist die Dauer des Schlafs“. Nicht ohne Einfluss ist dabei der frühe Tod seiner geliebten Sophie, der er schon im Alter von 28 Jahren folgt. Mit Beginn der Psychologie als empirischer Wissenschaft im 19. Jahrhundert werden die irrationalen Rätsel der Romantik zunehmend Gegenstand der Forschung. Das Unbewusste und der Traum sind schon vor Sigmund Freud im Fokus des Interesses. Karl Rosenkranz konstatiert 1837, dass „spekulatives Denken“ im Sinne eines Denkens, das über die unmittelbare Erfahrung hinausgeht, im Traum nicht möglich ist. Gegenstand der Träume seien nur individuelle Ereignisse, niemals geschichtliche Weltereignisse. Arthur Schopenhauer stellt fest, dass die anschaulichen Bilder im Traum wesentlich dichter und detailreicher sind als Phantasievorstellungen. Allerdings verharre das Traumgeschehen ganz im Gegenwärtigen. Was fehle, sei die Einbettung und ein Eingreifen in den 167
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Zusammenhang der Erfahrung, das Gedächtnis, auf das das Wachbewusstsein jederzeit zurückgreifen könne. Der Traum habe einen Zusammenhang nur in sich selbst. Als Ursache der Träume vermutet Schopenhauer schwache physiologische Erregungen, die im Wachzustand keine Wirkung zeigen, weil sie dann durch andere Aktivitäten übertönt werden. Zu den Träumen rechnet er auch Hellsehen und Geistersehen, sogar prophetische Zukunftsträume hält er für möglich. Nietzsche weist darauf hin, dass oft äußere Anlässe das Traumgeschehen bestimmen, dass aber dort der Geist nicht imstande sei, die richtigen Ursachen zu erkennen. So gebe er sich mit einer beliebigen Assoziation zufrieden, „denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heißt wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen.“52 Er sieht darin das Relikt einer primitiven Art des Denkens früherer Zeiten, bei der die erstbeste Assoziation als Erklärung für einen Zusammenhang hinreichte, während das streng logische Denken des Wachbewusstseins in Kategorien von Ursache und Wirkung eine späte Errungenschaft ist. Sigmund Freud geht in seinem ersten Hauptwerk „Der Traum“ von 1900 auch auf das Verhältnis zum Wachbewusstsein ein. „Das Charakteristische des wachen Zustandes ist nach Schleiermacher, dass die Denktätigkeit in Begriffen und nicht in Bildern vor sich geht. Nun denkt der Traum hauptsächlich in Bildern …“.53 Freud selbst sieht in Träumen eine Form der Erinnerung, die tiefschürfender arbeitet als im Wachbewusstsein. Allerdings sind ihre Inhalte verändert und verschlüsselt, und die Zuordnung zu bestimmten Erlebnissen, nicht selten zu solchen aus der Kindheit, ist, wie Freud zugibt, schwierig. Die Frage nach der Wirklichkeit des Traumes wird zu einer Frage nach der Wirklichkeit zugrunde liegender Erfahrungen. Freud spekuliert darüber, dass alle Erfahrungen des Lebens im Gedächtnis gespeichert werden, und dass der Traum darauf Zugriff hat. „Wirklich“, sagt der Philosoph Josef Pieper, „so nennen wir alles, was uns begegnet.“54 Tatsächlich erscheint auch innerhalb des Traums alles wirklich, solange wir daraus nicht erwachen. Gibt es etwas, das eine Unterscheidung möglich macht? Dazu müssen wir den Begriff „Begegnung“ schärfer fassen, und zwar im Sinne dessen, was Karl Jaspers als „fühlbar gegenwärtig“ bezeichnet.55 Um der Realität sicher zu sein, „bedarf es eines Eindrucks der Härte und Widerständigkeit, den natürlich gerade haptische Erlebnisse (im weitesten Sinne) vermitteln können.“56 Die Realität gibt sich durch ihre Widerständigkeit zu erkennen. Widerstand wird sinnlich nur haptisch erfahren. Unvermittelt können wir uns an Objekten, die uns begegnen, hart stoßen. Bemerkenswerterweise kommt dies in Träumen nicht vor, es sei denn, ein reales Ereignis (aus dem Bett fallen, s. auch den Traum von Maury, s. o.) wird in den Traum integriert. Im Traum ist die umgebende Wirklichkeit weicher, nachgiebiger als im Wachzustand, fast widerstandslos. Die populäre Aufforderung „Kneif mich, damit ich weiß, dass ich nicht träume!“ 168
21 Woran merken wir, dass wir nicht träumen?
ist eine Variante der Vergewisserung von Realität durch einen heftigen taktilen Reiz. „Was immer die Natur der Traumgesichte sein mag, gewiss ist, dass sie körperlos ist,“ schreibt Kirchenvater Augustinus.57 Die Gegenstände des Traums sind zwar zu sehen, aber sie sind nicht zu fassen. Traumimmanente Schmerzerlebnisse werden sehr selten berichtet. Im Schlaf ist nicht nur die Motorik von mentalen Vorgängen entkoppelt, sondern auch die Schmerzempfindung. In Vollnarkose wird dieser Zustand künstlich hervorgerufen. Auch hierbei können Träume auftreten. Sie haben im Allgemeinen keinen Schmerzbezug. Zwar werden durch die Operation Nozizeptoren gereizt, die Erregungen erreichen aber nicht den Kortex. Tragen wir die Beiträge von der Antike bis heute zusammen und versuchen, sie im Rahmen der heutigen Begriffswelt zusammenzufassen. Traum und Wachheit sind zwei psychische Zustände, die sich wie folgt unterscheiden: Im Wachzustand nehmen wir eine Welt wahr, die über die Sinne mit der physikalischen Realität verbunden ist. Der Traum partizipiert an diesen Wahrnehmungen insoweit, als er auf Erinnerungen daran zurückgreift. Dieser Rückgriff wird jedoch nicht als Erinnerung erfahren, sondern als angetroffene Wirklichkeit. Die Gegenstände des Traums werden oft abgewandelt und in einer Weise zu Szenen und Geschichten kombiniert, die einer eigenen Ordnung folgen. Die Inhalte des Wachbewusstseins sind miteinander kohärent verbunden, die der Träume nicht oder nur vereinzelt. Die raumzeitliche Gesamtordnung der Erfahrungsinhalte ist nur dem Wachbewusstsein gegeben. Das Traumgeschehen erfolgt stets aus einer gegenwärtigen Ich-Perspektive, während dem Wachbewusstsein möglich ist, Vorstellungen und Zusammenhänge ohne Ich-Beteiligung zu denken, auch ohne Bindung an ein Hier und Jetzt Vergangenheit und Zukunft einzubeziehen. In sinnlicher Hinsicht ist der Traum vornehmlich visuell bestimmt, auch auditiv, während das Haptische stark zurückgenommen ist, wenn man von sexuellen Erlebnissen absieht. Vor allem fehlt im Traum die Erfahrung der Widerständigkeit der Welt, die bisweilen schmerzhafte Konfrontation mit Objekten. All diese Unterschiede sind nur aus der Perspektive des reflexiven Wachbewusstseins zu erkennen, weshalb diese Unterscheidungsfähigkeit selbst zum Merkmal des Wachbewusstseins wird. In der einleitenden Anekdote ist das Frieren ein durch die Hautsinne vermitteltes Indiz dafür, dass das Erlebnis der Aurora borealis kein Traum ist. Vor allem aber wird es geteilt und kommuniziert. So entkommt es dem Verdacht, dass es sich um eine subjektive Täuschung handelt. Schon Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.) brachte es auf den Punkt: „Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.“58
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Die zweite Entstehung der Welt
Kurz gesagt: Während eines Traums hat man im Allgemeinen den Eindruck, dass alles real ist. Im Wachzustand lassen sich Unterschiede zwischen Wachheit und Traum feststellen: Für den Traum gilt nur die Gegenwart, im Wachzustand können wir Erinnerungen einbinden und geschichtliche Zusammenhänge herstellen. Träume existieren einzeln für sich, das Wachbewusstsein schafft Kohärenz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Vor allem: Nur im Wachbewusstsein setzt uns die Wirklichkeit Widerstand entgegen.
Literatur Eusterschulte 2015. Freud 1900. Gehring 2008. Sieber 2013. Wittgenstein 1922. Voigt & Drury 1998.
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Wodurch entstehen Halluzination und Wahn?
Ein Muster legt sich über die Welt Wir bummeln über den Prinzipalmarkt von Münster, als ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Ich habe den Eindruck, dass sich ein Schleier über meine Augen legt, der sich allmählich zu einem klaren Muster formt. Es bildet einen Bogen aus Zacken, dessen Zentrum etwas außerhalb des Blickpunktes liegt. Die Zacken flimmern in wechselnden Farben aller möglichen Töne und Schattierungen. Der Bogen wandert und dehnt sich aus bis an die Grenzen des Gesichtsfeldes. Währenddessen bildet sich im Zentrum ein neues Zackenmuster, das sich allmählich ausdehnt. Die ganze Zeit über liegt das Muster über dem wechselnden Hintergrund der Straßenszene, in der wir uns bewegen. Nach gut 20 Minuten löst es sich allmählich auf, und der Blick ist wieder ungestört. Etwa zwei Jahre später tritt die gleiche Erscheinung erneut auf, dieses Mal zuhause beim Lesen eines Buches. Jetzt beobachte ich sie genauer, um sie wiedergeben zu können. Das kann allerdings nicht ganz gelingen, denn die Farbigkeit wechselt ständig, alle Teile des Zackenmusters sind je verschieden gefärbt. Ich habe keinen Einfluss auf das Phänomen, seine Position im Gesichtsfeld bleibt, wohin ich auch blicke. Es scheint keine Adaptation wie bei Dauerreizen zu geben. Wieder ist die Erscheinung mit keinerlei anderen Auffälligkeiten verbunden, vor allem nicht mit Schmerzen, wie man es von Migräneattacken her kennt. Das Lesen ist allerdings erschwert, weil das Muster den Text teilweise verdeckt, auch scheint das Zackenmuster selbst noch von einem unscharfen Schleier eingefasst, der den verunklarten Bereich vergrößert. Nach einer halben Stunde wird das Muster undeutlicher, bis es verschwindet. Sogleich setze ich mich an den Computer, um mittels eines Zeichenprogramms das Phänomen einzufangen. Als meine Frau das Ergebnis sieht, sagt sie: „Genauso ein Muster sehe ich, wenn ich Migräne habe.“
Abb. 68: Wiedergabe einer Aura (Flimmerskotom). Das Muster flimmerte in wechselnden Farben, dehnte sich aus und erneuerte sich vom Zentrum her. Das Zustandekommen des Flimmerskotoms ist noch nicht geklärt. Es ist oft eine Begleiterscheinung von Migräne. 171
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Wodurch entstehen Halluzination und Wahn?
Anders gefragt: Wie kommen Erscheinungen zustande, die sich so ganz von der gewöhnlichen Wahrnehmung unterscheiden? Als der Schriftsteller und Mystiker Aldous Huxley auf der Suche nach spiritueller Offenbarung Selbstversuche mit Meskalin macht, ist er zunächst enttäuscht. In seinem schmalen, aber berühmten Buch „Die Pforten der Wahrnehmung“ berichtet er: „Eine halbe Stunde, nachdem ich das Meskalin genommen hatte, wurde ich mir eines langsamen Reigens goldener Lichter bewusst. Ein wenig später zeigten sich prächtige rote Flächen, und sie schwollen und dehnten sich aus, von hellen Knoten von Energie her, die von einem immerzu wechselnden, musterbildenden Leben vibrierten… Aber nie erschienen Gesichter oder menschliche oder tierische Gestalten. Ich sah keine Landschaften, keine riesigen Weiten …“59 Huxley hatte sich großartige Halluzinationen erhofft, aber die geschilderten blieben die einzigen. Karl Jaspers definiert Halluzinationen als „leibhaftige Trugwahrnehmungen, die nicht aus realen Wahrnehmungen durch Umbildung, sondern völlig neu entstanden sind, und die neben und gleichzeitig mit realen Wahrnehmungen auftreten. Durch letzteres Merkmal sind sie von Traumhalluzinationen unterschieden.“60 Dem Betroffenen erscheinen die Halluzinationen völlig real, oft als religiöse Offenbarungen und spirituelle Erleuchtungen, doch für den Außenstehenden entspricht ihre Realität der von Träumen, subjektiven Produkten der Psyche. Die häufigsten Halluzinationen sind akustischer Art besonders in Form von Stimmen. Von visuellen Halluzinationen berichten auch Personen, bei denen ein großer Teil des Gesichtsfeldes nicht mehr vom Auge versorgt wird. Dann erscheinen etwa Menschen oder Tiere im blinden Bereich und können bedrohlichen Charakter annehmen. Manche Halluzinationen sind Wachträumen verwandt, auch dabei können z. B. Personen erscheinen, die andere nicht sehen. In den Schilderungen von Huxley machen sich Veränderungen der Wahrnehmung weniger in völlig neuen Erscheinungen, sondern vor allem in einer Intensivierung und Bedeutungsveränderung realer Wahrnehmungen bemerkbar. Solche für andere meistens nicht nachvollziehbare Interpretationen des Wahrgenommenen werden nicht als Halluzinationen, sondern als Wahnvorstellungen bezeichnet. Beim Anblick einer Vase mit Blumen äußert Huxley: „Ich blickte jetzt nicht auf eine ungewöhnliche Zusammenstellung von Blumen. Ich sah, was Adam am Morgen seiner Erschaffung gesehen hatte – das Wunder, das sich von Augenblick zu Augenblick erneuernde Wunder bloßen Daseins.“ Er bedauert Platon, der keinen Sinn für die die sinnliche Wahrnehmung hatte: „Er konnte nie, der arme Kerl, gesehen haben, wie Blumen von ihrem eigenen, inneren Licht leuchteten und unter dem Druck der sie erfüllenden Bedeutung fast erbebten; er konnte nie wahrgenommen haben, dass, was Rose und Schwertlilie und Nelke so eindringlich bedeuteten, nichts mehr und nichts weniger war, denn was sie waren – eine Vergänglichkeit, die doch ewiges Leben war …“61 172
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Für den Außenstehenden sind manche Beschreibungen nachvollziehbar und bereichernd wie Poesie, andere erscheinen wie geistige Irrläufer. Vier Bambussesselfüße bringen Huxley „Einsicht in die Natur der Dinge selbst … Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose (wie Gertrud Stein sagt). Aber diese Sesselbeine waren Sesselbeine waren St. Michael und alle seine Engel.“62 Seitenlang ergeht er sich über die Falten in seiner Hose: „welch ein Labyrinth endlos bedeutsamer Vielfältigkeit!“ Gefesselt von dieser Beobachtung erscheinen ihm Hinweise auf seine Mitmenschen, die der Begleiter seines Selbstversuchs zu machen versucht, völlig belanglos. In selbstkritischer Reflexion muss Huxley an einen Freund denken, der seine schizophrene Frau besuchte. Er erzählte ihr von ihren beiden Kindern, bis sie ihm das Wort abschnitt. „Wie könne er es über sich bringen, seine Zeit auf zwei abwesende Kinder zu vergeuden, wenn alles, worauf es wirklich ankomme, hier und jetzt ankomme, die unaussprechliche Schönheit der Muster sei, die seine braune Tweedjacke bilde.“63 Ein Schizophrener gleicht nach Ansicht von Huxley einem, der dauernd unter dem Einfluss von Meskalin steht, dem Wirkstoff des Peyotl-Kaktus. Er erwähnt das Adrenochrom, das ähnliche Wirkungen hervorruft. Adrenalin ist eines der wichtigsten Hormone und Transmitter im menschlichen Körper. Durch Oxidation kann es sich im Körper zu Adrenochrom umbilden und Schizophrenie auslösen. Zur Selektion aus der großen Vielfalt ständig einströmender visueller Reize gehört eine Trennung in bedeutende und unbedeutende, die unter Bezug auf gespeicherte Erfahrungen z. T. schon vor der Bewusstwerdung vorgenommen wird. Sie sorgt z. B. dafür, dass wir am Straßenrand das herannahende Auto beachten und nicht die Muster im Asphalt näher untersuchen möchten. Meskalin greift offenbar tief in diese überlebenswichtige Differenzierung ein. Die Unterscheidung von wichtig und unwichtig orientiert sich nicht mehr am üblichen Maßstab der Lebenswirklichkeit, vielmehr geht der Fokus der Aufmerksamkeit auf sonst kaum beachtete Details und verleiht ihnen eine absolute Bedeutung. Einerseits schwört Huxley auf bewusstseinserweiternde Wirkung von Meskalin, das schon in präkolumbianischer Zeit von Eingeborenen Mittel- und Nordamerikas geschätzt wurde und dessen Einnahme in traditionellen Zeremonien noch heute der Native American Church offiziell gestattet ist. Andererseits sieht er, obwohl er selbst nie die höllischen Erlebnisse gehabt hat, von denen andere berichten, Gefahren des Konsums. „Einem Liegestuhl gegenüber, der aussah wie das Jüngste Gericht, – oder, genauer gesagt, einem Jüngsten Gericht gegenüber, das ich nach langer Zeit und mit beträchtlicher Schwierigkeit als Liegestuhl erkannte, – ertappte ich mich plötzlich auf der Schwelle von Panik.“64 Meskalinversuche sind schon als Modellstudien zum besseren Verständnis von psychischen Krankheiten durchgeführt worden. Karl Jaspers gibt als Psychiater Schilderungen von Patienten wieder, die in vieler Hinsicht den Wirkungen von Meskalin entsprechen. Manchen Kranken erscheint alles fremd, unbekannt und tot, andere wiederum erleben alles in abnormer 173
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Weise als neu und von überwältigender Schönheit: „Alles bekam ein anderes Aussehen. Ich sah gleichsam in allem einen Zug göttlicher Herrlichkeit.“ „Es war, als wenn ich in eine neue Welt, in ein neues Dasein gekommen wäre. Alle Gegenstände waren von einem Glorienschein umgeben, mein geistiges Auge war so verklärt, dass ich in allem des Universums Schönheit sah. Die Wälder erklangen von himmlischer Musik.“65 Die stärksten halluzinogenen Wirkungen gehen von LSD aus, das halbsynthetisch aus Mutterkorn gewonnen wird. Mutterkorn ist ein Pilz, der z. B. Roggen befällt und als längliches dunkles Gebilde aus der Ähre ragt. Ich erinnere mich, wie ein Bauer mir als Kind eine solche Roggenähre zeigte und sagte, wie giftig das Ding sei, das wie ein schwarzer Wurm aussah. Durch gezielte Anbaumaßnahmen bei Roggen ist Mutterkorn inzwischen sehr selten geworden. Vielleicht schauen Sie sich selbst mal die Ähren eines Roggenfeldes aus der Nähe an. Im Mittelalter war das „Antoniusfeuer“ gefürchtet, eine oft massenhafte Vergiftung durch verseuchtes Roggenmehl, die bis zum Verlust von Gliedmaßen und zum Tod führen konnte. Im 16. Jahrhundert, als man diesen Zusammenhang noch nicht kannte, wurde der berühmte Isenheimer Altar gestiftet, damit die Gläubigen vor ihm beteten, um Heilung vom Ignis sacer zu erlangen. Später entdeckte man medizinische Anwendungen von Mutterkorn.
Abb. 69: Mutterkorn an Roggenähre – Verursacher des gefürchteten „Antoniusfeuers“ (Ergotismus) und Grundstoff für LSD. 1943 experimentierte Albert Hofmann beim Pharmaunternehmen Sandoz mit der Substanz und stellte LSD (Lysergsäurediethylamid) her. Er spürte merkwürdige Wahrnehmungsänderungen und führte sie auf den zufälligen Kontakt mit der Substanz zurück. Daraufhin machte Hofmann in Gegenwart seiner Laborantin einen ersten Selbstversuch, indem er 0,25 Milligramm LSD-25 in Wasser gelöst einnahm, die kleinste Menge, die bei anderen Derivaten von Mutterkorn eben merkliche medizinische Effekte hervorrief. Die Wirkung übertraf alle 174
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Erwartungen. Alles schwankte und war verzerrt wie in einem gekrümmten Spiegel, nur mit Mühe konnte er sprechen, mit dem Fahrrad heimfahren und bitten, Milch vom Nachbarn zu holen – als Entgiftungsmittel. „Alles im Raum drehte sich, und die vertrauten Gegenstände und Möbelstücke nahmen groteske, meist bedrohliche Formen an. Sie waren in dauernder Bewegung, wie belebt, wie von innerer Unruhe erfüllt. Die Nachbarsfrau, die mir Milch brachte – ich trank im Verlauf des Abends mehr als zwei Liter –, erkannte ich kaum mehr. Das war nicht mehr Frau R., sondern eine bösartige, heimtückische Hexe mit einer farbigen Fratze. Aber schlimmer als diese Verwandlungen der Außenwelt ins Groteske waren die Veränderungen, die ich in mir selbst, an meinem inneren Wesen spürte. Alle Anstrengungen meines Willens, den Zerfall der äußeren Welt und der Auflösung meines Ich aufzuhalten, schienen vergeblich. Ein Dämon war in mich eingedrungen und hatte von meinem Körper, von meinen Sinnen und von meiner Seele Besitz ergriffen … Eine furchtbare Angst, wahnsinnig geworden zu sein, packte mich.“66 Der Arzt kam, der Schrecken wich. „Jetzt begann ich allmählich, das unerhörte Farben- und Formenspiel zu genießen, das hinter meinen geschlossenen Augen andauerte. Kaleidoskopartig sich verändernd, drangen bunte, phantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schließend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluss. Besonders merkwürdig war, wie alle akustischen Wahrnehmungen, etwa das Geräusch einer Türklinke oder eines vorbeifahrenden Autos, sich in optische Empfindungen verwandelten.“67 Hofmann versprach sich einen medizinischen Einsatz in der Psychiatrie, etwa bei Angstund Zwangsneurosen. Außerdem erwies sich LSD geeignet, früheste Kindheitserlebnisse wieder aufzurufen, nicht als Erinnerungen, sondern als ein Wiedererleben. Doch dann entwickelte die Substanz eine Eigendynamik als Genussmittel, in einer Rolle, die Hofmann entsetzte. In den 1960er Jahren wurde es in der westlichen Welt zur bevorzugten Rauschdroge und ging ein in die Hippie-Bewegung, wobei Timothy Leary als Guru wirkte und mit seinem Aufruf zum „drop out“ viele Jugendliche dazu bewegte, zu Aussteigern zu werden. Zur Verbreitung trug bei, dass 1963 die LSD-Patente von Sandoz ausliefen und der Stoff auch andernorts hergestellt werden konnte. „Psychedelische Kunst“ entstand unter dem Einfluss von Rauschdrogen. Manche Künstler experimentierten mit LSD in der Erwartung kreativen Neulands. K. O. Götz, führender Vertreter der Stilrichtung des Informel, nahm an einer entsprechenden Untersuchung teil. Sein Fazit als Professor an der Kunstakademie Düsseldorf war, dass Menschen, die ohnehin kreativ sind, durch LSD Anregungen erhalten können, ansonsten aber keine Kreativität erzeugt wird.68 LSD verstärkt Gefühle und Grundstimmungen. Positive Gefühle werden zu höchster Beglückung und Offenbarung gesteigert, negative zu Grauen und tiefster Verzweiflung. Es macht völlig unkritisch gegenüber der Einschätzung der überwältigenden Erlebnisse, die als real 175
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erfahren werden. Hofmann räumt ein, dass durch unsachgemäßen Konsum von LSD nicht nur Horrortrips, sondern auch kriminelle Handlungen, Morde und Selbstmorde passieren können. Ein Arzt, dem heimlich LSD in den Kaffee gegeben wurde, konnte nur mit Gewalt daran gehindert werden, bei minus 20 Grad den Zürcher See durchschwimmen zu wollen. Ein anderer sprang durch ein Fenster in den Tod, weil er meinte, fliegen zu können. 1971 einigten sich die Vereinten Nationen auf ein Verbot psychotroper Substanzen wie LSD. Unter dem Pseudonym Crys Talix berichtet ein Betroffener über seine Drogenkarriere, die mit Cannabis beginnt, besonders von LSD geprägt ist und in eine Psychose mündet. 1984 geboren, kommt er in der Schule und mit Gleichaltrigen nicht zurecht. Erst als Teilnehmer von Drogenpartys ist er „angesagt“ und verliert sich immer mehr in der Szene. Außenstehende Personen erscheinen ihm nur noch als lästiges Übel. LSD und Pilze sind für ihn „magische Werkzeuge, um für kurze Zeit einen Einblick in das Universum und die Regeln der Sterne zu erhalten.“69 Zeitweise fühlt er sich als Jesus und Gott, der alle Zusammenhänge erkennt, dann wieder stürzt er ab in Verzweiflung und hat Suizidgedanken. Sein Heute (2014) ist geprägt davon, dass er seit 2004 in einem LSD-Trip „hängengeblieben“ ist. „Ich wurde einfach verrückt, aber das bei vollem Bewusstsein über die Tatsache, dass ich verrückt werde.“70 Noch nach 10 Jahren – angeblich ohne LSD-Konsum – wird er mehrere hundert Mal am Tag von Flashs heimgesucht, z. B. von der Art: „Wenn ich zu Besuch bei meiner Mutter bin und Kaminholz nachlege, macht es einen riesigen Knall und der gesamte Ofen samt mir explodiert. Ich muss dann kurz innehalten, bis das Bild verschwindet.“ „Sobald ich die Augen schließe, sehe ich ein ständig wechselndes Motiv, oft sind es Zahnräder, die ineinander laufen, oder Dinge, die sich fortbewegen und miteinander verschmelzen.“71 Die Ärzte attestieren ihm „narzisstisch gefärbte inhaltliche Denkstörungen“ und „eine undifferenzierte Schizophrenie“, während er selbst „tiefe Einblicke in das Universum“ zu erhalten meint. An einem solchen Einblick lässt er die Leser teilhaben: Ein brennender Planet, die Sonne, war zufällig in der Nähe eines anderen Planeten, der Wasser und Erde besaß, und aus diesem Zusammentreffen entstand Leben.72 In den 1950er Jahren wird Hofmann auf den mexikanischen Pilz Teonanacatl aufmerksam gemacht, der ähnliche Wirkungen wie LSD hervorruft. Er gewinnt daraus zwei weitere psychedelische Drogen: Psilocybin und Psilocin. Die Wirkung des Pilzes wird schon im 16. Jahrhundert von einem Franziskaner beschrieben, der den spanischen Konquistador Cortez begleitet: „Einige sahen in ihren Visionen, wie sie im Krieg starben …, einige, wie sie von wilden Tieren aufgefressen wurden …, einige, wie sie wohlhabend wurden und Sklaven kaufen konnten.“73 1953 nimmt erstmals ein Weißer an einer indianischen Pilzzeremonie teil. „Zuerst sah er geometrische, farbige Muster, die dann architekturartigen Charakter annahmen. Darauf folgten Visionen von wundervollen Säulenhallen, edelsteingeschmückten Palästen von überirdischer Harmonie und Pracht. Triumphwagen, gezogen von Fabelwesen, wie sie nur die Mythologie kennt, und von Landschaften in märchenhaftem Glanz.“74 Psilocybin kann die Grenze 176
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zwischen Selbst und Umwelt verschwimmen lassen. Inzwischen wird die Substanz nur noch in der Psychiatrie und in der Palliativmedizin eingesetzt. Im Vorwort zu „LSD – mein Sorgenkind“ schildert Hofmann, dass er in seiner Kindheit vereinzelt Erlebnisse gehabt hat wie das, als er an einem Maimorgen durch den Wald wanderte. „Er erstrahlte im Glanz einer eigenartig zu Herzen gehenden, sprechenden Schönheit, als ob er mich einbeziehen wollte in seine Herrlichkeit. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl der Zugehörigkeit und seligen Geborgenheit durchströmte mich.“75 Hofmann möchte, dass mit seinem LSD auch Erwachsene entsprechende Erfahrungen machen können. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie das lesen. Was mich betrifft, habe ich ähnliche Momente als Kind und als Erwachsener erlebt. Sei es am Ufer eines wie verwunschen wirkenden Waldsees. Bei der Beobachtung eines Schmetterlings, der aus seiner Puppenhülle kriecht. Am Mikroskop, wo sich die unendliche Tiefe der Welt des Kleinsten erschließt. Beim Blick in den Sternenhimmel. In einer Kunstausstellung. Im Konzertsaal. In einem guten Gespräch. In einer Umarmung. Dafür braucht es keine Drogen. Mir ist gelegentlich angeboten worden, Substanzen wie LSD zu probieren. Ich habe immer abgelehnt mit dem Hinweis, dass das wirkliche Leben voller Schätze ist, und dass ich mich nicht von Falschgeld täuschen lassen will. Drogen gaukeln Erlebnisse vor, die für die Betroffenen Realität bedeuten und für Erleuchtungen gehalten werden, während es sich tatsächlich um Effekte künstlich erzeugter Fehlschaltungen im Gehirn handelt. Außerdem war mir der Gedanke daran, abhängig werden zu können, zuwider. Ich hatte meine Gründe … Kurz gesagt: Halluzinationen sind Erscheinungen ohne Reizgrundlage, z. B. tauchen Menschen oder Stimmen auf. Wahnvorstellungen sind übersteigerte Interpretationen des Wahrgenommenen, wenn z. B. ein Liegestuhl die Bedeutung des Jüngsten Gerichts bekommt. Beides kann bei bestimmten psychischen Störungen oder durch Drogen wie Meskalin oder LSD hervorgerufen werden.
Literatur Hartmann 1974. Hofmann 1979. Huxley 1954. Jaspers 1959. Matthiesen & Rosenzweig 2007. Scherbaum 2017. Talix 2014.
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Diese verdammte Sucht! Ich bin sauer. Stinksauer. Und zwar auf mich selbst. Über zwanzig Zigaretten am Tag. Und jetzt will ich schon wieder eine. Warum komme ich davon nicht los? Bin ich nicht Herr meiner selbst? Das nagt an meinem Selbstwertgefühl. Brauche ich das Zeug wirklich für meine Lebensqualität? Quatsch. Ich kann meine eigenen Sprüche nicht mehr hören: Ich brauche das. Es regt mich an. Es beruhigt mich. Jeder muss mal sterben. Helmut Schmidt raucht auch. Ich lasse mir nicht reinreden. Ich will selbstbestimmt leben. Ja, bin ich denn selbstbestimmt, wenn ich nach Zigaretten giere? Ein Sklave bin ich! Kommandiert von einem Antrieb, den ich verabscheue, weil er stärker ist als mein Wille! Meine Frau und ich machen mit einem befreundeten Ehepaar gemeinsamen Urlaub. Er hat das gleiche Problem wie ich. Er raucht und will damit aufhören. Die Ehefrauen mosern schon lange. „Was da an Geld verpafft wird!“ „Da kann ich genauso gut einen vollen Aschenbecher küssen!“ Er und ich sind uns einig. Wir sind beide Ende Zwanzig und beschließen, noch möglichst lange zu leben. Der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs wurde schon vor 10 Jahren nachgewiesen, aber das sickert erst langsam ins öffentliche Bewusstsein, und Raucher scheinen besonders beratungsresistent zu sein. Das gilt wohl für jede Sucht. Und davon loszukommen ist immer schwer. Wir ergreifen die Gelegenheit beim Schopfe, gemeinsam aufzuhören. Nichts ist so wirksam wie sozialer Druck, besonders, wenn man ihn selbst heraufbeschwört. Die Frauen sind Zeugen: Ab morgen keine Zigarette mehr! Zur Feier des Tages noch eine letzte. Als wir sie ausdrücken, haben wir noch eine zusätzliche Idee zur Selbstüberlistung. Ab morgen lassen wir uns einen Bart wachsen. Wer sich künftig eine Zigarette anzündet, muss ihn wieder abrasieren. Topp – die Wette gilt. Ich habe meinen Bart heute noch. Und ich genieße seit damals die neu gewonnene Fülle an Gerüchen und Geschmäcken, die das Rauchen betäubt hatte.
23 Was machen Drogen mit uns? Anders gefragt: Wie beeinflussen Drogen das Geschehen in Gehirn und Körper? Drogen können tiefgreifend die Wahrnehmung verändern, aber auch Denken, Gefühle, Motivation und Handeln. Besonders einschneidend ist, dass sie die Selbstbestimmung ad absurdum führen. Das wird besonders deutlich im Suchtverhalten. Bei den bereits angesprochenen Drogen wie Meskalin und LSD kann man in psychische Abhängigkeit geraten, aber sie machen nicht körperlich süchtig insofern, als bei Entzug keine nennenswerten Störungen auftreten wie etwa das Delirium tremens bei Alkoholentzug. Viele psychotrope Drogen haben kurzfristig eine subjektiv positive Wirkung. Die psychische Abhängigkeit ergibt sich daraus, dass ihr Ausbleiben entsprechend negative Erlebnisse 178
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Was machen Drogen mit uns?
wie Depression und Verzweiflung mit erheblichen Auswirkungen auf das reale Leben bis zur Beschaffungskriminalität auslösen kann. Bei Entzugsmaßnahmen kommt es wesentlich darauf an, positive Erlebnismöglichkeiten zu vermitteln und ein neues Selbstwertgefühl aufzubauen. In der Diskussion um die Wirkung von Drogen, sei sie für den Abhängigen subjektiv positiv oder negativ, muss auch die oft erhebliche Belastung der Angehörigen berücksichtigt werden. Die öffentliche Wahrnehmung des Drogenthemas wird ihm nicht gerecht. Cannabis wird immer wieder breit diskutiert. Selbst relativ harmlos, birgt es die eigentliche Gefahr in seiner Rolle als Einstiegsdroge. Harte Drogen wie Kokain und Crystal Meth mitsamt dem kriminellen Hintergrund stellen das tatsächliche Problem dar. Die Erfolge der Zollfahnder entziehen dem Drogenmarkt nur einen kleinen Bruchteil. Dies geht allein schon aus der Analyse der Abwässer in Kläranlagen hervor, in denen sich Rückstände mancher Drogen nachweisen lassen. Alle psychotropen Drogen, also solche, die die Psyche beeinflussen, nehmen ihre Wirkung über die synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen (s. Abb. 18 und 70). Um sie besser zu verstehen, müssen wir zunächst den Grundmechanismus der Vorgänge an Synapsen näher betrachten. Jede der ca. 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns ist mit über 10 000 Synapsen mit anderen Nervenzellen verbunden. Über diese verläuft der größte Teil der Kommunikation innerhalb des Gehirns (daneben gibt es auch direkte elektrische Verbindungen zwischen Nervenzellen sowie Ausschüttungen von Transmittern in den Raum zwischen den Neuronen).
Abb. 70: Synapse. In der Synapse befinden sich Bläschen (Vesikel) mit der Transmittersubstanz. Trifft ein elektrischer Impuls an der Synapse ein, platzen die Bläschen auf und geben den Transmitter in den synaptischen Spalt frei. Sie treffen auf Rezeptoren der postsynaptischen (nachgeschalteten) Zelle. Je nach Transmittersubstanz und Rezeptor wird nachfolgend eine elektrische Erregung gebahnt oder gehemmt. 179
Die zweite Entstehung der Welt
In unserem hochkomplexen Wunderwerk Gehirn sorgen ca. 100 verschiedene Neurotransmitter dafür, dass vom Schlaf-Wach-Rhythmus über Hantieren und Sprechen bis zum Lösen komplizierter Denkprobleme ungezählte Aufgaben erfüllt werden können, davon viele gleichzeitig. Die wichtigsten Neurotransmitter sind Glutamat, Dopamin, Serotonin, Acetylcholin und Noradrenalin. Sie wirken meistens erregend. Die wichtigsten Hemmer sind GammaAminobuttersäure und Glycin. Die vom Körper produzierten Biomoleküle befinden sich in Bläschen innerhalb der Synapse und werden in den synaptischen Spalt freigesetzt, wenn von der vorgeschalteten Nervenzelle ein Impuls ankommt. Auf der postsynaptischen Membran der nachgeschalteten Nervenzelle befinden sich Rezeptoren, in die die Transmitter passen wie ein Schlüssel ins Schloss. Je nach Transmitter spricht man von domaminergen, glycinergen etc. Rezeptoren. Werden sie hinreichend aktiviert, gibt die nachgeschaltete Zelle einen Impuls weiter. Bei anderen Rezeptortypen wird die postsynaptische Zelle in ihrer Aktivität gehemmt. Nach der Ausschüttung wird der Transmitter wieder in die Synapse zurückgepumpt. Dieser Vorgang kann sich bis zu 500-mal in der Sekunde wiederholen. Angesichts der billionenfachen Erzeugung und Weiterleitung von Impulsen in jeder Sekunde ist nachvollziehbar, dass das Gehirn den höchsten Energieverbrauch von allen Teilen des Körpers hat. Ähnliche Vorgänge spielen sich mit jeder Bewegung, die wir ausführen, an der Muskulatur ab. Wir brauchen dazu im Schema Abb. 70 nur die postsynaptische Nervenzelle durch eine Muskelfaser zu ersetzen. Als Transmitter dient dabei Acetylcholin. Wird es von den Rezeptoren empfangen, führt dies zu einer Kontraktion der Muskelfaser, dem Grundvorgang bei jeder motorischen Aktion. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, diese Rezeptoren seien durch eine andere Substanz besetzt. Dann hat das ausgeschüttete Acetylcholin keine Empfangsstationen mehr, ein Bewegungsimpuls kann nicht mehr übertragen werden. Der Betreffende erschlafft und ist gelähmt. Genau dies passiert bei Curare, einem Pflanzengift, das die südamerikanischen Indianer aus Lianen gewinnen und auf Pfeilspitzen bringen, um damit ihre Beute zu lähmen. Tödlich wirkt dabei der Atemstillstand. Ein Mensch, der hiervon vergiftet wird, ist völlig hilflos bei vollem Bewusstsein, nimmt alles wahr und spürt Schmerzen, solange er am Leben bleibt. Denn das Curare blockiert nur das Acetylcholin, nicht andere Neurotransmitter. Ein unheimlicher Zustand. Die normale Transmittersubstanz, in diesem Fall das Acetylcholin, bezeichnet man als Agonist. Die Substanz, die seine Stelle inadäquat einnimmt, in diesem Fall Curare, bezeichnet man als Antagonist. Als Gegengift wurde vormals E 605 (Parathion) eingesetzt, das die Produktion von Acetylcholin ankurbelt und Curare verdrängt. Allerdings ist E 605 selbst ein Gift, weil es dazu führen kann, dass zu viel Acetylcholin ausgeschüttet wird, die Muskulatur sich zusammenzieht und der Betreffende unter qualvollen Krämpfen stirbt. Auch der russische Nervenkampfstoff Nowitschok, mit dem 2018 der Ex-Spion Skripal und 2020 der Oppositionelle Nawalny vergiftet wurden, hat diese Wirkung. 180
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Was machen Drogen mit uns?
Die Beispiele lassen erkennen, wie fein abgestimmt Ausschüttung und Rückführung der zahlreichen Neurotransmitter in unserem Körper sein müssen, damit präzise Aktionen wie Denken, Sprechen oder Tennisspielen möglich werden. Mit dem Konsum von Drogen greifen wir in diesen Haushalt ein, manchmal nur mit vorübergehenden Effekten, wenn der Körper sich regenerieren kann, manchmal aber mit katastrophalen Langzeitwirkungen, bei denen die Selbstheilungskräfte überfordert sind. LSD dockt als Antagonist an bestimmten SerotoninRezeptoren an und blockiert damit die geordnete Steuerung in der neuronalen Informationsübertragung, und zwar umso stärker, je höher die Dosis ist. LSD führt nicht, wie die Hypothese von der Bewusstseinserweiterung nahelegen könnte, zu vermehrter, sondern zu reduzierter Hirnaktivität. Vor den meisten schädlichen Substanzen, die in unserem Blutkreislauf enthalten sein können, schützt die sog. Blut-Hirn-Schranke. Manche können sie aber überwinden. Gehen wir einige dieser Substanzen durch. Sie rufen nach Genuss ein Gefühl von Verlangen hervor, das sich auch im Verhalten von Ratten und Affen zeigt, wenn ihnen die Gelegenheit dazu geboten wird. Bei der Möglichkeit zur Selbstverabreichung tritt bei ihnen alles andere zurück, von der Nahrungsaufnahme bis zum Sex, bis zur völligen Erschöpfung.76 Dass für die Menschen manche Substanzen wie Tabak und Alkohol auf einfachem Wege und legal zu erwerben sind und andere nur illegal, entspricht nicht in jedem Fall dem Grad ihrer Gefährlichkeit.
Nikotin Über eine Milliarde Menschen sind weltweit von Nikotin abhängig. Sie empfinden es in Stress als entspannend und bei Trägheit belebend. 70 % derer, die mit dem Rauchen anfangen, werden davon abhängig. Wer mit dem Rauchen aufhören will, erlebt Entzugserscheinungen, die sich als nervöse Unruhe, Angst, Depression und Reizbarkeit bemerkbar machen, weshalb es nur 20 % für mehr als zwei Jahre gelingt. Nikotin gelangt über den Rauch in die Lunge, von dort ins Blut und ins Gehirn. Dort wirkt es als Antagonist auf Rezeptoren der Nerven- und Muskelzellen, die eigentlich Acetylcholin binden. In der Folge werden im Gehirn vermehrt Dopamin, Serotonin und Acetylcholin ausgeschüttet. Dopamin ist wichtiger Bestandteil des körpereigenen Belohnungssystems, das bei Erfolgserlebnissen freigesetzt wird. Schon beim Jogging macht es sich positiv bemerkbar und bestärkt uns darin, Sport zu treiben. Nicht nur Nikotin, auch andere Drogen führen zu einer Erhöhung des Dopaminspiegels im Nucleus accumbens, einer Verbindungsstelle zwischen präfrontalem Kortex und Hippocampus (s. Abb. 11). Entwöhnung fällt schwer, weil die selbst verabreichte „Belohnung“ dann entfällt. Dass Rauchen außerdem zahlreiche Krankheiten begünstigt und eine der häufigsten Todesursachen ist, vor allem durch Lungenkrebs, wird oft verdrängt oder geleugnet. Salman Rushdie half eine Bemerkung seines 181
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Arztes: „Denken Sie an Lungenkrebs wie an einen Film … Was mit Ihnen geschieht, ist, als ob sie den Trailer betrachten. Wenn Sie also Ihre fünfzehnminütigen krampfartigen Hustenanfälle haben und grünlichen Schleim herauswürgen, sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie den ganzen Film sehen wollen.“77
Alkohol Jeder Zehnte, der zu trinken anfängt, wird abhängig. Weltweit sind es 76 Millionen Menschen. Wer trinkt, fühlt sich besser und genießt den rauschartigen Zustand, der Probleme in den Hintergrund treten lässt. Hinzu kommt, dass Alkohol bei vielen gesellschaftlichen Anlässen genossen wird, weil eine gemäßigte Dosis die Kommunikation erleichtert und Hemmungen beseitigt. In höherer Dosis treten Wahrnehmungs- und Gleichgewichtsstörungen auf, Kontrollverlust bis zur Bewusstlosigkeit. Auch manche Tiere verzehren gern vergorene Früchte, zeigen anschließend Gangunsicherheit und fallen um. Zu den typischen Fehleinschätzungen gehört, dass man sich fit fühlt, während in Wirklichkeit die Sensomotorik gestört ist, dass Alkohol wärmt, während tatsächlich die Wärmeabgabe des Körpers erhöht ist, sodass es zur Unterkühlung kommt. Alkoholmoleküle sind klein, können in alle Teile des Körpers eindringen und greifen seine Funktionen an. Chronischer Alkoholismus kann zu schweren Schäden an Leber und Herz, zu Hirnschäden mit Gedächtnisverlust und Demenz führen. Entzugserscheinungen nach übermäßigem Alkoholkonsum sind Angst, Tremor, Hyperaktivität, Desorientierung, Halluzinationen und Krämpfe. Weltweit ist Alkohol an mehr als zwei Millionen Todesfällen im Jahr beteiligt.
Amphetamine Die seit 1887 synthetisch hergestellten Amphetamine wurden ursprünglich als Medikamente verwendet, z. B. bei Schlafsucht. Sie wirken euphorisierend und antriebssteigernd. Sie werden daher auch als Weckamine bezeichnet. Dazu gehört Ritalin, das scheinbar paradox bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) regulierend wirkt und die Konzentrationsfähigkeit steigert. Allerdings birgt es bei Jugendlichen ein Abhängigkeitsrisiko. Seit 90 Jahren wird Amphetamin von Studenten zur Leistungssteigerung eingenommen. Es folgte der Einsatz als Dopingmittel im Ausdauersport. Piloten und Kraftfahrer nahmen es gegen Müdigkeit, andere als Appetitzügler. Viele Amphetamine wurden wegen Abhängigkeitsrisiken vom Markt genommen. In den 1980ern setzte stattdessen eine illegale Produktion ein. In der Drogenszene werden sie seither als Speed, Crystal Meth oder Ice oft zusammen 182
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mit dem chemisch verwandten Ecstasy konsumiert. Die Wirkung von Amphetaminen besteht darin, dass sie die Ausschüttung von Dopamin und Noradrenalin an Synapsen steigern. Sie beeinflussen den präfrontalen Kortex, die Basalganglien, das limbische System und die Formatio reticularis und damit Hirnstrukturen, die kognitive Prozesse, Emotionen, Triebverhalten und Motorik regulieren. Besonders die Beförderung von Dopamin, das dem Belohnungssystem angehört, trägt zur Bildung von Abhängigkeit bei. Bei häufiger Einnahme entwickelt sich hohe „Toleranz“, d. h. Abnahme der gewünschten Wirkung, was ständige Dosissteigerungen zur Folge hat. Hohe Dosierung kann zu Halluzinationen führen und eine bleibende Psychose in Gang setzen. Überdosierung kann zu Schlaganfällen, Hirnblutung und Koma führen.
Cannabis Hanf (Cannabis) war jahrhundertelang Faserlieferant für Schiffstaue. George Washington baute ihn für diesen Zweck an. Dass Cannabis schon in der Antike als Rauschpflanze verwendet wurde, war in Vergessenheit geraten, als im 19. Jahrhundert in Europa die berauschende Wirkung von „Haschisch“ bzw. in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts von „Marihuana“ wiederentdeckt wurde. Die Blüten der weiblichen Pflanze enthalten die psychotrope Substanz THC (Tetrahydrocannabiol). Je nach Anwendungsform wird die Substanz auch Dope, Gras oder Joint genannt. Bei niedriger Dosierung verleiht sie erhöhtes Wohlbefinden, Ausgelassenheit und Antriebsminderung. Es kann auch zu einem „bad trip“ kommen, je nach Stimmung des Konsumenten. Bei hoher Dosierung leiden das Kurzzeitgedächtnis, die Sprache und die Fähigkeit, komplexe Aufgaben auszuführen. Halluzinationen und Ich-Störungen können auftreten. THC aktiviert Rezeptoren des Cannabinoidsystems. Aber warum enthält das Gehirn Rezeptoren, die für Cannabis spezialisiert zu sein scheinen? Weil der Körper selbst Agonisten wie das Anandamid produziert, das dort andockt und zum Belohnungssystem des Gehirns gehört. Anand bedeutet in Sanskrit Glück und Freude. Cannabis wirkt als Antagonist. Befürworter einer Legalisierung der Droge behaupten, dass das Abhängigkeitspotential niedrig ist. Allerdings gibt es in Deutschland 600 000 Personen mit riskantem Konsum, und nicht selten wird Cannabis zur Einstiegsdroge für gefährlichere Substanzen. Nach intensivem Genuss von Marihuana sind Entzugserscheinungen wie Schüttelfrost und Zittern zu erwarten. Als mögliche Folgen besonders bei Jugendlichen werden eine Verkleinerung des Hippocampus und Gedächtnisschwächen genannt, und es kann Schizophrenie ausgelöst werden. Für die Medizin ist Cannabis in jüngster Zeit als hochwirksames Schmerzmittel wiederentdeckt worden.
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Opium, Heroin und Fentanyl Opium wurde bereits vor 6000 Jahren im Mittleren Osten gegessen. Es ist der getrocknete Saft von Schlafmohn. Er enthält Morphin, Kodein und andere Opiate. Nachdem der Kaiser von China 1644 das Tabakrauchen verboten hatte, setzte sich das Opiumrauchen durch. Schmuggel nach China und die Opiumkriege hatten zur Folge, dass 1949 über 10 Millionen Chinesen opiumabhängig waren. Opium bewirkt eine euphorische Stimmung und einen traumähnlichen Zustand. Der Antrieb zu reden und sich zu bewegen erlahmt bis zur Apathie. Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus Opium Heroin synthetisiert, das leichter die Blut-Hirnschranke überwindet. Es wurde als Hustenmittel angepriesen. Durch die 1856 erfundene Injektionsnadel intravenös appliziert, entfaltet es rasche, intensive Wirkung und macht schnell abhängig. Im Vietnamkrieg waren über 10 % der amerikanischen Soldaten, von Hongkong beliefert, heroinabhängig. In diesem Zeitraum gelangte Heroin auch verstärkt nach Deutschland. Gegenwärtiger Hauptlieferant ist Afghanistan, wo Mohnfelder mehr Anbaufläche einnehmen als Getreide. Opiate sind Antagonisten für Endorphine und Enkephaline, die vom körpereigenen Belohnungssystem produziert werden. Bei wiederholtem Konsum entwickelt sich eine Toleranz und damit die Sucht nach immer höheren Dosen. Eine Überdosis führt nicht selten durch Atemstillstand zum Tode. Bei Entzug kommt es zu Schüttelfrost, Krämpfen und Schmerzen. Bei Entzugsprogrammen wird z. B. auf Methadon gesetzt, das auch affin zu Opioidrezeptoren ist, aber ein geringeres Verlangen nach sich zieht und dadurch die Entwöhnung erleichtert. Ein Hauptproblem der Heroinabhängigkeit besteht in der Beschaffungskriminalität, weshalb in ärztlichen Einrichtungen der Schweiz Heroinabhängige kostengünstig Injektionen und Betreuung erhalten. Dort hat seither die Zahl der Heroinabhängigen abgenommen. Für die Medizin stellen Opioide nach wie vor ein wichtiges Schmerzmittel dar. Einen Sonderfall stellt Tilidin dar, ein Schmerzmittel, das sich in der Rapperszene zu einer Droge mit starkem Suchtpotential entwickelt hat. Der Wirkstoff wird in der Leber zu einem Opioid umgewandelt. Das seit 1934 synthetisierte Desomorphin sollte ursprünglich im Entzug eingesetzt werden. Doch stattdessen bewies es ein noch höheres Suchtpotential und wurde aus dem Verkehr genommen. Die Droge verhindert die körpereigene Produktion von Endorphinen und blockiert damit das Selbstbelohnungssystem. Auf dem Schwarzmarkt ist es als billige, leicht herzustellende Droge präsent, enthält aber oft toxische Verunreinigungen. Sie führen zu Grünfärbung, Schuppung und Nekrose im Bereich der Injektionsstelle (daher die Bezeichnung „Krokodil“) und oft nach einem Jahr zum Tode. 80 mal stärker als Morphin wirkt das synthetische Opioid Fentanyl. Es ist seit 2006 für einen zunehmenden Teil der Drogentoten verantwortlich.
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Eine jahrelange „Drogenkarriere“ bis zum bitteren Ende kann entgegen verbreiteter Ansicht auch gutbürgerliche Familien treffen. Darüber berichten erschütternd authentisch zwei Eltern, die sich seit dem Tod ihres Sohnes durch Fentanyl der Prävention und Therapie von Drogensucht widmen. In den intensiven Gesprächen zwischen Eltern und Sohn wurden unüberwindliche Unterschiede in Wahrnehmung und Beurteilung der Situation deutlich, zugespitzt in der Bemerkung des Sohnes: „Das einzige Problem an meinem Drogenkonsum ist, dass ihr damit eins habt.“78
Kokain 1885 wurde Coca-Cola erfunden. In den ersten Jahren enthielt es als Stimulans 250 mg Kokain pro Liter, das Zwölffache einer geschnupften Dosis Kokain! Nachdem die Suchtgefahr von Kokain und Todesfälle bekannt geworden waren, entfernte die Firma das Kokain und erhöhte den Koffein-Anteil. Im Namen blieb das „Coca“ erhalten. Kokain wird aus Blättern des südamerikanischen Kokastrauchs gewonnen. Die Rückstände bei der Herstellung von „Koks“ oder „Schnee“ ergeben das billigere „Crack“. Die Substanzen erzeugen in mäßiger Dosis Wohlbefinden, Selbstsicherheit und Wachheit, das Verhalten ist extravertiert und zappelig. Die Droge verführt zu immer höherer Dosierung, denn Kokain entwickelt Toleranz in Hinblick auf die Euphorie, allerdings nicht auf die Motorik, d. h., die Unruhe wird stärker. Bei hoher Dosis besteht die Gefahr von Bewusstlosigkeit, Krämpfen und Atemstillstand. Sigmund Freud propagierte 1884 die Droge als Mittel gegen Depression und Morphiumsucht, nahm sie auch selbst. Erst als ein Freund von ihm in Abhängigkeit verfiel, halluzinierte und starb, korrigierte er seine Meinung. Die Wirkung von Kokain geht darauf zurück, dass es den Rücktransport von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin in die Synapse verhindert. Dadurch kumuliert die Wirkung der Transmitter in der postsynaptischen Zelle. Vor allem die Erhöhung der Dopaminkonzentration im Belohnungssystem führt zu Euphorie, aber auch zum höchsten Abhängigkeitspotential unter allen Drogen. Die vermehrte Ausschüttung von Noradrenalin führt zu gesteigerter Wachheit und Unruhe. Klingt die Wirkung ab, drängen sich bei unveränderter Unruhe negative Gefühle und körperliche Halluzinationen auf, z. B. klagte Freuds Freund, weiße Schlangen kröchen über seinen Körper. Die verbliebene Komponente in Coca-Cola, Koffein, ist eine vergleichsweise milde Droge, die wir gern beim Kaffeetrinken als Muntermacher aufnehmen. Doch auch mit dieser Droge greifen wir in biologisch abgestimmte Regelkreise ein. Koffein ist ein Antagonist zu Adenosin. Adenosin entsteht im Körper beim Abbau von ATP, dem wichtigsten Energielieferanten unserer Körperzellen (Adenosintriphosphat). Wenn es an Adenosinrezeptoren andockt, empfindet 185
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man Müdigkeit und Erholungsbedürfnis. Koffein blockiert diese Rezeptoren. Gleichzeitig wird die Wirkung von Dopamin und Glutamin gesteigert. Die Wirkung ist aufputschend, obwohl tatsächlich Energiemangel bestehen kann. Kaffee bringt keine Energie, vielmehr wird das körpereigene Signal für Erholungsbedarf betäubt. Das merken wir auf einer langen Autofahrt spätestens dann, wenn die Energiereserven aufgebraucht sind und wir nach der xten Tasse Kaffee in den gefährlichen Sekundenschlaf fallen. Kurz gesagt: Drogen greifen tief in die Kommunikation der Nervenzellen im Gehirn ein. Die Substanzen ersetzen oder blockieren die natürlichen Neurotransmitter, mit denen an den Synapsen Erregungen weitergeleitet bzw. gehemmt werden. Insbesondere greifen sie in das natürliche Belohnungssystem des Gehirns ein, das normalerweise bei körperlicher Leistung, bei Freude und Erfolg wirksam ist. Abhängigkeiten ergeben sich daraus, dass die künstliche Belohnung rasch und intensiv erfolgt, oder daraus, dass bei Entzug Körperfunktionen gestört sind und quälende Erlebnisse dominieren.
Literatur Balick & Cox 1997. Huxley 1954. Kandel, Schwartz & Jessel 2011. Pine, Barnes & Pauli 2019. Scherbaum 2017.
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Was machen psychische Störungen mit uns?
Für 20 Sekunden ein anderer Mensch Als ich Vorlesungen zur Psychopathologie besuchte, stellte ich bei jedem besprochenen Fall entsetzt fest, wie viele diagnostische Merkmale auf mich selbst zutrafen. Den betretenen Gesichtern der Kommilitonen entnahm ich, dass es ihnen nicht besser ging, und nach einigen Gesprächen einigten wir uns darauf, dass wir alle verrückt waren. Das war tröstlich. Solange man fit ist, merkt man nicht, welch komplexes Geschehen dem zugrunde liegt. Man wird darauf erst aufmerksam, wenn etwas nicht richtig funktioniert. So ging es mir vor einigen Jahren. Meine Frau und ich spielten mit einem befreundeten Ehepaar Karten. Es war ein netter Abend wie sonst auch. Urplötzlich und ohne erkennbaren Anlass trat eine Veränderung ein. Es geschah ohne und gegen meinen Willen. Ich wurde starr in Nacken und Gesicht, zog eine Grimasse und hatte einen starken Tremor in der linken Hand. Überall verspürte ich ein Kribbeln und Verkrampfen. Das Gesicht meines Freundes, auf das ich gerade schaute, stierte ich jetzt unverwandt an, es wurde unklar und schien sich spiralig zu verziehen. Ich konnte nicht sprechen und mich nicht bewegen. Die Situation dauerte lange genug, dass mir der Gedanke kam: Jetzt werde ich wirklich verrückt. Nach etwa 15 Sekunden – meinem Zeitgefühl nach – war der Spuk vorbei und ich wurde wieder locker. Die Anwesenden schauten mich erschrocken an. Meine Frau hatte mich genau beobachtet. Sie bemerkte meine Grimasse, die wie ein unangebrachtes Grinsen wirkte, meinen links geneigten Kopf, meinen stieren Blick und den grobschlägigen Tremor. Nach 20 Sekunden, wie sie schätzte, wurde ich wieder gelöst und machte Witzchen. Irgendwie fand ich es beruhigend, dass sie die Situation aus ihrer Perspektive ganz ähnlich gesehen hatte wie ich selbst und war froh, wieder zurück in meinem Leben zu sein. Sie war betroffener als ich und meinte, ich müsse zum Arzt. Es wurde ein „erstmaliger fokal-epileptischer Anfall“ diagnostiziert. In der Magnetresonanztomographie zeigte sich ein „Herdbefund am Hippocampus rechts lateral, 8 mm groß“. Das EEG war unauffällig, auch die unangenehme Messung der Nervenleitgeschwindigkeit. Der Neurologe winkte gelassen ab. „War wohl eine einmalige Geschichte.“ Dann aber bescheinigte er mir – sicherheitshalber, wie er sagte – ein dreimonatiges Fahrverbot. Das war das Schlimmste nach meinem Kurztrip in einen anderen Zustand. Als wäre ich mit 0,5 Promille am Steuer erwischt worden.
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Abb. 71: MRT nach fokalem Anfall. Erkennbar ist der Herdbefund am Hippocampus.
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Anders gefragt: Wie verändern psychische Erkrankungen die Art, wie Ich und Umwelt erlebt werden? Es gibt keine normalen Menschen, sondern nur verschiedene Menschen. Das möchten wir gerne glauben. Außerdem, dass alle Menschen gleich sind. Ein Widerspruch? Klar ist, dass es Unterschiede gibt, bei denen manche privilegiert sind und andere nicht. Es ist z. B. ein Privileg, sehen, hören, denken, kommunizieren und sich bewegen zu können. Ich habe viele Jahre mit Behinderten zu tun gehabt und nie erlebt, dass ein Erblindeter nicht gern wieder hätte sehen wollen, ein Ertaubter nicht gern wieder hätte hören können, ein Querschnittgelähmter nicht gern seinen Rollstuhl verlassen hätte und ein Hirnverletzter nicht gern wieder der Mensch wäre, der er vorher war. Eine andere Situation besteht für diejenigen, die blind oder gehörlos geboren sind, eine eigene Welt entwickeln und erst spät gesagt bekommen, dass ihnen etwas fehlt. Es ist eine bewundernswerte Energie, mit der Betroffene aus ihrer Situation das Bestmögliche machen, und sie haben verdient, dass die Privilegierten ihnen alle Chancen dazu geben. Zwischen 1957 und 1962 gab es weltweit bei 10 000 Neugeborenen schwere Fehlbildungen besonders an den Extremitäten, für die man anfänglich Atomwaffentests verantwortlich machte. Schließlich wurde als Verursacher für die Embryopathien Thalidomid festgestellt, der Wirkstoff des Schlafmittels Contergan, das fatalerweise auch gegen Schwangerschaftsbeschwerden eingesetzt wurde. Es half zwar Schwangeren gegen Übelkeit, blockierte aber einen Wachstumsfaktor beim Embryo. Es war die schwerste Arzneimittelkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Eine 188
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psychologische Untersuchung Anfang der 1970er Jahre ging der Frage nach, ob die betroffenen Kinder ein valides Weltbild entwickeln konnten, denn ihnen schien die Voraussetzung zu haptischen Erfahrungen mit der Umwelt im üblichen Sinne weitgehend zu fehlen (vgl. Kap. 15). Gegen alle Erwartung zeigte sich diesbezüglich kein Erfahrungsrückstand gegenüber anderen Kindern. Allerdings ergab eine Studie von 2017, dass Menschen mit Conterganschäden, inzwischen um die 50 Jahre alt und überdurchschnittlich oft akademisch gebildet, etwa doppelt so häufig unter psychischen Störungen wie die Allgemeinbevölkerung litten. Dabei handelte es sich vor allem um unipolare depressive Störungen, somatoforme und phobische Störungen.79 Der Begriff der Störung setzt voraus, dass wir eine Vorstellung von Normalität haben, auf die wir die Abweichung beziehen. Leben ist ständigen Störungen ausgesetzt und darauf eingerichtet, immer neu einen Zustand der Homöostase, des Gleichgewichts der Lebensvorgänge, zu erreichen. Psychische Störungen im klinischen Sinne sind so zu verstehen, dass den Betroffenen nicht mehr aus eigener Kraft gelingt, das Gleichgewicht zu erreichen. Sie alle brauchen ärztliche bzw. psychotherapeutische Hilfe. Einige solcher Störungen seien im Folgenden grob skizziert, die das Welt- und Icherleben und das Verhalten beeinträchtigen. Die Skizzen orientieren sich an dem international anerkannten Standardmanual DSM-5.80 Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung zeigen sich oft schon vor Schuleintritt. Sie können intellektuelle Beeinträchtigungen betreffen, soziale Kompetenz und Kommunikation, etwa im Autismus-Spektrum, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder motorische Störungen wie Tics oder das Tourette-Syndrom (unwillkürliche Bewegungen und Grimassen sowie die Äußerung obszöner und aggressiver Ausdrücke). Lernstörungen zeigen sich im Schulalter gelegentlich auch bei Hochbegabten, wenn sie unter Stress stehen. Bei der unipolaren Depression oder Major Depression (vormals endogene Depression genannt, wenn kein äußerer Anlass erkannt wurde) zeigen die Betroffenen über einen längeren Zeitraum eine gedrückte oder reizbare Stimmung, ein Gefühl der Leere, der Wertlosigkeit oder Schuldgefühle, Desinteresse und Antriebsschwäche. Frauen sind davon doppelt so häufig betroffen wie Männer. Verwandte 1. Grades haben ein 2–4-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko. Depression gehört zu den häufigsten Erkrankungen. Die Bipolar-Störungen entsprechen z. T. dem modernen Verständnis der ehemals manischdepressiven Erkrankung. Sie sind gekennzeichnet durch einen Wechsel zwischen extremen Episoden, einerseits durch Phasen abnorm gehobener Stimmung und Aktivität, übersteigertem Selbstwertgefühl und Rededrang, andererseits durch Phasen depressiver Verstimmung, Hoffnungslosigkeit, vermindertem Interesse, Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld bis hin zu Suizidgedanken. Störungen aus dem Schizophrenie-Spektrum sind gekennzeichnet durch Wahn, Halluzinationen, desorganisiertes Denken und Sprechen, desorganisiertes Verhalten oder motorische Störungen. Wahn äußert sich durch falsche Beurteilung der Realität mit starker Ichbezogenheit, 189
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häufig als Angst vor Manipulation etwa durch unterirdische Mächte, auch als Größenwahn, z. B. Jesus zu sein. Die Halluzinationen bestehen oft aus bedrohlichen Stimmen. Die Bezeichnung „Schizophrenie“ ist irreführend. Die Krankheit hat nichts mit Persönlichkeitsspaltung zu tun. Angststörungen sind unangemessen exzessive Reaktionen auf vermeintliche Gefahren, die bis zu Panikattacken gehen können. Normalerweise ist Furcht als emotionale Reaktion auf eine unmittelbare Bedrohung mit einer auf Kampf oder Flucht gerichteten Erregung verbunden. Angst ist dagegen eine emotionale Reaktion auf eine antizipierte Bedrohung und führt zu Vorsichts- und Vermeidungsverhalten. Die Störungen können in übertriebener Furcht oder Angst vor seelischen oder körperlichen Verletzungen bestehen, vor Menschenmengen, vor Höhe, vor engen Räumen oder weiten Plätzen, vor Tieren, vor Blut und vielem mehr. Zwangsstörungen sind ungewollt wiederkehrende Gedanken oder Handlungen, bei denen sich Betroffene genötigt sehen, etwas nach strengen Regeln auszuführen. Darunter fallen pathologisches Horten wertloser Dinge und Waschzwang ebenso wie unermüdliches Ordnen und Zählen. Oft sind sie verbunden mit überzogenem Verantwortungsgefühl und Perfektionismus sowie einer Überbewertung verbotener Gedanken. Etwa ein Drittel der Betroffenen leidet unter Tics, d. h. unter unwillkürlichen und heftigen Bewegungen und Lautäußerungen. Trauma- und stressbezogene Störungen sind teils sehr unterschiedliche Reaktionen auf stark belastende Erlebnisse. So kann soziale Vernachlässigung im Kindesalter zur reaktiven Bindungsstörung führen, zu gehemmtem und zurückgezogenem Verhalten mit Entwicklungsstörung. Sie kann auch zu einer Beziehungsstörung führen, die durch Enthemmung gekennzeichnet ist, bei der ohne Risikobewusstsein Kontakt mit Erwachsenen gesucht wird. Posttraumatische Belastungsstörungen etwa nach sexueller Gewalt können sich in dauerhaft negativem emotionalem Zustand mit Vermeidungsverhalten äußern. Dissoziative Störungen betreffen eine Beeinträchtigung im Zusammenwirken von Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmung und Verhalten. Sie können Folge von traumatischen Ereignissen sein. Gestört sind die Kontinuität des Erlebens und die Fähigkeit, sich zu erinnern. Die Depersonalisationsstörung bedeutet eine Entfremdung vom eigenen Selbst- oder Körpererleben. Bei der Dissoziativen Identitätsstörung kommt es zur Spaltung in zwei oder mehr Persönlichkeitszustände mit je unterschiedlichem Erleben und Verhalten oder zum Erleben von Besessenheit. Die Somatische Belastungsstörung ist eine neue Kategorie im DSM-5, bei der es um Personen geht, die sich unangemessen intensiv und dauerhaft mit ihren körperlichen (somatoformen) Leiden beschäftigen, körperliche Aktivitäten vermeiden und übertriebene Ängste empfinden. Dabei können erhöhte Schmerzempfindlichkeit, traumatische Erfahrungen und soziale Stigmatisierung eine Rolle spielen. Ständiges „Checking“ des Körpers nach Anomalien und häufige Arztbesuche sind typisch. 75 % derer, für die vormals Hypochondrie diagnostiziert wurden, werden dadurch erfasst. 190
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Sexuelle Funktionsstörungen haben gemeinsam, dass die Fähigkeit, sexuell zu reagieren und genussvoll zu erleben, erheblich gemindert ist. Davon getrennt werden im DSM-5 die Paraphilen Störungen (s. u.). Zu den Funktionsstörungen gehören Verzögerte und Vorzeitige Ejakulation, Erektionstörungen, Weibliche Orgasmusstörung, Störung des sexuellen Interesses. Sind sie altersbedingt, werden die Störungen nicht als psychisch kategorisiert. Gleiches gilt, wenn eine klinische Krankheit vorliegt, etwa eine Erkrankung des peripheren Nervensystems. Impulskontrollstörungen sind Zustände, bei denen Emotionen und Verhaltensweisen nicht sozial angemessen kontrolliert werden. Daher fallen sie z. T. unter Sozialverhaltensstörungen. Sie treten bei Männern häufiger als bei Frauen auf. Oft werden durch Aggression gegen Personen und Sachen die Rechte Dritter verletzt. Das Verhalten kann die Folge mangelhaft kontrollierter Emotionen wie Ärger, Reizbarkeit oder Furcht sein. Oppositionelles Trotzverhalten gilt als psychische Störung nur, wenn es in Intensität und Häufigkeit den Normbereich erheblich überschreitet. Neurokognitive Störungen NCD umfassen Einbußen der kognitiven Funktionen, die vormals als Delir, Demenz, Amnestische Störungen u. a. klassifiziert wurden. Es sind solche, die erworben sind, eine Einbuße gegenüber einem anfänglichen Niveau darstellen und daher nicht unter die Entwicklungsstörungen fallen. Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Sprachfähigkeit und -Verständnis, motorische Kontrolle, Werkzeuggebrauch und soziale Sensibilität sind reduziert. Ursachen sind z. B. Gefäßschäden im Gehirn, eine Alzheimer-Erkrankung oder ein Schädel-Hirn-Trauma. Paraphile Störungen betreffen die Sexualität. Das DSM-5 unterscheidet u. a. die Voyeuristische, die Exhibitionistische, die Frotteuristische, die Sexuell Masochistische, die Sexuell Sadistische, die Pädophile und die Fetischistische Störung. Homosexualität wurde 1968 aus dem DSM-II herausgenommen, weil es seinerzeit nicht mehr als Krankheit, sondern als sozial abweichendes Verhalten eingestuft wurde. Zur Einordnung als Psychische Störung muss stets das Kriterium erfüllt sein, dass die Person selbst oder andere darunter leiden. Das gilt auch für den Transsexualismus, bei dem die Betroffenen darunter leiden, im falschen Körper geboren zu sein. Eine Persönlichkeitsstörung wird als überdauerndes Muster von Erleben und Verhalten definiert, das merklich von soziokulturellen Erwartungen abweicht und zu Leiden und Beeinträchtigungen führt. Die Paranoide P. ist von Argwohn geprägt und von der Unterstellung bösartiger Motive. Die Schizoide P. beinhaltet emotionale und soziale Einschränkungen. Bei der Schizotypen P. bestehen Verzerrungen des Denkens und Wahrnehmens. Die Antisoziale P. führt zur Missachtung und Verletzung von Rechten Dritter. Bei der Borderline-P. besteht Instabilität in Selbstbild, Affekten und Beziehungen. Die Narzisstische P. zeigt ein übersteigertes Selbstbild und mangelnde Empathie. Die Zwanghafte P. ist mit ständigem Drang nach Ordnung und Kontrolle verbunden. Die Dependente P. ist durch unterwürfiges und anklammerndes Verhalten ausgezeichnet. 191
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Epilepsie gilt nicht als psychische Störung, ist aber oft mit Depressionen und Phobien verbunden. Es handelt sich um eine Hirnkrankheit mit wiederholten Anfällen, bei denen größere Nervenzellverbände eine abnorme synchrone Aktivität zeigen. Es wird zwischen fokalen Herdanfällen und generalisierten Anfällen unterschieden. Die Erscheinungsformen reichen von kurzen Absencen (Petit-mal) bis zu großen Anfällen mit Bewusstseinsverlust, Sturz und Krämpfen. Erlebnismäßig geht ihnen oft eine Aura in Form eines besonderen Gefühls oder einer visuellen Halluzination voraus. Diese holzschnittartige Aufzählung kann nur erahnen lassen, welche Vielzahl von Erlebniswelten es in verschiedenen Grenzbereichen des Psychischen gibt und wie sie sich äußern, wobei diese Auswahl sich auf solche beschränkt, die in der ein oder anderen Hinsicht mit Leid verbunden sind. Jeder Einzelfall enthält sein eigenes Universum, das für Außenstehende oft nur schwer nachzuvollziehen ist. Hier ist nicht der Raum, auf sie in der nötigen Ausführlichkeit einzugehen. Verwiesen sei daher auf die Bücher der Neurologen O. Sacks, A. R. Lurija und A. Finzen sowie auf die Falldarstellungen im DSM-III-R und DSM-IV. Salopp gesagt lassen sie erkennen, was bei der zweiten Entstehung der Welt alles schiefgehen kann. Und wie privilegiert diejenigen sind, bei denen es gut gegangen ist. Kurz gesagt: Von einer psychischen Störung spricht man, wenn Betroffene nicht mehr aus eigener Kraft in der Lage sind, das innere Gleichgewicht zu finden, das sie zur Bewältigung ihres Lebens brauchen. An solchen Störungen können angeborene Dispositionen beteiligt sein oder traumatische Geschehnisse. Es gibt Lernstörungen, Depressionen, Ängste, Zwänge, Spaltungen in mehrere Persönlichkeiten, Störungen des Selbsterlebens und anderes. Mit all diesen Störungen des Selbst- oder Weltbildes ist Leid verbunden.
Literatur Falkai & Wittchen 2018. Finzen 1995. Lurija 1991. Niecke u. a. 2017. Sacks 1987, 1995, 1997. Spitzer u. a. 1991.
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Ein telepathisches Experiment Mein Freund Ulrich will Chemie studieren, ich Psychologie. Wir plaudern über Grenzen der Naturwissenschaft und kommen auf die Idee, einmal selbst zu probieren, ob es so etwas wie Gedankenübertragung gibt. Wir losen aus: Er soll den Sender, ich den Empfänger spielen. Wir setzen uns im Zimmer etwa sechs Meter auseinander. Von mir abgewandt zeichnet Ulrich irgendetwas auf ein Blatt Papier und legt es verdeckt beiseite. Dann schauen wir uns mit verschränkten Armen an, und ich versuche, mich auf ihn zu konzentrieren. Eine Weile passiert nichts. Nach vielleicht fünf Minuten sage ich, ohne zu wissen warum: „Es ist ein Tier.“ In Abständen von ein bis zwei Minuten nenne ich weitere Merkmale, die in meiner Vorstellung immer deutlicher werden. Ulrich antwortet nicht, auch nicht mit Ja oder Nein. „Ein Löwe.“ – „Nein, kein Löwe, es hat keine Mähne.“ – „Das Tier liegt ausgestreckt.“ – „Es erinnert mich an den Sphinx in Ägypten.“ – „Es schaut nach links.“ – „Es ist ein Hund.“ – „Hellbraun und mit stumpfer Schnauze.“ Weiter komme ich nicht. Ulrich ist aufgestanden und bringt das Blatt Papier mit. Er hat die ganze Zeit geschwiegen und ist jetzt noch blasser als sonst. „Nein“, sagt er, „kein Hund.“ Er reicht mir das Papier. Seine Zeichnung zeigt im Umriss ein liegendes Tier, die Tatzen ausgestreckt, das nach links schaut. „Das soll eine Löwin sein“, sagt er mit belegter Stimme. Wir finden kaum Worte. Uns ist unheimlich. Wir haben das Gefühl, an etwas gerührt zu haben, was besser unangetastet bleibt. Wir haben das Experiment nie wiederholt. Drei Jahre später hat das Psychologische Institut der Uni Münster Hans Bender aus Freiburg zu einem Vortrag eingeladen, den einzigen Lehrstuhlinhaber in Deutschland, der sich ausdrücklich mit Parapsychologie im Rahmen der „Grenzgebiete der Psychologie“ beschäftigt. Ich komme anschließend mit ihm ins Gespräch und erzähle ihm meine Geschichte. „Ach wissen Sie“, sagt er, „solche Geschichten höre ich alle Tage. Die beweisen wissenschaftlich nichts. Das Problem ist, solchen Phänomenen unter kontrollierten Bedingungen experimentell beizukommen.“
25 Gibt es paranormale Fähigkeiten? Anders gefragt: Gibt es außerhalb der Sinneswahrnehmung Wege, etwas über die Welt und andere Menschen zu erfahren? Wer fest davon überzeugt ist, dass er von finsteren Mächten per Fernwirkung manipuliert wird, muss mit der Diagnose einer schizophrenen Störung mit Verfolgungswahn rechnen. Vormals waren es Dämonen, im Mittelalter Hexen und Teufel, später die Freimaurer, dann elektrische Maschinen, heute sind es geheime Verschwörer 193
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mit ihren G5-Antennen, die von Betroffenen verantwortlich gemacht werden. In diesem Umfeld ist es ein heikles Unterfangen, wissenschaftlich untersuchen zu wollen, ob es so etwas wie z. B. Telepathie gibt, geschweige denn, sie ggf. erklären zu wollen. Laut einer Untersuchung in Österreich glauben über 40 % an Telepathie und 27 % an Hellsehen.81 Arthur Schopenhauer hielt Hellsehen für erwiesen. Vielleicht haben auch Sie Situationen erlebt, in denen Sie überzeugt waren, mit einer Art „zweitem Gesicht“ ein Ereignis gesehen zu haben, von dem Sie auf normalem Wege nicht wissen konnten. Außerhalb der Wissenschaft ist man pragmatisch mit dem Thema umgegangen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden „Telepathen“ zur Aufklärung von Verbrechen eingesetzt, mit überschaubarem Erfolg. Im Kalten Krieg führten Geheimdienste in Ost und West parapsychologische Experimente durch, weil man verhindern wollte, dass ihnen die Gegenseite in der eventuellen Anwendung zuvorkam. Kein Geringerer als William James (1842–1910), Begründer der Psychologie in den USA, befasste sich bereits mit Parapsychologie. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie von merkwürdigen Phänomenen, die durch alle Zeitalter und durch alle Kulturen in ähnlicher Weise geschildert werden und sich einer naturwissenschaftlichen Erklärung entziehen. Sie sind einerseits insofern ernst zu nehmen, als sie oft Bestandteil der jeweils herrschenden Weltanschauung sind und dabei erhebliche Bedeutung für die Lebensweise haben können. Man denke nur an die weltweit verbreitete Angst vor dem bösen Blick und dem damit verbundenen Schadenszauber, vor dem zu schützen die Haupteinnahmequelle vieler Schamanen darstellt. Sie stellen andererseits eine Herausforderung für diejenigen Wissenschaftler dar, die das wissenschaftliche Weltbild für unabgeschlossen halten und offenen Fragen aufgeschlossen gegenübertreten wollen. Dabei haben sie sich nicht nur gegen den Mainstream der Wissenschaft zu behaupten, der alles aus bereits bestehenden Erkenntnissen und Theoriemustern heraus erklären möchte, sondern auch gegen eine Flut pseudowissenschaftlicher Behauptungen, bei denen persönliche Überzeugung mühsame empirische Forschung ersetzt. Mit Ratlosigkeit und dem Eingeständnis von Nichtwissen sind in der Wissenschaft keine Meriten zu gewinnen, und so ist manches ungelöste Problem einfach dadurch aus der Welt geschafft worden, dass man es leugnete. Eins der bekanntesten Beispiele ist das, was den roten Faden dieses Buches ausmacht, nämlich die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein. Machen wir uns daher vorläufig frei von dem Vorurteil, dass es den Gegenstand der Parapsychologie gar nicht gibt, und vergegenwärtigen uns mit der Neugier, die wir aus Kindertagen hoffentlich bewahrt haben, welche Phänomene gemeint sind und wie sie erforscht werden, bevor wir uns ein Urteil bilden. Von Hellsehen ist die Rede, wenn Informationen über weit entfernte Ereignisse erlangt werden, zu denen keine physikalische Verbindung besteht. In der Antike spielte das Orakel von Delphi in dieser Beziehung eine große Rolle. 194
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Präkognition meint die Fähigkeit, künftige Ereignisse vorherzusagen. Historische Beispiele sind die Propheten des Alten Testaments oder Kassandra, die den Untergang ihrer Heimatstadt Troja prophezeite. Mit Telepathie wird die Fähigkeit bezeichnet, Gedanken zu übertragen. Aristoteles hielt sie unter einander nahestehenden Menschen für möglich, über Schwingungen in der Stille der Nacht.82 Im Viktorianischen Zeitalter war der Glaube daran im Kontext des Spiritismus weit verbreitet. Telekinese bezeichnet die Möglichkeit, durch reine Geisteskraft Gegenstände zu bewegen und Ereignisse zu verursachen. Diese Fähigkeit wird seit alters her etwa in der Mythologie Zauberern und Magiern zugesprochen, ähnlich wie der Apport, das Erscheinenlassen aus dem Nichts. Alle genannten Phänomene gehören ins Repertoire heutiger Bühnenzauberer. Wie bereits angesprochen, verstehen sie sich darauf, mit raffinierten Tricks den überzeugenden Nachweis zu erbringen, dass sie über derartige Fähigkeiten verfügen. Tatsächlich handelt es sich bei ihnen um ein Spiel mit Illusionen, auf das sich die Zuschauer wegen ihrer verblüffenden Rätselhaftigkeit gern einlassen. Für die Parapsychologie tut sich hier neben dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und der Abgrenzung von Pseudowissenschaften als dritte Front das Feld der Täuschungen auf, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. So nimmt es nicht Wunder, dass das Buch „Parapsychologie“ von Hans Driesch (1867–1941), der erste Versuch einer Verwissenschaftlichung dieses Bereichs, sich zunächst weniger mit seinen Gegenständen als vielmehr mit dem Problem der Täuschung befasst.83 Auch in den anerkannten Wissenschaften kommen Täuschungen und Fälschungen vor, sie entlarven sich aber, wenn sich die Ergebnisse nicht wiederholen lassen, weshalb Reproduzierbarkeit ein wichtiges Qualitätsmerkmal darstellt. Allerdings besteht bei der Parapsychologie die Gefahr zweifach: Täuschungen können vom Forscher/Autor vorgenommen werden oder auch vom untersuchten Medium. Lange Zeit galt das Soal-Goldney-Experiment (1941–1943) als der beste Beweis für die Existenz von Präkognition, bis sich herausstellte, dass Soal die Daten gefälscht hatte und damit die Parapsychologie in Verruf brachte. Von der zweiten Gefahr mit „frevelhaften und grotesken Schwindeleien“ berichtet schon einer der frühen parapsychologischen Experimentatoren, Schrenck-Notzing 1924. Dabei ging es um die Materialisation aus dem Nichts, die mit Tricks erfolgten, die in ähnlicher Form heutzutage jeder Bühnenzauberer beherrscht. Bei spiritistischen Séancen, die im 19. Jahrhundert beliebt waren, war in der üblichen Dunkelheit mancher Taschenspielertrick möglich. Hypnose und Massensuggestion sind weitere mögliche Täuschungsquellen. Driesch entwickelt Untersuchungsmethoden, die Täuschungen so weit als möglich ausschließen sollen. Driesch ist davon überzeugt, dass es neben Betrügern und Spaßvögeln Menschen gibt, in deren Gegenwart parapsychische Phänomene tatsächlich auftreten. Für einen solchen 195
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Menschen bevorzugt er statt „Medium“ die Bezeichnung „Metagnom“. Für gesichert hält Driesch auf parapsychischem Gebiet aktive und passive Formen der Telepathie. Auch Hellsehen nimmt er als Faktum. Zur Erklärung bezieht er sich auf den Animismus (die Allbeseeltheit der Natur) und nimmt ein überpersönliches „Seelenfeld“ an. Dabei setzt er voraus, dass Leib und Seele zweierlei Wesen sind, wobei der lebenden Seele besondere Fähigkeiten zukommen. „Der Metagnom kann unmittelbar in einer anderen Seele, mit der er ja durch das Seelenfeld verbunden ist, lesen. Viel wichtiger aber ist, dass er auch im Weltsubjekt lesen und darin vorhandenen Pläne erfassen kann.“ Damit werden für ihn auch Hellsehen und Prophetie erklärlich.84 Hans Bender schildert in einem Nachwort den Werdegang der Parapsychologie, die er für nicht weniger rational hält als die Chemie. „Alles Parapsychische aber ist ja gesetzlich.“85 Für eine solche Behauptung ist das empirische Material allerdings spärlich. Die Verlagerung von Einzelbeobachtungen zum kontrollierten Experiment sollte das ändern. J. B. Rhine führte in den USA „Zenerkarten“ ein, die zum Standardmaterial für Experimente zur Extra-SensoryPerception (ESP bzw. ASW) werden sollten: 25 Karten mit Kreis, Kreuz, Rechteck, Stern und Wellen. Tests zur Psychokinese wurden mit Würfeln durchgeführt. Die Auswertung erfolgte mit statistischen Methoden.
Abb. 72: Die „Zenerkarten“ wurden entworfen, um Experimente zur außersinnlichen Wahrnehmung zu standardisieren. Stefan Schmidt (2014) gibt einen Überblick über jüngere Untersuchungen. Als „Flaggschiff der Parapsychologie“ galten lange Zeit Experimente zum Ganzfeld (s. Kap. 6). Dabei schaut sich ein „Sender“ z. B. Bilder an, die eine zweite Person zu empfangen versucht, die sich halbierte Tischtennisbälle auf die Augen gesetzt hat. Unter zahlreichen Versuchen befanden sich einige positive Ergebnisse, die sich aber kaum reproduzieren ließen, was dem Flaggschiff seinen Glanz nahm. Bei Experimenten zum „Remote Viewing“ (Hellsehen) sollten Probanden in einem abgeschlossenen Raum beschreiben, wie die Örtlichkeiten aussehen, an denen sich ein Versuchsleiter nacheinander aufhielt. Teilweise ergaben sich grobe Ähnlichkeiten. Erfolgsunterschiede zwischen den Probanden sollten Psi-Begabungen aufdecken, was aber nicht überzeugend gelang. 196
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Abb. 73: Das hebräische Zeichen „Schin“ auf einem alten Dreidel (jüdischer Drehwürfel). Thouless & Wiesner bezeichnen mit diesem Symbol den hypothetischen Prozess, der ohne Vermittlung des Nervensystems parapsychische Phänomene erklären soll.86 In der Methode sind Experimente zur Präkognition exemplarisch. Bei einem Satz von 25 Zenerkarten soll jeweils vorhergesagt werden, welche Karte als nächste aufgedeckt wird. Nach Zufall sind durchschnittlich 5 Treffer zu erwarten, maximal möglich sind 25. Nach 113 075 Vorhersagen ergab sich eine Trefferquote von 5,14. Wegen der hohen Anzahl von Versuchen war das zwar hoch signifikant, aber nur knapp über der Zufallsquote und damit wenig aussagekräftig. Bei Experimenten zur Psychokinese (PK) mit Würfeln war nach 2,6 Millionen Würfen das Ergebnis noch magerer. Ein Mikro-PK-Experiment mit quantengesteuertem Zufallsgenerator, bei dem das Gerät Nullen und Einsen produzierte, ergaben sich in 100 000 Fällen nur 13 bis 26 mehr zutreffende Voraussagen, als nach Zufall zu erwarten waren. Bei Wiederholung der Versuche waren die Ergebnisse oft noch schlechter. Insgesamt sind die Unregelmäßigkeiten in den aufgeführten Psi-Experimenten so geringfügig vom Zufall abweichend, dass sich eine parapsychologische Interpretation verbietet und eher nach Methodenartefakten oder nach Selektionseffekten (Veröffentlichung nur positiver Befunde, selection bias) zu suchen ist. Beide Artefakte sind in allen Wissenschaften ein Problem, besonders aber dann, wenn die relevante Effektstärke sehr gering ist. Es wirkt gegenüber den Minimal-Befunden grotesk, hierauf Theorien wie ein Seelenfeld mit Weltsubjekt (Driesch) oder eine erweiterte Quantenmechanik (Schmidt) aufbauen zu wollen. Ockhams Rasiermesser hätte viel zu schneiden. Es verdichtet sich der Eindruck, dass es neben den drei genannten Fronten, an denen sich die Parapsychologen zu verteidigen haben, noch eine vierte, vielleicht entscheidende gibt: die eigenen Zweifel an der Existenz ihres Gegenstands. „Zu den kritischen Skeptikern rechnen wir uns selbst,“ sagt Driesch.87
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Was aber lässt sich zu der eingangs erzählten Anekdote sagen? Ulrich und ich hatten einen methodischen Fehler gemacht, der bei keinem Parapsychologen durchgegangen wäre: Wir hatten uns während der „Gedankenübertragung“ angeblickt. Dadurch war es mir möglich, ohne mir bewusst zu werden, in Ulrichs Gesicht und Verhalten kleine „Tells“ zu lesen, wie man sie vom Poker her kennt. Sie haben offenbar gereicht, von Bemerkung zu Bemerkung auf der richtigen Spur zu fahren und der Lösung so nahe zu kommen, dass uns unheimlich wurde. Und wenn es so war, was wahrscheinlich ist, ist es doch ein Grund zu staunen, was die normale Wahrnehmung und ein wenig Einfühlung leisten – ganz ohne Psi. Kurz gesagt: Übersinnliche Fähigkeiten sind immer wieder bemüht worden, um zu erklären, dass Individuen trotz ihres Inseldaseins sich untereinander verstehen können. Für Hellsehen und Telepathie wurde ein überpersönliches Seelenfeld angenommen, das alle Menschen miteinander verbindet. Doch erstens gibt es bis heute keine beweiskräftigen Nachweise für paranormale Phänomene, und zweitens werden die Fähigkeiten oft unterschätzt, die mit normaler Sinneswahrnehmung und Empathie möglich sind.
Literatur Bender 1984. Driesch 1984. Hergovich 2002. Schmidt 2014.
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Verpasste Chance Unsere Klasse, bestehend aus Jungs im Alter von 15–16 Jahren, ist auf Klassenfahrt. Tägliche Morgengymnastik mit anschließender mehrstündiger Waldwanderung machen einen Großteil des Programms aus. Abends dann wird gesungen, gelegentlich am Lagerfeuer, und der Lehrer liest aus einem Abenteuerroman vor, der zur Wikingerzeit spielt. Bis heute weiß ich nicht, wie der Roman ausgeht, denn die Klassenfahrt ist schneller vorbei als der Lehrer lesen kann. Die Abendessen sind aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens, weil es den Herbergseltern gelingt, die Brote mit Vierfruchtmarmelade aus dem großen Eimer so dünn zu bestreichen, dass der rote Farbton nur knapp über der Wahrnehmungsschwelle liegt. Zweitens, weil im Speiseraum auch eine Mädchenklasse sitzt, etwa im gleichen Alter wie wir, die gleichzeitig in der Jugendherberge wohnt. Die Programme für beide Klassen sind nicht weniger streng getrennt als die Bereiche der Schlafräume. Umso aufregender sind die zeitlichen und räumlichen Lücken dazwischen, die zu nutzen beide Seiten viel Findigkeit beweisen. In den dämmrigen Treppenhäusern (elektrisches Licht wird auch gespart) ereignet sich viel Gejuchze und Gehusche. Die Jungs überbieten sich in Imponiergehabe, die Mädchen antworten mit entsprechendem Balzverhalten, und die Kühnste verschlägt den Jungs den Atem, indem sie ihre Bluse lupft. Um 10 ist Zapfenstreich, was für manche Romanzen allerdings nicht zu gelten scheint. Die Abendessen entwickeln sich mehr und mehr zu heimlichen Kontaktbörsen, auf Distanz mit Zeichen und Zetteln vorbei an den strengen Blicken des Aufsichtspersonals. Mir ist seit Tagen ein dunkelhaariges Mädchen mit kurzgeschnittener Frisur aufgefallen, und gelegentlich treffen sich unsere Blicke. Jedes Mal wird mir dabei heiß, und ich habe das Gefühl, dass mein Kopf glüht. Schon wieder sehe ich in ihre rehbraunen großen Augen, und ich spüre den unwiderstehlichen Drang, ihr näher zu kommen. Ob ich es wagen kann? Nein, sie hat kein Interesse, jetzt tuschelt sie mit ihrer Freundin. Dieser Mund! Wie sie die Brust herausstreckt! Ich kann an nichts anderes mehr denken. Jetzt steht sie auf und geht. Dieser Gang! Wenn sie sich doch noch einmal umdrehen würde! Sie dreht sich um! Beiläufig streift sie mich mit ihrem Blick! Doch dann geht sie hinaus. Warum geht sie weg? Ich bin ganz wirr im Kopf. Später, zu spät laufe ich durchs ganze Haus und um das Haus herum, kann sie aber nirgends finden. Am nächsten Abend sitzt unsere Klasse allein im Speisesaal, und wir erfahren, dass die Mädchenklasse abgereist ist, aus unerfindlichen Gründen früher als geplant. Gerd, der Don Juan unserer Klasse, nimmt mich beiseite. „Sag mal, Max, warum bist du nicht auf die Brünette zugegangen? Die hat doch darauf gewartet! Ich habe versucht, mich an sie ranzumachen. Aber die hatte immer nur Augen für dich!“ Ich muss schlucken und komme mir vor wie ein Trottel.
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Anders gefragt: Wie ist es möglich, andere Menschen zu verstehen, wenn jeder in seiner subjektiven Welt befangen ist? Dass der Mensch ein soziales Wesen ist, ist ein oft wiederholtes Stereotyp. Doch wie ist die Erlebniswelt des Individuums, die bei jedem neu entsteht, mit den Welten anderer Menschen verbunden? Carl Gustav Jung nahm ein „kollektives Unbewusstes“ an, an dem alle Menschen teilhaben und über das sie miteinander vereint sind. In ähnlichem Sinne postulierte Hans Driesch, wie erwähnt, ein gemeinsames „Seelenfeld“, über das Menschen sich telepathisch verständigen können. Wenn dies so wäre, könnten sich die Menschen den mühsamen und von Missverständnissen reichen Weg unterschiedlicher Kommunikationsformen sparen, und wir könnten uns im Bad harmonischen Einklangs wiegen. Leider bleibt dies eine Wunschvorstellung, und wir kommen nicht umhin, den schwierigen, oft zermürbenden und ab und zu beglückenden Weg zu gehen, auf dem jeder von uns schon seine Erfahrungen mit nahe- oder fernerstehenden Menschen gemacht hat. Dabei geht es immer um Zweierlei: erstens darum, wie das, was jemand denkt oder fühlt, zum Ausdruck gebracht wird, und zweitens darum, wie dieser Ausdruck zum Eindruck wird, d. h., wie es beim Empfänger ankommt und was es bei ihm auslöst. Heute ist es üblich geworden, statt von Ausdruck von Kommunikation zu sprechen. Bei „kommunizierenden Röhren“ sind verschiedene Gefäße mit einer Flüssigkeit verbunden, die sie untereinander austauschen. Dieses Bild ist irreführend, weil es im mitmenschlichen Bereich eben nicht eine Substanz ist, die ausgetauscht wird und sich dabei gleichbleibt. Vielmehr geht es um Kodierung und Dekodierung von Zeichen. Mit Kommunikation ist meistens die Verständigung mit Worten gemeint. Doch im menschlichen Miteinander spielen auch andere Mittel eine entscheidende Rolle, besonders Mimik und Gestik. Als ich Psychologie studierte, gehörte Ausdruckspsychologie noch zu meinen Prüfungsfächern. Wenige Jahre später wurde das Fach abgeschafft. Mir schien der menschliche Ausdruck aus der Wissenschaft ebenso zu entschwinden wie bereits zuvor aus der bildenden Kunst. Beides empfand ich als Verlust und der zeitlosen Bedeutung des Gegenstandes nicht angemessen. Die Abschaffung des Teilfaches hatte den gleichen Grund, warum das Nebenfach Humangenetik für das Psychologiestudium gestrichen wurde. Beide waren für die Rassenideologie der Nationalsozialisten missbraucht worden, und ab Ende der 1960er Jahre wurde an den Universitäten alles in Frage gestellt, was und wer damit in irgendeiner Weise in Verbindung stand. Dazu gehörte die Physiognomik, die Zusammenhänge zwischen überdauernden Gesichtszügen und charakterlichen und intellektuellen Eigenschaften mehr behauptete als bewies. Sie ging bis auf die Antike zurück und fand einen vorläufigen Höhepunkt in der Phrenologie von Franz Joseph Gall, der im 19. Jahrhundert die unterschiedlichsten Merkmale vom 200
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Geschlechtstrieb bis zum Zerstörungssinn verschiedenen Hirnarealen zuordnete und ihre Ausprägung an der Schädelform ausmessen zu können vorgab.
Abb. 74: Gall’scher Schädel. Aus dem Pariser Labor von Franz Joseph Gall 1812. © Museum am Rothenbaum (MARKK), Hamburg, Foto: Max Kobbert. Schon vor über 500 Jahren warnte Leonardo da Vinci vor der „betrügerischen Physiognomik“. Dagegen waren ihm Mimik und Gestik sehr wichtig: „Ein guter Maler hat zwei Hauptsachen zu malen, nämlich den Menschen und die Absicht seiner Seele. Das erstere ist leicht, das zweite schwer; denn es muss durch die Gesten und Bewegungen der Gliedmaßen ausgedrückt werden.“88 Leider wurde bei den kulturrevolutionären Säuberungen des Fachs Psychologie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und so verschwanden zusammen mit der Physiognomik auch Mimik und Gestik, die künftig als Körpersprache ein blasses Nischendasein in Persönlichkeitsund Sozialpsychologie zugewiesen bekamen. Zu diesem Zeitpunkt begann Paul Ekman in den USA, sich mit dem Zusammenhang zwischen Gesichtsausdruck und Gefühl zu beschäftigen. Unbeschwert vom Ballast deutscher Fachliteratur mit problematischer Vergangenheit, die er nicht zur Kenntnis nahm, besetzte er den verwaisten Claim, begründete auf ihm seine „neurokulturelle Theorie der Emotionen“ mit eigenen Untersuchungen, die vom US-Verteidigungsministerium großzügig finanziert wurden, und verschaffte sich höchst erfolgreich Publizität und Aufträge bei CIA und FBI, indem er echten und verfälschten Ausdruck unterschied. Im Deutschen haben wir zwei Bezeichnungen, die auf das Gleiche verweisen und doch unterschiedliche Akzente setzen: Gefühl und Emotion. Mit „Gefühl“ meinen wir etwas, das wir empfinden, einen psychischen Zustand, den wir in bestimmten Situationen subjektiv erleben. „Emotion“ dagegen bedeutet wörtlich eine „Herausbewegung“. Damit wird angesprochen, 201
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dass das, was wir fühlen, eine innere Bewegtheit ist, die nach außen dringt, zum Ausdruck und damit für andere wahrnehmbar wird.
Abb. 75: In einem Seminar zum Thema Ausdruck bat ich die Studierenden, unterschiedliche Emotionen mit ein paar Linien zum Ausdruck zu bringen. Oben die 25 Ergebnisse zu „Freude“, unten zu „Wut“. Die Linienzüge zu „Freude“ bestehen überwiegend aus beschwingten Rundungen, mit leichtem Strich gezeichnet. Dagegen herrschen bei „Wut“ harte Richtungswechsel in heftigem Duktus vor. Interessant sind auch die individuellen Unterschiede: Bei „Freude“ sind es teils tänzerische Bewegungen, teils ein Ausstrahlen in die Umgebung. Bei „Wut“ zeigt sich teils heftige Bewegung über den ganzen Bildraum hinweg, teils eine Entsprechung zu mühsam unterdrückter Wut. 202
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Im Jahre 1732 veröffentlichte Martin Engelbrecht zusammen mit Studien des französischen Hofmalers Charles Le Brun ein Buch, in dem er den Ausdruck unterschiedlicher Affekte beschrieb, etwa „Grosser Schmerz. Dieser macht daß sich die Augenbrauen gegeneinander ziehen; und erheben sich gegen der Mitte/ der Augapfel verbirgt sich unter die Augenbrauen; Die Naßlöcher erheben sich und machen in denen Backen eine Falte/ der Mund halb offen/ gleichsam zurück ziehend; alle Theil des Gesichts stehen in einer Bewegung nach dem Maß der Grösse des Schmerzens.“89 Der Mediziner Guillaume-Benjamin Duchenne (1801–1875) erforschte den Gesichtsausdruck erstmals experimentell. Er benutzte die Elektrizität zur Therapie. Dabei entdeckte er, dass sich bei Reizung verschiedener Gesichtsmuskeln der für bestimmte Emotionen typische Ausdruck erzeugen ließ. Beispielsweise zieht sein „Muskel der Freude“ (Musculus zygomaticus major) die Mundwinkel nach oben und hinten, wie es beim Lächeln geschieht. Allerdings müssen zugleich auch die Unterlider angehoben sein, damit ein „echtes Lächeln“ entsteht, das Paul Ekman nach seinem Entdecker „Duchenne-Lächeln“ genannt hat. Es ist insofern bedeutsam, als es weniger leicht vorgetäuscht werden kann als ein bloßes Verziehen der Mundwinkel. Bitte ausprobieren!
Abb. 76: Duchenne und eine seiner Versuchspersonen. Quelle: Wikipedia commons. 203
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Abb. 77: Unechtes Lächeln und Duchenne-Lächeln. Zu den frühen Forschern zum Thema Ausdruck gehörte auch Charles Darwin, dem die 1864 publizierten Experimente Duchennes vorlagen. Es ging ihm darum zu zeigen, dass der menschliche Ausdruck von Emotionen seine Wurzeln in der Stammesgeschichte hat. 1872 erschien „The Expression of the Emotions in Man and Animals” und im gleichen Jahr die deutsche Übersetzung „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“. Interessant ist, wie beim deutschen Titel im Wort „Gemütsbewegungen“ Gefühl und Emotion miteinander verbunden werden. Für Darwin stand außer Zweifel, dass auch Tiere Gefühle haben. Schon in seinem bekannteren Werk „Die Abstammung des Menschen“, das ein Jahr zuvor erschienen war, nahm er mehrfach Bezug auf Beobachtungen an Tieren, insbesondere an Hunden. Dabei zitierte er den amerikanischen Humoristen Josh Billings mit den Worten: „Ein Hund ist das einzige Ding in der Welt, das Dich mehr liebt, als sich selbst“.90 Außer der sprichwörtlichen Treue attestierte er dem Hund auch Emotionen wie etwa Stolz und Scham. Wenn Sie ein Haustier haben, werden Sie vermutlich eigene Beobachtungen beisteuern können. Wissenschaftler warnen oft zu Recht vor der Gefahr, zu sehr zu anthropomorphisieren, d. h., Menschliches in ein Tier hineinzuprojizieren. Vielleicht aber besteht die größere Gefahr darin, dem Tier Gefühle abzusprechen und so etwa Tierquälerei zu verharmlosen. Die Aussage, man könne nicht beweisen, dass Tiere Gefühle haben, ist gefährlich. Denn es kann auch niemand beweisen, dass ein anderer Mensch Gefühle hat, denn sie sind nicht objektiv messbar. Das Erkennen von Gefühlen geschieht auf keinem anderen Wege als über Äußerungen, ob verbal oder nonverbal. Wir erleben sie mit, weil wir empathisch sind, das heißt: Emotionsäußerungen lösen bei uns oft Gefühle aus, bei denen wir davon ausgehen, dass sie denen des Gegenüber entsprechen. Man denke nur daran, was man empfindet, wenn man miterlebt, wie ein Kind Zahnschmerzen hat oder eine Spritze bekommt. Andererseits sind jederzeit Irrtümer möglich.
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Wenn ein Hund die Ohren anlegt, kann das ein Zeichen dafür sein, dass er gestreichelt werden will. Wenn ein Pferd die Ohren anlegt, sollte man sich lieber vorsehen. Darwins Werk von 1872 basiert auf Verhaltensbeobachtungen bei Tieren, bei kleinen Kindern (weil diese unverstellt ihre Gefühle zeigen) und auf Berichten von Missionaren, um Aufschluss über nicht-europäische Völker zu bekommen. Er stellt für den Ausdruck drei Prinzipien auf: 1.
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Das Prinzip zweckmäßig assoziierter Gewohnheiten. Hiermit sind ursprünglich sinnvolle Handlungen gemeint, die im Ausdruck rudimentär in Erscheinung treten. Bei freudiger Überraschung etwa öffnen wir weit den Mund und die Augen. Es ist eine Reaktion, mit der wir Neues aufnehmen wollen. Sie erfolgt auch dann, wenn es sich um gehörte Neuigkeiten handelt. Das Prinzip des Gegensatzes. Gegensätzliche Emotionen können sich gegensätzlich äußern. Wenn ein Hund sich groß macht und die Haare sträubt, zeigt er damit Aggressivität. Macht er sich dagegen klein, zieht den Schwanz ein und duckt sich, zeigt er damit Unterwürfigkeit. Das Prinzip der direkten Tätigkeit des Nervensystems. Damit sind reflektorische Äußerungen gemeint, die nicht dem Willen unterworfen sind. Dazu gehören Erröten, Zittern und Schwitzen.
Das erste Prinzip steht mit den „assoziierten Gewohnheiten“ übrigens in der Tradition der Lehre Lamarcks, nach der erworbene Eigenschaften vererbt werden (danach sollen z. B. die Hälse von Giraffen so lang sein, weil ihre Vorfahren sie häufig gereckt haben). Das steht in merkwürdigem Widerspruch zu Darwins eigener Vererbungslehre, wonach bei den Nachkommen aus einer Vielzahl von Varianten sich bevorzugt die fittesten fortpflanzen. Er hätte das Prinzip ohne Weiteres etwa in „das Prinzip ursprünglich zweckmäßigen Verhaltens“ umformulieren können, um theoriekonform zu bleiben. Der Ausdruck von Emotionen ist nach Darwin wichtiges Mittel für das Funktionieren einer Gruppe sowohl bei Tieren wie bei Menschen. Als Beispiel führt er Rangstreitigkeiten an. Echte Rivalenkämpfe wie bei Hirschen oder Wölfen führen zwar zur Auslese überlegener Fähigkeiten, enden aber oft blutig und wären als permanentes Verhalten schädlich für die Art. Daher hat sich durchgesetzt, dass oft bloße Drohgebärden wie die Demonstration von Größe und Zähnefletschen hinreichend wirksam sind, um Rivalen zur Aufgabe zu bewegen. Jeder Besuch bei den Primaten eines Zoos löst bei Besuchern nicht zuletzt deswegen Faszination und Heiterkeit aus, weil sich in unverstellter Form Ausdrucksverhalten zeigt, das nur allzu menschlich erscheint. Etwa, wenn der große Silberrücken herumstolziert, die Zähne fletscht, sich in die Brust wirft und mit seinen Fäusten trommelt, oder wenn das kleine Gorillakind mit großen Augen zum Vater aufblickt und schaudert. 205
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Das Zähnezeigen beim Lächeln ist übrigens nur bei Menschen ein Zeichen von Freundlichkeit. Im Tierreich bedeutet es meistens Bereitschaft zur Aggression, bei Schimpansen ist es ein Zeichen von Angst, oft eine Demutsgeste gegenüber überlegenen Mitgliedern der Horde. Hier hat sich während der Menschwerdung offensichtlich ein Wandel vollzogen. Beim Lächeln die Zähne zu zeigen lässt sich beim Menschen so interpretieren: „Ich habe ein kraftvolles Gebiss, mit dem ich dich beißen könnte; doch indem ich es unterlasse, zeige ich dir, wie sympathisch du mir bist und werde dich gegebenenfalls verteidigen!“ Allerdings muss es ein echtes Duchenne-Lächeln sein. Andernfalls vermittelt das Zähnezeigen auch beim Menschen keine rechte Freundlichkeit (s. Abb. 77). Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers wirkte Anfang des 20. Jahrhunderts wegweisend auch für die Ausdruckspsychologie. Er ging von der Koinzidenz, also dem raumzeitlich zusammenfallenden Geschehen im Körperlichem und Seelischen aus. Seele und Leib sind „für uns eins im Ausdruck. Wo wir Heiterkeit des Antlitzes wahrnehmen, trennen wir nicht Seele und Leib, haben wir nicht zweierlei, das aufeinander Bezug hätte, sondern ein Ganzes, das wir erst sekundär trennen in leibliche Erscheinung und seelische Innerlichkeit. Dieser Tatbestand des Sehens von Ausdruck ist ein Urphänomen unserer Welterfassung, unendlich reich an Gehalten, rätselhaft im Prinzip, ständig wirklich und gegenwärtig. Wollen wir von einer Koinzidenz von Leib und Seele als einem erforschbaren Tatbestand sprechen, so finden wir ihn nur hier.“91 Die Unmittelbarkeit, in der sich Seelisches im Ausdruck zeigt, hängt nach Jaspers damit zusammen, dass der Ausdruck unwillkürlich erfolgt. Er kann zwar verstellt werden, dann handelt es sich aber nicht mehr um Ausdruck, sondern um Darstellung (wie etwa beim Schauspieler). Auch das Verstehen von Ausdruck geschieht nach Jaspers ganz unmittelbar. „Man hat wohl gesagt, dass alles Verstehen des Ausdrucks auf Analogieschlüssen aus dem eigenen Seelenleben auf das Fremde beruhe. Diese Analogieschlüsse sind ein Phantom. Es ist vielmehr Tatsache, dass wir ganz unmittelbar, ohne zu reflektieren, in einem einzigen Akt zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung blitzartig verstehen.“ (Jaspers 1959, S. 214) Dies zeigt sich vor allem daran, dass schon Säuglinge auf unterschiedliche mimische Äußerungen der Eltern passend reagieren. Die Unmittelbarkeit schließt nicht aus, dass Ausdruck auch missverstanden und dass der Eindruck, den er erzeugt, geschult werden kann. „Es besteht eine Beziehung zwischen Weite, Tiefe und Fülle eigenen möglichen Erfahrens, Schicksals und Erlebens zum Verstehen.“92 Jaspers relativiert damit seine Annahme unmittelbaren Verstehens und bringt die Möglichkeit von Analogieschlüssen auf der Grundlage von Erfahrung als Kontrollinstrument doch wieder ein. 1996 machte man an Makaken eine interessante Entdeckung. In der prämotorischen Hirnrinde wurden Nervenzellen gefunden, die nicht nur feuerten, wenn die Affen selbst eine bestimmte Handlung ausführten – etwa einen Ball aufzuheben –, sondern auch dann, wenn die Affen beobachteten, dass ein Mensch die gleiche Handlung am gleichen Objekt ausführte.93 Diese Nervenzellen nannte man „Spiegelneurone“. Sie wurden auch im frontalen und parietalen Kortex des Menschen gefunden. Sogleich gab es publikumswirksame Spekulationen darüber, dass 206
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Spiegelneurone eine wichtige Funktion in der menschlichen Kommunikation haben und auf neuronaler Ebene eine Voraussetzung für Empathie bilden. In diesem Zusammenhang wurden auch Autisten untersucht. Sie haben größte Schwierigkeiten, Ausdruck zu verstehen. Wie Untersuchungen in Kalifornien gezeigt haben, verfügen auch Autisten über entsprechende Neurone im Stirnhirn, doch sie scheinen nur bei eigenen Aktionen, nicht aber bei denen anderer Menschen zu feuern.94 Noch ist nicht hinreichend geklärt, in welchem hirnphysiologischen Funktionszusammenhang die Spiegelneurone stehen. Wenn sie leisten sollen, was vielfach unterstellt wird, müssen sie in einem neuronalen Verbund stehen, der einerseits komplexe Leistungen der Personenwahrnehmung und andererseits das eigene Körperschema samt seinen Bewegungsprogrammen umfasst. In einem neuen Standardlehrbuch der Physiologie heißt es schlicht: Die Spiegelneurone des ventralen prämotorischen Kortex „sind sowohl bei Planung und Durchführung einer Bewegung als auch während der passiven Beobachtung derselben Bewegung bei einer anderen Person aktiv. Sie gelten als wichtiges neuronales Korrelat des Lernens durch Imitation.“95 Paul Ekman stellt die Frage, die schon Darwin beschäftigte: „Bezeichnet ein bestimmter Gesichtsausdruck bei allen Völkern das gleiche Gefühl? … Relativisten behaupten dagegen, der Gesichtsausdruck sei in keiner Weise angeboren, sondern mit der Sprache verwandt und werde in allen Kulturen erlernt.“96 In einer ersten Untersuchung legt Ekman Personen aus fünf verschiedenen Weltregionen Fotos vor mit der Frage, welches Gefühl in ihnen ausgedrückt wird. Es zeigt sich hohe Übereinstimmung in den Zuordnungen. Silvan Tomkins kommt in einer von ihm angeregten Untersuchung zu dem gleichen Schluss, dass Mimik universal ist. Die Ethnologin Margaret Mead ist dagegen der Meinung, dass für den Gefühlsausdruck allein kulturelle Lernvorgänge verantwortlich sind. Ekman versöhnt beide Auffassungen durch die Annahme von kulturspezifischen „Darbietungsregeln“. Es zeigten sich z. B. bei Japanern gleiche Gesichtsausdrücke wie bei Amerikanern, wenn sie sich Filme von Operationen oder Unfällen allein anschauten. Dagegen zeigten sie stets ein Lächeln, wenn eine Person mit im Raum saß. Gesten, so wurde im Weiteren deutlich, sind oft kulturspezifisch, nicht aber der spontane mimische Ausdruck. Vereinzelt finden sich darauf auch Hinweise in der Literatur der Antike. So beschreibt Artemidoros im 2. Jahrhundert hochgezogene Augenbrauen als Zeichen der Überheblichkeit, die wir heute noch in diesem Sinne verstehen.97 Angehörigen der Fore, einer Steinzeitkultur in Papua-Neuguinea, wurden Geschichten erzählt. Danach wählten sie zwischen Fotos mit unterschiedlichem Gesichtsausdruck von Weißen, die zur jeweiligen Geschichte passen sollten. Die Zuordnungen von Freude, Ärger, Ekel und Trauer stimmten völlig überein, Verwechslungen gab es zwischen Angst und Überraschung. Auch bei den Dani in Indonesien, die über keine Wörter für Emotionen verfügen, war die Zuordnung gleichartig, inklusive der Unsicherheit bei Angst und Überraschung. Untersuchungen in 20 westlichen und östlichen alphabetisierten Kulturen ergaben ebenfalls hohe 207
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Übereinstimmungen. Ekman kommt zu dem Schluss, dass es einige Basisemotionen gibt, deren Ausdruck sich kulturübergreifend in ähnlicher Form zeigt.98 1. 2. 3.
4. 5.
Trauer und Verzweiflung: Stirnfalten, Innenseite der Augenbrauen hoch, Oberlider fallend oder innen hoch und außen gesenkt, offener Mund, Mundwinkel nach unten. Ärger und Zorn: Augenbrauen nach unten zusammengezogen, Augen geöffnet oder schlitzförmig, Lippen gepresst oder Mund in Vierecksform geöffnet. Überraschung und Angst: Angehobene und zusammengezogene Augenbrauen, kurze vertikale/horizontale Stirnfalten, weit geöffnete Augen. Bei Angst Mundwinkel nach hinten gezogen, bei Überraschung eher geöffnet. Ekel und Verachtung: Augenbrauen gesenkt, Falten auf dem oberen Nasenrücken, unteres Augenlid angehoben, tiefe Nasolabialfalte, Mundwinkel nach unten gezogen. Glück und Freude: Augen entspannt, unteres Augenlid angehoben, Krähenfüße, Mundwinkel nach hinten oben gezogen.
Andere positive Emotionen wie Ergriffenheit, Ekstase und Dankbarkeit äußern sich in eigenen Formen. Ekman empfiehlt, die Muskelbewegungen nachzumachen, um das entsprechende Gefühl hervorzurufen. Das entspricht der Theorie von James und Lange, die im 19. Jahrhundert meinten, dass nicht Gefühle den Ausdruck hervorrufen, sondern dass umgekehrt Körperreaktionen Gefühle zur Folge haben. Diese Theorie ist strittig. Den meisten Menschen ist ohne spezielles Training gar nicht möglich, willkürlich einen bestimmten Muskel zu aktivieren. Vielmehr wird ein Handlungsplan gefasst: Ich will die Arme verschränken, den Kopf schütteln oder lächeln. Welche der über 650 Muskeln des Menschen über komplexe neuronale Prozesse jeweils aktiviert werden, wenn ein solcher Plan motorisch umgesetzt wird, entzieht sich großenteils der bewussten Kontrolle. Ekmans Anregung zur Imitation hat Erfolg, wenn man sich in das entsprechende Gefühl hineinversetzt oder durch Beobachtung fremden Ausdrucks hineinversetzen lässt. Dabei kann das Minenspiel individuell durchaus variieren. Dass einige Basisemotionen und ihr Ausdruck in Grundzügen angeboren sind, wird außer durch interkulturelle Untersuchungen durch Beobachtung an Kleinkindern gestützt. Bereits wenige Monate alte Säuglinge reagieren auf unterschiedlichen Gesichtsausdruck passend, etwa auf Lächeln, auf das Öffnen des Mundes und das Herausstrecken der Zunge.
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Abb. 78: Die 10 Monate alte Antje antwortet auf das Herausstrecken der Zunge durch die Mutter in gleicher Weise. Ausführlich hat sich Ekman mit der Frage beschäftigt, wie weit ein Gefühlsausdruck vorgetäuscht werden kann und wie sich Lügen entlarven lassen. Häufig werden Angst und Schuldgefühle kaschiert, meistens durch ein unechtes Lächeln. „Emotionen, die durch ein Lächeln maskiert werden, lassen vielleicht immer noch die gefühlte Emotion in den oberen Augenlidern, den Augenbrauen und der Stirn ‚durchsickern‘.“99 Oft ist der aufgesetzte Gesichtsausdruck asymmetrisch. Besonderes Augenmerk legt Ekman auf „Mikroausdrücke“ von ca. 1/10 Sekunden Dauer, in denen sich angeblich die „wahre“ Emotion zeigt, die der Laie im Allgemeinen aber nicht bemerkt. Angeblich bilden sie für den Kennerblick „Hot Spots“ in der Beurteilung, bieten aber, wie Ekman selbstkritisch bemerkt, keine diagnostische Sicherheit. Sie werden selbst schon anhand eigener Fotos bemerkt haben, wie oft sich in Schnappschüssen von Gesichtern Momente ergeben, die dem übrigen Kontext nicht entsprechen. Solche Fotos frieren in der Regel zufällige Bewegungsmomente ein; sie bieten keine Basis für weitreichende Interpretationen. Im Gegensatz zu seinem Buch von 1988, in dem Ekman zu den Gefühlen selbst wenig zu sagen hat (der Behaviorismus macht sich noch deutlich bemerkbar), geht er in seinem Buch von 2010 darauf ausführlich ein. Er bemerkt etwa zu dem Erlebnis bei höchster Gefahr: „Ist die Gefahr vorüber, fühlen Sie noch immer die Angst in sich brennen. Es dauert 10 bis 15 Sekunden, bis diese Gefühle nachlassen, und man kann nicht viel tun, um diese Phase abzukürzen.“100 Hat ihn ursprünglich der Aspekt der Universalität interessiert, widmet er sich später besonders den Unterschieden. „Wir alle erleben Emotionen, aber wir alle erleben sie anders.“101
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Cliffhanger an der Schwebebahn Ich bin vier Jahre alt, als meine Mutter mit mir den Wuppertaler Zoo besuchen will. Ich freue mich auf die Fahrt mit der Schwebebahn, die haushoch über Fluss und Straßen fährt. In der Nähe des Hauptbahnhofs eilen wir die Metallstufen zur Haltestation der Schwebebahn hinauf, wo der Zug abfahrbereit steht. Schon bewegen sich die Schiebetüren. Meine Mutter springt in den hinteren Wagen und will mich hinter sich herziehen. Doch wir werden durch die sich schließende Tür getrennt. Ich schreie. Irgendwie gelingt mir das Unmögliche: An der fast glatten Außenfläche kralle ich mich mit den Fingernägeln an der Fensterleiste an. So hänge ich an dem Wagen, als er losfährt. Ich brülle in panischer Angst, meine Mutter schreit, ich sehe ihr entsetztes Gesicht hinter der Scheibe. Ich will zu ihr, will, dass die Tür aufgeht, aber ich bin ausgesperrt. Der Wagen fährt über die Bahnsteigkante hinaus, und ich hänge über dem Abgrund. Ich höre die durchdringenden Rufe der Passagiere. Endlich reagiert der Zugführer. Er bremst die Schwebebahn ab, vorsichtig, ein Ruck hätte mich in die Tiefe geschleudert. Langsam fahren die Wagen zurück in die Station. Die Tür öffnet sich und ich springe weinend in die Arme meiner Mutter. Erst viel später begreife ich, in welcher Gefahr ich gewesen bin. Meine panische Angst galt nicht dem Abgrund unter mir. Ich schrie vor Angst, weil ich ausgesperrt war und nicht zu meiner Mutter konnte.
Ekman beschreibt Gefühl und Ausdruck, allerdings ohne zu klären, warum ein bestimmtes Gefühl mit einem bestimmten Ausdruck verbunden ist. Hier verweist er lediglich auf noch unverstandene Hirnvorgänge. So bleibt die Frage: Was ist das gemeinsame Dritte, das das seelische mit dem körperlichen Geschehen verbindet? Hierzu sind Ansätze in der Gestaltpsychologie zu finden, die sich aus der Beobachtung heraus entwickelt hat, dass unterschiedlich Beschaffenes dennoch gestaltgleich (isomorph) sein kann. Den Zusammenhang von Gefühl und Ausdruck sieht z. B. Wolfgang Metzger darin, dass beide in Struktur und Dynamik verwandt sind.102 Bei Trauer etwa schließt man sich gefühlsmäßig ab, der Lebensmut ist erschöpft. Dem entsprechen das körperliche Sich-Hängenlassen und der verschlossene Gesichtsausdruck. Bei Freude fühlt man grenzenlose Offenheit, was sich in Mimik und Gestik unmittelbar zeigt – man könnte die Welt umarmen. Bei Wut spürt man ein innerliches Brodeln und Kochen, das nach Möglichkeiten sucht, sich auszuagieren und sich äußerlich in gebremsten Zeichen von Aggressivität zeigt. Bei Ekel und Verachtung spürt man die Aversion, die sich im Verengen von Mund und Augen und in Abwehrhaltung äußert.
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Abb. 79: Die siebenjährige Antje hat das linke Bild gezeichnet. Vater: „Wie fühlt sich das Mädchen?“ „Fröhlich!“ „Kannst du auch ein trauriges Mädchen malen?“ Ohne Zögern zeichnet Antje das rechte Bild. Sie verwendet nicht nur die bekannten Mundschemata und Tränen. Bei dem fröhlich seilspringenden Mädchen ist alles nach oben und außen gerichtet: die Arme, die Finger (die doch eigentlich das Springseil halten), die fliegenden Zöpfe, die Unterkante des Kleides und sogar die Fußspitzen. Beim traurigen Mädchen ist alles nach unten gesenkt und verschlossen, sogar die Füße haben sich zusammengezogen, die Augen sind klein und das Muster des Kleides ist auf einen schwarzen Punkt reduziert. Samy Molcho hat sich nach einer internationalen Karriere als Pantomime und Regisseur der Analyse und Förderung von Körpersprache gewidmet und vertritt sie als Fach in Wien als Professor. Er bezeichnet sie als „unsere erste Sprache“, die leider gegenüber dem Lernen von Verbalsprachen vernachlässigt wird. Sie entwickelt sich beim Kind durch Interaktionen innerhalb der Familie, im Kreis von Jugendlichen nach einem eigenen Code, zu dem auch die Körpersignale gehören, mit denen sie sich von den Standards der Erwachsenen absetzen. Körpersignale sind auch Spiegel der sozialen Rollen im Erwachsenenleben und weisen entsprechende Unterschiede auf. Samy Molcho vermittelt keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, er will vielmehr bewusst machen, wie wichtig der Körper für das Selbst ist und wie nach seiner Erfahrung Körpersprache funktioniert. In jedem menschlichen Miteinander lesen wir – meistens unbewusst – die Signale des Gegenübers und stellen unser eigenes Verhalten darauf ein. Die Körperhaltung, die Art, wie jemand steht, geht oder sitzt, sagt etwas über seine Befindlichkeit, sein Selbstgefühl oder seine Absichten aus. Gegenüber dem Gesagten erfüllen Gesten nicht nur die Funktion der Untermalung und Bekräftigung, sondern haben allein schon deshalb besondere Aussagekraft, als sie im Allgemeinen weniger der bewussten Kontrolle unterliegen als das gesprochene Wort. Wenn etwa das Gesagte Entgegenkommen behauptet, aber die Gestik Abwehr signalisiert, ist die Körpersprache valider. Die Gesamtheit des sozialen Miteinander ist 211
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erfüllt von Körpersignalen, Zeichen des Vertrauens oder der Ablehnung, der Zuwendung oder Abwendung. Vieles ist unmittelbar verständlich. Fehldeutungen und entsprechende Probleme ergeben sich leicht aus entwicklungsbedingten oder kulturellen Unterschieden. In südlichen Ländern redet man oft mit weit geöffneten Armen, in nördlichen bleiben die Oberarme meistens am Körper. Kopfschütteln bedeutet in südosteuropäischen Ländern nicht Verneinung, sondern Bejahung. Die Faust mit aufwärts gerichtetem Daumen, bei uns als Zeichen der Anerkennung verstanden, wird andernorts als obszöne Geste verstanden. Gleiches gilt für den Kreis, der von Daumen und Zeigefinger gebildet wird, der sich übrigens nur wenig vom „Pinzettengriff“ unterscheidet, mit dem darauf hingewiesen wird, dass es auf Feinheiten ankommt. Zahlreiche Kulturgebärden führt auch D. E. Zimmer auf, der im Übrigen vor allem biologische Ursprünge menschlichen Verhaltens betont.103
Samy Molcho Samy Molcho, der in Tel Aviv geboren ist und in Österreich lebt, veranstaltet in der Nähe von Köln ein Seminar über Körpersprache. Als international prominenter Pantomime realisiert er das Thema ganz unmittelbar und vermittelt es auch verbal mit Witz. „Körpersprache ist der Handschuh der Seele“, sagt er. Auch ich bin unter den Teilnehmern und habe Vergnügen an dem Vortrag und seiner Performance, bei der er die Anwesenden stets einbezieht. Vorführung und Deutung gehen Hand in Hand. Anschließend komme ich mit dem sympathischen Menschen bei einem Glas Wein ins Gespräch und diskutiere mit ihm über seine Interpretationen. Als Psychologe, sage ich, studiere ich die Fachliteratur, mache Beobachtungen, entwickle Theorien, entwerfe und veranstalte Experimente, um Erkenntnisse zu gewinnen, um sie dann eventuell zu publizieren. Ich frage ihn, wie er zu seinen Erkenntnissen kommt. Denn weder sein Seminar noch seine Bücher, die zu Bestsellern wurden, lassen das erkennen. Samy Molcho schmunzelt unter seiner lockigen Haarpracht. „Ich beobachte mein Leben lang Menschen. Wie sie sich verhalten, wie sie sich bewegen und kommunizieren. Das ist meine Leidenschaft. Das ist die Quelle meines Berufs als Pantomime und meiner Wissenschaft.“
Samy Molcho nimmt wie D. E. Zimmer mehrfach Bezug auf Raum und Raumsymbolik. Nirgends zeigt sich bei aller kulturellen Unterschiedlichkeit der Gegenpol Universalität so deutlich wie hier. Ihre Wurzeln sind bereits im Revierverhalten, im Imponier- und Drohverhalten bzw. bei Demutsgesten von Tieren zu sehen. Verteidigung des beanspruchten Territoriums gibt es bei Insekten, Fischen, Vögeln und Säugetieren. Wer unerlaubt in das beanspruchte Revier eindringt, wird als Rivale angesehen und entsprechend behandelt. Entsprechendes gilt im 212
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Sozialverhalten der Menschen. Man muss dabei nicht gleich an internationale Waffengänge und Bandenkriege denken. Viele zwischenmenschliche Auseinandersetzungen finden in symbolischer Form über körpersprachliche Signale statt. Der Raum, den ein Mensch für sich beansprucht, endet nicht an der Körperoberfläche. Jeder trägt wie ein unsichtbares Schneckenhaus um sich herum Distanzzonen, die andere Personen zu respektieren haben. Der Anthropologe E. T. Hall unterschied vier Zonen: die intime, die persönliche, die soziale und die öffentliche Distanz, die bis etwa 0,6 m, 1,20 m, 3 m bzw. darüber hinaus reichen. Näher als in den jeweiligen Grenzbereich werden nur „nahestehende“ Personen eingelassen, andernfalls wird die Nähe als unangenehm empfunden, und es kann zu Konflikten kommen. Das joviale Schulterklopfen wirkt oft anmaßend (jovial heißt wörtlich „wie Jupiter“!), auch die Aufforderung zum Schunkeln kommt nicht unbedingt so an, wie sie gemeint ist, denn beides dringt unmittelbar in die Intimsphäre ein, rührt an Selbstwert und Selbstbestimmung. Es gibt Unterschiede in den Distanzzonen, die in der Person, in der Situation oder in der Kultur begründet sind. In der Pubertät werden die zugelassenen Personen neu definiert, die Eltern sind in der engsten Zone nicht mehr erwünscht. In südlichen Ländern sind die Distanzzonen kleiner, in nördlichen größer. Verletzt eine Person solch eine unsichtbare Grenze, ist sie „distanzlos“. Typische Reaktion darauf ist das Heben des Kopfes und Anstarren, Ausgrenzung durch den Ellenbogen, Abwendung, demonstratives Zurückweichen, Flucht oder offenes Entgegentreten bis hin zu aggressivem Verhalten. Neben der Distanz spielt die Größe eine Rolle. Schon Darwin bemerkte zum Ausdruck bei Tieren: „Kaum irgendeine Bewegung des Ausdrucks ist so allgemein wie das unwillkürliche Aufrichten der Haare, Federn und anderer Hautanhänge; denn durch drei große Wirbeltierklassen geht es gemeinsam durch … Die Bewegung dient dazu, das Tier seinen Feinden oder Nebenbuhlern größer und furchtbarer erscheinen zu lassen.“104 Im Sinne einer Drohgebärde ist auch die Aufrichtung des Körpers bei vielen Tierarten zu beobachten. Im Gegensatz dazu ist bei der Angst (einem Wort, das wie die „Enge“ im lateinischen angustia wurzelt) ein SichKleinmachen zu beobachten. Breitbeiniger Stand und ausladende Gesten beim Menschen signalisieren wie eine laute Stimme nicht nur raumgreifenden Anspruch, sondern vor allem soziale Dominanz. Vorgesetzte werfen nicht selten den Kopf in den Nacken, um dem Gegenüber mit einem abwärts gerichteten Blick zu signalisieren, wer der Untergebene ist, auch wenn sie körperlich kleiner sind. Demgegenüber liegen beim Demutsverhalten die Arme am Körper, die Beine sind aneinandergestellt, der Kopf ist gesenkt, die Augen nach oben gerichtet, die Stimme leise. „‚Schmächtig‘ zu sein ist ‚schmachvoll‘; ein ‚Großer‘ ist, wer sich nicht ‚kleinkriegen‘ lässt,“ sagt D. E. Zimmer.105 Wo die Natur ungerechte Voraussetzungen geschaffen hat, wird nachgeholfen. High Heels helfen Frauen, den biologischen Größenunterschied der Geschlechter von ca. 14 cm auszugleichen, für Männer gibt es Schulterpolster, die eine imponierende Ausstattung in Brustweite 213
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und Oberarmmuskulatur zumindest vortäuschen. Mit Kronen, Tiaren und Federkopfschmuck haben weltliche und geistliche Herrscher sich seit jeher selbst vergrößert. Der Küchenchef trägt die größte Haube. In vielen Kulturen fand und findet sich Raumsymbolik in ritualisierter Form. König und Kaiser saßen auf dem Thron, der sie räumlich und damit auch sozial über die Untergebenen erheben sollte. Der Chefsessel ist der größte. Bei den alten Germanen wurde der neu gewählte Häuptling auf den Schild gehoben. Dass Betende sich hinknien oder auf den Boden legen, ist eine uralte Demutsbezeugung gegenüber Gott und Herrschern. Interessant ist, dass die weltweite Entwicklung der Regierungsformen hin zur Demokratie auch die raumsymbolischen Zeichen erfasst hat. Könige und Königinnen haben mit ihren Machtbefugnissen auch ihre Kronen abgelegt und sind bis auf Ausnahmen von ihrem Thron gestiegen. Wenn viele Pastoren nicht mehr von der Kanzel predigen, sondern von der Ebene des Altars aus, wollen sie damit zeigen, dass sie sich nicht über die Gemeinde stellen, sondern als Gleiche unter Gleichen gelten wollen, selbst wenn sie dadurch weniger gut zu sehen und zu hören sind. Papst Paul VI legte 1964 die Tiara ab, weil er nicht mehr den Anspruch eines Überregenten verfolgte, sondern sich mit den Armen solidarisierte. Nachfolgende Päpste verzichteten ebenfalls darauf und tragen nur noch den schlichten weißen Pileolus. Unsere Sprache ist voll von raumbezogenen Begriffen, die soziale oder geistige Verhältnisse meinen: hochgestellte Persönlichkeit, niederes Volk, Hochkultur und Subkultur, hochgemut und niedergeschlagen, überlegen und unterlegen, Vorgesetzter und Untergebener, Erhebung und Unterdrückung, Vorteil und Nachteil, vorgestellt und zurückgesetzt, Überzahl und Unterzahl, Ausgrenzung und Inklusion. Räumliche Orientierung gehört zum Grundbestand der Kognition aller Menschen, ja zu den Überlebensfähigkeiten aller Lebewesen. Das macht den Raumbezug von Gesten, Riten und Begriffen so universal verständlich. Das zeigt sich auch in der Kunst. Ob im alten Ägypten, im alten China oder bei den Bakaïrí in Zentralbrasilien – stets wurden höhergestellte Personen größer dargestellt als Untergebene. Im Mittelalter gingen die Stifter von Heiligenbildern oft in die Darstellung ein, aber regelmäßig kleiner als die Figuren der Heiligen. Diese „Bedeutungsperspektive“ zeigt sich auch in Kinderzeichnungen. Kinder zeichnen Personen, die ihnen wichtig sind, regelmäßig größer als andere. Und sie lassen erkennen, welche Personen innerhalb der Familie sie als einander „nahestehend“ empfinden. Größe ist oft auch ein Kriterium bei der „geschlechtlichen Zuchtwahl“, wie es Darwin genannt hat, einem wichtigen Mechanismus der Evolution neben dem bekannten Merkmal der Fitness. Bei der sexuellen Selektion entscheiden häufiger die Weibchen als die Männchen nach bestimmten Kriterien, welchen Partner sie für ihre Nachkommen wählen. Neben dem Kriterium Größe gibt es gelegentlich auch andere. Bei Paradiesvögeln entscheiden sich die Weibchen für das Männchen, das am prachtvollsten gefiedert ist. Dadurch entwickelten sich die 214
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Männchen in Richtung auf ein so auffälliges und buntes Gefieder, dass sie für Raubtiere leicht zu erspähen wurden. Die Laubenvögel, Nachkommen der frühen Paradiesvögel, schlugen mit Erfolg eine andere Richtung ein: Das Gefieder der Männchen nahm eine sichere Tarnfarbe an, dafür begannen sie, aufwändige und farbige Lauben zu bauen. Weil das den Weibchen gefiel und sie die geschickteren Partner wählten, wurden die Arrangements immer aufwändiger im Design. Nicht selten stehlen die Männchen Accessoires aus den Lauben von Rivalen oder demolieren diese. Die Pfauenmännchen müssen sich dagegen mit lästig langen Schwanzschleppen herumschlagen, weil die Weibchen nicht nur das farbenprächtigste, sondern auch das größte Rad wählen. Das Kriterium Größe hat bei manchen Tierarten die Männchen bis an die Grenze dessen geführt, was sie bewältigen können. Für den Riesenhirsch, der in der letzten Eiszeit ausstarb, war das bis zu 4 m breite Geweih nur noch eine Last. Interessant ist die Frage, was sich in diesem Zusammenhang beim Menschen veränderte, seit sich seine Linie vor etwa sieben Millionen Jahren von den übrigen Primaten getrennt hat. Der aufrechte Gang ist das bekannteste Unterscheidungsmerkmal. Er hat die Hände frei gemacht nicht nur zum Hantieren und Herstellen, sondern auch zu einer differenzierten Gestik etwa für die lautlose Verständigung bei der Jagd. Die Augen haben sich dahingehend verändert, dass Pupille und Iris sich vom umgebenden Weiß sehr viel deutlicher abheben als etwa bei den Schimpansen, bei denen der Farbunterschied viel geringer ist. Das half dem Menschen, die Sprache des Blicks zu der Höhe zu entwickeln, die uns heute selbstverständlich ist. Dadurch können wir bspw. präzise erkennen, ob uns jemand genau anblickt, unserem Blick ausweicht oder an uns vorbeischaut – wichtige Signale in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Abb. 80: Stielaugenfliege in 45 Millionen Jahre altem Bernstein. Die Stielaugenweibchen bevorzugen bei der Partnerwahl stets Männchen mit dem weitesten Augenabstand, obwohl dieser keinen Vorteil für die Fitness hat. Durch die weibliche Zuchtwahl gibt es inzwischen Arten, bei denen der Augenabstand der Männchen mehr als doppelt so groß ist wie die Körperlänge. 215
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Schließlich sind die sekundären sexuellen Merkmale nicht zu vergessen. Der aufrechte Gang brachte mit sich, dass das für empfängnisbereite Affenweibchen so typische geschwollene Hinterteil nur noch hinderlich war und sich zurückbildete. Stattdessen formte sich, worauf der Zoologe Desmond Morris 1968 hingewiesen hat, etwas anderes als geschlechtsspezifisches Merkmal aus: die weibliche Brust. Der Philosoph Richard David Precht macht sich über diese Annahme lustig, hat aber keine bessere Erklärung für die auffällige Veränderung anzubieten.106 Unsere ererbten biologischen Eigenschaften können wir uns halt nicht aussuchen und die damit verbundenen Neigungen ehrlicherweise nicht leugnen. Bei Affen sind die Brüste außerhalb der Stillzeit unauffällig. Die Brüste der Frau dagegen werden nicht nur von den zur Stillzeit aktivierten Milchdrüsen gebildet, sondern zum größten Teil von Binde- und Fettgewebe, das ihnen ihre prägnante und dauerhafte Form gibt. Das ist biologisch einzigartig. Als Ursache für ihre Ausprägung, die sie mit der Geschlechtsreife erhalten, ist die sexuelle Selektion durch den Mann verantwortlich zu machen. Daraus erklärt sich auch die verstärkte sexuelle Reaktion vieler Männer auf überoptimale Ausprägungen, die jenseits dessen liegen, was für die Frau praktisch ist. Und was lässt sich zum Erscheinungsbild der Männer und seiner Wirkung sagen? Nach wie vor gibt es Frauen, die Körpergröße, breite Schultern und imponierende Muskulatur samt Sixpack bevorzugen, wenn es auch kein Mann mit einem Gorillamännchen aufnehmen kann, der etwa doppelt so groß ist wie seine Weibchen. In einem Punkte allerdings fallen die Menschenmännchen aus dem Rahmen: Sie haben den längsten Penis unter den Primaten. Der mächtige Silberrücken bringt es im Durchschnitt auf lediglich 3 cm in erigiertem Zustand, der Schimpanse auf das Dreifache, der Mann auf das Vierfache. Möglicherweise war auch hier mit Beginn des aufrechten Gangs sexuelle Selektion am Werk, lange bevor der Lendenschurz erfunden wurde und anderen Qualitäten des Mannes eine Chance bot. Zur zeitlichen Einordnung sei angemerkt, dass der aufrechte Gang bei unseren schimpansenähnlichen Vorfahren nach Fossilfunden in Kenia vor 6–8 Millionen Jahren einsetzte. Darüber, ab wann von „Menschen“ gesprochen werden kann, sind die Ansichten in der Anthropologie geteilt. Sie schwanken zwischen 200 000 und 2 Millionen Jahren. Die frühesten uns überlieferten Höhlenmalereien und Kleinplastiken entstanden in Europa und im fernen Osten vor 45 000 Jahren. Die sekundären Geschlechtsmerkmale sind in ihnen sehr pointiert dargestellt. Dies weist darauf hin, dass sie sich schon ausgebildet hatten, bevor die menschliche Kultur ihren Anfang nahm. Mit der antiken Plastik begann eine Kultivierung des Schönheitsideals, das in Bezug auf den weiblichen und den männlichen Körper auch jenseits der Sexualfunktionen bis heute seine Wirkung zeigt.
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Abb. 81: Ein unbekannter Künstler schuf die „Venus von Milo“ im 2. Jahrhundert v. Chr. aus Marmor der Insel Milos, wo sie 1820 auch gefunden wurde. Louvre, Paris. Jahrhunderte lang prägte der Hellenismus das weibliche und das männliche Schönheitsideal. Kurz gesagt: Gefühle und Stimmungen zeigen sich in Mimik und Gestik, besonders unverstellt bei Kindern. Die meisten Menschen sind dafür empfänglich, Autisten haben dagegen Probleme mit dem Verständnis. Grundemotionen wie Freude, Ärger, Ekel und Trauer sind universell und werden allgemein verstanden, sind aber oft kulturell überformt, zudem gibt es regional gesonderte Zeichen. Zum Verständnis von Ausdruck tragen „Spiegelneurone“ bei. In der Körpersprache spielt Raumsymbolik eine wichtige Rolle, die universell verstanden wird.
Literatur Damasio 1996, 2017. Darwin 1872. Darwin 1874. Ekman 1988. Jaspers 1959. Molcho 2013.
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Erste Erfahrungen mit einem neuen Lebensrätsel Mit neun Jahren bin ich zum ersten Mal verliebt. Ich entdecke sie beim Schlittenfahren, unübersehbar mit ihrem roten Mäntelchen mit einem teuren Fellkragen. Sie ist ein schwarzlockiges Mädchen mit dunklem Teint und mit großen schwarzen Augen. Sie schaut mich nur einmal an, und es überläuft mich. Ich bin gebannt. Seit Jahren spiele ich mit der kleinen blonden Helga, die so komisch riecht, habe sie sogar schon mit Interesse einmal nackt gesehen, aber das jetzt ist etwas ganz anderes. Ein unwiderstehlicher Drang hat mich überfallen, die Nähe dieses fremden Mädchens zu suchen, ein Gefühl, das mich zu ihr zieht, schön und doch schmerzlich, weil sie mich weiter nicht beachtet. Ich laufe hinter ihr her, bleibe aber immer auf Abstand, weil ich gar nicht weiß, was ich sagen und tun soll. Ob sie auch so seltsam riecht? Ich ziehe den Schlitten den Hang hinauf, sause durch den stiebenden Schnee in den Bornekamp, immer in Sichtweite mit ihr, über den Buckel, wo der Schlitten durch die Luft fliegt und wo ich gespannt bin, ob auch sie sicher landet. Als es dunkel wird, geht sie fort, dahin, wo die alten Villen mit den großen Vorgärten stehen. Da gehöre ich nicht hin, ich schleife den Schlitten hinter mir her auf dem Weg zu den balkonlosen Mehrfamilienhäusern und kann an nichts anderes denken als an sie. Am nächsten Tag warte ich an der Schneepiste darauf, sie wiederzusehen, suche sie, vergeblich. Ich bin traurig. Ich sehe sie nie wieder. Aber ihr schönes fremdartiges Gesicht hat sich mir eingebrannt, ich werde es nicht mehr los. Mit elf Jahren mache ich eine aufregende Beobachtung. Ich bin im Stadtpark und habe einen Schuhkarton mit Löchern unterm Arm, um Maikäfer zu sammeln. Die Luft ist erfüllt von Vogelgeflatter und Käfergebrumm. Es ist ein unglaubliches Maikäferjahr. Die Wege sind voll von ihren Deckflügeln, die jedes Mal herunterfallen, wenn ein Vogel sich einen solch fetten Brocken im Flug schnappt, und knirschen, wenn man drauftritt. Auf einem Zweig bemerke ich ein Maikäferpärchen, das die Welt um sich herum vergessen zu haben scheint. Jedenfalls machen die beiden keinerlei Anstalten zu fliehen, als ich mich nähere. Das Männchen liegt auf dem Rücken des Weibchens und umklammert mit seinen Beinen dessen Leib. Am meisten aber fasziniert mich sein Penis, wohl halb so lang wie sein ganzer Körper, den er hinten heraus in enger Krümmung langsam in das Hinterteil des Weibchens hineinschiebt. In dieser Stellung verharren die beiden minutenlang. Ich bin fasziniert. Mir erscheint die Situation fast heilig. Ich will die beiden nicht weiter stören, sie kommen nicht in den Karton. Jahre später in der Tanzschule. Damenwahl, eine aufregende Sache. Beim langsamen Walzer kommt es oben und unten unweigerlich zum Körperkontakt mit der vollbusigen Tanzpartnerin. Als sich bei mir eine deutliche Reaktion einstellt, ist mir das furchtbar peinlich, umso mehr, als sie das zu amüsieren scheint. Und dann verlangt der
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ahnungslose Tanzlehrer noch, dass die Kavaliere ihre Damen nachhause geleiten, zu ihrem Schutz …
27 Sexualität – haben wir eine Wahl? Anders gefragt: Woher kommt die eigene Sexualität, und welchen Sinn hat Sex? Wir kommen alle als Siegertypen zur Welt. Mit dem ersten Preis eines Massenwettrennens, neben dem ein New York Marathonlauf mit seinen 50 000 Teilnehmern verblasst. Ein Spermaerguss enthält ca. 500 Millionen Spermien. Nur eins davon erreicht im Wettlauf das Ziel, die Eizelle, danach macht sie dicht und fängt an, sich zu teilen. Jeder von uns ist das Spitzenergebnis eines solchen Superevents. Warum überhaupt Sex, diese aufregende, aber auch umständliche und risikoreiche Form der Fortpflanzung? Das Finden von Sexualpartnern ist bei Pflanzen, Tieren und Menschen ein aufwändiges, energiezehrendes und oft vergebliches Unterfangen. Die biologischen Vorgänge bis hin zur molekularen Ebene sind hoch kompliziert und fehleranfällig. Eifersucht ist eins der häufigsten Mordmotive. Die meisten Mörder waren mit ihrem Opfer verheiratet. Pro Jahr werden in Deutschland ca. 70 000 Sexualdelikte gezählt. Bis vor 600 Millionen Jahren gab es nur die Vermehrung durch ungeschlechtliche Zellteilung, wie sie heute noch bei Einzellern üblich ist, aber auch bei manchen Pflanzen und Tieren vorkommt. Viele Pflanzen vermehren sich durch Ableger, manche Ringelwürmer spalten Körpersegmente ab, aus denen sich Nachkommen bilden. Sie sind untereinander und mit dem Mutterorganismus genetisch identisch wie Klone. Bei jedem Organismus enthält fast jede Zelle den kompletten Chromosomensatz und damit die Bauanweisung für einen neuen Organismus. Theoretisch könnte man einen kompletten Menschen aus jeder Schuppe klonen, die täglich zu tausenden von unserer Haut herabrieseln. Praktisch geschieht das nicht, zum Glück passiert etwas anderes. Aber warum? Welche Vorteile bietet Sexualität, die alle damit verbundenen Probleme aufwiegen? Jeder Mensch ist ein eigenes einzigartiges Individuum. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Erfahrungen, die jeder macht, sondern zuallererst an den unterschiedlichen Genen. Auch bei Geschwistern sind die Gene von Vater und Mutter jeweils anders verteilt (außer bei eineiigen Zwillingen). Wie geschieht das? Die Körperzellen enthalten gewöhnlich einen diploiden, also doppelten Satz von Chromosomen, die das von Vater und Mutter übernommene Erbgut enthalten. Bei der Bildung der Geschlechtszellen in den Eierstöcken bzw. in den Hoden wird dieser Satz in der Meiose (Reifeteilung) reduziert, damit später durch die Befruchtung wieder genau ein diploider Satz zustande kommen kann. Danach teilt sich das befruchtete Ei durch den Vorgang, der als Mitose bezeichnet wird. An der Weitergabe von Genen sind gewissermaßen immer drei Generationen beteiligt. Um das zu verstehen, muss man sich die Meiose Abb. 82 genauer anschauen. Die meisten 219
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Körperzellen enthalten 2 × 23 Chromosomen, wobei ein Satz von der Mutter und der andere vom Vater stammt, also von Großeltern des künftigen Kindes. Einander entsprechende Chromosomen des diploiden Satzes heißen homolog. Bei der Meiose lagern sich homologe Chromosomen zunächst eng aneinander. Dabei tauschen beide Seiten durch crossing over untereinander Abschnitte aus. Danach werden in einer ersten Zellteilung die homologen Chromosomen getrennt. Welcher Paarling jeweils in die eine oder die andere Zelle wandert, ist zufällig. Dadurch werden die Gene aus der vorangegangenen Generation gemischt, zusätzlich zu den Neukombinationen, die sich aus dem crossing over ergeben. Im Zuge einer zweiten Zellteilung werden die Chromosomen jeweils in zwei Chromatiden aufgespalten, sodass vier „haploide“ Zellen entstehen, in den Hoden als Spermien. Bei der Reifeteilung in den Eierstöcken ist der Vorgang gleich mit dem Unterschied, dass statt vier Geschlechtszellen nur eine das gesamte Zellplasma auf sich vereinigt und zum Ei wird. Die übrigen drei sterben ab.
Abb. 82: Schema der Meiose (Reifeteilung) in den Hoden. In einer Körperzelle besteht ein diploider (zweifacher) Chromosomensatz. Zunächst verdoppeln sich alle Chromosomen. Daraus bilden sich über zweifache Teilung vier Spermien. In der Körperzelle sind exemplarisch zwei der 23 Chromosomenpaare und zwei crossing over (Austausch von Abschnitten) dargestellt. 220
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Abb. 83: Befruchtung der Eizelle und erste Teilung. Man erkennt in den Farben der Darstellung die Chromosomen der vier Großeltern, modifiziert durch crossing-over. Durch den Mix bei der ersten Reifeteilung, durch das crossing over und durch die Genkombination bei der Befruchtung ist dafür gesorgt, dass aus jedem Menschen schon in genetischer Hinsicht ein einzigartiges Individuum wird. Durch die Befruchtung der Eizelle tragen die Gene der Mutter und des Vaters jeweils die Hälfte zu den neuen Erbanlagen bei. Das heißt aber nicht, dass die Gene der Großeltern zu jeweils genau ¼ vertreten sind. Der geschilderte Vorgang macht es möglich, dass ein Großelternteil zwischen 0 und 50 % beiträgt, je nach der Chromosomenverteilung bei der ersten Reifeteilung. So erklärt sich, dass die Ähnlichkeit zwischen Großeltern und Enkeln sehr verschieden ausfallen kann. An der Evolution des Lebens sind zwei Vorgänge wesentlich beteiligt: Mutation und Selektion. Mutationen können z. B. bei der Zellteilung entstehen. Für gewöhnlich geschieht die Kopie der DNA-Stränge in den Chromosomen durch eingebaute Kontrollen überaus korrekt. Bei einer Million Zellteilungen ist nur mit einer Abweichung zu rechnen. Die meisten wirken schädlich bis tödlich. Eine von 100 Mutationen ist neutral oder bedeutet sogar eine Verbesserung. Solch eine Mutation, die die Fitness steigert, braucht wiederum etliche Generationen, um sich durchzusetzen. Natürlich werden die Chancen dadurch erhöht, dass eine Population aus vielen Individuen besteht, die sich parallel fortpflanzen. Dies wird uns in Form der immer neuen Varianten des Corona-Virus seit 2019 weltweit vorgeführt. Dennoch war Evolution bei ausschließlich ungeschlechtlicher Vermehrung ein zäher Prozess, der den weitaus größten Zeitraum der 3,77 Milliarden Jahre ausmachte, der seit der Entstehung des ersten Lebens auf der Erde vergangen ist. 221
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Geschlechtliche Fortpflanzung bedeutete demgegenüber eine Revolution, die der Evolution enormen Auftrieb gegeben hat. Sexualität ist eine fruchtbare Erfindung der Natur, die die Prinzipien Mutation und Selektion um das Prinzip „Rekombination“ bereichert. Die meisten menschlichen Erfindungen, die tagtäglich patentiert werden, bestehen aus Neukombinationen von bereits Existierendem. In diesem Sinne, wenn auch mittels trial and error und nicht infolge systematischer Planung, geht es bei der sexuellen Fortpflanzung darum, immer neue Kombinationen von Genen und Genabschnitten zu bilden und sie dem Wettbewerb um die passendste Fitness in der jeweiligen Umwelt auszusetzen. Dabei kommt es vor, dass besonders vorteilhafte Gen-Kombinationen einzelne Ausnahmetalente ermöglichen. In den nachfolgenden Generationen lösen sie sich aber teilweise wieder auf. Goethes und Mozarts Söhne konnten nicht so brillieren wie ihre Väter. Die Natur verfolgt keine stringente Optimierungsstrategie wie etwa ein Züchter oder Ingenieur. In der Bilanz hat sich aber das Prinzip einer ständigen Neukombination der Gene bewährt, insbesondere, weil es sich ja nicht um beliebige Molekülbildungen handelt, sondern um Gene, die sich in gewissem Grade bis dahin bereits in anderen Kombinationen bewährt haben. Neue Mutationen, wie sie seit Beginn des Lebens etwa durch die natürliche Strahlung aus dem Erdinnern hervorgerufen werden, bleiben als Möglichkeit weiterhin bestehen, sind aber ein seltenes Ereignis. In den letzten Jahren hat die Epigenetik an Bedeutung gewonnen. Sie hat zahlreiche Befunde dafür geliefert, dass umwelt-, stress- und lernabhängige Variablen wie Schalter wirken können, die einzelne Gene aktivieren und deaktivieren, durch chemische Bausteine an kleinen oder größeren DNA-Abschnitten. Sie bleiben lebenslang wirksam und können – das ist besonders spannend – u. U. auch an die Nachkommen weitergegeben werden.107 Damit wird auch der seit Darwin oft verlachte Jean-Baptiste Lamarck teilweise rehabilitiert, der die Vererbung erworbener Merkmale behauptete. Die Klärung der Frage, wie bedeutsam diese Möglichkeit beim Menschen ist, steht noch aus. Die Begünstigung der Nachkommenschaft durch sexuelle Fortpflanzung lässt sich an einem konkreten Beispiel festmachen. Hinsichtlich der Fitness denkt man oft an körperliche Stärke, Intelligenz, an Ernährung oder klimatische Anpassung. Die Fähigkeit, sich gegen wilde Tiere verteidigen zu können, ist in der Neuzeit in den Hintergrund getreten. Die Corona-Pandemie 2020 hat der Menschheit aber vor Augen geführt, welche naturgegebene Gefahr Mikroorganismen darstellen können, nämlich Viren, Bakterien und Parasiten. In jedem Menschen gibt es mehr Mikroorganismen als eigene Körperzellen. Die meisten sind neutrale oder nützliche Begleiter, viele aber gefährden unsere Gesundheit. Dagegen hilft das Immunsystem des Körpers, das sehr flexibel auf unerwünschte Eindringlinge reagiert, sie in einem unaufhörlichen Kleinkrieg erkennt und vernichtet. Überraschenderweise spielt Sex hierbei eine große Rolle. Das fängt schon beim Küssen an. Auch wenn kaum ein Paar daran denkt: Bei jedem Kuss werden tausende von Mikroorganismen ausgetauscht. Wenn es sich dabei nicht um eine hohe Dosis von Erregern einer schweren Infektionskrankheit handelt, 222
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kommt das den Empfängern zugute. Denn ihr Immunsystem erhält die Chance, Antikörper zu bilden und damit zusätzliche Immunität zu schaffen. Vor allem aber die Kinder des Paares können profitieren, gesetzt den Fall, die Eltern ergänzen sich in ihrer Immunabwehr. Hierfür hat die Natur auf raffinierte Weise vorgesorgt, und zwar dadurch, dass solche Eltern zusammenfinden, die sich gut riechen können.
Abb. 84: Parasitische Milbe an einer Tanzfliege in 100 Millionen Jahre altem Bernstein aus Myanmar. Bis heute leiden viele Insekten an Milben, z. B. Bienenvölker, die an der VarroaMilbe zugrunde gehen. Viele Insekten haben seit der Zeit der Dinosaurier kein anderes Gegenmittel gefunden, als eine mehrstellige Zahl an Nachkommen zu erzeugen – für Menschen keine optimale Option gegen schädliche Mikroorganismen. Dagegen verfügen wir über ein raffiniertes Immunsystem, das in vielen Fällen durch Sex optimiert wird. Claus Wedekind, Bern, ließ 1995 weibliche Probanden an getragenen T-Shirts von Männern schnuppern und ihre Favoriten auswählen. Den Hintergrund für die Untersuchung bildeten die Gene für den MHC-Komplex, der zum Immunsystem gehört. Je mehr verschiedene MHCMoleküle der Körper besitzt, desto mehr verschiedene Erreger kann das Immunsystem bekämpfen. Deshalb ist es vorteilhaft, einen Partner mit einem anderen MHC-Satz zu wählen, als man selbst hat. Doch wie soll man dies erkennen? Das Besondere ist, dass der MHC-Komplex sich im Körpergeruch bemerkbar macht, und zwar bei jedem MHC-Satz anders. Es zeigte sich, dass die teilnehmenden Frauen tatsächlich jeweils den Geruch bevorzugten, der ihren eigenen MHC-Satz gut ergänzte.108 Ein sehr ähnlicher Geruch bildet dagegen eine natürliche Inzest-Schranke. Sie verhindert nicht nur, dass sich überflüssigerweise gleiche MHC-Sätze verbinden, sondern vor allem auch, dass viele erbliche Krankheiten zum Ausbruch kommen, die durch fremde Gene unterdrückt werden könnten. 223
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Die selektive Attraktivität des natürlichen Körpergeruchs gehört hier und da schon zur Volksweisheit. Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld berichtet: „In einigen Gebieten Österreichs und im Mittelmeerraum schwenken die Burschen beim Tanz vor den Mädchen Tücher, die sie zuvor in ihrer Achselhöhle geruchlich imprägniert haben.“109 So haben wir es in der Schule gelernt: Wenn das Chromosomenpaar Nr. 23 aus zwei XChromosomen besteht (XX), entwickelt sich ein Mädchen, bei XY ein Junge. Tatsächlich ist die Situation verwickelter. Die Geschlechtsbildung wird durch Hormone gesteuert, die zwar genetisch programmiert sind, aber der komplexe Vorgang läuft nicht immer in gleicher Weise ab und führt zu allerlei Mischformen.110 Zu Beginn ihrer Entwicklung sind alle Menschen darauf programmiert, weibliche Wesen zu werden. Um zum Mann zu werden, muss dieser Prozess gestoppt werden. Dies geschieht in der 7. Woche nach der Befruchtung. Dann veranlasst das Y-Chromosom die Produktion des SRY-Proteins, das die Entwicklung der bereits angelegten Keimdrüsen zu Hoden startet. Ohne diesen Vorgang werden daraus Eierstöcke. Bis zu diesem Zeitpunkt haben sich innere Genitalwege gebildet, und zwar sowohl männliche wie auch weibliche parallel. Danach entwickeln sich je nach hormonellem Einfluss die einen weiter, die anderen verkümmern. Die äußeren Geschlechtsorgane gehen ab Ende des 2. Monats für beide Geschlechter aus demselben Vorläufer hervor. Durch An- bzw. Abwesenheit von Testosteron werden sie zu Penis bzw. Vagina. Eichel und Klitoris haben einen gemeinsamen anatomischen Ursprung, ebenso der Hodensack und die großen Schamlippen. In der Klitoris ist die Dichte der Rezeptoren etwa viermal so hoch wie bei der Eichel des Mannes. Dies liegt daran, dass sich die etwa gleiche Zahl von Rezeptoren auf eine kleinere Fläche verteilt. In vielen Ländern ist Genitalverstümmelung bei Mädchen verbreitete Praxis: in Eritrea, Somalia, Indonesien, Ägypten, Nigeria und anderen. Sie wird beschönigend „Schritt ins Frausein“ genannt, während ihnen tatsächlich ein wichtiger Teil ihres Frauseins geraubt wird. Bei der ohne Narkose durchgeführten Prozedur, bei der die Klitoris mit einer Rasierklinge entfernt wird, erleiden die Mädchen unvorstellbare Schmerzen bis zur Bewusstlosigkeit. Allein in Deutschland leben ca. 15 000 betroffene Frauen. Begründet wird die Maßnahme mit einer Tradition, die nicht nur bei Moslems besteht. U. a. soll damit die Treue der Frauen zu ihrem Mann gewährleistet werden.111 Mit der Pubertät beginnt ein Konzert der Hormone, die sich bis dahin seit der Geburt recht still verhalten haben. Die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) schüttet Somatotropin aus, das einen Wachstumsschub auslöst, außerdem Hormone, die die Keimdrüsen und die Nebennierenrinde veranlassen, ihrerseits Hormone zu produzieren, die die Genitalien und die sekundären Geschlechtsmerkmale reifen lassen. Androgene und Östrogene wirken bei beiden Geschlechtern, bei Jungen ist der Androgenspiegel höher, bei Mädchen der Östrogenspiegel, was Maskulinisierung bzw. Femininisierung in Körperbau, Körperfunktionen und Hirnstrukturen zur 224
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Folge hat. Statistisch zeigen sich Unterschiede im Spielverhalten, in sozialen Interaktionen, beim Schmerzverhalten, bei Sprache, Kognition, Emotionalität und Stressreaktionen. Die Anfälligkeit für Verhaltensstörungen ist unterschiedlich. Bei Männern sind ADHS, Leseschwäche, Stottern und Autismus um ein Mehrfaches häufiger, bei Frauen treten Essstörungen, Depression, Angststörungen und Alzheimer häufiger auf. Durch die künstliche Gabe von Hormonen kann Maskulinisierung bzw. Femininisierung beeinflusst werden. Diese Beobachtung spielte eine Rolle bei dem tragischen Fall des Kanadiers David Reimer. 1966 sollte er im Alter von 8 Monaten – damals hieß er noch Bruce – mit einem elektrischen Gerät beschnitten werden. Eine Fehlfunktion des Geräts führte dazu, dass der Penis des Babys schwer verbrannt wurde und amputiert werden musste. Der Sexualforscher John Money nahm sich der Sache an, der die Unterscheidung zwischen biologischer Sexualität und sozialem Geschlecht (Gender) eingeführt hat. Er war der Überzeugung, dass bei der Frage, ob wir uns als Mann oder Frau verstehen, die Biologie unwesentlich sei, sondern dass dies allein eine Frage der Erziehung sei. Er verfolgte das Ziel, den kleinen Bruce in ein Mädchen umzuwandeln. Dem Baby wurden die noch intakten Hoden entfernt. Es wurde eine künstliche Vagina geformt, die Eltern erzogen Bruce als Mädchen, das jetzt „Brenda“ genannt wurde. Als „sie“ 12 Jahre alt war, berichtete Money über den Erfolg der Maßnahmen, und der Fall wurde zu einem Schlüsselereignis der Gender-Bewegung. 1997 wurde durch unabhängige Experten eine Nachuntersuchung veröffentlicht, die etwas ganz anderes ergab. Trotz aller chirurgischen, hormonellen und pädagogischen Umwandlungsbemühungen entwickelte er/sie sich in männliche Richtung, bevorzugte Jungenaktivitäten, zeigte kein Interesse an Puppen und an Makeup. Mit 12 Jahren lehnte sich Brenda gegen die Östrogenbehandlung auf, sie hasste ihre sich bildenden Brüste. Mit 14 Jahren entschied sich Brenda, künftig „David“ zu heißen und als Mann zu leben. Erst jetzt erfuhr David von seiner Vorgeschichte. Er bestand darauf, dass seine Brüste entfernt wurden, dass er eine Androgenbehandlung und einen künstlichen Penis bekam. Er heiratete mit 25 Jahren, war fähig zu ejakulieren und einen Orgasmus zu erleben, konnte aber keine eigenen Kinder zeugen. Die Ehe ging in die Brüche. Emotional verbittert beging er 2004 im Alter von 38 Jahren Suizid. Dieses Schicksal und Prozesse um die Behandlung von Transkindern haben dazu beigetragen, dass man vorsichtig geworden ist damit, in unklaren Fällen vor Eintritt der Pubertät medizinische Maßnahmen zur „Korrektur“ der Geschlechtsidentität anzuwenden. Offenbar wird sie nicht nur von den Keimdrüsen gesteuert, sondern auch von Prozessen im Gehirn und in der Nebennierenrinde, in der ebenfalls Androgene freigesetzt werden. Dafür spricht auch, dass bei (freiwillig) kastrierten Sexualstraftätern eine Minderheit weiterhin sexuell aktiv ist und vereinzelt erneut Sexualstraftaten vorkommen. Die distinkte Trennung der Geschlechter in Mann und Frau ist eine grobe Vereinfachung der Verhältnisse. Die sexuelle Orientierung (hetero-, homo-, bi- und asexuell) beschreibt, zu 225
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wem man sich sexuell hingezogen fühlt. Davon gesondert beschreibt die Geschlechtsidentität (männlich, weiblich, eine Kombination beider oder nichts davon), als was man sich selbst fühlt. Die gelegentliche Behauptung, man habe die Wahl, trifft für die wenigsten Menschen zu, sie ignoriert die biologischen Tatsachen. „Menschen entdecken ihre sexuelle Orientierung, sie wählen sie nicht.“112 Es mag überraschen, dass Homosexualität z. T. genetisch bedingt ist. Ist bei eineiigen Zwillingen der eine homosexuell, gilt dies in ca. der Hälfte der Fälle auch für den anderen, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Die Wahrscheinlichkeit für Homosexualität wächst, je mehr ältere Brüder ein Mann hat. Die Ursache für diesen „fraternalen Geburtsreiheneffekt“ ist noch ungeklärt. 1883 stuft Krafft-Ebing in seinem Lehrbuch der Psychiatrie die Homosexualität als „perverse Geschlechtsempfindung“ ein. Gleichwohl konstatiert er schon damals im heutigen Sinne: „Häufig aber fühlen sich die Individuen glücklich in ihrer eigenartigen geschlechtlichen Situation und unglücklich nur insofern, als gesellschaftliche und strafrechtliche Schranken sie an der Befriedigung hindern.“113
Abb. 85: Die verbreitete Ansicht, Homosexualität sei unnatürlich, ist falsch. Sie ist für über 1000 Tierarten nachgewiesen. Häufig ist Bisexualität. Bei Bonobos dient sie dazu, soziale Spannungen zu verringern. Auch bei Insekten ist homosexuelles Verhalten nicht selten. Hier zwei männliche Langbeinfliegen in Baltischem Bernstein, 45 Millionen Jahre vor unserer Zeit, bei der Kopulation. Zu der Zeit, als ich mein Studium begann, war Homosexualität juristisch noch strafbar. Seitens der Kirche galt sie als Sünde, und mancherorts beruft man sich nach wie vor auf das biblische Verbot in 3. Mose 20, 13. Von Betroffenen wird oft beklagt, dass Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen offene oder verdeckte Ablehnung erkennen lassen, was sich im Begriff der 226
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„Homophobie“ niederschlägt. Ich selbst habe als Jugendlicher Widerwillen bei vereinzelten Annäherungsversuchen von Männern empfunden und sie zurückgewiesen. Zur reflektierten Einordnung gehört allerdings, die persönliche Aversion gegenüber einer solchen Beziehung zu unterscheiden von der Stellungnahme zur Homosexualität im Allgemeinen. Sie ist – entgegen einer landläufigen Meinung – durchaus nicht widernatürlich. Sie ist bei weit über 1000 Tierarten nachgewiesen und erfüllt z. B. eine Ventilfunktion für Triebe dort, wo etwa ein Überschuss an Männchen besteht, weil ein Alpha-Männchen alle weiblichen Mitglieder der Gruppe für sich beansprucht. In einer Kultur wie der unsrigen, in der Sexualität nur zum Teil der Erzeugung von Nachkommen dient, sollte Toleranz gegenüber der sexuellen Orientierung selbstverständlich sein. Ebenso muss man aber etwaige Aversionen akzeptieren, die jemand spürt, wenn er selbst in eine andere als die von ihm gewünschte sexuelle Beziehung gedrängt wird. Die „erschreckend zählebige Homophobie“114 wird sich nicht überwinden lassen, wenn diese Differenzierung nicht erfolgt. Die persönliche Appetenz zu der Geschlechtsbeziehung, die man begehrt, schließt meistens die persönliche Aversion gegenüber einer andersartigen Geschlechtsbeziehung ein. Man sollte im gesellschaftlichen Diskurs statt von Homophobie besser von Homodiskriminierung sprechen. Mädchen wie Jungen haben mit ca. 10 Jahren, also noch vor der Pubertät, erstmals das Erlebnis, dass sie sich von einem Jungen/Mädchen angezogen fühlen. Das gilt für Hetero- und Homosexuelle in gleicher Weise. Möglicherweise ist hierfür die beginnende Hormonausschüttung durch die Nebennierenrinde verantwortlich, die vor der Aktivität der Keimdrüsen einsetzt. Das gilt wohl auch für die frühe Verliebtheit, von der ich in obiger Anekdote erzählt habe, und kann sich auch später noch bemerkbar machen. „Das obskure Objekt der Begierde“, das in dem gleichnamigen Film von Luis Buñuel undefiniert bleibt, ist nicht unbedingt mit Geschlechtsmerkmalen gleichzusetzen, sondern betrifft vielmehr die unerklärliche und überfallartig auftretende Attraktivität eines Menschen. Die „pulsatile“ Hormonfreisetzung bei Männern macht sich in der Pubertät durch spontane Erektionen und Ejakulationen bemerkbar und kann schon durch schwache Reize verstärkt werden. Dies hat bei fast allen Jungs Masturbation zur Folge. Das ist normal und nicht schädlich. Im Konfirmationsunterricht bekamen wir noch eingeschärft, dass Onanie eine schlimme Sünde sei, die Pickel hervorruft und blind macht. Ich erinnere mich, dass der junge Lehrer dabei einen ebenso roten Kopf bekam wie wir Jungs. Er begründete das Verbot mit einer biblischen Geschichte, in der Onan nach einer solchen Tat von Gott getötet wurde. Der Hintergrund der Geschichte, der mit der Levirathsehe nach Mosaischem Gesetz zusammenhängt, wurde uns nicht erzählt: Ger, Bruder von Onan, war böse und wurde von Gott getötet. Onan sollte die Witwe von Ger heiraten und stellvertretend für ihn Kinder zeugen. Onan weigerte sich, weil es nicht seine eigenen Kinder sein sollten, und ließ den Samen auf die Erde fallen. „Das gefiel dem Herrn übel, was er tat, und er tötete ihn auch.“ (1. Buch Mose 38,6–10). 227
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Die alte Vorstellung, dass für das Sexualverhalten nur archaische Hirnstrukturen zuständig sind, ist nicht korrekt. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel hormoneller und neuronaler Prozesse, die den Körper und das Gehirn in ihrer Gänze ansprechen. Innerhalb des beteiligten Netzwerks im Gehirn geht die Aktivierung interessanterweise oft vom sekundären visuellen Kortex aus, selbst dann, wenn die Augen geschlossen sind. Und es sind ja nicht nur physiologische Vorgänge beteiligt. „Die sexuelle Reaktion hat zwar die Biologie zur Voraussetzung, ihr Erleben steht aber in der Regel in einem intrapersonellen, interpersonellen und kulturellen Kontext und beinhaltet eine komplexe Interaktion biologischer, soziokultureller und psychologischer Faktoren.“115 Die Dichtung der Antike behandelt den Sexualakt mit Zurückhaltung. Die heutige Offenheit hätte man wohl als barbarisch verachtet. So ist die Schilderung Vergils in der Aenaeis eine Ausnahme, als er die Liebesnacht des Gottes Vulcanus mit seiner Gattin Venus beschreibt. Sie umgarnt ihn, ihrem Sohn Aeneas göttliche Waffen zu schmieden, darunter den berühmten Schild, auf dem die Geschichte Roms dargestellt wird. Er, von ihrem Liebreiz überwältigt, sagt zu. „Als er nunmehr gesprochen, stillte er den Wunsch der Umarmung, und sanft an den Busen der Gattin hingesunken empfing er im Körper die süße Betäubung.“116 Damit beschreibt Vergil in poetischer Sprache das Erlebnis, dem bestimmte Vorgänge im Gehirn entsprechen. Beim Orgasmus, so wissen die Neurowissenschaftler heute, ist fast das ganze Gehirn in Aufruhr. Nur das Frontalhirn, das für Reflexion, rationale Planung und Handlungskontrolle sorgt, ist lahmgelegt. Kurz gesagt: Sexualität ist eine Erfindung der Natur, mit der die Fitness von Organismen gesteigert wird. Dies geschieht durch immer neue Kombination genetischer Merkmale von Generation zu Generation. Durch Kombination unterschiedlicher Gene wird auch die Immunabwehr stärker. Die Entwicklung des eigenen Geschlechts ist komplex und hat nicht nur zwei Alternativen. Davon gesondert entwickelt sich die sexuelle Orientierung. Zur Erfolgsgeschichte des Sex gehört, dass Begehren und Lust unabhängig von ihrem Vermehrungsauftrag und den Beschwerlichkeiten bei der Aufzucht des Nachwuchses nach Befriedigung streben.
Literatur Kandel, Schwarz & Jessell 1996. Pinel, Barnes & Pauli 2019. Speckmann, Hescheler & Köhling 2019.
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Abb. 86: Einswerden. Das Bildgedicht machte ich vor langer Zeit für ein 16-jähriges Mädchen nach dem ersten zarten Kuss in einer kühlen Vollmondnacht. Inzwischen sind wir über 50 Jahre miteinander verheiratet.
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Anders gefragt: Kann in einer Zweierbeziehung das Einswerden entstehen, das sich so viele erträumen? Mit Vergil sind wir wieder dort gelandet, wo wir uns zuhause fühlen, in der Erlebniswelt. Sie ist unsere primäre Wirklichkeit und zugleich das Reich der Poesie, der Phantasie, der Ängste und Schmerzen, der Wünsche und Sehnsüchte. Dort gelten ganz andere Begriffe als in der Naturwissenschaft. Wie beides zusammenhängt, wird uns noch weiterhin beschäftigen, doch im Moment bleiben wir in der geschlossenen Welt sinnlicher und emotionaler Erfahrungen und Vorstellungen, die ihren Wert in sich hat, weil uns nichts unmittelbarer gegeben ist als sie. Ein Begriff wie „Liebe“ entzieht sich hier der naturwissenschaftlichen Analyse und hat eine Bedeutung, die gespürt und hinterfragt, aber nicht seziert und reduziert werden kann. An dieser Stelle soll nicht versucht werden, die ganze Vielfalt dessen nachzuverfolgen, was unter „Liebe“ verstanden worden ist und wird, von der selbstlosen agape bis zum rein sexuellen Akt. Es soll nur darauf eingegangen werden, welche Besonderheit die enge und lange Zweierbeziehung ausmacht, die mit „Liebe“ bezeichnet wird, und wie sie zustande kommt. Um sie richtig einschätzen zu können, gehen wir wieder von dem zentralen Thema dieses Buchs aus, dass nämlich bei jedem Menschen die Welt als seine eigene subjektive Wirklichkeit entsteht, 229
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in der er befangen ist. Wie soll da so etwas wie Liebe, dieser Inbegriff inniger Verbundenheit, möglich sein? Jeder ist eine Insel, doch wir sehnen uns danach, sie zu verlassen. Ist das nur Wunschdenken? Die Menge der gekauften Illusionen, die diesen Wunsch ersatzweise befriedigen, scheint das zu bestätigen. Auf dem Zeitschriften- und Buchmarkt gehört Liebe zu den meistgelesenen Themen, der Anteil der Liebesfilme auf dem Film- und Videosektor hat zwar abgenommen, aber nur deshalb, weil das Thema inzwischen von starken Genres wie Thriller und SciFi und im verkaufsträchtigen Gemenge von Sex and Crime akzentverschoben vereinnahmt wurde. Wer Markterfolg anstrebt, darf auf das Happy End nicht verzichten. Dass das Ende vorhersehbar ist, spielt eine geringere Rolle als die fiktive Belohnung, die Leser und Betrachter am Ende genießen zu können sich sicher sein können. Schade nur, dass damit überzogene Ansprüche an die Realität geweckt werden. Falschen Erwartungen erliegt schon Stendhal in seinem Klassiker „Die Liebe“ von 1822. Was er als Liebe bezeichnet, entspricht der einseitigen Verliebtheit eines Mannes in eine unerreichbare Frau. Berühmt geworden für diesen Zustand ist sein Bild der „Kristallisation“: Wenn man in einem Salzbergwerk einen kahlen Baumzweig in die Sole wirft und nach drei Monaten wieder herauszieht, ist er bedeckt mit glitzernden Kristallen. „Was ich Kristallisation nenne, ist die geistige Tätigkeit, die an allem, was sich darbietet, die Entdeckung macht, dass das geliebte Wesen neue Vorzüge hat.“117 Der unglücklich Liebende/Verliebte reichert sein Bild des geliebten Wesens unaufhörlich mit neuen hervorragenden Eigenschaften an, man würde heute sagen, er projiziert all seine Wünsche hinein. Am Ende bleibt die Enttäuschung: „Das größte Glück, das die Liebe geben kann, ist der erste Händedruck einer Frau, die man liebt.“118 Sprachgewaltig, aber ebenfalls einseitig aus der Sicht des Mannes liest sich das Buch von Ortega y Gasset „Über die Liebe“ von 1933. “Der Beruf des Weibes, wenn es nichts als Weib ist, besteht darin, das konkrete Ideal, der Zauber, die Illusion des Mannes zu sein. Nichts mehr, nichts weniger.“119 Wie bei Stendhal ist die treibende Kraft der männlichen Liebe eine Illusion, wenn auch Ortega y Gasset darin eine positive Kraft von historischem Einfluss sieht, die dem Geist seiner Zeit entspricht: „Der Einfluss des Weibes ist unsichtbar, wie er allgegenwärtig ist … die wahre Mission der Frau auf Erden: anspruchsvoll sein, immer anspruchsvoller werden in Bezug auf die Vervollkommnung des Mannes.“120 Ganz im Sinne Goethes, der Faust II enden lässt mit: „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“ An späterer Stelle zeigt sich Ortega y Gasset allerdings wenig optimistisch, als er auf die geschlechtliche Zuchtwahl durch die Frau eingeht: „Tatsache ist, dass die Eigenschaften, die aus Gründen des Fortschritts und der Größe der Menschheit an dem Mann am meisten geschätzt werden, die Frau erotisch keine Spur interessieren.“121 Vielleicht hat er ja nicht alle Frauen gefragt. Stendhal wirft er vor, dass bei ihm die Liebe mit der unerfüllbaren Erwartung verbunden ist, dass der geliebte Mensch in jeder Hinsicht vollkommen sein muss, und sieht eine gedankliche 230
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Verbindung zum Idealismus von Platon: „Seht, wie Platon ohne Umschweif und Zögern mit der Zange seiner Geistesscheren den zitternden Nerv der Liebe packt! „Die Liebe“, sagt er, „ist die Begierde, im Schönen zu zeugen.““122 Ortega y Gasset bricht diese idealistische Auffassung herunter auf eine realistische Ebene: Jeder Liebe, auch der erotischen, wohne der Drang inne, sich mit einem anderen Wesen zu vereinigen, das in den Augen des Liebenden auf irgendeine Art vollkommen oder ausgezeichnet ist. Auch Erich Fromms Klassiker von 1956 „Die Kunst des Liebens“ beginnt damit, dass Probleme mit der Liebe großenteils auf falsche Erwartungen zurückzuführen sind. Fromm kann auf seine reichen Erfahrungen als Psychoanalytiker zurückgreifen, wenn er feststellt, dass die meisten Menschen das Problem der Liebe darin sehen, selbst geliebt zu werden, statt zu lieben und lieben zu können. Deshalb setzen sie alles daran, liebenswert zu sein, Frauen und Männer mit verschiedenen Mitteln. Sie meinen, lieben sei einfach. Schwierig sei nur, einen Partner zu finden. Oft wird das anfängliche Verliebtsein mit Liebe verwechselt. Nach anfänglicher Begeisterung kommt es oft zu Streit und zu Enttäuschungen. Kaum ein Unterfangen beginnt so voller Hoffnung und schlägt mit solcher Regelmäßigkeit fehl wie die Liebe. Die Ausgangslage der Hoffnungen beschreibt Fromm ganz im Sinne der grundsätzlichen Isoliertheit von Individuen: „Das tiefste Bedürfnis des Menschen ist demnach, seine Abgetrenntheit zu überwinden und aus dem Gefängnis seiner Einsamkeit herauszukommen … Der Mensch sieht sich – zu allen Zeiten und in allen Kulturen – vor das Problem der Lösung der einen und immer gleichen Frage gestellt: wie er sein Abgetrenntsein überwinden, wie er zur Vereinigung gelangen, wie er sein eigenes einzelnes Leben transzendieren und das Einswerden erreichen kann.“123 Das kann im ohne Liebe vollzogene Sexualakt nicht gelingen. Fromm wendet sich gegen den physiologischen Materialismus des Gründers der Psychoanalyse, Sigmund Freud: „Der Sexualtrieb ist nach dieser Auffassung eine Art Juckreiz, die sexuelle Befriedigung ist die Beseitigung dieses Juckreizes. Bei einer solchen Auffassung der Sexualität wäre die Masturbation tatsächlich die ideale sexuelle Befriedigung.“124 Das ozeanische Gefühl des völligen Einsseins bei Liebenden interpretierte Freud als „pathologische Regression“, was von Fromm energisch zurückgewiesen wird. Fromm verbindet Psychoanalyse mit jüdischer Mystik und Zen-Buddhismus. Außerdem hat er Marx gelesen, der sich in seinen frühen Schriften auch mit der Liebe beschäftigt hat. Ihm folgend sieht Fromm die ersehnte Vereinigung dadurch verhindert, dass viele Paare die Liebe im Sinne des Kapitalismus als Geschäft sehen: Du gibst mir etwas, dafür gebe ich dir etwas. Anzumerken ist, dass dieses „Do ut des“ keine Erfindung des Kapitalismus ist, sondern schon in alten Religionen galt. Man opferte den Göttern, damit sie Bittgebete erhörten. Dagegen setzt er, dass Liebe ein Geben ist und nicht ein Empfangen. Im Akt des Schenkens erlebt jeder die eigene Stärke. Auch der Geschlechtsakt ist ein gegenseitiges Schenken. Die reife Liebe ist „eine 231
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Vereinigung, bei der die eigene Integrität und Individualität bewahrt bleibt. Liebe ist eine aktive Kraft im Menschen. Sie ist eine Kraft, die die Wände niederreißt, die den Menschen von seinen Mitmenschen trennen, die Kraft, die ihn mit anderen vereinigt. Die Liebe lässt ihn das Gefühl der Isolation und Abgetrenntheit überwinden und erlaubt ihm trotzdem er selbst zu sein und seine Integrität zu behalten.“125 Bei Fromm fehlt allerdings eine befriedigende Klärung dafür, wie das geschehen soll. Liebe hält er für eine Kunst, der man sich dauerhaft widmen muss, es reicht nicht, den anderen zu gewinnen. Dazu zählt Fromm Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis. Unter Erkenntnis versteht er hier, den anderen Menschen objektiv zu sehen. Liebe setzt seiner Ansicht nach voraus, „den anderen im innersten Wesen seines Seins“ zu erfahren.126 Diese überzogene Forderung entspringt dem mystischen Denken Fromms. Sie überfordert das Menschenmögliche. Enttäuschung und das Gefühl, versagt zu haben, sind wie bei anderen überzogenen Erwartungen vorprogrammiert. Das Gelingen der Liebe wird verwehrt, wenn nicht auch Irrtümer zugelassen werden. Zur Kunst des Liebens muss gehören, bereit zu sein, den anderen immer besser kennen lernen zu wollen, nicht aber die Meinung, damit fertig zu sein. In jüngerer Zeit hat sich der Philosoph Richard David Precht in 400 Seiten dem Thema der geschlechtlichen Liebe gewidmet, wohl wissend, dass es als U-Musik der abendländischen Philosophie gilt. Er lokalisiert es an der Schnittstelle von Natur- und Geisteswissenschaft und versucht, beiden Seiten gerecht zu werden. Zu Recht kritisiert er die Idee vom „egoistischen Gen“ von Richard Dawkins. Einem Gen kann weder Egoismus noch Altruismus zugeschrieben werden, auch nicht planende Vernunft. Optimierungseffekte in der Evolution ergeben sich stets nur resultativ, weil das weniger Fitte weniger Chancen zur Vermehrung hat. Es sieht für unsere auf Planung gerichtete Ratio lediglich im Nachhinein so aus, als sei der Prozess zielgesteuert verlaufen. Auch, wenn man die Evolution teleonom (kausalanalytisch) und nicht teleologisch (zielgerichtet) betrachtet, sieht Precht Schwächen in der evolutionären Betrachtungsweise. „Ohne Zweifel verantwortet unser Erbgut unsere sexuelle Lust. Diese Lust steht im Dienste der Fortpflanzung. Das ist richtig. Aber das Interessante dabei ist: Die Lust selbst weiß gar nichts davon! Sie hat ein ganz eigenes Interesse. Unsere sexuelle Gier agiert nahezu vollkommen losgelöst von ihrem ursprünglichen Vermehrungsauftrag.“127 Zu ergänzen wäre: Die Lust als Vermehrungsgarant funktioniert solange problemlos, wie der Zusammenhang mit der Lust nicht von einer schlauen Vernunft erkannt und unterlaufen wird. Angesichts der Überbevölkerung der Erde spielt die Teilsabotage des von der Natur eingefädelten Mechanismus inzwischen aber eher eine positive Rolle. Lustvoll attackiert Precht biologische und evolutionspsychologische Argumente und hält kulturelle Einflüsse dagegen. “Kultur ist die Fortsetzung der Biologie“.128 Dies ist nicht ganz richtig, Kultur ist vielmehr eine Ergänzung, emergent aus der Biologie hervorgegangen, und 232
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hat in den letzten 2 Millionen Jahren zusammen mit der menschlichen Biologie eine Koevolution durchlaufen. Beispiel: Die Beherrschung des Feuers und der folgende Verzehr gegarter Nahrung hat dazu geführt, dass ihre Bestandteile wesentlich effektiver genutzt werden konnten; darauf hat sich die Verdauung eingestellt und dem Körper die Möglichkeit verschafft, sich ein besonders energiehungriges Gehirn leisten zu können. Wir sind nach wie vor auf das weithin autonome Funktionieren der Biologie angewiesen. Unsere körperbiologische Basis mit ihren 30 Billionen Zellen ist permanent im Hintergrund aktiv und schert sich nicht um unser überhebliches Gerede, das durch sie erst möglich wird. Nur gelegentlich tritt sie in den Fokus, bei jedem Flatus und jeder Krankheit zeigt sie uns spürbar unsere Selbstbestimmungsgrenzen auf, nur selten so aufdringlich deutlich wie seit 2020 durch die weltweit grassierenden Covid19-Terroristen, die Lunge, Herz und Nervensystem schädigen. Prechts Kritik gilt auch Ausblühungen der Geisteswissenschaften, etwa dem Genderismus und dem Dekonstruktivismus, die vorübergehend dafür gesorgt haben, dass nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht und andere Eigenschaften des Menschen lediglich als Interpretationen und kulturelle Erfindungen aufgefasst wurden. Wenn im Sinne von Michel Foucault alles nur ein Sprachspiel ist, dann sind es auch seine eigenen Äußerungen, die sich damit selbst untergraben. Die von der Genderbewegung oft zitierten Berichte von Margaret Mead über die selbstbestimmten Frauen auf Samoa haben sich als ebenso unhaltbar erwiesen wie die Geschlechtsumwandlungsphantasien von John Money. Ausgiebig befasst sich Precht mit der Frage nach dem Ursprung der Liebe. Für viele ist ausgemacht, dass sie sich aus der Sexualität entwickelt hat. Dies liegt umso näher, als diese Bezeichnung bekanntlich oft für rein sexuelle Beziehungen gebraucht wird. Aber schon Darwin und viele nach ihm wiesen darauf hin, dass das Bedürfnis nach enger Verbundenheit, das Liebe im engeren Sinne kennzeichnet, nicht unbedingt für den Fortpflanzungserfolg notwendig ist. Nach dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld hat die Liebe ihre Wurzeln in der Mutter-Kind-Bindung, die auf längere Dauer angelegt ist als der Begattungsakt. Sie ist seitens der Mutter durch eine hohe Bereitschaft gekennzeichnet, etwas zu geben ohne die Erwartung, etwas zurückzuerhalten. Das ist auch nach Erich Fromm der wahre Kern der Liebe, allerdings sieht er als Mystiker den Ursprung nicht in der Mutterliebe, sondern in der Liebe Gottes. Precht neigt dagegen zu der Annahme – der Gegensatz könnte nicht größer sein –, dass die Liebe ein Spandrel ist. Damit sind ursprünglich die Dreiecksformen gemeint, die sich in der Architektur zwischen Rundbögen und ihrem Umfeld bilden, auch Zwickel genannt. Sie ergeben sich zufällig, haben keine Bedeutung und Funktion. Manche Evolutionsbiologen haben diese Bezeichnung für Eigentümlichkeiten in Anatomie oder Verhalten verwendet, die ebenfalls keinen evolutionären Vorteil bilden, und z. B. auf die Religion bezogen. Precht schlägt vor, dass die Liebe zwischen Mann und Frau in diesem Sinne ein Nebenprodukt der Mutter-KindBeziehung ist, eine „harmlose Überflüssigkeit“ für die Evolution.129 233
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Man muss sich fragen, ob es nur Provokationslust ist, zwei der gewaltigsten Themen der Geschichte, Liebe und Religion, den Sinnbezug zur Urgeschichte des Menschen entziehen zu wollen. Es ist gut möglich, dass sich die Liebe von Mann und Frau aus der Mutterliebe entwickelt hat, die zweifellos älter und universaler ist als monogame sexuelle Beziehungen. In beiden Fällen spielt auf biologischer Ebene das Oxytocin, das „Kuschelhormon“, eine wichtige Rolle. Allerdings muss sie für den Menschen auch einen evolutionären Vorteil erbracht haben, vor allem über die verlässliche Sorge für die Familie. Weib und Kind waren darauf angewiesen, dass der Mann sich gebunden fühlte und seinen Teil für das gemeinsame Überleben leistete. Dieser Vorteil muss noch größer gewesen sein als die Summe der ebenfalls nicht belanglosen Nachteile, wenn man bedenkt, dass Eifersucht, verschmähte, enttäuschte und verratene Liebe seit Menschengedenken zu den häufigsten Mordmotiven gehören. Im Übrigen spricht gegen die Behauptung eines unbedeutenden Epiphänomens, dass die Liebe, wenn sie gelingt, das Beste hervorbringt, womit zwei Menschen sich gegenseitig glücklich machen können, und dass sie damit ein wichtiger Teil dessen ist, was das Leben lebenswert macht und zu entsprechenden Leistungen anspornt. Biologische und kulturelle Evolution haben die Bedingungen dafür geschaffen, dass Liebe zwischen zwei Menschen als ein immer neues emergentes Produkt entstehen kann. „Wir spielen mit unseren Partnern und Sexualpartnern ein Gesellschaftsspiel, bei dem wir uns im Blick des anderen spiegeln … Unser ganzes Leben, unsere Sexualität, unsere Bindungen und Abneigungen, unser Selbstbild und Selbstwertgefühl erhalten wir auf diese Weise „über Bande“ zugespielt.“130 Precht greift dabei Edmund Husserls Begriff „reterierte Empathie“ auf, das auf sich selbst rückbezogene Mitgefühl: „Ich kann verstehen, dass Sie verstehen, dass ich Sie verstanden habe.“ Dieses zweiseitig rückbezogene System kreiert Gemeinsamkeiten: „Liebende konstruieren sich eine gemeinsame Wirklichkeit. Und jedes Liebespaar baut sich auf diese Weise seine eigene Welt.“131 Wie Gilbert Ryle hält Precht „Liebe“ für ein Konstrukt unserer Vorstellungskraft, während wir von ihr angeblich reden, als wäre sie ein realer Gegenstand wie ein Tisch. Diese Skepsis ist überzogen. Jedem ist bewusst, dass „Liebe“ nicht fassbar ist wie ein Objekt. Der Begriff „Liebe“ mag ein Konstrukt sein, aber im Sinne des Konstruktivismus trifft das letztlich auf alle Begriffe zu. Dem Begriff „Liebe“ kommt der gleiche Grad an Realität zu wie „Vertrauen“ oder „Hass“, weil er uns ganz existentiell mit der angetroffenen, nicht nur mit der vorgestellten Welt verbindet. Precht hält unsere Liebesvorstellungen für eine gesellschaftliche Angelegenheit. Soweit sie sprachlich gefasst werden können, mag das gelten, und der gesellschaftliche Wandel der Rahmenbedingungen ist unbestritten. Dennoch ist Liebe letztlich das, was zwei menschliche Wesen im gelungenen Austausch von Emotionen, Gedanken und Handlungen aus ihrer biologischen und kulturellen Mitgift machen. Sie bilden ein dynamisches System, dessen Produkte nicht reduktionistisch hergeleitet und nicht vorhergesagt werden können. Manche Liebe wächst aus einer Zwangsheirat heraus, und manche optimale Wunschpartnerschaft zerbricht an unerfüllbaren Erwartungen. 234
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Liebe – nur eine Illusion?
Wie viele Philosophen erliegt Precht der Gefahr, das sprachlich Fassbare mit der menschlichen Realität zu identifizieren. So stimmt er dem witzigen, aber falschen Satz von La Rochefoucauld zu: „Wir würden uns nicht verlieben, wenn wir nicht davon gehört hätten“. Das erste Verliebtsein überfällt den jungen Menschen viel zu stark, zu plötzlich und unerwartet. Vielmehr geben uns Sprache und Medien die Möglichkeit, die irritierende Erfahrung im Nachhinein einzuordnen und zu benennen. Durch die Benennbarkeit verliert sie übrigens ihre Einzigartigkeit und einen Teil ihres Zaubers, sie wird etwas Gewöhnliches. Manche mögen bloßen sexuellen Spaß oder eine erotische Beziehung auf Zeit als Liebe bezeichnen. Die im Rahmen dieses Buches interessante Frage ist aber, wie weit darüber hinaus der Traum einer Vereinigung zweier Individuen realistisch ist, wie er so oft besungen und erdichtet worden ist, oder ob es sich bei Liebe in diesem Sinne lediglich um eine kultivierte Illusion handelt. Menschen sind in ihrer jeweiligen Subjektivität wie Inseln, jedoch sie stehen in Austausch miteinander. Nicht durch ein kollektives Feld, wie es C. G. Jung oder Hans Driesch erträumt haben. Nicht über außersinnliche Schwingungen, wie sie seit Aristoteles immer wieder neu für einander nahestehende Menschen erdacht wurden. Nicht durch eine direkte Übertragung von Gefühlen und Gedanken, an die manche glauben. Wer das meint, unterschätzt die Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und deren kognitive und emotionale Verarbeitung fundamental, wie es schon Platon tat und damit das Abendland auf Jahrhunderte prägte. Der Grundfehler liegt in der Auffassung der Wahrnehmung als einem linearen Prozess vom Reiz zur Empfindung, während es sich im zwischenmenschlichen, insbesondere im intimen Bereich um eine enge Wechselbeziehung auf parallelen Kanälen verschiedener Modalitäten handelt. Zahlreiche voneinander untrennbare Interaktionen liegen dabei innerhalb der zwei Sekunden, die wir als Gegenwart erleben, und verschmelzen so auf beiden Seiten zu einer Erlebnisform, in der eigenes Wahrnehmen und Handeln als Einheit mit dem Wahrnehmen und Handeln des andern empfunden werden kann. Nach wie vor, das darf aus wissenschaftlicher Sicht nicht vergessen werden, gehen auch hier physiologisch alle sinnlichen und handlungsbezogenen Vorgänge die komplexen Wege, die wir in den ersten Kapiteln beschrieben haben. Doch die Methoden von Körper und Gehirn, ihre Hormone und Synapsen sind erlebnismäßig so wenig präsent wie die Pits, Bits und Bytes der Tonträger und ihre elektronische Dechiffrierung, wenn uns die die Stereoanlage mit wunderbarer Musik flutet. „Interaktion“ ist nicht der optimale Begriff für das eigentliche Geschehen, weil er als Wechsel von Einzelereignissen verstanden werden kann. Das liebende Miteinander ist vielmehr ein permanenter Fluss, ein wechselseitig erschaffener Flow. Man kann auch vom „Gestaltkreis der Liebe“ sprechen. Viktor von Weizsäcker beschreibt mit dem Begriff des Gestaltkreises die Einheit von Wahrnehmen und Bewegen zwar nur für das Individuum. Er spricht von Monogamie, meint damit aber lediglich das Verhältnis des Individuums zu einem Gegenstand und hat interpersonale Prozesse nicht im Blick.132 In seinem Sinne lässt sich der Begriff des Gestaltkreises 235
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z. B. auf den künstlerischen Prozess beziehen, bei dem das entstehende Werk permanent zurückwirkt bis zu dem Punkt, an dem der Künstler seine Arbeit als fertig ansieht.133 Der Gestaltkreis beschreibt das Geschehen zwischen zwei liebenden Menschen besser als lineare Ursache-Wirkungsverhältnisse. Dadurch, dass es sich nicht zwischen einem Organismus und seiner physischen Umwelt abspielt, sondern zwischen zwei Personen mit allem, was sie jeweils mitbringen, wird er hochkomplex und hat das Potential, etwas Neues entstehen zu lassen, faszinierend neu für beide Beteiligten, mag es tausende von Malen ähnlich geschehen sein. „Liebe ist eine Schöpfung edelster Art, eine herrliche Leistung der Seelen und Körper,“ sagt Ortega y Gasset.134 Der Gestaltkreis der Liebe kann schon in einer innigen Umarmung spürbar werden, bei der nicht nur wechselseitig Wärme gespürt wird, sondern auch Bewegung, Bewegtheit, Erregung, die Lebendigkeit des anderen, sein Leben, das er schenkt. Man denke an den ersten Kuss. Lange wandern Worte und Blicke hin und her, wechselseitig berühren sich die Hände und die verhüllten Körper, bevor die Lippen erst zögerlich, dann im wachsenden Einvernehmen sich nähern, begegnen und spüren, während zugleich die eigenen Gefühle aufwallen und Teil des Genusses die wunderbare Gewissheit wird, dass beim Gegenüber die gleichen Emotionen und Erwartungen in Resonanz geraten. Wenn zwei Violinen nahe beieinander sind und bei der einen eine Saite gestrichen wird, dann gerät bei der anderen Violine die gleiche Saite in Schwingung. Solche Resonanz „auf gleicher Wellenlänge“ ist eine beglückende Erfahrung immer dann, wenn wir das Gespür haben, uns mit einem Menschen zu verstehen. Und nirgends vermag das Individuum die Isolation seiner subjektiven Welt so weitgehend zu überwinden wie in der Liebe. Nicht dadurch, dass sie tatsächlich durchbrochen wird, sondern dadurch, dass sich beide Welten durch Resonanz einander anverwandeln.
Abb. 87: Wenn von zwei gleichen Stimmgabeln die eine angeschlagen wird, schwingt die andere mit. Obwohl sie getrennt sind, geraten sie in Resonanz. 236
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Liebe – nur eine Illusion?
Der eng gesponnene Gestaltkreis, der solche Resonanzen möglich macht, geht über die sinnlichen Wechselwirkungen hinaus. Er umfasst den Austausch von Ideen, Wünschen und Erwartungen, er wird zum fortwährenden Geben und Nehmen, zum Fragen und Antworten, zum Andeuten, Auffordern, Verrätseln und Erraten, zum Überraschen und Verinnerlichen. Dazu gehört auch die Genese von idiografischen Kosewörtern, Gesten und kleinen Riten, die ihren Sinn nur im beiderseitigen Verhältnis haben und gerade dadurch ihre Besonderheit erhalten. Dazu gehört die Konstruktion einer gemeinsamen Lebenswelt, die vor allem in der Gestaltung der eigenen Wohnung konkret wird. In einem fortlaufenden Prozess, der monate- bis lebenslang andauert, wird auf beiden Seiten das Bild vom anderen zwar nicht so objektiv werden können, wie es Erich Fromm forderte. Aber jenseits eines erkenntnistheoretischen Absolutheitsanspruchs ist eine Annäherung möglich, deren Erfolg sich einzig daran bemisst, wie weit sich beide Partner verbunden und verstanden fühlen. Jede erreichte Stufe in diesem Prozess wird von beiden als befriedigende Vertiefung ihrer Liebe erfahren und bedarf keiner weiteren Objektivierung. Das Gefühl der Einheit, das dabei entstehen kann, ist ebenso wenig eine Illusion wie das Rot des Blutes oder der Schmerz einer Trennung. Das gilt gewiss auch für eine echte Freundschaft, die sich von der Liebe vielleicht nur dadurch unterscheidet, dass sie sich nicht auf die gleichen Lebensvollzüge erstreckt. Resonanzen in kognitiver und emotionaler Hinsicht werden auch hier spürbar. Sie bewährt sich in selbstloser Hilfsbereitschaft. Einer Freundschaft, deren Treue unter Umständen bis zur Selbstaufopferung geht, hat Friedrich Schiller mit der Ballade „Die Bürgschaft“ ein Denkmal gesetzt. Es ist selbstverständlich, dass es in der Liebe auch zu Fehlern, zu Missverständnissen und Streitigkeiten kommt. Denn beide bleiben Individuen mit ihren jeweiligen Sichtweisen, Ansprüchen, Einstellungen und Meinungen, die sie als Mitgift einbringen und nicht ohne Beschädigung ihres Selbstverständnisses und ihrer Bedürfnisse aufgeben wollen. Hier ist wechselseitiger Respekt und nicht Dominanz gefragt. Das Bemühen um eine gute Streitkultur, die in der Gesellschaft gefordert wird, muss es auch im Privaten geben. Der gemeinsame Weg ist unvermeidlich voller Hindernisse und wird nicht ohne Probleme gegangen werden können, solange nur der Wunsch bestehen bleibt, dass es ein gemeinsamer bleibt und es nicht bei der nächstbesten Weggabelung zur Trennung und damit zur Neuvereinzelung kommt. Wer sagte es doch gleich? „Solange die Liebe währt, ist sie unendlich.“ „Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger.“ Die Formulierung „Und er erkannte sein Weib“ wie hier in 1. Buch Mose 4,1 findet sich im Alten Testament zu wiederholten Malen. Es handelt sich vordergründig um eine Umschreibung des Geschlechtsakts, doch wird damit ein übergeordneter Aspekt der Liebe angesprochen, nämlich das gegenseitige Wahrnehmen von Mann und Frau jenseits von Erwartungen und Illusionen. Dieser allmählich reifende Vorgang mit all seinen Implikationen kann nicht wissenschaftlich reduziert werden, es ist ein autopoietisches, kreatives Produkt des individuellen Systems aus zwei Menschen, die sich 237
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füreinander entschieden haben. Liebe lässt sich nicht adäquat aus der dritten Person heraus beschreiben, denn sie spielt sich zwischen einem Ich und einem Du ab. Deshalb sei der Versuch gemacht, sie dementsprechend zu charakterisieren, changierend zwischen Prozess, Zustand und Gefühl und damit zwischen all den vergeblichen Versuchen einer eindeutigen Definition. Das ist Liebe: Dass ich dich immer mehr erkenne und so annehme, wie du bist. Dass ich meine Erwartungen korrigiere, statt dich korrigieren zu wollen. Dass ich darauf vertrauen kann, dass wir mit Differenzen kreativ umgehen. Dass ich das Unbekannte an Dir als Geheimnis schätze, von dem ich mich überraschen lasse. Dass ich als Geschenk erfahre, an deinen Eigenarten, geheimen Wünschen und Ängsten Anteil zu haben. Dass ich schon an deinem Mienenspiel und an kleinen Gesten erkenne, was du fühlst und was du denkst. Dass ich immer wieder ein Glücksgefühl spüre, wenn ich dich sehe. Dass du mein Innerstes zum Klingen bringst, wenn du mich berührst, und dass deine Zärtlichkeiten geweckt werden, wenn ich dich berühre. Dass du immer noch Gänsehaut bekommst, wenn ich dich streichele. Dass wir uns wechselseitig mit allen Sinnen spüren und genießen können. Dass ich die Freude erfahre, deine Wünsche abzulesen und erfüllen zu können, manche Ängste mit dir zu teilen oder dir nehmen zu können. Dass ich unglücklich bin, wenn du leidest, und daran verzweifle, wenn ich dir nicht helfen kann. Dass ich im Innersten erwärmt werde, wenn ich dir Freude bereite. Dass ich mich dir gegenüber vorbehaltlos öffnen kann. Dass ich dir nichts vorspielen muss und will. Dass ich mir wünsche und darauf hinwirke, dir immer vertrauter zu werden, dass du mir meine Schwächen verzeihst, dass du meine Wünsche kennst und erfüllen möchtest, dass du meine Ängste auffängst und mir ein inneres Zuhause schenkst, in dem ich mich geborgen fühle. Dass ich dankbar bin für alles, bei dem wir in Resonanz geraten, wo wir Übereinstimmung entdecken. Dass ich dir Zeit und Raum lasse, wo du für dich sein möchtest. Dass ich als Bereicherung erfahre, etwas von deinen Erfahrungen zu teilen, die ich ohne dich nicht hätte, und dass du mich mit den Früchten deiner Fähigkeiten beschenkst. Dass ich als Glück erfahre, wenn du Interesse an meinen Interessen zeigst und sie auch auf dich übergehen. Dass ich spüre, wie du fühlst, was ich für dich empfinde. Dass ich dir vertraue, und dass du mir vertrauen kannst, weil mir deine Hingabe das größte Lebensgeschenk ist, das ich nicht verlieren möchte. Dass ich weiß, wie sehr wir beide zu schätzen wissen, dass wir uns fanden und dass wir uns haben. Es wird aufgrund anderer Erfahrungen manche geben, die den letzten Abschnitt eher in einem Liebesroman als in einem Buch mit wissenschaftlichem Anspruch erwarten würden. Manche wehren sich gegen eine emotionale Abhängigkeit und fühlen sich in den unverbindlichen Beziehungen eines Single-Daseins oder einer vorübergehenden Beziehungskiste wohl. Manche haben Enttäuschungen erlebt und wollen den Schmerz einer neuerlichen Verletzung vermeiden. Manche sehen sich in einer Beziehung, in der sie sich unfrei und eingeengt fühlen und in die auch offene Gespräche keine befriedigende Klärung bringen. Manche stellen fest, dass die Liebe, an die sie geglaubt haben, durch Entfremdung erkaltet ist, und dass an ihre 238
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Stelle eine Niedergeschlagenheit getreten ist, die nur durch eine Trennung überwunden werden kann. Nicht zu reden von Beziehungen, in denen Dominanz und Gewalt regieren, wo nur von Abhängigkeit, aber nicht von Liebe gesprochen werden kann. Manche aber, auch das sagt meine Lebenserfahrung und nicht nur die Profession als Psychologe, sehen in der beschriebenen Form von Liebe ihre eigene Situation und ihre Erfüllung. Vielleicht ist sie in der Gegenwart durch alternative Lebensformen seltener geworden. Manche wachsen durch unruhige Zeiten hindurch in diese Verbundenheit erst allmählich hinein. Und vielleicht wird in Zukunft ihr Wert wieder bewusster wahrgenommen, wenn deutlich wird, dass übertriebener Individualismus zu Einsamkeit führt. Wichtig ist vor allem zu wissen, dass die Sehnsucht nach Einssein nicht illusorisch sein muss. Jenseits von überzogenen Erwartungen kann die Isolation der individuellen Eigenwelten durch den gemeinsamen Gestaltkreis aus Wahrnehmen, Fühlen und Handeln in mancherlei Hinsicht aufgelöst und das Spüren von Resonanz als Glück erfahren werden. „Jeder Mensch ist eine Insel. Liebende bringen es in ihrem Leben bis zur Halbinsel.“ sagt der österreichische Aphoristiker Ernst Ferstl.135 Kurz gesagt: Die Sehnsucht nach Einssein mit einem geliebten Menschen landet oft zwischen überzogenen Erwartungen und Enttäuschung. Liebe im Sinne solchen Einsseins entspringt wahrscheinlich nicht der Sexualität, sondern der Mutter-Kind-Beziehung. Sie kann sich zwischen zwei Menschen im Flow gegenseitigen Gebens und Nehmens entwickeln. Dann kann sich eine Wirklichkeit bilden, die von beiden als eine gemeinsame erfahren wird und z. B. im gemeinsamen Heim konkret wird. Die Einsamkeit des Individuums kann nirgends so weitgehend überwunden werden wie im geteilten Erlebnis solcher Zweisamkeit.
Literatur Fromm 1998. Ortega y Gasset 2012. Precht 2010. Stendhal 1822.
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Die zweite Entstehung der Welt
Die Geheimschrift Kurz nach dem Abitur habe ich mich heftig in meine Zimmernachbarin verliebt. Die junge Frau ist attraktiv und hat eine atemberaubende Figur. Sie ist vier Jahre älter als ich und mir auch geistig um Einiges voraus, wie ich in Gesprächen mit ihr feststellen muss. Was mich etwas wurmt, aber auch herausfordert. Sie kommt aus Göttingen, „der Stadt der Wissenschaft“, wie sie beiläufig anmerkt. In stundenlanger Arbeit entwickle ich eine kunstvolle und, wie ich meine, raffinierte Geheimschrift aus farbigen Punkten und Bögen und schreibe ihr in dieser kryptisch verschlüsselten Form einen Brief, der rückhaltlos alles enthält, was ich für sie empfinde und was ich mir erhoffe. Nie würde ich wagen, derart intime Dinge über die Lippen oder in Klarschrift zu Papier zu bringen. Als ich ihr den Umschlag übergebe, verspreche ich ihr, zu gegebener Zeit den Code zur Entschlüsselung zu liefern. Dazu sei die Zeit im Augenblick noch nicht reif, der Inhalt des Schreibens noch zu – persönlich. Aber mir läge daran, es ihr schon jetzt zu übergeben, als gemeinsames Geheimnis. Eine Woche später treffe ich sie wieder. Mit einem undefinierbaren Lächeln reicht sie mir ein Briefchen. Als ich allein auf meinem Zimmer bin, öffne ich das Kuvert mit pochendem Herzen und hole die hellblaue Karte heraus, die einen Hauch von Lavendel verströmt. Konsterniert schaute ich auf den Text. Sie hat ihn in meiner Geheimschrift geschrieben! Sie hat meinen Code geknackt! Mir wird heiß und kalt. Ich spüre einen Wirbel von Gefühlen. Ich ärgere mich, bewundere sie und bin vor allem aufgeregt vor Erwartung, was sie geschrieben hat. Atemlos entschlüssele ich ihren Brief. Darin lässt sie mich wissen, dass sie bereits vergeben sei, sich aber freuen würde, wenn wir Freunde blieben.
Abb. 88: Meine Geheimschrift, die nicht lange geheim blieb.
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Sprache – Worüber reden wir eigentlich?
Anders gefragt: Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache, wenn es um Verständigung geht? Warum ist z. B. Liebe so schwer in Worte zu fassen? Wörter und ihre Begriffe sind aus der allgemeinen Kommunikation entstanden, sie beziehen sich auf Erfahrungen vieler, die Gleiches oder Ähnliches zur Grundlage haben. Liebe im engeren Sinne entsteht dagegen als etwas jeweils Neues im nonverbalen und verbalen Dialog zwischen zwei Menschen. Daher entzieht sich der Begriff einer allgemeingültigen Definition. Liebe entwickelt sich in der exklusiven Schutzzone intimer Zweisamkeit. Schon das schweigende Beieinandersein gehört dazu, bei dem beide etwas spüren und gewiss sind, dass der Partner das Gleiche spürt. Liebe ist ein Beispiel für Emergenz, das Entstehen von etwas Neuem, das jeweils einzigartig ist, weil es nur zwischen diesen beiden Menschen existiert. Natürlich gibt es unzählige Paare mit ähnlichen Erfahrungen, aber sie verweigern sich der verbalen Erfassung vor allem deshalb, weil die dynamischen Prozesse und Gefühle in einem intimen Gestaltkreis sich nicht beschreiben lassen. Selbst jeder der beiden Partner in einer Liebesbeziehung hat bei genauer Betrachtung wohl etwas andere Vorstellungen von Liebe. Das Wort „Liebe“ ist nur ein Etikett, das jeder auf seinen eigenen Begriffskasten klebt. Was in all den Kästen enthalten ist, die dieses Etikett tragen, ist bei jedem Menschen etwas anders. Aber die Schnittmenge reicht offenbar für die alltägliche Kommunikation aus. In ihr ist vermutlich überall „Sexualität“ enthalten, einfach deshalb, weil sie jeder kennt und weil sie emotional stark besetzt ist. Von daher lässt sich leicht verstehen, dass das Wort „Liebe“ so unbefriedigend wie häufig auf den bloßen Sexualakt bezogen wird. An diesem Beispiel wird deutlich, wie vage die Wörter sein können, mit denen wir täglich umgehen. Die Ungenauigkeit der Sprache ist als Problem deshalb so entscheidend, weil Sprache das wichtigste Mittel der menschlichen Kommunikation und der Verbindung zwischen den Erlebniswelten von Individuen darstellt. Wie soll eine Mitteilung funktionieren, wenn Sender und Empfänger nicht über die gleichen Beziehungen zwischen Wort und Bedeutung, zwischen Signifikant und Signifikat, verfügen? Aldous Huxley schreibt: „Schon von Natur ist jeder verkörperte Geist dazu verurteilt, Leid und Freud in Einsamkeit zu erdulden und zu genießen. Empfindungen, Gefühle, Einsichten, Einbildungen – sie alle sind etwas Privates und nur durch Symbole und aus zweiter Hand mitteilbar. Wir können Berichte über Erfahrungen austauschen und sammeln, niemals aber die Erfahrungen selbst. Von der Familie bis zur Nation ist jede Gruppe von Menschen eine Inselwelt, deren jede Insel ein Weltall für sich ist. Die meisten solchen Inseln gleichen einander genügend, um ein erschlossenes Verständnis oder sogar wechselseitige Empathie oder Einfühlung zu ermöglichen.“136 Oft wird behauptet, dass die Bedeutung der Worte durch Vereinbarung und Konvention zustande gekommen ist. Das ist wohl am ehesten im Sinne der alltäglichen Kommunikation 241
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zu verstehen, bei der im wechselseitigen Gebrauch von Wörtern der Gehalt sich teils durch Schnittmengen in der individuellen Erfahrung sowie durch den jeweiligen Kontext herauskristallisiert. Gelegentlich gibt es tatsächlich Zusammenkünfte etwa in den Wissenschaften, um Definitionen und Standards festzulegen. Man denke auch an die Rechtschreibreform mit zahlreichen Sitzungen in den Jahren 2004 bis 2017, die Klarheit, Logik und Eindeutigkeit in die Schriftform der deutschen Sprache bringen sollte. Die zahlreichen Proteste dagegen ließen erkennen, dass Sprache schwerlich verordnet werden kann, sondern etwas wie auch immer Gewachsenes ist. Dieses Wachsen geschieht in der Entwicklung einer Kultur, aber auch in der Ontogenese jedes Menschen neu, der seine Muttersprache erwirbt. Gehen wir zunächst auf die Frage ein, wie das Kulturgut Sprache überhaupt entstanden ist. Der Geist der Romantik zeigt sich immer noch wirksam, wenn er uns über allzu selbstverständlich Gewordenes staunen lässt. So leitet Martin Kuckenburg sein Buch über die Entstehung von Sprache und Schrift mit einem Gedicht von Novalis (Georg Philipp von Hardenberg) ein: „Die Bezeichnung durch Töne und Striche Ist eine bewundernswürdige Abstraktion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; Einige Striche eine Million Dinge … Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freiheit Nationen.“
Novalis bringt das Erstaunen über die Macht der Sprache zum Ausdruck: darüber, wie mit Kleinstem Großes bezeichnet und mit Schwachem Starkes bewegt werden kann. Man kann sich vorstellen, dass der Glaube an Zaubersprüche seinen Grund in der magischen Erfahrung hat, dass einfache Worte so wirkmächtig sind, dass Menschen dadurch in Aktion versetzt und weitreichende Ereignisse ausgelöst werden können. Bereits der Urschrei eines Neugeborenen zeigt Wirkung. Insofern kam das Experiment von Psammetich I schon zu spät, über das Herodot berichtet. Der Pharao wollte herausfinden, was das erste Wort sei, was ein Kind spricht, das ohne sprachliche Einflussnahme aufwächst. Er ließ zwei neugeborene Knaben von einem Ziegenhirten aufziehen, der kein Wort mit ihnen sprechen dufte. Mit zwei Jahren stießen sie wiederholt „bekos“ hervor, das wie das phrygische Wort für Brot klang. Damit war für Psammetich I entschieden: Die Phryger aus Kleinasien sind das älteste Volk der Welt. Dass die Knaben vielleicht nur das Meckern der Ziegen nachgeahmt hatten, kam niemandem in den Sinn.137
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Abb. 89: Die Phryger mögen zwar nicht die älteste Sprache hervorgebracht haben, doch haben sie sich mit der Phrygischen Mütze verewigt. Sie bietet ein Beispiel für den Bedeutungswandel, den ein Gegenstand zusammen mit seiner sprachlichen Bezeichnung durchlaufen kann. Ursprünglich war die Kopfbedeckung aus dem Hodensack eines Stieres gefertigt und sollte den Träger mit entsprechender Energie und Zeugungskraft versehen. Als Kopfbedeckung des persischen Gottes Mithras erhielt sie göttliche Weihen und charakterisierte seine Priester als Träger der Mysterien. Den Griechen galt die Phrygische Mütze als Merkmal der Barbaren. Die Amazonen trugen sie als Zeichen der Manngleichheit. In der Französischen Revolution wurde sie zum Symbol der Freiheit. Heute schmückt sie als Zipfelmütze verballhornt Gartenzwerge und Schlümpfe. Abgebildet ist ein ca. 200 Jahre altes Stehaufmännchen mit Phrygischer Mütze und Narrenkostüm. Es ist der Narr, der sich auch vor dem König alle Freiheiten nehmen kann und sich nach Niederschlägen immer wieder erhebt. Das grausame Experiment von Psammetich wurde im Mittelalter mehrfach wiederholt, teils mit tödlichen Folgen für die Kinder. Sprache galt wie alles andere als gottgegeben, nicht als erworben. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache ging den Weg über religiöse Dogmen und philosophische Spekulationen hin zur vergleichenden Sprachwissenschaft, zu Biologie und Verhaltensforschung. Kirchenvertretern und Philosophen galt lange Zeit die Sprache als Alleinstellungsmerkmal des Menschen gegenüber den Tieren. Aristoteles differenzierte: Zwar geben auch Tiere Laute von sich, die sie sich mitteilen, doch „Ein Laut ist nicht durch sich selbst ein Wort, sondern wird es erst, wenn er vom Menschen als Zeichen verwendet wird.“138 Im Zusammenhang mit Körpersprache wurde schon in Kap. 26 deutlich, dass es im Tierreich nicht nur Affektäußerungen gibt, sondern vornehmlich solche, die spezifische kommunikative Bedeutung, also Zeichencharakter besitzen. Wenn der brünftige Hirsch brüllt, ist das ein 243
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unmissverständliches Signal für interessierte Weibchen. Wenn ein Brüllaffe brüllt, demonstriert er damit seinen Revieranspruch. Wenn der Löwe bei der Jagd auf eine Zebraherde brüllt, trennt er damit die fitten, die davonstieben, von den kranken, die zurückbleiben und leichte Beute sind. Heute noch stehen sich „Kontinuitätstheorie“ (die die menschliche Sprache aus tierischen Anfängen herleitet) und „Diskontinuitätstheorie“ (die sie als unabhängiges System erklärt) gegenüber. Manche sehen in der verbreiteten Neigung zu Small Talk, Klatsch und Tratsch die direkte Fortsetzung eines vocal grooming, das das physische grooming (Kraulen) bei Affen als sozialen Kitt ersetzt und den Ursprung der menschlichen Sprache gebildet haben soll. Dass Tiere gelegentlich auch dann Alarmschreie ausstoßen, wenn kein Artgenosse in der Nähe ist, ist kein Gegenbeweis zur prinzipiellen Kommunikationsfunktion, wie gelegentlich behauptet wird. Jeder weiß, wie viele Menschen beim Telefonieren heftig gestikulieren, obwohl der Gesprächspartner davon nichts mitbekommen kann. Im Übrigen wurde nachgewiesen, dass Meerkatzen keinen Alarm geben, wenn sie allein sind, und dass sie es besonders häufig tun, wenn ihre Jungen in der Nähe sind. Es handelt sich also um keinen blinden Reflex, sondern um eine kontextabhängige Handlung. Auch geben Affenkinder anfänglich bei allen möglichen Tieren Alarm und lernen erst allmählich zwischen gefährlichen und ungefährlichen zu unterscheiden. Experimente mit Schimpansen haben gezeigt, dass manche zwar mental in der Lage sind, mehrere hundert Lexigramme zu lernen und über eine Symboltafel sinnvoll zu nutzen. Allerdings hat keine Affenart in Kehle und Zungenbein die anatomischen Voraussetzungen dafür, artikuliert sprechen zu können. Die Sprechfähigkeit ist Alleinstellungsmerkmal des Menschen. „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache,“ schrieb Wilhelm von Humboldt. Die Suche nach einer Ursprache wurde inzwischen als aussichtslos aufgegeben. Allerdings sprechen Gemeinsamkeiten in der Struktur der Sprachen dafür, dass es einen gemeinsamen Ursprung gegeben hat. Anatomisch gesehen haben vielleicht schon die fernen Vorfahren vor 400 000 Jahren sprechen können. Die Frage nach einem Stammbaum der Sprachen ist dem Vergleich und der Differenzierung von Sprachfamilien gewichen, der sehr viel später ansetzt. Dies ist als Effekt der methodischen Zugänglichkeit zu sehen, ähnlich wie die Frage nach dem Stammbaum des Menschen der Analyse eines Stammbuschs Platz gemacht hat, der die Existenz einer einzigen Wurzel nicht ausschließt. In diesen Stammbusch hat nicht nur der Homo sapiens, sondern nach jüngsten Erkenntnissen auch z. B. der Neandertaler mit seinen Genen Eingang gefunden, der mit einem kleinen Prozentsatz in jedem Europäer steckt und somit nicht ganz ausgestorben ist. Vormals galt er als Inbegriff des tumben Troglodyten, doch sein Gehirn war größer als das des Homo sapiens, er fertigte Werkzeug und Schmuck, und entgegen früherer Annahmen hatte er wohl auch die anatomischen Voraussetzungen zu sprechen. Der einflussreiche amerikanische Linguist Noam Chomsky ging in den 1960er Jahren davon aus, dass sich die Sprache beim Frühmenschen als Instinkt entwickelt hat, der sich bis heute in einer angeborenen Grammatik bemerkbar macht. Etwa zur gleichen Zeit kam die Hypothese auf, 244
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dass es zwischen dem indischen Sanskrit und dem Nahuatl der Azteken Verwandtschaften gibt, was allerdings nicht auf humangenetische Faktoren, sondern auf eine gemeinsame Vorläufersprache zurückgeführt wurde. Diese müsste über 10 000 Jahre alt sein, weil damals die amerikanischen Ureinwohner von Asien über eine Landbrücke nach Nordamerika eingewandert sind.139 Unterstützt wird die Annahme durch Gemeinsamkeiten in anderen Kulturgütern, etwa durch die Ähnlichkeit präkolumbianischer Brettspiele in Amerika mit alten ostasiatischen Brettspielen.140 Genetische und kulturelle Faktoren schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern wirken zusammen. Bei den meisten Menschen liefert der linke Temporallappen des Gehirns biologische Grundlagen für Sprechen und Sprachverständnis. Er ist im Allgemeinen größer als der rechte, was sich an Abdrücken auf der Schädelinnenseite schon beim Neandertaler und beim Homo erectus (vor 300 000 bis 500 000 Jahren) zeigt. Auch die Gestik wird von der linken Hirnhälfte gesteuert. Händigkeit, Sprache und Zeichensprache werden fast immer von der linken Hemisphäre gesteuert. Es spricht manches dafür, dass sich Sprache zusammen mit Gestik entwickelt hat. Die steinzeitlichen Jäger waren darauf angewiesen waren, sich lautlos zu verständigen.141 Heute gilt als selbstverständlich, dass die jeweilige Muttersprache von jedem Kind neu erlernt werden muss. Dies ist auch mit einem Verlernen von überschüssigen Fähigkeiten verbunden. Die meisten erwachsenen Japaner sind nicht in der Lage, den Unterschied zwischen den Phonemen für r und l wahrzunehmen. Sie haben es verlernt. Japanische Kleinkinder erkennen den Unterschied wohl. Ihr Potential ist also auf eine größere Vielfalt vorbereitet, als die Kultur ihnen abverlangt, in die sie hineingeboren werden.142 In den Kultur- und Sozialwissenschaften wird oft übersehen, dass das Erlernen von Sprechen und Verstehen von Sprache bestimmter biologischer Voraussetzungen bedarf. Tatsächlich ist es einer speziellen hirnorganischen und sprechmotorischen Mitgift des Menschen zu verdanken, dass das Kleinkind über das angeborene Potential verfügt, jede natürliche Sprache der Welt erwerben zu können. Kein Tier verfügt darüber, so intelligent es sein mag. Und kein Computer ist bislang dazu in der Lage, so sehr Programme zur Erkennung und Produktion von Sprache uns darüber hinwegtäuschen wollen. Das sozialwissenschaftliche Standardmodell spricht von Erlerntem, ohne sich für die biologischen Voraussetzungen des Lernens zu interessieren, und wird dafür zu Recht kritisiert.143 Der Spracherwerb verläuft universell in gleichen Schritten. Das anfängliche Plappern dient zur Übung und Kontrolle der Sprechmotorik. Unter den geäußerten Sprachlauten sind manche, die in der Muttersprache nicht gebraucht werden. Ähnlich wie beim hörenden Unterscheiden ist ein Überschuss an Phonemen gegeben, unter denen im weiteren Verlauf selektiert wird. Wichtig ist der Feedback-Zirkel zwischen Kleinkind und Eltern. Gelegentlich wurde gefordert, nicht die Babysprache zu verwenden, weil sie das Kind nicht weiterbringe. Das ist aber nicht richtig. In der Interaktion mit dem Baby ist das Spiel mit der Widerspiegelung von verbalen und gestischen Äußerungen wichtig. Dabei freut es sich besonders, wenn die Mutter auf seine Äußerungen gleichartig reagiert. Hierdurch wird es zur Intensivierung des Austausches 245
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und so zur Widerspiegelung auch von Äußerungen der Mutter motiviert. Dieses Spiel vollzieht sich ganz natürlich, ohne dass es dazu irgendwelcher Ratgeber bedürfe, und führt zur zunehmenden Herausbildung der Muttersprache. Am Ende des ersten Lebensjahres sind die erforderlichen Phoneme verfügbar, und das Kind spricht die ersten einzelnen Wörter. Zum Lernen ist unerlässlich, dass die Eltern die Dinge benennen, für die das Kind sich gerade interessiert, und dass das Kind die Bezeichnungen wiederholt. Für ferner liegende Objekte erhält das Zeigen Bedeutung. Es ist eine Geste, die aus dem Greifen entstanden ist und von daher seine Beziehung zu dem jeweiligen Objekt des Interesses erhalten hat.
Abb. 90: Das Greifen und Langen nach nahen bzw. fernen Objekten lässt sich als Vorstufe des Zeigens verstehen, eine wichtige Geste, um die Benennung von Objekten außerhalb des Greifraums zu vermitteln und zu lernen. Man beachte den gleichzeitigen hilfesuchenden Blickkontakt, der die Kommunikation über den Gegenstand in Gang setzt. Die sprachlichen Bezeichnungen setzen zwar an konkret Einzelnem an, werden dann aber oft auf eine Vielzahl ähnlicher Gegenstände angewandt, also generalisiert. Das Wort „Wauwau“ etwa wird für alle Vierbeiner verwendet. Später erfolgt mit wachsendem Wortschatz eine zunehmende Differenzierung. Mit etwa zwei Jahren bildet das Kind die ersten Zwei-Wort-Sätze. Sie enthalten schon eine Reihe semantischer Beziehungen: „Agent-Handlung (Opa essen), Agent-Objekt (Mami Strumpf), Objekt-Handlung (Apfel essen), Objekt-Ort (Mammi da), Objekt-Attribut (Hexe krank), Besitzer-Objekt (Inge Buch), Objekt-Negation (Kaffee nein).“144 Mein eigener erster Zwei-Wort-Satz war vom Typ Handlung-Bejahung (Happhapp jaa) – in der Nachkriegszeit eine Äußerung von existentieller Bedeutung, um bei den Mahlzeiten ja nicht übersehen zu werden. Wie mir auch erzählt wurde, erfolgte in einem späteren Stadium der erste Drei-Wort-Satz, der den Fortschritt in der Nahrungsversorgung mit gestiegenen Ansprüchen widerspiegelt: „Nich Pompoffel, Feisch!“ Den Zwei-Wort-Äußerungen folgen Mehrwort-Sätze, die als Telegrammstil bezeichnet werden, weil ihnen Artikel wie „der“ und Kopulaverben wie „ist“ fehlen. Der Wortschatz wächst, und mit 246
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der Zeit ähneln sich die Sätze an die der Erwachsenen an. Der Spracherwerb beansprucht bis zum sechsten Lebensjahr ca. 10 000 Stunden.145 Mit zehn Jahren hat ein Kind alle grammatischen Regeln seiner Muttersprache verinnerlicht. Sie zu artikulieren, ist allerdings selbst den Erwachsenen für gewöhnlich nicht möglich. Was „in Fleisch und Blut übergeht“, wird kognitiv nicht kodiert. In unterschiedlichen Kulturen gibt es das gleiche Zeitfenster vom dritten Lebensjahr bis zur Pubertät, innerhalb dessen es leichtfällt, sich eine Fremdsprache anzueignen. Kinder, die ohne menschliche Zuwendung aufgewachsen sind („Kaspar-Hauser-Kinder“), lernen nach der Pubertät nicht mehr sprechen.146 Noam Chomsky geht davon aus, dass es ein angeborenes neuronales Programm mit einer Universalgrammatik gibt, das Sprachenlernen ermöglicht. Es erkennt am Klangmuster, ob es sich um eine Sprache handelt, und führt zu einem dauernden Abgleich eigenen Sprechverhaltens mit dem Gehörten, was eine Optimierung der Sprachaneignung mit sich bringt. Der neuronale Verlauf der Sprachwahrnehmung gilt als gut überprüft.147 Die Schallinformationen laufen vom Corti-Organ im Innenohr über den Hörnerv, wo sie nach Frequenzen sortiert sind, zum mittleren Kniehöcker im Thalamus. Von dort laufen Signale zum primären auditorischen Kortex und in übergeordnete Kortex-Areale, wo das Klangmuster analysiert wird. Weiter gehen Erregungen zum parietal-temporal-okzipitalen Assoziationskortex, in den auch Signale aus anderen Sinnesgebieten eingehen. Von dort aus erreichen die Signale das Wernicke-Areal im Temporallappen, das für das auditive Verständnis unerlässlich ist. Darüber hinaus laufen Erregungen zum Broca-Areal im Frontalhirn, wo die Artikulation von Wörtern gespeichert ist. Von dort werden Signale zum motorischen Kortex übertragen, der zusammen mit motorischen Programmen des Kleinhirns die Aussprache steuert. Auf diese Weise führen gehörte Wörter gleichzeitig zu einem mentalen Training des eigenen Sprechens. Beim Lesen von Wörtern erfolgt zunächst eine Analyse der Schrift in den visuellen Zentren des Okzipitalhirns, woraufhin die Signale in das Broca-Areal münden und von dort aus den bereits beschriebenen Weg gehen. So ist zu verstehen, dass man auch beim stillen Lesen „innerlich mitspricht“. Es gibt spezielle Techniken, die die Lesegeschwindigkeit erheblich steigern dadurch, dass die zusätzliche, aber entbehrliche Arbeit des inneren Mitsprechens abtrainiert wird. Nicht nur die linke Hirnhälfte ist bei der Sprache beteiligt. Sie ist für die kognitiven Funktionen zuständig. Die rechte sorgt für affektive Aspekte, insbesondere für die Prosodie der Sprache. Damit sind Tonhöhe, Betonung, Rhythmus und Sprachmelodie gemeint. Bei Ausfällen in diesem Hirngebiet wird die Stimme eintönig und die Betroffenen sind nicht mehr imstande, den emotionalen Gehalt der Prosodie zu verstehen. Die menschliche Sprache ist ein unbegrenztes System. Aus 20 bis 60 Phonemen lassen sich hunderttausende verschiedener Wörter bilden, und ständig werden neue erfunden, so wie alte in Vergessenheit geraten. Wörter wiederum lassen sich zu unterschiedlichsten Sinneinheiten, den Sätzen, kombinieren, Sätze werden zu Mitteilungen, Mitteilungen zu Gesprächen. Auch 247
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inhaltlich ist das System unbegrenzt. Es reicht vom konkreten „Apfel“ über abstrakte Begriffe wie „Kunst“ bis hin zu Wörtern, die selbst Unbegreifbares wie „Quanten“ aussprechlich machen. Was verstehen wir unter „Apfel“? Gibt es das „Wesen“ des Apfels, das im ewigen Reich der Ideen festgeschrieben und für den Erleuchteten abrufbar vorhanden ist? Vermutlich nicht. Sucht man in einer Enzyklopädie oder bei Wikipedia nach einer verbindlichen Definition, wird man mit einer botanischen Bestimmung konfrontiert, die mit der Alltagserfahrung wenig zu tun hat. Dennoch wissen wir alle, was damit gemeint ist, hören und benutzen das Wort, als verstehe es sich von selbst. Aber was ist „der Apfel“? Ist er rot, gelb oder grün, groß oder klein, sauer oder süß? Begriffe sind Abstraktionen, wird oft gesagt. Das gilt z. B. für Zahlen, sie sind unabhängig vom Gezählten. Doch vom Apfel bleibt nicht viel übrig, wenn wir von Farbe, Größe und Geschmack abstrahieren. Vielmehr kann er all die genannten Eigenschaften haben, er steht gleichsam im Mittelpunkt eines Netzes einer Vielzahl anderer Begriffe. Das gilt für jeden Begriff. Ein Begriff ist der Knotenpunkt aller mit ihm zusammenhängenden potenziellen Eigenschaften und Assoziationen, die vom jeweiligen Erfahrungshintergrund abhängig sind. Die Gesamtheit dieser Verbindungen macht den Bedeutungsgehalt eines Begriffes aus. Die Frage, was die semantische Einheit ausmacht, das, was vormals als „Wesen“ einer Sache bezeichnet wurde, wird uns noch an späterer Stelle beschäftigen. Vorläufig sei nur vermerkt, dass die erlernten Beziehungen eines Begriffs im Moment der Nennung nicht in ihrer Gänze bewusst sind, aber prinzipiell bewusst gemacht werden können.
Abb. 91: Das Wort „Apfel“ bezeichnet einen Begriff, der den Knotenpunkt eines Halos erlernter Eigenschaften und Assoziationen bildet. 248
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Das mit dem Knotenpunkt verbundene Halo von Assoziationen ist von Mensch zu Mensch verschieden, je nach persönlicher Erfahrung und Wissen. Nicht jeder bringt mit „Apfel“ die Hesperiden in Zusammenhang oder weiß, dass es sich um ein Rosengewächs handelt. Dass der lateinische Name wegen der angeblichen Rolle des Apfels beim biblischen Sündenfall malus (das Böse) lautet, ist wohl den Wenigsten bekannt. Für die Kommunikation ist entscheidend, dass die Schnittmengen zwischen verschiedenen Menschen hinreichend groß sind. Die Gewichtungen im Bedeutungsnetz können variieren. Ernst Cassirer sagt: „Wenn in ein und derselben Sprache, im Sanskrit, der Elefant bald der zweimal Trinkende, bald der Zweizahnige, bald der mit einer Hand versehene heißt: so zeigt sich hierin, dass die Sprache niemals einfach die Objekte, die wahrgenommenen Gegenstände als solche, sondern die vom Geist selbsttätig gebildeten Begriffe bezeichnet, wobei die Art dieser Begriffe stets von der Richtung der intellektuellen Betrachtung abhängt.“148 Viele der in Abb. 91 aufgeführten Begriffe sind wiederum Knotenpunkte anderer Halos. Insgesamt ergibt sich für unsere Begriffswelt bei einem durchschnittlichen Schatz von mehreren zehntausend Wörtern ein hochkomplexes Netzwerk. Man spricht vom semantischen Netz. Jeder neue Begriff, den wir bilden, wird in dieses Netzwerk integriert oder führt zu seiner Erweiterung. Möglicherweise sind Begriffe in neuronaler Hinsicht ähnlich repräsentiert. Die neuronalen Zentren für Farbe, Form, haptische, gustatorische und andere Eigenschaften sind räumlich getrennt, zugleich aber ist das Gehirn extrem vernetzt. In Kap. 42 und 43 kommen wir darauf zurück. Neben Begriffen der genannten Art gibt es Zahlen und Qualitäten, die unabhängig von Objekten sind. Allgegenwärtig und geläufig sind uns die Farben. Manche Wissenschaftler meinen, dass die Sprache darüber entscheidet, welche Farben wir unterscheiden. Die Tatsachen sprechen aber dagegen. Die meisten Tiere unterscheiden Farben ganz ohne Sprachbezeichnungen. Menschen können ca. 7 Millionen Farben unterscheiden, demgegenüber aber gibt es nur wenige geläufige Farbnamen. Im Deutschen und im Englischen gibt es 11 Grundfarbwörter: schwarz, weiß, rot, grün, gelb, blau, braun, lila, rosa, orange, grau. Die Dani auf Neuguinea kennen nur zwei Grundfarbwörter: mili für dunkle, kalte und mola für helle, warme Farben. Wiedererkennungsexperimente haben gezeigt, dass die Dani trotzdem Farben ähnlich gut identifizieren können wie englischsprechende Personen. Die Farbdiskriminierung arbeitet also unabhängig davon, ob die Farben benannt werden können oder nicht. Zudem zeigte sich, dass die Fokalfarben Rot, Gelb und Blau auch bei den Dani besondere Kategorien bilden, obwohl es bei ihnen keine Namen dafür gibt.149 Ich wollte wissen, wie interindividuell einheitlich oder verschieden die Farbbegriffe sind, die sich hinter unseren geläufigen Farbnamen verbergen, und führte hierzu eine kleine Untersuchung durch.150 77 Designstudierende sollten zuhause sechs leere Quadrate mit folgenden Farben ausfüllen: Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett. Der jeweilige Farbton sollte 249
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möglichst rein getroffen werden, gleich, ob mit Farbstift, Tubenfarbe oder Farbkarton. Die 462 erhaltenen Farbtöne wurden fotometrisch ausgemessen. Die Ergebnisse fasst Abb. 92 zusammen. Man sieht, dass die Fokalfarben Rot, Gelb und Blau recht einheitlich realisiert wurden. Orange zeigt Überschneidungen mit Rot und Gelb. Das heißt: Was manche als reines Orange bezeichnen, ist für andere ein reines Rot, auf der anderen Seite bezeichnen manche als reines Gelb, was anderen ein reines Orange ist. Besonders uneinheitlich ist „Violett“. Manche wählten hierfür einen Farbton, der den Kernbereich von Rot berührt (Karminrot), andere einen Farbton, der zum Kernbereich von Blau gehört (Indigoblau). Interessant ist auch die Lücke zwischen Gelb und Grün. Sie macht darauf aufmerksam, dass es hierfür gegenwärtig keine gebräuchliche Bezeichnung gibt. In früherer Zeit nannte man diesen Farbbereich „lind“, in Orientierung an den Blättern der Linde. Es könnte eine sprachliche Lücke gefüllt werden, wenn sich diese Bezeichnung wieder einbürgern würde.
Abb. 92: Geltungsbereiche von Farbbezeichnungen. Die Kernbereiche enthalten die mittleren 50 % der Farbproben. Die Unschärfe auch geläufiger Farbbezeichnungen wirft ein interessantes Licht auf Sprache und Kommunikation. Die Sprache wird der Farbunterscheidungsfähigkeit der Wahrnehmung nicht annähernd gerecht, geschweige denn, dass Sprache bestimmt, welche Farben wir wahrnehmen können. Im interindividuellen Vergleich verbergen sich, wie wir gesehen haben, hinter gleichen Farbbezeichnungen z. T. recht verschiedene Farbbegriffe. Trotzdem gebrauchen wir sie täglich, und sie gehören zu den frühesten Kategorisierungen, die Kinder erlernen. Man kann davon ausgehen, dass die Farbbegriffe sich bei jedem Individuum bilden wie alle anderen Begriffe auch, nämlich auf der Grundlage unmittelbarer und vermittelter Erfahrungen. 250
29 Sprache – Worüber reden wir eigentlich?
Die technischen Standards von RAL-Farben und anderen Systemen geben nur vereinheitlichte Wahrnehmungsbedingungen vor, sie vereinheitlichen nicht die Wahrnehmung selbst. Die Vagheit der Sprache, die an diesem Beispiel wieder deutlich wird, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Die scheinbare Einfachheit von Wörtern täuscht darüber hinweg, dass die von den Wörtern bezeichneten Begriffe nicht allgemeinverbindlich festgeschrieben sind. Auch jede Definition enthält Wörter, die wiederum auf mehr oder weniger unscharfe Begriffe verweisen. In den Wissenschaften hat man gelernt, gegenüber Definitionen skeptisch zu sein: „Unzureichende oder voreilige Definitionen können Schaden anrichten.“151 Wie ist es möglich, dass die Menschen mit diesem mangelhaften Instrument erfolgreich kommunizieren können? Die Ungenauigkeit der Sprache wurde von Ludwig Wittgenstein ursprünglich kritisiert. Später kam er zu der Erkenntnis, dass die Ungenauigkeit notwendigerweise akzeptiert werden muss, „soweit es nicht zu Missverständnissen kommt“. „Auf die Frage „Was bedeuten die Wörter ‚rot‘, ‚blau‘, ‚schwarz‘, ‚weiß‘, können wir freilich gleich auf Dinge zeigen, die so gefärbt sind, – aber weiter geht unsere Fähigkeit, die Bedeutung dieser Worte zu erklären, nicht!“152 Die Tatsache, dass auch bei soziokulturell vergleichbaren Bedingungen letztlich jedes Individuum zu seiner eigenen Begriffswelt gelangt, erfordert Toleranz gegenüber individuellen Unterschieden in der mitmenschlichen Kommunikation. Diese Toleranz ist nicht passiv, sie stellt vielmehr eine aktive mentale Leistung dar. Zu dieser Leistung gehört, was als „Inferenz“ (von lat. inferre = hineintragen) bezeichnet wird. Inferenzen erfolgen regelmäßig beim Hören und Lesen sprachlicher Informationen. Damit sind Sinngebungen, Ergänzungen und Änderungen gemeint, die aus dem logischen oder kontextuellen Zusammenhang notwendig oder vermeintlich hervorgehen. Oft erfolgen Inferenzen nicht bewusst, was sich daran zeigt, dass tatsächliche Lücken und Fehler oft überhört oder überlesen werden. Die Tatsache, dass wir Druckfehler häufig übersehen, gehört hierher. Was Inferenzen leisten können, zeigt sich an dem Beispiel, das das Cover von Steven Pinkers Buch von 1996 ziert: „YXX CXN XNDXRSTXND WXRDS WXTHXXT VXWXLS“. Insbesondere gehört dazu, dass wahrgenommene Wörter beim Empfänger eine Modifikation erfahren, weil sie ein etwas anderes Begriffshalo als beim Sender aktivieren. Das führt zu einem mehr oder weniger abweichenden Verständnis. Gleiches gilt für Sätze oder längere Ausführungen. Oft bleiben solche Unterschiede unbemerkt, weil die Schnittmengen im Verständnis hinreichend groß sind. Nachfragen der Art „Wie meinst du das?“ sind nützlich, in strittigen Fällen einen Abgleich herbeizuführen. Man kann davon ausgehen, dass interindividuelle Unterschiede bei den Begriffshalos nicht nur Ursache für Missverständnisse sein können, sondern dass sie auch ein kreatives Potential für die lebendige Entwicklung von Sprache besitzen. So bieten sie den Freiraum für Bedeutungsverschiebungen von Wörtern durch eine allmähliche Drift in den Begriffshalos bzw. in den Systemen, denen sie angehören. Man denke an Wörter wie „toll“ oder „geil“, die sich in 251
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jüngerer Zeit von negativen zu ausgesprochen positiven Bezeichnungen entwickelt haben, oder an Wörter wie „Weib“ oder „Dirne“, bei denen die umgekehrte Entwicklung stattgefunden hat. Man denke auch an die Karriere eines Begriffs vom Attribut eines Gottes zum Attribut von Gartenzwergen (s. Abb. 89). Wer früher als „klug“ galt, wird heute als „schlau“ bezeichnet. Diese Bedeutungsverschiebung lässt sich als ein zeitgeistiger Effekt verstehen, weg vom Elitären, dessen Image gelitten hat, hin zu einer Nuance im Sinne von „listig“, die in ihrer Verbindung mit einem Augenzwinkern gesellschaftlich akzeptabler wirkt. Begriffsunterschiede treten besonders in den Vordergrund beim Vergleich verschiedener Sprachen. Sprache verbindet nicht nur, sie trennt auch. Sprache verbindet Individuen, die sie gemeinsam nutzen; verschiedene Sprachen trennen Gruppen, weil die jeweilige Muttersprache zu ihrer Identität gehört. „Nirgendwo ist das bayerische Idiom stärker als direkt an der österreichischen Grenze“, konstatiert Joachim Meyerhoff.153 Das Problem ist seit der Geschichte vom Turmbau zu Babel bekannt. Es zeigt sich im Ringen indigener Volksgruppen um den Erhalt ihrer Sprachen und wird in der Gegenwart deutlich bei Migranten zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Übersetzungen sind notwendig, aber stoßen stets an Grenzen. Das deutsche gemütlich oder das französische esprit lassen sich überhaupt nicht adäquat übersetzen. Für Sprachwissenschaftler liegen Übersetzungen zwischen „Fast dasselbe sagen“ (Umberto Eco) und „Anders gesagt“ (Peter Utz). Im Islam gibt es das Dogma von der Unübersetzbarkeit des Koran. Dies wird begründet damit, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die sprachliche Form göttlichen Ursprungs sei. Dennoch wird er übersetzt, und wie bei allen Übersetzungen gibt es unweigerlich Veränderungen gegenüber dem Originaltext. Für die Computerlogik stellten die sprachlichen Ungenauigkeiten anfänglich ein großes Problem dar. Wenn wir auch nur ein Zeichen in der Emailadresse falsch eingeben, kommt die Kommunikation nicht zustande, und wenn auch nur ein Zeichen in der langen Webadresse falsch eingetippt wird, öffnet sich die Website nicht. Allerdings spielt in der Computertechnologie die sog. „Fuzzy-Logik“ (mehrwertige Logik) eine zunehmende Rolle, die die Unschärfen der Umgangssprache gewissermaßen abbildet. Vagheit wird dabei ein eigener Parameter. „Fuzzy-Logik“ ermöglicht die heutige Effektivität von Algorithmen etwa in digitalen Suchmaschinen, Textanalysen, Sprach- und Bilderkennungsprogrammen.154 Die Vorstellung eindeutiger Beziehungen zwischen Signifikant und Signifikat ist für die natürlichen Sprachen ein unrealistischer Wunsch. Ohne die Inferenzen, die eingebaute Toleranz, die biologische „Fuzzy-Logik“ unserer Gehirne wäre zwischenmenschliche Kommunikation nicht möglich. Weil jeder seine individuelle Sprachbiografie hat, würden wir ohne sie nur noch aneinander vorbeireden. Kurz gesagt: Sprache ist ein Kulturschatz, der auf biologischen Voraussetzungen wie bestimmten Organen und Hirnfunktionen aufbaut. Jedes Kleinkind bringt mehr an Voraussetzungen 252
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mit, als die Muttersprache nutzt. Beim Sprechenlernen werden manche Phoneme verlernt, die andere Sprachen verwenden. Zur Aneignung von Sprache gehört, dass sich interindividuell gebräuchliche Bezeichnungen mit individuell unterschiedlichen Begriffen entwickeln. Zur Kommunikation reicht hin, dass es bei aller Vagheit gewisse Schnittmengen gibt. Lücken werden durch „Inferenzen“ überspielt.
Literatur Anderson 1996. Gipper 1971. Herrmann & Fiebach 2007. Huxley 1954. Kandel, Schwartz & Jessel 1996. Kuckenburg 2004. Pinker 1996. Rosch 1973. Strehle 1994.
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K. O. Götz und seine Bilder Ich besuche das Künstlerehepaar Karin und Karl Otto Götz in ihrem großen Haus im Westerwald. Beide sind Professoren an der Kunstakademie Düsseldorf. Ich bin ihnen sehr verbunden, denn sie haben sich dafür eingesetzt, dass an die Münstersche Dependance der Kunstakademie ein Wahrnehmungspsychologe berufen wird. Auf diese Weise habe ich an der späteren Kunstakademie Münster ein einzigartiges Tätigkeitsfeld gefunden, das meinen Neigungen entspricht, und eine Antwort auf die Frage von Kollegen an der Uni Münster: „Max, was willst du denn beruflich mit Wahrnehmungspsychologie anfangen?“ K. O. Götz ist nicht nur führender Vertreter des Informel mit Schülern wie Gerhard Richter und Sigmar Polke, sondern versteht sich selbst auch als Wahrnehmungspsychologe. Zusammen mit seiner Frau hat er ein Buch zum anschaulichen Denken veröffentlicht, und so können wir vor den Bildern in seinem Haus fachsimpeln. Ausführlich beschreibt er im Atelier seine Malweise. Die großen Arbeiten entwickeln sich aus einer Vielzahl von kleineren Vorstudien. Ihnen gehen Bildideen voraus, die sich nicht selten in jahrelanger Entwicklungsarbeit geformt haben. Der Arbeitsvorgang erfolgt in drei Schritten. Der erste besteht in 20 bis 50 Skizzen auf kleinstem Format, nicht größer als eine Streichholzschachtel. Sie gehen aus der Bewegung der Hand hervor. K. O. Götz wählt aus diesen diejenige Skizze aus, die seine Idee am besten realisiert. Sie wird zur Quelle einer Serie von 10–15 größeren Gouachen. Diese Arbeiten gehen sehr rasch, weil die Farbe nicht vorzeitig trocknen darf, sie sind in 3 bis 4 Sekunden fertig. Hierbei werden Arm und Schulter bewegt. Zunächst malt er mit breitem Pinsel flüssige dunkle Farbe auf weißen Grund, sofort anschließend zieht er mit einem Gummirakel durch die Farbe, die zur Seite spritzt und den Untergrund teilweise wieder freilegt. Hierdurch entsteht ein Bild, dessen dynamische Wirkung der gestischen Bewegung seiner Hand entspricht, mit einer komplexen Verschränkung von Figur und Grund. Es ist eine Faktur im doppelten Wortsinn, etwas Gemachtes, das seine Entstehungsweise vermittelt und den Betrachter visuell nachschaffen lässt. Varianten, die dem Künstler nicht gefallen, weil sie seinen ästhetischen Ansprüchen nicht genügen, werden umgehend zerstört. Abb. 93 zeigt eine Gouache, die als Vorbild für den letzten Schritt ausgewählt wurde. Jetzt wird die Bewegungsform auf die große Leinwand übertragen, wobei Quastenpinsel und große Rakel erforderlich sind und der ganze Körper beteiligt ist. In keinem Fall wird das Bild nachträglich bearbeitet. Es gilt nur die Endkontrolle. Was ihr nicht standhält, wird vernichtet. Seine ästhetischen Maßstäbe verrät er indirekt im Visual Aesthetic Sensitivity Test VAST, den er 1979 zusammen mit dem Psychologen H. J. Eysenck veröffentlicht hat.
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Abb. 93: K. O. Götz, Gouache, 1956 (Privatbesitz). Gegen Ende des Besuchs stehe ich vor einem Gemälde von Rissa, wie sich Karin Götz als Künstlerin nennt. Es zeigt einen Stierkopf aus hunderten von Farbsplittern, der mich begeistert. Rissa zuckt dazu mit den Schultern und gesteht, dass sie seit einem Jahr nicht malen kann. Als ich sie verwundert nach dem Grund frage, sagt sie: „Ich sehe im Moment keine Bilder, ich sehe nur mit Farbe bestrichene Leinwand.“ In den Folgejahren findet sie mit neuen Themen, aber ihrem Malstil getreu, die künstlerische Sichtweise wieder. Ihr Mann dagegen erblindet im Alter. Vollständig. Er erträgt das tragische Schicksal mit Fassung und erzählt mir, dass er noch viele Ideen für neue Bilder hat. 2017 stirbt K. O. Götz im Alter von 103 Jahren.
30 Denken in Worten oder in Bildern? Anders gefragt: Ist unser Denken ein inneres Sprechen? Wie operieren wir auf mentaler Ebene? Für die Frage, was Denken sei, könnte man sich in Abkürzung einer langen Diskussion der Auffassung anschließen, die der Sprachwissenschaftler Helmut Gipper in folgende Kurzform bringt: Denken ist „jene geistige Tätigkeit, die einsichtiges, planendes und schlussfolgerndes Verhalten ermöglicht“155, wobei zu ergänzen wäre, dass schon die geistige Tätigkeit als solche einsichtig, planend und schlussfolgernd sein kann auch dann, wenn sie nicht in sichtbares 255
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Verhalten mündet. Denken ist vor allem auf Begreifen und Problemlösen gerichtet. Dabei untersucht, schafft und verändert es Beziehungen zwischen mental gegebenen Inhalten. An der späteren Kunstakademie Münster fand 1980 eine philosophische Veranstaltungsreihe statt mit dem Titel: „Die Kunst gibt zu denken“.156 Der Titel rief bei einigen Künstlern heftigen Protest hervor, etwa bei dem Konzeptkünstler Timm Ulrichs: Kunst sei nicht nur Lieferant für Material, über das andere dann anfangen würden nachzudenken, vielmehr sei jedes Kunstwerk Ergebnis von Denkprozessen und als solches zu würdigen. Das Problem ist, dass Gedanken, die nicht in Verbalsprache kommuniziert werden, Freiwild für Spekulation sind, dass nur wenige bildende Künstler redefreudig sind und – wie etwa Gerhard Richter – lieber schweigen. Entscheidend aber ist, dass Produktion und Rezeption von Bildwerken mit einem Denken zu tun haben, das keine Worte braucht. 2007 fand in Greifswald eine Tagung zum Thema „In Bildern denken“ statt. Zahlreiche Philosophen, Kunsthistoriker und andere Wissenschaftler gingen drei Tage lang der Frage nach, ob Bilder zu Erkenntnissen führen können. Das wurde zwar in vielerlei Hinsicht bejaht, doch stets wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das Denken selbst sprachlicher Art ist, und dass Bilder, seien es Kunstwerke oder Röntgenaufnahmen, dazu lediglich Material liefern können. Als Diskussionsteilnehmer wies ich darauf hin, dass es neben dem sprachlichen Denken auch ein anschauliches Denken gibt, das auf Verbalisierung nicht angewiesen ist. Das war Vielen neu, und so kam es zu einem ergänzenden Artikel für den Tagungsband.157 Für viele Geisteswissenschaftler scheint ausgemacht, dass Sprechen lautes Denken und Denken stilles Sprechen sei. Naturwissenschaftler und Mathematiker tendieren dazu, beides zu trennen. Die geistige Beschäftigung mit einer Sache sei das Eine, Mitteilungen darüber das Andere. Ein Beispiel ist das folgende:158 Ètienne Pascal zeichnete eine mathematische Kurve, wie sie beim Abrollen eines Kreises auf einem anderen entsteht. Er nannte sie im Nachhinein limaçon (Schnecke).
Abb. 94: Limaçon, die Pascalsche Schnecke. 256
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Denken in Worten oder in Bildern?
Gipper bezweifelt, dass diese Form ohne Verbalsprache hätte gefunden werden können. Dagegen lässt sich sagen: Ohne den Vollzug einer zeichnerischen Bewegung und ohne die visuelle Erfassung des Ergebnisses als einer neuartigen und prägnanten Form wäre der Begriff der Pascalschen Schnecke nicht zustande gekommen. Es ist fast unmöglich, sie mit sprachlichen Mitteln hinreichend zu beschreiben. Dagegen hebt sie sich anschaulich von allen anderen Formen, auch von allen Spiralformen, deutlich erkennbar ab. Das heißt, der Begriff dieser Form ist anschaulich gegeben, sprachlich nur eine Bezeichnung. Visuell bildet sie eine Gestalt mit einer unverwechselbaren und sprachlich schwer beschreibbaren Charakteristik. Der Verbalsprache wird lediglich ein Etikett entlehnt, das zudem schlecht passt: Limaçon, eine Verlegenheitsbezeichnung, die für schneckenartige Spiralformen schon vergeben ist. Treffender wäre, sie einen speziellen Epizykel zu nennen, bezugnehmend auf eine Bezeichnung, die schon die alten Griechen für Kreis-in-Kreis-Bewegungen bei Planeten geprägt haben. Als ein anderes Beispiel nimmt Gipper dieses Gebilde:
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Er fragt sogleich: Was ist das? Und zählt auf: Ein Kind wird an einen Ball denken, der Schüler an den Buchstaben O, der Fußballfan an einen Fußball, der Astronom an einen Himmelskörper etc.159 Gippers Frage entspricht genau der tausendfach gestellten Frage von Laien vor ungegenständlichen Gemälden wie etwa in Abb. 93, der Frage, die Künstler, Kunstwissenschaftler und Kunstpädagogen schon nicht mehr hören können, weil seit über 100 Jahren viele bildende Künstler ihre Bildwerke von ihrer darstellenden Funktion befreit haben und Form und Farbe als autonome Phänomene erlebbar machen. Die Frage entspricht der immer noch weit verbreiteten Erwartungshaltung, in einem Bild, einem Kunstwerk die Wiedergabe eines außerbildlichen Gegenstandes zu sehen, statt sich darauf einzulassen, ein Bild als etwas Eigenständiges zu sehen. Die Frage „Was ist das?“ lenkt schon vom Primären ab, als müsse es etwas anderes sein als das, was man unmittelbar sieht, nämlich einfach ein Kreis. Über den Kreis und andere Formen als anschauliche Kategorien verfügen, wie Zuordnungsexperimente gezeigt haben, auch viele Tiere und kleine Kinder, ganz ohne sprachliche Bezeichnung. Der anschauliche Begriff geht oft der sprachlichen Bezeichnung voraus. „Bildende Kunst ist das Feld, auf dem sich anschauliches Denken in seiner höchsten Form manifestiert.“160 Die Arbeit von K. O. Götz Abb. 93 zeigt nichts Gegenständliches, sondern die gelungene Spur einer gestischen Aktion. Die in der einleitenden Anekdote geschilderte Arbeitsweise des Künstlers lässt erkennen, dass alles Wesentliche sprachfrei geschieht. In gedanklicher Vorarbeit entwirft und verwirft er rein vorstellungsmäßig Ideen, bis das Konzept zu einem Bild reif ist, als Skizze erprobt zu werden. Die ersten Skizzen sind einander ähnlich, was erkennen lässt, dass es sich nicht um zufällige momentane Einfälle handelt, sondern dass sie einem gedanklich erarbeiteten Muster folgen, dem die arbeitende Hand in ihrer Bewegung 257
Die zweite Entstehung der Welt
folgt. Hält er die Realisierung in der Skizze für gelungen, setzt der Künstler das Konzept in größerem Maßstab fort. Weil bei der Umsetzung anfangs nur die Hand, dann der Arm und später der ganze Körper gefordert sind, ist klar, dass es sich nicht um ein subalternes körpermotorisches Programm handelt, sondern um ein Konzept, das sich auf die visuelle Endform richtet. Sie allein wird dem ästhetischen Maßstab des Künstlers unterworfen, nach dem er das Ergebnis akzeptiert oder verwirft. Die gesamte Denkarbeit vollzieht sich innerhalb des Rahmens von Körperbewegung und anschaulicher Form. Halb spöttisch, halb resignierend antwortete K. O. Götz, wie er mir sagte, auf die immer wieder gestellte Frage, was seine Arbeiten bedeuten sollen: „Nennen Sie es Rührei.“ Solche Bezeichnungen, auch wenn sie ironisch gemeint sind, sind riskant. Sprachlich vermittelte Assoziationen, besonders wenn sie inadäquat sind, können an Bildern und anschaulichen Begriffen kleben wie Pech. Falls der Leser es sich antun will, möge er Sigmund Freuds an Sexualsymbolik reiche Interpretation von Leonardos Meisterwerk Anna selbdritt lesen. Man kann das Bild anschließend nicht mehr unbefangen betrachten. Man wird unweigerlich immer wieder die Symbole sehen, die Freud suggeriert, auch wenn sie nur der Phantasie des Psychoanalytikers entsprungen sind.161 Nicht ohne Grund lehnen heutzutage viele Künstler ab, ihrer Arbeit einen Titel zu geben, und notieren lediglich „o. T.“. Titel können vom Bild ablenken, irreführen oder auch hinführen im Sinne des Künstlers. In Anbetracht der Unendlichkeit individueller Wahrnehmungsweisen habe ich meinen Kunststudenten immer gern Letzteres empfohlen. Um zum Kreis zurückzukommen: Wenn es in der Kunst darum ginge, die eine vollkommene Form zu finden, dann würden die Maler nur noch Kreise und die Bildhauer nur noch Kugeln fertigen. Stattdessen erdenken sie ständig neue und lebendige Kompositionen aus Form, Farbe und Material, erfinden neue Arbeitsweisen und Konzepte, und es gelingt ihnen, dabei einen persönlichen Stil zu entwickeln. Zum Hintergrund ihrer Tätigkeit gehört die Auseinandersetzung mit Bildwerken früherer und zeitgenössischer Künstler. Diese Auseinandersetzung geschieht in der visuellen Rezeption und Verarbeitung der Werke, in einem Begreifen durch anschauliches Mit- und Nachdenken. Begleitend findet die Auseinandersetzung im kunstwissenschaftlichen Rahmen auch teilweise verbal statt. Wenn ein Künstler ungern über das eigene Arbeiten redet, dann nicht zuletzt deswegen, weil es sich in sprachlich kaum mitteilbarer Weise, nämlich im Raum anschaulichen Denkens, vollzieht. Nach Rudolf Arnheim ist künstlerisches Schaffen „eine Erkenntnistätigkeit, in der sich Wahrnehmen und Denken untrennbar vereinen“.162 Götz und Götz haben versucht, den Arbeitsprozess verbalsprachlich aus eigener Erfahrung heraus zu fassen, wohl wissend, dass sich anschauliches Denken weniger noch in Sprache übersetzen lässt als eine Verbalsprache in eine andere: „Dieser Prozess von der ersten Idee bis zur ersten gelungenen Realisation entspricht einem kybernetischen Regelkreis, wobei der Sollwert der ersten Idee entspricht und die 258
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korrigierten Istwerte den verschiedenen unvollkommenen Realisationsstadien bis zur ersten gelungenen Arbeit darstellen. Dabei kann es vorkommen, dass dieser Einschwingprozess nicht so einfach verläuft, sondern es können unerwartet neue Fragestellungen auftauchen, wodurch das ursprüngliche Problem eine Veränderung erfährt. Das veränderte Problem kann mitunter eine stärkere Faszination auf den Künstler ausüben, als das ursprüngliche.“163 Jedes Einzelwerk entspricht in der Verbalsprache einem Begriff, und der Stil oder die Konzeption eines Künstlers entspricht einem Oberbegriff. Für den Betrachter ergibt sich das Verständnis der Konzeption erst aus der Betrachtung einer ganzen Serie von Arbeiten eines Künstlers und im Vergleich mit Arbeiten anderer Künstler. Wie beim Schaffensprozess läuft auch ein Großteil der geistigen Arbeit des Betrachters nicht auf verbalsprachlicher Ebene ab, sondern auf der Ebene anschaulichen Denkens, auf der Ebene emotionaler Resonanz und einer Stellungnahme im Kontext des persönlichen Wertesystems. Es ist im Allgemeinen äußerst schwierig oder unmöglich, ein Bildwerk oder eine Konzeption valide in Worten zu beschreiben. Genau darin beweist sich die Autonomie des anschaulichen und des künstlerischen Denkens. Natürlich geht oft auch Sprachliches in die Arbeiten ein, aber der geistige Hintergrund, auf den Kunst Bezug nimmt, ist weniger sprachlicher als bildlicher Art, er ist ein Schatz an Bilderfahrungen und anschaulich-denkender Auseinandersetzungen mit Arbeiten anderer Künstler. „So wie das Wahrnehmungslernen eine jahrelange Entwicklung darstellt, erfordert auch das künstlerische Wahrnehmungslernen viel Zeit. Es gibt keine Tricks, diese Zeit abzukürzen.“164 Sprachliche Aspekte können eine Rolle spielen, sind aber im Allgemeinen nebengeordnet, oder Sprache wird selbst zum Gegenstand der künstlerischen Konzeption wie etwa bei Timm Ulrichs, wenn er syntaktische und semantische Aspekte in paradoxer Weise verschränkt und vor Augen führt.
Abb. 95: Timm Ulrichs (1962) Multiple von 2017. Kehren wir zum anschaulichen Denken zurück und wählen ein Beispiel aus der bildhaften Komposition. Seit der Antike ist „Symmetrie“ ein Begriff für Ebenmaß und Zusammenpassen, 259
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später vereinfacht gebraucht dafür, dass eine Figur durch Bewegung auf sich selbst abgebildet werden kann, z. B. durch Spiegelung. Dieser einfache Fall ist verbalsprachlich leicht zu beschreiben und durch Messung leicht zu objektivieren. Symmetrie in diesem Sinne ist bekanntlich sehr häufig zu finden. Betrachten wir dagegen einmal Abb. 96 a, das die Struktur eines Gemäldes „Komposition in Gelb und Blau“ von Piet Mondrian zeigt. Dem Künstler war stets wichtig, Bilder zu schaffen, die der Harmonie des Kosmos, wie er sie empfand, entsprechen. Hierzu schreibt Max Imdahl, wobei er den Symmetriebegriff in seinem einfachen Sinne verwendet: Diese Komposition ist „eine Ganzheit unter der Bedingung einer alle Symmetrien verweigernden kühnen Balance. In der Symmetrie erblickte Mondrian ein additives, nicht aber von einer Ganzheit ausgehendes und diese strukturierendes divisives Prinzip.“165
Abb. 96: a) Originalstruktur des Gemäldes „Komposition in Gelb und Blau“ von Piet Mondrian 1933; b)–d) Störungen der tektonischen Gesamtbalance durch Teilsymmetrien und Angleichungen.166 Dem Auge ist Symmetrie, vor allem bei vertikaler Symmetrieachse, ein Inbegriff für Harmonie im Sinne von Ausgeglichenheit. Daneben aber gibt es eine Symmetrie höherer Ordnung im ursprünglichen griechischen Sinne als ein „Zusammenstimmen“, die sprachlich schwer 260
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zu fassen und schwer zu objektivieren ist, dagegen im anschaulichen Denken unmittelbar erfahrbar wird. Im Original a) verläuft die Vertikale weit außerhalb der Mittelsenkrechten, das Horizontalenpaar liegt oberhalb der Bildmitte, die farbigen Flächen sind ungleich. Dennoch entsteht insgesamt eine ausbalancierte Gesamtgestalt im Sinne Imdahls. In den von mir vorgenommenen Varianten b)–d) ist die Struktur jeweils durch einfache Symmetrien „verbessert“ worden. Tatsächlich stören sie. In b) sind die Parallelen rechts soweit gekürzt, dass sie durch die Vertikale symmetrisch geteilt werden. Doch dadurch entsteht ein instabiles Gebilde, in dem das Horizontalenpaar beziehungslos in eine große leere Fläche ragt. in c) teilt die Vertikale das Gesamtfeld in zwei gleiche Hälften. Das Bild wird langweilig, weil das Spannungsverhältnis im Original zwischen links und rechts, aufgewogen durch andere Asymmetrien, jetzt fehlt, es bleibt nur etwas verloren die Ungleichheit der farbigen Felder. In d) erstreckt sich das untere Farbfeld über die ganze Bildbreite wie das Horizontalenpaar. Die sublime Störung besteht darin, dass das untere Farbfeld jetzt die Rolle einer Basis einnimmt und mit dieser Sonderfunktion aus der Reihe tanzt, statt als Gegengewicht zum Farbfeld links oben zu wirken. In allen drei Varianten wird erfahrbar, dass eine Symmetrie höherer Ordnung durch einfache Symmetrien gestört wird. Mondrians Bild verkörpert ein Gleichgewicht aus ungleichartigen Ungleichgewichten. Was hier umständlich und unvollständig mithilfe sprachlicher Hinweise vermittelt werden soll, stellt sich dem anschaulichen Denken des Betrachters unmittelbar dar. Vor allem wird die zeitliche Abfolge, die mit Sprache notwendig verbunden ist, der Simultaneität nicht gerecht, mit der ein Bild als Ganzes aufgefasst werden kann. Formen und Gliederungen, räumliche und farbliche Verteilungen sind dem anschaulichen Denken wie in einem Hologramm in einer Gleichzeitigkeit gegeben, die mit Sprache grundsätzlich nicht abbildbar ist. Die räumliche Struktur, d. h. die Beziehungsgesamtheit innerhalb eines Bildes oder eines Gegenstandes, teilt sich nur dem anschaulichen Denken mit. Die mangelhafte Kompatibilität zwischen zeitlichem Ablauf und räumlicher Simultaneität ist vermutlich auch der Grund dafür, warum linke und rechte Hirnhälfte arbeitsteilig organisiert sind. Die linke Hirnhälfte ist in der Regel für sprachliche und andere Abläufe eingerichtet, während die rechte Hirnhälfte für räumliche und andere simultane Strukturen prädestiniert ist. Wahrscheinlich gibt es für beide Aufgaben unterschiedliche neuronale Funktionsweisen. Vielleicht gehören Sie auch zu den Menschen, die, während sie telefonieren, auf irgendeinem Stückchen Papier gern kleine Zeichnungen machen. Die haben im Allgemeinen nichts mit dem Telefonat zu tun. Vielmehr realisiert sich hier ein paralleles „Multitasking“, das deshalb so leichtfällt, weil beim Sprechen und Zeichnen ganz verschiedene Hirnbereiche gefordert sind. Multitasking in dem Sinne, dass man z. B. telefoniert und gleichzeitig persönlich mit jemandem spricht, funktioniert dagegen nur, indem man immer wieder zwischen beiden Aufgaben abschnittweise hin und her „switcht“. Echtes Multitasking innerhalb von Verbalsprache ist 261
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fast unmöglich. Versuchen Sie einmal, eine Gebrauchsanweisung verständig zu lesen und sich gleichzeitig über andere Probleme zu unterhalten. Im Forum der Wissenschaft hat anschauliches Denken ein Manko: Ihm fehlt die Lobby, ganz einfach, weil es nicht einfach zu versprachlichen ist. So ist es Philosophen und Linguisten ein Leichtes, im verbal ausgetragenen Diskurs zugunsten des Primats der Sprache zu brillieren. Doch einige Fakten genügen, um die Bedeutung des anschaulichen Denkens unbezweifelbar zu machen. Der Sprachwissenschaftler Gipper versucht, die angebliche Sprachlichkeit des Denkens mit einer Behauptung zu festigen: „Die Beobachtung von kleinen Kindern bestätigt das auf Schritt und Tritt: Das Kind sieht vor allem, was es weiß, wofür ihm ein Wort zu Gebote steht; das andere bleibt zumeist unbeachtet und uninteressant.“167 Das Gegenteil ist der Fall. Zu den psychologischen Standardmethoden bei Untersuchungen an Kleinkindern gehört ein sprachfreies Verfahren, mit dem festgestellt werden kann, ob das Kind eine Sache schon kennt oder ob sie neu ist: Man misst, wie lange der Blick auf einer Sache ruht. Das Kind ist vor allem an Dingen interessiert, die es noch nicht kennt und für die es aus eben diesem Grunde auch noch keine Bezeichnung haben kann! Kleine Kinder sind in der Lage, vor aller Sprache Kategorien zu bilden und damit Ordnung in die Menge der Erscheinungen zu bringen, das heißt, zu denken. Sie sind z. B. in der Lage, Spielzeug nach Farben oder nach Formen zu klassifizieren, noch bevor sie irgendwelche Farbnamen oder Formbezeichnungen kennen. Sie explorieren ihre Umwelt und verinnerlichen ihre Eigenschaften. Sie erfahren Zusammenhänge besonders unter dem Aspekt, was sie damit machen können, und entwickeln so erste Pläne des Umgangs mit ihnen. Wenn das Kind einen Turm aus Klötzen baut, operiert es bereits gedanklich mit der Vorstellung des Übereinanderstapelns und mit dem Ziel, möglichst hoch zu bauen. Dazu hat und braucht es keine sprachlichen Hilfsmittel. Noch klarer zeigen sich sprachfreie Denkleistungen bei Tieren, die nur bestritten werden können, wenn Denken und Sprechen von vornherein als Einheit definiert werden. Fasst man Denken im eingangs beschriebenen Sinne auf, ergibt sich eine ganz andere Situation. Manche Tiere, etwa Schimpansen, Delphine und Rabenvögel zeigen einsichtiges und geplantes Verhalten besonders beim Lösen von Problemen. Wolfgang Köhlers Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, die er in der Zeit des Ersten Weltkriegs auf Teneriffa durchführte, waren hier wegweisend.168 Er konnte zeigen, dass Schimpansen zu Problemlösungen imstande waren, indem sie, wenn nötig, Umwege machten (wozu z. B. ein Haushuhn nicht in der Lage ist), dass sie Werkzeug gebrauchten, um z. B. eine hochgehängte Frucht mit einem Stock herabzuschlagen, dass sie Hilfsmittel konstruierten, indem sie z. B. Kisten übereinanderstapelten, um hochzuklettern oder Stöcke zur Verlängerung ineinandersteckten. In allen Fällen hatten sie sich eine Einsicht in die Situation und in ihre Handlungsmöglichkeiten verschafft, verbesserten misslungene Versuche und erarbeiteten sich nützliche Gewohnheiten. Vergleichbare Leistungen 262
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wurden später auch bei freilebenden Schimpansen beobachtet, sodass der Einwand entfällt, die Schimpansen hätten lediglich menschliches Verhalten abgekupfert. Wer wie ein Geisteswissenschaftler viel schreibt und redet und hierzu fortwährend gedankliche Formulierungen bildet, gelangt leicht zu dem Schluss, dass Denken nur aus mentalen Wörtern und Sätzen besteht. Es gibt aber Situationen, in denen man die Erfahrung macht, dass Sprache nur stört, wenn man sich auf den Gegenstand einlassen will. Ein Beispiel. Vor Jahren führte das Guggenheim-Museum New York eine Ausstellung über das Werk von Josef Albers durch. Die Besucher wanderten die weite Spirale des Gebäudes von Frank Lloyd Wright hinunter, von einem Bild zum anderen, vorbei an hunderten von Gemälden der berühmten Serie „Hommage to the Square“, alle ähnlich in der Form (drei oder vier ineinander verschachtelte Quadrate), aber alle verschieden in ihrer Komposition ungemischter Tubenfarben und damit in ihrer Wirkung. Jedes Bild war als ein anderer anschaulicher Begriff erfahrbar. Von Schritt zu Schritt ergab sich die interessante Aufgabe, die Bilder zu den jeweils benachbarten in Beziehung zu setzen und so der Konzeption der Hängung zu folgen oder sie kritisch zu sehen. Vor manchen Arbeiten blieben die Besucher länger stehen, weil sie in besonderem Maße fesselten. Viele kamen in Paaren, aber kaum jemand sprach ein Wort. Verbalsprache war hier entbehrlich. Sie diente nur der nebengeordneten Information über biographische Daten des Künstlers. Rudolf Arnheim, einer der namhaftesten Gestaltpsychologen, hat sich wie kein anderer eingehend mit dem anschaulichen Denken beschäftigt. Dass er ersatzweise auch vom Sehen, Wahrnehmen oder einfach vom Auge spricht, ist ihm nachzusehen, meint er doch stets die gleiche hoch organisierte Leistung im angesprochenen Sinne. Zwar distanzierte sich schon Thomas von Aquin von der Sinnenfeindlichkeit Platons und prägte für die kommenden Jahrhunderte das Wort „Nihil est in intellectu, quod not fuerit in senso“ – keine Erkenntnis ohne Sinneserfahrung. Doch wurde dieser Leitsatz in der Philosophie so verstanden, dass die Sinne zwar Material sammeln, dass das Denken darüber aber abstrahiert vom Sinnlichen erfolgt. Dass auch Operationen mit dem anschaulichen Material sprachfrei geschehen, wurde nicht erkannt. Deshalb wurde die Tätigkeit des Malers und Bildhauers im Mittelalter nicht unter die sieben freien Künste gerechnet (im Gegensatz etwa zu Mathematik und Musik), ähnlich wie im antiken Griechenland, wo den bildenden Künstlern keine Muse zugeordnet war (im Gegensatz etwa zu Tanz und Komödie). Arnheim dagegen zeigt in seinen Büchern auf, was die „Intelligenz des Sehens“ vermag: „Es handelt sich dabei um Funktionen wie aktives Erforschen, Wählen, Erfassen des Wesentlichen, Vereinfachen, Abstrahieren, Analyse und Synthese, Ergänzen, Korrigieren, Vergleichen, Aufgaben lösen, Kombinieren, Unterscheiden, in Zusammenhang bringen.“169 Es sind allesamt Funktionen, die dem Denken zukommen. Wer meint, sie seien einfach, der möge sich an der Aufgabe in Abb. 97 versuchen, bei der es darauf ankommt, eine dreidimensionale Form mental im Raum zu drehen. 263
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Abb. 97: Welche der Figuren 1–6 sind im Raum gedrehte Versionen der obigen Figur? In Geometrie und Algebra gibt es viele Fälle, in denen erst das anschauliche Denken dazu verhilft, einen Zusammenhang nicht nur auswendig zu lernen, sondern auch unmittelbar einzusehen. Nehmen wir ein Beispiel, das Max Wertheimer, einer der Gründerväter der Gestaltpsychologie, und Rudolf Arnheim, einer seiner Schüler, verwendet haben.170 In der Schule lernt man die algebraische Gleichung (a+b)2 = a2 + 2ab + b2. Oft lernen die Schüler sie wie eine Zauberformel auswendig, ohne sie verstanden zu haben. Wie ist es Ihnen ergangen? Schaut man sich dagegen Abb. 98 an, so entsteht eine ganz neue Situation, der Zusammenhang zwischen der linken und der rechten Seite der Gleichung wird unmittelbar erkennbar. Das große Quadrat hat die Seitenlänge (a+b). Der Inhalt (a+b)2 gliedert sich in vier Teile: die Quadrate a 2 und b2 sowie die beiden Rechtecke a × b. Der Zusammenhang beider Seiten der Gleichung wird einsichtig, man hat ihn jetzt verstanden.
Abb. 98: Die algebraische Gleichung (a+b)2 = a2 + 2ab + b2 wird in der anschaulichen Form unmittelbar einsichtig. 264
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Dem Psychologen Rudolf Arnheim war, wie dem Künstlerehepaar Götz und dem Kunsthistoriker E. H. Gombrich, besonders daran gelegen, die Bedeutung des anschaulichen Denkens in der bildenden Kunst hervorzuheben, der Hochschule des Sehens. Doch sie geht weit darüber hinaus bis in jedermanns Alltag. Jeder, der mit Architektur oder Innenarchitektur zu tun hat, mit Design, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur, mit Erfindungen und Konstruktionen, ist darauf angewiesen. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Ob mit Bleistift und Papier oder mit CAD am Computer gearbeitet wird, die Leistungen beruhen hauptsächlich darauf, womit sich fast die Hälfte des Gehirns beschäftigt: mit dem Sehen und der visuellen Verarbeitung. Letztlich ist diese Leistung bei allen Menschen tagtäglich aktiv. Ob es um Auswahl, Aufbau und Platzierung von Möbeln in der Wohnung geht, um die Tischdekoration oder die Gestaltung eines Blumengestecks, ob es um die Frage geht, welche Kleidung wem steht und wie sie zusammenpasst, ob es um Frisur und Schminke geht, um handwerkliches Arbeiten, Basteln und Spielen, um die Orientierung in einem Zimmer, einem Haus, einer Stadt oder einer Landschaft – unablässig ist unser anschauliches Denken aktiv und macht sich in unserem Bewusstsein bemerkbar, auch wenn es sich nicht sprachlich artikuliert. Angemerkt sei, dass es noch weitere Formen des Denkens gibt, etwa das mathematische, das auch in Physik und Technik unentbehrlich ist. Statt in Worten wird in Symbolen geschrieben und gedacht, hinter denen sich als Begriffe genau definierte Bedeutungen verbergen, etwa die Kreiszahl π oder das Plancksche Wirkungsquantum h. Hinter vielen Symbolen verbirgt sich eine Formel mit weiteren Symbolen, wodurch das Bedeutungsgeflecht sehr vielschichtig, komplex und nur für den Fachmann verständlich wird. Eine eigene Denkform scheint das Schachspiel hervorzubringen, wie Gerhart Lindner besonders für das Schachspiel Gehörloser beschrieben hat.171 An den Universitäten Münster und Regensburg hatte ich als Kollegen László Németh, den ehemaligen Jugendschachmeister von Ungarn, einfallsreichen Tierpsychologen und späteren Sexualtherapeuten. Nach einer Schachpartie, die er blind spielte und die ich verlor, fragte ich ihn, ob er sich das Spielbrett mit den Figuren und den sich verändernden Positionen vor seinem geistigen Auge vorstelle. So jedenfalls hatte ich es einmal versucht und war damit nicht sehr weit gekommen. Nein, gab er zur Antwort. Die Figuren sich vorzustellen würde ihn nur stören. Es sei kein bildliches Denken, aber auch kein sprachliches. Es sei etwas ganz anderes, das er nicht in Worten beschreiben oder aufzeichnen könne. Es sei vielmehr wie eine mathematische Formel, deren Werte sich ständig veränderten. Zweifellos erfolgt Denken oft in verbalsprachlicher Form. Vielfach geschehen mentale Operationen aber nicht in sprachlichen Begriffen, sondern mit anderen Inhalten, etwa wenn man sich etwas in wechselnder Form und Farbe, räumlicher Anordnung und Lage, als Szene oder als Ablauf vorstellt. Die flüchtigen Gedanken lassen sich je nachdem besser durch die Niederschrift von Wörtern oder durch eine Zeichnung fixieren. Verbalsprache ist vor allem wichtig bei der Vermittlung von Inhalten, die sich in Worten ausdrücken lassen. Das gilt oft auch für 265
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Gesehenes. Das Medium anschaulichen Denkens ist vor allem das Bild. Es vermittelt manchmal auch logische Zusammenhänge (s. Abb. 65 und 98). Dadurch, dass anschauliches Denken sich nur unzureichend verbalisieren lässt, gerät es im sprachdominierten wissenschaftlichen Diskurs ins Hintertreffen. Im Alltag aber ist es unverzichtbar, und in der bildenden Kunst kann es sich frei entfalten. Kurz gesagt: Denken wird oft als stilles verbales Sprechen aufgefasst, und Sprechen als lautes Denken. Tatsächlich gibt es unterschiedliche Formen nonverbalen Denkens, insbesondere das anschauliche Denken mit visuellen Inhalten. Es realisiert sich bei allem, was wir uns bildhaft vorstellen, von einfachen Zeichnungen über Konstruktionen bis zur Stadtplanung. Bildende Kunst ist die hohe Schule des anschaulichen Denkens.
Literatur Arnheim 1972 u. 1978. Gipper 1971. Götz & Götz 1972. Götz 1981. Nortmann & Wagner 2010.
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Rudolf Arnheim und der Konstruktivismus Ich lerne Rudolf Arnheim, den letzten direkten Vertreter der Berliner Gestaltpsychologie, 1988 in den USA persönlich kennen. Er veranstaltet an der University of Michigan in Ann Arbor ein internationales Kolloquium zur Kunstpsychologie. Dazu hat er mich eingeladen, damit ich dort über wahrnehmungspsychologische Aspekte in Werken von Jackson Pollock spreche. Es ist ein Wagnis für mich als einzigem Europäer dort, den Amerikanern etwas Neues zu ihrer Künstlerikone sagen zu wollen. Bei einem Besuch im Privathaus von Rudolf Arnheim fällt mir eine spannenhohe Holzfigur auf, die auf seinem Schreibtisch steht. Es ist ein grob geschnitzter Kopf, ein Non-finito, kaum so weit gediehen, dass er einen Gesichtsausdruck erkennen lässt. „Ach“, sagt Arnheim, als ich ihn darauf anspreche, „das war mal ein Versuch von mir. Wenn man so viel über die Rezeption von Kunst schreibt, ist es wichtig, dass man sich auch einmal an dem Prozess des Machens versucht, um die andere Seite kennen zu lernen.“ 1999 will die Stadt Düsseldorf an Arnheim den Helmut-Käutner-Preis verleihen. Ich soll die Laudatio halten, die via Satellit nach Ann Arbor übertragen wird, weil das Reisen für den Laureaten zu beschwerlich geworden ist. Im Vorfeld korrespondiere ich mit ihm über das Konzept der Rede. Ich erwähne, dass ich gerne darauf hinweisen würde, dass die Gestalttheorie bereits Elemente des philosophischen Konstruktivismus vorweggenommen hat, der derzeit wie eine neue geistige Erfindung gehandelt wird. Rudolf Arnheim will davon nichts wissen. Offenbar hat er mit dem Konstruktivismus doch nicht seinen Frieden gemacht. In einem Artikel von 1989 hatte er Stellung bezogen gegen Tendenzen in der Wissenschaft, der „Objektivität der Wirklichkeit abzuschwören. Dieser Drang hat denn auch unsere heutige Philosophie wie eine Giftwolke überschattet … Das hat zu einer Stimmung geführt, in der Philosophen, Psychologen, Anthropologen und Aesthetiker miteinander wetteifern mit Behauptungen, wonach es keine objektiv existierende Welt gibt.“172 Michael Stadler und Peter Kruse antworten darauf, dass die Konstruktion der Erlebniswelt keine Beliebigkeit bedeutet. Schon Wolfgang Köhler als Mitbegründer der Gestalttheorie habe angenommen, dass die „physikalische Welt“ eine Konstruktion aus phänomenal gegebenen Fakten sei.173 Daraufhin antwortet Arnheim mit dem Hinweis auf erkenntnistheoretisch unterschiedliche Auffassungen, aber auch auf die Einigkeit darüber, dass eine Trennung zwischen erlebter und physikalischer Welt gemacht werden muss.174 Ganz offensichtlich steht Arnheim seinem phänomenologisch orientierten Lehrer Wertheimer näher als seinem erkenntnistheoretisch kritischeren Lehrer Köhler. Ich tendiere eher zu Köhler, will aber Arnheim nicht vor den Kopf stoßen und damit eine der wenigen Brücken gefährden, die der 1933 emigrierte Arnheim zu Deutschland aufrecht
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hält. „Sie sehen also“, schreibt er mir auf seiner alten Schreibmaschine, „wir ziehen nach wie vor an den gleichen Seilen“. Für Vieles trifft dies sicher zu. In der Laudatio gehe ich weniger auf die Aktualität der Gestaltpsychologie ein und nehme hauptsächlich Bezug darauf, wie Arnheim dem „Gossenkind“ Film geholfen hat, als künstlerisches Medium anerkannt zu werden. Genau dafür erhält er ja durch den Düsseldorfer Oberbürgermeister den Helmut-Käutner-Preis. 2007 verstirbt er im Alter von 103 Jahren.
Abb. 99: Rudolf Arnheim bei der Verleihung des Helmut-Käutner-Preises am 10.09.1999 via Satellit zwischen Düsseldorf und Ann Arbor, USA. Foto: Paul Jaronski.
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Anders gefragt: Gibt es einen Unterschied zwischen Realität und erlebter Wirklichkeit? Die in Kap. 19 angesprochene Frage nach Erkenntnis soll hier weiter vertieft werden. Für die meisten Menschen ist die reale Welt identisch mit dem, was sie sehen, hören und fühlen. Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, dass das für die Mitmenschen genauso gilt, dass wir alle in einer gemeinsamen gleichen Welt leben. Gegen diese (meist unausgesprochene, weil unreflektierte) Position des naiven Realismus setzt der Philosoph Ernst von Glasersfeld den radikalen Konstruktivismus. Wahrnehmung sieht er nicht als Abbild oder Korrespondenz zu einer äußeren Realität, sondern als Anpassung im Sinne Piagets. Kriterium dabei ist die „Viabilität“: Wie in der Evolution oder Phylogenese diejenigen Arten überleben, die in ihre Umwelt passen, so geht es in der Ontogenese des einzelnen Organismus darum, den Erfahrungen Regelmäßigkeiten und Theorien abzugewinnen, die das Überleben wahrscheinlicher machen. Was körperlich bzw. geistig nicht passt, geht unter, sei es ein Organismus oder eine „Wahrheit“. „Der radikale Konstruktivismus ist also vor allem deswegen radikal, weil er mit der Konvention bricht und 268
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eine Erkenntnistheorie entwickelt, in der die Erkenntnis nicht mehr eine „objektive“, ontologische Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens.“175 Die Berufung auf Piaget ist unpassend. Dieser begreift die psychische Organisation als Ergebnis einer permanenten Wechselwirkung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, deren physische Realität er nicht in Zweifel zieht. Bei Piaget ergibt sich die Viabilität aus Anpassungen an die Realität. Das Individuum macht in der Interaktion ständig neue Erfahrungen (Akkomodation) und integriert sie in das bereits erworbene Wissen (Assimilation). Assimilation ist ein Vorgang innerhalb der Psyche. Akkomodation aber ist auf Wirkungen der Umwelt gerichtet, auf die das Individuum nur begrenzten Einfluss hat. Wie Viktor von Weizsäcker begreift er die Interaktion mit der Umwelt als Kreisprozess. Glasersfeld sieht kritisch, dass Piaget noch an einem Rest von metaphysischem Realismus festhält.
Abb. 100: Jean Piaget bei einem Vortrag auf dem Internationalen Kongress für Psychologen in Moskau 1966. Glasersfeld bezieht sich auf frühe Skeptiker wie Sextus Empiricus, der den Apfel als Beispiel nahm. Er erscheint uns glatt, duftend, süß und gelb. Das heißt aber nicht, dass er diese Eigenschaften objektiv besitzt, und möglicherweise besitzt er Eigenschaften, die unseren Sinnen entgehen. Kant hat darüber hinaus auch die Dinghaftigkeit des Apfels in Frage gestellt, also ob er als zusammenhängendes Ganzes, wie wir ihn erleben, tatsächlich existiert. Bereits 1719 prägte Giambattista Vico den Satz „Verum ipsum factum“ – Das Wahre ist dasselbe wie das Gemachte. Diesen Ausspruch bezieht Glasersfeld auch auf kognitive Inhalte als Gemachtes.176 Alle Arten von Regelmäßigkeiten und Invarianten, auf denen Wahrnehmung und Weltverständnis basieren, seien eigene Konstruktionen, die sich allein dadurch stabilisieren, dass das Individuum damit zurechtkommt. Er vergleicht die Situation, in der sich ein Organismus befindet, dessen Überleben bedroht ist, mit dem, 269
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der ein Schloss öffnen will. Es geht nicht darum, den „richtigen“ Schlüssel zu haben, sondern nur etwas, mit dem sich das Schloss öffnen lässt, und sei es ein gebogener Draht. Neben Ernst von Glasersfeld ist der Kybernetiker Heinz von Foerster Begründer des radikalen Konstruktivismus. Sein Postulat: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung.“ Der „Blinde Fleck“ im Auge ist für ihn paradigmatisch (s. Kap. 3). Foerster macht auf das „Prinzip der undifferenzierten Codierung“ aufmerksam. In den Erregungszuständen eines Neurons ist nicht die physikalische Natur der Erregungsursache codiert, nur ein „wieviel“, nicht aber ein „was“. Erkennen ist nach Foerster ein endloses rekursives Errechnen, bei dem Sinnesdaten nur den Auslöser spielen. Die neuronale Feinstruktur errechnet nach Foerster eine stabile und weitgehend geschlossene Wirklichkeit, die nur durch einen ‚synaptischen Spalt‘ in motorischer und sensorischer Hinsicht mit der Außenwelt verbunden ist.177 Allerdings unterschlägt er, dass die Außeneinflüsse offenbar strukturiert sind und damit eine strukturierte Außenwelt vorausgesetzt werden muss. Foerster sieht selbst die Gefahr, dass der radikale Konstruktivismus in den Solipsismus führen könnte, jene hypothetische Auffassung, nach der nur das eigene Ich existiert. Er lobt zunächst den Konstruktivismus als die Richtung, die nicht andere und anderes für das Tun verantwortlich macht, sondern das Individuum selbst. „Autonomie schließt Verantwortlichkeit in sich: Wenn ich als einziger über mein Tun entscheide, dann bin ich für meine Handlungen verantwortlich.“ Doch unbeantwortet bleibt, auf welchem Wege das soziale Miteinander zustande kommen soll. Denn dafür gibt es keinen anderen Weg als die intensive Kommunikation über eine Außenwelt, die Informationen von einem Organismus zum anderen in strukturierter Form überträgt. Sie erfolgen über Muster in Schall und Licht auf einem Weg, der gemäß den Axiomen des radikalen Konstruktivismus keine oder nur eine geringe Rolle spielt. In großen Sprüngen setzt Foerster über solche Probleme hinweg und behauptet einfach, dass die Situation eine ganz andere ist, wenn man nicht nur einen, sondern zwei Organismen betrachtet. Er zeichnet einen Herrn, in dessen Kopf sich andere Herren befinden, und versetzt sich in dessen Lage: „Er behauptet, die einzige Realität zu verkörpern, und alles Übrige existiere nur in seiner Vorstellung. Er kann indessen nicht leugnen, dass seine Vorstellungswelt von Geistergestalten bewohnt ist, die ihm nicht unähnlich sind. Folglich muss er einräumen, dass diese Wesen ihrerseits darauf bestehen können, sich als die einzige Realität, alles sonst aber als Produkt ihrer Einbildung zu betrachten.“178 Foerster bringt das individuelle und gemeinsame Handeln ins Spiel. Doch er übersieht, dass auch eigenes und fremdes Handeln als strukturierte Reize wahrgenommen werden müssen, um im Bewusstsein präsent zu sein. Und wie soll das möglich sein ohne die Annahme der physikalischen Welt als Medium? Wofür dann Augen und Ohren? Um dem Solipsismus zu entgehen, behauptet er: „Wirklichkeit = Gemeinschaft“, ohne die Gleichung plausibel zu machen. Sein Gedankengang ist nicht zwingend. Denn warum soll ich dem Solipsismus abschwören und gegenüber „Geistergestalten“ Verantwortung übernehmen? 270
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Wenn jemand mit wissenschaftlichem Ernst die Behauptung aufstellt: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“, muss damit gerechnet werden, dass jemand sie ernst nimmt. Er kann den Schluss ziehen, dass er ab sofort die Umwelt mit anderen Eigenschaften erfindet, durch die Wände gehen oder aus dem Fenster steigen und fortfliegen kann – wie es tatsächlich einige Geistesjünger des radikalen Konstruktivismus versucht haben.179 Alle Bemühungen um Erkenntnis können zu einem Nichts relativiert werden. Vor ca. 30 Jahren gab es nicht Wenige, die das HIV-Virus als bösartige Erfindung bezeichneten, was derzeit sein Pendant in der Leugnung des Covid-19-Virus durch die Bewegung der „Querdenker“ findet. Natürlich wird, wenn solch eine Überzeugung um sich greift, die Bekämpfung der Krankheit bzw. der Pandemie erschwert. Der radikale Konstruktivismus ist ein umgekrempelter Behaviorismus. Bei dieser Psychologie ohne Psyche galt nur, was sich objektiv messen ließ, also Verhalten und dessen physikalische Bedingungen. Zwischen Reiz und Reaktion wurden nur Korrelationen festgestellt, ohne dass über die dazwischenliegende black box irgendwelche Annahmen gemacht werden sollten. Watson und Skinner, einflussreiche Vertreter dieser Richtung, gingen so weit, dass sie die Existenz des Bewusstseins leugneten. Für den radikalen Konstruktivisten sind umgekehrt nur die Vorgänge in der black box real, die er gleichsam aus der Innensicht beschreibt. Eine objektive Wirklichkeit gilt als nicht erforschbar. Extreme Vertreter gehen so weit, dass sie eine äußere Wirklichkeit leugnen. Oft werden die Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela dem radikalen Konstruktivismus zugerechnet, was diese aber ablehnen. Sie entwickeln vielmehr ein vernetztes interindividuelles Rückkopplungssystem zwischen Organismen, wobei in der Interaktion der Menschen sich autopoietisch (selbstschaffend) neben der Repräsentation der Umwelt auch das Bewusstsein entwickelt haben soll. Die Epistemologie oder Erkenntnistheorie, also die Frage, wie wir zur Kenntnis über die Wirklichkeit gelangen und wie weit sie wahr ist, beschäftigt die Philosophie seit der Antike. Bis zum 18. Jahrhundert gingen die Philosophen von der unbezweifelbaren Existenz einer absoluten, objektiven Wirklichkeit aus. An ihr müsse sich der Anspruch von Aussagen, wahr zu sein, messen. In der Theologie findet sich diese Auffassung noch im 20. Jahrhundert So schreibt der Wiener Theologe Karl Hörmann 1953: „Von logischer Wahrheit sprechen wir, wenn der Begriff des Dinges in einem erkennenden Verstand mit dem Ding selbst übereinstimmt.“180 Das setzt voraus, dass „das Ding selbst“ auf irgendeinem Wege dem Verstand direkt zugänglich sein muss. Der Rationalismus betonte seit Platon die Täuschungsanfälligkeit der Sinne und die Leistung der Vernunft, die allein imstande sei, das Wahre zu erkennen. Der Empirismus von Hobbes und Locke betont dagegen, dass alle Erkenntnis auf sinnlicher Erfahrung beruht. Immanuel Kant unterwarf beide Seiten seiner 1781 erschienenen „Kritik der reinen Vernunft“ und verband sie miteinander. Kant legte das Fundament für eine gemäßigt konstruktivistische Auffassung unseres Weltverständnisses, als er drei Jahre zuvor schrieb: „Was den Verstand betrifft, so ist dieser schon für sich durch seine Form auf die Erdenwelt eingeschränkt; denn er besteht bloß aus Kategorien, 271
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d. h., Äußerungsarten, die bloß auf sinnliche Dinge sich beziehen können. Seine Grenzen sind ihm also scharf gesteckt …“ Dann aber betonte Kant die Aktivität des Verstandes, mit dem der Mensch sich zu mehr macht als eine Maschine, die nur von äußeren Faktoren bestimmt wird: „Dieser Verstand aber ist ein gänzlich actives Vermögen des Menschen; alle seine Vorstellungen und Begriffe sind bloß seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstande ursprünglich, und er schafft sich also seine Welt. Die Außendinge sind nur Gelegenheitsursachen der Wirkung des Verstandes, sie reizen ihn zur Action, und das Produkt dieser Action sind Vorstellungen und Begriffe. Die Dinge also, worauf sich diese Vorstellungen und Begriffe beziehen, können nicht das sein, was unser Verstand vorstellt; denn der Verstand kann nur Vorstellungen und seine Gegenstände, nicht aber wirkliche Dinge schaffen, d. h., die Dinge können unmöglich durch diese Vorstellungen und Begriffe vom Verstande als solche, wie sie an sich sein mögen, erkannt werden; die Dinge, die unsere Sinne und unser Verstand darstellen, sind vielmehr an sich nur Erscheinungen …, die aber deswegen doch nicht Schein sind, sondern die wir im praktischen Leben für uns als wirkliche Dinge und Gegenstände unserer Vorstellungen ansehen können.“ Kant setzte die Existenz der Außendinge voraus, auch wenn sie sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen und nur als Gelegenheitsursachen (wir würden heute sagen: als Reizquelle) fungieren. Und er fuhr fort: „Ohne Außendinge wäre dieser Körper kein lebender Körper, und ohne Actionsfähigkeit des Körpers wären die Außendinge nicht seine Welt.“181
Abb. 101: Kants Schrift von 1798, die anfangs der preußischen Zensur zum Opfer fiel, war 100 Jahre später in einer Reclam-Ausgabe für 20 Pfenning zu haben. Wohl selten wurden Einsichten solcher Tragweite so preiswert unter das Volk gebracht. 272
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Kant nimmt die Abgrenzung eines gemäßigten Konstruktivismus vom radikalen Konstruktivismus vorweg, wenn er zusammenfasst: „Also der Verstand ist Schöpfer seiner Gegenstände und der Welt, die aus ihnen besteht; aber so dass wirkliche Dinge die Gelegenheitsursachen seiner Action und also der Vorstellungen sind.“182 Mit solchen Aussagen, die den Menschen zum Schöpfer seiner Welt erklären, verdarb es sich der Königsberger mit der katholischen Kirche (die Kritik der reinen Vernunft kam 1827 auf den Index), legte aber den Grundstein für Strömungen der neuzeitlichen Philosophie, auch für den Konstruktivismus und den Kritischen Realismus, von dem jetzt die Rede sein soll. Er nimmt Teile des Konstruktivismus vorweg, allerdings ohne die offensichtlichen Mängel der radikalen Form. Es ist die Richtung, der auch dieses Buch im Wesentlichen folgt. Der kritische Realismus verfolgt eine Erkenntnistheorie, die von einer physikalisch realen Welt ausgeht, die mit unserer phänomenalen Wirklichkeit über Sinnesreize verbunden ist.183 Die Dinge der phänomenalen Wirklichkeit sind das, was wir im Alltag antreffen und über die wir uns im Allgemeinen unterhalten. Ihre Eigenschaften sind abhängig 1. von den Reizbedingungen, die ihren Ursprung in den Reizquellen der äußeren Welt haben, 2. von den Sinnesorganen und der kognitiven Organisationsarbeit der Wahrnehmung und des Denkens, 3. von den Interaktionen des Individuums mit der physischen und der sozialen Welt. Der kritische Realismus übernimmt von Aristoteles die Würdigung der Sinnesleistungen für den Gewinn von Erkenntnis. Dabei leugnet er nicht, dass die Sinne täuschen können (s. die Aristotelische Täuschung Kap. 10). Der Philosoph Nicolai Hartmann wies darauf hin, dass das Subjekt in den Grenzen seines Bewusstseins gefangen ist und sich dennoch auf eine Realität beziehen kann, die außerhalb dessen liegt. Insbesondere die Gestaltpsychologie vertritt die Position des kritischen Realismus und gründet die Wahrnehmungspsychologie darauf, indem sie zwischen der phänomenalen (subjektiven) und der physikalischen (objektiven) Welt unterscheidet. Wolfgang Köhler schrieb: „Und so lernte man Form, Schwere, Bewegung usw. der Anschauungsdinge wie die Farben und Tonbeschaffenheiten behandeln, d. h. als Funktionen des Organismus, als Endprodukte von komplexen Prozessen in seinem Innern. Da nun die anschaulichen Dinge ihr Dasein solchen Prozessen in unserem Innern verdanken, können wir unmöglich behaupten, dass dieselben Anschauungsdinge diese Prozesse durch Reizung unserer Sinnesorgane veranlassen. So konnte das Bild einer ganz objektiven und unabhängigen Welt, von physischen Dingen, physischer Zeit, physischem Raum und physischer Bewegung zustande kommen, welches von dem Weltbild der unkritischen Anschauung radikal zu unterscheiden ist.“184 An anderer Stelle sagt er: „So sagen wir etwas naiv, dass „die Form“ unseres Bleistiftes oder eines Kreises auf der Retina „abgebildet“ werde. Diese Worte aber enthalten den „experience-error“ [Reizirrtum] … Man kann kaum oft genug wiederholen, dass auf der Netzhaut nur eine indifferente Menge lokaler Reize eintrifft.“185 273
Die zweite Entstehung der Welt
Innerhalb der Gestaltpsychologie gibt es, wie einleitend angesprochen, feine erkenntnistheoretische Unterschiede. Köhler nennt die Anschauungsdinge zwar nicht „Konstrukte“, doch besteht insofern eine Vorwegnahme des Konstruktivismus, als die Dinge der Erlebniswelt als subjektive „Endprodukte von komplexen Prozessen im Innern des Organismus“ aufgefasst werden. Eine Ähnlichkeit dieser Produkte mit der außersubjektiven Realität nehmen Wertheimer, Arnheim und Metzger an, die die Erlebniswelt als ein durch die Natur des Organismus „mitbestimmtes Abbild der physikalischen Welt“ ansehen.186 Diese Auffassung kommt dem naiven Realismus und somit dem allgemein herrschenden Wirklichkeitsverständnis entgegen. Köhler vermeidet den Begriff „Abbild“ ebenso wie den Begriff „Konstrukt“. Konstrukte im eigentlichen Sinn des Wortes sind bei ihm z. B. Beschreibungen der physikalischen Realität. Diese enthält die Quellen der Reize, die die Sinnesorgane affizieren und die Wahrnehmungsprozesse auslösen.
Abb. 102: Schema zum Kritischen Realismus. Vorausgesetzt wird die Interaktion des Organismus mit der physikalischen Umwelt durch Sensorik und Motorik. Innerhalb des Organismus gibt es eine neuronale Repräsentation der Umwelt, des Ichs und der Interaktion zwischen beiden (hellgrau). Diesem „psychophysischen Niveau“ PPN entspricht die erlebte Wirklichkeit, bestehend aus der anschaulich gegebenen Umwelt und dem erlebten Ich (dunkelgrau), die in Wahrnehmen und Handeln miteinander verbunden sind.187 Trotz dieser Unterscheidung zwischen phänomenaler und transphänomenaler (physikalischer) Wirklichkeit treten in der Praxis der experimentellen Forschung nicht selten 274
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erkenntnistheoretische Probleme auf. Dies sei an einem konkreten Beispiel aufgezeigt. Die Habilitationsschrift von Max Wertheimer, zusammen mit Wolfgang Köhler Begründer der Gestaltpsychologie in Berlin, betraf „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“. In ungezählten Praktika haben Studierende der Psychologie ein Grundmuster seiner Studien wiederholt: Blinken im Dunkelraum zwei Lampen in geringem Abstand abwechselnd auf, so sieht man einen Leuchtpunkt hin- und herspringen. Diese Scheinbewegung ist bei jedem Film und Video bis zum Daumenkino Grundlage dafür, dass wir Bewegung sehen und keine Folge von Einzelbildern. Die Wahrnehmung macht aus diskreten Einzelereignissen auf der Ebene der Reize ein kontinuierliches Geschehen auf der Ebene der Phänomene (vgl. Abb. 13). Die gesehene Bewegung, über die die Beobachter berichten, wird als subjektive Erscheinung notiert. Im Gegensatz dazu wird die Apparatur mit zwei sukzessiv aufleuchtenden Lampen, wie sie der Versuchsleiter sieht, gern mit den objektiven physikalischen Bedingungen gleichgesetzt. Das aber ist nicht korrekt. Denn auch das, was der Versuchsleiter sieht, ist ein Produkt seiner subjektiven Wahrnehmung. Dennoch wird unausgesprochen und oft unbemerkt in zahllosen Experimenten dem Forscher ein quasi-objektiver Standpunkt eingeräumt, und so schleicht der naive Realismus durch die Hintertür des psychologischen Labors herein. Wie kann man dieser erkenntnistheoretischen Falle entkommen? Es geschieht dadurch, dass die Bedingungen der Wahrnehmung präzise geschildert werden. Im einen Fall sind es die Bedingungen des Dunkelraums mit einer nicht einsehbaren Apparatur, im anderen Fall ist es die sichtbare Apparatur, bei der die Variationen der Lampenabstände millimetergenau und die der Zeitintervalle auf Sekundenbruchteile genau erfasst und zusammen mit den Protokolldaten in den Versuchsbericht aufgenommen werden. Besonders durch den Messvorgang begibt sich der Psychologe auf die Ebene des Naturwissenschaftlers, der in der Datenerfassung den subjektiven Faktor ausschließen möchte. Die subjektive Komponente ist niemals ganz zu eliminieren, doch mit der Beschränkung auf den Vorgang des Registrierens von Messergebnissen nähert sich der Wissenschaftler seinen Ansprüchen auf Objektivität so weit als möglich. Die Subjektunabhängigkeit ist nur noch zu steigern dadurch, dass nicht die Versuchsleiter, sondern Dritte die Messergebnisse registrieren. In kritischen Experimenten geschieht das nicht selten. Dass die Grenze zu absoluter Objektivität nicht überschritten werden kann, gilt für die Psychologie ebenso wie für alle Wissenschaften. Wolfgang Metzger, prominenter Vertreter der Gestaltpsychologie in Deutschland nach der Emigration ihrer Gründer, hat sich in seinem Hauptwerk „Psychologie“ ausführlich damit befasst, was wir als wirklich ansehen. Seine Differenzierung soll hier in Kurzfassung vermittelt werden.188 1.
Wirklichkeit im 1. Sinn: die physikalische oder erlebnisjenseitige Welt. Sie ist nicht unmittelbar erfahrbar, aber wirksam als Quelle der Reize, die den Organismus treffen, und veränderbar durch unser Handeln. Sie wird als objektiv vorhanden vorausgesetzt. 275
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2.
Wirklichkeit im 2. Sinn: die anschauliche oder erlebte Welt. Sie umfasst alles, was wir erleben, die Dinge und Menschen um uns, den eigenen Körper, unsere Handlungen, Träume, Empfindungen und Gefühle, Gedanken, Pläne und Hoffnungen. Sie existiert in der gegebenen Form nur für das jeweilige Subjekt, das „Ich“. a. Das Angetroffene im Gegensatz zum bloß Vergegenwärtigten. Das Angetroffene sind die Dinge und Ereignisse selbst, die uns begegnen, auch Halluzinationen und Phänomene, die sich später eventuell als Täuschung herausstellen. Zum Vergegenwärtigten gehören Gedachtes, Erinnertes, Vorgestelltes und Gewusstes. b. „Etwas“ und „Nichts“, „Voll“ und „Leer“. Leerer Raum trennt die Dinge und gehört zur erlebten Welt. Etwas und Nichts bedingen sich gegenseitig. Bei den mehrdeutigen Vexierbildern kommt es oft zum spontanen Wechsel von „Etwas“ und „Nichts“.
Abb. 103: Man kann entweder nur die schwarzen oder die weißen Pfeile sehen, nicht aber alle gleichzeitig. Figur und Hintergrund wechseln, „Etwas“ und „Nichts“ bedingen sich wechselseitig. c.
Anschaulich Wirkliches und anschaulicher Schein. Nachbilder, Schattenbilder und Spiegelbilder erleben wir als Schein, obwohl sie zum Angetroffenen gehören. Auch die Raumtiefe bei Bildern gehört dazu. Zwischen Schein und Wirklichkeit in diesem Sinn gibt es fließende Übergänge. Dieser offene Bereich ist eine Domäne der bildenden Kunst. Jedes Bild ist ein Spiel mit Schein und Wirklichkeit.
Hilfreich ist Metzgers Klärung im Sinne von Köhler: Die Übereinstimmung der Wirklichkeit im 2. Sinne mit der Wirklichkeit im 1. Sinne „ist niemals unmittelbar gegeben. Was wir im täglichen Leben so bezeichnen, ist allenfalls die Übereinstimmung einer Vergegenwärtigung, z. B. einer Vorstellung, mit dem anschaulich Angetroffenen …, niemals aber die Übereinstimmung des anschaulich Angetroffenen mit dem erlebnisjenseitigen Tatbestand, der in ihm, d. h. in der Wahrnehmung, abgebildet ist. Es ist gänzlich ausgeschlossen, dass die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit der eigentliche Grund unseres Vertrauens in unsere unmittelbare 276
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Wahrnehmung ist. Denn wir können nicht aus unserer Wahrnehmung heraus; wir können niemals das andere Glied des Vergleichs, den „wirklichen Sachverhalt“ selbst, in die Hand bekommen und ihn neben seine Wahrnehmungserscheinung halten, um deren Übereinstimmung mit ihm unmittelbar festzustellen … Nur unser Handeln, unser wirkliches – nicht geträumtes oder halluziniertes – Handeln, spielt sich jenseits unserer Wahrnehmungswelt ab: Es ist daher sogar dem Handelnden selbst ebensowenig unmittelbar gegeben wie die wirklichen Dinge, auf die es sich bezieht; was wir davon sehen und verspüren und im täglichen Leben – ohne Schaden – für die Tätigkeit selbst halten, also unsere „angetroffene“ eigene Tätigkeit … ist …streng genommen nur ein Geschehen im Kommandoturm unseres Organismus … Der wahrgenommene Erfolg oder Misserfolg unseres handelnden Eingreifens ist unter diesen Umständen das letzte und schlechthin entscheidende Kennzeichen der Übereinstimmung, nicht erst in den experimentellen Wissenschaften, sondern ebenso schon bei dem unscheinbarsten Handgriff des Alltags.“189
Abb. 104: Hier scheint ein weißes Sechseck über einer Wiese zu schweben. Es kann auch wie ein leuchtendweißer Monolith wirken. Tatsächlich ist in die Farbschicht eines Papierfotos ein sechseckiges Loch geschnitten worden. Aber wir können dieses „Nichts“ kaum anders als Figur sehen, irreal über einer wirklichen Landschaft. Fast vergessen wir, dass die Landschaft nur ein Bild ist. Arbeit eines Kunststudenten. Der Wirklichkeitsbegriff wird im Zitat nicht eindeutig verwendet, wenn auch klar ist, wie er gemeint ist. Um terminologische Eindeutigkeit zu erreichen, ist es üblich geworden, die erlebte Wirklichkeit (Metzgers Wirklichkeit im 2. Sinn) als „Wirklichkeit“ zu bezeichnen und die physikalische Wirklichkeit (Metzgers Wirklichkeit im 1. Sinn) als „Realität“. Die Bezeichnung „Konstrukt“ für die erlebte Wirklichkeit hätte Wolfgang Metzger ähnlich wie Rudolf Arnheim abgelehnt. Denn wir erfahren sie ja nicht als Konstruktion, die unser Ich 277
Die zweite Entstehung der Welt
gefertigt hätte, sondern als etwas, das wir antreffen. Den Begriff des Konstrukts hätte er sich wie Köhler für Vergegenwärtigtes vorbehalten, und zwar für Produkte kreativer Gedanken wie etwa eine wissenschaftliche Theorie über die Wirklichkeit im 1. Sinn. Die Erlebniswelt als Konstrukt zu bezeichnen ist nur möglich aus einer gedanklichen Perspektive außerhalb der Erlebniswelt, die streng genommen niemand einnehmen kann. Das erkenntnistheoretische Problem, das in der Unterscheidung von 1. und 2. Wirklichkeit besteht, haben wir schon mit der äußeren Psychophysik angesprochen (s. Kap. 18). Es betrifft auch die innere Psychophysik – die Beziehung zwischen psychischen Vorgängen und neuronalen Prozessen. Ihr werden wir uns später gesondert zuwenden. Im Moment sei nur ein Problem genannt, das die äußere und die innere Psychophysik gleicherweise angeht: Wenn man radikalkonstruktivistisch davon spricht, „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“190, dann begibt man sich schon mit diesem Satz in einen klassischen Zirkelschluss. Denn eine Teilmenge der Welt ist auch und besonders das Gehirn! Demnach würde, wenn man dem Buchtitel von Chris Frith folgt, ein Teil der Welt zum Schöpfer der Welt. Das ist absurd. Aber begibt sich das vorliegende Buch, das „Die zweite Entstehung der Welt“ nachzeichnet, nicht in die gleiche Denkfalle? Wird nicht überall auf das Gehirn und seine Leistungen Bezug genommen? Die Lösung der Paradoxie besteht darin, dass man entgegen dem radikalen Konstruktivismus die Existenz und Bedeutung einer physikalischen Realität voraussetzt. Ihr gehört auch an, was wir aufgrund von sichtbaren und messbaren Eigenschaften mit dem Begriff „Gehirn“ meinen. Nur dieses gemeinte Etwas ist Schöpfer unserer Erlebniswelt. Es ist mehr und anders als das, was wir von ihm wahrnehmen können. Was wir als Gehirn wahrnehmen, was der Anatom sieht und der Physiologe mit seinen Geräten untersucht, ist etwas für uns Erfassbares. Das „Ding an sich“ dagegen entzieht sich nach Kant unserer Erkenntnis, auch wenn er sich darauf als „Gelegenheitsursache“ bezieht (s. Kap. 31). Wir sehen und messen bestenfalls Teileigenschaften, auch wenn wir meinen, das Ding selbst zu erkennen. Es sind Zuschreibungen, von denen wir niemals mit absoluter Sicherheit wissen, ob sie auch zutreffen. „Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!“ lässt Goethe den Erdgeist seinem Protagonisten Faust, der nach absoluter Erkenntnis strebt, entgegnen. Der Erzeuger unserer Erlebniswelt ist nicht der Gewebeklumpen, den die ägyptischen Mumifizierer mit Haken aus dem Schädel entfernten, nachdem sie das dünne Siebbein (Abb. 33) im Nasendach durchstoßen hatten. Es ist nicht der durchblutete Schädelinhalt, von dem Aristoteles annahm, dass er nur zur Kühlung diene. Es ist nicht das faltige Gebilde, in dessen Zwischenräumen Leonardo die Bühne des Erlebens sah. Es ist kein hydraulisches Pumpwerk, wie es sich Descartes vorstellte. Das histologische Netzwerk aus Abermilliarden Neuronen, das Brodmann sezierte, ist nicht die Wirklichkeit selbst. Die Billionen Aktionspotentiale, deren Funktionszusammenhänge die Hirnforscher unserer Tage zu entschlüsseln suchen, sind messbare Äußerungen, aber die darauf fußenden Theorien bleiben Theorien, so evident sie sein 278
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mögen. Alle Eigenschaften und Äußerungsweisen betreffen ein Organ, dessen physikalische Realität sich niemals in der Objektivität und Vollständigkeit zu erkennen gibt, wie das die Wissenschaft sich gerne wünschen würde. Aber wir haben Grund genug anzunehmen, dass dieses Etwas „Gelegenheitsursache“ all unserer Wahrnehmungen und Empfindungen, unserer Gedanken und Gefühle, unserer Welt und unseres Selbst ist. Das Gehirn könnte erst dann als erkannt gelten, wenn dieser Zusammenhang vollständig verstanden wäre. Es ist nicht zu erwarten, dass der Neurophysiologe bei seinen Messungen am Gehirn auf das Erleben stößt, ebenso wenig wie 1961 beim ersten Flug in den Weltraum zu erwarten war, dass Juri Gagarin Gott schauen würde. Wir kommen in Kap. 42 erneut auf die Frage nach neuropsychologischen Zusammenhängen zurück. Mit dem Gehirn verhält es sich ebenso wie mit dem Apfel des Sextus Empiricus. All seine festgestellten Eigenschaften, seien sie sinnlich erfahren oder mithilfe von Hilfsinstrumenten, sind erkenntnistheoretisch gesehen Eigenschaften des Gegenstandes unserer Vorstellung. Manche davon können wir sogleich als Artefakte unserer Sinne oder als Gefühlsreaktionen abhaken, wie etwa den Geschmack eines Apfels oder den Ekel, den mancher beim Anblick von Rinderhirn auf dem Teller empfindet. Dass dies keine objektiven Eigenschaften sind, wusste schon Demokrit. Es geht im besten Fall um die stimmige Beschreibung von Modellen. Es geht um die Hoffnung, dass immer mehr der festgestellten Eigenschaften immer seltener untereinander und mit noch nicht erschlossenen Eigenschaften in Widerspruch stehen. Es geht darum, dass die Modelle die Beobachtungen möglichst gut erklären, dass sie Vorhersagen schaffen und Handlungskonsequenzen ermöglichen. Das gilt nicht nur für den Wissenschaftler, sondern letztlich für jedermann, der nicht einfach glauben will, was er sieht und was man ihm sagt. Erst unter der Voraussetzung, dass es eine Realität gibt und dass wir nach subjektunabhängigen Informationen suchen, bekommen unsere Konstrukte einen Bezug, der nicht beliebig ist. Diese Beziehung ist besonders wichtig, weil sie für alle Menschen gilt und damit eine gemeinsame Basis darstellt. Nicht weniger wichtig ist sie, weil sie mit Schall und Licht die unverzichtbaren Medien für die mitmenschliche Verständigung in Sprache und Bild liefert. Die physikalische Realität ist zwar nicht unmittelbar erfahrbar, macht sich aber als Quelle von Sinnesreizen oder von wissenschaftlichen Messdaten bemerkbar. Es bleibt trotz aller Zweifel in Wissenschaft und Alltag alternativlos, möglichst sichere Informationen anzustreben, auch wenn es keine absolute Erkenntnis geben kann. Ohne ihren Bezug zu etwas, das tatsächlich „der Fall ist“ (Wittgenstein), wären die Konstrukte nicht einmal Hirngespinste. Denn auch das Gehirn wäre dann ja nichts als eine Erfindung. Kurz gesagt: Für Kinder und für viele Erwachsene gilt der naive Realismus: Wirklich ist das, was ich sehe, höre und fühle. Der radikale Konstruktivismus dagegen behauptet: Die ganze Welt ist eine Konstruktion (des Gehirns), über eine physikalische Realität lässt sich nichts 279
Die zweite Entstehung der Welt
sagen. Der kritische Realismus geht von der Existenz einer physikalischen Realität aus, die die Quellen der Reize enthält, auf deren Grundlage die Wahrnehmung eine eigene Wirklichkeit aufbaut. Die physikalische Realität bildet den verlässlichen und gemeinsamen Bezug für alle individuellen Erlebniswirklichkeiten.
Literatur Arnheim 1989. Brüntrup 1996. Glasersfeld 1981. Rusch & Schmidt 1992. Schmidt S S 1987. Stadler & Kruse 1989. Watzlawick 1981. Wittgenstein 1992.
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Drastische Lektionen Endlich habe ich herausgekriegt, wohin all das verschwindet, was ins Plumpsklo von Tante Elisabeths Haus fällt. Mit kindlicher Neugier hatte ich immer wieder in das schwarze muffig riechende Loch in der Sitzbank gestarrt, neben dem links ein Holzdeckel und rechts ein Stapel handlich geschnittener Zettel aus Zeitungspapier lag. Jetzt hat Onkel Willi hinter dem Haus, neben den Gemüsebeeten, eine große schwere Klappe geöffnet. Als ich herantrete und in die Grube darunter blicke, schlägt mir ein übler, penetranter Geruch entgegen. „Fall bloß nicht in die Jauche!“ warnt mich Onkel Willi. „Da kommst du nicht mehr heraus!“ Er nimmt einen langen Stock mit einer Schöpfkelle daran, taucht sie tief hinab, bis es gluckst, und holt sie mit brauner Brühe gefüllt wieder empor. Voll Schauder weiche ich zurück. „Was willst du denn damit?“ „Das kommt auf die Kartoffeln,“ antwortet Onkel Willi, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Die wachsen dann besser!“ Ein paar Jahre später, ich gehe schon zur Schule, bekomme ich endlich einen Fußball. Nun ja, es ist kein richtiger Fußball, es ist eine weißlich durchscheinende Blase, mit der man schön kicken kann. Der Nachbar hat sie mir geschenkt, und als ich frage, was das eigentlich ist, klärt er mich auf. Das sei die Blase von dem Schwein, das er gestern geschlachtet hat. „Da war seine Pippi drin.“ Aha. Ich wunderte mich schon, warum aus dem Bretterverschlag neben dem Haus des Nachbarn kein Quieken und Grunzen mehr zu hören ist. Ein Jahr später kriege ich mit, wie der gleiche Nachbar in seinem Garten einen Hahn schlachtet. Mit der Linken hat er den zappelnden Vogel gepackt und auf den Hauklotz gelegt, mit dem er sonst das Brennholz spaltet. Er nimmt mit der Rechten ein Beil und trennt dem Hahn zielsicher und knapp an seiner linken Hand vorbei den Kopf ab. Der Schreck, der mich durchfährt, wird zum Entsetzen, als der Hahn – ohne Kopf – flatternd auf mich zu läuft. Erst wenige Schritte vor mir fällt er zuckend um. Diese Erfahrung hat für mich die Bedeutung des Kopfes vorübergehend relativiert.
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Wie kommt Wissen zustande?
Anders gefragt: Wie erwerben und konstruieren Individuum und Wissenschaft ihre Erkenntnisse? Für ein Kind ist die Welt immer vollständig. Was es nicht weiß, ist ein Geheimnis, und so ist die Welt des Kindes voller Geheimnisse. Geheimnisse sind etwas Schönes. Es macht Freude, sie zu bestaunen, sie zu lüften, sie mit anderen zu teilen oder sie zu bewahren. Sie sorgen dafür, dass die Welt stets reicher ist als das, was wir schon von ihr kennen. Zugleich 281
Die zweite Entstehung der Welt
haben sie den besonderen Appeal, herauszufinden, was hinter ihnen steckt. Der Entdeckungsdrang der Kinder ist grenzenlos und oft auch nicht gefahrlos. Die Eltern schaudern davor, dass Kleinkinder anfangs alles mit dem Mund untersuchen müssen. Dass sie zu der steil abfallenden Treppe krabbeln. Dass sie allein ins Freie laufen. Dass sie mit dem Feuer spielen wollen. Ständig müssen die Eltern neu die Grenze zwischen Freiraum und Schonraum finden, damit das Kind einerseits seine Welt erfährt und mit ihr eigenständig umzugehen lernt, ohne andererseits den Gefahren zu erliegen, die es noch nicht einschätzen kann. Die ständig damit verbundenen Aufregungen werden vergolten durch die Mitfreude daran, wie das Kind zusammen mit seiner sich immer mehr erweiternden Welt körperlich und geistig wächst. Das erste Wissen erwirbt das Kind allein aufgrund seiner eigenen Sinneserfahrungen. In den ersten Kapiteln haben wir uns vor allem damit beschäftigt, wie das geschieht und wie es sich entwickelt. Jetzt geht es um das Was. In der Abfolge, die seine Interaktion mit der Umwelt es zulässt, beginnt das Kind mit dem Nächstliegenden und erweitert allmählich seinen Horizont. Schon im Mutterleib macht es die ersten Erfahrungen des eigenen Körpers, erfährt grundlegende Zusammenhänge zwischen seiner Motorik und dem, was es fühlt. Die vorübergehende Lanugobehaarung hilft dem Fötus, die wichtige Grenze zwischen dem Körper-Ich und seiner Umwelt zu spüren und zu verinnerlichen. Erste Klangerlebnisse prägen das Kind schon vor der Geburt, noch bevor es ahnen kann, woher sie stammen. Nach der Geburt ist zunächst der Mundraum die Arena aller wichtigen Erfahrungen. Erstmals ist das Kind nicht nur ausgeliefert, sondern kann es etwas ablehnen. Es unterscheidet zwischen dem, was ihm schmeckt und was nicht, und wendet ggf. den Kopf ab. Damit gründet es das elementarste Bezugssystem für sein kommendes Leben zwischen dem, was es mag und dem, was es nicht mag. Indem dieser Unterscheidung das eigene Handeln angepasst wird, bewegt sich das eigene Verhalten fortan zwischen Appetenz und Aversion. Es betrifft zunächst die Nahrungsaufnahme, im weiteren Entwicklungsverlauf die Bewertung alles sinnlich Erfahrenen bis hin zu ästhetischen, ethischen und geistigen Werten. Zunächst aber geht es darum, die Materialität der Dinge mit dem Mund zu erfahren. Die Hand ist dabei zunächst zuführendes Werkzeug, bevor sie selbst zusammen mit den Augen die Gegenstände des Greifraums erkundet und verinnerlicht. Um mit Piaget und Metzger zu sprechen: Akkomodation von neuen Erfahrungen und Assimilation in die Eigenwelt gehen Hand in Hand. Das Angetroffene wird im Gedächtnis gespeichert und so zu etwas, was später vergegenwärtigt werden kann, also zu Wissen. Aber auch ohne bewusste Vergegenwärtigung kumulieren Erfahrungen zum Hintergrund für die Einordnung und Bewertung aller neuen Sinneserfahrungen. Bedeutsam ist die Verbindung mit dem eigenen Handeln. Die Berieselung kleiner Kinder mit Fernsehen und Videos mag sie unterhalten, aber der Beitrag zur Entwicklung ihrer Welt ist minimal und nimmt ihnen vielmehr die Zeit, in eigenem Umgang die Eigenschaften der wirklichen Dinge mit allen Sinnen zu erfahren und das Potential zu erkunden, das in ihnen steckt und eigenem Tun zur Verfügung 282
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Wie kommt Wissen zustande?
steht. Nicht weniger wichtig dabei ist die Entwicklung der eigenen Sensumotorik, also der Geschicklichkeit im Umgang mit der Umwelt. Schon das Krabbelalter lässt erkennen, wie das Kind sich bemüht, seinen Horizont zu erweitern. Erst recht, wenn es um den ersten Geburtstag herum seine ersten Schritte macht und zu laufen beginnt. Papierkörbe und Schubladen werden ausgeräumt und untersucht. Jetzt fängt es auch schon bald an, die Dinge seiner Welt in unterschiedliche Kategorien wie groß und klein, weich und hart zu ordnen, leblose von lebendigen Objekten zu unterscheiden. Im Spiel macht es die Grunderfahrung, symbolisch zu handeln, indem es etwa einen Bauklotz als Auto benutzt. Mit 1½ Jahren zeigt es die beginnende Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, mit vier Jahren wird ihm bewusst, dass Menschen eine eigene Innenwelt haben, ein Jahr später kann man mit dem Kind über Gefühle reden, die es selbst und andere haben.
Abb. 105: Die knapp zweijährige Antje absolviert mit ihren Bauklötzen einen Elementarkurs in Statik und Mechanik – ganz ohne Sprache und ohne Belehrung. Im Zusammenspiel der Sinne und der Motorik erprobt sie Handlungsmöglichkeiten und setzt das Erfahrene sogleich in Pläne um. Die sensumotorische Intelligenz bereitet Operationen vor, die später auch rein gedanklich gebraucht werden. Das Kind in unterschiedliche Umwelten mitzunehmen, bedeutet keine Überforderung, sondern Anregung, wenn es Gelegenheit erhält, aktiv mit dem Neuen umzugehen. Das Kind 283
Die zweite Entstehung der Welt
wird stets aus der vorhandenen Vielfalt das selektieren, was ihm gemäß ist. Der Wald etwa mit seinen vielfältigen Gerüchen und Geräuschen, mit visuellen und haptischen Angeboten ist ein unerschöpflicher Quell, und sei es nur, dass das Kind durch Berge duftenden Laubs stapft oder auf jeden Baum klettert, der dazu einlädt. Der Erwachsene, der es begleitet, sollte sich immer wieder bewusst machen, dass alles, was er von der Welt kennt und was ihm so selbstverständlich ist, sich beim Kind als eigene neue Welt bilden muss, so weit als möglich durch eigene sinnliche Erfahrung, über eigenen Umgang mit den Dingen, und möglichst wenig durch die indirekte Vermittlung elektronischer Medien. Diese sind später wichtig, aber ihre Wirksamkeit und die Möglichkeit ihrer Beurteilung setzt einen reichen Fundus an unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung voraus. Das wird vom Erwachsenen leicht vergessen, weil diese Voraussetzungen für ihn aufgrund des eigenen Erfahrungshintergrundes selbstverständlich sind. Zu diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten gehört auch der Zeitbegriff. Bis zum zweiten Lebensjahr leben Kinder ganz in der Gegenwart. Es fällt ihnen schwer, auf etwas warten zu müssen. Sie müssen erst lernen, dass die Mutter zurückkommt, wenn sie für eine Weile nicht zu sehen ist. Begriffe wie „morgen“ oder „übermorgen“ verstehen sie nicht. Bis die Kinder im Alter von fünf bis sieben Jahren abstrakte Begriffe wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstehen, hilft ihnen der Hinweis auf Ereignisse, die sie kennen, etwa: „Noch zweimal schlafen, dann gehen wir in den Zoo.“ Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis von Welt und Ich liefert das Zeichnen. Schon bei den ersten Versuchen im Kritzelstadium erfährt das Kind sich selbst als Urheber von etwas, das bleibt. Nachdem es sich einige Grundkategorien wie Linie und Fläche erarbeitet hat, wird bald erkennbar, was ihm an der Erscheinung des Menschen wichtig ist. Soziale Zusammenhänge finden ihre Darstellung. In der Schemaphase zeigt es den klaren Aufbau seiner Welt, wie er in Abb. 106 zu sehen ist. Das Malen fördert die Phantasie des Kindes und gibt ihm die Möglichkeit, eigene Vorstellungen in sichtbare Realität umzusetzen – eine grundlegende Erfahrung. Um das zwölfte Lebensjahr werden die Heranwachsenden selbstkritischer gegenüber ihren gezeichneten Produkten, und viele hören auf zu malen. Manche aber stellen sich den Herausforderungen. Sie wollen etwa den Zusammenhang zwischen Bild und Raum begreifen und erarbeiten sich die perspektivische Darstellung. Oder sie suchen zeichnend herauszubekommen, welche Gesichtszüge welchen Ausdruck hervorrufen – eine wunderbare Methode, um dem Zusammenhang zwischen äußerer Erscheinung und psychischen Zuständen auf die Spur zu kommen. Je mobiler das Kind wird, desto mehr dehnt sich sein Horizont aus. Nach Dreirad und Roller ist es das Fahrrad, das die Welt größer werden und mit den gewonnenen Freiräumen auch die Selbstverantwortung wachsen lässt. Die zunehmende Beherrschung von Fahrzeugen gehört zum „impliziten Lernen“ bei neuen Tätigkeiten, dem learning by doing, das sich 284
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Wie kommt Wissen zustande?
bei Kindern wie von selbst ergibt. Größere Aufmerksamkeit und Anstrengung verlangt das „explizite Lernen“, das besonders in der Schule vermittelt wird. Lesen, Schreiben, Rechnen, die Vermittlung von Tatsachenwissen, das an persönliche Erfahrung anknüpft und darüber hinausgeht, fordert kindgerechte didaktische Konzepte. Dass diese nicht immer optimiert sind, bedarf keiner Betonung und stellt Pädagogen wie Eltern vor ständig neue Herausforderungen. Wichtig ist stets, die ursprüngliche intrinsische Motivation, die Welt selbständig entdecken zu wollen, zu erhalten. Das wird erschwert, wenn die Erwachsenen die Position des überlegenen Alleswissers einnehmen, denn dann gibt es nichts mehr zu entdecken. Die Situation ist eine ganz andere, wenn die Erwachsenen nicht nur dozieren und abfragen, sondern selbst echte Fragen stellen, die erkennen lassen, dass die Welt auch für sie nach wie vor voller Geheimnisse ist.
Abb. 106: Die siebenjährige Heike gibt ihr Bild der Welt in klarer Ordnung und Geborgenheit ähnlich wieder, wie es viele Kinder ihres Alters tun: Unten ist die Erde, oben der Himmel, dazwischen spielt sich das bunte Leben mit Tieren und Pflanzen ab, Vögel füttern ihre Jungen und die Sonne scheint. Nicht wenige Erwachsene fühlen sich überlegen, wenn sie meinen, alle Erfahrungen gemacht zu haben und über alles Bescheid zu wissen. Sie haben ihre Neugier auf die Welt verloren. Dabei muss man nichts anderes tun, als die Fragen der Kinder weiterzufragen. Das Kind sieht einen Globus und erfährt, dass in allen Ländern Menschen leben. Es wird nur kurze Zeit dauern, bis es fragt: „Und warum fallen die Menschen auf der anderen Seite der Erde nicht runter?“ Auf die unheimliche Vorstellung hin, dass Menschen und Kängurus ins Bodenlose stürzen, 285
Die zweite Entstehung der Welt
antworten Sie vielleicht: „Unten ist immer die Richtung, die zum Erdboden zeigt.“ Schon haben Sie erklärt, warum die Antipoden auf der Erdoberfläche kleben bleiben. Aber das Kind ist nicht zufrieden. „Warum ist das so, warum fällt alles auf die Erde?“ Sie erinnern sich an den Schulunterricht und wissen: „Das ist die Schwerkraft“. Mit dieser gravitätischen Feststellung hoffen Sie vielleicht, der Fragerei ein Ende zu bereiten. Doch vielleicht fragt das Kind weiter: „Und was ist die Schwerkraft?“ Das bringt beide, Kind und Erwachsenen, zum Nachdenken. Sie werden beide keine endgültige Lösung finden, und der Erwachsene kann mit Recht sagen, dass selbst die Wissenschaft es noch nicht genau weiß, obwohl sie seit Jahrtausenden versucht, das Rätsel zu lösen. Und schon steht ein Geheimnis im Raum, in das wir mit Schritt und Tritt involviert sind. Manche Wissenschaftler sind nicht frei von dem Gedanken, dass sie es ihrem Berufsstand schulden, alles erklären zu können. Unerklärliches wird geleugnet oder für unwichtig erklärt, man denke nur an das Problem des Bewusstseins, das jahrzehntelang von den Behavioristen verdrängt wurde. Viele Wissenschaftsjournalisten überbieten sich mit Schlagzeilen wie solchen, dass das Geheimnis von Stonehenge gelöst sei, das Geheimnis der Pyramiden, das Geheimnis der Mona Lisa etc. Bei genauerer Betrachtung stellt sich in der Regel heraus, dass ein kleiner Mosaikstein gefunden wurde, dessen Bedeutung hauptsächlich darin zu sehen ist, dass das Augenmerk neu auf ein großes Rätsel gerichtet wurde. Ebenso kontraproduktiv wie die Zerschlagung von Geheimnissen um einer Schlagzeile willen ist der „Nichts-als-ismus“. Wir kennen solche altklugen Behauptungen zu Genüge: „Farben sind nichts als Wellenlängen“, „Liebe ist nur ein Wort“, „Gefühle sind nichts als Hormone“, „Bewusstsein ist nichts als das Feuern von Neuronen“, „Die Welt ist nur eine Illusion“. Hinter solchen Behauptungen steckt ein Halbwissen, das als überlegene Sachkenntnis daherkommen will, bei dem aber nur versäumt wurde, weiterzufragen. Ernst Peter Fischer, vielseitiger Naturwissenschaftler und Wissenschaftsjournalist, widmet der Absicht, das Staunen für die Wissenschaft wiederzugewinnen, ein ganzes Buch. „Das Schönste, was ein Mensch erleben kann, ist das Geheimnisvolle.“ Dieses Zitat von Albert Einstein setzt er gleich zu Beginn neben ein anderes von Carl Friedrich von Weizsäcker: „Man wird nicht sagen dürfen, dass die Physik die Geheimnisse der Natur wegerkläre, sondern dass sie sie auf tieferliegende Geheimnisse zurückführe.“191 Im Unterschied zur landläufigen Meinung definieren sich die Wissenschaften weniger durch ihre Inhalte als durch die Methoden, mit denen sie forschen. Dazu gehören je nach Fachgebiet z. B. die systematische Beobachtung, das Experiment, die Fallstudie, statistische Verfahren, Hermeneutik und vieles mehr. Verfolgen wir als Beispiel die Beobachtung, die mit bloßen Augen beginnt. Die Gesetzmäßigkeiten im Lauf der Gestirne beschäftigen die Menschen seit vorgeschichtlicher Zeit. Der Wechsel von Tag und Nacht in Abhängigkeit vom Lauf der Sonne gehört zu 286
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den Urerfahrungen der Menschheit, die jedes Kind aufs Neue macht. Im Wochentakt erinnern „Sonntag“ und „Montag“ an unsere täglichen und nächtlichen Hauptgestirne, die den Rhythmus von Tag und Monat bestimmen. Steinerne Zeugnisse wie Stonehenge weisen darauf hin, dass schon in der Jungsteinzeit die Beobachtungen des Sonnenlaufs so genau waren, dass man den Zeitpunkt der Sommersonnenwende und damit den Ablauf eines Jahres präzise feststellen konnte. Dabei ist das Tagesgestirn ein denkbar ungünstiges Objekt für die Beobachtung, weil die intensive Strahlung beim Hineinblicken schmerzt und das naturgegebene Beobachtungsinstrument zerstören kann. Ich selbst leide unter punktuellen Verbrennungen der Netzhaut, auf die ich von Augenärzten immer wieder hingewiesen werde, denen ich dann jedes Mal beichten muss, dass ich als Jugendlicher mit meinem ersten Fernrohr unvorsichtigerweise kurz in die Sonne geblickt habe. Mit bloßen Augen hatten die frühen mesopotamischen Astronomen seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. festgestellt, dass es außer den Fixsternen, die als Gesamtheit über den Himmel kreisen, sieben Wandelsterne gibt, die gesonderte Wege nach eigenen Gesetzen gehen: Neben Mond und Sonne waren es Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. In Babylonien, Ägypten, Griechenland und Rom wurden die Sieben namensgebend für die seither geltenden Wochentage, wenn auch später der Jupitertag von Donar, dem germanischen Donnergott mit dem Hammer, und der Venustag von Frija, der germanischen Muttergöttin, übernommen wurde. (Mich wundert nur, warum die Kirche die „heidnischen“ Bezeichnungen der Wochentage nicht abgeschafft hat. Lediglich der „Merkurtag“ wurde von der Kirche in das neutrale „Mittwoch“ umbenannt, was die Sache aber noch merkwürdiger macht. Denn dadurch wird der Sonntag zum Wochenanfang und nicht zum abschließenden Ruhetag erklärt, wie es dem Schöpfungsbericht entspräche. Offenbar hat sich die Tradition, die Woche mit dem heiligen Sonntag zu beginnen, durchgesetzt, die schon seit ca. 5000 Jahren gilt. Wenn wir nichtsdestotrotz Samstag/Sonntag das „Wochenende“ nennen, verhalten wir uns bibeltreuer als die Kirche). Am Himmel liegt die Grenze des Erkennbaren bei drei- bis sechstausend Sternen, die mit bloßem Auge unterschieden werden können. Bei der Nahbetrachtung sind es z. B. Insektenhaare von 0,01 mm Durchmesser, die die Grenze des direkt Beobachtbaren markieren. Um 400 v. Chr. dachte Demokrit die Zerteilung von Materie unter die Grenze des Sichtbaren weiter und gelangte zur Annahme von Atomen (a-tomos = unteilbar), aus denen alles Seiende zusammengesetzt ist. Etwa um die gleiche Zeit wurde die Lupenwirkung von Gläsern entdeckt. Der bereits erwähnte arabische Gelehrte Alhazen beschrieb vor 1000 Jahren, dass gewölbte Glasoberflächen zur Vergrößerung dienen können. „Lesesteine“ aus dem Halbedelstein Beryll dienten ab dem 13. Jahrhundert Mönchen als Lesehilfe. Sie wurden nicht direkt vor die Augen gehalten, sondern auf den zu lesenden Text gelegt. Der Beryll wurde Namensgeber für die Brille. Nach Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert lernten zunehmend mehr Menschen lesen, was auch der Verbreitung der Brille Auftrieb gab. 287
Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 107: Eine alte Bezeichnung für Bernstein ist „Augstein“. In früher Zeit dienten Linsen aus Bernstein als Lupen, die sich leichter schleifen lassen als Glas oder Beryll. Die Unterstützung des Auges durch optische Linsen erweiterte das Wissen auf zweierlei Wegen: durch das Teleskop und durch das Mikroskop. In beiden Fällen gelang der entscheidende Schritt durch die Kombination von Linsen zu Okular und Objektiv. 1637 baute Antony van Leeuwenhoek eins der ersten Mikroskope und erblickte damit erstmals eine Welt im Kleinsten, die bis dahin verborgen war. Das Mikroskop erlaubte, den Zellaufbau von Pflanzen und Tieren zu erkennen, Bakterien, Viren und Chromosomen zu studieren. Zusammen mit der sich entwickelnden Fototechnik gelang es, immer feinere Strukturen und Prozesse der Wissenschaft zugänglich zu machen bis hin zum Wachstum von Nervenzellen oder Zellteilungsprozessen. Die geringe Schärfentiefe wurde im 20. Jahrhundert durch das Stackverfahren wesentlich erweitert, das inzwischen computerunterstützt verläuft (s. die Bilder von Bernsteininklusen in diesem Buch). Die optische Auflösungsgrenze, die bei ca. 0,2 Mikrometer liegt, überschreiten seit 1931 Elektronenmikroskope. Die stärksten Transmissions-Elektronen-Mikroskope erreichen gegenwärtig eine Auflösung, die einem Millionstel des menschlichen Haardurchmessers entspricht. Demokrit hätte sich darüber gewiss gefreut, denn sie machen Atome sichtbar. Diese zeigen zwar keine Haken und Ösen, mit denen sie sich seiner Annahme zufolge auf unterschiedliche Weise verbinden sollten, sie weisen stattdessen oft positive oder negative Ladungen auf, mit denen sie sich aneinanderbinden. Aber die Idee der Zusammensetzung der Materie aus Atomen hat nun einen sichtbaren Nachweis gefunden, der bislang nur indirekt erfolgte. Noch vor den ersten Mikroskopen wurden in den Niederlanden die ersten Teleskope gebaut. Allgemein bekannt wurden sie durch Galileo Galilei 1609, besonders, als er die ursprünglich dreifache Vergrößerung auf das 20-fache erweitern konnte. Er entdeckte Berge, Krater und Ebenen auf dem Mond und Flecken auf der Sonne. Er beschrieb den großen roten Fleck auf Jupiter und dessen vier große Monde auf ihrer Bahn um den Planeten. Sie wurden entsprechend der Mythologie nach Geliebten Jupiters benannt: Io, Europa, Kallisto und dem Jüngling Ganymed. Durch stärkere Fernrohre wurden bis heute 67 Monde Jupiters nachgewiesen… 288
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Menschen mit extremer Sehschärfe können die Galileischen Monde mit bloßen Augen sehen, und Berichten zufolge sollen präkolumbianische Ureinwohner Amerikas auf den Planeten hingewiesen haben, der seine Kinder frisst und wieder ausspuckt. Doch Beobachtungen, die nicht durch andere bestätigt werden können und nicht dokumentiert werden, gehen für die Wissenschaft verloren wie unzählige individuelle Erfahrungen. Das war Galilei bewusst und er bemühte sich, viele namhafte Zeugen für seine Beobachtungen durch das Teleskop zu gewinnen. Aber die Inquisition der römischen Kirche, schon überreizt durch die protestantische Bewegung, wollte weitere Beschädigungen ihres Weltbildes durch Galileis „Sternenbotschaft“ nicht dulden. Das Weltmodell von Kopernikus, nach dem die Erde um die Sonne kreist, wurde als mathematische Möglichkeit stillschweigend hingenommen. Nicht jedoch, dass Galilei kirchliche Anhänger der alten ptolemäischen Weltordnung, nach der die Erde ruht und den Mittelpunkt des Kosmos bildet, als „stumpfsinnige Mondkälber“ bezeichnete. Auch nicht die Existenz von Sonnenflecken, die der Reinheit der Sonne als Gleichnis Gottes widersprachen. Galilei musste sich massiven Drohungen beugen und starb im Hausarrest. Sein Beweiswerkzeug aber war auf der Welt und wirkte fortan stärker als die Verbote durch die Inquisition. 1668 entwickelte Isaak Newton das Spiegelteleskop, das danach mehrfach verbessert wurde und sich besonders mit einem Parabolspiegel leistungsfähiger zeigte als ein Linsenteleskop. Mithilfe solcher Teleskope wurde z. B. nachgewiesen, dass es Galaxien außerhalb unserer Milchstraße gibt. 1947 wurde das Hale-Teleskop des Palomar-Observatoriums errichtet, das mit einem Spiegeldurchmesser von 5 m jahrzehntelang das größte Fernrohr der Welt war. Damit war eine Grenze erreicht, die aufgrund atmosphärischer Störungen unüberwindbar schien. Diese Beschränkung wurde inzwischen auf zwei Wegen überschritten: erstens durch Weltraumteleskope wie das von NASA und ESA entwickelte Hubble- und das James-Web-Teleskop, deren spektakuläre Bilder ein breites Publikum erreichen, zweitens durch segmentierte Spiegel und aktive Optik, die computergesteuert atmosphärische Störungen kompensieren. In Chile ist das Extremly Large Telescope ELT mit einem Durchmesser von 39 m im Bau, das ab 2027 Himmelskörper und Galaxien so präzise wie nie zuvor abbilden soll. Mit einem Typ ganz anderer Teleskope werden die Grenzen des sichtbaren Lichts verlassen. Seit 1932 außerirdische Radioquellen entdeckt wurden, hat sich das Radioteleskop als außerordentlich fruchtbare Entwicklung für die Astronomie entwickelt. Die langwellige Strahlung durchdringt auch Staub und Nebel, sodass Blicke bis ins Zentrum der Milchstraße und bis zu fernsten Galaxien möglich sind. 1964 dann die Sensation: Mit einer für irdische Zwecke gebauten Radioantenne wurden vermeintliche Störsignale entdeckt, Radiostrahlung, die aus allen Himmelsrichtungen kam. Sie entpuppte sich als kosmische Hintergrundstrahlung, ein Nachglühen aus der Zeit kurz nach dem Urknall. Das Muster dieser Strahlung, das schon den Keim für die Entstehung der Galaxien enthält, wird seit 1989 von dem Satelliten COBE und noch präziser seit 2001 durch die Raumsonde WMAP erkundet. 289
Die zweite Entstehung der Welt
„Seit Jahrhunderten ist die Welt um uns herum immer größer geworden. Wir blicken weiter, verstehen besser und staunen unablässig über ihre Vielfalt, die stets größer ist, als wir uns vorstellen konnten, und über die Begrenztheit der Bilder, die wir uns von ihr machen,“ sagt der Physiker C. Rovelli.192
Abb. 108: Mit Spezialteleskopen wurde in den letzten Jahren erfasst, wie die Galaxien im größten Maßstab verteilt sind: gleichsam auf der Oberfläche von Blasen, deren Inneres fast keine Materie enthält. Seifenschaum wie hier im Bild gibt uns eine Vorstellung davon. Gegenwärtig haben die Blasen einen Durchmesser von einer Milliarde Lichtjahre. Zwischenzeitlich aber durchliefen sie eine Größenordnung, die tatsächlich der von Seifenschaum entspricht. Die Entstehung dieser Strukturen begann 300 000 Jahre nach dem Urknall, als Licht und Materie sich trennten. Der Strahlungsdruck trieb die Materie zu Kugelschalen auseinander. Keimzellen der Blasen waren Fluktuationen auf Quantenniveau, die sich auch im Muster der kosmischen Hintergrundstrahlung bemerkbar machen (s. auch Kap. 33).193 Soweit der Blick auf einen Methodenzweig der Wissenschaften. Zur Frage nach dem Inhalt unseres Wissens kehren wir exemplarisch zu der Frage zurück, warum die Dinge immer nach unten fallen. Schon Aristoteles hat sie sich gestellt und keine andere Antwort gefunden als die, dass eben dort der Platz für die Dinge sei. Bis zum 17. Jahrhundert fiel niemandem eine bessere Lösung ein. Dann aber hatte Isaak Newton den Gedanken, eine Kraft anzunehmen, die Massen aufeinander ausüben, und nannte sie Gravitation. Damit konnte er nicht nur erklären, warum der Apfel vom Baum fällt, sondern auch, warum der Mond um die Erde kreist und die 290
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Planeten um die Sonne. Es gelang ihm, die Theorie in Formeln zu fassen, die heute noch von Bedeutung sind. Für viele wäre die Ausgangsfrage jetzt hinreichend geklärt und abgehakt. Für sie reicht ein Wort, das sie als Erklärung einsetzen: „Gravitation“. Immerhin ist es ein Begriff, mit dem man wunderbar rechnen kann. Das Militär nutzt die Formeln für die Ballistik von Geschossen, Raketeningenieure bringen mit ihnen Menschenwerk über die Grenzen des Sonnensystems hinaus. Aber Newton selbst war nicht zufrieden. Er fragte sich, was das denn für eine Kraft sein sollte. Wenn ich einen Stein anschiebe und ins Rollen bringe, dann ist die Kraft, die ich aufwende, unmittelbar erfahrbar, und die Übertragung von mir auf den Stein direkt nachvollziehbar. Aber mit welcher Art von Kraft soll die Erde durch das Vakuum hindurch den weit entfernten Mond erreichen? Newton fand darauf keine Antwort und gab die Frage an die nachfolgenden Generationen weiter: „Die Schwerkraft muss durch irgendein Agens verursacht werden, das nach bestimmten Gesetzen wirkt, aber welcher Art dieses Agens sei, stelle ich der Überlegung meiner Leser anheim.“194 Das Beispiel zeigt, wie Wissen über den gleichen Gegenstand sowohl im Kindesalter wie in der Wissenschaft entsteht und sich weiterentwickelt. Das Mysterium des Geheimnisvollen geht nur verloren, wenn eine Zwischenstufe zur Endstufe erklärt wird. Newtons Anregung an seine Leser wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei Michael Faraday fruchtbar. Nach Newton bestand die Welt aus Teilchen, die sich im leeren Raum bewegen. Faraday führte den Begriff des Feldes ein, das sich entlang von „Kraftlinien“ im Raum ausbreitet. James Clerk Maxwell setzte die Idee in Formeln um. Sie beschreiben den Elektromagnetismus und machen die uns heute selbstverständliche Elektrotechnik möglich, darüber hinaus bieten sie eine Erklärung des Lichts. Die Kraftlinien, die sichtbar werden, wenn ein Magnet Eisenfeilspäne im Raum ordnet, ließen den Gedanken aufkommen, dass auch die Gravitation aus einem vergleichbaren Feld besteht, das im Prinzip unendlich weit in den Raum ausgreift.
Abb. 109: Eisenfeilspäne ordnen sich im dreidimensionalen Magnetfeld entlang von Feldlinien. Dieses Phänomen, das sich mit einem einfachen Magneten erzeugen lässt, macht die unsichtbare Realität von physikalischen Feldern sinnlich erfahrbar. 291
Die zweite Entstehung der Welt
Um 1900 wurde die Physik bereits von der Feldtheorie dominiert. Die Vorstellung von Demokrit und Newton, dass die Welt aus Teilchen besteht, hatte ausgedient. So war es eine Provokation, als der junge Albert Einstein 1905 mit dem „photoelektrischen Effekt“ nachwies, dass Licht doch aus Teilchen besteht, aus „Photonen“. Es kann Elektronen aus einer Verbindung herausschlagen und dadurch elektrischen Strom erzeugen. Einstein verdankte seiner Entdeckung den Nobelpreis, und wir verdanken ihr die Photovoltaik, die einen wesentlichen Beitrag zur Ablösung fossiler Energien liefert. Im gleichen Jahr gelang es ihm, aus den zittrigen Bewegungen, die man an mikroskopisch kleinen Teilchen auf einer Flüssigkeit beobachten kann, nicht nur die Existenz von Atomen herzuleiten, sondern sogar ihre Größe zu berechnen.195 Damit nicht genug. Im gleichen Jahr veröffentlichte der 25-jährige Patentamtsangestellte zwei weitere Artikel, die die physikalische Welt in den Grundfesten erschüttern sollten: zur Speziellen und zur Allgemeinen Relativitätstheorie, wobei er letztere 1916 fertigstellte. Ursprünglich wollte Einstein lediglich Ungereimtheiten zwischen Newtons und Maxwells Theorien auflösen. Das erreichte er allerdings nicht durch kleinere Korrekturen, sondern dadurch, dass er mit allen Vorstellungen über Raum und Zeit als absolute Gegebenheiten aufräumte und ihnen einen umfassenden Neuentwurf gegenüberstellte, der auch die Gravitation betraf. Einzige absolute Konstante war nunmehr die Lichtgeschwindigkeit. Raum und Zeit wurden zu einem einzigen Kontinuum verbunden. Die „Relativität“ bezog sich dabei auf Beobachter, die sich relativ zueinander bewegen, ein Bild, das Einstein immer wieder verwendete. Maxwell hatte erkannt, dass Magnetismus und Elektrizität zwei Aspekte des Gleichen sind. Einstein war als Kind fasziniert von den elektrotechnischen Kraftwerken, die sein Vater auf dieser Grundlage baute. Nun erkannte Einstein (wie schon Max Planck), dass auch Masse und Energie zwei Aspekte eines Gleichen sind, und verband beide mit der Lichtgeschwindigkeit in der Formel E = mc², die zur Ikone wurde. Sein neues Konzept war mit zahlreichen verstörenden Folgerungen verbunden, die schwer zu verstehen sind. Je mehr sich ein Objekt der Lichtgeschwindigkeit nähert, desto mehr verkürzt es sich, und seine Masse nimmt zu. Außerdem vergeht seine Zeit langsamer, was als „Zeitdilatation“ bezeichnet wird. Für ein Lichtteilchen steht die Zeit still – dies alles aus der relativen Perspektive eines außenstehenden Beobachters. Die Gravitation aber – jetzt sind wir wieder beim Ausgangsthema – wird bei Einstein zu einer geometrischen Eigenschaft. Raum und Zeit sind nicht mehr leere Behälter, in denen etwas geschieht, vielmehr nimmt das wabernde Gravitationsfeld die Rolle der Raumzeit ein. Nach Einstein krümmen Massen die Raumzeit. Nicht nur Planeten und Monde, sondern auch das Licht muss in seiner Bewegung dieser Krümmung folgen. Der Nachweis für Letzteres gelang bereits vier Jahre nach Einsteins Vorhersage anlässlich einer Sonnenfinsternis. Das Licht eines Sterns, das knapp an der Sonne vorbeiführte, wurde tatsächlich um den Betrag abgelenkt, der aus Einsteins Formeln hervorging. Damit wurde Einstein zum Superstar. Wer bis dahin meinte, Einsteins Ideen seien zu verrückt, als dass man sie ernst nehmen könnte, wurde eines 292
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Besseren belehrt. Seine Theorien waren nicht nur in sich stimmig, vielmehr wurden alle Vorhersagen, die daraus hervorgingen, bis auf den heutigen Tag durch Beobachtungen exakt bestätigt. Würden Satellitensysteme wie GPS nicht die allgemeine Relativitätstheorie berücksichtigen, würde das Navi in unserem Auto bei jeder Fahrt um mehrere Kilometer daneben liegen. Trotz seiner Erfolge war Einstein nicht zufrieden. Stets war ihm wichtig, die neue Physik auch zu verstehen. Werner Heisenberg zitiert Einstein aus einem Gespräch: „Wir versuchen, die Phänomene einheitlich zu ordnen, sie in irgendeiner Weise auf Einfaches zurückzuführen, bis wir mit Hilfe einiger weniger Begriffe eine vielleicht sehr reichhaltige Gruppe von Erscheinungen verstehen; und „verstehen“ heißt dann wohl nichts anderes, als sie eben mit diesen einfachen Begriffen in ihrer Vielfalt ergreifen zu können.“196 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieb die Physik die beobachtbare Natur, nun beschrieb sie ein theoretisches Wissen über Nicht-Beobachtbares. Einstein litt darunter, dass das physikalische Weltbild nicht zuletzt durch ihn selbst sich zunehmend von dem entfernte, wie wir die Welt unmittelbar wahrnehmen. Ein Beispiel: Wenn wir uns einen Ball zuwerfen, beschreibt er eine Parabel. So sehen wir das und so hat es Newton für den dreidimensionalen Raum formuliert. In Einsteins vierdimensionaler Raumzeit dagegen beschreibt der Ball eine Gerade. Die Gravitation der Erde hat den relativistischen Effekt, dass die Zeit auf ihrer Oberfläche langsamer vergeht als in zunehmender Höhe. Das können wir uns nicht vorstellen, aber es ist physikalisch nachgewiesen.197
Kann man vierdimensional wahrnehmen? 1966 nehme ich an einem Psychologischen Kolloquium teil, bei dem es um Grundprobleme der Wahrnehmung geht. Wahrnehmen und Vorstellen spielen sich in einem dreidimensionalen Raum ab. Mit studentischer Unbekümmertheit stelle ich einen Ansatz vor, wie man eventuell diese Beschränkung überwinden und sich etwas Vierdimensionales vorstellen könnte. Ich demonstriere einen „Tesserakt“, das dreidimensionale Modell eines vierdimensionalen Hyperkubus, das ich aus Draht gebastelt habe. Ein Würfel hat 6 Quadrate als Seiten und 12 Kanten. Das kennen wir. Der Hyperkubus hat 8 Würfel, 24 Quadrate und 32 Kanten. Den können wir uns nicht vorstellen. Oder doch? Im Tesserakt lassen sich 6 der 8 Würfel nur verzerrt darstellen (als „Parallelepipede“). Als Bestandteile des Hyperkubus müsste ich sie aber als Würfel sehen. Sollte das nicht möglich sein? Zum Vergleich: Im Bild eines Würfels (Abb. 54) bestehen die Seiten aus schiefwinkligen Parallelogrammen. Die Zeichnung enthält also verzerrte Quadrate. Ich sehe sie aber als Quadrate im Raum, sonst würde ich keinen Würfel wahrnehmen. Wenn es mir möglich ist, die Parallelogramme als Quadrate zu sehen, warum sollte
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Die zweite Entstehung der Welt nicht Entsprechendes mit den verzerrten Würfeln des Tesserakts gelingen? Damit das leichter fällt, habe ich die Kanten des Modells mit Bändern in 8 verschiedenen Farben umwickelt. Jede Kante gehört zu 3 verschiedenen Würfeln, darum enthält jede Kante 3 Farben. Konzentriere ich mit auf alle Kanten mit Rot, dann sehe ich einen verzerrten roten Würfel. Konzentriere ich mich auf Gelb, dann sehe ich einen gelben usw. Wenn es mir gelingen sollte, das ganze Gebilde so zu sehen, dass alle Parallelepipede zu Würfeln werden, dann hätte ich es tatsächlich vierdimensional erfasst. Bislang ist mir das nicht gelungen. Aber kann man das vielleicht trainieren? Einer der anwesenden Professoren möchte das probieren und bittet mich, dass ich ihm das Modell ausleihe. Ich habe es nie zurückerhalten.
Abb. 110: Hyperkubus. Das Schwarzweißfoto von meinem farbigen Tesserakt ist leider alles, was mir davon geblieben ist. Wirklichkeit und Realität driften seit Beginn des 20. Jahrhunderts auseinander. Das gilt besonders für sehr große und sehr kleine Maßstäbe und sehr hohe Geschwindigkeiten, mit denen wir durch den technischen Fortschritt inzwischen durchaus zu tun haben. Die Genauigkeit der Navigationssysteme ist deshalb so exakt, weil die Zeitdilatation der Satellitensignale mit eingerechnet wird. Und alle elektronischen Medien, die wir täglich nutzen, funktionieren nur auf der Basis der Quantenmechanik, die Einstein ebenfalls mitbegründet hat. Die Quantenmechanik aber verträgt sich nicht mit Einsteins Gravitationstheorie, und seit Jahrzehnten zerbricht man sich in der Physik die Köpfe darüber, wie beides vereinbart werden kann. Welch ein Gegensatz zur Situation um 1900! Dem jungen Max Planck wurde von einem Physikprofessor abgeraten, Physik zu studieren, weil es dort kaum Neues zu entdecken gäbe. 294
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Planck ließ sich nicht abhalten und machte eine der ersten revolutionären Entdeckungen des 20. Jahrhunderts: Er fand, dass Licht kein Kontinuum bildet, sondern in kleinsten Portionen abgestrahlt wird, in „Quanten“. Darauf bauten Einstein und viele andere das neue Weltbild der Physik auf. Dazu gehört, dass alles in der Welt „körnig“ ist, selbst das raumzeitliche Gravitationsfeld. Nach derzeitigem Verständnis besteht die Welt nicht aus Teilchen und Feldern, sondern aus Quantenfeldern. Die schwingenden Felder, die Magnetismus, Strom und Licht bedeuten, können wir uns in kleinstem Maßstab als Schwärme von Teilchen vorstellen. Doch dass sie nur im Moment der Wechselwirkung mit anderen existent werden und sich im Übrigen in einer Wahrscheinlichkeitswolke verlieren, übersteigt unsere Vorstellungskraft. Alles, was existiert, existiert nur als Wechselwirkung. Genau das besagt eine Formel von Paul Dirac. Er hatte zwar Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Kommunikation, brachte aber die Quantentheorie in ein klares System. Eine Formel erlaubt genaueste Vorhersagen für die elektronische und chemische Technologie, deren Produkte wir tagtäglich nutzen. Wir leben in einem Paradox. Jeder verwendet moderne Waschmittel und Handys, aber kaum einer versteht die Beschreibung der physikalischen Natur, die ihre Herstellung ermöglicht.
Abb. 111: In den Lehrveranstaltungen zu Licht und Farbe demonstrierte ich gern Interferenzen mit Laserlicht. Während unsere Alltagserfahrung uns sagt, dass zwei Lichter immer heller sind als eins, kommt es bei Überlagerung von Lichtern gleicher Wellenlänge zu Mustern, in denen dunkle Partien ebenso häufig sind wie helle. Das lässt sich verstehen, wenn wir die Lichter als Wellen auffassen, die sich gegenseitig verstärken, aber auch auslöschen können, je nachdem, wie Maxima und Minima der Wellen zusammentreffen. Andererseits funktioniert jedes Solarpanel nur, weil Licht sich wie Teilchen verhält. Was ist denn nun Licht „in Wirklichkeit“? 295
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Abb. 112: Veranschaulichung der Raumzeit, bei der der Raum auf zwei Dimensionen reduziert ist. Dargestellt ist, von unten nach oben zu lesen, wie eine weiße Billardkugel eine ruhende schwarze trifft und ihren Impuls überträgt, wonach sie selbst ruht und sich die schwarze bewegt. Die gestrichelten Linien zeigen die Verläufe. Quanten dagegen existieren nur im Moment der Wechselwirkung und lösen sich außerhalb dieses Moments in einer Wahrscheinlichkeitswolke auf.198
Abb. 113: Der Physiker John Wheeler sprach vom „rauchenden Drachen“, um die Eigenart von Quanten zu veranschaulichen. Er tritt nur an Kopf und Schwanzspitze in Erscheinung, dazwischen ist er ungreifbar wie Rauch. 296
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Die Physik steckt voller Rätsel, die um 1900 noch gar nicht gesehen werden konnten. Es gibt keine abschließenden Antworten, die Fragen nehmen kein Ende. Mit jeder Tür, die die Wissenschaft öffnet, werden weitere sichtbar. Manchmal, wenn sie am Ziel zu sein scheint, zeigt sich, dass das Stockwerk gewechselt werden muss. Wirklichkeit im 1. und im 2. Sinn (physikalische Realität und erlebte Wirklichkeit) scheinen sich immer mehr zu entfremden. Im „naiven Realismus“ wird kein Unterschied zwischen beiden gemacht, die erlebte Wirklichkeit ist alles. Im „kritischen Realismus“ sind es getrennte Welten, die aber über die Struktur der Reize an den Sinnesorganen noch soweit aufeinander bezogen sind, dass es zum Überleben reicht, um nicht vom „Abbild“ zu sprechen. Jetzt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass physikalisch bedeutende Eigenschaften wie die Körnigkeit der Realität, die Vierdimensionalität der Raumzeit und ihre Krümmungen überhaupt kein Äquivalent in der Erlebniswirklichkeit haben. Von den elf Dimensionen der Stringtheorie ganz zu schweigen, die Quanten- und Gravitationstheorie verbinden soll und wo Raum und Zeit als Gespinst von Quantenfeldern verstanden werden. Der Physiker Michio Kaku schreibt hierzu: „Vielleicht ist die dreidimensionale Welt, die wir erleben, nur ein Schatten der realen Welt, die eigentlich zehn- oder elfdimensional ist.“199 Wir befinden uns nach wie vor in Platons Höhle und versuchen, aus bewegten Schattenbildern die Realität zu deuten. Im Unterschied zu Platon akzeptieren wir aber, dass dies der einzige Weg ist, der uns zur Erkenntnis offensteht, und dass es die Anstrengung lohnt, ihn immer weiter zu optimieren. Karl Popper hat gezeigt, dass wissenschaftliche Theorien niemals endgültig verifiziert, also bewiesen werden können, sondern dass nur Falsifikationen, also Widerlegungen irriger Annahmen möglich sind. Für die Praxis hat sich diese Erkenntnis als unbefriedigend erwiesen; stattdessen gelten als Maßstab oft gut begründete „Evidenzen“. Danach werden wissenschaftliche Erklärungen anerkannt, wenn sie mit höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit allen einschlägigen Beobachtungen gerecht werden. Andernfalls wären seit der Antike die Fortschritte nicht erfolgt, die z. B. in Medizin und Technologie errungen wurden. Falls Sie, lieber Leser, an den vielen Unverständlichkeiten verzweifeln – den meisten geht es so. Es ist eine paradoxe Situation: Einerseits müssen wir erkennen, dass es Grenzen für unseren Verstand gibt. Andererseits schaffen es Physiker, diese Grenzen auf einem sehr abstrakten Niveau zu überschreiten, was dann über die Technologie dazu führt, dass wir alle von den Merkwürdigkeiten des Allerkleinsten und des Allerschnellsten profitieren, indem wir sie in unserem Alltag technisch nutzen. Innerhalb der Quantenphysik dominiert eine pragmatische Einstellung gegenüber dem Unbegreiflichen. Es gilt die Redensart „Shut up and calculate“ – „Halt die Klappe und rechne“. Müssen wir also den Versuch aufgeben, Entsprechungen zwischen Wirklichkeit im 1. und 2. Sinn zu suchen, und sind wir ganz auf unsere Subjektivität zurückgeworfen? Glücklicherweise nicht. Newtons Beschreibung der physikalischen Welt ist im Rahmen der Größenordnungen, 297
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in denen sich unser erlebtes Leben abspielt, nach wie vor stimmig und verlässlich. In makroskopischen Systemen verliert die physikalische Beschreibung der Welt ihre Körnigkeit und gehorcht den Gesetzen von Ursache und Wirkung. Ihre Geometrie entspricht weitgehend der phänomenalen Welt. Unsere Alltagswirklichkeit, auf die wir uns gemeinsam beziehen, entspricht einem schmalen Bereich, der in der physikalischen Realität in der Mitte einer ca. 60 Zehnerpotenzen umfassenden Größenskala zwischen dem Allerkleinsten und dem Allergrößten liegt. Und solange wir uns nicht mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum beamen, haben wir keine Veranlassung, im Alltag von Newtons Physik Abschied zu nehmen. Wenn wir ein Glas fassen, spielt es für unser Erleben keine Rolle, dass die Atome unserer Hand und die des Glases sich überhaupt nicht berühren, sondern dass sich vielmehr Elektronenwolken abstoßen, und dass der größte Teil dessen, was wir für feste Materie halten, aus leerem Raum besteht. Der Ball, den wir uns zuwerfen, beschreibt noch immer Newtons Parabel. Auch bei Physikerinnen und Physikern, die auf dem Campus Sport treiben.
Kurz gesagt: Wissen erwerben wir durch direkte sinnliche Erfahrung und durch indirekte Vermittlung per Wort und Bild. Es wird gespeichert im deklarativen Gedächtnis. Nichtgewusstes ist zunächst ein Geheimnis, das für das Kind einen Reiz ausübt, aber auch für Wissenschaftler. Wissenschaften sind weniger durch ihre Ergebnisse definiert, als vielmehr durch ihre Methoden, die möglichst objektive Beobachtungsdaten liefern sollen. Am Beispiel der Gravitation wird verfolgt, wie von Kinderfragen ausgehend über Aristoteles und Newton bis zu Relativitätstheorie und Quantenphysik ein Problem zu Zwischenergebnissen führt, die den Beobachtungsdaten immer besser gerecht werden.
Literatur Fischer 2014. Heisenberg 1979. Kaku 2021. Morrison 1987. Rovelli 2020.
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Eine Welt oder viele Welten?
Auf dem Galtonbrett des Schicksals Der von Hitler begonnene Weltkrieg schlägt in aller Brutalität gegen Deutschland zurück. Bis Berlin sind die Luftangriffe schon vorgedrungen. Nur für Ostpreußen ist Anfang 1944 der Krieg noch weit weg. Im Königsberger Schloss wird das Bernsteinzimmer ausgestellt, das die Wehrmacht aus Leningrad geraubt hat. In der Stadthalle hält Wilhelm Worringer Vorträge in Kunstgeschichte. Am Schlossteich blüht der Flieder, als ich am Pfingstsonntag geboren werde, und der Schwesternchor der Klinik singt nebenan „Halleluja, schöner Morgen!“ Eine Woche später landen die Alliierten in der Normandie. Kurz darauf scheitert in der Wolfsschanze das Attentat Stauffenbergs auf Hitler, und dessen mörderische Befehle gehen weiter. Die Alliierten beweisen, dass keine noch so weit im Osten liegende deutsche Stadt vor ihren Bombern sicher ist. Im Sommer ist meine Mutter mit mir in Mutterschaftsurlaub in Rauschen, an der samländischen Ostseeküste unweit von Königsberg. Ein befreundeter Arzt hat uns sein Ferienhaus zur Verfügung gestellt. Unter einem Apfelbaum sitze ich erstmals aufrecht und quietsche vor Vergnügen. In der Nacht zum 27. August steht meine Mutter auf dem Balkon und blickt nach Südosten. Dort sieht sie einen gespenstischen roten Schein über dem Horizont. Als sie wenige Tage später mit mir nach Königsberg zurückkehrt, ist die Stadt ein rauchendes Trümmerfeld, das an vielen Stellen noch brennt. Auch das Elternhaus am Schlossteich ist dem Erdboden gleich gemacht. Nur verkrümmte Reste eines schmiedeeisernen Geländers ragen aus dem Schutt, von demselben Balkon, auf dem kürzlich noch mein Kinderbett gestanden hat. Der Arzt, in dessen Ferienhaus wir wohnen durften und dadurch überlebt haben, ist zusammen mit seiner Frau in dem Inferno umgekommen. Trotz der schweren Zerstörungen wird Königsberg zur Festung erklärt. Erich Koch, Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen, erlässt den Befehl, dass niemand die Stadt verlassen darf. Fahnenflucht wird mit dem Tode bestraft. Im Januar 1945 spricht sich herum, dass dennoch ein Zug zur Evakuierung eingesetzt werden soll, nur für Parteimitglieder. Meine Mutter ist kein Mitglied der NSDAP. Doch eine Bekannte, Sekretärin bei Gauleiter Koch, besorgt ihr die nötigen Papiere. Am 21. Januar – die Russen sind bereits bis zur Grenze der zerbombten Stadt vorgedrungen, von Gräueltaten ist die Rede – sammelt sich eine große Menschenmenge am Hauptbahnhof, frierend bei –20°. Dann heißt es plötzlich, dass die Bahnstrecke bombardiert worden sei und der Zug auf der anderen Seite der Stadt vom Nordbahnhof abfahren soll. Hektisch bewegt sich die Menge durch das Ruinenfeld nach Norden. Meine Mutter kommt mit mir auf dem Arm und mit dem schweren Koffer nur mühsam durch den Schnee. Verzweifelt befürchtet sie, den Weg nicht rechtzeitig zu schaffen. In der Nähe des ausgebrannten Schlosses hält neben uns
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Die zweite Entstehung der Welt ein dunkler Mercedes. Er nimmt uns mit, und wir kommen beim Nordbahnhof an, wo an dem wartenden Zug chaotisches Gedränge herrscht. Viele klettern in angekoppelte Viehwagen, andere stellen sich auf die Puffer zwischen den Waggons. Meine Mutter schiebt mich durch ein Zugfenster ausgestreckten Armen entgegen, um zunächst das Baby in Sicherheit zu bringen. Danach gelingt es ihr, sich selbst durch eine Waggontür zu quetschen. Im Innern des Zuges gibt es vor lauter Menschen und Gepäck kaum ein Durchkommen. Als der Zug losfährt, fällt ein schwerer Koffer aus dem Gepäcknetz auf mein Körbchen, doch glücklicherweise quer, sodass ich unverletzt bleibe. Auf dem Bahnsteig türmen sich Habseligkeiten, die zurückgelassen werden müssen. Die Bahnstrecken liegen unter Beschuss. Darum geht die Fahrt kreuz und quer über Nebenstrecken, stets mit dem Risiko, irgendwo von Tieffliegern beschossen zu werden. Erst nach vier Tagen und Nächten erreicht der Zug Sachsen, und wir sind in Sicherheit. Nichts von alldem finde ich als eigenes Erleben im Gedächtnis. Aber die Aufzeichnungen meiner Mutter und Verwandten habe ich so verinnerlicht, dass sie zum Urbestand meiner Biographie gehören. Insbesondere haben sie dazu beigetragen, dass ich dankbar bin dafür, dass meine Schicksalskugel im Hin und Her auf dem Galtonbrett öfter zur Plus- als zur Minusseite gesprungen ist. An vielen Stellen der geschilderten Geschichte hätte es anders kommen können, und mein Leben wäre beendet gewesen, kaum dass es begann. Viele andere Babys starben auf der Flucht. Eins davon wäre mein Schwager geworden, der große Bruder der Frau, die ich 26 Jahre später heirate.
Abb. 114: Galtonbrett. Eine Kugel, die von oben herabfällt, springt bei jedem Nagel gleich wahrscheinlich nach links oder rechts. Unten landen die meisten Kugeln in mittleren Schächten, selten gelangt eine Kugel nach ganz links oder rechts. Nach und nach bilden die Kugeln in den Schächten eine „Normalverteilung“, eine Gesetzmäßigkeit im Zufall, die Carl Friedrich Gauß 1809 beschrieb. 300
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Anders gefragt: Wie ist unsere Existenz zu erklären, die nur durch das Zusammentreffen höchst unwahrscheinlicher Umstände möglich geworden ist? Das ist ein großes Rätsel und wird von manchen Wissenschaftlern durch die schwer verdauliche Annahme eines Multiversums beantwortet. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie anders das Schicksal gelaufen wäre, wenn Ihnen dieses oder jenes Ereignis nicht widerfahren wäre, wenn Sie diese oder jene Entscheidung anders getroffen hätten? Manche Menschen pflegen die fatalistische Einstellung, dass alles kommt, wie es eben kommen muss. Manche sehen darin den von Gott vorgezeichneten Weg, andere einen blinden Determinismus, der die Welt regiert. Manche Historiker sehen zwangsläufige Entwicklungen, die aus Zeitströmungen hervorgehen, was sich zwar im Nachhinein plausibel konstruieren lässt, was sich aber für Zukunftsprognosen als wenig tauglich erweist. Andere haben eine ganz andere Einstellung. Lawrence von Arabien drückt sie in dem berühmten Film mit den Worten aus: „Nichts steht geschrieben!“ Er rettet unter Lebensgefahr seinen Gefährten aus der glühenden Wüste, den die Begleiter schon verloren gaben. Es gibt immer wieder Alternativen, zwischen denen der persönliche Lebensweg oder das Schicksal der Weltgemeinschaft sich entscheidet. Ein Beispiel. Adolf Hitler hatte sich 1907 an der Wiener Kunstakademie um einen Studienplatz beworben. Seine Stadtteilzeichnungen überstanden die erste Sichtungsrunde, doch bei der zweiten fielen sie durch, „zu wenig Köpfe“, wie es in der Beurteilung hieß. 1908 bewarb er sich erneut, wurde aber wieder abgelehnt. Der verhinderte Künstler wandte sich der Politik zu. Man stelle sich vor, er wäre aufgenommen worden und hätte als Künstler sein Leben bestritten. Die Welt sähe heute anders aus. Es hätte keinen Holocaust und wohl auch keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, die Weltordnung wäre eine andere. Bei anderen Kunstprofessoren hätte Hitler vielleicht eine Chance gehabt. 1971 erregte Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf Aufsehen damit, dass er jeden Studienbewerber aufnahm und sich mit dem Wissenschaftsminister anlegte: „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Der Andrang von Kunststudenten überforderte die Kapazitäten der Düsseldorfer Akademie. In Münster wurde eine Dependance gegründet, die später selbständige Kunstakademie wurde. Auch ich selbst wurde ein Teil dieser Entwicklung. 1973 erhielt ich einen Lehrauftrag an der neuen Institution, deren Domizil anfangs nicht viel größer als eine Garage war. 1978 wurde ich an erweitertem Standort auf eine Professur für Kunstdidaktik und Wahrnehmungspsychologie berufen. Sie war aus dem Bedürfnis heraus geschaffen worden, den Studierenden ein empirisch begründetes Fundament mitzugeben. Fürsprecher waren der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim und der Künstler Karl Otto Götz. Die Berufung entsprach meinen Neigungen, und ich nahm die Chance wahr, in der Lehre nicht nur Beiträge aus der Psychologie, sondern auch aus unterschiedlichen Naturwissenschaften 301
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anzubieten, die ich im Rahmen von Kunst und Kunsterziehung für relevant hielt. Die berufliche Entscheidung für diesen Freiraum bedeutete für mich zugleich den Abschied von zwei anderen Optionen, nämlich im Bereich der Hirnforschung oder in der Rehabilitation zu arbeiten. Jeder Mensch kann sich vorstellen, dass er sich für einen anderen Beruf oder einen anderen Partner entschieden hätte und dass sein Leben dann anders verlaufen wäre. Manche Menschen bedauern ihr „ungelebtes Leben“, das ihnen entgangen ist. Victor von Weizsäcker sah darin die Ursache vieler psychischer Leiden. Die Frage „Was wäre geschehen, wenn …“ ist nicht so überflüssig, wie es zunächst scheint, und zwar nicht nur, weil wir aus Fehlentscheidungen lernen können. Es ist von grundsätzlicher Bedeutung für unser Selbst- und Weltverständnis, ob wir meinen, die Zukunft mitentscheiden zu können, oder ob wir uns in ein unabwendbares Schicksal ergeben und mehr oder weniger treiben lassen. Und es gibt mit Blick auf die Vergangenheit Anlass zur Verwunderung darüber, dass wir überhaupt existieren. Die Frage nach alternativen Welten und Weltverläufen stellt sich seit dem 20. Jahrhundert auch für die Physik, und zwar nicht nur im Sinne von Giordano Bruno, der überzeugt war, dass es unendlich viele Planeten mit Leben im Weltall gäbe, und der 1600 wegen seiner Lehre auf dem Scheiterhaufen starb. Das Weltbild der Physik des 20. Jahrhunderts, so seltsam es durch die Quantenmechanik geworden ist, wirkt in mehrfacher Hinsicht auch in unser erlebtes Weltbild hinein. Lassen Sie uns darauf in aller gebotenen Kürze eingehen.
Abb. 115: Doppelspaltexperiment. Werden Elementarteilchen auf einen Doppelspalt geschossen, so bilden sie auf einem dahinterliegenden Schirm nicht zwei Streifen (a), wie es nach der klassischen Physik zu erwarten ist und wie es tatsächlich geschähe, wenn man etwa mit Schrotkugeln schießen würde. Vielmehr bildet sich ein Interferenzmuster (b). Damit zeigt sich, dass Elementarteilchen auch Welleneigenschaften haben (vgl. Abb. 111). 302
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In einem Schlüsselexperiment der Physik, dem Doppelspaltexperiment, wird nicht nur deutlich, dass Teilchen (von Elektronen bis zu großen Molekülen) auch Welleneigenschaften haben (Abb. 115 b). Wenn man die Teilchen einzeln nacheinander abfeuert, sodass sie nicht miteinander interferieren können, bildet sich trotzdem das gleiche Interferenzmuster wie in Abb. 115 b! Wie ist das möglich? Laut Richard Feynman, einem der renommiertesten Physiker, hat ein Quantensystem nicht nur eine Geschichte, sondern jede mögliche. In manchen dieser Geschichten geht das Teilchen durch den linken, in anderen durch den rechten Spalt. Das Gesamtverhalten wird durch die Wellenfunktion einer Gleichung von Erwin Schrödinger beschrieben. Durch den Messvorgang des Physikers „kollabiert“ die Unbestimmtheit der Wellenfunktion, und das Teilchen „entscheidet sich“ für einen bestimmten Punkt auf dem Schirm. Soweit die „Kopenhagener Deutung“ des Phänomens durch Niels Bohr und Werner Heisenberg 1927. Die Hauptprobleme für diese Deutung ergeben sich 1. daraus, dass der „Kollaps“ nicht erklärt wird, 2. aus der Abhängigkeit vom Beobachter. Albert Einstein lehnte die Deutung ab und fragte ironisch, ob der Mond auch da ist, wenn keiner hinschaut. Hugh Everett und Bruce DeWitt entwickelten eine andere Deutung. Hiernach kollabieren die Wellenfunktionen nicht, sondern alle möglichen Geschichten eines Systems sind real im „Hyperraum“. Bei einer Messung wird eine ausgewählt, alle anderen existieren parallel dazu. Jedes mögliche Ergebnis eines Ereignisses existiert tatsächlich.200 Am Beispiel eines Galtonbretts wie in Abb. 114 heißt das, dass bei jedem Durchlauf einer Kugel 512 neue Welten entstehen. In dieser „Viele-Welten-Theorie“ zweigt sich das „Multiversum“ ständig neu auf. Roger Penrose nennt die Gesamtheit, in der das uns bekannte Universum eins von unzähligen ist, „Omnium“. Gemessen am Prinzip von Ockhams Rasiermesser, wonach von mehreren Theorien stets die mit den sparsamsten Annahmen gelten soll, ist diese Theorie geradezu gigantisch bizarr. Sie gefällt allerdings nicht nur SF-Autoren, sondern auch vielen Physikern und Kosmologen wie z. B. Max Tegmark und Stephen Hawking, der bis zu seinem Tode daran arbeitete. Wenn man sich fragt, wo diese Welten untergebracht sein sollen, stelle man sich nur vor, unsere Welt sei ein Quadrat und wir selbst seien zweidimensonale Wesen. Dann könnten problemlos unendlich viele und ständig neue von solchen Quadraten in einem Würfel untergebracht werden, und er würde niemals voll. Zu den Konsequenzen des Multiversums gehört, dass jedes Individuum nicht nur eine Geschichte hat, sondern unendlich viele, die sich mit jedem zufälligen Ereignis und mit jeder Entscheidung weiter aufzweigen. Der Fluss des Erlebens, von dem schon William James gesprochen hat, würde einer dieser Linien folgen, die wir dann für die einzige halten, weil wir nichts anderes kennen. Von allen Möglichkeiten, die sich im Hyperraum realisieren, wird nur eine der Weg, den wir wahrnehmen und begehen. Die vier Dimensionen, von denen Minkowski und Einstein ausgegangen sind, bedürfen einer zusätzlichen Dimension. Es bedarf neben Zeit- und Raumachsen einer „Möglichkeitsachse“ mit dem Ergebnis eines Hyper- oder 303
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Möglichkeitsraums, in dem sich alternative Optionen entfalten wie bei einem Weg, in dem Abzweigung auf Abzweigung folgt. Die Chaostheorie kennt solche Aufspaltungen als Bifurkation. Bifurkationen kennt man auch von manchen Flüssen, etwa beim Mühlegraben in BadenWürttemberg, der sich aufgabelt in einen Teil, der in den Rhein und damit in die Nordsee, und einen anderen Teil, der in die Donau und damit in das Schwarze Meer fließt.
Abb. 116: Das hypothetische Multiversum als Möglichkeitsraum. Raum und Zeit bilden in der Darstellung eine Fläche, die um die imaginäre Möglichkeitsdimension erweitert wird. Die Lebenslinie, die wir erfahren, verläuft als ein Faden nicht nur durch Zeit und Raum, sondern verfolgt zugleich eine von zahllosen aufeinanderfolgenden Möglichkeiten. Die dünn eingezeichneten Abzweigungen deuten Bifurkationen an, bei denen sich alternative Entwicklungen abspalten. Nach diesem Konzept ist unser Schicksal nicht festgelegt, sondern sein Verlauf hängt einerseits von objektiven Zufällen und Ereignissen ab, die so oder anders passieren können (z. B.: Hitler wird 1908 an der Kunstakademie angenommen, 2019 entsteht kein Sars-CoV-2 usw.), andererseits von unseren eigenen Entscheidungen. Unser Schicksal verläuft im Zickzack durch dieses Multiversum. Über die Existenzform der Verläufe, die wir nicht realisieren, lässt sich nichts sagen außer im Konjunktiv. Sie übersteigt die Vorstellungsfähigkeit, so wie wir uns nicht i als Wurzel aus –1 vorstellen können und trotzdem sinnvoll damit rechnen. Gegenwärtig arbeiten weltweit Physiker und Informatiker an Quantencomputern. Sie sollen die Leistungsfähigkeit gewöhnlicher Computer um etliche Größenordnungen übertreffen dadurch, dass sie parallel existierende Quantenzustände anzapfen. Parallelwelten sind also keine verrückte Idee, ihre Realität wird zumindest im Mikrokosmos bereits nutzbar gemacht. Diese Sichtweise stellt das Individuum in ein ganz anderes Licht als die Vorstellung eines linearen Weltverlaufs. Sie hat Konsequenzen für unser Selbstbild und unser Handeln. Wenn 304
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die individuelle Zukunft keine vorgeschriebene Linie ist, sondern ein Feld permanent neuer Optionen, dann stellt sich die Frage nach dem freien Willen neu, und verantwortliches Tun bekommt eine neue Basis. Das „Nichts steht geschrieben“ von Lawrence von Arabien muss sich nicht immer auf großartige Entscheidungspunkte im Schicksal beziehen, das eben nicht nur geschickt, sondern auch gewollt ist. Es ist jeder kleinste Moment, in dem wir uns entscheiden, zuzugreifen oder nicht, uns hier- oder dorthin zu wenden, hier- oder dorthin zu blicken, um dies oder das zu entdecken, dieses oder jenes Wort zu sagen. Ob solche Entscheidungen bewusst oder nicht bewusst erfolgen, wird uns noch an anderer Stelle beschäftigen, wenn wir uns dem Problem des freien Willens zuwenden. Jeder Entscheidungspunkt bedeutet einen etwas anderen Verlauf unserer Schicksalslinie, jedes Wort kann eine Abzweigung bedeuten. Unsere individuelle Linie, die mit unserem subjektiven Erleben verknüpft ist, kennt nur den einen Verlauf. Die erlebte Gegenwart ist der laufend erneuerte Endpunkt. Die anderen Verläufe existieren für uns nur im Konjunktiv. Auf manchen Zweigen könnten wir berühmt, auf anderen schon gestorben sein. Wir werden niemals erfahren, was geschehen wäre, wenn wir dies oder das gesagt oder getan hätten. Das Multiversum ist nur eine Annahme, aber es ist eine Antwort auf scheinbare Absurditäten, zu denen die „Kopenhagener Deutung“ von mikrokosmischen Phänomenen führt. Es gibt noch eine ganz andere Perspektive, die zur Annahme eines Multiversums geführt hat, und zwar aus makrokosmischer Sicht. Der 2018 an ALS verstorbene Stephen Hawking und Leonard Mlodonow haben sich eingehend damit beschäftigt und dabei mit dem „anthropischen Prinzip“ auseinandergesetzt, dessen Bedeutung und Konsequenzen wir jetzt verfolgen.201 Viele Eigenschaften des uns bekannten Universums lassen sich nicht physikalisch begründen. Sie haben nur eins gemeinsam: Ohne sie würden die Menschen nicht existieren. Diese Merkwürdigkeit wird seit 1973 als „anthropisches Prinzip“ bezeichnet. Es fängt schon mit dem Urknall an. Physikalischen Modellen zufolge entstand dabei vor 13,8 Milliarden Jahren genauso viel Antimaterie wie Materie, die sich gleich darauf wechselseitig zu Strahlung vernichteten. Stoßen ein Teilchen und ein Antiteilchen aufeinander, lösen sie sich in Strahlung auf. Woher also kommt die Materie, aus der die Welt um uns herum und wir selbst bestehen? Man hat keine andere Antwort gefunden als die, dass sich am Beginn der Welt eine kleine Asymmetrie bemerkbar gemacht haben muss. Da die Eigenschaften von Materie und Antimaterie sich bis auf die elfte Nachkommastelle als gleich erwiesen haben, muss dieser Unterschied extrem winzig gewesen sein, aber ausreichend, um unsere Welt aus über 1084 Atomen entstehen zu lassen. „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist,“ stellt Ludwig Wittgenstein schon 1918 fest.202 Im frühesten Stadium war das Universum so klein, dass überall quantenphysikalische Verhältnisse herrschten. Sie machten sich als leichte Störungen bei der ansonsten gleichmäßigen Ausdehnung des Universums bemerkbar. Die „kosmische Hintergrundstrahlung“, die aus 305
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allen Himmelsrichtungen kommt und durch Raumsonden wie COBE und WMAP kartiert wurde, ist ein Relikt aus dieser Frühzeit und fast gleichförmig, aber eben nur fast. Die Temperaturschwankungen, ein Effekt der frühen quantenphysikalischen Prozesse, betragen nur 0,001 %. Aber dank dieser winzigen Störungen konnte sich lokal Materie zusammenballen und zu Sternen und Galaxien werden, ansonsten wäre das Universum nichts als eine sich ausdehnende Wolke aus Wasserstoffgas. Wäre die Ausdehnungsgeschwindigkeit des frühen Universums nur um 0,0000000000000 0000000000000001 % kleiner oder größer gewesen, wäre es zum Kollaps gekommen oder es hätte sich zu schnell ausgedehnt, als dass sich Sterne hätten bilden können. Die uns vertraute Materie besteht im Wesentlichen aus Protonen und Neutronen, die die Atomkerne bilden, und Elektronen, die sie als schwingende Welle umhüllen. Wären die Protonen nur 0,2 % schwerer, würden sie zu Neutronen und stabile Atome könnten nicht entstehen. In der Natur werden vier fundamentale Wechselwirkungen unterschieden: Gravitation, Elektromagnetismus, schwache und starke Kernkraft. Ohne die besondere Ausgewogenheit dieser Kräfte hätte Leben nicht entstehen können. In einer frühen Phase des Universums ballten sich unter der Wirkung der Gravitation Wasserstoffmassen zu Sternen zusammen und erbrüteten in ihrem heißen Innern die anderen Elemente. Wäre die starke Kernkraft um 0,5 % oder der Elektromagnetismus um 4 % verändert, wäre bei der Entstehung der Elemente entweder aller Kohlenstoff oder aller Sauerstoff vernichtet worden und Leben hätte nicht entstehen können. Gelegentlich wird behauptet, dass sich Leben auch auf Siliziumbasis hätte entwickeln können. Doch auf dieser Grundlage wären die chemischen Prozesse zu langsam erfolgt, so dass das Alter des Universums nicht gereicht hätte. Man denke allein an das Kohlendioxid, das als überall gegenwärtiges Gas eine wichtige Rolle im Haushalt von Pflanzen und Tieren spielt. Demgegenüber wäre Siliziumdioxid (Quarz) viel zu träge. Die Entstehung des lebensfreundlichen Kohlenstoffs setzt ganz besondere Bedingungen voraus, die nur gegeben sind, wenn einem Stern der Wasserstoff ausgeht und die Temperatur des Kerns über 100 Millionen Grad ansteigt. Das wird wahrscheinlich auch bei unserer Sonne in einigen Milliarden Jahren geschehen, die nach dem Kohlenstoff noch Sauerstoff erbrüten wird. Bei wesentlich größeren Sternen entstehen auch die schweren Elemente und werden schließlich bei der Explosion als Supernovae in den Weltraum abgegeben. Aus so entstandenen Wolken von Staub und Gas hat sich unser Sonnensystem gebildet. Wir stehen auf der Erde als dem zusammengeballten Staub explodierter Riesensterne und bestehen selbst im Wesentlichen aus Wasserstoff, dem Urstoff aus den Anfängen des Universums, aus Sauerstoff und der exquisiten Spezialität aus der Elementenküche im Innern der Sterne, dem Allrounder Kohlenstoff. Wäre die schwache Kernkraft wesentlich stärker, würden Supernovae ihre Hüllen nicht absprengen und unser Sonnensystem hätte sich nicht bilden können. Wäre sie schwächer, hätte 306
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sich der ganze Kosmos in Helium verwandelt, das keinerlei Verbindungen eingeht. Ende der Fahnenstange.
Abb. 117: Chondriten bilden eine Klasse von Meteoriten. In ihnen findet sich das Material, aus dem vor 4,567 Milliarden Jahren unser Sonnensystem entstand, in unveränderter Zusammensetzung. Unsere Erde befindet sich auf ihrer nahezu kreisförmigen Bahn um die Sonne in der schmalen „habitablen Zone“, in der es nicht so heiß wird, dass das lebenswichtige Wasser verdampft, und nicht zu kalt wird, dass die Ozeane zu Eis erstarren. Wasser ist das ideale Medium, um Lebensprozesse zu ermöglichen, und soweit Lebewesen dieses Medium verlassen haben, führen sie es in ihrem Körper mit sich. Wir bestehen zu 70 % aus Wasser, in dem alle biochemischen Prozesse ablaufen, auch in unserem Gehirn. Unser Raum ist dreidimensional, auch das versteht sich nicht von selbst. Bei einer höheren Dimensionszahl wäre die Wirkung der Gravitation schwächer, die Erde würde bei der kleinsten Störung durch andere Himmelskörper entweder in die Sonne stürzen oder in den Weltraum hinausgeschleudert. Die Sonne selbst würde durch den eigenen Strahlungsdruck auseinanderfliegen.
„42“ und die Magie der drei Dimensionen 1978 begann Douglas Adams die Romanreihe „Per Anhalter durch die Galaxis“. Berühmt wurde sie durch die Antwort eines fiktiven Supercomputers auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Nach Millionen von Jahren Rechenarbeit spuckte er die Antwort aus: „42“. Tausende von Lesern zerbrechen sich seither den Kopf über die kryptische Antwort. Dabei wollte sich Adams mit der „42“ nur einen Joke erlauben, wie er sagte. Als Student fand ich heraus, dass die 42 für unseren dreidimensionalen Raum tatsächlich eine magische Zahl ist. Ausgehend von dem magischen Quadrat der Ordnung
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Die zweite Entstehung der Welt 3, in dem die Zahlen 1 bis 9 so angeordnet sind, dass alle Vertikalen und Horizontalen die gleiche Summe (15) ergeben, versuchte ich mit den Zahlen 1 bis 27 einen magischen Würfel zu bilden. Es gab eine Lösung, und ich fertigte davon ein Hologramm, wovon Abb. 118 einen näherungsweisen Eindruck vermittelt. Alle 27 Senkrechten, Horizontalen und Sagittalen sowie alle 10 durch den Mittelpunkt laufenden Diagonalen ergeben 42! Der dreidimensionale Raum hat also die Eigenschaft, dass der kleinstmögliche magische Würfel überall die Summe 42 bildet.203 Was das für das Leben, das Universum und den ganzen Rest bedeutet, ist allerdings eine offene Frage, vielleicht an eine künftige Künstliche Intelligenz …
Abb. 118: Magisches Quadrat und magischer Würfel. Wie konnte es zu dem glücklichen Zusammentreffen von so vielen Unwahrscheinlichkeiten kommen? Das anthropische Prinzip fordert, dass die physikalischen Modelle mit der Tatsache vereinbar sein müssen, dass wir existieren. Denn die Welt beobachten zu können setzt voraus, dass sie dem Beobachter Lebensbedingungen bietet. John Wheeler, Doktorvater von Hugh Everett, war sogar überzeugt, dass der intelligente Beobachter notwendig ist, damit das Universum existiert. Es sei so beschaffen, wie es ist, damit man es erkennen kann. Der Mensch, der die Krone der Schöpfung mit dem Abgesang auf die Religion schon verloren zu haben schien, erhält sie umso prächtiger durch die Wissenschaft zurück. Hybris, Erkenntnis oder Denkfehler? Nach der auch von Stephen Hawking vertretenen Viele-Welten-Theorie ist unser Universum eins von unzählig vielen mit jeweils eigenen Naturgesetzen und physikalischen Konstanten. Sie alle haben sich aus Quantenfluktuationen gebildet, aus Blasen des ständig in Veränderung begriffenen Quantenschaums. Das Vakuum ist kein leerer Raum, sondern voll praller Energie, 308
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in der sich ständig neue Strukturen bilden und vergehen und nur gelegentlich eine Form annehmen, in der sie relative Stabilität behalten. Im Möglichkeitsraum gibt es zahllose Welten, aus denen „nichts geworden ist“. Die meisten bleiben winzig und lösen sich gleich wieder auf. Mindestens eine, vielleicht aber auch viele, überschritten eine kritische Größe und blähten sich inflationär auf. Dies war bei unserem Kosmos der Fall. Seine Naturgesetze und physikalischen Konstanten sind nach dieser Vorstellung zufällig so beschaffen, dass in ihm Leben und Bewusstsein entstehen. Es ist nachvollziehbar, wenn diese Sichtweise vielen Menschen nicht akzeptabel erscheint. Manche halten sich stattdessen lieber an die alte Vorstellung eines Gottes oder, in neuer Terminologie, eines intelligenten Designers, der die Welt so gut geschaffen und erhalten hat, wie sie ist. Leibniz argumentierte, dass Gott nicht vollkommen wäre, wenn er nicht die bestmögliche aller Welten geschaffen hätte. Viele Physiker nehmen die Herausforderung an, stattdessen die scheinbaren Unwahrscheinlichkeiten aus einer inneren Notwendigkeit herleiten zu wollen und suchen beharrlich nach zwingenden Zusammenhängen zwischen den physikalischen Parametern. Andere sehen in der Stringtheorie die geeignete „Theorie von Allem“, weil sie unendlich viele Universen zulässt. Die Zahl spannender offener Fragen hat seit Planck nicht ab-, sondern zugenommen. Wer das anthropische Prinzip so versteht, dass sich die Natur in jeder Hinsicht menschenfreundlich entwickelt hat, der irrt. Die Erdgeschichte ist gezeichnet von weltweiten Katastrophen, und immer wieder entging die Entwicklung des Lebens nur knapp der vollständigen Auslöschung. Sechsmal schon, um nur die größten Katastrophen zu nennen, ging die Welt fast unter. Dass die Erde jedes Mal mit dem Leben davonkam, grenzt an ein Wunder. In der Marinoischen Eiszeit vor 640 Millionen Jahren herrschte eine Kälte, die den gesamten Planeten mit einem Eispanzer bedeckte. Trotzdem bestanden einige der frühen Lebensformen den extremen Stresstest. Im Ordovizium hatten sich die wichtigsten Tierstämme einschließlich der Wirbeltiere gebildet. Es endete vor 444 Millionen Jahren in einer weltweiten Katastrophe, deren Natur bis heute nicht geklärt ist. Bis auf Reste starben die Vertreter aller Tierstämme aus. Ende des Devons vor ca. 360 Millionen Jahren starben wiederum 90 % der Meerestierarten aus und das Karbon begann, dessen Pflanzenreichtum wir die Steinkohle verdanken. Das Perm wurde vor 252 Millionen Jahren wahrscheinlich durch großflächige Vulkantätigkeit beendet. Die meisten Wasser- und Landlebewesen wurden ausgelöscht. Ebenfalls massiver Vulkanismus wird für das Massensterben am Ende der Trias vor 201 Millionen Jahren verantwortlich gemacht. Drei Viertel aller Lebewesen gingen für immer verloren. Vor 66 Millionen Jahren schlug ein über 10 km großer Asteroid in die Halbinsel Yukatan ein. Er ließ nicht nur die Dinosaurier aussterben, sondern über die Hälfte aller Tierarten. Danach übernahmen die Vögel die Herrschaft, später die Säugetiere, zu guter Letzt die Menschen. Auch die Menschheit entging nur knapp manchen Katastrophen. Vor 120 000 Jahren waren wahrscheinlich aufgrund einer 309
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extremen Dürre die Lebensbedingungen so schlecht, dass nur einige tausend unserer Vorfahren an der Südspitze Afrikas überleben konnten.204 Vor 74 000 Jahren gab es einen verheerenden Ausbruch des Vulkans Toba auf Sumatra, der den Himmel weltweit auf Jahre hinaus verdunkelte und die Temperatur um 18° abstürzen ließ. Auch damals wäre die Menschheit fast ausgestorben.205 Die ständigen Veränderungen der Umweltbedingungen konnten nur Arten überleben, die sich durch Mutation oder Flexibilität den Bedingungen anpassten. Die meisten Mutationen waren und sind schädlich, nur wenige förderlich. Die ältesten Abschnitte unserer DNA teilen wir mit allen Tieren und Pflanzen, weil offenbar alles Leben auf der Erde einen gemeinsamen Ursprung hat. Sogar mit dem Hefepilz haben wir ca. 40 % der DNA gemein. Die meisten Pfade der Evolution mündeten in Sackgassen. 99,9 % aller Arten sind seit der Entstehung des Lebens ausgestorben. Das trifft auch auf viele Zweige im Stammbusch des Menschen zu. Der Homo floresiensis in Südostasien, eine nur 1,20 m große Menschenart, konnte sich auf seiner Insel viele zehntausend Jahre lang gegen riesige Ratten und drachenähnliche Komodowarane behaupten. Dennoch starben die kleinen Menschen, von der Anthropologie „Hobbits“ genannt, vor ca. 50 000 Jahren aus, möglicherweise verdrängt von Verwandten unserer Vorfahren.206 Vom Neandertaler, dem in Europa lange Zeit herrschenden Menschenzweig, haben einige wenige Prozent der DNA überlebt, die wir in uns tragen. Den Menschen, die es bis in die Gegenwart geschafft haben, half die Entwicklung des Gehirns und damit der Fähigkeit, Probleme zu lösen, Wege in fast aussichtslosen Situationen zu finden und zu erschaffen, etwa das Feuer zu beherrschen, Kleidung und Werkzeug zu machen, zu kommunizieren und kooperativ zu handeln.
Abb. 119: Seit dem Paläolithikum war die Levante Lebens- und Durchzugsgebiet verschiedener Frühmenschen aus Afrika, die größtenteils ausstarben oder uns Spuren ihrer Gene vererbt haben.207 Sie hinterließen Werkzeuge wie diesen Chopper, der in Israel gefunden wurde. Mit ihm konnten Knochen aufgebrochen werden, um an das nahrhafte Mark zu gelangen. Er dürfte zwischen 40 000 und 300 000 Jahre alt sein. 310
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Was bedeutet das alles für uns? Dass wir das unwahrscheinliche Glück haben, zu den Überlebenden der langen Bootsfahrt über die stürmischen Meere der Erdgeschichte zu gehören! Mit „wir“ meine ich nicht nur uns Heutige, sondern uns zusammen mit der langen Reihe unserer Vorfahren, die es durch alle Widrigkeiten hindurch soweit geschafft haben, dass sie Leben von Generation zu Generation weitergeben konnten. Zahllose andere sind vorzeitig verhungert, verdurstet, vergiftet, erfroren, ertrunken, verunglückt, fielen wilden Tieren oder Infektionen zum Opfer oder wurden von ihresgleichen getötet. Ungezählte mögliche Schicksale blieben wegen der hohen Kindersterblichkeit früherer Zeiten unerfüllt. Von den 20 Kindern, die Johann Sebastian Bach hatte, starben 10 in frühen Jahren. Ungezählte frühere Sprachen mitsamt dem in ihnen vermittelten Wissen sind vergessen. Ungezählte kleinere und größere Kulturen, Stämme und Gemeinschaften wurden durch Naturkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen und Kriege ausgerottet und sind spurlos untergegangen. Dass wir die Chance bekommen haben, heute zu leben, ist nicht unser Verdienst, sondern ein Geschenk. In vielen Kulturen wurden die Ahnen wie Götter verehrt. Darüber sind wir längst hinweg. Aber es kann nicht schaden, an sie als diejenigen zu denken, denen wir das Privileg der heutigen Existenz danken. Es ist ein müßiges, aber interessantes Gedankenspiel, sich vorzustellen, dass wir nicht jetzt und hier, sondern irgendwann in der Vergangenheit oder in einer anderen Kultur geboren worden wären. Schon Blaise Pascal wunderte sich 1669 darüber, warum er gerade zu diesem Zeitpunkt der Ewigkeit in diesen Winkel des Weltalls geworfen wurde.208 Zwei Punkte scheinen mir als Konsequenz aus dem Gesagten wichtig. Erstens: Gleichgültig, ob wir das Viele-Welten-Modell akzeptieren oder von einem sich entwickelnden Universum ausgehen, gleich ob wir staunen, wie alle Naturkonstanten optimal ineinandergreifen oder ob uns die Katastrophen der Erdgeschichte beeindrucken, ob wir die Evolution als eine Kette von Zufällen oder als Werk eines intelligenten Designers ansehen – in jedem Falle können wir uns als gegenwärtig lebende Nachkommen all dieser Verhältnisse und Abläufe glücklich schätzen, zu existieren. All unsere Vorfahren von den Einzellern an haben sich durch Schlupflöcher der Katastrophen und Existenzprobleme gewunden und unser heutiges Leben ermöglicht. Unsere Existenz verdanken wir dem unwahrscheinlichen Umstand, dass bis heute unsere Kugel auf dem Galtonbrett immer zur Plusseite gesprungen ist. Sie und ich sind der lebende Beweis dafür, dass etwas wie ein Haupttreffer im Lotto höchst unwahrscheinlich, aber möglich ist. Die zweite Konsequenz ist noch wichtiger, weil sie von größter praktischer Bedeutung ist: Das anthropische Prinzip in seiner allgemein akzeptierten Form kann seiner Logik nach nur bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt gelten, zu dem wir in der Lage sind, es festzustellen! Wir können uns nicht darauf verlassen, dass sich die positive Entwicklung automatisch in die Zukunft hinein verlängert. Es sei denn, wir schließen uns der Auffassung von John Wheeler an oder üben uns fatalistisch in Gottvertrauen. Wir haben kein Gewohnheitsrecht auf Fortsetzung der 311
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Glückssträhne. Es wäre unvernünftig, sich darauf zu verlassen, dass beim nächsten Nagel des Galtonbretts die Kugel wieder zur Plusseite fällt. Dieser Augenblick der Erdgeschichte, in dem uns das Privileg bewusst wird, aufgrund besonderer Umstände der Vergangenheit hier sein zu können, ist zugleich der Zeitpunkt, zu dem wir, die Gemeinschaft aller Menschen, Verantwortung für die Zukunft übernehmen müssen. Und können. Es geht nicht nur um die Erderwärmung. Sie ist bedeutsam, aber nur eins der anstehenden Probleme. In der Erdgeschichte waren schon einige Male die Pole eisfrei. Die im Buch abgebildeten Bernsteine stammen aus solchen Epochen vor ca. 45 und 100 Millionen Jahren. Der Unterschied zu heute besteht allerdings darin, dass die menschengemachte Erwärmung zu rasch abläuft, als dass sich alle Tier- und Pflanzenarten darauf einstellen könnten, zumal der Mensch ihre Lebensräume eingeschränkt hat, und dass in absehbarer Zeit manche Gebiete überschwemmt werden, die heute bewohnt sind. Es geht darüber hinaus um den lebensnotwendigen Sauerstoff der Atmosphäre, der hauptsächlich von Kieselalgen und Bäumen produziert wird, die beide in ihren notwendigen Beständen gefährdet sind. Es geht um die Artenvielfalt des Lebens, die durch Entzug ihrer Grundlagen täglich um 150 Arten ärmer wird. (Schon für die Steinzeit hat sich gezeigt, dass in fast allen Regionen der Erde die Großfauna zur gleichen Zeit dezimiert oder ausgerottet wurde, als die ersten Steinwerkzeuge aufkamen).209 Es geht um den Raubbau an Ressourcen, die endlich sind und nicht nachwachsen. Es geht um Trinkwasser, das immer teurer zu beschaffen ist. Es geht um die Vermüllung der Erde, der Ozeane und des Weltraums. Es geht um die Bedrohung durch Asteroiden, die irgendwann wieder die Erde treffen können. Es geht um Überbevölkerung und Versorgungsprobleme. Es geht um das bestehende Drohpotential an Nuklearwaffen, von denen ein Bruchteil genügt, um das Leben auf der Erde auszulöschen. Es geht um die Bekämpfung der menschengemachten Pest des Krieges, der einst mit Fäusten und Keulen, inzwischen aber mit immer schrecklicheren Waffen ausgetragen wird. Es geht um den Hass, der den größten Schatz, den Menschen hervorgebracht haben, zu vergiften droht: die Kulturen in all ihrer Vielfalt. Notwendig ist ein Denken und Handeln im „Overview“, das wir erst lernen müssen. „Der Mensch ist nicht gewohnt, auf langfristige Probleme zu reagieren“, sagt der Nobelpreisträger Klaus Hasselmann, der schon 1979 die menschengemachte Klimaveränderung nachwies.210 Kurz gesagt: In der Welt des Allerkleinsten herrschen andere Naturgesetze als die uns vertrauten. Sie lassen die Deutung zu, dass viele Welten parallel existieren. In diesem „Multiversum“ spaltet sich mit jeder Alternative die Welt weiter auf. Von allen Möglichkeiten realisieren wir nur einen Weg. Auch aus kosmologischer Sicht ist ein Multiversum denkbar. Die Tatsache, dass wir existieren, beruht auf einem unwahrscheinlichen Zusammentreffen physikalischer Parameter. Dieses „anthropische Prinzip“ gilt nur bis zu dem Moment, wo wir es erkennen. 312
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Für die Zukunft können wir uns nicht weiter auf glückliche Zufälle verlassen, sondern müssen als Menschheit Verantwortung übernehmen.
Literatur Hawking & Mlodinow 2010. Pascal 1669. Tegmark 2014.
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Gedankenwege durch Schöpfung und Evolution Als Kind ging ich gern in die Sonntagsschule. Inbrünstig sang ich „Weißt du, wieviel Sternlein stehen?“ und lauschte den Geschichten aus der Bibel. Die Schöpfung in sechs Tagen oder die Erschaffung des Menschen fesselten mich ebenso wie die Geschichte der Sintflut. Ich staunte, dass Methusalem 969 Jahre alt wurde, und dass seit der Schöpfung unvorstellbare 6000 Jahre vergangen sind. Alles, was ich hörte, war für mich so gewiss wie alles, was ich mit eigenen Augen sah. Als Jugendlicher war ich oft in Jena. In den Muschelkalkfelsen des Saaletales fand ich Fossilien, von denen ich hörte, dass sie 240 Millionen Jahre alt sein sollten. Im Phyletischen Museum, das ich wohl ein Dutzend Mal besuchte, lernte ich die Entwicklungsgeschichte des Lebens kennen, füllte Hefte mit Notizen und Skizzen. Ich war fasziniert von dem Gedanken, dass sich alles Leben vom Einfachsten zum Komplexesten entwickelt hat, und zwar dadurch, dass sich besonders diejenigen Lebewesen fortpflanzten, die durch kleine Veränderungen besser in ihrer Welt zurechtkamen. Dieser Gedanke erschien mir logisch und so natürlich wie die Natur selbst.
Abb. 120: Mit 14 Jahren fand ich Fragmente fossiler Röhrenknochen in den Muschelkalkfelsen des Saaletals. Im Phyletischen Museum Jena erfuhr ich, dass es sich um Saurierknochen handeln könnte. Mein Großvater war Pastor und bewertete Fossilienfunde skeptisch. Die könnten alle künstlich gemacht sein – was für einen Teil tatsächlich zutraf. Einer der ersten Fossilienforscher, Dr. med. Johann Beringer, schuf im 18. Jahrhundert eine umfangreiche Publikation seiner „Figurensteine“, in denen er die „vis plastica“, die formende Kraft der Natur, wirken sah. Er setzte sein Vermögen ein, als er verzweifelt versuchte, die Bücher zurückzukaufen, weil Jugendliche ihm zahlreiche Fälschungen untergeschoben hatten, die als „Würzburger Lügensteine“ berühmt wurden. Einer meiner Biologielehrer tat sich schwer mit der Evolutionslehre. Als gläubiger Katholik betonte er, dass er sie nur behandle, weil er durch den Unterrichtsplan dazu verpflichtet sei, und wies auch auf die „Lügensteine“ hin. Dank meiner eigenen Funde hatte ich da schon meine eigene Meinung gebildet.
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Als Student setzte ich mich intensiv mit der Kontroverse zwischen biblischer Aussage und Evolutionstheorie auseinander. Ich war engagiertes Mitglied in einer Freikirche und vertrat dort die Ansicht, dass die alttestamentlichen Geschichten aus vorwissenschaftlicher Zeit stammen und auf das zeitgenössische Verständnis der Menschen zugeschnitten waren. Dass sie in der heutigen Zeit als Bilder aufzufassen sind und nicht als historische Tatsachenberichte. Dieser Standpunkt galt in der Gemeinde allerdings als ketzerisch, umso mehr, als die Bewegung des Kreationismus, aus den USA kommend, um sich griff. Immer stärker spürte ich den sozialen Druck, dem Andersdenkende in einer Glaubensgemeinschaft unterliegen. Da ich nicht gegen meine Überzeugung glauben konnte, trat ich aus der Gemeinschaft aus. Ich empfand den Schritt als schmerzhaft gegenüber liebgewordenen Mitgliedern, aber als befreiend in Bezug auf mein künftiges Leben. Als Wissenschaftler erfahre ich Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis aus erster Hand. Ich lerne, dass Theorien nur Modelle der Realität sind und sie niemals vollständig und endgültig beschreiben. Ich lerne, dass die wertvollsten Güter der Wissenschaften nicht die stets vorläufigen Erkenntnisse sind, sondern ihre Methoden, mit denen sie immer neu den Fragen nachgehen, die der unendliche Reichtum der Natur uns stellt. Für mich schließt sich ein Kreis, als ich im Jahr 2000 im Phyletischen Museum Jena eine eigene Ausstellung mache mit Bernsteineinschlüssen, in denen Millionen Jahre alte Lebenszeugnisse perfekt konserviert sind. Ich lerne, Überzeugungen zu revidieren, wenn empirische Befunde es fordern. Ich lerne zahlreiche Facetten der Evolutionstheorie als einer der bestbegründeten Theorien der Naturwissenschaften schätzen, die seit Darwin durch neuzeitliche Methoden bis auf die Ebene der Moleküle ausgedehnt wird. Doch je präziser und vielfältiger sich die Mechanismen von Mutation und Selektion nachweisen lassen, desto stärker drängen sich für mich als Psychologen offene Fragen in den Vordergrund. Die Entstehung komplexer Merkmale wie etwa der Augen, von Kreationisten gern als überzufällig aufgeführt, lässt sich nach heutiger Erkenntnis als Folge von Schritten verstehen. Doch gibt es bislang keine überzeugende Erklärung dafür, wie das Bewusstsein entstanden sein soll. Die Evolutionstheorie beschreibt die Vielfalt des Lebens einschließlich des Menschen als Mechanismus, bei der eins aus dem anderen notwendig oder zufällig hervorgeht. Dabei bleibt alles, was wir tagtäglich spüren, das Erleben von Farben, von Lust und Schmerz, von Ehrfurcht, Trauer und Dankbarkeit außen vor. Die Evolutionstheorie ist nicht falsch, aber in wesentlichen Teilen unvollständig. Sie beschreibt Leben als Automatismus, dem das Wichtigste fehlt, das ich schon als Kind kannte: Lebensfreude.
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Anders gefragt: Sind die in jeder Kultur entwickelten Erzählungen von der Welt und die Naturwissenschaften von gleicher Bedeutung? Das Bedürfnis, die Welt, in der man lebt, als Gesamtzusammenhang zu verstehen, ist etwas, das die Menschen vor den Tieren auszeichnet. Jede Kultur entwickelt ihr eigenes Weltbild, und jedes Individuum adaptiert oder modifiziert es gemäß seinen direkten und indirekten Erfahrungen. Dabei geht es nicht nur um rationale Erkenntnis, sondern vor allem um den Kontext, innerhalb dessen sich das persönliche und gesellschaftliche Leben abspielt, ihm Sinn und Zusammenhalt gibt. Für die Primärkulturen, die bis weit in die vorschriftliche Zeit zurückreichen, war ein abstraktes naturwissenschaftliches Denken, wie es von Personen wie Anaximander und Thales von Milet begründet wurde, fremd. Sie entwickelten Mythen, die mehr waren als Fabeln oder Märchen, es waren wahre und heilige Geschichten. Der abwertende Gebrauch des Begriffs „Mythos“ für eine Geschichte, die nicht wahr sein kann, geht auf den Vorsokratiker Xenophanes zurück und prägt das heutige Verständnis. Es verstellt aber die Einsicht in die ursprüngliche Bedeutung für diejenigen, deren Leben davon geprägt war. „Der Mythos wird als eine heilige Geschichte und daher als eine „wahre Geschichte“ betrachtet, weil er sich immer auf Realitäten bezieht. Der kosmogonische Mythos ist „wahr“, weil die Existenz der Welt ihn beweist; auch der Mythos vom Ursprung des Todes ist „wahr“, weil die Sterblichkeit des Menschen ihn beweist,“ schreibt Mircea Eliade.211 Weltanschauung verbindet ursprünglich Weltbild und Religion, oft in Form eines Schöpfungsmythos. Der Mythos ist nicht nur eine Geschichte, er greift prägend in das Leben der Gesellschaft ein, in Riten und Gebräuchen realisiert er sich ständig neu und tradiert so seine Wirklichkeit. Ob in Australien, in Neuguinea oder bei den Navajos – stets gilt als Begründung für bestimmte Zeremonien, dass es die Urahnen oder die Götter so getan oder aufgetragen haben. Aus gleichem Grund gilt jede Veränderung als Tabu. Mircea Eliade weist darauf hin, dass dabei sorgfältig unterschieden wird zwischen Mythen als „wahren“ und Märchen als „falschen“ Geschichten. Bei den Pawnee in Nordamerika handeln die „wahren“ Geschichten von den Ursprüngen der Welt mit übernatürlichen Wesen. Einen anderen Rang haben volkstümliche Erzählungen etwa über Helden und Außenseiter. Die Herero in Afrika unterscheiden zwischen „wahren“ Stammesmythen und komischen Märchen. In vielen Mythen wird ein Bezug hergestellt zwischen dem Anfang des Kosmos und der königlichen Familie bzw. den Familien von Häuptlingen. War eine Prinzessin auf Hawaii schwanger (Hawaii war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts Königreich), rezitierten die HulaTänzer die Gesänge ununterbrochen bis zur Geburt. Gemessen an einem solchen Bedeutungshintergrund wirkt die Oberflächlichkeit, in der Hula-Tänze und andere Gebräuche Indigener von Touristen wahrgenommen werden, beklemmend peinlich, und es ist nachvollziehbar, dass 316
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sich die „Indianer“ Nordamerikas von derartigen Shows weitgehend zurückgezogen haben, um ihre Würde und ihre Werte zu wahren.
Abb. 121: „Die Tänzer lassen die Sonne aufgehen.“ Sandbild der Navajos. Bei den Navajos in Arizona ist der Glaube überliefert, dass die Sonne nur wiederkehrt, wenn ihr zu Ehren täglich ein ritualisierter Tanz vollführt wird. Bei den Jicarilla-Apachen waren von Anfang an die Geister da, als es nichts gab als Dunkelheit, Wasser und Stürme. Aus einer besonderen Substanz machten sie den Kosmos, die Erde, die Unterwelt und den Himmel. Die Erde schufen sie in Gestalt einer Frau, die aufwärts blickt, den Himmel in Gestalt eines Mannes, der abwärts blickt. Die Geistwesen waren überall, in der Unterwelt, im Gebirge, in jeder Frucht und in jedem Tier. Sie schufen das Land aus Sand in vier Farben mit Bergen, die bis zum Himmel reichten. Dort konnten sie durch ein Loch im Himmel in eine andere Welt blicken. Aus Sonnenstrahlen flochten sie ein farbiges Seil und eine Leiter. Daran stiegen der erste Urahn und die erste Urahnin herab.212 Die Okanogan am Pazifik glauben, dass „der Alte“ die Erde aus einer Frau machte. „Die Erde ist immer noch lebendig, aber sie hat sich verändert. Der Boden ist ihr Fleisch, die Felsen sind ihre Knochen, der Wind ist ihr Atem; Bäume und Gräser sind ihr Haar. Sie liegt ausgestreckt da, und wir leben auf ihr. Wenn sie sich rührt, gibt es ein Erdbeben.“ Aus dem Boden formte der Alte Bälle, wie die Leute es mit Lehm tun. Darauf formte er die Wesen der früheren Welt. „Das waren die Uralten. Sie waren Menschen, und doch waren sie gleichzeitig auch Tiere.“213 Die Edda der Germanen ist eine Sammlung von Mythen und Sagen, die im 13. Jahrhundert auf Island geschrieben wurde. Hiernach opferten die Götter den Riesen Ymir, um aus seinen Bestandteilen die Welt zu erschaffen. Aus seinen Knochen machten sie die Erde, aus seinem Blut die Gewässer, aus seinem Schädel den Himmel. Rings um die Erdscheibe liegt das tiefe Meer. Die Mitte der Welt bildet die Burg Asgard, in der die Götter wohnen. Dort steht auch der Weltenbaum Yggdrasil, der Himmel, Erde und Unterwelt miteinander verbindet. 317
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Abb. 122: Die Hindus glauben, dass das Universum und die Götter aus dem Klang der heiligen Silbe „OM“ hervorgegangen sind. Inschrift im Giebel eines Tempels auf Mauritius. Viele Schöpfungserzählungen berichten von einer Urmutter allen Seins. Von den Pelasgern, einem der frühesten Völker Griechenlands, wird der Mythos von Eurynome berichtet. Sie entstieg dem Chaos, trennte Himmel und Wasser und tanzte. Aus dem Wirbel entstand die Schlange Ophion, mit der sie sich vereinigte. Sie legte ein Ei, und aus dem Ei entsprang die ganze Welt: Sonne, Mond, die Erde und alle Lebewesen. In einem späteren Kult, der sich auf den Sänger Orpheus bezieht, klingt schon die bekannte Götterwelt Griechenlands an: Die schwarzgeflügelte Nacht vereinigte sich als Göttin mit dem Wind und legte ein silbernes Ei in den Schoß der Dunkelheit. Daraus schlüpfte Phanes, auch Eros genannt, ein zweigeschlechtliches Wesen, und setzte das All in Bewegung.214 Manches Mal wird die Tätigkeit des Webens mit der Erschaffung der Welt in Zusammenhang gebracht. In Südostasien webt eine Göttin die obere und die untere Welt zusammen und erschafft so die Welt der Menschen. Dort wie auch bei den Tewa-Indianern erhält die Webkunst durch den Bezug zu den Gottheiten höhere Weihen. In der christlich geprägten westlichen Zivilisation ist es heikel, von biblischen Mythen zu sprechen. Christliche Theologen verwenden den Begriff „Mythos“ vielfach im Sinne von „Fiktion“ gemäß dem griechischen Skeptiker Xenophanes. Seit den Kirchenvätern besteht das Bemühen, besonders die Geschichtlichkeit Jesu gegen Zweifler zu verteidigen. Dies führte z. B. zur Auswahl der vier Evangelien, von denen das Markus-Evangelium als das authentischste gilt. In der Neuzeit entwickelte sich eine tiefe geistige Spaltung zwischen Theologen wie Rudolf Bultmann einerseits, die die Evangelien derart „von mythologischen Elementen durchsetzt“ ansehen, dass ihnen nichts zum historischen Jesus zu entnehmen sei, und bibeltreuen Fundamentalisten andererseits, die alle Aussagen des Alten und des Neuen Testaments wortwörtlich für wahr nehmen. 318
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Glaubensgewissheit und kritisches Denken Meine Mutter war Schriftstellerin. Am wichtigsten waren ihr die Bücher, in denen sie sich mit zwischenmenschlichen Problemen und Fragen der Religion auseinandersetzte. Ich musste alle Korrektur lesen und tat es umso lieber, je mehr ich heranwuchs, weil mich viele der von ihr berührten Probleme psychologischer, philosophischer und theologischer Art interessierten. Niemals hatten meine Eltern mich in irgendeine weltanschauliche Richtung gedrängt. Meine Mutter hatte einen Pastor zum Vater, mein Vater hatte eine überaus fromme Mutter. Beide litten als Kinder unter entsprechendem Erwartungsdruck und wollten ihn als Eltern nicht wiederholen. Sie legten Wert darauf, dass ich mich mit allen Fragen von Belang eigenständig auseinandersetze und mir ein eigenes Urteil bilde. Um mir zu denken zu geben, erzählte mir meine Mutter von einem Gespräch mit einer guten Bekannten über religiöse Fragen wie die nach dem Verhältnis von historischem Jesus und kerygmatischem Christus. Sie selbst sei immer mehr dahin gekommen, Jesus als vorbildlichen Menschen zu sehen, während die Gottessohnschaft ihr zunehmend problematisch erscheine. Nun stehe sie vor der Frage, ob sie die Leser ihres neuen Buches mit diesem Problem konfrontieren solle. Sie fragte ihre Freundin nach ihrer Einstellung. Diese antwortete, dazu habe sie keine eigene Meinung. Sie glaube einfach an das, was der Pastor sagt.
Das unterschiedliche Bibelverständnis wird spürbar im Verhältnis zur Evolutionstheorie. Katholische und evangelische Kirche haben diesbezüglich zu einer Haltung gefunden, die Offenheit zur Wissenschaft beinhaltet, und setzen sich klar von den fundamentalistischen Evangelikalen ab, die in den USA stark vertreten sind. Obwohl sie nur 9 % der Bevölkerung ausmachen, bilden sie dort eine sehr einflussreiche Macht. In den USA gibt es seit vielen Jahren Streit zwischen Vertretern des Kreationismus und der Evolutionstheorie. Noch 2007 lehnte eine Mehrheit von Lehrenden der naturwissenschaftlichen Fächer die Evolutionstheorie ab. 2019 wurde sie mehrheitlich akzeptiert. Die meisten versuchen, beiden Seiten gerecht zu werden. Forscher sehen darin die Hauptursache für eine abnehmende wissenschaftliche Bildung in den USA. Es wird nicht vermittelt, worin der Unterschied zwischen wissenschaftlich gesicherten Fakten und religiösen Informationen besteht. Fundamentalisten akzeptieren auch wissenschaftliche Fakten, aber nur solche, die der Bibel nicht widersprechen.215 Die Kreationisten nehmen die Schöpfungsgeschichte der Bibel als absoluten Maßstab. Allerdings enthält die Bibel nicht nur eine, sondern mehrere Schöpfungsgeschichten. Die erste der Genesis ist die bekannteste. Am Beginn der Bibel wird bis Kap. 2, 3 erzählt, wie Gott in sechs Tagen die Welt geschaffen hat. Gleich darauf folgt im 2. Kapitel eine zweite Geschichte, die gegenüber der ersten Unterschiede aufweist, die nicht zu übersehen sind. Die erste beginnt mit 319
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den Wassern, über denen der Geist Gottes schwebt, die zweite beginnt mit trockenem Land, auf das Gott Regen fallen lässt. In der ersten werden zuerst Pflanzen und Tiere, dann das erste Menschenpaar erschaffen. In der zweiten macht Gott zuerst einen Mann aus einem Erdenkloß, dann den Garten Eden und die Tiere; schließlich macht er eine Frau aus der Rippe Adams. Theologen führen die Unterschiede auf unterschiedliche Primärquellen zurück, wodurch der Absolutheitsanspruch biblischer Aussagen in Frage gestellt wird. Denn welche Schöpfungsgeschichte soll nun gelten? Beide Geschichten waren geeignet, den Menschen in vorwissenschaftlicher Zeit in starken Bildern eine Vorstellung vom Beginn der Welt bzw. vom anfänglichen Verhältnis der Menschen zu Gott zu geben, und können in diesem Sinne noch heute wahrgenommen werden. Die erste Schöpfungsgeschichte beeindruckt durch die Kraft der Worte, die die Welt entstehen ließen: „Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.“ Bei der zweiten wird farbenreich das Paradies beschrieben, das Gott zusammen mit den Menschen durchwandelte. Es ist falsch, diese uralten Geschichten in Konkurrenz zum Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnis setzen zu wollen. Darrel Falk, selbst Biologe und Christ, zitiert Kirchenvater Augustinus: „Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind.“ Und Falk ergänzt: „Angesichts der überwältigenden Fülle von Anhaltspunkten ist es für Christen angebracht zu akzeptieren, dass die Naturwissenschaften Details von Gottes Wirken offenbar machen. Wenn wir unseren Verstand vor dieser Art der Offenbarung verschließen, verpassen wir die Möglichkeit, einen Einblick in die Arbeitsweise des Gottes, den wir so sehr lieben, zu erhalten.“216 Als Drittes zu nennen ist Psalm 104, ein Hymnus auf die Schöpfung in poetischer Schönheit, nicht gemacht, um die Erschaffung der Welt in ihrer Chronologie zu vermitteln, sondern zum Lobpreis Gottes („Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!“, Psalm 104, 24). Vielfach wurde auf die inhaltlichen und stilistischen Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht, die der Psalm mit dem Sonnengesang Echnatons aufweist („…Wie unermesslich sind deine Werke. Sie sind den menschlichen Blicken verborgen, du einziger Gott, der nicht seinesgleichen hat!“). Es war jener Pharao, der als erster im 14. Jahrhundert v. Chr. den Monotheismus einführte, letztlich aber an der Priesterschaft scheiterte, die dem traditionellen Polytheismus huldigte.217 Ähnlichkeiten mit beiden letztgenannten Texten weist ein Schöpfungshymnus im Buch Jesus Sirach auf, das von Luther nicht zur Bibel, sondern zu den Apokryphen gerechnet wurde. Der Verfasser Sirach, der zur Zeit des Hellenismus lebte, weiß wie Echnaton um die Unvollständigkeit menschlichen Wissens gegenüber Gottes großer Schöpfung: „Wir sehen seiner Werke das wenigste; denn viel größere sind uns noch verborgen.“ (Sirach 43, 36) Die vierte, sehr kurze Schöpfungsgeschichte der Bibel macht den Anfang des Johannesevangeliums aus: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. 320
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Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.“ Ob mit Joh. 1 die christliche Trinitätslehre begründet wird, wie manche Theologen meinen, sei hier nicht verfolgt. Bemerkenswert ist auf jeden Fall die kreative Bedeutung des Wortes, die schon in der ersten Schöpfungsgeschichte der Bibel hervorgehoben wird. Im griechischen Urtext steht „Logos“, ein Begriff mit weitem Bedeutungsfeld. Statt mit „Wort“ kann er auch mit „Sinn“, „Vernunft“, „Geist“ oder „Logisches Prinzip“ übersetzt werden. Goethe ließ Faust als ultimative Übersetzung „die Tat“ finden. Die knappe Beschreibung des Johannesevangeliums vom Anfang der Welt lässt sich nicht auf Details in Reihenfolge oder Dauer des Schöpfungsgeschehens ein. Sie entstand ca. 1600 Jahre nach Niederschrift der Genesis und sprach in der Levante Menschen an, die zwischenzeitlich neu zu denken gelernt hatten. Durch Anaximander, Thales, Eratosthenes, Demokrit, Aristoteles und viele andere hatten die Naturwissenschaften ihre Anfänge genommen. Der Beginn des Johannesevangeliums öffnet mit der Betonung des Logos die Möglichkeit, dass auch der gläubige Mensch mit dem Geschenk seines Verstandes und seines Forschungsdranges die Welt als eine gesetzmäßige begreifen kann. Das Gesagte wird nicht jeden Fundamentalisten zur Offenheit gegenüber wissenschaftlichen Methoden bringen. Die Evolution ist manchen ein „Idiotenmodell“, die Gravitation eine Erfindung von Ketzern. Manche lesen im 7. Kapitel der Offenbarung des Johannes, dass auf den vier Ecken der Erde vier Engel stehen, womit für sie hinreichend bewiesen ist, dass die Erde keine Kugel ist, sondern ein Viereck.218 Das ist vielleicht ein schöneres Bild als das der alten Ägypter, nach denen die Göttin Hathor als Kuh mit ihren Beinen auf den vier Ecken der Welt steht, aber es ist auch ein Bild für die Vorstellung von Menschen aus einer Zeit, als der Horizont noch nicht erkennen ließ, dass die Erde sich zur Kugel rundet. Im altägyptischen Weltbild wird der Kosmos von Göttern gebildet und erhalten. Die Himmelsgöttin Web (oder die Göttin Hathor) bildet mit ihrem Körper den Himmel über Geb, dem Erdgott. Über ihren Rücken fährt die Sonnenbarke des Gottes Ra. Abends steigt Ra in die Nachtbarke und durchquert die Unterwelt. Das älteste überlieferte Weltbild ist das der Sumerer, die im 3. Jahrtausend vor Christus im Zweistromland lebten. Danach ist die Erde eine Scheibe, die ringförmig von einem gewaltigen Fluss umgeben ist. Darüber spannt sich der Himmel als Halbkugel, an dem die Sterne als Leuchten hängen und gelegentlich Meteoriten herabfallen lassen. Unter der Erde vervollständigt der Ort der Hölle die Welt zur Kugel. In Babylon hieß der Fluss „marratu“, die Griechen nannten ihn „okeanos“. In unserem Wort „Ozean“ für die größten Gewässer ist diese Bezeichnung bis heute erhalten. Die Grundstruktur des babylonischen Weltbildes galt auch in Homers Ilias und Odyssee, weil man über die Landmassen nördlich und östlich von Griechenland nur begrenzte Vorstellungen hatte. Die bewohnten Gebiete der Erde nannte man „oikumene“. 321
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Anaximander von Milet, der, wie erwähnt, als erster die Welt rein naturgesetzlich und ohne Bezug auf Götter zu erklären versuchte, hatte einen anderen Gedanken. Er deutete die Erdscheibe als Oberfläche eines Zylinders, der wasserumflossen in einem kugelförmigen Weltall schwebt, am Rande von Gebirgen umgeben, die ein Überfließen des „okeanos“ verhindern. Im 5. Jahrhundert v. Chr. setzte sich in Griechenland bereits die Überzeugung durch, dass die Erde eine Kugel aus Land und Wasser sei, ob durch die Beobachtung, dass zuerst der Rumpf und dann die Masten eines Schiffes hinter dem Horizont verschwinden oder aufgrund anderer Beobachtungen dieser Zeit, ist nicht überliefert. Aristoteles erklärte die Kugelform damit, dass sich die Erdmasse von allen Seiten gleichmäßig zur Mitte bewegt, eine Vorahnung der Gravitation.219 Auf Eratosthenes, der im 3. Jahrhundert v. Chr. als erster die Größe der Erdkugel vermaß, kommen wir gleich zu sprechen. Wenn Weltbilder nicht mehr von Schamanen und Religionsführern, sondern von Philosophen und Naturwissenschaftlern geformt werden, ergibt sich eine neue Situation. Religionen bilden im Allgemeinen geschlossene Systeme, die wesentlich von ihren Begründern geprägt sind, in denen der Mythos lebt, Traditionen gepflegt werden und Abweichler einen schweren Stand haben. Die im Prinzip unabhängigen Wissenschaften sind dagegen offen allein dadurch, dass jede neue Beobachtung dazu führen kann, dass alte Theorien und Hypothesen widerlegt werden und das Gedankengebäude erneuert werden muss. Die berühmte kulturwissenschaftliche Bibliothek von Aby Warburg in Hamburg wurde auf seinen Wunsch hin elliptisch angelegt, und zwar mit dem Bezug auf die Erkenntnis Keplers, dass die Planetenbahnen nicht kreisförmig, sondern elliptisch sind. Denn damit vollzog sich der Übergang vom mythischen zum empirisch geprägten Weltbild.220 Es gibt einen hochinteressanten Fall, dass in zwei verschiedenen Zivilisationen mit wissenschaftlichem Selbstverständnis zwei sehr ähnliche Messungen durchgeführt wurden, die aber aufgrund der unterschiedlichen Kosmologien ganz unterschiedlich gedeutet wurden. Darüber berichtet die Historikerin Lisa Raphals (2002). Der Physiker Carlo Rovelli (2019) diskutiert den Fall.221 Allgemein bekannt ist, dass im 3. Jahrhundert v. Chr. der Grieche Eratosthenes am Mittag der Sommersonnenwende zwei Messungen des Sonnenstandes vornahm, und zwar in Alexandria und im südlich gelegenen Syene (Assuan). In Syene stand die Sonne genau im Zenit. In Alexandria dagegen wich der Sonnenstand um 1/50 des Vollkreises ab. Da Eratosthenes den Abstand beider Orte exakt hatte ausmessen lassen (5000 Stadien), konnte er den Erdumfang mit 50 x 5000 = 250 000 Stadien angeben. Welches heutige Maß einem damaligen Stadion entsprach, ist nicht eindeutig festzustellen. Aber neue Messungen ergeben für die Distanz beider Städte 835 km. Das 50-fache beträgt 41 750 km, ein Wert, der heutigen Messungen des Erdumfangs (40 075 km) recht nahekommt. In der westlichen Welt weniger bekannt ist die folgende Geschichte: Als Eratosthenes seine Messungen durchführte, wurden etwa zur gleichen Zeit vergleichbare Messungen der 322
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Sonnenstände in China durchgeführt. Im Gegensatz zu Griechenland, wo bereits vor Eratosthenes die Überzeugung verbreitet war, dass die Erde eine Kugel sei, gingen die Chinesen von der Annahme aus, dass die Erde flach ist. Sie wollten nicht den Umfang der Erde messen, sondern durch Triangulation die Entfernung der Sonne von der Erde feststellen! Unter Berücksichtigung der Distanz der Beobachtungsorte und des Winkelunterschieds im Sonnenstand kamen sie auf den Wert von einigen tausend Kilometern für die Entfernung der Sonne.
Abb. 123: Unterschiede im Sonnenstand bei verschiedenen Beobachtungsstandorten führten bei Eratosthenes zur Ermittlung des Umfangs der kugelförmigen Erde (links). Bei den Chinesen führten sie aufgrund der Annahme, dass die Erde flach ist, zu einer Bestimmung der Entfernung der Sonne (rechts).222 Interessant ist auch das Gespräch mit Lisa Raphal, über das Carlo Rovelli berichtet. Für ihn war die chinesische Interpretation falsch, für Raphal war Rovellis Beurteilung falsch. Sie nahm den Standpunkt ein, dass der Wahrheitswert von Wissen nur innerhalb des Wahrheitssystems der jeweiligen Kultur betrachtet werden sollte. Für Rovelli zeigt diese Sichtweise ein tiefes Unverständnis für die Naturwissenschaften. Denn zu ihnen gehört ein ständiger Austausch darüber, welche Interpretation von Beobachtungen zum schlüssigsten Gesamtsystem führt, was natürlich auch zu ständigen Korrekturen führt. Die Chinesen gaben selbst das beste Beispiel für diese Haltung. Sie verfügten schon früh über ein naturwissenschaftliches Verständnis, das sie zur Erfindung von Papier, Schwarzpulver und Kompass geführt hatte. Im 16. Jahrhundert 323
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besuchte der Jesuit Matteo Ricci China und sprach dort mit Astronomen. Sie ließen sich von der Kugelgestalt der Erde überzeugen und änderten die Interpretation ihrer Befunde entsprechend. Heute gehören die Chinesen zu den führenden Raumfahrtnationen, was nicht möglich wäre, würden sie immer noch von einer flachen Erde ausgehen. Schätzungen zufolge gibt es heute mehr Menschen als im Mittelalter, die die Erde für eine Scheibe halten, auch wenn viele Beiträge im Internet als Satire gemeint sind. Für diejenigen, die noch im Zweifel sind, ob die Erde eine Kugel ist, schlage ich ein experimentum crucis vor: Im Süden Chinas, wo der nördliche Wendekreis verläuft, und im Norden Chinas wird zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende um 12 Uhr mittags nicht nur die Position der Sonne ermittelt, sondern auch ihr Winkeldurchmesser. Unter der Voraussetzung, dass die Erde flach ist, müsste sich für die Messung im Norden ein kleinerer Winkeldurchmesser ergeben als bei der Messung im Süden, da die Sonne dort weiter entfernt ist, und zwar reziprok zum Verhältnis der Distanzen zur Sonne, die im Schema Abb. 123 als b und c gekennzeichnet sind. Wenn dagegen die Erde eine Kugel und die Sonne viele Millionen Kilometer entfernt ist, muss sich für den Winkeldurchmesser der Sonne bei beiden Messungen der nahezu gleiche Wert ergeben. Hätten die Chinesen vor 2300 Jahren nicht nur die Positionen der Sonne, sondern auch deren Winkeldurchmesser ermittelt und verglichen, wären sie wahrscheinlich selbst auf die Kugelgestalt der Erde verfallen. Kurz gesagt: Seit alters her haben Menschen versucht, die Welt als Gesamtzusammenhang zu begreifen, und bedienten sich dabei mythischer Geschichten mit Bildern, die ihnen aus ihrem menschlichen Leben vertraut waren. Auch die Schöpfungsgeschichten der Bibel gehören dazu, die allerdings von den Kreationisten als Tatsachenbericht gewertet werden. Die Geltung von Mythen ist eng an bestimmte Gemeinschaften gebunden. Demgegenüber sind die Naturwissenschaften in internationalem Austausch einem Standard verpflichtet, der möglichst vorurteilsfrei alle gesicherten Beobachtungsdaten in einem schlüssigen und triftigen Theoriensystem zu ordnen versucht, um Erklärungen, Anwendungen und Vorhersagen zu ermöglichen.
Literatur Eliade 1988. Falk 2004. Fischer 2017. Hetmann 2014. Rovelli 2019. Spitzer & Herschkowitz 2019.
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Lassen sich Fake News erkennen?
Corona zerreißt Freundschaften Es ist Herbst 2020. Die „Corona-Pandemie“ treibt weltweit von Höhepunkt zu Höhepunkt. Schon sind hunderttausende von Toten in Europa, ebenso viele allein in den USA zu beklagen. Zwar hat Norditalien die Phase überwunden, in der die Zahl der Toten nur noch mit Massengräbern zu bewältigen war, aber für viele Länder gilt immer noch oder schon wieder eine Urlaubssperre. Ein verlässliches Medikament ist nicht in Sicht, an möglichen Impfstoffen wird fieberhaft gearbeitet. Die Fußballstadien sind leer, alle größeren Veranstaltungen sind abgesagt. Fluggesellschaften und andere Wirtschaftszweige sehen dem Niedergang entgegen, die Kulturschaffenden sind arbeitslos. Deutschland hat anfänglich die Situation relativ gut gemanagt, weil die Regierung sich wissenschaftlich beraten lässt, „evidenzbasiert“ entscheidet und die Bürger sich diszipliniert verhalten. Die meisten achten auf Distanz und tragen Schutzmasken, wo es geboten ist. Jüngere sind zwar häufig infiziert, tragen aber selten schwere Symptome, die Solidarität mit Älteren, Vorerkrankten und Immunschwachen ist groß. Vereinzelt bilden sich größere Infektionsherde. Eine dieser Gefahren geht von Gruppen aus, die durch Influencer unterschiedlicher Interessenlage beeinflusst sind, die sich gegen die Corona-Regeln auflehnen. Bei einer Demonstration in Berlin drängen sich über 30 000 Teilnehmer aus ganz Deutschland, ein Gemisch aus „Querdenkern“, Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern und Randalierern, zumeist ohne Schutzmasken, aber vereinzelt mit Alu-Hüten, die gegen Manipulation durch Strahlen helfen sollen. Sie zeigen Transparente mit „Corona ist eine Erfindung!“ „Gegen die Versklavung!“ oder „Legt den Maulkorb ab!“ Rechtsextreme und „Reichsbürger“ wollen die Proteste für sich kapern – „Das System ist gefährlicher als Corona!“ – und versuchen, ins Parlament vorzudringen. In NRW wird der Gesundheitsminister, der das Gespräch mit Protestierenden sucht, ausgebuht und bespuckt. In der FAZ ist von „Verwahrlosung und Verpöbelung des Diskurses“ die Rede. Innerhalb von Verwandtschaft und Bekanntschaft herrscht Fassungslosigkeit angesichts des Verhaltens, das Homo sapiens hier an den Tag legt. Zwar bilden die selbsternannten „Querdenker“ eine Minderheit, stellen aber sowohl durch die Wirkung ihrer medialen Propaganda wie durch die Wahrscheinlichkeit, auf den Demonstrationen virale Superspreader zu generieren, eine Gesundheitsgefährdung für die Gesellschaft dar. Umso mehr sind wir konsterniert, als auch NN aus unserem Bekanntenkreis sich über die sozialen Medien in diesem Sinne äußert, Schutzmaßnahmen vor dem Virus als Terror bezeichnet und die Meinung verbreitet, dass die Maskenpflicht mit der Erdrosselung des Schwarzen George Floyd durch die Polizei in den USA am 25. Mai auf eine Stufe zu stellen ist. Meine Antwort, dass es in Fernost schon seit Jahrzehnten üblich ist, einen solchen Mund-Nasenschutz zu tragen, um sich selbst oder andere Menschen zu schützen,
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verfängt nicht. NN beharrt darauf, besser informiert zu sein. Einer der Keile, die unsere Gesellschaft spalten, hat auch unseren Freundeskreis getroffen. Gezielte Desinformationen durch anonyme Influencer werden ungeprüft von „Querdenkern“ verbreitet. Ein Beispiel: Im Herbst erhalte ich von NN eine Liste, die angeblich vom Robert-Koch-Institut stammt und die Ungefährlichkeit des Virus beweisen soll. Sie vergleicht die Häufigkeit verschiedener Todesursachen. Hiernach kam es durch Covid-19 nur zu 427 Todesfällen in vier Monaten, also zu weniger als vier pro Tag. Als Stichtag ist der 20.09. angeführt. Ich stelle fest, dass genau der Zeitraum im Sommer mit den wenigsten Todesfällen herausgegriffen wurde. Zum jetzigen Zeitpunkt aber, wo die Grafik verbreitet wird, ist die Zahl bereits auf über 400 täglich(!) gestiegen. Das wird verschwiegen. Und die RKI-Signatur ist gefälscht; denn das Institut hatte für diese Zeit noch keine vergleichenden Todesursachen veröffentlicht. Im Dezember steigt die Zahl der Corona-Toten weiter. Erst jetzt sagen Querdenker-Organisatoren, als manche ihrer Mitstreiter selbst vom Virus befallen und auf der Intensivstation sind, weitere Demonstrationen ab. Ende des Jahres liegt die Zahl der Toten bei ca. 1000 täglich, die Krankheit zählt zu den drei häufigsten Todesursachen. Doch die Desinformationskampagnen im Internet gehen weiter. Ein Bekannter von mir berichtet von einem Afghanen, mit dem er zusammengearbeitet hat. Dieser steckte sich mit Covid-19 an. Er glaubte an die Fake News, die ihn darüber „informiert“ hatten, dass im Krankenhaus alle Ausländer eine Todesspritze bekommen. Deshalb blieb er zuhause – und starb.
35 Lassen sich Fake News erkennen? Anders gefragt: Wie ist es möglich, in der Flut von Desinformationen, denen wir gegenwärtig ausgesetzt sind, Orientierung zu behalten? Jeder ist auf verlässliche Informationen angewiesen, besonders in einer Situation voller Ungewissheiten und Gefährdungen wie während der Corona-Pandemie. Umso dramatischer ist die Wirkung von gezielten Falschmeldungen, die unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit mithilfe der neuen Medien massenhaft gestreut werden. Manche politischen Kräfte sehen hier eine Chance, destabilisierend und spalterisch auf die demokratischen Gesellschaften Einfluss zu nehmen. Angriffsflächen für das soziale Virus bietet die ohnehin schwierige Situation, die durch das biologische Virus geschaffen wurde, genug. So schnell wurde noch nie ein Impfstoff entwickelt, obwohl auch jetzt, gegen Covid-19, für alle Vakzine weltweit alle drei von der WHO vorgeschriebenen Testphasen durchlaufen werden. In Deutschland freut man sich, dass von über 200 Entwicklungen weltweit der erste westliche Impfstoff hierzulande von Biontech entwickelt wurde. In den USA und in Israel wird er längst angewandt, als er Ende 2020 endlich auch in Europa zugelassen wird. Doch 326
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Lassen sich Fake News erkennen?
Ungeschicklichkeiten in der Beschaffungsstrategie der EU führen hier zu einem Mangel an Impfstoff und lassen Hoffnungen auf baldige Hilfe platzen. Zu allem Überfluss tauchen Mutanten des Erregers auf, die noch ansteckender sind und auch bei Jüngeren schwere Krankheitssymptome erzeugen. Es gibt keine Impfpflicht, man hofft auf Freiwilligkeit und eine Quote von 70–80 %, bei der Herdenimmunität erwartet wird. Prompt wenden sich die Desinformationskampagnen verstärkt gegen das Impfen. Grundlos wird behauptet, der Impfstoff mache unfruchtbar und verändere die DNA. Die Kampagnen zeigen Wirkung und verstärken das gesunde Misstrauen gegenüber der neuartigen Substanz. Während weltweit die Impfbereitschaft hoch ist, ist sie in Europa niedrig und bremst das Zustandekommen einer Gemeinschaftsimmunität aus. Tatsächlich gibt es Impfrisiken, doch sie werden in Häufigkeit und Schwere von Schäden durch eine Corona-Infektion übertroffen. Im März 2021 wird die Situation verschärft dadurch, dass das Vakzin von AstraZeneca in Einzelfällen tödliche Blutgerinnsel hervorgerufen hat und deshalb in mehreren Ländern, auch in Deutschland, ausgesetzt wird. Die Desinformationskampagnen nutzen einen strategischen Vorteil: Sie erzeugen Angst vor den Impfstoffen durch die Verbreitung von Behauptungen über Impfschäden, die nicht mit absoluter Sicherheit zu widerlegen sind. Denn es sind zwar zigtausende von Tests durchgeführt worden, doch es gibt keine jahrelangen Langzeitstudien, die bisher bei Impfstoffen üblich waren. Auch rächt sich die jahrelange Polemik gegen die Gentechnik, die nicht zuletzt von den Grünen betrieben worden ist, die seit 2021 in der Bundesregierung sitzen und nun für die Impfung werben. Es wundert nicht, dass mangelhaft Informierte sich dagegen wehren, gentechnisch hergestelltes „Giftzeug“ eingespritzt zu bekommen. Gegen die Behauptung der Gefährlichkeit sind sachliche Detailinformationen notwendig, die wiederum die Bereitschaft und die Fähigkeit erfordern, sich damit auseinanderzusetzen. Es wird Messenger-RNA synthetisiert und verimpft, also ein Material, das den Genen als Botenstoff dient. Diese mRNA erzeugt Kopien bestimmter Oberflächenmerkmale des Covid-19-Virus, nicht seines Genmaterials. Das Immunsystem des Menschen wird dadurch angeregt, Abwehrmaßnahmen zu erzeugen, die sich im Falle einer Infektion gegen das Virus richten. Das Verfahren ist neu, Viele nehmen eine abwartende Haltung ein. Diese wird unterstützt durch die Neigung des Menschen, im Konfliktfall lieber nichts zu tun als aktiv zu werden. Klaus Cichutek, Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, macht in der wissenschaftsüblichen Diktion deutlich: Befürchtungen, das Erbmaterial des Menschen könne verändert werden, „entsprechen nicht dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand“.223 Solche vorsichtigen Formulierungen nehmen „Querdenker“ und Verschwörungstheoretiker gern als Steilvorlage für den Vorwurf, die Wissenschaft wisse selbst nicht mit Sicherheit zu sagen, was richtig ist. Diese Aussage stimmt, aber sie stimmt grundsätzlich, weil die Wissenschaft gelernt hat, dass sie keine endgültigen Aussagen treffen kann. Wissenschaftlich nicht 327
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begründete Aussagen sind aber keinesfalls besser, sondern schlechter; das wird von vielen nicht erkannt. Wissenschaft denkt und argumentiert in Wahrscheinlichkeiten und nicht in absoluten Wahrheiten. So ergeben sich Risiken, die ehrlicherweise benannt werden, weil in der Wissenschaft einer dem anderen auf die Finger schaut. Das macht sie stark gegenüber pseudowissenschaftlichen Behauptungen. „Die Antworten der Wissenschaft sind also nicht deshalb vertrauenswürdig, weil sie endgültig, sondern weil sie die besten sind, über die wir im Augenblick verfügen.“224 Michael Springer schreibt: „Mit Facebook, Twitter und Co entsteht eine kompakte Gegenöffentlichkeit, die tendenziell ihre eigene Wirklichkeit erzeugt.“225 Dem Mediziner und Moderator Eckart von Hirschhausen vergeht sein bekannter Humor, als er sich mit Impfgegnern auseinandersetzt: „Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.“226 Tucker Carlson, bekannter Moderator von Fox News, behauptet, die Impfstoffe machen impotent. 2021 gibt er zu, die Zuschauer belogen zu haben. 2022 macht er stattdessen Propaganda für Putins Krieg in der Ukraine. Der beliebte US-Radiomoderator Phil Valentine warnte seine zahlreichen Hörer davor, sich impfen zu lassen. Zu spät ändert er seine Meinung und beginnt, dafür zu werben, als er 2021 selbst an Covid-19 erkrankt und stirbt. Cirsten Weldon, prominentes Mitglied der QAnon-Bewegung in den USA, Corona-Leugnerin und Impfgegnerin, stirbt 2022 an Corona, ebenso Robin Fransman, prominenter Impfgegner in den Niederlanden. Politik und Medien klagen hilflos über die Realitätsverweigerer. Ende 2021 müssen in Deutschland aus Bundesländern, in denen tausende Unbelehrbare gegen Schutzmaßnahmen und Impfen protestieren, aus überlasteten Kliniken schwerst Coronakranke in andere Länder geflogen werden, wo Kapazitäten nur deshalb noch bestehen, weil dringende Operationen wegen der Coronalage verschoben werden. Vormals habe ich wie manch anderer geglaubt, dass sich letztlich immer das Bessere durchsetzen wird, so auch das wissenschaftlich gut Begründete gegen das schlecht oder gar nicht Begründete. Mit den Jahren habe ich diesen Glauben verloren. Das gut Begründete hat in der Öffentlichkeit keinen Bonus, der dafür sorgt, dass es zur Mehrheitsmeinung wird. Es muss auch gut und entschieden vertreten werden. Die Wissenschaft darf sich nicht auf der Gewissheit ausruhen, Recht zu haben. Mühsame Überzeugungsarbeit ist notwendig, denn „alternative Fakten“ sind keine Satire, sondern oft bewusst gestreute Falschmeldungen, an die viele glauben und nach denen sie zunehmend radikaler handeln. Im September 2021 wird im Vogtland ein Brandanschlag auf ein Impfzentrum verübt, in Idar-Oberstein erschießt ein Mitglied der Querdenker-Szene einen Tankstellenwärter, weil dieser ihn an das Aufsetzen der Schutzmaske erinnert. Manche leugnen ihre Corona-Erkrankung noch auf der Intensivstation bis zum Tod. In den Medien ist oft von „Verschwörungstheorien“ die Rede. Diese Bezeichnung ist nicht angemessen, weil sie dem Gemeinten wissenschaftlichen Rang verleiht und es damit unterstützt. Eine Theorie ist ein wissenschaftlich begründetes System von Aussagen, das für bestimmte 328
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Aspekte der Realität Erklärungen und Voraussagen anbietet. Sie geht Hand in Hand mit der Empirie, also der systematischen und möglichst vorurteilslosen Beobachtung. An ihr misst sich die Tragfähigkeit der Theorie und die Frage, wie weit sie valide ist. Von diesen Ansprüchen sind Verschwörungserzählungen weit entfernt. Es handelt sich bei ihnen um keine Theorie, sondern um eine suggestive Botschaft. Katharina Nocun und Pia Lamberty, die sich als Bürgerrechtlerin bzw. als Psychologin eingehend mit dem Thema beschäftigt haben, definieren: „Eine Verschwörungserzählung ist eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen.“227 Gehen wir wie diese Autorinnen zunächst der Frage nach, warum viele Menschen so empfänglich für Verschwörungserzählungen sind und Fake News für bare Münze nehmen. Viele Menschen wünschen sich einfache und klare Antworten auf ihre Fragen und Probleme. Populisten und Verschwörungserzählungen bedienen dieses Bedürfnis und finden dadurch Anhänger. Themen wie die Corona-Pandemie oder der Umweltschutz sind aber komplex. Sie haben dazu geführt, dass wissenschaftliche Probleme verstärkt in die Öffentlichkeit getragen werden. Das ist sowohl für viele Wissenschaftler wie für das breite Publikum eine Herausforderung. Nicht jeder Wissenschaftler versteht außerhalb seines Fachgebiets gekonnt zu kommunizieren und verfügt auch nicht immer über die Resilienz, den Stress von Anfeindungen zu ertragen. Und nicht jeder Bürger ist hinreichend gerüstet, wissenschaftlich mitzudenken und Einsichten in verantwortliches Handeln umzusetzen. Vor allem informiert sich nicht jeder an geeigneter Stelle, sondern vor allem dort, wo er seine eigenen Vermutungen bestätigt sieht (Confirmation Bias = Bestätigungsfehler). Dies geschah vormals in realen Zirkeln von Gleichgesinnten, heute vor allem auf den Foren des Internets. Besonders in unsicheren Situationen übernimmt man gern die Meinung der Gruppe bzw. sucht das Forum auf, das die eigene Meinung bestätigt. Innerhalb einer solchen Gruppe findet oft zunächst ein Meinungsaustausch statt. Häufig entwickelt sich dann aber eine Filterblase mit der Tendenz zur Radikalisierung. Gleich, ob richtig oder falsch – wie in einer Echokammer kommt die eigene Meinung verstärkend zurück und wird zur festen Überzeugung. Zweifel und Widersprüche werden nicht mehr zugelassen, entsprechende Mitglieder werden gemobbt oder ausgeschlossen. In jüngster Zeit geht nicht selten die Radikalisierung so weit, dass Mitglieder das bisherige Leben aufkündigen oder sogar zu Gewalttaten bereit sind. Das Mitglied einer UFO-Sekte, die zum vorhergesagten Zeitpunkt vergeblich auf das rettende Raumschiff wartete, verlor nicht etwa den Glauben an die Aliens, sondern fühlte sich bestätigt, weiter warten zu müssen. „Ich habe alles aufgegeben. Ich habe jede Verbindung gekappt. Ich habe jede Brücke hinter mir niedergebrannt. Ich habe der Welt den Rücken gekehrt. Ich kann es mir nicht leisten zu zweifeln. Ich muss glauben.“228 Dieses Verhalten zeigen viele Menschen, die sich einer extrem orientierten Gruppe angeschlossen haben und keine Möglichkeit 329
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sehen, auszusteigen. Der soziale Druck und die Perspektivlosigkeit außerhalb der Gruppe sind zu stark und münden in ein „I want to believe“, auch wenn alles Übrige dagegenspricht.
Abb. 124: Optisches Äquivalent einer Echokammer: Das fahle Gelb der Kartonpyramide steigert sich im Innern durch die Reflektion an den Wänden zu einem intensiven Orange. Der Sozialpsychologe Leon Festinger, der sich zum Schein der UFO-Sekte angeschlossen hatte, prägte 1978 den Begriff der „kognitiven Dissonanz“. Damit ist ein als unangenehm empfundener Widerspruch zwischen verschiedenen Kognitionen gemeint, etwa zwischen einer Überzeugung und einer damit unvereinbaren Information.229 Solche Dissonanzen werden entweder dadurch gelöst, dass die bisherige Einstellung geändert wird, nicht selten aber auch dadurch, dass die neue Information abgewertet, verleugnet oder verdrängt wird. Ich stand längere Zeit in Kontakt mit einem Evolutionsbiologen, der, wie ich später erfuhr, parallel als bibeltreuer Kreationist tätig war. Eine Zeitlang suchte er den Widerspruch dadurch zu lösen, dass er das erste beruflich und das zweite außerberuflich realisierte. Schließlich aber gab er seine berufliche Stellung auf und widmete sich fortan ganz der Verkündigung des Kreationismus. Verleugnung und Verdrängung sind Begriffe, die lange Zeit durch die Psychoanalyse besetzt waren. Sie gehören dort zu den psychologischen Abwehrmechanismen „gegen peinliche oder unerträgliche Vorstellungen und Affekte“, die von Sigmund Freud und seiner Tochter Anna beschrieben wurden.230 Dabei geht es um Konflikte zwischen dem Über-Ich (das etwa dem „Gewissen“ entspricht) und dem Es (das als Hort verdrängter Triebansprüche verstanden wird). Hierbei handelt es sich um ein innerpsychisches Geschehen, das die klassische Psychoanalyse auf den Ödipuskomplex und andere unbewältigte sexuelle Probleme frühkindlichen Ursprungs zurückführt, was hier nicht weiter diskutiert werden soll. Verleugnung und Verdrängung treffen auch über den psychoanalytischen Rahmen hinaus auf eine Form der Konfliktbewältigung zu, bei denen wahrgenommene Informationen mit eigenen Überzeugungen in Widerspruch geraten oder die Fähigkeit zur Problembewältigung überfordert ist. Beim „Coping“, der Auseinandersetzung eines Menschen mit belastenden Situationen, werden realitätsangepasste und realitätsverzerrende Bewältigungsstrategien unterschieden. Verleugnung gehört zu letzteren. Dabei wird die Realität soweit negiert oder verharmlost, dass sie 330
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ihren bedrohlichen Charakter subjektiv verliert. Der Volksmund spricht von „Vogel-StraußStrategie“ gemäß der (irrigen) Annahme, dass der Strauß bei Gefahr den Kopf in den Sand steckt. Tatsächlich halten sich kleine Kinder in belastenden Situationen oft spontan die Augen zu nach dem Muster „nicht gesehen, nicht geschehen“. Verleugnung als wenig tauglicher Selbstschutz ist aber auch bei Erwachsenen zu finden. Im Jahr 2000 behauptete aufgrund von „Informationen“ im Internet Thabo Mbeki, Präsident von Südafrika, Aids werde nicht durch Viren hervorgerufen, sondern durch Armut, daher seien Medikamente nutzlos. Ihre Ablehnung durch die Regierung hatte den Tod von über 330 000 Menschen zur Folge.231 Der Präsident Tansanias erklärt im Januar 2021, als in Amerika und Europa die Corona-Infektionen auf Rekordhöhen liegen, die Pandemie sei beendet. Touristen dürfen ohne jede Schutzmaßnahme ins Land und auf die vorgelagerte Insel Sansibar. Erst, als der Vizepräsident von Sansibar an Corona stirbt, korrigiert Tansania den Kurs. Donald Trump spielte als US-Präsident die Gefahr von Covid-19 solange herunter, bis es zu spät war und die USA zu dem Land mit den höchsten Infektionszahlen wurde. Auch der brasilianische Präsident Bolsonaro nahm das Virus und die Warnungen der Wissenschaftler nicht ernst, wollte das Amazonasbecken in Ackerland verwandeln und hatte für die indigenen Völker wie die isoliert lebenden Korubo nichts übrig. Da bei ihnen das Immunsystem schwach ist und Covid-19 oft tödlich verläuft, wurde schon von Genozid gesprochen.232 Wer das „Nicht-wahr-haben-Wollen“ trotz aller Offensichtlichkeit der Fakten als seltene psychische Störung abtut, irrt sich. Als Student hielt ich Verleugnung für einen in Zusammenhang mit Neurosen gebräuchlichen Begriff und fand ihn faszinierend, von dem ich mir aber nicht vorstellen konnte, dass er auf psychisch gesunde Menschen zutreffen könnte. Erschüttert wurde meine Einschätzung, als ich sah, wie beratungsresistent Raucher sein können – auch ich selbst (s. Kap. 23). Auch bei gebildeten Rauchern ist mit Abwehrmechanismen zu rechnen. Vielleicht haben Sie selbst solche Erfahrungen oder Beobachtungen gemacht. Da scheinen auch alle von der Forschung längst gefundenen Zusammenhänge mit Lungen- und Kehlkopfkrebs nicht zu helfen. Aufdrucke wie „Rauchen ist tödlich“ auf Zigarettenschachteln sind so gut wie wirkungslos. Effektvoller wären, wie Studien ergaben, solche Aufdrucke auf den Zigaretten selbst. Sie in den Mund zu nehmen ist offenbar widerlicher als sie aus einer entsprechend bedruckten Schachtel zu nehmen. Die Fehlbewältigung kognitiver Dissonanz ist durch bloße Faktenbeschreibung nicht aufzulösen, die Hartnäckigkeit von Überzeugungen und Gewohnheiten ist zu stark. Gegenstrategien müssen stärker sein als schlichte Sachinformationen, vor denen viele die Augen verschließen. Wir möchten gern voraussetzen können, dass der Normalbürger über hinreichende Informationen zu einem Thema verfügt und sie rational gegeneinander abwägt. Stattdessen müssen wir davon ausgehen, dass der Mensch nicht nur eine begrenzte Aufnahmekapazität hat, sondern auch eine begrenzte Aufnahmebereitschaft. Diese wird nicht unwesentlich durch frühe 331
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Prägungen vorbestimmt, manchmal durch Falschinformationen, deren Wirkung schwer zu korrigieren ist. Verschwörungserzählungen haben ein verführerisches Potential. Sie sind provokant und oft interessanter als das, was man gewöhnlich hört, und wecken von daher schon Aufmerksamkeit, die sich naturgemäß dem Neuartigen zuwendet. Sie wecken Verblüffung, wenn man sie weitererzählt, und garantieren die Zuwendung einer neugierigen, wenn auch oft skeptischen Zuhörerschaft. Sie machen ihren Kenner zum Eingeweihten und erheben ihn damit über die „Schlafschafe“, wie die Ahnungslosen gern betitelt werden. Das Selbstgefühl erfährt eine Aufwertung, die man ungern wieder aufgibt, es sei denn, es gelingt einem selbst, die Unrichtigkeit der Behauptungen aufzudecken. Wer an eine Verschwörungserzählung glaubt, ist auch empfänglich für weitere. Das kann so weit gehen, dass man an Erzählungen glaubt, die sich gegenseitig logisch ausschließen. „Ein Forschungsteam aus Großbritannien konnte 2012 zeigen: Wer glaubt, Prinzessin Diana sei vom britischen Geheimdienst umgebracht worden, geht paradoxerweise auch eher davon aus, dass sie noch lebt.“233 Verschwörungsgläubige werden oft als krank angesehen. Zwar gibt es eine positive Korrelation zwischen Verschwörungsglauben und Paranoia. Doch gibt es einen Unterschied: Paranoide Menschen leben in ständiger Angst, persönlich verfolgt zu werden, während Verschwörungsgläubige meinen, dass geheime Mächte die Menschheit bedrohen. Untersuchungen zufolge ist davon auszugehen, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung die Neigung hat, Verschwörungserzählungen zuzustimmen. Die neuen Medien haben an diesem Anteil nicht viel geändert, wohl aber an der Geschwindigkeit der Verbreitung von neuen Erzählungen.234 2022 gibt es in Deutschland einen harten Kern, der den öffentlichen Medien und der Regierung weniger glaubt als gewissen Quellen aus dem Internet. Der Neuropsychologe Gerhard Roth beziffert den Anteil in der Bevölkerung, der durch vernünftige Argumente nicht zu erreichen ist und archaischen Abwehrreflexen folgt, auf 10 bis 15 %.235 Wenden wir uns Art und Ursprüngen von Fake News und Verschwörungserzählungen zu. Zugrunde gelegt werden dabei außer der Monographie von Nocun & Lamberti auch Recherchen des Physikers und Management-Beraters Holm Gero Hümmler236, des stellvertretenden ZDF-Chefredakteurs Elmar Thevessen237, der international tätigen Extremismusberaterin Julia Ebner238 und des Journalisten und ARD-Faktenfinders Patrick Gensing239. Bekannte Verschwörungserzählungen sind, dass die Mondlandung 1969 nur in einem Filmstudio stattgefunden hat, dass die Anschläge vom 11.09.2001 von der US-Regierung angestiftet wurden oder dass die Kondensstreifen von Flugzeugen Chemtrails aus versprühtem Gift seien. Dank der Verbreitung durch YouTube und andere Internetforen glauben mehr Menschen als im Mittelalter, dass die Erde eine Scheibe ist. Satellitenbilder werden für Fakes gehalten. Zusammen mit dem Hinweis, dass man der Lügenpresse nicht trauen dürfe, entfalten solche 332
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Verschwörungserzählungen ihre eigentliche Wirkung: den grundsätzlichen Vertrauensverlust gegenüber den öffentlichen Medien. Nur manche dieser Erzählungen sind witzig, so etwa die „Bielefeld-Verschwörung“. Der Informatiker Achim Held stellte 1994 die Behauptung ins Netz, dass Bielefeld nicht existiert, und wollte damit Verschwörungserzählungen lächerlich machen. Tatsächlich breitete sich sein Plot aus mit der Folge, dass bis heute viele daran glauben. Die Stadtverwaltung nahm es mit Humor. Sie setzte eine Million Euro aus für denjenigen, der beweist, dass es ihre Stadt tatsächlich nicht gibt.
Abb. 125, 126: In Verschwörungserzählungen werden Kondensstreifen oft als „Chemtrails“ bezeichnet, mit denen böse Mächte die Menschen vergiften wollen. Man könne sie daran erkennen, dass sie sich langsamer auflösen als normale Kondensstreifen. Fakt ist, dass Kondensstreifen dadurch entstehen, dass am Heck von Flugzeugen Wasserdampf der Atmosphäre durch Unterdruck abkühlt und zu Nebel kondensiert. Ist die Luft trocken, lösen sie sich in wenigen Sekunden auf. Ist sie feucht, verbreitern sie sich und können stundenlang bestehen bleiben. Das kann jeder durch eigene Beobachtung feststellen. Ein Großteil der Verschwörungserzählungen allerdings ist geeignet, die Gesundheit der Bevölkerung, die Umwelt, die Demokratie oder das Vertrauen in die staatlichen Institutionen zu gefährden. Hartnäckig hält sich bei Vielen gegen die Überzeugung von über 95 % der Wissenschaftler, dass der von Menschen mitverursachte Klimawandel eine Erfindung sei. Das Ölunternehmen Exxon ließ bereits 1982 eine Untersuchung durchführen, die ergab, dass bis 2019 eine Erderwärmung von 0,9° C zu erwarten sei. Es war schlimmer, der Wert wurde schon 2017 erreicht. Aber Exxon hielt die Ergebnisse zurück und beteiligte sich stattdessen weiter daran, Zweifel an der Klimaveränderung zu säen. Die Tabakindustrie der USA behauptete öffentlichkeitswirksam viele Jahre lang, die krebserregende Wirkung von Rauchen sei nicht erwiesen, als in der Wissenschaft darüber längst Konsens bestand. Mit sublimem Zynismus forcierte die Tabakindustrie die Beratungsresistenz der Raucher mit 333
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Plakaten, auf denen nichts zu lesen stand als „You decide“, was angesichts einer Sucht mehr als fraglich ist. Verschwörungserzählungen gibt es schon lange, und oft wurden dabei Juden zur Zielscheibe. Während der Kreuzzüge wurde ihnen Kollaboration mit Muslimen und dem Teufel unterstellt. Im 14. Jahrhundert wütete in Europa die Pest und forderte ca. 25 Millionen Tote. Die Schuld wurde den Juden gegeben, die angeblich die Brunnen vergiftet hätten, sie wurden zu tausenden ermordet. Anfang des 19. Jahrhunderts erschien in Russland eine Schrift über eine fiktive jüdische Weltverschwörung: die Protokolle der Weisen von Zion. Goebbels selbst hielt die Schrift für eine Fälschung, instrumentalisierte sie aber trotzdem für die NS-Propaganda. Die Behauptung eines Zangenangriffs durch amerikanischen Kapitalismus und sowjetischen Kommunismus, für die Hitler und Goebbels das Weltjudentum verantwortlich machten, führte zu den massenhaften Judenvernichtungen im 3. Reich. Noch einen Tag vor seinem Suizid hetzte Hitler schriftlich gegen die Juden als Weltvergifter. In jüngster Zeit bezeichnete ein Vertreter der AfD die Protokolle der Weisen von Zion als „Mitschrift einer Geheimtagung“. Antisemitische Hetze hat in erschreckendem Maße wieder zugenommen und führt zu Gewalttaten wie 2018, als in Pittsburgh ein Rechtsextremist elf Menschen tötete, oder 2019, als in Halle ein Attentäter eine Synagoge stürmen wollte und zwei Menschen erschoss.
Abb. 127: Geschichtsfälschungen haben eine lange Tradition. Im alten Ägypten wurden wiederholt Namen und Bildnisse ehemaliger Herrscher ausgelöscht. Dieses Relief am Tempel von Dendera stellt Caesarion dar, den gemeinsamen Sohn von Kleopatra und Caesar und letzten Pharao – bis zur Unkenntlichkeit zerhackt. Manche Historiker interpretieren den gesamten Leninismus als Verschwörungsideologie insofern, als er auf der Behauptung basiert, der Erste Weltkrieg sei eine Folge der imperialistischen Verschwörung von Agenten des Monopolkapitals. Im Stalinismus dienten 334
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Verschwörungserzählungen zur Herrschaftslegitimation. Unter der Folter „gestanden“ Altbolschewiken und Offiziere die Kollaboration mit ausländischen Mächten und Feinden Stalins. In den USA verbreitete sich nach der Ermordung von J. F. Kennedy die Verschwörungserzählung, der Mord sei das Ergebnis eines Komplotts aus CIA, Mafia und Militär. Oft handelt es sich bei Fake News und Verschwörungsmythen nicht um Irrtümer, sondern um bewusst gesetzte Irrlichter, die Verwirrung stiften sollen, um bestimmte politische Ziele zu erreichen. 2016 kommt es in Großbritannien zum Brexit-Referendum. Ein Ausschuss des britischen Unterhauses stellt 2018 fest, dass im Vorfeld eine große Rolle „Dark Ads“ bei Facebook gespielt hatten, wo mithilfe suggestiver Grafiken behauptet wurde, dass Großbritannien an Syrien und Irak grenze und von Flüchtlingen überrannt würde, solange es in der EU bleibe, und dass die Türkei eine Masseneinwanderung plane, wenn sie in die EU aufgenommen wird. Es wurde behauptet, dass Großbritannien pro Woche 350 Millionen Pfund bei einem Austritt sparen würde. Julian King, britischer Kommissar für Sicherheitsfragen in der EU, wirft der russischen Regierung vor, in Europa gezielt Falschmeldungen zu verbreiten: „Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass wir es gegenwärtig mit einer ausgeklügelten, sorgfältig orchestrierten regierungsgestützten Desinformationskampagne zu tun haben.“240 Um den Ursprung des Corona-Virus ranken sich besonders viele Mythen. Es sei eine Biowaffe aus den Labors der Chinesen, meinten viele Amerikaner. Die USA hätten das Virus produziert, um den Chinesen zu schaden, sagte das Außenministerium Chinas. Andere meinten, der jüdische Milliardär Soros wollte mit den Corona-Problemen Trump aus dem Amt jagen. In YouTube wurde behauptet, Bill Gates sei dafür verantwortlich, der schon vor Jahren eine Pandemie vorausgesagt hat. Im Netz wurde die Behauptung verbreitet, Covid-19 werde durch kein Virus, sondern durch G5-Antennen erzeugt. Im Iran gab es keine G5-Antennen, trotzdem grassierte Covid-19. Ajatollah Ali Chamenei vermutete, dass es sich um eine gegen den Iran gerichtete Biowaffe handelte. In Tunesien und Ägypten behaupteten islamische Geistliche, China werde wegen der Unterdrückung der Uiguren mit dem Virus bestraft. Der russisch-orthodoxe Erzbischof von Berlin deutete an, dass die Pandemie eine Strafe für Transsexualität und Abtreibungen sei. Manche fundamentalistische Christen sahen in der Pandemie einen Vorboten der Apokalypse. Der evangelikale Pastor Kunneman meinte, Gott werde die USA vor Covid-19 schützen, weil sie an der Seite von Israel stehen. Tatsächlich infizierten sich 2020 in keinem Land der Welt so viele Menschen an dem Virus wie in den USA. Zahlreich sind systematische Desinformationskampagnen aus dem Ausland, wobei China, Iran, Türkei und vor allem Russland genannt werden. Die türkische Regierung spielt die Gefahr des Virus herunter, was dazu führt, dass viele Türken in Deutschland die diesbezüglichen Regeln nicht akzeptieren. Die Deutsche Welle, für die Bundesrepublik ein wichtiges Informationsportal, stellt fest: „Im Sog der Angst vor dem Coronavirus hat sich längst eine andere Seuche ausgebreitet: die sogenannte „Infodemie“. Seit der Entdeckung des neuartigen 335
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Coronavirus sprießen Verschwörungserzählungen, Falschmeldungen und Gerüchte wie Pilze aus dem Boden.“ Peter Stano, Sprecher des Europäischen Auswärtigen Dienstes, sagt hierzu, Ziel sei es, die EU zu unterminieren und zu schwächen. Die Ablehnung der Hygieneregeln könne tödlich sein. Es werde Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem gesät, demokratische Institutionen als unfähig dargestellt. Falschmeldungen, der Mobilfunkstandard 5G löse Covid-19 aus, habe Vandalismus an Mobilfunkmasten in Belgien, Großbritannien und den Niederlanden ausgelöst. Die University of Oxford beschreibt eine führende Rolle staatlicher russischer Sender und Medien bei Verschwörungserzählungen rund um das Thema Corona in Französisch, Deutsch und Spanisch. Mehrere Nachrichtenseiten wie InfoRos und OneWorld. Press haben nach Erkenntnissen der US-Regierung ihre Quelle im russischen Militärgeheimdienst GFU.241
Abb. 128: Die Berliner Mauer. Am 13. August 1961 gab DDR-Staatsratschef Ulbricht mit Einverständnis der UdSSR den Befehl zum Bau der Berliner Mauer, nachdem er noch im Juni verkündet hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“. 28 Jahre lang trennte sie zusammen mit der innerdeutschen Grenze Deutsche von Deutschen. Die Grenzsoldaten der DDR hatten seitens des Politbüros den Befehl, Grenzverletzer festzunehmen oder zu „vernichten“. Zusätzlich wurden Selbstschussanlagen und Landminen verlegt. Bis 1989 gab es mehrere hundert Todesopfer. Laut DDR-Propaganda waren die Grenzsicherungen ein „antifaschistischer Schutzwall“. Diesseits und jenseits der Grenze wusste jeder, dass auch dies eine Lüge war. 2014 behauptete Putin gegenüber Angela Merkel, dass er nicht die Absicht habe, die Krim zu annektieren. Es geschah noch im gleichen Jahr. Anfang 2022 glaubten deutsche Spitzenpolitiker Putins Behauptung, bei den Truppenaufmärschen an der ukrainischen Grenze handele es sich nur um Übungen. Am 24.02.22 erfolgte der Einmarsch. 336
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Frühe Erfahrungen mit DDR-Propaganda Als Jugendlicher bekomme ich regelmäßig per Post Hefte aus der DDR. Sie klären mich über die Vorzüge des Sozialismus auf, loben die friedliebende Sowjetunion, geißeln den Kapitalismus im Westen und den Imperialismus der USA. Anhand von Tabellen und Bildern mit glücklichen Menschen werde ich darüber informiert, dass die Produktivität der DDR die der BRD längst eingeholt habe und dass im Sozialismus alle in Wohlstand leben. Im Innenteil der Propagandabroschüren wird der Leser mit Fotos nackter Mädchen bei Laune gehalten, erst in Schwarz-Weiß, später in Farbe. Ich bin 18, als ich wieder einmal in die DDR reise, um Verwandte und Bekannte zu besuchen. Von den Gebäuden blättert der Putz, die Luft ist geschwängert vom Geruch der Braunkohleheizungen. Überraschend erhalte ich von einem Ableger der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands SED postalisch die Einladung zu einem Gespräch. Bekannte raten mir ab, die Einladung anzunehmen, weil man mich für politische Zwecke anwerben könnte. Doch meine Eltern haben mir beigebracht, mir stets ein eigenes Urteil zu bilden und mich entsprechend zu informieren. Außerdem reizt mich in meinem jugendlichen Leichtsinn das Risiko. Die Höhle der Löwen entpuppt sich als nüchternes Bürogebäude, wo ich in einem spartanisch eingerichteten Raum von einem Funktionär empfangen werde. Wir warten noch eine Viertelstunde. Es seien, wie er sagt, sechs Gäste aus der BRD zu dem Gespräch geladen worden. Doch niemand sonst erscheint, und so kommt es unter einem Foto von Walter Ulbricht zu einem Vier-Augen-Gespräch. Eine dritte Person sitzt im Hintergrund und schreibt vermutlich Protokoll. Nach kurzem Geplänkel findet mein Gesprächspartner zur Sache. Er stellt die Errungenschaften der DDR und der UdSSR heraus und möchte wissen, wie ich zum Sozialismus stehe. Ich erzähle ihm von den Broschüren, die ich aus der DDR bekomme, und sage ihm, dass die dort enthaltenen Beschreibungen der BRD nicht stimmen und auch in Widerspruch stehen zu dem, was ich hier in der DDR sehe. Es sei mir aufgefallen, dass die Regale der Geschäfte teilweise leer seien. Wenn ich etwas kaufen will, heißt es, dass es Versorgungsengpässe gibt. In den Intershops dürfe nur mit Westgeld bezahlt werden, das DDR-Bürger nicht haben, deshalb sei mir peinlich, dort zu kaufen. Dann kommt er auf den Kapitalismus des Westens zu sprechen, von dem die arbeitende Bevölkerung geknechtet würde. Ich sage ihm, dass das eine verzerrte Darstellung der Verhältnisse sei. Im privatwirtschaftlichen System des Westens komme es selten zu Versorgungsengpässen, weil sich für jede Marktlücke ein Produzent findet, der sie schließt und selbst daran verdienen kann. In der Bundesrepublik herrsche nicht der von Marx kritisierte Manchester-Kapitalismus, vielmehr sei von Ludwig Erhard die soziale Marktwirtschaft aufgebaut worden. Sie habe dazu beigetragen, dass in der Nachkriegszeit eine
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Die zweite Entstehung der Welt Entwicklung stattgefunden hat, die als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wird. Ich könne nicht sehen, dass das System der DDR entsprechend erfolgreich sei, wie es in den Propagandabroschüren behauptet wird. Der Funktionär wechselt das Thema und spricht vom Imperialismus Amerikas, der Aggressivität der NATO und dem Revanchismus der Nationalisten in der BRD. Er fragt mich, wie ich unter diesen Umständen zur Wehrpflicht stehe. Ich sage ihm, dass in der Nachkriegszeit die USA Westdeutschland mit dem Marshallplan sehr geholfen haben, auch mit der Luftbrücke nach Westberlin während der sowjetischen Blockade, bei der die UdSSR sich alles andere als menschenfreundlich gezeigt habe. An dieser Stelle bricht er das Gespräch ab. Er resümiert, dass es wenig Sinn hätte, wenn wir weiter in Verbindung blieben. Sofern er die Hoffnung hatte, mich im Operationsgebiet BRD zu einem Inoffiziellen Mitarbeiter IM zu machen, habe ich ihn wohl enttäuscht. In der Folgezeit bekomme ich keine Broschüren mit DDR-Propaganda und nackten Mädchen mehr. Das habe ich nun davon. Mir ist klar, dass auch die Amis nicht aus lauter Nächstenliebe handeln. Aber ich lasse mir kein X für ein U vormachen.
Zu Zeiten der Sowjetunion und der DDR wurde versucht, im Westen ein sozialistisches bzw. kommunistisches Gesellschaftsmodell zu propagieren. Die Strategie hat sich in Russland nach dem Perestroika-Intermezzo geändert. „Statt den Glauben an einen kommunistisch geprägten Fortschritt zu propagieren, versuchen Desinformationskampagnen von heute das Vertrauen in eine rationale Problemlösung zu unterminieren,“ sagt der Medienanalytiker Andrej Achangelskij. Es sei nicht nur ein Versuch, Demokratien in Misskredit zu bringen, sondern auch, „sich an den Demokratien für das Scheitern des sowjetischen Projekts zu rächen.“ Dieses Motiv mache vieles verständlicher.242 Es wird keine Botschaft vermittelt, sondern Destabilisierung angestrebt, indem durch Falschinformationen Verwirrung gestiftet und das Vertrauen in die öffentlichen Medien erschüttert wird, analysiert der Politikwissenschaftler Helmut König, der das Phänomen der systematischen Lüge politisch und psychologisch untersucht und erklärt.243 US-Geheimdienste kommen zu dem Ergebnis, dass im Wahlkampf 2016 Hillary Clinton durch Tweets diskreditiert werden sollte, um Donald Trump zu helfen. Wladimir Putin, vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Dresden Verbindungsoffizier zwischen KGB und Stasi, jetzt Präsident der Russischen Föderation, verspräche sich davon Vorteile. Ein Bericht des US-Senats von 2020 belegt, wie leicht Russland auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf Einfluss nehmen konnte. Patrick Gensing vermutet eine Manipulationsstrategie Russlands nach dem Macchiavelli zugeschriebenen Schlagwort „teile und herrsche“. Die staatliche Troll-Fabrik IRA in St. Petersburg soll zum Hauptziel haben, Konflikte in den USA anzuheizen, z. B. durch gleichzeitig geschaltete Facebook-Anzeigen für und gegen die „Black Lives Matter“-Bewegung.244 Auch 2020 mischt sich laut dpa nach Aussage des FBI-Chefs Christopher Wray Russland aktiv in den Präsidentschaftswahlkampf ein und sät „Spaltung und 338
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Zwietracht“. Zur Strategie gehört, dass alle glauben sollen, die Spaltungen seien rein systemimmanent entstanden. Joe Biden erklärt, dass Putin wisse, dass er für die Einmischung in USAngelegenheiten werde bezahlen müssen.245 Die deutsche Bundesregierung vermeidet fruchtlose Vorwürfe gegenüber Russland. Doch als nach einem Hackerangriff mit Trojanern auf Computer des Bundestags und der Kanzlerin 2015 sich die Anzeichen verdichten, dass das Hackerkollektiv APT28 des russischen Militärgeheimdienstes GRU dafür verantwortlich ist, wird Angela Merkel deutlich. Sie kritisiert die „hybride Kriegsführung“ Russlands und beklagt die Störung einer vertrauensvollen Zusammenarbeit.246 Im September 2021, kurz vor den Bundestagswahlen, fordert die Bundesregierung von Russland die Beendigung erneuter Cyberatacken.247 Zur gleichen Zeit löscht YouTube zwei Kanäle des deutschen Ablegers des russischen Staatssenders RT wegen Falschinformationen über Covid-19. In einem Bericht von März 2021 listet die EU seit 2015 700 Desinformationskampagnen Russlands gegen Deutschland als dem Hauptziel in der EU auf. Spätestens seit 2021 nutzt auch China verstärkt die sozialen Medien, um Desinformationen und Verunsicherung z. B. gegenüber westlichen Impfmaßnahmen zu streuen.248 Z. B. wird fälschlich behauptet, dass der Biontech-Impfstoff Todesfälle erzeugt habe, die verheimlicht würden. Tatsächlich werden im Westen alle fraglichen Todesfälle öffentlich diskutiert. Demgegenüber werden in China Whistleblower drangsaliert wie der 34-jährige Arzt Li Wenliang, der dort als erster vor der Ausbreitung des Virus warnte und bald darauf selbst an den Folgen der Infektion verstarb. Zugleich schottet China durch den „Großen Firewall“ seine eigene Bevölkerung von internationalen Informationsflüssen ab. Der Missbrauch des Internets zur Meinungsmanipulation durch äußere und innere Kräfte hat eine gefährliche Eigendynamik entwickelt. In Zusammenhang mit der Gefährdung der USA durch Donald Trump misst Elmar Thevessen den neuen Medien eine ausschlaggebende Rolle zu: „Nie waren die Möglichkeiten zur Manipulation der öffentlichen Meinung so groß wie heute. Es ist die größte Bedrohung für unsere Demokratie. Auch Donald Trump verfügt über eine ganze Armee von Trollen, die – wenn auch nicht in seinem Auftrag, so doch zumindest in seinem Sinne und mit seinem Segen – die Lügen des Präsidenten so tief in die Seele des Volkes einreiben, dass die Menschen sie für wahr halten.“249 Ohne sachgerechte Informationen, die die Bevölkerung erreichen, ist Demokratie nicht möglich. Die Desinformationen, auch aus manchen TV-Kanälen, zeigen Wirkung. Vorläufiger Höhepunkt ist die Erstürmung des Capitols in Washington. Von November 2020 an hat Trump unablässig seine Behauptung, ihm sei die Wahl gestohlen worden, wiederholt. Seine frustrierten Anhänger marschieren zum Capitol, wo am 06.01.2021 die Wahl Bidens ratifiziert werden soll. Dass Frustration Aggression hervorruft, ist seit 80 Jahren bekannt und wird in Auseinandersetzungen weltweit instrumentalisiert. Es war daher abzusehen, dass jetzt die Trump-Anhänger, 339
Die zweite Entstehung der Welt
die Biden nicht als legitimen Präsidenten anerkennen, das Gebäude gewaltsam stürmen. Es kommt zu fünf Toten. Erst jetzt sperren Twitter, Facebook und Instagram Trumps Konten, um nicht weiteren seiner Lügen, die die Demokratie gefährden, Raum zu geben. Die Gefahr eines Bürgerkriegs hängt in der Luft. Die Demokraten strengen gegen Trump ein verspätetes Impeachmentverfahren an. Dafür stimmt im Senat eine Mehrheit von 57 zu 43 Stimmen, doch die erforderliche 2/3-Mehrheit wird verfehlt. Trump feiert das als Erfolg und verspricht seinen Anhängern, die Bewegung fange jetzt erst an. Als starker Multiplikator von Fake News und Verschwörungserzählungen gelten in den USA nicht nur die neuen Medien, sondern auch manche Fernsehsender, allen voran Fox News des Medienmoguls Rupert Murdoch. Der Sender nannte Trump ein „Geschenk Gottes“, entwickelte sich zu dessen „Haussender“ und unterstützte seinen Vorwurf, die Wahl 2020 sei ihm gestohlen worden. Seit Trumps Niederlage haben sich 2021 die Einschaltquoten halbiert. Außerdem stehen dem Sender wegen der verbreiteten Lügen erstmals Schadenersatzklagen in Milliardenhöhe ins Haus, und zwar seitens der Hersteller von elektronischen Wahlmaschinen. Daraufhin haben Fox News ihr Narrativ geändert. Inzwischen füllen andere Sender die Lücke. Dass schlechte oder polarisierende Nachrichten mit Empörungspotential gute Nachrichten sind, gilt für viele Medien als unverhohlener Leitsatz. Einst gab es für die TV-Sender der USA eine Fairness-Klausel, die aber 1987 mit dem Hinweis auf freie Meinungsäußerung abgeschafft wurde.250 Julia Ebner, die persönlich und digital in Netzwerken recherchiert hat, resümiert: „Facebook versprach im Jahr 2004, ‚die Menschen zusammenzubringen‘. Die Plattform eröffnete neue Möglichkeiten, mit anderen in Verbindung zu treten und zu einem Netzwerk dazuzugehören. Aber genau damit trieb Facebook auch einen Keil zwischen die Menschen. Die Architektur der Plattform verstärkt bei Usern ein tribalistisches Denken, d. h., es befördert eine ‚Wir gegen die‘-Haltung, die Gruppen gegeneinander aufhetzt. Es generiert künstliche Bindungen und ermuntert zu Hate speech, zum Ausschluss, zur Diskriminierung, zur Denunzierung oder zur Bestrafung derjenigen, die nicht dazugehören. ‚Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel‘, notiert Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse.“251 Was ist angesichts der „Infodemie“ über soziale Netzwerke zu tun, die für jeden Einzelnen tiefgreifende Verzerrungen eines realistischen Weltbildes und für die Demokratien der Welt die stärkste Bedrohung darstellt? 2018 sagt der britische Kommissar Julian King, die beste Verteidigung gegen Desinformation sei es, „sie zu entlarven und dafür zu sorgen, dass die Menschen mit einem kritischen Verstand gerüstet seien, um Glaubwürdiges von Erlogenem zu unterscheiden.“252 Peter Stano als Sprecher des Europäischen Auswärtigen Dienstes empfiehlt: „Ein Weg, die Verbreitung von Desinformation zu bekämpfen, besteht darin, die Medienkompetenz bei den Bürgern zu steigern und Quellen im Internet kritischer zu hinterfragen.“253 340
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Lassen sich Fake News erkennen?
Nach der gewaltsamen Erstürmung des Capitols in Washington sagt Phil Howard, Direktor des Oxford Internet Institute: „Wir brauchen Herdenimmunität gegen Desinformation“.254 Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Aber es gibt Möglichkeiten. Eine wichtige Gegenstrategie haben die Randalierer am Capitol selbst geliefert: die Begegnung mit der analogen Realität. Die Fanatiker waren so gefangen in ihren Parallelwelten und so blind für reale Konsequenzen ihres Tuns, dass sie sich selbst und ihre Kumpane mit Handys filmten und die Selfies wie Trophäen ins Netz stellten. Dadurch wurden sie für die Justiz greifbar, die sie auf den Boden fühlbarer Tatsachen zurückbrachten. Julia Ebner nennt eine Reihe von Vorgehensweisen, die z. T. schon realisiert werden:255 – „Tech against Terrorism“ ist eine von der UNO unterstützte Initiative von Technologieunternehmen, die die Entfernung terroristischer Inhalte von allen Plattformen zum Ziel hat. – Die Moderatoren von Diskussionsforen sollten dazu angehalten werden, auf Hassbotschaften mäßigend einzuwirken und Desinformationen zu entlarven. – „HateAid“ ist eine Plattform, die Personen helfen, die Opfer von Online-Mobbing und Hass geworden sind oder zum Schweigen gebracht werden sollen. – Das Institute für Strategic Dialogue hat ein Deradikalisierungsprogramm gestartet, das Gefährdete identifiziert und ihnen helfen soll. – Die baltischen Staaten sind von russischen Propagandamaschinen besonders betroffen. Mit „Elfen gegen Trolle“ sind Tausende im Netz aktiv, um entgegenzuwirken. – 2018 gründete der Satiriker Jan Böhmermann „Reconquista Internet“ als Bewegung gegen HateSpeech. – #ichbinhier ist eine Counter-Speech-Initiative, bei der inzwischen 45 000 Gruppenmitglieder sich konstruktiv und menschenfreundlich aggressiven Stimmen entgegenstellen. – Vor allem braucht es eine Bildung, die über Täuschung und Manipulation durch soziale Netzwerke aufklärt, an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. – Julia Ebner ermuntert die Kunst, mit ihren besonderen Mitteln auf radikale und menschenverachtende Einstellungsweisen einzuwirken. In diesem Sinne verstand sich wohl die Künstlergruppe „Zentrum für politische Schönheit“, als sie sich im September 2021 der AFD gegenüber als Flyerservice ausgab, elf Tonnen Werbematerial entgegennahm und es entsorgte, statt es zu verteilen. Die EU-Kommission gründet Ende 2020 den Digital Services Act (DSA), der die demokratiefeindlichen Wirkungen, Fake News und Hetze, die von den Plattformen der sozialen Netzwerke ausgehen, eingrenzen soll. In den USA soll eine ähnliche Institution geschaffen werden. Das Grundproblem dabei ist stets, die Balance zwischen dem Gut der Meinungsfreiheit und ihrem Missbrauch zu wahren, um nicht der Methode totalitärer Regierungen zu folgen, die ggf. die Netze sperren. 341
Die zweite Entstehung der Welt
Wie kann Medienkompetenz gesteigert und wie können die Bürger befähigt werden, Fake News und Fakten zu unterscheiden? Nocun & Lamberty empfehlen, im Verdachtsfall ein paar Fragen zu klären:256 – Woher kommt die Information? Wird auf seriöse Quellen verwiesen? – Wer behauptet das? Oft lässt sich mit einer Suchmaschine Einiges über den Autor erfahren. – Was sagen Experten? Wie weit reicht ihr Konsens? Gibt es einen wissenschaftlichen Diskurs? – Was ist das für ein Medium? Ist es schon durch Falschaussagen aufgefallen? – Was zeigt der Doppelcheck? Ein Vergleich mit seriösen Medien hilft. – Ist der Kontext richtig? Oft werden Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen. Nicht selten wird gefordert, man müsse im Sinne der Ausgewogenheit stets beide Seiten zu Wort kommen lassen, wie es im wissenschaftlichen Diskurs üblich sei. Das wird oft in FernsehTalkshows realisiert, auch, um die Auseinandersetzungen interessanter zu machen. Dazu ist anzumerken, dass derjenige, der baren Unsinn erzählt oder Hetze betreibt, schon halb gewonnen hat, wenn seine Behauptungen auf eine Stufe mit seriös gewonnenen Befunden gestellt und öffentlichkeitswirksam werden. Stattdessen ist es sinnvoll, Vertreter unterschiedlicher wissenschaftlicher oder gesellschaftspolitischer Richtungen zu Wort kommen zu lassen, die gute Gründe für ihre jeweiligen Standpunkte vorweisen können. Meinungsvielfalt und Diskussion sind Stärken der Demokratie. Solange sie mit gegenseitigem Respekt und dem Bemühen um Wahrheit, der Bereitschaft zum Zuhören und zum Kompromiss zugunsten der Gemeinschaft einhergehen, ist die Hoffnung, dass sich letztlich das Bessere durchsetzt, vielleicht doch nicht vergeblich. Der Normalbürger ist oft überfordert, wenn er Fakes von Facts unterscheiden soll. Wem soll er trauen? Facebook beschäftigt angeblich tausende von Mitarbeitern, die Einträge auf ihre Seriosität prüfen, ggf. mit Warnhinweisen versehen und Querdenker-Konten löschen. Zugleich aber befördern Algorithmen bei Facebook Radikalisierungstendenzen. Whistleblowerin Frances Haugen prangert 2021 vor dem US-Kongress an, wie Facebook Hass im Netz schürt, weil damit die Zahl der Einträge und damit der Profit gesteigert wird. Andererseits gibt es im Netz inzwischen eine Reihe von Plattformen mit Faktenchecks, die aktuelle Verschwörungserzählungen und Fake News unter die Lupe nehmen und Aufklärung betreiben. Eine von Wikipedia erstellte Liste verfolgt den Anspruch, weltweit regional differenzierte Fakten-Checking-Websites auszuweisen, die einer Reihe von Gütekriterien genügen müssen.257 Zwei deutsche Websites sehen sich dem investigativen Journalismus verpflichtet.258 Das Zweite Deutsche Fernsehen führt eine Seite mit aktuellen Recherchen.259 Eine Website beschäftigt sich mit der Klärung von Fragen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.260 342
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Lassen sich Fake News erkennen?
Die Deutsche Presse-Agentur unternimmt einen überparteilichen Faktencheck.261 Mimikama bezeichnet sich als unabhängige Plattform zur Entlarvung von Fake News.262 Wikipedia listet Verschwörungstheorien vom 12. Jahrhundert bis heute auf.263 In mehreren Büchern werden Ratschläge für die Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen und Fake News in Familie, Bekanntschaft und online gegeben, etwa durch Ingrid Brodnig.264 Welch gewaltige Aufgabe sich stellt, wird nicht zuletzt daran sichtbar, dass auch die westlichen Geheimdienste nicht gefeit vor Falschinformationen sind, wie etwa im Irakkrieg 2003 und in Afghanistan 2021 deutlich wurde. Wir wünschen uns eine bessere Welt, doch Wunschdenken ist ein schlechter Ratgeber in der Bewältigung der Realität. Kurz gesagt: In den letzten Jahren haben in Zusammenhang mit politischen Entscheidungen und der Corona-Pandemie Falschnachrichten und Verschwörungserzählungen um sich gegriffen, teils gesteuert von ausländischen Kräften, die die westlichen Demokratien zersetzen wollen. Diese Entwicklung wird begünstigt durch die „sozialen Medien“ des Internets, die nicht nur Menschen zusammenbringen, sondern auch Echokammern erzeugen, die zur Radikalisierung von Gruppen beitragen und Sprengsätze für die Gesellschaft bilden. Damit jeder zu kompetenten Urteilen fähig ist, brauchen wir Herdenimmunität gegen Desinformation.
Literatur Ebner 2019. Festinger 1978. Gensing 2019. Hümmler 2919. Nocun & Lamberty 2020. Rovelli 2020. Springer 2021. Thevessen 2020.
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Der springende Punkt In einer Stunde muss ich zu meiner ersten Vorlesung. Das heißt, meine allererste habe ich schon als Primaner an der Uni Jena gehört. Mein Onkel hatte mich mitgenommen, der dort einen Vortrag über Hypnose hielt, einschließlich der Demonstration hypnotischer Analgesie und kataleptischer Starre. Jetzt will ich noch etwas essen. Neben dem Psychologischen Institut bietet Metzgerei Hülsmann Erbsensuppe für 50 Pfennig an, genau das Richtige für den Geldbeutel eines Studenten. Am Nebentisch sitzt ein Mann im Rentenalter, den Kopf tief gebeugt, der mit gichtigen Händen langsam seine Suppe löffelt. Haarsträhnen fallen ihm über die Stirn. Offenbar trägt er ein Glasauge. Mit seinem schwarzen dünnen Anzug wirkt der Alte wie jemand, dem das Schicksal übel mitgespielt hat und der froh ist, billig eine warme Mahlzeit zu bekommen. Kurz darauf sitze ich im überfüllten Hörsaal. Alle warten auf Wolfgang Metzger, internationale Koryphäe der Gestaltpsychologie, der eine seiner berühmten Vorlesungen über Wahrnehmungspsychologie beginnen soll. Pünktlich zum akademischen Viertel öffnet sich die Tür, und er kommt herein, in gekrümmter Haltung, in schwarzem Anzug. Die Hörer klopfen stürmisch auf die Pulte. Freundlich nickt er nach rechts und links, winkt mit gichtiger Hand. Es ist der alte Mann von vorhin. Seit dem tragischen Tod seiner jüngsten Tochter, so erfahre ich später, trägt er nichts anderes als diesen schwarzen Anzug. Das linke Auge hat er im Ersten Weltkrieg verloren. Am Rednerpult angekommen nimmt Metzger einen kleinen Kasten und hält ihn mit beiden Händen in Brusthöhe. In dem Kasten ist ein Loch, durch das ein schwacher Lichtpunkt leuchtet. Er gibt seinem Assistenten ein Zeichen. Der lässt die Rollläden herab, bis es im Saal stockfinster ist. Aus dem Dunkel tönt Metzgers Stimme: „Achten Sie auf den Punkt. Was macht er?“ Ich sehe, wie der Punkt hin und her wandert. „Jetzt geht er nach oben!“ ruft jemand. „Nein, nach rechts!“ ruft ein anderer. „Er bewegt sich überhaupt nicht!“ behauptet ein dritter. Ich sehe ihn nach links ziehen, dann im Zickzack. Der Assistent macht wieder Licht. Metzger steht mit seinem Kasten immer noch an gleicher Stelle und behauptet, sich die ganze Zeit nicht fortbewegt zu haben. Ich kann es nicht glauben. Alle haben gesehen, wie der Punkt sich bewegt hat. Jedoch – jeder hat eine andere Bewegung gesehen.
36 Was verbindet uns? Anders gefragt: Was haben wir den Spaltungstendenzen, die gegenwärtig in der Gesellschaft stattfinden, entgegenzusetzen? Vormals waren wohl die meisten Menschen der Meinung, dass nur in psychopathologischen Ausnahmefällen, etwa bei Paranoia, Schizophrenie oder unter 344
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Was verbindet uns?
Drogeneinfluss Menschen in eine Welt abdriften, die mit der allgemein geteilten Wirklichkeit nur noch wenig zu tun hat. In Zusammenhang mit der Corona-Epidemie, dem Brexit und der Entwicklung in den USA ist in das Bewusstsein vieler Menschen die Erkenntnis gedrungen, dass nicht wenige Menschen in einer Parallelwelt zu leben scheinen oder schlimmer noch, dass die ursprünglich gemeinsame Lebenswirklichkeit unserer Gesellschaft sich in parallele Welten aufspaltet. Grundüberzeugungen klaffen so weit auseinander, dass eine Verständigung zwischen manchen Gruppen kaum noch möglich ist. Besonders verstörend ist, dass dies nicht nur zwischen Angehörigen verschiedener traditioneller Kulturen und Religionen der Fall ist, sondern dass sich Entwicklungen auch innerhalb einer Kultur und innerhalb einer Religion in diese Richtung bewegen, dass sie Freundschaften und Familien zerreißen können. Durch polarisierende politische Manipulation und durch digital bereitstehende Echoräume werden gesellschaftliche Aufspaltungen so weit beschleunigt, dass ihr Zustandekommen, das sich vormals in großen Zeiträumen abspielte, nunmehr in Zeitraffer zu beobachten ist. Dies wiederum hat einen Vorteil. Es macht möglich, die Vorgänge nicht nur aus der Befangenheit einer sozialen Blase, sondern im Vergleich mit anderen Lebenserfahrungen auch aus einer gewissen Distanz zu betrachten und damit zu relativieren – vorausgesetzt, man ist zu einem solchen Perspektivwechsel bereit. In gewisser Weise können wir die unterschiedlichen Sichtweisen mit dem Demonstrationsexperiment in obiger Anekdote vergleichen. Warum sahen alle Beobachter den Punkt sich bewegen, und zwar jeder in unterschiedlicher Weise? Weil ihnen gemeinsame Orientierungsmöglichkeiten genommen waren! Durch die totale Verdunklung des Raumes war ein „homogenes Ganzfeld“ gegeben, wie wir es schon in Kap. 6 kennengelernt haben. Der erlebte Raum ist dann völlig unstrukturiert und bietet keinerlei Anhaltspunkte zur Lokalisation des punktuellen Reizes. Das Erlebnis, dass der Lichtpunkt sich in unterschiedliche Richtungen bewegt, ist zwingend. Hauptursache für dieses Phänomen sind unwillkürliche Augenbewegungen, die sog. „Sakkaden“, also ein Faktor aufseiten des jeweiligen Beobachters, nicht des Reizes. Selbst wenn wir uns bemühen, einen Punkt zu fixieren, gehen die Augen in kleinen und in größeren Sprüngen auf Wanderschaft, und zwar ohne dass es uns bewusst wird. Der Punkt bewegt sich dabei zur Eigenbewegung der Augen in Gegenrichtung. Er bewegt sich, ohne dass uns klar wird, warum. Dass die Bewegung allein von unserer Wahrnehmungsweise abhängt, kommt uns nicht in den Sinn. Jeder, der eine Bewegung gesehen hat, ist überzeugt, dass der Punkt sich real bewegte. Wenn ein anderer Beobachter eine andere Bewegung beschreibt, sind wir geneigt, zunächst zu protestieren, dann geraten wir in Zweifel. Erst wenn das Licht angeht und die Rahmenbedingungen für jeden erkennbar sind, können wir die Täuschung durchschauen. Uns „geht ein Licht auf“. Wir brauchen also das Umfeld, um die relative Lage und Bewegung eines einzelnen Reizes richtig beurteilen zu können. Im übertragenen Sinne brauchen wir den Kontext, um eine Einzelinformation oder eine Meinung (zuallererst die eigene) adäquat einschätzen zu können. So zwingend sie sein mag – aus Gewohnheit, weil sie sich aufdrängt oder weil die eigene Gruppe 345
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sie teilt – müssen wir uns im Zweifelsfall fragen, ob wir Licht brauchen, um das Ganze zu sehen. Bei dieser „Erleuchtung“ ist es nicht unbedingt notwendig, alle Details zu erkennen und zu wissen. Das kann niemand. Die Wahrnehmung ist in der Peripherie, im Außenbereich des Gesichtsfeldes, nicht auf Detailerkennung ausgerichtet. Umso wirkungsvoller aber liefert das periphere Sehen Grobinformationen über den umgebenden Raum und stellt damit das Ordnungsgefüge für darin befindliche Gegenstände bereit. Entsprechend gilt auch im kognitiven Sinne, dass wir nicht über alle Details Bescheid wissen müssen, aber übergreifende Grundstrukturen so weit als möglich verinnerlicht haben sollten. Wie für die Anwesenden, als im Hörsaal das Licht anging und alle die Grundstruktur des umgebenden Raumes vermittelt bekamen, so ist es für eine Gesellschaft wichtig, dass sich alle auf eine gemeinsame Grundordnung oder auf einen Minimalkonsens beziehen können, innerhalb derer sich alle unterschiedlichen Einzelerfahrungen und Meinungen einordnen lassen. „Im normalen Leben werden Überzeugungen erworben im Zusammenhang des gemeinschaftlichen Lebens und Wissens. Augenblickliche Erfahrung von Realität bleibt nur bestehen, wenn sie sich der gemeinschaftlich gefundenen oder kritisch geprüften Erfahrung einordnet“, sagt Karl Jaspers.265 Nicht selten ist heutzutage die Rede vom „Scheuklappensehen“ oder vom „Tunnelblick“. Diese Ausdrücke beziehen sich auf eine Augenerkrankung (Retinopathia pigmentosa), bei der die Photorezeptoren, vor allem die Stäbchen, allmählich von außen nach innen absterben, bis nur noch der Bereich der Fovea funktioniert. Das verbleibende „Röhrengesichtsfeld“ ist trotz der Sehschärfe in diesem Bereich so unzureichend, dass betroffene Personen als hundertprozentig blind gelten. Der Grund liegt darin, dass die Betroffenen das Sichtbare nicht angemessen einordnen können. Im übertragenen Sinne ist vom „Tunnelblick“ die Rede, wenn bewusst oder nichtbewusst gut begründete Informationen ausgeblendet werden, sei es aufgrund von Widersprüchen zur vorgefassten Meinung oder aufgrund des sozialen Drucks durch die Gruppe, der man angehört. Erinnert sei an Abb. 5, die ohne das in Abb. 16 sichtbare Umfeld nicht erkennen lässt, wie die Situation zu verstehen ist. In den ersten Kapiteln haben wir dargelegt, wie bei jedem Menschen die Welt neu entsteht. Letztlich erlebt jeder seine persönliche Wirklichkeit, die sich aufgrund unserer angeborenen Disposition auf der Basis der Reize, die die Sinnesorgane empfangen, nach und nach entwickelt. Auch alles Wissen, das wir teilen, nimmt den Weg über die Sinnesorgane. Es gibt keinen anderen. An der grundsätzlichen Trennung individueller Wirklichkeiten ist vernünftigerweise nicht zu zweifeln, auch wenn dies immer wieder von Sozialwissenschaftlern in Frage gestellt wird. Damit wird nicht einem Individualismus das Wort geredet, in dem jeder nur an sich denkt. Im Gegenteil. Das Faktum der Getrenntheit ist vielmehr in aller Klarheit zu vergegenwärtigen, um die Suche nach Gemeinsamkeit als notwendig zu erkennen und an Möglichkeiten der Realisierung zu arbeiten. A priori gegebene Garanten der Verbindung aller Menschen, das kollektive Unbewusste oder kollektive Feld, wie es C. G. Jung bzw. H. Driesch nannten, sind unrealistische 346
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Was verbindet uns?
Wunschvorstellungen. Gäbe es sie, wäre die Welt eine ganz andere. Der Wunsch nach Gemeinsamkeit erfüllt sich nicht von allein. Seine Erfüllung geschieht nicht passiv, sondern erfordert kulturelle Arbeit. Von dem Traum der Hippie-Bewegung der 1960er Jahre von einer in Liebe verbundenen Menschheit ist so wenig geblieben wie von dem „Alle Menschen werden Brüder“ in Schillers Ode, das von den ursprünglichen Idealen der französischen Revolution gespeist wurde und bereits von ihr selbst konterkariert wurde. Wir müssen unsere Zielvorstellungen dem Möglichen anpassen, vom Niveau frustrierender Unerfüllbarkeit auf die erfolgversprechende Ebene des Erreichbaren gelangen. Angesichts der Unterschiedlichkeit heutiger Gesellschaften bedarf es bereits erheblicher Anstrengungen, um eine wichtige Grundvoraussetzung zu erreichen, nämlich dass alle Menschen zu der Überzeugung kommen, in einer gemeinsamen Welt zu leben, dass es allgemeingültige Werte gibt und dass trotz der Vielfalt von Sprachen und Auffassungen gegenseitige Verständigung möglich ist. Hierbei spielen gemeinsame Erlebnisse eine herausragende Rolle. In engerem Rahmen sind sie in direkt sinnlich erfahrenem Kontakt möglich, etwa durch gemeinsame Aktionen und Unternehmungen. Dabei geht es nicht nur darum, Wissen zu teilen. Es geht um geteilte Freude, Trauer und Begeisterung. Gemeinsame emotionale Erfahrungen lassen die Menschen in Resonanz geraten und prägen sich tief ein, mitsamt den damit verbundenen kognitiven Inhalten. Wichtig ist dabei, dass das gesteigerte Wir-Gefühl zu keinem Tribalismus führt, wie es bei geteilter Wut regelmäßig geschieht, sondern Offenheit ausstrahlt. Innerhalb von Religionen und anderen Gemeinschaften ist man sich der verbindenden Wirkung von regelmäßigen Bräuchen und Riten seit Langem bewusst. Sie sind ein wichtiges Mittel, Identität zu stiften. Allerdings dienen sie oft zugleich der Abgrenzung nach außen. Es muss erreicht werden, Identitätsbildung mit Offenheit zu verbinden. Ein Beispiel gibt die Insel Mauritius im Indischen Ozean, wo viele Religionen und Nationalitäten vertreten sind. Hier ist es seit langer Zeit Brauch, dass sich Angehörige der unterschiedlichsten Religionen – z. B. Hindus, Christen, Muslime, Buddhisten und Bahá’i – gegenseitig in ihren Tempeln und Kirchen besuchen und dort beten.
Abb. 129: Hindu-Tempel bei Poste de Flacq auf Mauritius. 347
Die zweite Entstehung der Welt
Gegenüber den gegenwärtigen Zersplitterungstendenzen der Gesellschaft sind gemeinsame Erfahrungen über alle Grenzen hinweg bedeutsam. Eine entscheidende Rolle spielt die Schulzeit. Hier wird ein gemeinsames Grundwissen vermittelt, ein unverzichtbares Fundament für geistes- und naturwissenschaftliche Bildung gelegt. Wir sollten hellhörig werden, wenn gegen diese Gemeinsamkeit Propaganda gemacht wird. Zudem werden durch die soziale Gemeinschaft unterschiedlichster Individuen in der Klasse Grundregeln des Miteinander erprobt und gelebt. Separatistische Tendenzen und die Möglichkeit zur Abwahl relevanter Fächer sollten angesichts der Schlüsselstellung der Schulausbildung mit Vorsicht gehandhabt werden. Die Schulzeit bildet ein Zeitfenster in der Entwicklung junger Menschen, dessen prägende Wirkung kaum nachgeholt werden kann.
Abb. 130: Erdaufgang über dem Mond 1968 (Apollo 8, NASA). Der „Overview“ über unseren verletzlichen Planeten zeigte weltweit starke Wirkung. Die Apollo-Astronauten waren überwältigt. „Der Erdaufgang war das Schönste, was ich je sah. Völlig unerwartet. Denn wir waren nur darauf vorbereitet, den Mond zu sehen,“ sagte Bill Anders.266 Das galt auch für die Zuschauer weltweit, die die Mondfahrt verfolgten. Im weiteren Rahmen können das Fernsehen und andere elektronische Medien helfen. Einerseits können „soziale Medien“ zur Spaltung der Gesellschaft beitragen und werden so zu unsozialen Medien. Andererseits haben sie nach wie vor das Potential zu verwirklichen, was Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2004 versprach, nämlich die Menschen zusammenzubringen. Als 1968 Millionen Fernsehzuschauer bei der Übertragung von Apollo 8 miterlebten, wie die Erde hinter dem Horizont des Mondes aufging, als Fotos um die Welt gingen von 348
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unserem Globus in seiner blauen Pracht und Verletzlichkeit, schwebend im lebensfeindlichen All über der toten Öde der Mondoberfläche, da wurde vielen bewusst, wie schutzbedürftig das Kleinod Erde ist, und der Umweltgedanke erhielt Auftrieb. Diese Wirkung, die nicht nur Astronauten vorbehalten blieb, wurde als „Overview-Effekt“ bezeichnet.267 Auch internationalen Ereignissen wie den Olympischen Spielen werden übergreifendes Gemeinschaftserleben und Völkerverständigung zugeschrieben, ganz im Sinne ihres antiken Ursprungs und im Sinne ihres Neubegründers Pierre de Coubertin. Es war daher ein Rückschlag, als 2020 die in Tokyo vorgesehenen Spiele wegen Corona verschoben werden mussten und 2021 vor leeren Rängen stattfanden. Die Pandemie in einer gemeinsamen Anstrengung zu bewältigen hätte weltweit verbindende Wirkung haben können. Stattdessen wurde die Chance durch nationale Eigeninteressen und durch die internationale Verseuchung mit Desinformationen massiv behindert. Auch der Umwelt- und Klimaschutzgedanke wird vielfach durch eine Art von Tunnelblick unterlaufen, nicht selten dort, wo Maßnahmen am dringendsten wären. Der Rassismus, der seit Abschaffung der Apartheid in Afrika schon überwunden schien, ist neu aufgeflammt, angeheizt durch diverse politische Kräfte. Immer noch werden Kriege geführt, weil das Wohl von Menschen Machtinteressen geopfert wird. Die Charta der Vereinten Nationen von 1945, inspiriert von Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, muss immer wieder neu belebt werden, denn „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben“, wie es in der Präambel heißt, ist in vielen Regionen der Erde immer noch unerfüllte Utopie oder fällt, wo es schon gelungen schien, imperialistischem Gehabe zum Opfer. Nicht alles, was das Etikett „kollektiv“ trägt, ist per se ein allen gemeinsames Gut, es braucht Bedingungen, die man nicht als selbstverständlich gegeben voraussetzen kann. Bei der Neueröffnung der Staatsbibliothek in Berlin am 25.01.2021 wird sie als „kollektives Gedächtnis“ und als „Memory of the World“ bezeichnet. Doch der Begriff „kollektives Gedächtnis“ ist irreführend. So beeindruckend der Bestand von 12 Millionen Büchern ist, muss man eins bedenken: All diese Bücher haben nur Sinn, wenn und solange es Menschen gibt, die sie lesen und verstehen können! Das heißt, wenn es Individuen gibt, die lesen gelernt haben, die Buchstaben und Wörter entziffern und ihre Bedeutung durch die Einordnung in entsprechende Kontexte erfassen können. Das erscheint uns selbstverständlich, ist es aber nicht. Matthias Uhl macht darauf aufmerksam, dass unser Gehirn erst seit den wenigen Jahrtausenden, seit Schriftkulturen existieren, die artfremde Funktion des Lesens zu erfüllen hat.268 Lesenlernen ist ein mühsamer Prozess, erst recht für Erwachsene, die es als Kinder nicht gelernt haben, und für solche, die unter Alexie oder Legasthenie leiden. Der Hirnforscher und Psychiater Manfred Spitzer weist darauf hin, dass der intensive Umgang mit den bildbetonten elektronischen Medien die Lesefreude und die Lesefähigkeit der Kinder und Jugendlichen erheblich reduziert.269 Viele Lehrer wissen zu berichten, dass die Fähigkeit von Schülern und Schülerinnen, den Sinn von schriftlichen Passagen zu verstehen, in erschreckendem Maße 349
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abgenommen hat. Der kulturelle Verlust, der damit verbunden ist, ist in seiner Tragweite noch nicht abzusehen, zumal er noch von einer Generation kaschiert wird, für die das Lesen nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch ein Vergnügen darstellt. Lesen und Schreiben bedürfen einer kognitiven Anstrengung, die Geübten leichtfällt, die aber umso mehr gemieden wird, je seltener sie geübt wird – ein Teufelskreis. Welcher Verlust bereits schleichend eingetreten ist, wir deutlich daran, dass das Briefeschreiben heute kaum noch gepflegt wird. Die darin geäußerten Gedanken sind nicht nur eine kultivierte Form der Mitteilung und Wertschätzung, sondern auch eine Form der Reflektion, der Selbstvergewisserung und der Fixierung flüchtiger Lebensmomente. Der Historiker Simon S. Montefiore zeigt dies anhand einer Auswahl geschichtlich interessanter Briefe.270 Ob es ein Buch ist, die Deutsche Staatsbibliothek, ob Google oder Wikipedia – alles verliert seine Bedeutung ohne lesefähige Individuen. Es gibt kein „kollektives Gedächtnis“, es gibt vielmehr Medien, die einer großen Zahl von Menschen zugänglich sind, die zur Einspeisung in ihr individuelles Gedächtnis darauf selektiv zugreifen. Medien sind nur Mittler. Es hängt von der Lesefähigkeit jedes einzelnen Menschen und von der Kommunikation zwischen ihnen ab, dass der Inhalt von Büchern und anderen Medien immer neu Sinn bekommt und bewahrt wird. Deshalb ist es unverzichtbar, dass Lesen und Schreiben weiterhin ihren primären Rang in der Vermittlung behalten und sich nicht von Videoclips verdrängen lassen. Vor ca. 8000 Jahren wurde in China und dem Nahen Osten die Schrift erfunden. Seither wird Geschichte geschrieben und ist für die Nachwelt nachvollziehbar – gesetzt, die Schrift kann entziffert werden. Hätte es 1799 nicht den unglaublichen Zufallsfund in der ägyptischen Stadt Rosette gegeben, der auf einem Stein den gleichen Text in drei verschiedenen Sprachen enthält, die altägyptischen Hieroglyphen wären wohl ein Geheimnis geblieben. So aber konnte Jean-Francois Champollion das System entziffern und damit den Zugang zu dem reichen schriftlichen Kulturschatz der Ägypter öffnen. Die Schrift der Maya wurde erst in den letzten Jahrzehnten großenteils entschlüsselt. Manch andere Zeichensysteme können immer noch nicht enträtselt werden, und auch bei den bereits bekannten ist die Bedeutung der Inhalte vielfach noch offen. Die Situation ist vergleichbar mit dem genetischen Code. Man weiß inzwischen, dass er aus den mit A, C, G und U abgekürzten Nukleotiden besteht und tripelweise bestimmte Aminosäuren kodiert, doch welche Kombinationen welche Eigenschaften exprimieren, ist erst in Teilen erforscht. Dass es kein „kollektives Gedächtnis“ gibt, hat gravierende Folgen. Altes Wissen, das nicht in die Gegenwart überliefert wurde, ist versunken wie Atlantis, von dem wir nicht einmal sicher sein können, ob es wie von Platon beschrieben je existiert hat. Es ist verloren wie die zahllosen Bücher der Bibliothek von Alexandria, in der die Schriftzeugnisse der antiken Welt versammelt waren und die unter ungeklärten Umständen zerstört wurde. Geheimrezepte wie die Fertigung des ersten synthetischen Farbstoffs, des vor 4000 Jahren erfundenen Ägyptisch 350
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Blau, gingen zusammen mit dem Römerreich verloren. Erst in der Neuzeit gelang es Chemikern, das Rezept zu rekonstruieren. Solches Wissen wurde oft nur durch praktisches Lehren und Lernen tradiert. Was nicht überliefert wurde, ist verschwunden. Heute noch rätseln wir, wie die gewaltige und präzise Leistung des Pyramidenbaus möglich war oder wie ein feinmechanisches Zahnradwerk wie der Mechanismus von Antikythera, eine astronomische Uhr, mit den Mitteln vorchristlicher Zeit gefertigt worden sein mag.
Abb. 131: Der „Diskus von Phaistos“, der 1908 auf Kreta gefunden wurde, ist immer noch ein Rätsel. Es ist nicht einmal geklärt, ob die spiralig in Ton gestempelten Zeichen als Schrift aufzufassen sind. Denn nur vereinzelt wurden die Zeichen andernorts gefunden. (Replikat des Originals im Museum von Heraklion). So wichtig schriftliche Überlieferung ist, sie kann nicht alles enthalten. Als Gymnasiast lernte ich im Lateinunterricht, „Cicero“ als „Zizero“ auszusprechen, und so nahm ich es als richtig und selbstverständlich an. Bei meinem Wechsel von Soest nach Münster wurde ich wegen meines „Zizero“ ausgelacht und damit konfrontiert, dass der römische Redner „Kikero“ ausgesprochen werden müsse. Inzwischen habe ich mir von berufener Seite sagen lassen, dass kein Mensch weiß, wie die alten Römer das „C“ tatsächlich gesprochen haben. Man weiß nur, dass die katholische Kirche mit der Wiederbelebung des Lateins als Kirchensprache die Aussprache als „Z“ eingeführt haben, ob zu Recht, ist nicht zu klären. Um es noch einmal zu sagen: Das sog. kollektive Gedächtnis existiert nur in dem Sinne, dass es viele Individuen gibt, die Ähnliches wissen oder lesen, verstehen und mitteilen können. Aus Afrika stammt die Redensart, es brenne eine ganze Bibliothek ab, wenn ein alter Mensch stirbt. Hans Bentling ergänzt: „Doch machen wir uns von Kultur wie von kollektiver Erinnerung einen zu engen Begriff, wenn wir vergessen, dass Erinnerung sich zwischen einer Generation und der nächsten durch Individuen überträgt. Dabei handelt es sich um einen dynamischen Prozess, in dem sich Bilder verändern und auch einen neuen Sinn erhalten.“271 Das „kollektive Gedächtnis“ existiert nicht als eigene Entität unabhängig von menschlichen Individuen. Es ist eine Hypostase im Sinne Kants, die irrtümliche Verdinglichung eines erdachten Konstrukts. 351
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Wenn ein alter Mensch stirbt, brennt eine Bibliothek ab Meinem Onkel Gerhard Klumbies, ehemals Professor und Direktor an der Universitätsklinik Jena, verdanke ich die frühe Prägung, wissenschaftlich zu fragen und zu denken. Er war nicht nur naturwissenschaftlich gebildet, sondern interessierte sich besonders für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und die Zeit danach. Während die Deutschen sich großenteils dem Wiederaufbau widmeten und nichts mehr von der Vergangenheit wissen wollten, sammelte er als Zeitzeuge Material. Durch ihn erfuhr ich schon früh von der Zeit des Nationalsozialismus, ihrer grausamen Ideologie, dem wahnsinnigen Krieg, von dem Massenmord an Juden und an sogenanntem unwertem Leben. Mir war bewusst, in die Endzeit dieser schrecklichen Ereignisse hineingeboren zu sein, kurz vor dem missglückten Bombenattentat auf Hitler durch Stauffenberg. Mein Onkel widmete sich nach seiner Emeritierung verstärkt Recherchen, korrespondierte und machte Notizen, um seine eigenen Erlebnisse, Forschungen und sein vielseitiges Sachwissen in einem Buch über diese Zeit zu publizieren. Ich bestärkte ihn in dieser Absicht. Kaum jemand hätte das so authentisch und kenntnisreich realisieren können. Doch als er 2015 im Alter von 95 Jahren starb, blieb dieser Teil seines Lebenswerks unerfüllt. An den Universitäten Münster und Regensburg war ich fasziniert davon, wie ungeheuer belesen, getragen von einem breiten Allgemeinwissen und bereichert durch persönliche Begegnungen Wilhelm Witte Vorlesungen über die Geschichte der Psychologie gehalten hat. Wir Assistenten beknieten ihn immer wieder, seinen einzigartigen Fundus an Kenntnissen in einem Buch zusammenzustellen. Doch er wurde Opfer seiner hohen Ansprüche. Er vertrat die Meinung, dass man nur dann etwas publizieren dürfe, wenn es vollständig und in jeder Hinsicht abgesichert sei. So blieb es bei Mitschriften seiner Studenten. Er selbst nahm seinen großen Wissensschatz zur Psychologiegeschichte 1985 mit ins Grab. Mein vorliegendes Buch ist in gewisser Hinsicht eine Reaktion darauf: das Wagnis, auch dann etwas zu veröffentlichen, wenn es unvollkommen ist. „Done is better than perfect“, ist ein amerikanischer Slogan, von dem die deutsche Gründlichkeit sich eine Scheibe abschneiden kann. Schon frühere Bücher habe ich gern mit ungelösten Rätseln für die Leser angereichert. Meine Dissertation endete mit Anregungen aus der Psychologie an die Hirnforschung, weil die phänomenologische Methode an ihre Grenzen stieß. Nach meiner Meinung geht es gegenüber wissenschaftlichen Rezipienten und gegenüber einer allgemein interessierten Leserschaft nicht nur darum, fertiges Wissen zu veröffentlichen, sondern noch mehr darum, Anregungen zu geben, dass weitergefragt, diskutiert und geforscht wird. Solche Anregungen, das sei ausdrücklich ergänzt, verdanke ich nicht zuletzt den persönlichen Gesprächen mit Wilhelm Witte.
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„Unsere Welt“ ist ein Konstrukt. Konrad Lorenz spricht von der sozialen Konstruktion des für wirklich Gehaltenen.272 Wir sind auf eine Reduzierung der Komplexität dessen angewiesen, was auf uns einströmt. Andernfalls wären wir restlos überfordert, könnten wir Wirklichkeit nicht begreifen und kommunizieren. Aber wir sollten uns die Unvollkommenheit bezüglich Vollständigkeit und Übereinstimmung immer wieder bewusst machen. Das, worauf sich der Begriff „Unsere Welt“ bezieht, schwebt nicht über uns im Reich der Ideen, das Platon als überzeitlich existent gedacht hat, oder in der Hypostase eines kollektiven Feldes. „Unsere Welt“ existiert nicht ohne jeden Einzelnen. Sie existiert vielmehr nur in dem Sinne, dass jedes Individuum ein Konzept über die Welt entwickelt, von der es wie selbstverständlich annimmt, dass sie mehr oder weniger allen Menschen gemein ist. „Unsere Welt“ entsteht durch Interaktion und Kommunikation mit der physischen und der sozialen Umgebung, aber ihre Existenz ist an Individuen gebunden. Sie ist bei jedem Menschen etwas anders beschaffen, je nach der Gesamtheit seiner direkten und indirekten Erfahrungen. Das gilt auch für Wissenschaftler. „Es könnte doch sehr wohl sein, dass Sie und ich über die Natur etwas Verschiedenes wissen… Warum glauben Sie eigentlich so fest an Ihre Theorie, wenn doch so viele und zentrale Fragen noch völlig ungeklärt sind?“ fragt Albert Einstein Werner Heisenberg.273 Jedes Gespräch führt dazu, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Welten geklärt, verändert oder stabilisiert werden. Jedes Massenkommunikationsmittel trägt zu einer teilweisen Übereinstimmung von individuellen Welten bei. Jeder Zeitungsartikel, jede TVoder Internetmeldung, jeden Vortrag „teilen“ wir mit einer größeren oder kleineren Gruppe und ähneln dadurch unsere Vorstellungen von der Welt an. Der gleiche Mechanismus, der Gemeinsamkeiten schafft, kann auch Zersplitterung fördern, nämlich dann, wenn die Interaktion innerhalb von geschlossenen Gruppen geschieht. Mit Hinweis auf den jahrhundertelang währenden Hexenwahn weist Karl Jaspers darauf hin, wie eine geschlossene Gesellschaft gemeinsam ein irriges System aufbauen kann und zu welchen Konsequenzen es führt. „Dieses Ganze gibt kein Mensch leicht preis. Wenn die gemeinsam geglaubte Realität wankt, werden die Menschen ratlos. Was ist dann noch wirklich?“274 Heute geschieht Abgrenzung von Gruppen besonders in „Internetblasen“. Die Gleichschaltung geschieht nicht nur durch einseitige Informationen, sondern wesentlich durch Gruppendruck, der Abweichungen sanktioniert. Was früher Klassenkeile oder Exkommunikation war, ist heute konkretes oder digitales Mobbing. Was wir als „Dinge“ bezeichnen, sind Produkte aus Wahrnehmung, Denken, Handlungserfahrung und Kommunikation. Die als Reize einströmenden „Informationen“ sind für sich genommen Rohwerte ohne eindeutigen Zusammenhang. „Wir gliedern beispielsweise die gesamte Realität um uns herum in Gegenstände“, schreibt Carlo Rovelli aus physikalischer Perspektive. „Aber die Realität besteht nicht aus Gegenständen. Sie ist ein kontinuierlicher und sich ständig verändernder Strom. Dieser Veränderlichkeit setzen wir Grenzen, die es uns 353
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ermöglichen, über die Realität zu reden. Man denke an eine Welle im Meer. Wo endet eine Welle? Wo beginnt sie? Wer kann dies schon sagen?“275 Das „Zeigen“, ob mit Zeigefinger, Pointer oder Bildschirm, ist ein wesentliches Hilfsmittel zur sozialen Abgleichung des Gesehenen und Gemeinten. Die gemeinsame Aneignung von sinnlich Erfahrenem und sprachlich Benanntem verstärkt die Gemeinsamkeit der Erfahrungswelten, die nichtsdestotrotz voneinander geschieden und deshalb auch verschieden bleiben. „Konsens“ ist die positiv besetzte Erfahrung solcher Gemeinsamkeit. Man kann die Schnittmenge, die die Individuen einer Gruppe insoweit untereinander teilen, als sie sie als Gemeingut ansehen, als „soziale Wirklichkeit“ bezeichnen. Zur sozialen Wirklichkeit gehören etwa die demokratisch vereinbarten Regeln, die man als Bürger des Staates übernimmt, dem man angehört, wie sie etwa im Grundgesetz niedergelegt sind. In Bezug auf die Gemeinschaft aller Menschen umfasst die soziale Wirklichkeit die gesamte Erde als zu schützenden Lebensraum ebenso wie die Gegenstände des Weltkulturerbes oder auch ideelle Güter wie die Menschenrechte in der Charta der Vereinten Nationen. Soziale Wirklichkeit gibt es nicht außerhalb der Menschen. Es gibt sie vielmehr bei jedem Individuum einer Gemeinschaft auf je eigene Art. Sie kann nicht alles Wahrgenommene und Gewusste beinhalten, weil die individuelle Erfahrung begrenzt ist. Zur individuellen Erfahrung gehört das Wissen um eben diese Unvollständigkeit. Das Nicht- oder Noch-nicht-Gewusste ist neben den gemachten und verinnerlichten Erfahrungen vergleichbar mit unbekannten Räumen hinter verschlossenen Türen. Wir wissen um die Türen, aber wir wissen nicht, wie groß die Räume dahinter sind und was alles sie beinhalten. Wenn jemand sagt, dass er von Kunst keine Ahnung hat und sich deshalb mit seinem Urteil zurückhält, macht er damit deutlich, dass er wohl die Tür zur Kunst kennt, doch den Raum dahinter nur sehr flüchtig. Insofern gehört „Kunst“ zu seiner Wirklichkeit, wenn auch nur schemenhaft. Jedem Menschen sind andere Räume bekannt und unbekannt. Aber alle Menschen sind verbunden im Wissen um das Bekannte und im Ahnen des Unbekannten. Die Gesamtheit des Gewussten und Geahnten kann Gegenstand der sozialen Wirklichkeit sein. Wir antizipieren Vorläufiges, setzen Ungefähres voraus, haben Vorurteile. All dies gehört in seiner Ungenauigkeit und Fehlerhaftigkeit zu dem, was wir mit der gemeinsamen Wirklichkeit meinen. Momentan ist die soziale Wirklichkeit zersplitterter denn je. Es wird alles darauf ankommen, daran mitzuwirken, dass die bunte Vielfalt der Demokratie und der Demokratien nicht zu einem Scherbenhaufen aus Gruppen wird, die nur noch aneinander vorbeireden. Wir dürfen nicht zulassen, dass Unterschiede weiterhin zu unüberbrückbaren Gegensätzen gemacht werden. Wir müssen lernen, miteinander zu streiten, um das für alle Akzeptable zu finden. Menschen haben unterschiedliche Interessen, daher sind Kompromisse unumgänglich. Die Schulen müssen die Grundlagen für zwischenmenschliche Verständigung schaffen, die von gegenseitigem Respekt und der Bereitschaft zuzuhören getragen wird. Nach wie vor gilt es 354
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dort, ein gemeinsames Basiswissen zu vermitteln sowie Methoden, sich Wissen anzueignen und kritisch zu befragen – in Entsprechung zu den Wissenschaften, die durch ihre Inhalte und ihre Methoden gekennzeichnet sind. Es muss die Kompetenz vermittelt werden, zwischen Informationsquellen unterschiedlicher Qualität unterscheiden zu können, damit Desinformation nicht so viele Opfer findet wie gegenwärtig. Die vermeintlichen Vorbilder in den Medien, debattierende Politiker, werden ihrer Rolle nicht immer gerecht. 2013 singt Andrea Nahles als Generalsekretärin der SPD im Bundestag das Pipi Langstrumpf-Lied: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Damit will sie den anderen Parteien mangelnden Realismus zum Vorwurf machen, sieht aber nicht die Befangenheit der eigenen Partei in ihrer konstruierten Wirklichkeit, die spätestens durch die Realität der Aggression Putins in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Es sind nicht unbedingt Dumme oder psychisch Kranke, die unter einer verzerrten Realitätswahrnehmung leiden. Gerade auch die sogenannten Intellektuellen unterliegen dieser Gefahr, weil sie nicht selten dazu tendieren, ein einseitiges Bild von Welt und Gesellschaft zu entwerfen, das sie dann eloquent als Realität verkünden. Sie sind in besonderer Verantwortung, weil sie jederzeit mit einer Anhängerschaft rechnen können, die den geistigen Hochbau bewundert und als Multiplikator wirkt. Wohin das führen kann, hat in den 1970er Jahren die RAF eindringlich vorgeführt. Nicht selten fehlt die Bereitschaft zuzuhören, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen. Stattdessen wird in Politik und Medien oft die Person diffamiert, und ihre Äußerungen werden bewusst missverstanden, d. h., sie werden so interpretiert, dass sie inakzeptabel werden. 1980 wurde Helmut Schmidt vom Spiegel unter Anspielung auf den politischen Visionär Willy Brandt, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte, gefragt, wo seine große Vision sei. Daraufhin antwortete er: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Das wurde ihm übelgenommen. 30 Jahre später bedauerte er seine „pampige Antwort“. „Es gibt ein bewusstes Missverstehen in den Medien“, beklagt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in einem Interview 2018, nachdem er des „Alltagsrassismus“ beschuldigt wurde, als er nach den Erfahrungen mit der chaotisch verlaufenen Migrantenwelle von 2015 für eine geordnete Zuwanderung warb. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler trat 2010 von seinem Amt zurück, weil ihm von der Opposition Kanonenbootpolitik vorgeworfen wurde, nachdem er die Option militärischer Einsätze verteidigt hatte, wie sie für jeden Staat gilt, der eine Armee unterhält. Als der auch von DDR-Bürgern geschätzte Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei der Wiedervereinigung 1989 mahnte: „Zusammenwachsen ja, aber nicht zusammenwuchern“, wurde ihm von CDU-Kollegen unterstellt, er wolle die Wiedervereinigung ausbremsen. Vielmehr wollte er die Menschen mitnehmen, sie nicht überfahren, und strebte eine neue gemeinsame Verfassung an, womit er sich bekanntlich nicht durchsetzen konnte. Philipp Jenninger hielt 1988 im Bundestag eine Rede, in der er mit der Lebenslüge aufräumen wollte, dass Hitler das Volk gegen dessen Willen ins Verderben geführt habe, griff dabei aber zu ungeschickten Stilmitteln: „Machte 355
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nicht Hitler wahr, was Wilhelm II nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen?“ Solche Formulierungen boten das Einfallstor für bewusstes Missverstehen. Ein Proteststurm gegen die „misslungene deutsche Vergangenheitsbewältigung“ veranlasste ihn am folgenden Tag zum Rücktritt vom Amt des Bundestagspräsidenten. Da half auch nichts, dass Ignatz Bubis, der spätere Vorsitzende des Zentralrats der Juden, in der Rede eine durchaus zutreffende Beschreibung des Mitläufertums sah. An jüngeren Beispielen herrscht kein Mangel. Bewusstes Missverstehen, Unterstellungen und Diffamierung sind immer häufiger Mittel der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, so etwa, wenn aus der AfD heraus Beschlüsse der Regierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet und mit der Machtergreifung der Nazis 1933 auf eine Stufe gestellt werden, oder wenn Bestimmungen zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes als „Maulkorberlass“ verhöhnt werden und behauptet wird: „Es geht um nichts anderes, als Rechtsstaat und Demokratie die letale Dosis in Form des Corona-Impfstoffs zu verpassen.“276 Pointierung des eigenen Standpunktes ist legitimes Mittel der Diskussion, doch sachliche Verfälschungen und bewusstes Missverstehen sind weder sachdienlich noch weiterführend und desavouieren den Urheber selbst. Wer den Andersdenkenden verunglimpft oder mit Drohungen zum Schweigen bringen will, fürchtet offenbar die Schwäche der eigenen Argumente. Wer offensichtlich und systematisch Fakten verdreht und Fake News verbreitet, verspielt seine Vertrauenswürdigkeit. Debatten im Bundestag sind im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, wie der soziale Druck seitens der Partei oder der Community, der man angehört, die Bereitschaft zum Einlenken oder zur besseren Einsicht ausbremst. Nicht selten haben sich Politiker anerkennend über Kontrahenten geäußert und zugegeben, dass sie manchmal im Recht waren – aber erst nach ihrer aktiven Zeit, wenn sie nicht mehr unter dem Erwartungsdruck ihrer Partei standen. Eine wohltuende Ausnahme bildeten die Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP 2021, in denen durch einen neuen Politikstil gezeigt wurde, wie mit Unterschieden umgegangen werden kann. Man habe gelernt, der Gegenseite zuzuhören, dass eine 6 aus anderer Perspektive auch als 9 gelesen werden könne. Angesichts der grundsätzlichen Mehrdeutigkeit von Äußerungen brauchen wir für wechselseitiges Verständnis eine wohlwollende Interpretationsbereitschaft. Stattdessen scheint diese immer mehr verloren zu gehen. Die Bevölkerung als Souverän des demokratischen Staates wird von außen- wie innenpolitischen Kräften oft manipuliert, ohne es zu merken. Mit „Gaslighting“ bezeichnet man Manipulationen, die das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit untergraben, angelehnt an den Film von 1944 mit Ingrid Bergman und Charles Boyer. Übernommene Meinungen werden, wie die Psychologie hinreichend oft gezeigt hat, in kürzester Zeit als eigene angesehen, selbst wenn sie unrealistisch sind. Dadurch wird der Gedanke der Demokratie in seinen Wurzeln angegriffen. Die Rede vom „mündigen Bürger“ wird zur inhaltsleeren Floskel, solange die Politik zulässt, dass er weiterhin unmündig gemacht wird durch Desinformationen, 356
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die im Windschatten der Meinungsfreiheit massenhaft verbreitet werden. Vor der Bundestagswahl 2021 war zu beobachten, wie Politiker sich scheuten, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und damit subversiven Quellen das Feld überließen. So hätte ausdrücklich gesagt werden müssen: Ja, das Impfen kann schädliche Nebenwirkungen auslösen; doch alle wissenschaftlichen Erkenntnisse weisen darauf hin, dass Infektionen mit dem Corona-Virus ein wesentlich höheres Risiko darstellen. Viele Bürger fanden zu keiner hinreichenden Kompetenz in der Risikoabwägung und meinten, auf Nummer Sicher zu gehen, wenn sie sich nicht impfen ließen. Tatsächlich waren 2021 von denen, die wegen schwerer Infektionsverläufe behandelt werden mussten oder starben, ca. 90 % ungeimpft. Die Meinungsäußerungsfreiheit wird als eins der höchsten Rechte des Menschen angesehen, ganz im Sinne des Voltaire zugeschriebenen Bonmots „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ In diesem Sinne war es konsequent, dass etwa das Recht auf Veröffentlichung und Diskussion der Mohammed-Karikaturen in diversen Zeitschriften zwischen 2005 und 2020 von führenden europäischen Politikern verteidigt wurde, auch wenn die Karikaturen als geschmacklos angesehen wurden und Islamisten Anlass zu Gewalttaten gaben. Zu ergänzen ist, dass derartige Karikaturen den Respekt vermissen lassen, der im Rahmen wechselseitiger Toleranz unerlässlich ist und z. B. auf Mauritius beispielgebend gelebt wird (s. o.). In Deutschland sind der Meinungsfreiheit rechtliche Grenzen gesetzt z. B. dort, wo die persönliche Ehre verletzt wird oder die öffentliche Sicherheit in Gefahr ist. Dies war in letzter Zeit oft genug durch gezielte Desinformationen mit z. T. lebensbedrohlicher Wirkung in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gegeben. Die Gefahr einer „Infodemie“ ist längst Realität geworden. Mit den Mitteln der neuen Medien werden Desinformation und Hate Speech zunehmend als Waffe gebraucht. Falschnachrichten sollen oft nicht überzeugen, sondern Verwirrung stiften. Denn damit werden auch seriöse Quellen in Zweifel gezogen und das Vertrauen in staatliche Aufklärung untergraben. Fake News sind geistiger Vandalismus, der durch die neuen Medien ein großes Zerstörungspotential gewonnen hat. Sie bringen Menschen um. Sie müssen international geächtet werden, denn systematische Desinformation untergräbt alle Bemühungen um zwischenmenschliche und internationale Verständigung, sie radikalisiert Unterschiede, sie vergiftet vom Einzelnen bis zur Weltgemeinschaft die Psyche der Menschen, sie zerstört Werte wie Vertrauen und Glaubwürdigkeit als Fundamente von Zusammenarbeit und wechselseitigem Respekt. Immanuel Kant, der die Wahrhaftigkeit über alles liebte und sogar die Notlüge ablehnte, würde schier verzweifeln. Der Politikwissenschaftler Helmut König setzt sich mit dem Verhältnis von Lüge und Vertrauen in Zeiten von Trump und Putin auseinander und kommt zu dem Schluss: „Vertrauen ist nicht nur die Bedingung für die Lüge, sondern, was weitaus wichtiger ist, die Bedingung für wechselseitige Orientierung und gemeinsames Handeln.“277 König konstatiert, dass der Lügner 357
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zwar mit dem Verlust an Glaubwürdigkeit rechnen muss, aber bei seinen Anhängern auf Bewunderung zählen kann, weil er trickreich zu Erfolg kommt. Als Putin am 24. Februar 2022 nach Lügen, Propaganda und Täuschungsmanövern die Ukraine überfällt, gilt das im Westen in großer Einhelligkeit als Bruch des Völkerrechts. Nur Donald Trump, der immer noch über seine „gestohlene“ Wiederwahl lamentiert, bezeichnet Putin als „genial“ und „schlau“.278 Für die Beurteilung von Auseinandersetzungen gilt, dass man stets beide Seiten anhören muss. Doch wie jeder Richter weiß, sind Aussagen nicht immer gleich zu werten. Lügen zu entlarven bleibt ständige Aufgabe. Die alte Mahnung „Unterscheidet die Geister!“ hat unverändert Aktualität. So, wie zwischen wissenschaftlich basierten Aussagen und bloßen Behauptungen unterschieden werden muss, so gibt es im gesellschaftlich-politischen Bereich erhebliche Unterschiede, die etwa bei der Wertung medialer Berichterstattung zu berücksichtigen sind. Das wurde 2022 besonders im Zusammenhang mit dem Krieg Putins gegen die Ukraine deutlich. Es gibt Wahrheiten, die auf Recherchen beruhen, die mit wissenschaftsnaher Gründlichkeit erfolgen. Dafür steht ein Großteil des freien Journalismus. Und es gibt „Wahrheiten“, die raffinierte oder plumpe Lügengespinste sind, mit denen versucht wird, die Menschen mit bestimmten Sichtweisen und Wertungen im Interesse ihrer Urheber zu indoktrinieren. Hierbei spielt die Bekämpfung des freien, investigativen Journalismus eine zentrale Rolle. Die Aussagen Wladimir Putins, der mit „Friedenstruppen“ die Ukraine „entnazifizieren“ will und Robert Habecks, der den Vorgang als „militärische Vergewaltigung“ bezeichnet, sind nicht gleichwertig, weil sie einerseits erfunden und andererseits faktenbasiert sind. „Es hat selten einen Politiker gegeben, bei dem die Lüge einen so großen Anteil seiner sprachlichen Äußerungen ausmacht“, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk über den Präsidenten der Russischen Föderation.279 Wenn Putin davon ausgeht, dass Sprache Realitäten schafft, dann ist zu entgegnen, dass sie nur bei faktenbasierter Sprache Bestand haben. Desinformation unterhöhlt den gemeinsamen kognitiven Kontext, sie zerstört, was an Gemeinsamkeit vorhanden ist. Beim Thema Meinungsfreiheit sollte es gelingen zu gewährleisten, dass jeder seine ehrliche Meinung äußern kann und dass zugleich die Verbreitung lebensgefährlicher Falschmeldungen und Hassbotschaften verhindert wird. Wie schon erwähnt, hat die Europäische Union einen „Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation“ und eine erste Bewertung in Zusammenhang mit Corona vorgelegt. Damit hat sie international eine Vorreiterrolle übernommen, „Instrumente für eine widerstandsfähigere und gerechte Demokratie in einer zunehmend digitalen Welt vorzuschlagen“.280 Es ist zu hoffen, dass diese Initiative Früchte trägt und auch auf die UNO überspringt, wenn auch angesichts des Verhaltens autokratischer Regime ein rascher Erfolg unwahrscheinlich scheint. Sie sehen in der Demokratie eine Bedrohung, weil sie für die eigene Bevölkerung eine attraktive Alternative darstellt. Um sie bei der Stange zu halten, arbeiten sie mit Einschüchterung und Repressalien. Die Stärke von Demokratien besteht darin, dass eine Vielfalt von 358
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Meinungen durch freien öffentlichen Disput und Wahlen ausgetragen wird, auf der Basis einer gemeinsamen Verfassung. In Autokratien kann der Fehler eines Einzelnen der ganzen Gemeinschaft schweren Schaden zufügen. Auch Demokratien können irren, doch sind ihnen Selbstkorrekturen inhärent. Sie schließen den Austausch von Sichtweisen und Bewertungen, die Minimierung von Fehlern und den Ausgleich von Interessen ein. Die Einmischung autokratischer Regierungen in Demokratien hat den Zweck, sie als schwach und chaotisch vorzuführen, gesellschaftliche Probleme zu Konflikten eskalieren zu lassen, bis sie unlösbar werden. Vormals sollte gemäß Karl Marx der Kapitalismus an „inneren Widersprüchen“ zugrunde gehen. Als sich das nicht erfüllte, wurde durch Propaganda und Agitation nachgeholfen. Jetzt richtet sich das gleiche Methodeninventar – unter Einsatz der neuen Medien – gegen die Demokratien. Der gesellschaftliche Konsens, auf Basis der Verfassung Lösungen zu finden, wird unterhöhlt, indem Kräfte bestärkt werden, die die Verfassung und ihre Organe bekämpfen. Für manche hat der Kalte Krieg offenbar nie aufgehört, trotz weltweiter Bemühungen um internationale Zusammenarbeit zugunsten allgemein steigenden Wohlstands und der gemeinsamen Lösung globaler Probleme wie Unterernährung, Klimawandel oder Pandemien. Die Utopie einer demokratischen Weltrepublik, die den Spagat zwischen einer übergreifenden Weltordnung einerseits und regionalen, kulturellen und religiösen Besonderheiten andererseits schaffen könnte, scheint ferner gerückt als zu der Zeit, als die Vereinten Nationen gegründet wurden, obwohl sie immer wieder vertreten wird.281 Um auf das Gleichnis vom Dunkelraum zurückzukommen: Jeder Einzelne ist auf verlässliche Rahmeninformationen angewiesen, die ihm den Kontext für seine unmittelbaren Erfahrungen und für mittelbare Informationen liefern, damit er sie adäquat beurteilen und einordnen kann. Dies ist durch die neuen Medien theoretisch gegeben, praktisch wird die Möglichkeit aber massiv unterlaufen. In vielen „sozialen Medien“ wird aufgrund von Algorithmen ein Tunnelblick gefördert. Je nach Internetblase werden divergente Einstellungen bis zur Unvereinbarkeit aufgebaut. Ein theoretisch wunderbares Medium, das aufklären und zusammenführen könnte, wird konterkariert. Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Bürger zu Marionetten werden, die nicht merken, von welchen Fäden sie manipuliert werden. Journalisten und Medien werden bedroht. Sie stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihre Unabhängigkeit zu sichern, Freiheit in Verantwortung zu wahren und über wichtige Themen Diskurse anzubieten, die redlich, verständlich und attraktiv sind. Wie gefährdet unsere freiheitliche Demokratie ist, haben viele noch nicht gemerkt, weil sie für selbstverständlich gehalten wird. Verlässliche Informationen gehören zu den Grundpfeilern einer Demokratie. Sie lebt von lösungsorientierter und faktenbasierter Diskussion um gemeinsame Regeln und Kompromisse. Da das Bessere stets Feind des Guten ist, lohnt es, ständig neu den Disput zu suchen. Dabei ist vor allem wichtig, dass man sich gegenseitig zuhört und respektiert. „Haltet Unterschiede aus“, sagte Angela Merkel am Ende ihrer Kanzlerschaft 359
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in ihrer Rede zur Deutschen Einheit am 03.10.2021. „Seid offen für Übereinstimmungen“, wäre eine wichtige Ergänzung gewesen. Wenig hilfreich ist mangelhaftes Wissen, das apodiktisch vorgetragen wird. Destruktiv sind hasserfüllte Auseinandersetzungen, in denen die Gegenmeinung ausgeschlossen oder niedergebrüllt wird. Garry Kasparow, langjähriger Schachweltmeister, empfiehlt die Einrichtung öffentlicher Plattformen, auf denen Interessen und Meinungen ausgetauscht und beratende Abstimmungen ermöglicht werden. Sie sollten nicht gewinnorientiert betrieben, sondern öffentlich gefördert werden. Nutzer sollen sich eindeutig ausweisen, sodass es kein Trolling, kein Spam und kein Kapern gibt.282 Viele Autoren und Verlage sehen sich in der Verantwortung, möglichst objektive Aufklärung zu betreiben, um gegen alle Spaltungstendenzen das zu schaffen, was die Gesellschaften für ihren Zusammenhalt und ihre Existenz brauchen: „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“, wie es die junge Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in ihrem Buch zu strittigen Gegenwartsfragen nennt.283 Der Kulturphilosoph Ernst Cassirer hat sich mit der Diversität und Einheitlichkeit unterschiedlicher Epochen befasst. W. Eilenberger schreibt hierzu: „Ohne einheitsstiftende Anzeigen droht gerade in hochdynamischen Phasen die Polyphonie zur Kakophonie zu werden. Und darunter leiden dann letztlich alle Beteiligten.“284 Die Aufgabe, einen „Overview“ einzunehmen und im Sinne der Weltgemeinschaft zu denken, bei gleichzeitig achtsamem Sinn für das Detail, ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben. Sie ist besonders schwierig, weil uns die Fähigkeit dazu nicht in die Wiege gelegt ist. Denn hunderte von Jahrtausenden lang lebte die Menschheit in kleinen Gruppen, und für diese kann es überlebenswichtig gewesen sein, gegen etwaige aggressive Nachbargruppen zur Selbstverteidigung ein tribalistisches Denken unter Betonung der eigenen Identität zu pflegen. In den Kriegen der Nationalstaaten hat sich diese Bereitschaft bis in die Jetztzeit unheilvoll ausgewirkt. Immer noch wird sie aus Machtkalkül rücksichtslos instrumentalisiert. In der Gegenwart ist die internationale Weltgemeinschaft derart vernetzt und durch Migration durchmischt, dass wechselseitige Verständigung alternativlos ist, wenn Zerstörung und Selbstzerstörung vermieden werden sollen. Zwischen Selbstbehauptung und Rücksichtnahme müssen im großen Maßstab ebenso Kompromisse gefunden werden, wie es im Prozess der Sozialisation für jeden Einzelnen gilt. Man darf die Augen nicht davor verschließen, dass es auch heute noch möglich ist, dass mit Abgrenzungsparolen und Hate Speech primitive Atavismen geweckt werden, die letztlich zu Krieg und Bürgerkrieg führen können. Demgegenüber bedarf es permanent großer Anstrengungen, das Kulturgut der Verständigung und des Interessenausgleichs zu wahren und weiterzuentwickeln. Unterdrückung ruft stets Widerstand hervor, daran sind viele Imperien gescheitert. Auf den anderen zuzugehen, sollte als Stärke und nicht als Schwäche gewertet werden. Im Kleinen wie im Großen gilt, dass Gespräch und gemeinsames Handeln von denen, die ihre Notwendigkeit erkannt haben, auch dann geduldig angeboten werden müssen, wenn sie zunächst auf schroffe Ablehnung stoßen. Denn alle haben viel zu verlieren, auch der 360
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scheinbar Stärkere. Und Win-Win-Situationen, das zeigen Spieltheorie und praktische Erfahrung, sind die nachhaltigsten Strategieziele für alle. Seit der Zeitenwende am 24. Februar 2022 bedarf die optimistische Haltung allerdings einer Ergänzung, um nicht in Naivität zu verfallen. In der „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ mit Russland, von der Angela Merkel sprach, hatte sich Deutschland bequem eingerichtet, im Glauben, nur noch von Freunden umzingelt zu sein, wie es Bundespräsident Johannes Rau 2005 formulierte. Die Bundeswehr wurde vernachlässigt. Deutschland machte sich von russischem Gas abhängig. Infolgedessen war Deutschland in seinen Reaktionen auf den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine anfänglich wie gelähmt. Schonungslos werden wir damit konfrontiert, dass man für den Fall gewappnet sein muss, dass der Partner die gemeinsamen Spielregeln aufkündigt und sogar eine Situation riskiert, in der alle verlieren. „Putin hat mitten im Spiel das Schachbrett umgeworfen“, sagt Rüdiger von Fritsch, ehemaliger deutscher Botschafter in Moskau.285 Putin hatte alle getäuscht. Er verstand es immer wieder, seine Kontrahenten, die sich als Partner wähnten, in die Falle ihrer Wunschvorstellungen laufen zu lassen. Kurz gesagt: Demokratie ermöglicht Gemeinschaft auch ohne Gleichschaltung. Verbindend wirken Fähigkeiten, die die Schule vermittelt: realitätsgerechte Grundkenntnisse über die Welt, Lese- und Kritikfähigkeit für ein ständiges Wissens-Update sowie soziale Grundkompetenzen und Gemeinsinn. Bei aller Individualität subjektiver Erlebnisweisen und bei aller Vielfalt von Meinungen brauchen wir im kleinen wie im großen Maßstab Rahmenbedingungen, innerhalb derer adäquates Beurteilen, Verständigung und Kompromisse möglich sind. Damit Unterschiede nicht bis zur Unvereinbarkeit eskalieren, sind wechselseitiger Respekt und Verständigungswille nötig. Gemeinsames Arbeiten an der Lösung gemeinsamer Probleme führt zusammen. Zielvorstellung sollte stets sein, zu einem Grundkonsens und zu Win-Win-Situationen zu gelangen, auch wenn man gegen destruktive Tendenzen der Gegenseite gewappnet sein muss.
Literatur Heisenberg 1979. Jaspers 1959. Leinen & Bummel 2017. Lorenz 1973. Nguyen-Kim 2021. Rovelli 2020.
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Terror und Gastfreundschaft Der Terroranschlag von Luxor 1997, bei dem 62 Touristen umgebracht wurden, ist zehn Monate her, als ich abends durch den Ort wandere. Ich mache mir wenig Sorgen, denn seither ist die Polizeipräsenz in Ägypten massiv verstärkt worden, um die wenigen Touristen zu schützen, die sich herwagen. Unsere Reisegruppe war ursprünglich für acht Teilnehmer geplant, doch weil sich kein weiterer Interessent meldete, habe ich den Reiseführer und den ägyptischen Autofahrer für mich allein, um die alten Kulturstätten zu bereisen und in der Wüste nach Fossilien zu suchen. Tagsüber werden wir von einem Polizeiwagen eskortiert, in kritischen Gegenden zusätzlich von einem bewaffneten Militärfahrzeug. Wir begrüßen ihre Anwesenheit besonders, als sie helfen, unseren auf einer versandeten Wüstenstraße steckengebliebenen PKW freizubekommen. Jetzt am Abend gehe ich allein durch das spärlich beleuchtete und fast menschenleere Luxor und komme an einer Shisha-Bar vorbei, einem einfachen Kubus aus Lehmziegeln mit einem Dach aus Palmenblättern. Die Vorderwand ist einfach weggelassen, und so öffnet sich die Bar zur Straße hin. Das hat nicht nur eine einladende Wirkung, sondern auch den Vorteil, dass sich die giftigen CO-Gase, die beim Rauchen der Shishas entstehen, nicht sammeln können wie in geschlossenen Räumen. Dort sitzen drei dunkelhäutige Männer mit Turban und Dschallabija, dem typischen weißen Gewand, das auf die Tunika der alten Römer zurückzuführen ist, und spielen Domino. Mit einer Geste, die überall auf der Welt verstanden wird, winken sie mich heran und bedeuten mir, Platz zu nehmen. Sie bereiten eine Shisha vor, legen dunklen Tabak auf und darüber glühende Kohle, und reichen mir ein Mundstück. Über mehrere Schläuche genießen wir das gemeinsame Rauchen, das von dem beruhigenden Blubbern der Wasserpfeife untermalt wird. Ich schaue beim Dominospiel zu und stelle fest, dass es nach Regeln gespielt wird, die auch mir vertraut sind. Zwanglos kommt es zum gemeinsamen Spiel. Und obwohl jeder bemüht ist zu gewinnen und sich ganz diesem Ziel widmet, lachen zum Schluss, als der Gewinner feststeht, alle gemeinsam und berühren sich an der Schulter. Wir haben keine gemeinsame Verbalsprache und verstehen uns trotzdem über Blicke und Gesten. Mein Nebenmann bedeutet mir, dass ich ihn zuhause besuchen soll. Und so lerne ich am nächsten Abend bei Fül, Falafel und Fladenbrot seine große Familie kennen.
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Abb. 132: Überall auf der Welt wird gespielt, hier in Seoul, Südkorea. Foto: Sunghee Jung.
37 Warum spielen wir? Anders gefragt: Welche Bedeutung hat das Spiel für das Individuum und für die Gesellschaft? In einer Demokratie muss man verlieren können. Denn sie lebt von kultivierten Auseinandersetzungen, bei denen es z. B. bei Wahlen neben Gewinnern immer auch Verlierer gibt. Das ist aber nicht jedem klar. Bei Donald Trump zum Beispiel. Bei der Neuwahl des US-Präsidenten 2020 wollte er seine Niederlage nicht eingestehen und stachelte mit dem Vorwurf, ihm sei die Wahl gestohlen worden, seine Anhänger indirekt zur Stürmung des Capitols am 06.01.2021 an. Dass er nicht verlieren kann, beweist er auch beim Spiel. Ein amüsanter Bestseller des Sportjournalisten Rick Reilly beschreibt, wie man Trump kennenlernt, wenn man mit ihm Golf spielt.286 Hiernach verläuft eine Partie Golf nach seinen Regeln. Seine Caddies haben immer Ersatzbälle in der Tasche und legen verschlagene Bälle für ihn zurecht. Er lässt sich auf seinen eigenen Golfplätzen als Gewinner in Eröffnungsturnieren eintragen, deren einziger Teilnehmer er selbst ist. So kommt er auf 18 Clubmeisterschaften, mit denen er bei jeder Gelegenheit prahlt. Seine Anhänger schwärmen für ihn als Gewinnertyp. Weder sie noch er lassen sich davon irritieren, wenn ihm Betrug vorgeworfen wird. Hauptsache, er strahlt als Sieger. Trump bietet eine der Ausnahmen, die die Regel bestätigen: Im Spiel lernt man wie im Sport, was in einer Demokratie unerlässlich ist: mit Anstand zu verlieren und zu gewinnen, wie so vieles andere auch. Den Gegner nicht zu demütigen und Misserfolg mit Gleichmut zu ertragen, Regeln zu akzeptieren und danach zu handeln, Fairness und Rücksichtnahme, Wettstreit und 363
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Kooperation, Verhandlung und Kompromiss – alle Verhaltensweisen, die das soziale Miteinander möglich machen, die feingesponnenen Grundelemente der Demokratie anstelle des plumpen Rechts des Stärkeren. Warum aber soll dieses Lernen im Spiel geschehen und nicht gleich in der Schule des Alltagslebens? Einfach deshalb, weil die Ernstsituation mit ihren nicht rückrufbaren Konsequenzen keine gefahrlose Erprobung vorsieht. Wenn einem Schüler etwas am anderen nicht passt, er ihn niederschlägt und mit den Schuhen ins Gesicht tritt, ist es schon zu spät, und beide haben verloren. Der eine, weil er verletzt am Boden liegt, der andere, weil er sich schuldig gemacht hat. Spiel dagegen ist darauf gerichtet, Win-Win-Situationen zu schaffen. Das geschieht zunächst insofern, dass alle Beteiligten Freude am Spiel selbst haben. Wenn es einen Wettstreit gegeben hat, wird der Verlierer durch das Mitgefühl der Mitspieler aufgerichtet. Der Gewinner verzichtet auf demütigendes Gehabe, und wenn er doch mit den Fäusten auf seine Brust trommelt wie das im Kampf überlegene Gorillamännchen, dann ist das ein selbstironischer Jux, über den alle lachen. Schauen wir uns an, wie Johan Huizinga in seinem Klassiker „Homo ludens“ von 1938 das Spiel charakterisiert: „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel … eine freie Handlung nennen, die als „nicht so gemeint“ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die die gewöhnliche Welt herausheben.“287 Die raumzeitliche Abkapselung vom Alltagsleben beschreibt den Schutzraum, innerhalb dessen sich Spiel ereignen kann, ohne Risiken für die Alltagsrealität. Paradigmatisch ist das Brettspiel, bei dem zwei oder mehr Personen sich um einen Tisch versammeln und die gemeinsame Bühne für ein symbolisches Event eröffnen. Das Spielbrett mit seinen Lauffeldern und besonderen Orten bedeutet die Welt. Die Spielfiguren stehen für die Spieler selbst oder für das Gefolge, das dem Willen des Spielers gehorcht. Die Würfel stehen für den Zufall, für das, was jedem Spieler zu-fällt. Auch die Spielkarten stehen für das Schicksal, für die unvorhersehbaren Geschicke, mit denen sich der Spieler auseinandersetzen muss. Die Regeln stehen für die Ordnung, die für diese Welt Geltung haben soll, für Naturgesetze und gesellschaftliche Gesetze. Spiele machen durch ihr „So-als-ob“ im Prinzip alles möglich, was die Phantasie erdenken kann. Jedes einzelne Spiel selektiert durch seine Regeln aus der unendlichen Menge des Möglichen ein überschaubares System, auf das sich alle einlassen. Sie sind für alle verbindlich. Die Spieler können sich zu Beginn auf Änderungen einigen, aber innerhalb des Spiels müssen sich alle an die Regeln halten. Spiele dieser Art sind über 6000 Jahre alt. Manche Regeln haben Weltreiche überdauert. Das altägyptische Senet, das als Vorläufer des heutigen Backgammons angesehen werden kann, ist 364
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älter als die Pyramiden und wird noch heute im Sudan gespielt. Als Überfahrtsspiel, in dem symbolisch der Übergang vom Diesseits ins Jenseits vollzogen wurde, hatte es im Neuen Reich Ägyptens religiöse Bedeutung. Wer im alten China das tausende Jahre alte Weiqi beherrschte, das uns unter dem japanischen Namen Go bekannt ist, bewies damit die Befähigung zu hohen Staatsämtern. Das uralte Mancala ist in Afrika das verbreitetste Brettspiel, aber in Europa nicht populär geworden, vielleicht wegen seines mathematischen Charakters. Es wird in Afrika fast nur von Männern gespielt und dient an der Elfenbeinküste dazu, einen neuen Häuptling zu küren. Pachisi ist das in Indien häufigste Spiel, wird hauptsächlich von Frauen gespielt und ist mindestens 500 Jahre alt. Es war Vorbild für unser „Mensch-ärgere-dich-nicht“, das 1910 erschien und durch die kostenlose Verteilung in Lazaretten des Ersten Weltkriegs populär wurde. Schach, wahrscheinlich vor 1200 Jahren in Indien als Chaturanga aus militärischen Sandkastenspielen entwickelt, war im Mittelalter bevorzugtes Spiel der christlichen Könige und gilt neben Go immer noch als das anspruchsvollste Brettspiel.288
Abb. 133: Seit über 5000 Jahren übernimmt in der symbolischen Welt des Spiels der Würfel die Rolle des Schicksals. Der Spielplan steht für die Welt, die Spielfigur steht für den Spieler selbst. Das wichtigste Element sind die Spielregeln, die die Gesetze der Realität nachahmen oder Phantasie Wirklichkeit werden lassen. Brettspiele ahmen oft bestehende Prozesse durch vereinfachte Interaktionsregeln die Realität nach. Es geht um die Einschätzung von Mitmenschen, um Handel, Verkehr und Stadtentwicklung oder auch um die Bekämpfung von Epidemien. Dadurch werden komplexe Zusammenhänge in ihren Grundzügen erfahrbar. Monopoly als das weltweit meistverkaufte Spiel vermittelt die Regeln eines ausbeuterischen Kapitalismus pur. Es ist nachvollziehbar, dass es im 365
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sozialistischen Ostblock verboten war, obwohl es auch erlebbar macht, wie die Mehrheit ruiniert wird, wenn letztlich einer alles bekommt. Der Spieler von Brettspielen erfährt eine ganze Welt im Kleinen. Er nimmt sie nicht nur wahr wie in Film und Theater, vergegenwärtigt sie sich nicht nur wie bei der Lektüre eines Romans, sondern wird selbst Akteur und nimmt Einfluss auf das offene Geschehen. Vielfach bilden Brett- und Kartenspiele ganz eigene Systeme, deren Wirklichkeitsbezug nur darin besteht, dass sie kognitiven, emotionalen, sensumotorischen und sozialen Bereitschaften des Menschen einzigartige Möglichkeiten zur Realisierung und Herausforderung bieten.
Abb. 134: Meine „Zauberkugel“, 1981 zum Patent angemeldet, schaffte es nicht über den Status des Prototyps hinaus. Mit schrittweiser Verlegung des Prinzips in die Fläche und die Vereinfachung in eine rechtwinklige Gliederung fester und beweglicher Teile machte ich daraus in Kombination mit dem Gedanken an einen veränderlichen Irrgarten das Brettspiel „Das verrückte Labyrinth“. Pro Jahr erscheinen weltweit ca. 1000 neue Brett- und Kartenspiele, trotz der elektronischen Konkurrenz hat ihre Zahl Jahr für Jahr zugenommen. Das bedeutet 1000 mehr oder weniger neue Regelsysteme, oft nur Varianten von Bekanntem, gelegentlich aber auch grundlegend neue Impulse. Solche sind unter dem Aspekt, dass Spiele nicht nur Regeln einer Kultur nachahmen, sondern auch vorahmen können, von besonderem Interesse. Ein solcher Impuls wurde seit 1977 mit den sog. „kooperativen Spielen“ gesetzt. Sie folgen dem lobenswerten Gedanken, dass es keine Konkurrenz unter den Menschen geben soll, sondern nur noch friedliche Zusammenarbeit. Das Spielprinzip besteht darin, gemeinsam eine bestimmte Aufgabe zu lösen, um gegen einen gemeinsamen Gegner oder gegen eine fiktive Widrigkeit gemeinsam zu gewinnen oder zu verlieren. Auch ich hatte 1988 in diesem Rahmen mit „Tina, Tim und Wambolo“ einen 366
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eigenen Beitrag geliefert: Bei dem in Afrika angesiedelten Spiel ging es darum, dass Touristenkinder zusammen mit einem einheimischen Kind ein Boot bauen, das sie von der Insel rettet, an der sie gestrandet sind. Bei Pädagogen fanden kooperative Spiele großen Anklang, Kinder fanden sie oft langweilig, weil ihnen die Spannung des Wettbewerbs fehlte. Zudem zeigte der Spielverlauf wider Erwarten oft eine Entwicklung, die den nicht selten basisdemokratisch orientierten Spieleautoren ein Dorn im Auge war: eine Tendenz weg von demokratischen zu autoritären Entscheidungen. Oft nahm ein Mitspieler, wenn das Spielverhalten der Partner nicht optimal war, die Zügel in die Hand und entschied über die Maßnahmen der anderen mit dem Argument der Notwendigkeit. Das war natürlich Wasser auf die Mühlen autoritärer Regierungsformen und durfte nicht sein, zumal Autokraten nicht unbedingt optimale Entscheidungen zugunsten aller treffen. Gelegentlich auch kam es zu Rivalitäten im Streit um die beste Strategie, und der ausgebootete Wettstreit tauchte unversehens wieder auf. In jüngster Zeit haben kooperative Spiele neuen Aufwind bekommen, etwa in Form von Escape-Spielen. Hierbei wird eine Gruppe real oder fiktiv in einem Raum eingeschlossen und muss verborgene Tricks herausfinden, mit denen sich alle befreien können. Aus besagten Gründen sind solche Spiele sozialdynamisch interessant und trainieren die Teamfähigkeit. Oft sind Spiele verboten worden. Etwa bei den Römern, bei denen sich manche Soldaten im Glückspiel ruinierten, oder im Mittelalter, wenn Lachen und Spiel, zeitweise sogar das Kinderspiel, verteufelt wurden, Spielbretter massenhaft verbrannt wurden und Spieler als Narren galten wie etwa im „Narrenschiff“ von 1494. Andere haben das Spiel hochgeschätzt wie etwa König Alfonso X von Kastilien. Er verfasste 1284 ein kunstvolles Buch über Spiele und betonte unter anderem, dass sie Menschen unterschiedlichster Herkunft, etwa Christen und Muslime, zusammenbringe. Auch die Wissenschaften haben vom Spiel profitiert. Die Spieltheorie formuliert mathematische Modelle für das Verhalten in Entscheidungssituationen, die z. B. für die Wirtschaft von Bedeutung sind. Hierfür sind bereits acht Nobelpreise vergeben worden. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die in heutiger Wissenschaft und Wirtschaft große Bedeutung hat, entstand aus der systematischen Analyse von Glücksspielen. Ihre Entwicklung wurde zuvor jahrhundertelang durch die Behauptung von Aristoteles gehemmt, dass sich der Zufall der Erkenntnis entziehe. Heutige Physiker stimmen darin überein, dass die Realität auf Quantenniveau, also auf der physikalischen Basis allen Geschehens, sich nur in Form von Wahrscheinlichkeiten zufälliger Ereignisse formulieren lässt. Manfred Eigen und Ruthild Winkler fassen aus biochemischer Sicht alles, was durch die Zweiheit Zufall und Gesetz bestimmt wird, unter den Begriff „Spiel“.289 Das menschliche Spiel hat große Bedeutung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Das beginnt natürlicherweise beim Kind. In den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind alle 367
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kognitiven, sensumotorischen und sozialen Fähigkeiten, die es für das spätere Leben braucht, spielerisch. Ob es das Spiel mit Bauklötzen, mit Puppen oder mit mechanischem Spielzeug ist, ob es sich um Fangen oder Verstecken oder Rollenspiele handelt. Es lernt die Eigenschaften der Dinge und kausale Zusammenhänge kennen (s. Abb. 105). Es lernt die Möglichkeiten und Grenzen seines eigenen Körpers kennen und zugleich sie zu erweitern. Es schärft seine Risikobereitschaft, indem es die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit auslotet, indem es balanciert oder auf Bäume klettert. Ein Grundverständnis für symbolische Bedeutungen, die für die Kultur fundamental sind, erwirbt es beim Spielen im Konjunktiv: „Ich wäre jetzt die Mutter, du wärst jetzt der Vater.“ Der Gebrauch des Konjunktivs macht zugleich deutlich, dass das Kind sehr wohl zu unterscheiden weiß zwischen der Wirklichkeit des Familienalltags und der Eigenwirklichkeit des Spiels, es schaltet problemlos zwischen beiden hin und her. Alles Lernen im Spiel geschieht en-passant, das Spielen macht Spaß, ohne dass ein Gedanke daran verwendet würde, dass das Gelernte für später nützlich werden könnte. Der todkranke Informatiker Randy Pausch hielt 2007 seine Last Lecture, in der er die Bedeutung hervorhob, Kindheitsträume wahr werden zu lassen. Dabei wies er auf die „Headfaker“ hin, wie er es nannte, Kunstgriffe der Natur, dass der Mensch Dinge lernt, ohne zu merken, was er eigentlich lernt.290 Von dieser Art ist die Freude am Spiel, scheinbar ohne Belang, doch ein Headfaker der besten Art. Jeder Sportler weiß, dass es Spaß machen kann, den eigenen Körper bis zur Erschöpfung zu fordern, und der Hirnforscher weiß, dass dabei Endorphine, körpereigene Substanzen des Belohnungssystems, mitwirken. Sie sind vermutlich auch beim Spiel des Kindes wirksam, denn es ist intrinsisch motiviert und bedarf keiner Belohnung von außen. Kinder spielen in allen Kulturen. Sehr oft sind es Spiele, die auf das Erwachsenenleben vorbereiten. Bei den Kindern der !Ko-Buschleute geht es von Wettläufen über das Zielwerfen mit Speeren bis zu Rangeleien, die sexuelle Kontakte einschließen.291 Von den Eskimos wurde lange Zeit behauptet, sie seien das einzige Volk, das keine Spiele kennt. Doch das ist ein Irrtum. Die Inuit, wie sie sich selbst nennen, kennen z. B. das Entenspiel. Eine Handvoll geschnitzter Entenfiguren wird auf den gestampften Schnee geworfen. Derjenige, bei dem die meisten Enten umgefallen sind, hat symbolisch die meisten Enten erlegt und gewonnen.292 Nicht alle Spiele folgen der preußisch strengen Forderung Immanuel Kants: „… es muss Spiel mit Absicht und Endzweck sein.“293 Die zwanglose Freiheit des Spiels, wesentliches Merkmal gegenüber der Arbeit des Erwachsenen, zeigt sich am deutlichsten im Unsinn, der den Kindern bekanntlich besonderes Vergnügen macht. Das gilt auch für Kinder der !Ko. Zu ihren Lieblingsspielen gehört, in die Wolken zu schauen und zu lachen, wenn sie darin bekannte Gesichter entdecken. Dass viele Tiere spielen, weiß jeder, der junge Katzen oder Hunde beobachtet. Interessant ist, dass es solche Tiere sind, bei denen das Verhaltensrepertoire nicht auf Instinkthandlungen beschränkt ist wie etwa bei den Insekten. Eine Eintagsfliege, kaum dass sie geschlüpft ist und ihre Flügel entfaltet hat, kann perfekt fliegen und sich mit ihren großen Augen orientieren, einen 368
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Partner suchen und nach dem Hochzeitsflug an der Wasseroberfläche Eier ablegen. Wenige Stunden oder Tage darauf stirbt das schöne Tier, ohne jegliche Nahrung für das kurze Leben aufgenommen zu haben. Anders ist es bei Tieren, die eine relativ lange Jugend haben und in dieser Zeit lebenswichtige Verhaltenskompetenzen erst erlernen müssen. Ihr Erwerb geschieht größtenteils durch spielerisches Tun. Auch bei Tieren ist Spiel nicht auf das Lebensdienliche beschränkt. Wenn ein Delphin wiederholt Luftringe bläst, die er anschließend durchschwimmt, wenn ein Sittich auf seiner Stange Purzelbäume schlägt oder wenn ein junger Schimpanse die Gelegenheit bekommen hat zu malen, dann sind das spielerische Tätigkeiten, die wenig mit überlebenswichtigen Übungen zu tun haben, aber dem Tier offensichtlich Vergnügen bereiten. Primatenforscher haben beobachtet, dass Schimpansen aggressiv reagieren, wenn man sie beim Malen unterbricht. Ganz ähnlich wie Kinder und Erwachsene, die man beim Spiel stört. Spiel ist nicht mehr Spiel im Sinne von Huizinga, wenn es die raumzeitliche Kapsel im Alltagsgeschehen verlässt und bedrohlich in die Lebenswirklichkeit hineinwuchert. Das ist im Falle von Spielsucht gegeben. Sei es, dass existenzbedrohende Risiken eingegangen werden, wie dies bei Glücksspielen seit alters her bis heute der Fall sein kann, sei es, dass normale Sozialkontakte, Interessen und Lebensvollzüge minimalisiert werden, wie dies bei 15,4 % jugendlicher Computerspieler zu beobachten ist.294 Dem kann begegnet werden, indem auch diese Form des Spielens bewusst auf einen begrenzten Kokon innerhalb der Lebenswirklichkeit beschränkt wird. Es ist nicht hilfreich, Computerspiele zu verteufeln. Sie waren schon früh ein starkes Motiv bei der weltweiten Entwicklung von Hard- und Software. Sie haben neue Konzepte ermöglicht, nicht nur durch immer realistischere Spielwelten, sondern vor allem durch die unmittelbare Interaktion mit dem Computer, was die Entwicklung von Solospielen stark begünstigt hat. Manchem mag diese Entwicklung nicht gefallen. Und obwohl ich selbst bei meiner Nebenbeschäftigung als Spieleautor auch in den neuen Medien mitgewirkt habe, bin ich doch stärker eingenommen für das Brettspiel. Dabei kommt es vor allem darauf an, dass zwei oder mehr Personen eine Gemeinschaft bilden, indem sie sich vorübergehend in eine fiktive Welt oder ein erdachtes System begeben und es im Miteinander zum Leben erwecken. Zum Brettspiel gehört ein ständiges Pendeln zwischen den Wirklichkeitsebenen des Spiels und der umgebenden Realität. Die spielerische Handlung ist symbolisch insofern, als sie sich auf die erfundene Realität bezieht, die Spielregeln und Spielplan heraufbeschwören. Zur umgebenden Realität gehören vor allem die Mitspieler, mit denen man sich auseinandersetzt. So fiktiv oder abstrakt die Welt oder das System des jeweiligen Spiels auch sein mag – das Erlebnis des Wettstreits ist real, auch wenn es nicht um Geld geht. Es ist ein echtes Sich-Messen, echte Denkarbeit oder körperliches Geschick, es ist echte Freude über Erfolg, echte Furcht vor Misserfolg, Lauern auf Fehler des Gegners, Entsetzen über eigene Fehler, gespannte Erwartung, ob das eingegangene Risiko zum Fiasko wird oder zum Sieg führt. Im Wettstreit 369
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auf Augenhöhe sucht jeder das Beste aus sich herauszuholen, beim Spiel von Erwachsenen mit Kindern wird das Gewährenlassen zum Spiel im Spiel. Psychologisch sind diese Erlebnisweisen so wirklich wie im Alltagsleben. Ebenso die sozialen Prozesse wie Einfühlung in die Mitspieler, Abschätzung ihrer Absichten, Kooperation und Verhandlung, Bluffen und Tricksen. Gemeinheiten sind ebenso möglich wie das Gewähren von Hilfe oder das Zeigen von Großmut. Wird die raumzeitliche Enklave des Spiels verlassen, bleibt doch die geteilte Freude am Spiel und das Erlebnis der Gemeinsamkeit, das zur Fortsetzung auch in anderer Hinsicht motiviert.
Spiel als Brücke in eine geschlossene Welt Während des Studiums mache ich ein Praktikum in der Psychopathologie. Dort habe ich die Aufgabe übernommen, mich mit einem etwa zwölfjährigen Jungen zu beschäftigen, der sich jeglichem sozialen Kontakt gegenüber verschließt. Peter, wie ich ihn hier nennen möchte, spricht kein Wort und reagiert in keiner Weise, wenn man ihn anredet. Ich setze mich ihm gegenüber, doch er schaut mich nicht an. Vielmehr sortiert er immer wieder einen Haufen Bauklötze in unterschiedliche Reihen oder betätigt das kleine Radio vor sich auf dem Tisch. Taub ist er offenbar nicht. Dann wieder sitzt er reglos und teilnahmslos und schaut vor sich hin. Ein schwerer Fall von Autismus, wie mir die Leiterin der Abteilung bedeutet. Mir kommt der Gedanke, aus dem Gemeinschaftsraum ein Brio-Labyrinth zu holen. Es besteht im Wesentlichen aus einem horizontalen Brett mit vielen Löchern, auf dem ein Parcours eingezeichnet ist. Mittels zweier Drehknöpfe lässt sich über den Parcours eine Stahlkugel bewegen, die irgendwann unweigerlich in eins der Löcher fällt. Eigentlich ein typisches Solospiel. Ich lege das Gerät vor mir auf den Tisch und beginne die Kugel zu bewegen. Der Knall, wenn die Kugel in ein Loch fällt, lässt Peter aufmerken. Dann schaut er zu. Nach einiger Zeit schiebe ich ihm das Gerät hinüber und lege die Stahlkugel auf. Schnell hat er begriffen, wie sie sich bewegen lässt. Nach einigen Fehlversuchen gelingt es ihm, den Anfang des Parcours zu meistern. Mal um Mal kann er die Kugel ein Stück weiter rollen lassen. Als er es besonders weit geschafft hat, kommt ein unerwarteter Moment. Er schiebt mir das Gerät zu und schaut mich kurz an. Zum ersten Mal. Offenbar will er wissen, ob ich es auch soweit schaffe wie er. Es entspinnt sich ein Wettstreit ohne Streit, eine wechselseitige Anteilnahme am Tun des anderen. Ein großer Fortschritt. Ich freue mich und habe den Eindruck, dass auch Peter sich freut. Nach einigen Tagen, zwischen denen Peter offensichtlich weitergeübt hat, meistert er das Spiel so weit, dass ich ihn kaum noch schlagen kann. Es macht ihm offensichtlich Spaß, besonders, mir das Labyrinth immer wieder
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herüberzuschieben und zu beobachten, wie mir die Kugel vorzeitig herunterfällt. Aus dem Solospiel ist ein Gemeinschaftsspiel geworden. Mit einem Autisten. Unglaublich.
Gemeinsames Spiel bedeutet das gemeinsame Erschaffen von etwas, das die Beteiligten mit Leben erfüllen. Auch hier geraten Erlebniswirklichkeiten verschiedener Menschen in Resonanz, durch Mit-Denken, Mit-Fühlen und Mit-Handeln in klar umgrenztem Rahmen. Das Spiel entfaltet in Wettstreit und Kooperation große soziale Stärke. Auch wenn es sich nur um eine fiktive Welt handelt, ist es doch für die Zeit des Spiels eine gemeinsame, die eine enge Art von geteilter Gemeinschaft bildet. Für die Zeit des Spiels sind alle Unterschiede der Teilnehmer auf null gestellt. Alter, Geschlecht, Herkunft haben hier keine Bedeutung. Sofern es Rollenunterschiede gibt, gehen sie aus den Forderungen der Spielregeln hervor. Von daher ist das Spiel prädestiniert, eine verbindende Wirkung für Menschen verschiedener Kulturen oder Religionen zu schaffen – wie schon zur Zeit von König Alfonso X. Dabei sind besonders solche Spiele geeignet, die entweder schon alle kennen, weil sie international bekannt sind, oder die nach Regeln erfolgen, die sich schon durch das bloße Zuschauen erklären. Angebote zu entsprechenden Spiele-Treffs, die bereits an vielen Orten stattfinden, bieten eine nicht zu unterschätzende Gelegenheit bei den so schwierigen wie bedeutsamen Versuchen, gegenseitige Verständigung in einer multikulturellen Bevölkerung zu erreichen. Kurz gesagt: Im Spiel lernen wir, was Demokratie braucht: Regeln zu vereinbaren, an die sich dann alle halten, mit Anstand verlieren und gewinnen zu können. Fairness, Wettstreit und Kooperation werden dort als bessere Alternative zum Recht des Stärkeren erfahren. Spiele sind nicht nur für Kinder eine Schule für das Leben, vielmehr bieten sie ganz allgemein Herausforderungen für geistige und körperliche Fähigkeiten. Zudem sind sie wie der Sport geeignet, über sprachliche und kulturelle Hürden hinweg Gemeinsames zu erfahren und Gemeinschaften zu bilden.
Literatur Decker 1987. Huizinga 1956. Kant 1803. Kobbert 2019b. Pausch 2008. Sbrzesny 1976. Schädler 2007.
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Ein digitales Mordopfer Spätestens seit dem Kultfilm „2001 – Odyssee im Weltraum“, in dem sich der Bordcomputer HAL selbständig macht, Bordmitglieder tötet und schließlich von Astronaut Bowman ausgeschaltet wird, wird die Frage diskutiert, ob Computer Bewusstsein haben können. Dazu würde gehören, dass sie ein Selbst haben, das sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt. Von dieser einfachen Grundannahme über das Bewusstsein gehe ich aus, als ich in den 1980ern auf dem Atari-Computer ein Programm schreibe, das dies auf einem einfachen Niveau realisieren soll. Das Selbst sei konzentriert in einem Punkt, der sich durch ein Labyrinth bewegen und aus ihm herausfinden soll. Das vielfach verwinkelte Labyrinth erstelle ich als Schwarzweiß-Grafik, die groß auf dem Bildschirm erscheint. Mitten hinein setze ich den Punkt, der sich nun gemäß Programm anfangs nur nach trial and error bewegt. Er „weiß“ zunächst nichts, als dass er überall, wo er an ein Hindernis stößt, den Weg ändern muss, und dass er Sackgassen, in denen er gelandet ist, künftig meidet. Dadurch „erfährt“ er seine Umwelt als allmählich wachsendes Gangsystem. Diese „seine Welt“ wird in einer eigenen Matrix gespeichert und in der linken oberen Ecke des Bildschirms in einem Extrabereich angezeigt, einschließlich des Ortes, an dem er sich selbst momentan befindet. Ich sehe ihn also als Punkt im großen „objektiven“ Labyrinthmuster herumlaufen und gleichzeitig als Punkt in seiner anfangs kleinen und dann immer größeren „subjektiven“ Welt. Fasziniert schaue ich dem hin und her irrenden Punkt zu, fast schon wirkt er wie ein kleines Lebewesen, wie eine Labormaus. Ich freue mich, wenn er einen vielversprechenden Weg einschlägt und seufze, wenn er sich in einem Sektor verirrt, der aussichtslos ist. Schlussendlich aber findet er den Ausgang. Ich registriere, dass er große Teile des Labyrinths gar nicht kennen gelernt hat. Sie gehören nicht zu seiner Welt, so wenig wie für einen Menschen Bereiche, mit denen er sich nie beschäftigt hat. Der Punkt hat ins Freie gefunden und tanzt nun ungezwungen umher. Ich gratuliere ihm und hebe die Hand, um das Programm zu beenden. Doch sie verharrt über der Escape-Taste. Mein Gewissen regt sich. Darf ich die Existenz des fröhlich tanzenden Punktes auslöschen, der so erfolgreich seine Aufgabe gelöst hat? Immer noch tanzt er herum. Ich muss die Sache rational angehen. Natürlich, ich projiziere nur meine Gefühle in einen fliegendreckgroßen Punkt, vergeude Empathie an seelenlose Bits und Bytes. Und erkenntnistheoretisch ist das Programm für die Bewusstseinsfrage sowieso zu naiv gestrickt. Schluss mit dem Unsinn. Ich drücke die Taste, der Bildschirm wird schwarz wie meine Seele. 10 Jahre später erobern aus Japan kommend die Tamagotchis die Welt, elektronische Pixelwesen auf schlüsselanhängergroßen Displays mit einer Auflösung von anfänglich nur 32×16 Pixeln. Sie müssen mit drei Tasten regelmäßig gepflegt und gefüttert
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werden, sonst werden sie krank und sterben. Weil das allzu schnell passiert, gibt es weltweit Kindertränen und Probleme im Schulunterricht. Nein, ein solches Ding lasse ich nicht ins Haus. Eine solch abstruse Verirrung von Empathie möchte ich bei meinen Töchtern nicht auslösen. Dann sollen sie lieber das Pony bekommen, das sie sich schon so lange wünschen, oder einen Wellensittich. Die Erfahrung mit dem gekillten Punkt hat mir gereicht. Aber dann haben sie plötzlich doch ein Tamagotchi, weiß der Himmel, woher …
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Überholt uns die Künstliche Intelligenz?
Anders gefragt: Kann die KI zu einer Bedrohung für die Menschen werden? 1996 fand in Philadelphia ein Schachwettkampf statt, der in die Schachgeschichte einging. Deep Blue, ein IBM-Computer, besiegte den damaligen Weltmeister Garri Kasparow in der ersten Partie des Wettkampfes. Bis zum 10. Zug folgte der Computer einprogrammierten Eröffnungen, dann machte Kasparow einen Überraschungszug, und der Computer fing an zu rechnen. Nach dem 37. Zug von Deep Blue musste Kasparow aufgeben. Das Gesamtmatch gewann der Mensch mit 4:2. Es war das letzte Mal bei einem solchen Wettkampf. Bei dem für 1997 angesetzten Match, dem „größten Internetereignis aller Zeiten“, wollte Kasparow „die Ehre der Menschheit“ verteidigen. Doch er verlor. 2005 schlug der Computer Hydra den Großmeister Michael Adams; seither wurde Hydra von keinem menschlichen Gegner mehr bezwungen. Ob Konrad Zuse sich das hätte vorstellen können, als er 1938 in Berlin aus einem Stabilbaukasten das erste „mechanische Gehirn“ bastelte, die Z1? Die vierte „narzisstische Kränkung“ der Menschheit war vollzogen. Für die ersten drei stellte sich Sigmund Freud in eine Reihe mit Kopernikus und Darwin.295 Die erste war kosmologisch, als Kopernikus die Erde aus dem Zentrum der Welt rückte. Die zweite war biologisch, als Darwin erkannte, dass der Mensch dem Tierreich entstammt. Die dritte, psychologische, rechnete Freud sich selbst zu mit der peinlichen Erkenntnis, dass der Mensch von seinen Trieben gelenkt wird. Mit der jetzt erfolgten vierten droht der Mensch neben der Selbstkontrolle auch seine geistige Überlegenheit zu verlieren. An eine Maschine. Dies schien schon Ende des 18. Jahrhunderts der Fall zu sein, als ein Schachroboter, als Türke ausstaffiert, die meisten Partien gewann. Die Maschine galt als technische Sensation. Sie verlor nur gegen den damaligen Weltmeister Philidor. Tatsächlich war ein Mensch in dem Tisch unter dem Schachbrett versteckt. Das technische Wunder, das auch Kaiser Joseph, Friedrich den Großen und Napoleon beeindruckte, war also „getürkt“. Jetzt aber, mit Beginn des 3. Jahrtausends, scheint der Schritt tatsächlich vollzogen. Sind Computer inzwischen intelligenter als Menschen? 373
Die zweite Entstehung der Welt
Abb. 135: Erste Go-Partie am 09.03.2016 zwischen dem Südkoreaner Lee Sedol (schwarz) gegen AlphaGo (weiß) nach dem 99. Zug. AlphaGo gewann nach 186 Zügen durch Aufgabe von Schwarz. (Public domain) Go gilt als wesentlich komplexer als Schach, obwohl die Grundregeln sehr einfach sind. Es gewinnt, wer mehr Gebiete erobert. 2016 wurde Lee Sedol, jahrelang Weltmeister, vom Computer AlphaGo mit 4:1 besiegt. 2019 trat Lee vom Wettkampfsport zurück, schockiert von der Spielstärke des Computers. Das Nachfolgemodell AlphaZero setzte noch eins drauf. Es brachte sich Schach und Go bei, indem es gegen sich selbst spielte. Ihm wurden keine Eröffnungsbibliotheken einprogrammiert wie früheren Schachcomputern, sondern lediglich die Spielregeln. Mit selbstlernenden Algorithmen gelangte es innerhalb von nur vier Stunden auf eine Spielstärke, mit der es menschliche Meister und konkurrierende Computerprogramme vernichtend schlug. In der US-Quizshow Jeopardy! siegte die KI des Supercomputers Watson 2011 über zwei menschliche Champions. Die Aufgaben bestanden darin, für Antworten die passenden Fragen zu finden. Sie wurden, oft ironisch und mit Wortwitz versehen, als Text eingegeben, z. B. „Du brauchst nur ein Nickerchen. Du hast nicht diese Krankheit, die Menschen dazu bringt, im Stehen einzuschlafen.“ Watson entgegnete richtig: „Was ist Narkolepsie?“ Für eine Lösung hatte Watson fünf Sekunden Zeit, in seinem Speicher von 100 Gigabyte mehrere Enzyklopädien und den Inhalt von Wikipedia zu durchsuchen. Dabei antwortete Watson mit einer Stimme, die der von HAL ähnelte. Watson wurde von IBM als semantische Suchmaschine entwickelt, die den Sinn verbaler Eingaben erfasst und in Datenbanken nach einschlägigen Informationen sucht. Sie soll z. B. im Bereich der medizinischen Diagnostik und Therapie Verwendung finden. In der Wirtschaft ist es schon so weit. 2017 ersetzte eine japanische Versicherung 374
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Überholt uns die Künstliche Intelligenz?
30 Mitarbeiter durch Watson. Der Philosoph John Searle bezweifelt, dass Watson wirklich denken und Symbole verstehen kann. Andere sind gegenteiliger Auffassung.296 Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme kanzelte den Wettkampf zwischen Kasparow und Deep Blue von 1997 als „Albernheit“ ab. So einfach ist aber das Problem des Verhältnisses der Künstliche Intelligenz-Forschung KI zur menschlichen Intelligenz nicht wegzuwischen. Eingehend untersucht Martina Heßler das Thema und bemerkt: „Der Sieg Deep Blues wurde einerseits als „Meilenstein“ der KI-Forschung bezeichnet, andererseits als „Sackgasse“, da die Überlegenheit des Schachcomputers auf reiner Rechengewalt beruhe und nichts mit „wirklicher KI“ zu tun habe.“297 Das Schachspiel gilt seit Jahrhunderten als Herausforderung für den menschlichen Geist. Als der Internationale Meister David Levy 1968 wettete, dass er innerhalb der nächsten 10 Jahre keinen Schachwettkampf gegen einen Computer verlieren würde, wurde der Gewinn der Wette als Überlegenheit menschlicher Intelligenz gefeiert. 1989 aber war er gegen den Schachcomputer Deep Thought chancenlos. Nun wurde der menschliche Geist mit dem Hinweis darauf gerettet, dass der Schachcomputer wie ein engstirniger Fachidiot eben nur Schach beherrsche und nichts anderes, während der Mensch sich mit Grundfragen der Existenz beschäftige, von denen der Computer keine Ahnung habe. Vor allem wurde immer wieder ins Feld geführt, dass der Computer je nach Zahl der Figuren auf dem Brett 8 bis 40 Züge mit sämtlichen Verzweigungen durchrechnet, ohne Sinn für gute oder schwache Züge. Deep Blue bewertete ca. 200 Millionen Stellungen pro Sekunde. Der Mensch dagegen beschränkt sich auf eine Auswahl sinnvoller Züge. Diese aber sei, so wurde eingewandt, der Computer nicht fähig zu erkennen, weshalb seine Leistung nicht als Denken zu bezeichnen sei. Auch der Datenspeicher mit sämtlichen Eröffnungs- und Endspielbibliotheken habe nichts mit KI zu tun, sondern nehme lediglich die Vorleistung menschlicher Gehirne in Anspruch. Die Mehrleistung des Computers lässt sich mit einem Radlader vergleichen, der mit seiner Schaufel ungleich mehr Erde transportieren kann als ein Mensch mit bloßen Händen, während er außerstande ist, aus einer Handvoll Erde etwa eine menschliche Figur zu formen. In geeigneter Kombination von Hard- und Software verfügen heutige Computer über eine Leistung, mit der sie menschliche Gegner in logisch aufgebauten Spielen wie Schach und Go schlagen können. Für diese pragmatische Betrachtungsweise spielt es keine Rolle, ob man die Arbeitsweise des Computers als Denken bezeichnet oder nicht. Wichtiger ist bei dieser Sichtweise, dass sich zahlreiche neue Anwendungsfelder für den Computer eröffnen, einschließlich des Problems der Entbehrlichkeit des Menschen für entsprechende Aufgaben. Lassen wir zum Thema Künstliche Intelligenz eine Historikerin, einen Kosmologen und einen Philosophen zu Wort kommen. Martina Heßler, seit 2019 Professorin für Technikgeschichte, geht dem Narrativ der KI-Geschichte nach. KI hatte von Anfang an eine Doppelfunktion. Sie sollte erstens dazu dienen, durch technologische Modelle Einsichten in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu gewinnen, zweitens praktische Anwendungen etwa in Suchmaschinen oder in der Prozesssteuerung zu ermöglichen. Die frühe KI folgte 375
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einem Denkbegriff, der philosophischer Tradition entsprechend mit Logik identifiziert wurde. Schon Descartes hatte Schlussfolgern als eine Art Rechnen beschrieben. Das erleichterte die Identifizierung mit Informationsverarbeitung und die Verbindung zur Programmierlogik, und Schach wurde zur „Drosophila“ der KI-Forschung. Es galt: Wenn ein Computer einen Menschen im Schach schlagen könne, sei er intelligent. 1957 wurde prognostiziert, dass in 10 Jahren ein Computer Schachweltmeister würde. Es dauerte 40 Jahre. Nach weiteren 10 Jahren hatte Deep Fritz bereits so deutlich gegen Weltmeister Vladimir Kramnik gewonnen, dass seither wegen der uneinholbaren Überlegenheit der Maschinen keine Wettkämpfe mehr zwischen Mensch und Computer ausgetragen werden. Das Wort „Kapitulation“ wurde vermieden. Schon 1950 unterschied der Begründer der Informationstheorie Claude Shannon zwischen der A- und der B-Methode. Bei der A-Strategie (Brute-Force-Methode, die alle möglichen Züge verfolgt) sind ca. 10 000 000 000 Stellungsbewertungen bei der Berechnung von drei Doppelzügen erforderlich, was seinerzeit 16 Minuten Rechenzeit pro Zug erforderte (heute einige Sekunden). Bei der B-Strategie selektiert der Computer erfolgversprechende Züge. Da dies viel schwieriger zu programmieren ist, konzentrierte sich die KI-Forschung auf die A-Methode. Sie wurde erleichtert durch die exponentielle Entwicklung von Speicherkapazität und Rechengeschwindigkeit der Hardware, allerdings entfernte sich damit die KI-Forschung von dem Anspruch, das menschliche Denken begreifbarer zu machen und es als Modell zu verwenden. Alan Turing entwarf 1950 einen damals hypothetischen Test: Wenn eine Maschine sich so verhält, dass wir ihren Output nicht mehr von menschlichen Äußerungen unterscheiden können, dann könnten wir von maschinellem Denken sprechen, auch wenn die Art dieses Denkens nicht die gleiche wie das menschliche ist. Entsprechend meinte Marvin Minsky, KI sei gegeben, wenn Maschinen zu Leistungen in der Lage sind, zu denen Menschen Intelligenz benötigen.298 Inzwischen wurde die Strategie zugunsten der B-Methode verlagert, für die es vielversprechende Ansätze gibt. Der formal-logische Ansatz der Brute-Force-Methode bei Deep Blue, der sich als Sackgasse erwies, wird vom sog. Konnektionismus abgelöst, der neuronale Netze als Modell zugrunde legt. Dabei orientiert man sich an dem Vorbild von Hirnstrukturen und -prozessen, allerdings weniger, um dem ursprünglichen Ziel zu dienen, das menschliche Denken besser zu begreifen, als vielmehr, um das biologische Vorbild durch technologische Mittel aufzurüsten und an Schnelligkeit und Präzision zu übertreffen. Ziele sind jetzt Anwendungen wie z. B. Analysen in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen. Shannon sprach bereits 1950 von der Möglichkeit, dass auch militärische Entscheidungen durch KI beeinflusst werden könnten. Tatsächlich ist KI längst in Waffensystemen angekommen.299 Shannons Methode B, nämlich sinnvolle Züge zu selektieren, hielten Theoretiker lange Zeit für typisch menschlich und elektronisch nicht simulierbar. Außerdem sei die menschliche Sprache oft uneindeutig und verlange die Berücksichtigung von Kontexten, über die ein Computer nicht verfüge. Der Philosoph Hubert Dreyfus bezweifelte, dass der Computer imstande 376
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sei, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und nach Wert zu selektieren, auch nicht mit neuronalen Netzen. Searle kritisierte, die Simulation von Denken werde mit Denken verwechselt, der Übergang von Quantität zu Qualität sei dem Computer nicht möglich. Deep Blue, so die Einschätzung vieler Philosophen und Schachkommentatoren, sei ein ärgerlicher Pseudo-Erfolg. Schach bestünde nicht nur aus logischen Operationen, es sei mit Witz und Mut verbunden, mit Gefühlen wie Angst, Freude oder Hoffnung. Exweltmeister Boris Spasski vermisste Intuition. Computer sind außerstande, eine Begründung für einen Zug anzugeben, die vom Menschen nachvollzogen werden könne, außer einer Zahl für die Gewinnerwartung. Ihnen fehlt die Reflexivität. Exschachweltmeister Kramnik äußerte einmal: „Ich weiß manchmal aus dem Bauch heraus, wie ich ziehen muss. Ich kann es nicht erklären, auch nicht mathematisch beweisen, ich fühle es einfach – und mein Gefühl hat mich selten getäuscht.“300 Es gab auch Reaktionen auf den Erfolg von Deep Blue, die zu einer Abwertung des Schachspiels führten nach dem Muster, dass es keine besondere menschliche Leistung erfordere, wenn es sogar ein Computer schaffe zu gewinnen. So wurden mit dieser Begründung Sponsorengelder zurückgezogen. Dieser abwertende „KI-Effekt“ erfolgt häufig auf einen KI-Erfolg hin. Heßler hält ihn für eine anthropozentrische Voreingenommenheit. Watson schuf eine neue Situation. Der Computer war imstande, in Sekundenschnelle Daten aus Millionen von Dateien zu untersuchen, die nicht vorstrukturiert waren. Mit Watson wurde die Brute-Force-Methode verlassen. Es ist ein lernendes System, das auch Uneindeutigkeiten und ironische Bemerkungen einordnen kann, wie es bei Jeopardy! bewiesen hat. Doch auch hier handelt es sich nicht, wie Noam Chomsky bemerkte, um ein Verstehen, vielmehr nähern sich seine Algorithmen einer Zuordnung auf statistischem Wege. Allerdings bleibt die Frage, ob die Hirntätigkeiten, deren Ergebnis wir als Verstehen bezeichnen, auf nicht bewusster Ebene nicht auch eine Art Wahrscheinlichkeitsrechnung durchführen. Allgemein wird zwischen starker und schwacher KI unterschieden. Als schwache KI gelten künstliche Systeme, die begrenzte Aufgaben lösen können, etwa im Bereich der Text- Sprachund Bilderkennung, der Textkorrektur, der automatisierten Übersetzung, der Navigationssysteme und der Prozesssteuerung. Viele davon sind schon in unseren Alltag vorgedrungen, machen sich in Chatbots und personalisierter Werbung bemerkbar. Schwache KI ist eine starke Einnahmequelle sowohl von Großunternehmen wie IBM und Google als auch vieler kleiner Start-Ups. Von starker KI wird bislang nur hypothetisch gesprochen. Sie wäre menschlicher Intelligenz ebenbürtig oder würde sie übertreffen. Die Grenze zur starken KI ist mit der Simulation neuronaler Netzwerke und lernender Systeme im Prinzip vielleicht schon erreicht. Auf dem 1. Symposion zur Künstlichen Intelligenz, Dartmouth College 1956, hieß es: „Die Studie soll von der Annahme ausgehen, dass grundsätzlich alle Aspekte des Lernens und anderer Merkmale der Intelligenz so genau beschrieben werden können, dass eine Maschine zur Simulation dieser Vorgänge gebaut werden kann.“301 Die Frage, ob eine Maschine denken kann, setzt eine 377
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genaue Beschreibung der Prozesse beim Menschen voraus. Diese ist bis heute nicht hinreichend gegeben. Die Diskussion um das, was Intelligenz sei, ist seit Entwicklung des ersten Intelligenztests durch Simon & Binet 1904 immer noch im Fluss, und die Neurophysiologie befindet sich mitten in der Erforschung der Grundlagen. Auf Elementarniveau, wie der Signalübertragung an Synapsen, ist das Wissen weit fortgeschritten, auf höheren Ebenen der Verarbeitung herrscht noch große Unklarheit. Die elementaren Arbeitsprinzipien von Computern sind allgemein bekannt, doch seitdem lernende Programme sich selbst weiterentwickeln können, wissen schon die Konstrukteure nicht immer, wie ihre Geschöpfe zu Ergebnissen kommen. Sowohl beim Schach wie beim Go machen die Maschinen gelegentlich Züge, die professionelle Spieler überraschen, aber zum Erfolg führen. Dass für den Menschen nicht nachvollziehbare Entscheidungen einer KI künftig bei wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Entscheidungen ausschlaggebend sein könnten, ist eine durchaus realistische Möglichkeit, die Unbehagen auslöst. Denn sie könnte dem Menschen das Heft aus der Hand nehmen und inhumane Entwicklungen in Gang setzen. Max Erik Tegmark ist Kosmologe, Wissenschaftsphilosoph und namhafter KI-Forscher. Er war wesentlich beteiligt an der Analyse der kosmischen Hintergrundstrahlung. So nimmt es nicht Wunder, dass er in der Entwicklung der KI einen Meilenstein in der kosmischen Evolution sieht, die er mit dem Urknall vor 13,8 Milliarden beginnen lässt und dass er mit seinem Buch „Leben 3.0“ zum „wichtigsten Gespräch unserer Zeit“ einlädt. Dem einfachen biologischen Leben 1.0 lässt er das kulturelle Leben 2.0 und nunmehr das technische Leben 3.0 folgen. Bei Leben 1.0 bringt die biologische Evolution dessen Hardware und Software hervor, Leben 2.0 gestaltet einen großen Teil seiner Software selbst, Leben 3.0 gestaltet sowohl seine Hard- und Software selbst. Tegmark berichtet von Gesprächen zwischen dem Google-Mitbegründer Larry Page und Elon Musk, Mitinhaber von Tesla, PayPal und SpaceX. Page bezeichnet er als „digitalen Utopisten“, der davon überzeugt ist, dass man digitalen Intellekten freien Lauf lassen müsse, die sich irgendwann über die Galaxie und darüber hinaus ausbreiten werden. Die verbreitete KI-Paranoia und das Festhalten an kohlenstoffbasiertem Leben ärgern Page. Er kann sich durchaus vorstellen, dass Leben auf der Grundlage von Silizium eine Fortsetzung finden kann. Musk dagegen ist skeptisch und fragt, weshalb er „so zuversichtlich sei, dass das digitale Leben nicht alles zerstören würde, was uns am Herzen liegt.“302 Mit den digitalen Utopisten, der nutzbringenden KI-Bewegung und den Technoskeptikern zeigt Tegmark die Spannbreite der Diskussion auf, in die er den Leser hineinnimmt. Seit 2015 ist die KI-Sicherheitsforschung in die öffentliche Diskussion geraten, nachdem mögliche Gefahren bis dahin von KI-Entwicklern als technikfeindliche Panikmache abgetan wurden. Tegmark wurde Mitbegründer der gemeinnützigen Organisation Future of Life Institute (FLI), die der Sicherheit des Lebens unter den Bedingungen einer von KI geprägten Zukunft gewidmet ist. Allerdings versteht er unter Leben auch und besonders Leben 3.0. Der qualitative Schub, an dessen Schwelle wir derzeit stehen, lässt sich nach seiner Ansicht in seiner 378
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Tragweite vergleichen mit einem vorangegangenen: „Eine der spektakulärsten Entwicklungen während der 13,8 Milliarden Jahre seit dem Urknall ist die Tatsache, dass dumme und leblose Materie intelligent geworden ist.“ Dabei versteht er unter Intelligenz die Fähigkeit, komplexe Ziele zu erreichen. Und weil es viele mögliche Ziele gibt, gibt es auch viele Arten von Intelligenz, z. B. auch die, im Schach gewinnen zu können. Als wesentliches Schaltelement nennt er das „NAND-Gatter“ (NICHT-UND-Verknüpfung). Hieran führt er aus, dass sich in der Informatik „aus herkömmlicher dummer Materie“ im Prinzip ein universelles Gerät konstruieren lässt, „das alles berechnen kann!“303 Damit wird prinzipiell erreichbar, was Tegmark als „Allgemeine Künstliche Intelligenz AKI“ bezeichnet, eine maximal umfassende Intelligenz, die z. B. auch in der Lage ist zu lernen und mindestens der des Menschen entspricht. Diese Stufe hält er in nicht allzu ferner Zukunft für wahrscheinlich. Er hält ein solches System für „substratunabhängig“. Es begann vor über 100 Jahren mit elektromechanischen Bausteinen, setzte sich fort mit Relais, Vakuumröhren und Transistoren bis zu den gegenwärtigen integrierten Schaltkreisen zusammen mit einer quantitativ exponentiell wachsenden Leistung. Substratungebundenheit bedeutet auch Unabhängigkeit von biologischen Bausteinen. Das heißt, ein an biologische Bausteine geknüpftes informationsverarbeitendes System wie das Gehirn ließe sich technologisch an ein anderes Substrat binden.
Abb. 136: Schema eines maschinellen selbstlernenden neuronalen Netzwerks, wie es bei der Gesichtserkennung Verwendung findet. Es orientiert sich an neuronalen Netzwerken, wie sie in der Hirnrinde vorkommen. Der Input erfolgt unten in Form von Zahlen, die Intensitäten einzelner Pixel enthalten. Die Knotenpunkte entsprechen Neuronen bzw. NAND-Gattern. Jeder Baustein ermittelt den durchschnittlichen Input und gibt ein modifiziertes Ergebnis aus. Diese Funktion ist abhängig von Häufigkeit und Intensität des Inputs und bildet damit die Grundlage des „Lernens“. Von unten nach oben nimmt die Komplexität der erfassten Merkmale zu. Rekurrenzen (Rückkopplungen) überprüfen und korrigieren die Merkmalsmuster. Je nach Input kann der Output aus der Unterscheidung z. B. von Früchten oder Gesichtern bestehen.304 Das visuelle System des Menschen ist z. T. vergleichbar organisiert (vgl. Abb. 12). 379
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Von besonderem Interesse sind lernende Systeme. Sie sind nach Art von Abb. 136 in funktionale Schichten gegliedert, deren vernetzte Elemente ihre Arbeitsweise in Abhängigkeit von Häufigkeit und Intensität des Inputs verändern (≙ Lernen) und von Schicht zu Schicht die Komplexitätsstufe steigern. Welche Merkmale letztlich im Output unterschieden werden, hängt vor allem von der Variabilität des Inputs ab. Das System ist rekurrent, d. h. rückbezüglich und auch insoweit dem biologischen Vorbild ähnlich. Eine Besonderheit des Systems ist die Unvorhersehbarkeit der Ergebnisse. Die Konstrukteure des Systems geben zwar die Struktur der neuronalen Netze vor, doch was sich in ihnen entwickelt, ist oft überraschend. Noch 2004 meinte man, kein Computer könne so gut sehen wie eine Maus. Inzwischen sind durch „deep learning“ bemerkenswerte Leistungen möglich, wenn auch gelegentlich sinnlose Ergebnisse zustande kommen. Der Sieg von AlphaGo gegen Lee Sedol wurde z. B. damit erklärt, dass der Computer eine gute Stellung auf seine Art „sehen“ kann. 2014 wurden von einem Google-Team neuronale Netzwerke großen Datenmengen ausgesetzt und danach vor die Aufgabe gestellt, zu irgendwelchen Fotos passende Unterschriften zu formulieren. Als Antworten kamen dann „Eine Gruppe junger Leute spielt Frisbee“ oder „Eine Elefantenherde trottet über ein trockenes Grasfeld“ – völlig zutreffend, ohne dass dem Computer speziell Algorithmen zur Erkennung von Frisbees oder Elefanten eingegeben worden wären.305
Der C64 als Frauenkenner Mitte der 1980er Jahre besorgte ich einen Commodore 64, den seinerzeit populärsten Heimcomputer mit stolzen 64 KB Arbeitsspeicher und mit Floppy als Programmspeicher. Der zugehörige Monitor konnte Grafiken in 16 Farben anzeigen. Das war ein enormer Fortschritt gegenüber früheren Geräten, bei denen eine Kathodenstrahlröhre nur grün flimmernde Zahlen und Buchstaben zeigte. Meine erste Anwendung an der Kunstakademie Münster bestand darin, einen spielerischen Farbtest durchzuführen. Zunächst ließ ich eine größere Anzahl Probanden jede Monitorfarbe daraufhin bewerten, wie sehr sie gefalle, und notierte das Geschlecht der jeweiligen Person. Im zweiten Durchgang fütterte ich den C64 mit den Ergebnissen und versah ihn mit einem Steckmodul für synthetische Sprachausgabe. Nun hatten die Studierenden eines Seminars die 16 Farben zu bewerten. Jeweils im Anschluss ertönte die Kunststimme des Computers und verkündete schnaufend, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Versuchsperson weiblich bzw. männlich sei. Alle waren gespannt auf ihr Ergebnis und amüsierten sich, wenn es daneben lag. Die Trefferquote betrug über 70 %. Das Beste an dem Experiment waren die anschließenden Diskussionen um Farbpräferenz, Geschlechtsspezifität und Individualität. Nebenher wuchs bei vielen Studierenden der Wunsch, eine Programmiersprache zu lernen und den PC als Werkzeug für künstlerische
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Experimente zu nutzen. Die ersten Produkte – grafische Animationen, fraktale Muster, Texte, die sich in Pixelwolken auflösten und synthetische Gedichte – wurden 1989 auf Commodore und Atari präsentiert, skeptisch beäugt von den Kunstprofessoren, die nur Pinsel und Bleistift gelten lassen wollten. Jahre später waren computergesteuerte Lichtprojektionen und andere Formen digitaler Kunst zur Selbstverständlichkeit geworden.
Inzwischen ist die automatische Transkription von Handschriften und das Erkennen von Sprache weit fortgeschritten und ins Alltagsleben vorgedrungen. Auf vielen Websites müssen wir ein Captcha-Rätsel lösen, um zu beweisen, dass wir Menschen sind und keine Roboter. Diese Rätsel werden immer schwieriger und spiegeln wider, wie weit KI gediehen ist, um irgendwann den Turing-Test bestehen zu können. Dabei ist anzumerken, dass ein bestandener Turing-Test nicht beweist, dass eine Maschine intelligent ist, sondern nur, dass der menschliche Beurteiler sie für intelligent hält. Noch besteht keine KI die Winograd-Herausforderung, die Wissen über die Welt voraussetzt. Tegmark nennt als Beispiel die Fähigkeit herauszufinden, worauf sich im Folgenden das „sie“ bezieht:306 1. „Die Stadträte verweigerten den Demonstranten eine Erlaubnis, weil sie Gewalt befürchteten.“ 2. „Die Stadträte verweigerten den Demonstranten eine Erlaubnis, weil sie Gewalt befürworteten.“
Abb. 137: Autonomes Fahren ist als Anwendung von KI in fortgeschrittener Entwicklung. Ein Beispiel für die Probleme, die sich dabei ergeben, ist das „Beleuchtungsrauschen“ durch das Spiel von Licht und Schatten. Es herauszurechnen ist eine bemerkenswerte Leistung der Wahrnehmung. Auf der rechten Fahrbahn befinden sich Richtungspfeile, die auf eine Fahrbahnverengung hinweisen und den Verkehr auf die linke Spur lenken sollen. Das Problem, sie zu erkennen, ist nur zu lösen, wenn der Computer das Schattenspiel der Bäume als irrelevant erkennt und die teilweise abgefahrenen Markierungen darin identifiziert. 381
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KI wird längst in zahlreichen Gebieten genutzt: im Finanzwesen, in der Fertigung, im Transportwesen, in der Energieversorgung, im Gesundheitswesen, in der Kommunikation, im Rechtswesen oder in der Raumfahrt. Dumme Fehler in den Programmen können teure Konsequenzen haben: 1998 zerschellte eine NASA-Sonde auf dem Mars, weil versehentlich unterschiedliche Maßeinheiten verwendet wurden. 1988 misslang der Raumflug einer sowjetischen Sonde zum Marsmond Phobos. Ein fehlender Bindestrich in einem Programmbefehl führte dazu, dass alle Systeme irreversibel herunterfuhren. Gefahren lauern nicht nur durch ungewollte Fehler, sondern auch durch absichtliche Manipulation. Als 2015 ein Flugzeug von Germanwings an einem Berg zerschellte, hatte der Pilot in suizidaler Absicht den Autopiloten auf eine Höhe von 30 m eingestellt. Ungleich größer sind Gefahren etwa seitens totalitärer Systeme, die mit der Kontrolle einer übermenschlichen KI einen weltweiten Überwachungsund Polizeistaat installieren könnten. Der Film „KI – Die letzte Erfindung“ von 2021 gibt auf fundierte Weise eine Vorstellung möglicher Entwicklungen. Tegmark scheut sich nicht, die Grenze zur Science-Fiction zu überschreiten und Projektionen über tausende von Jahren zu wagen. Sollte es Menschen nicht gelingen, eine Allgemeine Künstliche Intelligenz AKI zu kontrollieren, könnte diese die Weltherrschaft übernehmen. Im besten Falle würde sie als schützende Instanz für das Glück der Menschheit sorgen, im schlimmsten Falle würden die Menschen versklavt oder bedeutungslos. „Das eigentliche Ziel der AKI ist nicht Bösartigkeit, sondern Kompetenz. Eine superintelligente KI wird außerordentlich gut abschneiden, wenn es um die Verwirklichung ihrer Ziele geht, und sollten diese Ziele nicht mit unseren Zielen übereinstimmen, sind wir in Schwierigkeiten.“307 Angesichts solcher Perspektiven hält Tegmark internationale Anstrengungen für geboten, die KI mit unseren Zielen vertraut zu machen, unsere Ziele übernehmen und bewahren zu lassen. Die damit verbundenen Probleme erinnern an die Gesetze der Robotik, die Isaak Asimov schon 1942 in einer Kurzgeschichte aufstellte und die darauf hinauslaufen, dass ein Roboter a) keinem Menschen Schaden zufügen darf, b) Menschen gehorchen muss, und dass c) im Konfliktfall a) gilt. Schon jetzt laufen automatisierte Waffensysteme diesem Grundprinzip zuwider. Dies macht deutlich, dass die künftigen KI-Probleme nur durch internationale erarbeitete und allgemein verbindliche Regeln gelöst werden können. Sie müssen wohl den dringendsten Aufgaben der Menschheit zugerechnet werden, von denen einige bereits in Kap. 33 genannt wurden. Bei der Gegenüberstellung von Mensch und KI kommt man um das Thema Bewusstsein nicht herum, und so widmet sich Tegmark diesem Thema in besonderem Maße, obwohl es in den USA in der Tradition des Behaviorismus immer noch mit dem Vorurteil der Unwissenschaftlichkeit behaftet ist. Er identifiziert Bewusstsein (ganz im Sinne des vorliegenden Buches) mit dem subjektiven Erleben und unterstreicht dessen Bedeutung mit den Worten von Yuval Noah Harari: „Will irgendein Wissenschaftler behaupten, subjektive Erfahrungen seien 382
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irrelevant, so muss er erklären, warum Folter und Vergewaltigung ohne Bezug auf irgendeine subjektive Erfahrung schlimm sind.“308 Als einfaches Problem sieht Tegmark die Frage, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, weil es hierfür schon Modelle gibt, die sich auf Computer übertragen lassen. Als wirklich schwierig sieht er die Frage, warum irgendetwas bewusst ist. Er schließt sich Systemtheoretikern und Philosophen an, die von Bewusstsein als einer emergenten Eigenschaft komplexer Systeme sprechen, die sich durch Selbstorganisation bildet. Er weist darauf hin, dass die Physik nach Mikroskopen, Teleskopen und Teilchenbeschleunigern noch keine Instrumente gefunden hat, um Relevantes zur Bewusstseinsproblematik beizutragen, und spekuliert darüber, wie die Leerstelle mit einer Form von Rechenarbeit zu füllen sei. Vielleicht liegt er richtig mit der Vermutung, die er von Erfahrungen mit Deep Learning bei Computern ableitet, dass das Benennen von Gesichtern durch den Menschen auch auf einer Art von Rechentätigkeit beruht. Doch subjektives Erleben umfasst mehr als Kalkulationen, Korrelationen und Invarianzbildungen. Wir werden in späteren Kapiteln erneut auf dieses so schwierige wie interessante Thema zurückkommen. Nicht wenige KI-Spezialisten sind der Auffassung, dass sich die neuronalen Schaltkreise im Gehirn im Prinzip auf digitale Hardware übertragen lassen und sie simulieren könnten. Solche Gedankenspiele sind oft mit der Idee verbunden, auf diese Weise Unsterblichkeit erlangen zu können. Das quantitative Problem, mehr als 100 Billionen synaptische Verbindungen zu kopieren, ist kein prinzipielles. Strittig ist aber, ob nach einer solchen Übertragung weiterhin auch Bewusstsein gegeben ist oder ob ein derart ausgestatteter Apparat ein Zombie ohne Bewusstsein wäre. Tegmark vertritt die Auffassung, dass neuronale Netze substratunabhängig funktionieren und sich daher übertragen lassen. Dazu gehört die Erwartung, dass für „Leben 3.0“ auch Bewusstsein übertragbar ist. Die Notwendigkeit hierfür sieht er als essentiell, denn: „Ohne Bewusstsein gibt es kein Glück, weder das Gute noch das Schöne, weder Sinn noch Bestimmung – lediglich eine astronomische Platzverschwendung … Nicht das Universum verleiht bewussten Wesen Sinn, sondern bewusste Wesen verleihen unserem Universum Sinn. Also sollte das allererste Ziel auf der Wunschliste für die Zukunft lauten, biologisches und/oder künstliches Bewusstsein in unserem Kosmos zu bewahren (und hoffentlich auszuweiten), statt es der Auslöschung preiszugeben.“309 Es sind viele Fragen zu lösen, bevor digitales Bewusstsein bzw. Erleben als möglich oder erstrebenswert angesehen werden kann. Als Facebook 2004 mit der Verheißung angekündigt wurde, es würde die Menschen miteinander verbinden, sah offenbar niemand voraus, wohin die Internetblasen auch führen können, nämlich zur Spaltung der Gesellschaft. Schon diese Erfahrung macht es nötig, Tegmarks Optimismus bezüglich „Leben 3.0“ im Zaum zu halten. Zu viel steht auf dem Spiel. Vor allem muss die Substratunabhängigkeit des Erlebens bezweifelt werden. Hirnprozesse lassen sich nicht allein durch die Simulation der raschen 383
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elektrochemischen Prozesse zwischen Neuronen abbilden. Von immenser Bedeutung sind auch die langsameren, aber übergreifenden Wirkungen durch Hormone und andere Substanzen, die z. B. durch endokrine Drüsen ausgeschüttet werden und in engem Zusammenhang mit dem Gefühlsleben des Menschen stehen. Man denke etwa an das Belohnungssystem mit Dopamin und Endorphinen und das damit verbundene Glücksgefühl, an das Sexualsystem mit seinen Estrogenen, Gestagenen bzw. Androgenen, an Gefühle von Zärtlichkeit, die mit Oxytocin in Verbindung stehen, an das Verdauungssystem mit seinen Botenstoffen, die sich als Hunger oder Sattheit bemerkbar machen. Man denke an den Sprung in kühles Nass oder an die wohlige Wärme am Kaminfeuer, an die körperliche Fitness, die sich in Unternehmungslust bemerkbar macht, an den Genuss frischer Luft, an das Gänsehautgefühl, wenn wir von etwas ergriffen sind. Beim Wechselbad der Gefühle, das unser Leben begleitet, ist der gesamte Körper an dem beteiligt, was im Gehirn geschieht. Die Simulation kognitiver Vorgänge in neuronalen Netzwerken, sei sie noch so komplex, mag zu einer leistungsfähigen KI führen, aber sie ist so gefühlstot wie ein Taschenrechner. Sie ist kein Äquivalent zu unserem Erleben, das immer auch den Körper mit seinem Sensorium und seinen Aktivitäten einschließt. Die Vorstellung, man könnte das Seelenleben 1:1 in Computer transferieren, sollte möglichst bald als Illusion begraben werden. Und selbst wenn es möglich wäre – wer garantiert uns, dass diejenigen, in deren Hände wir uns begeben und die den Transfer bewerkstelligen können, uns nicht in ihrem Sinne ad Ultimo manipulieren oder foltern? Daneben ist der gegenwärtig heiß diskutierte Datenschutz um die Privatsphäre eine Petitesse. Während Tegmark ausdrücklich versucht, die Bewusstseinsfrage vom Menschen abzukoppeln, geht es Richard David Precht beim Thema KI um die Frage des Menschseins in einer zunehmend technisch dominierten Welt. Er betont die Emotionalität des Menschen, die dem Computer völlig abgeht. „Emotionalität ist kein irrationales Manko des Menschen … Ohne unsere Gefühle wüsste unser Verstand überhaupt nicht, was er tun soll.“310 Auch Werte wie Liebe und Freundschaft lassen sich nicht einprogrammieren. Ebensowenig wie Werte im Sinne der Stufungen von Max Scheler (das Angenehme, Edle, Schöne, Gerechte und Heilige), die für den Menschen so real wie die Farben und in allen Kulturen bedeutsam sind. Das Bewusstsein der Zeitlichkeit des Lebens gehört zur Wertschätzung des Lebens. Den Transfer in eine digitale Unsterblichkeit hält Precht nicht für erstrebenswert. „Würden wir ewig leben, würden wir sicher viele Entscheidungen anders fällen als bei einer Aussicht auf vielleicht achtzig Lebensjahre. Vermutlich hätten wir sogar ein ziemlich großes Problem damit, vielen Dingen überhaupt einen Wert abzugewinnen. Das Irreparable im Leben ist der Überdruss – und der ist im Falle jeder menschlichen Unsterblichkeit garantiert.“311 Ähnlich sah es schon vor 900 Jahren der persische Philosoph und Poet Omar Chajjam: „Da das Leben nicht läuft nach unseren Wünschen auf Erden / Ist’s besser zu enden als übersättigt zu werden.“312 384
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Precht warnt vor der Idee, Gehirne miteinander vernetzen zu wollen, weil mehr Daten nicht unbedingt zu mehr Gedanken führen. Das lässt sich aus wahrnehmungspsychologischer Sicht nur unterstreichen. Eins der Hauptprobleme der Wahrnehmung ist, die Menge einströmender Informationen zu reduzieren – im Verhältnis von eins zu mehr als einer Million –, sie zu ordnen und ihnen Bedeutung zu geben. Der Versuch von Hirnvernetzungen wird wahrscheinlich an Inkompatibilität, Überforderung oder Chaos scheitern. Es deuten sich bislang keine Methoden an, relevante Verarbeitungsebenen des Gehirns abgreifen zu können, zumal sie höchstwahrscheinlich bei jedem Menschen in eigener Weise strukturiert sind. Und sollte man die technischen Probleme meistern, werden Datenschutz und die Wahrung von Persönlichkeitsrechten neue Hindernisse aufbauen. Denn wer will schon seine geheimsten Gedanken preisgeben? Bereits auf niedrigerer Ebene scheiterten technische Projekte an der sozialen Akzeptanz. So wurde „Google Glass“ zum Flop u. a. deshalb, weil Träger des Späh-Instrumentes als „glasshole“ (abgeleitet von „asshole“) geschmäht wurden. Precht gefällt sich manchmal in polemischer Pointierung. Als Motor der KI-Entwicklung macht er einzig kapitalistische Gewinnmaximierung aus. Eher ist anzunehmen, dass wissenschaftlich-technische Neugier viele KI-Forscher dazu treibt, das Machbare auszuloten. Precht bedient Wissenschaftsfeinde, wenn er allgemein gegen wissenschaftliche Neugier polemisiert, indem er nur negative Auswüchse benennt. Zu Recht hebt er aber hervor, dass das in Zusammenhang mit KI zugrunde gelegte Menschenbild, speziell Vorstellungen über das Gehirn, stark vom Computer als Modell bestimmt wird und damit unhaltbar ist. Trans- und Posthumanisten, die der Menschheit eine glückliche Zukunft unter allmächtigen Maschinen versprechen, hält er vor, dass sie zu wenig vom Menschen und von der menschlichen Gesellschaft verstehen. Falls eine AKI dafür eingesetzt werden sollte, das Verhältnis von Glück und Leid zugunsten des Glücks zu regulieren, könnte das nach Meinung des Philosophen Thomas Metzinger darauf hinauslaufen, dass die Geburtenzahl drastisch gesenkt würde und die Menschheit auf Dauer in der Bedeutungslosigkeit verschwinden könnte.313 Manche KI-Futuristen wie Ray Kurzweil unterstellen der Evolution eine nach Höherem strebende Intelligenz, die an einen Kreationismus ohne Gott gemahnt, und beziehen daraus eine technologische Utopie, die den Menschen überwindet und ihm auf neuer Basis Unsterblichkeit verleiht.314 Precht hält mit der Behauptung dagegen, dass nichts in der Evolution zum Menschen drängte und auch nichts darüber hinaus, weil sie ein absichtsloser Prozess ist, und bezeichnet die trans- und posthumanistische Sicht der Evolution als wissenschaftlichen Humbug. Precht hält es für falsch, KI einen Willen andichten zu wollen. Doch das schließt nicht aus, dass eine auf bestimmte Ziele programmierte KI auch ohne ihren Urheber diese weiterverfolgt und sich selbst in dieser Richtung optimiert, notfalls auf Kosten der Menschen. In Zeiten des Internets ist nicht auszuschließen, dass eine AKI sich im Gegensatz zu HAL durch Kaperung zahlreicher Computer davor schützen könnte, einfach ausgeschaltet zu werden. Die 385
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Arbeitsweise von KI ist seit AlphaZero und Watson nicht mehr so transparent, wie Precht meint, und zu einer Fortsetzung ihrer Arbeit braucht KI keine Emotionen, sondern nur Energie. Ethische Werte hält Precht für nicht programmierbar. Wie sollte das etwa mit Artikel 1 des Grundgesetzes geschehen „Die Würde des Menschen ist unantastbar“? Der Ire Jonathan Swift hat nicht nur „Gullivers Reisen“ geschrieben, sondern auch eine Satire zur Armut und Überbevölkerung Irlands zu seiner Zeit. Swift regte an, „dass man das ökonomisch Sinnvollste aus der Lage machen sollte – nämlich die Babys der Iren als Nahrungsmittel an die Engländer zu verkaufen.“315 Zu einem entsprechenden Ergebnis könnte auch eine KI kommen mit dem Unterschied, dass es nicht als Satire gemeint wäre. Manche KI-Nerds werfen AKI-Kritikern Anthropozentrismus vor. Aber was spricht für einen Mechanozentrismus? Nichts außer einem Einstieg in alptraumhafte Science-FictionSzenarien, in denen die Spezies Mensch keine Rolle mehr spielt und die Umwelt erst recht nicht. Sinnvoller scheint, eine humane Zukunft anzustreben, zu der auch die Bewahrung einer lebensfreundlichen Umwelt gehört, auf die wir angewiesen und deren Teil wir sind. Kurz gesagt: In den letzten Jahren wurden Hard- und Software von Computern so weit entwickelt, dass menschliche Schach- und Go-Spieler keine Chance mehr gegen Maschinen haben. Diese werden in Orientierung an neuronalen Netzen zunehmend verbessert und können sich inzwischen selbst weiter optimieren. Einerseits wird die Entwicklung nutzbringend eingesetzt, andererseits besteht die Gefahr, dass die Maschinen unter die Kontrolle Weniger zum Schaden Vieler geraten, oder dass sie sich der menschlichen Kontrolle entziehen. Damit aber stünde die Menschheit selbst auf dem Spiel, auch in Zusammenhang mit der Frage, ob maschinelles Bewusstsein möglich ist.
Literatur Heßler 2017. Koch 2019. Kurzweil 2016. Precht 2020. Tegmark 2017.
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Der Zombie in mir Die Straße im nördlichen Sauerland geht in Serpentinen abwärts. Über den Lenker gebeugt lasse ich das Fahrrad rollen und genieße mit dem Lebensgefühl des 18-jährigen, der gerade sein Abitur gemacht hat, den Rausch des zunehmenden Tempos. Fahrradhelme sind in der Steinzeit der Sicherheitsmaßnahmen, in der es noch keine Gurtpflicht für Autofahrer und keine Stahldornen auf Brückenbögen gibt, noch kein Thema. Hinter einer weiten Kurve kommt mir eine Gruppe von Radfahrern entgegen, die sich bergauf kämpfen. Links der Straße geht es in den Abgrund, rechts ragt der nackte Fels empor. Der Pulk aus Radlern nimmt mehr als die halbe Straßenbreite ein. Sie sind vielleicht noch hundert Meter entfernt. Sie rücken etwas zusammen. Um mich besser vorbeifahren zu lassen, denke ich. Doch in diesem Moment sehe ich, dass hinter den Radfahrern ein Auto auftaucht und ausschert, um den Pulk durch die Lücke auf der Gegenfahrbahn zu überholen, also auf meiner Seite! Ich bin entsetzt. Wo in aller Welt soll ich da durchkommen? Nur Sekundenbruchteile trennen mich von den Radfahrern und dem Auto, die zusammen die ganze Straßenbreite einnehmen. Das ist das Ende, schießt es mir durch den Kopf. Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich etwa hundert Meter weiter bergab auf dem Rad sitze und rolle, als sei nichts geschehen. Ich drehe den Kopf und sehe die Gruppe der Radfahrer, die ihrerseits die Köpfe zu mir gewandt haben. Es ist mir unbegreiflich, und den anderen wohl auch, wo und wie ich durch die Phalanx gestoßen bin. Es hätte ein Ende in Trümmern und Schmerzen werden können, ja müssen. Ganz offensichtlich aber hat mein Bewusstsein für diesen Moment ausgesetzt und irgendetwas hat die Regie übernommen, um blitzartig die einzige Chance zu erkennen und zu nutzen, um das Unwahrscheinliche zu schaffen.
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Anders gefragt: Welche Bedeutung haben Vorgänge in uns, die nicht bewusst werden? Der Begriff des Unbewussten ist nicht, wie man vielfach meint, eine Erfindung von Sigmund Freud. „Es gibt Vorgänge in der Seele, deren wir nicht unmittelbar gewahr sind“, sagte schon im 13. Jahrhundert Thomas von Aquin. Carl Gustav Carus merkte 1846 an, es sei „die höchste Aufgabe der Lehre von der Seele, in die Regionen einzudringen, wo das Seelenleben noch ganz ohne Bewusstsein sich wirksam erweist.“316 Freud selbst nahm in seiner ersten großen Veröffentlichung, der „Traumdeutung“ von 1900, ausdrücklich Bezug auf einen Vortrag von Theodor Lipps, den dieser drei Jahre zuvor 387
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in München gehalten hatte mit dem Thema „Der Begriff des Unbewussten in der Psychologie“. Darin erklärte Lipps das Unbewusste zu dem künftigen Thema der Psychologie. Freud führte aus: „Das Unbewusste ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewussten in sich einschließt; alles Bewusste hat eine unbewusste Vorstufe, während das Unbewusste auf dieser Stufe stehen bleiben und doch den vollen Wert einer psychischen Leistung beanspruchen kann. Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische, uns nach seiner inneren Natur so unbekannt wie das Reale der Außenwelt, und uns durch die Daten des Bewusstseins ebenso unvollständig gegeben wie die Außenwelt durch die Angaben unserer Sinnesorgane.“317 Während vormals und teilweise heute noch das Psychische mit dem Bewussten gleichgesetzt wird, erklärte Freud im Sinne von Lipps das Unbewusste zum eigentlichen Reich der Psyche. Was Freud als Pionierleistung beanspruchte, war, den Traum als Königsweg zum Unbewussten vor allem bei seelisch gestörten Patienten und Patientinnen entdeckt zu haben, und er gründete darauf sein theoretisches Gebäude der Psychoanalyse. Freuds Interesse an der Antike und an Archäologie fand Niederschlag in Namensanleihen bei der griechischen Mythologie (von Eros und Ödipus in seiner Frühzeit bis zu Thanatos in seiner Spätzeit) und entsprach in der psychoanalytischen Praxis seinen Ausgrabungen zum vermeintlich eigentlichen Grund der Seele. In der akademischen Psychologie genießt die klassische Psychoanalyse weithin den Ruf einer Lehre, die sich zu spät empirischen Überprüfungen stellte, als dass sie ihre Grundannahmen hin zu einer gut begründeten Theorie hätte revidieren können. Inzwischen ist sie weltweit zu einer Institution geworden, die wie manch andere Institution kein Interesse daran hat, ihre Fundamente in Frage zu stellen. Gleichwohl gibt es zahlreiche Untersuchungen, die im Sinne Freuds den Beziehungen zur Hirnforschung gelten. Charakteristisch ist die enge Verbindung des Unbewussten mit einer Sexualtheorie, in der Freud die Libido nicht nur aus der Verklemmtheit des viktorianischen Zeitalters befreite, sondern so ausschließlich als Hauptantrieb des Menschen setzte, dass es seinen Schülern Alfred Adler und Carl Gustav Jung zu viel wurde, sie sich von ihrem Mentor lossagten und ein jeweils eigenes Bild vom Menschen verfolgten. Der Begriff des Unbewussten wurde bei ihnen jedoch nicht klarer. Adler sah im Unbewussten einerseits den stärksten Faktor zur Gestaltung des individuellen Lebensplans. Andererseits aber war er beeinflusst von Nietzsche, der die Überwindung des animalischen Unbewussten durch den bewussten Willen forderte. Der Mystiker Jung schuf die Hypostase vom „kollektiven Unbewussten“, für das er nicht überzeugend darlegen konnte, wie sich dieses außerhalb des Individuums realisieren soll. In seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ von 1920, der unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkriegs entstand, geriet Sigmund Freud selbst in Zweifel über den Primat des Eros. „Die Biologie ist wahrlich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von uns gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben würde. 388
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Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird.“318 Freud unterschied zwischen dem Unbewussten und dem Vorbewussten. Das „Vorbewusste“ ist ein Begriff, der im Gegensatz zum hypothesenbelasteten „Unbewussten“ von der Allgemeinen Psychologie gut aufgenommen wurde. Während das Unbewusste oder NichtBewusste dem Bewusstsein grundsätzlich nicht zugänglich ist, birgt das Vorbewusste psychische Inhalte, die prinzipiell Zugang zum Bewusstsein haben. Dazu gehören vor allem Inhalte des Gedächtnisses. Man unterscheidet heute das deklarative (explizite) und das prozedurale (implizite) Gedächtnis. Das erste umfasst episodische und semantische Inhalte, das zweite Fertigkeiten und Konditionierungen. Stellen Sie sich einmal vor, wie viele Informationen allein in Ihrem deklarativen Gedächtnis gespeichert sind (Ihre Lebensgeschichte und Ihr ganzes Wissen). Dann wird unmittelbar einsehbar, dass sie nicht alle zugleich bewusst sein können. Im Vorgang des Erinnerns greift man auf das vorbewusste deklarative Gedächtnis zurück und vergegenwärtigt bestimmte Inhalte. Demgegenüber geschehen Zugriffe auf das prozedurale Gedächtnis bei Bedarf automatisch. Auch wenn ich jahrelang nicht Fahrrad gefahren bin, gelingt es fast sofort wieder, ohne dass ich darüber nachdenken müsste, wenn ich auf ein Rad steige. Freud hat wesentlich dazu beigetragen, dass das „Bewusstsein“ zum Epiphänomen degradiert wurde. Der von John B. Watson 1913 begründete Behaviorismus, der sich nur für beobachtbares Verhalten interessierte, tat hierzu sein Übriges. Dagegen wurde das Unbewusste in Tiefenpsychologie und Medien zum Dauerthema, und die Kunst brachte Farbe in den dunklen Fleck auf der Landkarte der Psyche. Ob Salvadore Dali, Jackson Pollock und Joan Miró tatsächlich ihr Unbewusstes oder vielmehr ihre Interpretationen hierzu auf die Leinwand brachten, ist Gegenstand von Diskussionen. Karl Otto und Karin Götz äußerten dazu: „Es hat noch nie – außer in der Kunstliteratur – einen unbewusst schaffenden bildenden Künstler gegeben.“319 Wassily Kandinsky dagegen bemerkte: „Was mich anlangt, ziehe ich vor, während der Arbeit nicht zu „denken“ … wehe dem Künstler, der sein „inneres Diktat“ während der Arbeit „kopfmäßig“ stört.“320 Literatur und Film bedienen sich bis heute der Faszination des Unheimlichen, das sich mit dem Unbewussten als dem Reich der Triebe verbindet. Auch wenn vergeistigte Menschen wie Richard David Precht sich nicht so recht damit identifizieren können, dass sie einen biologischen Leib mit den Bedürfnissen eines Primaten haben321, steht es doch außer Frage, dass diese Anteile zum Menschsein gehören wie andere auch. Ganz elementare Tendenzen wie Appetenz und Aversion – Streben zu dem, was wir mögen und Meiden von dem, was uns schaden könnte – verbinden uns sogar über Jahrmilliarden hinweg mit den primitivsten Einzellern, die nicht primitiv sind im Sinne einer minderwertigen Lebensform, sondern primär im Sinne von vegetativen Urerfindungen, von denen alle Lebensformen und damit auch wir als Menschen zehren. 389
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Seit langem wird zwischen dem vegetativen und dem somatischen Nervensystem des Menschen unterschieden. Das vegetative hat mit Vitalfunktionen wie Kreislauf, Atmung und Verdauung zu tun. Es funktioniert autonom und entzieht sich weitgehend sowohl der bewussten Wahrnehmung wie der willkürlichen Einflussnahme. Es bedarf besonderer Übung durch Yoga oder Autogenes Training, um mehr als die Atmung beeinflussen zu können. Das somatische Nervensystem betrifft die neuronalen Afferenzen und Efferenzen, die mit den Sinneswahrnehmungen bzw. der Motorik zu tun haben, die zumindest teilweise bewusst und bewusst steuerbar sind. Eine andere Zweiteilung des gesamten Nervensystems ist die in das periphere und das zentrale Nervensystem ZNS. Das periphere NS beschreibt das baumartig verzweigte Nervennetz, das den gesamten Körper bis in die Fingerspitzen durchzieht. Das ZNS ist die Steuerungszentrale, die das Rückenmark, den darüberliegenden Hirnstamm, das Kleinhirn, das Zwischenhirn und das Großhirn umfasst. Hierbei ist das Zwischenhirn eine Zentrale, die die elektrochemische Informationsverarbeitung der Neuronen mit dem Hormonsystem des Körpers verbindet. Die wenigsten Vorgänge im Gehirn, darin sind sich Hirnforscher und Neuropsychologen einig, machen sich im Bewusstsein bemerkbar.
Abb. 138: Ein Quadratmeter Millimeterpapier enthält eine Million Kästchen. Wenn diese Menge den Informationseinheiten entspricht, die das Wahrnehmungssystem ständig zu bewältigen hat, dann entspricht ein Quadratmillimeter der Menge, die bewusst wird. Sie ist gewissermaßen die Essenz der Gesamtmenge. Die Dämonisierung des Unbewussten hat über lange Zeit die Erkenntnis erschwert, dass die meisten Prozesse, die mit dem Wahrnehmen, Denken, Lernen und Handeln zusammenhängen, nicht bewusst werden. Aus diesem Grunde ist es in den Wissenschaften üblich geworden, vom Nichtbewussten statt vom Unbewussten zu sprechen, um es von dem durch die Psychoanalyse eingeführten Sprachgebrauch abzusetzen. Nehmen wir als Beispiel die visuelle Wahrnehmung. Vormals galt als selbstverständlich, dass der Sitz des Sehens in den Augen selbst liegt. Descartes führte an, dass wir dann alles zweifach sehen müssten, und verlagerte das sensorium communis in die Zirbeldrüse, in der die gesehene Welt zur Einheit wird. Nach heutiger Sicht ist die Situation viel komplexer. Billionen von Photonen reizen in jeder Sekunde die Rezeptoren, die daraus entstehenden elektrochemischen Impulse werden miteinander in Beziehung gebracht, die Ergebnisse weitergeleitet über die Sehnerven, die sich teilweise überkreuzen und bis in den Thalamus führen. Von dort geht es zum primären Sehzentrum V1, das weit bis 390
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ins 20. Jahrhundert als Sitz des bewussten Sehens galt. Doch auch dies erwies sich lediglich als Zwischenstation und als Vorstufe mehrerer nachfolgender, parallel- und sukzessiv arbeitender Zentren. Von all diesen Verarbeitungsschritten der Wahrnehmung merken wir nichts. Am Beispiel des „Blindsehens“ in Kap. 7 hatten wir bereits gesehen, dass visuelle Information unter Umständen auch auf Schleichwegen am Bewusstsein vorbei so wirksam werden kann, dass Hindernisse umgangen werden, ohne dass der Betreffende wüsste, warum er die Ausweichbewegung gemacht hat. Er kann auf ein Ziel zeigen oder seine Position richtig angeben, während er davon überzeugt ist, nichts zu sehen und nur zu raten.
Schlafwandeln und ein Justizirrtum Das Verhauen erledigt regelmäßig meine Mutter, und zwar mit dem Stiel des Teppichklopfers. Da ich mir meiner Schuld meistens bewusst bin, nehme ich die schmerzhafte Züchtigung wie ein Naturgesetz hin. Dass Kinder nicht geschlagen werden sollen, hat sich bei Eltern und Lehrern noch nicht herumgesprochen. Mein Vater ist da schon fortschrittlicher. Nur ein einziges Mal wird er mich verhauen, und das aufgrund eines Justizirrtums. Er hat eine Tafel Schokolade gekauft. Offenbar gibt es etwas zu feiern, denn jeder in der Familie bekommt nicht nur ein Stück wie üblich, sondern zwei. Es ist leckere Vollmilchschokolade, nicht die bittere wie sonst. Den Rest der Tafel legt er in das oberste Fach des Schranks, wo nur er hinlangen kann. Zu allem Überfluss schärft er mir ein, dass ich nicht ungefragt an die Schokolade gehen dürfe. Na, wie sollte ich auch. Ich gehe zu Bett und erwache am Morgen in bester Laune. Ich stehe auf, um ins Bad zu gehen, als mein Vater sich vor mir aufbaut. Streng schaut er auf mich herab, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Ob ich ihm irgendetwas zu sagen hätte. Ich gucke ihn unschuldig an und verneine. „Wo ist die Schokolade?“ Seine Stimme wird deutlicher. Ich weiß von nichts. Allerdings fällt mir auf, dass vor dem Schrank ein Stuhl steht, der dort eigentlich nicht hingehört. Wortlos dreht mich mein Vater an den Schultern um und lässt mich in mein Bett schauen. Es ist voller Schokoladenflecken. Dann schiebt er mich ins Bad und lässt mich in den Spiegel schauen. Mein Gesicht ist braun verschmiert. Ich bin erschrocken und beteuere, mir das nicht erklären zu können. Natürlich, alles spricht dafür, dass ich in der Nacht den Stuhl genommen habe, auf ihn geklettert bin, die Schokolade genommen und im Bett gegessen habe. Aber ich erinnere mich an nichts. Das nimmt mein Vater mir nicht ab. Die Indizien sind klar. Erst der Ungehorsam, dann die Lüge. Er verabreicht mir eine Tracht Prügel, die für mich schmerzlicher sind als alle anderen, denn ich empfinde sie als nicht gerechtfertigt. Ich bin mir keiner Schuld bewusst.
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Die zweite Entstehung der Welt Meine Mutter ist bei der Angelegenheit recht still. Später erzählt sie mir, dass sie in ihrer Jugend wiederholt schlafgewandelt sei. So sei sie z. B. eines nachts mitten im Winter im Nachthemd barfuß aus dem Haus hinaus, durch den Schnee die Straße hinunter gegangen und irgendwann zurückgekehrt. Mitbewohner hätten es bemerkt und sie aus ihrer Trance geweckt. Sie selbst wusste anschließend nichts von ihrem seltsamen Ausflug.
Christof Koch spricht vom „Zombie“ oder von „Zombie-Systemen“ in uns, wenn er psychophysiologische Vorgänge meint, die in uns wirksam sind, ohne dass wir sie bemerken. Ein besonderes Phänomen ist das „Schlafwandeln“ in einem Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Es ist bei Kindern häufiger als bei Erwachsenen, eine genetische Disposition scheint mitzuspielen. Hierbei stehen die Schläfer auf, gehen umher, ziehen sich an oder aus, klettern gelegentlich auch aus dem Fenster, laufen über das Dach oder fahren Auto. Sie sind in diesem Zustand nicht ansprechbar, scheinen keine Empfindungen zu haben, ihr Blick ist starr. In früheren Zeiten glaubte man, dass „Mondsüchtige“ besessen seien, und das Unheimliche dieser Vorstellung hat sich bis heute erhalten. In der Bibel wird von einem mondsüchtigen Knaben berichtet, der wiederholt ins Feuer und ins Wasser gefallen ist, und den Jesus heilt, indem er den Teufel austreibt. (Matth. 7, 14 ff.) In Theater, Literatur und Film ist der Sonderzustand ein beliebtes Thema, so in dem 1606 entstandenen Drama Macbeth von Shakespeare. Im 5. Akt tritt im Beisein ihres Arztes und einer Kammerfrau Lady Macbeth schlafwandelnd auf. Kammerfrau: „Seht, da kommt sie! So ist ihre Art und Weise! und, bei meinem Leben, fest im Schlaf. Beobachtet sie; steht ruhig!“ … Arzt: „Seht, offen sind ihre Augen.“ Kammerfrau: „Geschlossen ist ihr Sinn.“322
Wenn Schlafwandelnde erwachen, erinnern sie sich an nichts. Solche Zustände haben eine Dauer von einigen Sekunden bis zu einer halben Stunde. Schlafwandler können ungewöhnliche Kräfte entfalten. Gelegentlich kommt es unter Parasomnie zu Gewalttaten. In den USA werden solche Fälle in dem Sinne behandelt, dass die Angeklagten nicht sie selbst gewesen sind und daher im strafrechtlichen Sinne nicht zur Verantwortung gezogen werden können.323 In Deutschland besteht noch Klärungsbedarf.324 Untersuchungen haben ergeben, dass bei Parasomnie die Funktion des Frontalhirns, dem gewöhnlich die Verhaltenskontrolle untersteht, reduziert ist, während die motorischen Zentren aktiv sind. Doch auch im Wachzustand macht sich der Zombie in uns bemerkbar, Tag für Tag. Wenn wir Fahrrad fahren, denken wir keinen Moment darüber nach, wie wir zu steuern haben, um nicht umzufallen. Viele werden beim Autofahren schon einmal gemerkt haben, 392
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dass sie an der geplanten Abfahrt der Autobahn vorbeigefahren sind, weil sie ins Gespräch vertieft oder in Gedanken versunken waren. Dabei wird im Nachhinein bewusst, dass wir eine so verantwortungsvolle und durchaus nicht gefahrlose Tätigkeit, wie Auto zu fahren, völlig dem Zombie in uns überlassen haben. Zu der Erfahrung gehört die Erkenntnis, dass er offenbar vieles kann, aber nicht an alles denkt. Es kann amüsant sein, dem eigenen Zombie bei seiner Tätigkeit zuzusehen. Beobachten Sie sich z. B. einmal dabei, wie Sie sich die Schuhe zubinden. Das ist eine Tätigkeit, deren Details sich mit Worten kaum beschreiben lassen, doch die Finger scheinen genau zu wissen, was sie zu tun haben. Nur selten, wenn die Schnürsenkel in Unordnung geraten, setzt die bewusste Kontrolle ein und muss das Problem lösen. Oder beobachten Sie sich dabei, wie Sie selbst sprechen. Die Worte sprudeln über die Lippen parallel zu ganz anderen Gedanken, weil nicht bewusste Prozesse sich derweil um das komplizierte Spiel von Syntax, Semantik und Pragmatik kümmern. Für kurze Dauer kann das funktionieren, dann erreicht der Zombie seine Grenzen, und wir reden nur noch dummes Zeug, wenn wir die Aufmerksamkeit nicht wieder dem Gesprochenen zuwenden. Wir vollziehen ständig automatisierte Tätigkeiten, die wir vormals unter Mühen und bewusster Kontrolle erlernt haben, die unser Bewusstsein kaum noch belästigen und damit für andere Tätigkeiten freimachen.
Goldfieber und die Grenzen der Selbstkontrolle Ende der 1960er war ich begeisterter Bogenschütze. Ich begann mit Schießübungen in einer Kiesgrube und setzte sie auf dem Dachboden fort, wo ich auf Karten schoss, die an einen Strohballen geheftet waren. Jahrelang war ich Mitglied in einem Bogenschützenverein. Dort erwarb ich eine professionelle Ausrüstung vom Deutschen Jugendmeister. Das spornte mich wohl zu übertriebenem Ehrgeiz an. Denn ich wurde vom „Goldfieber“ erwischt, einer unter Bogenschützen gefürchteten sensumotorischen Störung. Sie besteht darin, dass der Schütze nach Anspannen des Bogens unwillkürlich die Sehne vorzeitig löst, sobald er das „Gold“, das gelbe Zentrum der FITA-Scheibe, ins Auge fasst. Durch das zwanghafte Lösen wird natürlich regelmäßig das Ziel verfehlt. Es handelt sich um einen fehlerhaften Automatismus nach Art des bedingten Reflexes. Drei Monate lang versuchte ich, die Störung mit allen Tricks unter Kontrolle zu bekommen, mit anderen Zielen, anderen Bögen – vergeblich. Es war eine ungemein frustrierende Erfahrung zu spüren, nur begrenzte Macht über eine lächerlich einfache Aktion des eigenen Körpers zu haben. Eine vergleichbare Störung kennen Berufsmusiker als „Musikerdystonie“, z. B. ein Verkrampfen der Finger bei Pianisten oder Geigern, wodurch manche Musikerkarriere ruiniert worden ist (s. Kap. 44).
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Abb. 139: Bogenschießen ist eigentlich eine faszinierende und meditative Sportart. Leider wurde mir das „Goldfieber“ zum Verhängnis, ein unerwünschter bedingter Reflex. Vielleicht hätte eine geeignete Verhaltenstherapie helfen können. Zum Nicht-Bewussten gehören auch unsere elementarsten Aktionen, die Reflexe. Teils sind sie angeboren, teils durch Lernprozesse bedingt. Wir schließen die Augen, wenn ein Staubkorn oder starkes Licht sie trifft, wir richten den Blick auf eine Bewegung im seitlichen Gesichtsfeld, wir korrigieren ständig unsere Körperhaltung, um nicht umzufallen, wir ziehen die Hand zurück, wenn etwas Heißes sie berührt, wir stoppen die Kaubewegung, wenn ein Kirschkern zwischen die Zähne gerät, niesen, wenn die Nase juckt, spucken aus, wenn wir etwas Ekliges schmecken, im Allgemeinen schon, bevor die Empfindung bewusst wird. Auch Leistungen, die wir gern zu den höchsten des Menschen zählen, beanspruchen nicht-bewusste Prozesse. Dazu gehört die Kreativität. Auch wenn Thomas Alpha Edison gesagt haben soll, dass Erfinden zu einem Prozent Inspiration und zu neunundneunzig Prozent Transpiration sei, bleibt das eine Prozent doch das entscheidende. Zwischen den anfänglichen Phasen der Problemfindung und der Problemanalyse, die oft sehr zeitaufwändig und mühsam sind, und der abschließenden kritischen Phase, in der die Idee überprüft und elaboriert wird, was ebenfalls viel Arbeit bedeutet, ist die zwischenliegende „intuitive Phase“ allein mit Fleiß kaum zu erledigen. Wir haben ein Problem, und es verfolgt uns quälend stunden-, vielleicht wochenlang. Diesen unbefriedigenden Zustand bezeichnet man als „Inkubationsphase“ unter Bezug auf die Bezeichnung der Zeitspanne, die in der Medizin zwischen Infektion und Ausbruch einer Krankheit liegt. Der Ausbruch ist 394
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die „Illumination“, das Aha-Erlebnis, das oft plötzlich als bewusste Idee auftaucht und deutlich macht, dass die unmittelbar vorhergehenden Vorgänge sich im Nicht-Bewussten abgespielt haben. Was geschieht in der entscheidenden Phase der Inkubation, der nichtbewussten Ideenfindung? Im günstigen Fall bildet sich etwas Neues, oft bestehend aus ungewohnten, weil im Allgemeinen fernliegenden Verbindungen. Hierfür hat der Schriftsteller Artur Koestler die Bezeichnung „Bisoziation“ geprägt, in Unterscheidung von der „Assoziation“, der Verbindung von Benachbartem. Gustav Theodor Fechner, bedeutender Physiker und Philosoph des 19. Jahrhunderts, betätigte sich nebenher unter dem Pseudonym Dr. Mises als Kunstkritiker. Zu einem Bild bemerkte er einmal: „Was unmöglich scheint zu vereinbaren, ist hier so verbunden, dass es unmöglich scheint, es zu trennen.“325 Damit kommt er auf den Punkt. Es geht nicht um eine beliebige Verknüpfung, sondern um eine solche, die eine passende Problemlösung oder ein überzeugendes Ganzes hervorbringt, und das ist ein relativ seltenes Ereignis. Inzwischen ist man mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomographie fMRT entsprechenden Hirnvorgängen auf der Spur. Es wurden drei neuronale Netzwerke ausgemacht, die bei kreativen Prozessen interagieren: Das „exekutive Netzwerk“ ist bei mentaler Konzentration auf ein Problem und bei Bewertungsvorgängen aktiv. Das „Salienznetzwerk“ fungiert bei der Auswahl relevanter Informationen. Kandidat von Vorgängen in der Inkubationsphase ist das „Default Mode Network“, das von Frontal- und Parietalhirn überdeckt wird. Es ist vor allem dann aktiv, wenn das exekutive Netzwerk ruht, also in Ruhephasen.326 Es gibt Hinweise darauf, dass unmittelbar vor Entstehung eines Geistesblitzes die Aktivität von Gammawellen stark zunimmt. Das lässt sich dahingehend interpretieren, dass neue Aktivitätsmuster zwischen Neuronengruppen synchronisiert werden.327 Kommen wir noch einmal zurück auf die Wahrnehmungsleistungen der Zombie-Systeme. Milner und Goodale vertreten die Ansicht, dass die visuelle Informationsverarbeitung in zwei getrennten Strategien erfolgt: Sehen, um zu handeln (vision for action) und Sehen um wahrzunehmen (vision for perception).328 Das erste ermöglicht rasche und zielgenaue Reaktionen, hat aber keinen Zugang zum Arbeitsgedächtnis, das zweite ermöglicht das bewusste Erkennen des Objekts. Ein großer Vorteil der Zombiesysteme liegt in ihrer Geschwindigkeit. Durch die Umgehung der bewussten Kontrollschleifen sind die Reaktionen sehr schnell. Oft merken wir erst im Nachhinein, wenn überhaupt, was wir getan haben. Christof Koch berichtet von Untersuchungen, die zeigen, dass zwischen dem reflexhaften Ergreifen eines Gegenstands und der bewussten Wahrnehmung der Aktion 250 Millisekunden vergehen können.329 Wie wirkungsvoll sich dieser Umstand durch Training zunutze machen lässt, zeigt sich z. B. beim Start von Sprintern. Würden sie darauf warten, dass sie den Startschuss bewusst hören, würden sie 0,25 Sekunden verlieren, und damit wohl auch den Lauf. So aber hören sie den Schuss, wenn sie schon unterwegs sind! 395
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Kurz gesagt: Freud postulierte das Unbewusste mit seinen Triebansprüchen als dominierende Instanz im Seelenleben. Die Hirnforschung ist inzwischen weiter. Die meisten Vorgänge im menschlichen Gehirn verlaufen ohne Beteiligung des Bewusstseins. Ob bloße Reflexe, Automatismen oder kreative Leistungen des Gehirns – nichtbewusste Vorgänge finden ständig statt, auch im Schlaf. Dem „Zombie in uns“ verdanken wir gelegentlich lebensrettende Aktionen, andererseits kann er sich störend in gewollte Handlungen einmischen. Mit gezieltem Training kann man sich seine Vorzüge, die besonders in der Schnelligkeit liegen, dienstbar machen.
Literatur Beck 2013. Freud 1922ff. Koch 2005, 2007. Zimmer 1995.
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Ich! Ich! Ich! Aus der frühesten Kindheit haben wir nur flüchtige Szenen im Gedächtnis. Manche Menschen haben keinerlei Erinnerung an die Zeit vor ihrem 9. Geburtstag, andere können sporadische Situationen und Bilder aus dem 2. Lebensjahr vergegenwärtigen. Eine meiner frühesten Szenen ist die, als ich drei Jahre alt gewesen sein muss. Ich war bei Bekannten zu Besuch und spielte mal wieder in der „Bude“, dem Esstisch mit einem großen Laken darüber, als ich mich plötzlich aufrichtete und mir an der Unterseite des Tisches so heftig den Kopf stieß, dass mir Hören und Sehen verging. Ich nehme an, dass ich das Gleiche getan hatte wie schon ein Jahr zuvor, nur mit dem Unterschied, dass ich mich damals problemlos aufrichten konnte. Für das Kind ändert sich das eigene Körperschema permanent, gelegentlich verbunden mit schmerzhaften und irritierenden Erfahrungen. Ich weiß noch, dass ich als Kind mir die große Zehe in den Mund stecken konnte. Später verlor ich diese Fähigkeit, weil die Gelenkigkeit nicht mit dem Wachstum Schritt hielt. Doch noch heute ist mir die Erinnerung daran so gegenwärtig, dass ich genau weiß, wie dieses seltsame, gleichzeitige und wechselseitige Berührungserlebnis an Mund und Zehe sich anfühlen würde, wenn ich es wiederholen könnte. Ebenfalls im Alter von drei Jahren muss es gewesen sein, als ich das schönste Erlebnis meiner frühen Kindheit hatte, das mir erinnerlich geblieben ist. Gerade hatte Tante Issa mich aus der Zinkbadewanne gehoben und abgetrocknet. Nun stand ich nackt im Raum. Vermutlich kribbelte noch die ganze Haut in Nachwirkung des Trockentuches. Ich strich mit den Händen über Arme und Bauch, schaute links und rechts an mir herunter und rief plötzlich: „Ich, Ich, Ich!“ Ich hob die Hände, tanzte fröhlich im Zimmer umher und wiederholte ständig: „Ich, Ich, Ich!“ Ich konnte es kaum fassen. Ich hatte entdeckt, ich zu sein. Später sagte man mir, dass ich das Wort „Ich“ schon seit einiger Zeit benutzt hatte und dass man sich darüber wunderte, warum ich mich so verhielt, als hätte ich es soeben erst entdeckt. Aber es war das erste Mal, dass es mich als Aha-Erlebnis emotional packte und mir seine besondere Bedeutung wie ein überraschendes Geschenk bewusst wurde.
40 Bin Ich nur eine Illusion? Anders gefragt: Müssen wir der Behauptung mancher Wissenschaftler folgen, dass das Ich eine entbehrliche Fiktion ist? Im indischen Brihadâvanyaka-Upanishad heißt es: „Am Anfang war diese Welt allein der Âtman, in Gestalt eines Menschen. Der blickte um sich: da sah er nichts anderes als sich selbst. Da rief er zu Anfang aus: „Das bin ich!“ Daraus entstand der Name Ich.“330 In der indischen Philosophie, die auf den Upanishaden gründet, wird mit Âtman das 397
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unsterbliche Selbst bezeichnet. Es bildet eine Einheit mit dem absoluten Selbst, der Weltenseele Brahman. Es bildet den Ursprung unseres Wortes „Atem“, mit dem auch die menschliche Seele bezeichnet wurde. Für das Kind ist die Entdeckung des eigenen Ich eine Schlüsselerfahrung. Nicht jeder hat die Erinnerung an einen Moment, den man „Âtman-Erlebnis“ nennen könnte, allein schon deshalb, weil das autobiographische Gedächtnis bei vielen nicht so weit zurück reicht. Die Entwicklungspsychologie beschreibt den Vorgang oft als einen allmählichen, in dem das Kind entdeckt, selbst etwas machen und bewirken zu können. Noch vor dem zweiten Geburtstag erkennt es sich selbst im Spiegel. Zunächst spricht es von sich selbst in der dritten Person, indem es seinen Namen verwendet. Danach lernt es, das „Ich“ zu benutzen, sobald es begriffen hat, was es damit auf sich hat, wenn die Eltern es verwenden. Darüber hinaus kann es zu einem beglückenden Moment kommen, wenn dem Kind in einer Form früher Reflexion erstmals klar bewusst wird, dass es selbst ein Ich ist und einen lebendigen Körper hat, den es spürt und über den es allein verfügt.
Abb. 140: Auf dem Weg ins Erwachsenendasein ändert sich das Ich-Konzept. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung werden Merkmale der empfundenen Autonomie. In der Zeit des Abiturs male ich dieses Bild. Mit einer Mischung aus Neugier, Angst und Tatendrang laufe ich der ungeschriebenen Zukunft entgegen. Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers stellt das Ichbewusstsein dem Gegenstandsbewusstsein gegenüber und interessiert sich besonders für seine Phänomenologie, also dafür, wie 398
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es erlebt wird. Das Ichbewusstsein hat mehrere Aspekte und kann in vielfältiger Weise gestört sein.331 Solche Störungen sind geeignet, die Selbstverständlichkeit, mit der wir normalerweise das Pronomen „Ich“ gebrauchen, in Frage zu stellen und seine Besonderheit zu würdigen (s. auch Kap. 24). a. Das Ich als aktives Zentrum. Das Ich wird als Urheber der eigenen Aktionen erlebt. Jaspers geht davon aus, dass das Ich für gewöhnlich bei allen psychischen Vorgängen als Agens beteiligt ist, bei allen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühlen und Antrieben. Sie sind in Bezug auf das Ich normalerweise „personalisiert“. Es gibt aber Störungen, bei denen solche Tätigkeiten nicht als die eigenen erlebt werden. Dann spricht man von Depersonalisation. Auch kann sich die Empfindung des Körpers derart verändern, dass er nicht als der eigene erlebt wird, bis hin zu dem Gefühl, gar nicht zu existieren. „Kranke sagen: Ich bin nur eine Maschine, ein Automat. Nicht ich bin es, der empfindet, spricht, isst, nicht ich, der leidet, nicht ich, der schläft. Ich existiere gar nicht mehr.“ Das cogito ergo sum wird nur noch gedacht, nicht mehr als eigene Existenz gefühlt. Für gewöhnlich ist es uns selbstverständlich, dass wir uns als vollziehend erleben, wenn wir nachdenken, sprechen oder etwas praktisch tun. Schizophrene dagegen sprechen davon, dass eine fremde Macht Gedanken entzieht oder erzeugt, dass ihr Tun behindert oder gesteuert wird, dass sie brüllen, ohne es zu wollen. b. Das Ich bildet eine Einheit. Die gewöhnlich erfahrene Einheit kann sich aber aufspalten. Jaspers gibt als Beispiel, dass wir uns selbst zuhören können, wie wir reden, und darüber reflektieren, während wir weiterreden. Ansatzweise kann man sich auf diese Weise eine Vorstellung davon machen, dass manche Kranke von einer Verdopplung ihrer Persönlichkeit sprechen. Nicht gemeint ist das bekannte Alternieren zwischen verschiedenen Neigungen, den oft zitierten zwei Seelen in der Brust. Vielmehr handelt es sich um ein gleichzeitiges Nebeneinander von Persönlichkeiten, die auch ihr jeweiliges Gefühlsleben haben und z. B. unterschiedlich sprechen. Das Phänomen der multiplen Persönlichkeit wurde in der Zeit von Karl Jaspers Anfang des 20. Jahrhunderts häufiger beschrieben. Danach wurde seine Existenz längere Zeit in Abrede gestellt, weil es schwer objektivierbar ist. In jüngerer Zeit ist es als „dissoziative Identitätsstörung“ in den Kanon psychischer Störungen wieder aufgenommen worden. Die Behauptung, es sei eine häufige Folge von sexuellem Missbrauch in der Kindheit, ist strittig. c. Das Ich bleibt mit sich selbst identisch. Während des ganzen Lebens bildet das Ich den roten Faden, die subjektive Konstante bei allen Veränderungen im Verlauf der Zeit. Zum gewöhnlichen Spektrum gehört, dass man sich mehr oder weniger als der gleiche Mensch erfährt, der man seit seiner Kindheit ist, oder dass der Bezug zu frühen Lebensabschnitten so schwach ist, dass man ihm keine nennenswerte Rolle zumisst. In einer Psychose kann der Übergang aus der Zeit vor der Erkrankung als radikaler Schnitt erlebt werden. Jaspers 399
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zitiert einen Kranken: „Dies damalige Ich kommt mir jetzt vor wie ein kleiner Zwerg, der in mir sitzt. Es ist für mein Gefühl unangenehm und für mein Existenzgefühl peinlich, die Erlebnisse bis dahin in der ersten Person zu schildern.“ Das Ich steht der Außenwelt gegenüber. Ein Objekt ist wörtlich das mir Entgegengestellte, wie es sich besonders in der visuellen Wahrnehmung zeigt. Die Tastwahrnehmung ist typischerweise in zwei Richtungen orientiert: Ich spüre den Gegenstand und zugleich meine tastende Hand. Im Meskalin- oder Haschischrausch kann diese Trennung aufgehoben sein, manchmal in synästhetischer Weise: „Ich fühlte das Bellen eines Hundes als ein schmerzhaftes Berührtwerden meines Körpers, der Hund war im Bellen da, mein Ich war in dem Schmerz“. Ein Schizophrener sieht, wie ein Teppich geklopft wird und klagt: „Was schlägst du mich da?“ Persönlichkeitsbewusstsein. Das formale Ichbewusstsein wird nach Jaspers zum Persönlichkeitsbewusstsein, wenn es sich mit Inhalt füllt. Es gibt individuelle Unterschiede in der Selbstzuschreibung etwa von Triebregungen. So werden z. B. sadistische Regungen von manchen als eigene akzeptiert, von anderen als aufgezwungene abgelehnt. In der Pubertät finden in Zusammenhang mit neuartigen Regungen Persönlichkeitsveränderungen statt, die manche begrüßen und andere als etwas ablehnen, gegen das sie kämpfen müssen. Bei psychisch Kranken kann das Persönlichkeitserleben in dem Sinne labil sein, dass sie unterschiedlichste Rollen, etwa als Messias, als Napoleon oder als Hexe durchleben.
Die beherrschende Position, die Karl Jaspers dem Ich zuspricht, wird von Sigmund Freud radikal verneint. Auch wird verneint, dass das Ich an allen psychischen Vorgängen beteiligt ist, vielmehr vollziehen sich nach Freud die meisten von ihnen im Unbewussten. „Das Bewusstsein ist die Oberfläche des seelischen Apparates.“ Freud entwirft ein Modell, bestehend aus Es, Ich und Über-Ich, das insgesamt das Selbst ausmacht.332 Das Es gehört dem Unbewussten an. Den Terminus übernimmt Freud von dem Arzt und Psychosomatiker G. Groddeck. Das Es ist der Hort der Triebe, Bedürfnisse und Affekte. Dazu gehören insbesondere der Sexual- und der Zerstörungstrieb. Das Es strebt nach unmittelbarer Befriedigung (Lustprinzip). Das Ich ist die Instanz des bewussten Denkens, Wahrnehmens und Erinnerns. „Die Wahrnehmung spielt für das Ich die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält … Es gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll …“333 Freud stellt sich vor, dass das Ich aus dem Es hervorgegangen ist und mit ihm einen fließenden Übergang bildet. Oft zeigt Freud die Tendenz, Entsprechungen für seine Modelle in der Hirnanatomie zu suchen, so auch beim Ich. Das Körper-Ich bringt er unmittelbar mit dem „Gehirnmännchen der Anatomen“ in Zusammenhang, der somatosensorischen Repräsentation des Körpers (s. Abb. 25). 400
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Das Über-Ich ist im Modell Freuds die moralische Instanz. Sie ist wie das Es größtenteils unbewusst. Die Entstehung des Über-Ichs sieht Freud in der Identifizierung des Individuums mit dem Vater in der persönlichen Vorzeit. „Das Über-Ich wird den Charakter des Vaters bewahren und je stärker der Ödipuskomplex war, je beschleunigter (unter dem Einfluss von Autorität, Religionslehre, Unterricht, Lektüre) seine Verdrängung erfolgte, desto strenger wird später das Über-Ich als Gewissen, vielleicht als unbewusstes Schuldgefühl über das Ich herrschen.“334 Sieht man von dem überzogenen Vaterbezug sowie von Freuds Konstruktionen zum Ödipuskomplex ab, lässt sich im Sinne späterer Interpretationen sagen, dass das Über-Ich oder Ich-Ideal die sozialen Normen und Werte sind, die das Individuum im Laufe seiner Biografie verinnerlicht hat. Im Freud’schen Modell wird das Ich auf die stressige Rolle eines Konfliktmanagers zwischen dem Drängen des Es auf Befriedigung und dem Über-Ich als drohender Kontrollinstanz reduziert. Eingeengt von beiden Seiten muss das Ich, während das Es lediglich dem Lustprinzip folgt, dem Realitätsprinzip Genüge tun, d. h., sich auch noch den Erfordernissen der Umwelt anpassen. Das System mit einem stets im Randbereich der Überforderung befindlichen Ich liefert der Psychoanalyse ihre Patienten. Noch weiter reduziert wird das Ich im Dekonstruktivismus. Michel Foucault konstatiert einen unvereinbaren Widerspruch zwischen der Auffassung, dass das Subjekt ein freies Wesen ist, und der Auffassung, dass es von den jeweiligen Bedingungen bestimmt wird, und löst ihn, indem er den Tod des Subjekts verkündet. Es büßt seine Bedeutung ein, weil es in seiner Anpassung an gesellschaftliche Zwänge seine vermeintliche Autonomie verliert. Foucault geht so weit, dass er dem Autor seine schöpferische Leistung abspricht, weil er lediglich bestehende Diskurse gruppiert und zentriert.335 Foucault hat seine steilen Thesen später wieder zurückgebaut, während andere sie weiterverfolgten. Manche Philosophen der Gegenwart bezeichnen das Ich als Fiktion oder Illusion. Thomas Metzinger nennt es pointiert eine „Ich-Illusion, die im Grunde gar keine ist, weil sie niemandes Illusion ist.“336 Es ist kaum anzunehmen, dass Metzinger sich selbst als Niemand sieht, der nicht einmal Illusionen hat, so wenig, wie Foucault überzeugt war, nicht Autor seiner Werke zu sein. Die Konstruktionen des Dekonstruktivismus sind intellektuelle Sprachspiele, die sich von der Erlebniswirklichkeit des Menschen entfernt und mehr Verwirrung als Klarheit in das Verständnis des Menschen gebracht haben. Der späte Wittgenstein hätte sie vielleicht als „Verhexung unseres Verstandes durch die Sprache“ bezeichnet.337 Versuchen wir, etwas Klärung in das schwierige Gebiet von Begriffen wie Bewusstsein, Ichbewusstsein, Selbstbewusstsein, Ich und Selbst zu bringen und mit den Eigentümlichkeiten unserer Erlebniswelt in Zusammenhang zu bringen. Metzinger will seine Leser davon überzeugen, dass es das Selbst nicht gibt, und wenige Zeilen später will er sie „zu einem tieferen Verständnis unserer selbst“ führen.338 Dieser Widerspruch 401
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macht deutlich, dass wir gar nicht anders denken können, als ein Selbst vorauszusetzen, das wahrnimmt, denkt und handelt. „Nach allem, was wir gegenwärtig wissen, gibt es kein Ding, keine einzelne unteilbare Entität, die wir selbst sind,“ sagt Metzinger. Doch eine solche ontologische Dinghaftigkeit wird niemand behaupten, der mit Immanuel Kant bezweifelt, ob etwas so, wie es uns erscheint, real existiert. Die erlebte Wirklichkeit bezeichnet Metzinger als „Ego-Tunnel“, als einen Bruchteil dessen, was uns als physikalische Wirklichkeit umgibt und zu dem wir keinen unmittelbaren Kontakt haben. Dem ist insofern zuzustimmen, als unser Sinnes- und Erkenntnisapparat nur einen winzigen Teil des physikalischen Geschehens als Reize erfasst und in verwandelter Form dem Erleben zugänglich macht (s. Kap. 18). Der Unterschied zwischen Metzingers Auffassung und der hier vertretenen ist im Wesentlichen der, dass Inhalte von „Wirklichkeit im zweiten Sinn“ (s. Kap. 31) von ihm als Illusion bezeichnet werden. Das Ich oder das Selbst als Illusion zu bezeichnen, ist so sinnvoll, wie das Blau oder Rot, das ich sehe, den Schmerz, den ich fühle, den Menschen mir gegenüber für eine Illusion zu halten (wie es seitens des Dekonstruktivismus z. T. geschieht). Dies alles gehört vielmehr zur erlebten Wirklichkeit, ebenso das perspektivische Zentrum der eigenen Welt, das ich „Ich“ nenne und das für jedes Subjekt in neuer Weise gilt. Von einer Illusion zu sprechen, ist ganz allgemein nur sinnvoll im Verhältnis zu einer anderen, besser gesicherten Erkenntnis. Ob wir uns täuschen oder nicht, können wir aber nur innerhalb von Wirklichkeit im zweiten Sinn erkennen, indem wir Widersprüche aufdecken und klären, nicht aber gegenüber der Wirklichkeit im ersten Sinn. Zur physikalischen Realität haben wir keinen direkten Zugang, sondern nur insofern eine Verbindung, als bestimmte physikalische Quellen sich als Reize bemerkbar machen. Die in der physikalischen Welt herrschenden elektromagnetischen oder gravitativen Felder und die raum-, zeit- und kausalitätslosen Quantenereignisse entsprechen keiner unmittelbaren Erfahrung, sie sind eine gedankliche Konstruktion, die die Beobachtungsdaten in eine Ordnung bringen. Metzinger glaubt nicht, dass die Existenz eines erlebenden Selbst notwendiger Bestandteil des Bewusstseins ist und verweist auf ich-lose Formen des bewussten Erlebens (Cotard-Syndrom, siehe auch die von Jaspers genannten Ich-Störungen). „Mystiker aller Kulturen haben über tiefe spirituelle Erfahrungen berichtet, in denen kein „Selbst“ gegenwärtig war, und auch von ihnen haben einige einfach aufgehört, das Pronomen „Ich“ zu verwenden.“339 Das ist nachvollziehbar. Man kann gedanklich ganz in einer Sache oder einem Gedanken aufgehen, sodass man sich selbst vergisst. Dieser Zustand wird am vollständigsten in der Meditation erreicht. Der Molekularbiologe und buddhistische Mönch Matthieu Ricard sagt im Gespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer: „Das entspricht der Definition von Meditation, nämlich einen bestimmten Geisteszustand zu pflegen, ohne sich ablenken zu lassen. Im asiatischen Raum gibt es zwei Wörter, die normalerweise mit ‚Meditation‘ übersetzt werden: das Sanskritwort bhavana bedeutet ‚kultivieren‘, das tibetische Wort gom entspricht ‚sich mit 402
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etwas vertraut machen, das neue Qualitäten und Einsichten birgt‘ sowie eine ‚neue Art zu sein‘. Daher lässt sich Meditation nicht auf die üblichen Klischees wie etwa ‚den Geist leeren‘ oder ‚sich entspannen‘ reduzieren.“340 Ich-vergessene Erlebnisformen sind jedem geläufig. Man kann „außer sich“ sein vor Begeisterung oder vor Wut. Wenn man empathisch den Schmerz eines weinenden Menschen mitfühlt, spielt die eigene Befindlichkeit im Moment keine Rolle. Wenn man sich in ein Buch vertieft oder ein Theaterstück erlebt, kann man völlig davon eingenommen sein. Das kann auch beim Eintritt in eine Kathedrale, vor einem Kunstwerk oder beim Blick in eine wunderbare Landschaft geschehen. In all diesen Fällen tritt das Ich zurück und das Bewusstsein öffnet sich, wird frei für das Andere. Insofern ist es weiterführend, das Bewusstsein nicht im Sinne von Sigmund Freud an das Ich zu koppeln. Die genannten Erfahrungen spielen sich wie alle anderen auch in der Wirklichkeit im zweiten Sinne ab. Das Ich ist bei vielen Tätigkeiten, auf die wir uns konzentrieren, nur mitbewusst, und die Sache oder das Gegenüber steht im Fokus des Bewusstseins. Deshalb ist das Ich aber keine Illusion, vor allem dann nicht, wenn es im Alltagsgeschäft immer wieder seine Rolle als Zentrum des Wahrnehmens und Handelns einnimmt. Man muss vom Dekonstruktivismus nicht in andere Extreme verfallen, weder in den „Naturalismus“, nach dem alles von der Natur gegeben ist, noch in den radikalen Konstruktivismus, nach dem alles individuelle Konstruktion ist, um dem Ich und dem Selbst eine adäquate Rolle zuzusprechen. Zweifellos formt sich das Selbst in Interaktion mit Anderen aus und wird das Ich als solches über die Reflexion mit Anderen erst bewusst, wie Wolfgang Prinz betont.341 Doch zweifellos bin ich es, der die höllischen Zahnschmerzen hat, dabei spielen andere Menschen keine Rolle. Und ich bin es, der diese Zeilen schreibt, auch wenn mir bewusst ist, dass tausende von Menschen dazu beigetragen haben, dass ich dazu imstande bin, und dass dabei tausende von Vorgängen in meinem Selbst ablaufen, die meinem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Der Hirnforscher Antonio Damasio unterscheidet zwischen „Proto-Selbst“, „Kern-Selbst“ und „autobiographischem Selbst“. Den Ursprung des Protoselbst sieht er nicht in der Großhirnrinde, sondern im Hirnstamm, dem Zentrum für Vitalfunktionen wie Herzschlag, Kreislauf und Atmung. Auf dem Fundament des Protoselbst wird das Selbst schrittweise aufgebaut, zunächst durch die Erzeugung ursprünglichster Gefühle und einer urtümlichen Daseinsempfindung. Es folgt das Kern-Selbst, ein Zentrum für die Interaktionen des Organismus mit den Objekten im Hier und Jetzt. Hinzu kommt mit größerer Reichweite das autobiographische Selbst mit seinem Bezug auf Vergangenes und Künftiges. Das Protoselbst bildet zusammen mit dem Kern-Selbst ein „materielles Ich“. Dem autobiographischen Selbst ordnet Damasio alle Aspekte der sozialen Persönlichkeit zu und unterscheidet dabei das „soziale Ich“ und das „spirituelle Ich“. An den Bereichen des Selbst sind laut Damasio außer dem Hirnstamm Kerne des Thalamus und weit verstreute Regionen der Großhirnrinde beteiligt.342 403
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Damasio versucht mit dem schwierigen Instrument der Introspektion das Selbstbewusstsein phänomenologisch zu beschreiben. Mit der für einen Hirnforscher ungewöhnlichen Methode ist er vertraut, seitdem er „Ich fühle, also bin ich“ an die Stelle des cartesischen cogito ergo sum gesetzt hat.343 Er geht aus von den Objekten im Bewusstsein, um dann fortzufahren: „Andere Bilder beschreiben mich, und zu diesem Ich gehören: erstens die Perspektive, aus der die Objekte kartiert werden (die Tatsache, dass mein Geist einen Standpunkt hat, von dem aus er sieht, tastet, hört und so weiter; dieser Standpunkt ist mein Körper), zweitens das Gefühl, dass die Objekte in einem Geist repräsentiert sind, der zu mir und keinem anderen gehört (Eigentum), drittens das Gefühl, dass ich relativ zu den Objekten eine Handlungsvollmacht habe und dass die Tätigkeiten, die mein Körper ausführt, von meinem Geist angeordnet werden, und viertens ursprüngliche Gefühle, welche die Existenz meines Körpers unabhängig davon kennzeichnen, ob und wie er sich mit Objekten beschäftigt.“344 Richard David Precht listet die ganze Vielfalt auf, die Hirnforscher und Psychologen unterschieden haben, womit sie beweisen wollen, dass es nicht ein Ich gibt, sondern viele: das Körper-Ich, in dem ich den Körper mit allen seinen Teilen als den meinigen erfahre, das Verortungs-Ich, das dem Punkt in meiner mentalen Landkarte entspricht, an dem ich mich befinde, das perspektivische Ich, mit dem ich mich als Mittelpunkt meiner Welt erlebe, das Ich als Erlebnissubjekt, das die Wahrnehmungen und Gefühle als die meinigen erfährt, mein Urheberschafts-Ich, in dem ich mich als Autor und Kontrolleur meiner Handlungen und Äußerungen weiß, mein autobiographisches Ich, mit dem ich mich durch meine Lebenserfahrungen hindurch bei allem Wandel als derselbe erfahre, mein selbstreflexives Ich, in dem ich über mich selbst nachdenke und vergleichend mit anderen inne werde, das moralische Ich oder Gewissen, das über mein Tun und Denken in Kategorien wie Gut und Böse urteilt. Precht hält die verschiedenen Ich-Zustände für sinnvolle Einteilungen der Wissenschaft, gleichwohl kommt er zu dem Schluss: „Nahezu ununterscheidbar in unserem Alltagsbewusstsein spielen sie alle zusammen.“345 Die Trennung verschiedener Aspekte oder Zustände des Ich bedeuten eine gedankliche Gliederung, das Ich verliert dadurch seine erlebte Einheitlichkeit so wenig wie der Apfel, wenn ich seine Farbe und seinen Geschmack unterscheide. Die Hirnforschung hat unter verschiedenen Fragestellungen je andere Netzwerke des Gehirns gefunden, die jeweils interagieren, aber kein Zentrum, das einem Ich entspräche. Daraus den Schluss zu ziehen, dass es das Ich nicht gibt oder eine Illusion ist, ist ein massiver Kategorienfehler. Denn das „Ich“ gehört zur Erlebniswirklichkeit und ist darin einer der Kernbestandteile mit zahlreichen Aspekten geistiger oder körperlicher Art. Die Tatsächlichkeit des Ich beweist sich gerade darin, dass ich die ganze Vielfalt als zusammenhängendes Ganzes begreife. Ob es der Hirnforschung je gelingen wird, das Korrelat zu dieser Einheit zu finden, ist eine Frage, die völlig offen ist. Die Hirnforschung befindet sich derzeit im Maschinenraum eines riesigen Schiffes, in dem sie viele Details und Zusammenhänge untersucht hat. Doch aus 404
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dem Beobachteten zu schließen, dass es keinen Kapitän gibt, wäre verfehlt. Ein Modell, das eine solche Instanz enthalten könnte, wird erst möglich, wenn alle Verarbeitungsebenen und Interaktionen bekannt sind. Fasst man das Gesagte zusammen, ergeben sich vorläufig folgende Konsequenzen: a. b.
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Das Bewusstsein umfasst das ganze individuelle Erleben einschließlich der Dinge der Umwelt und des eigenen Seins, der Gefühle, Gedanken und Erinnerungen. Das Bewusstsein ist nicht auf das Ich beschränkt. Es kann durch Wechsel der Aufmerksamkeit auf Gegenstände der Außenwelt, auf das Ich, auf Problemlösungen, auf den Vorgang des Sich-Erinnerns oder auf Geistiges fokussiert bzw. dilatiert (erweitert) werden. Das Bewusstsein kann Perspektiven einnehmen, die von eigenen Bedürfnissen weitgehend unabhängig sind, und von daher Einfluss auf das Handeln nehmen (z. B. bei altruistischen Handlungen). Das Ich ist das individuelle Zentrum hinsichtlich des Ortes im erlebten Raum, hinsichtlich der Perspektivität der Wahrnehmung, des Denkens, Urteilens, Wollens und Handelns. Es wird als zentrale Instanz mit überdauernder Identität erlebt, die je nach Kontext ihre Rollen wechseln kann. Das Ich-Bewusstsein ist Teil des allgemeinen Bewusstseins. Das Körper-Ich umfasst den eigenen Körper in seiner Ganzheit und in seinen Teilen, soweit sie erlebt werden. Es wird – unbeschadet nicht-bewusster Prozesse in Sensorik und Motorik – als unmittelbar verfügbar erlebt, als Akteur in der Auseinandersetzung mit der physischen und sozialen Umwelt. Das Selbst bildet die Gesamtheit aus individuellem Bewusstsein, das das Ich einschließt, dem Vorbewussten mit seinem deklarativen Gedächtnis und dem Nicht-Bewussten, zu dem z. B. das prozedurale Gedächtnis und die Antriebe gehören. Von Selbst-Bewusstsein lässt sich in dem Sinne sprechen, dass es die erkannte und gefühlte Repräsentation des Selbst im allgemeinen Bewusstsein darstellt. Bei psychischen Störungen etwa des schizophrenen Formenkreises oder nach Einnahme psychotroper Substanzen kann die Differenzierung zwischen Ich und Umwelt beeinträchtigt sein; der willentliche Wechsel in der Fokussierung der Aufmerksamkeit ist eingeschränkt.
Wenn dem kleinen Kind in einem „Âtman-Erlebnis“ plötzlich oder auch allmählich das „Ich“ bewusst wird, dann macht es eine neue Entdeckung. Das allgemeine Bewusstsein ist schon zuvor gegeben, das Kind kommuniziert mit seinen Eltern, zeigt seinen Willen, hantiert mit Objekten, fühlt Schmerz und Freude, kurz, es hat ein lebendiges Selbst, das mit seiner Umwelt interagiert. Neu ist, dass das Kind zu reflektieren beginnt. Wie in einem Spiegel – manchmal kann sein Bild in einem physischen Spiegel der Auslöser sein, manchmal ein menschliches 405
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Gegenüber – geht ihm die Einzigartigkeit seines Ich-Seins auf und schafft seinem Dasein eine neue Qualität. Diese Qualität ist keine Illusion. Sie gehört zur einzigen Wirklichkeit, über die wir direkt verfügen, zur Erlebniswirklichkeit. Kurz gesagt: Manche Wissenschaftler meinen, das Ich sei nur eine gedankliche Konstruktion. Das Subjekt und seine Autonomie seien eine Illusion, der gesellschaftliche Diskurs bestimme alles. Die Erlebniswirklichkeit spricht dagegen. Das Ich ist Zentrum des erlebten Raumes und wird als Akteur des eigenen Körpers mit all seinen Handlungen erfahren, es ist ebenso Zentrum von Gedanken, Erinnerungen und Plänen. Es ist das Leben hindurch die bleibende Identität. Das Selbst umfasst das Ich und alle Bereiche des Psychischen einschließlich nicht bewusster Vorgänge. Das Bewusstsein ist imstande, auf Inhalte auch ohne Ich-Beteiligung zu fokussieren.
Literatur Damasio 2010. Eccles 1994. Fink-Eitel 2002. Freud 1923. Jaspers 1959. Kluin 2007. Metzinger 1996, 2009. Precht 2012. Sentker & Wigger 2007.
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Joseph Aloisius Ratzinger Am Psychologischen Institut der Universität Regensburg bin ich als Assistent tätig. Das Institut liegt auf der gleichen Etage wie die Theologische Fakultät, und so ergibt es sich, dass ich auf dem Flur immer wieder der leicht gekrümmten Gestalt von Joseph Alois Ratzinger begegne. Der Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte hatte sich in Tübingen zusammen mit Hans Küng für eine Liberalisierung der Kirche eingesetzt, wurde aber angesichts der radikalen 1968er Studentenrevolten und gegenüber Theologen, die den Gekreuzigten als Sadomasochisten verhöhnten, zum Verteidiger der Tradition und geriet in Opposition zu Küng. Nach anfänglichem Widerstand ließ er sich auf die soeben gegründete Universität Regensburg berufen, wo er jetzt sein Fach in einer Form vertreten kann, die seiner stillen Art entspricht. 1975 komme ich auf dem Flur mit ihm ins Gespräch. Wir reden darüber, ob der Theologe den Gegenstand seines Fachs ebenso aus der Distanz sehen kann wie andere Wissenschaftler ihren Gegenstand, oder ob bei ihm nicht immer auch das persönliche Weltbild betroffen ist. Ich erlaube mir, das Problem mit einer kühnen Frage auf den Punkt zu bringen: „Herr Ratzinger, glauben Sie das, was Sie schreiben, selbst?“ Ratzinger denkt einige Sekunden nach. Unüberlegte Spontaneität ist nicht seine Sache. Er möchte offenbar eine ehrliche Antwort geben. Dann hebt er ohne Worte beide Hände und wiegt sie hin und her, in der Geste des Abwägens, der Unschlüssigkeit und des Zweifels. Als Ratzinger 30 Jahre später gegen seinen Wunsch zum Papst gewählt wird, muss ich an diese Szene denken. Als Benedikt XVI ist er gezwungen, für die Kirche eine eindeutige Linie zu vertreten, weil die Gläubigen dies brauchen und erwarten, was angesichts der widerstreitenden Strömungen in seinem Umfeld schwer genug ist. Er ist kein Machtmensch und kein Charismatiker, sondern ein Mensch der leisen Töne. Dass er 2013 den ungewöhnlichen Schritt vollzieht, sein Amt niederzulegen, liegt vielleicht nicht nur daran, dass die Probleme in der Kirche, die sich z. B. aus dem Streit zwischen progressiven und konservativen Kräften oder auch in Zusammenhang mit Missbrauchsfällen entwickelt haben, über seine Kräfte gehen. Er ist nach wie vor und in erster Linie der theologische Geisteswissenschaftler, zu dessen Methoden Abwägung, Zweifel und Selbstkorrektur gehören, und der an seinem Schreibtisch die Freiheit hat, die das vermeintlich höchste Amt ihm verwehrt.
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Hat der Mensch einen freien Willen?
Anders gefragt: Sind wir in unseren Entscheidungen Sklave äußerer Einflüsse und des eigenen Gehirns? Der Begriff eines autonomen Ich oder Selbst ist eng verbunden mit der Frage nach 407
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der Willensfreiheit. Weil diese Frage wiederum eng verbunden ist mit der Frage nach Verantwortlichkeit und Schuld, ist der Umgang mit ihr kein philosophisches Sprachspiel, sondern von gravierender Relevanz für das gesellschaftliche und geistige Miteinander. Das zeigt sich besonders in den Bereichen der Theologie, der Ethik und der Justiz. In der christlichen Theologie gehört die Willensfreiheit des Menschen seit alters her zu dessen Bestimmungen. Im Rahmen des Theodizee-Problems, wie nämlich das Übel in der Welt mit einem gütigen Gott zu vereinbaren sei, erhält die Willensfreiheit zentrale Bedeutung. In der Theologie wird die Willensfreiheit als größtes Geschenk Gottes an die Menschen verstanden. „Die natürliche Veranlagung, wollen zu können, ist das unerforschliche Geheimnis des Menschen, die Krone seiner geistigen Natur, ein Stück der Gottesebenbildlichkeit, das ihm der Natur gegenüber einen gewissen Anteil an der Freiheit Gottes gibt. 1. Buch Mose 1,26; Psalm 8,6 ff.“346 Die Freiheit schließt notwendig mit ein, dass sie missbraucht werden kann und zum malum morale führt, das Leibniz vom malum physicum (Naturkatastrophen) unterschieden hat. Innerhalb der christlichen Lehre ist der Standpunkt verbreitet, dass durch den Missbrauch der Freiheit durch den Menschen das Böse und der Tod in die Welt gekommen seien, und zwar durch den Sündenfall und die darauffolgende Vertreibung aus dem Paradies (Röm. 5, 12). Auch der Opfertod des Gottessohnes ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Es kann hier nicht darum gehen, dieses Thema zu vertiefen, sondern nur darum, die weitreichenden Implikationen der Frage nach der Willensfreiheit angedeutet zu haben, die zwei Jahrtausende lang das religiöse und damit auch das praktische Leben der Menschen wesentlich mitbestimmt haben und zum Teil noch mitbestimmen. Während der theologische Aspekt vor allem aus christlicher Sicht bedeutsam ist, haben ethische und juristische Aspekte Bedeutung für die gesamte Gesellschaft. Im deutschen Strafrecht kommt dem freien Willen eine Schlüsselstellung zu. Nach wie vor ist eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs von 1952 maßgeblich: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden.“347 Im Jahre 1983 veröffentlichten Benjamin Libet und Mitarbeiter eine Experimentalreihe, die dem Verhältnis von freiem Willen und Hirngeschehen galt und für Furore sorgte. Die Probanden hatten die schlichte Aufgabe, gelegentlich mit dem Finger zu zucken. Dabei beobachteten sie auf einem Bildschirm eine Art Uhr, auf dem ein Punkt im Kreis lief, der für einen Umlauf 2,56 Sekunden brauchte. Sie sollten für den Moment, in dem sie den Entschluss fassten, den 408
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Finger zu bewegen, die Zeigerstellung angeben. Während des Versuchs wurde über eine Elektrode, die auf dem Scheitel oberhalb des prämotorischen Zentrums angebracht war, die Aktivität des Gehirns abgegriffen. Ca. 40 solcher Aufzeichnungen wurden jeweils aufsummiert, um Zufallsschwankungen auszugleichen. Dabei ergab sich als Verlauf ein „Bereitschaftspotential“, dessen Kurvenverlauf in idealisierter Form in Abb. 141 dargestellt ist.
Abb. 141: Das Bereitschaftspotential im prämotorischen Kortex für eine einfache Aktion beginnt, bevor der Bewegungsentschluss bewusst gefasst wird. Im Übrigen s. Text.348 Das Ergebnis bestand im Wesentlichen darin, dass das Bereitschaftspotential sich 0,55 Sekunden vor der motorischen Aktion zu bilden begann, dass aber der Zeitpunkt des bewussten Entschlusses erst 0,2 Sekunden vor der Aktion lag. Manche Vertreter des freien Willens hätten die umgekehrte Reihenfolge erwartet: erst den bewussten Entschluss, dann die Hirntätigkeit, die zu der motorischen Aktion führt. Um es mit Libet’s Worten verallgemeinernd zu sagen: „Freien Willenshandlungen geht eine spezifische elektrische Veränderung im Gehirn voraus (das ‚Bereitschaftspotential‘, BP), das 550 Millisekunden vor der Handlung einsetzt.“349 Die Ergebnisse sind in Untersuchungen durch Dritte nicht nur bestätigt worden, die Zeitspanne zwischen vorbereitender Hirntätigkeit und bewusstem Entschluss erwies sich als noch größer.350 Wolf Singer, Neurophysiologe in Frankfurt, ist überzeugt, dass Entscheidungen im Wesentlichen auf nichtbewusster Ebene getroffen werden. Er weist darauf hin, dass Schaltdiagramme der Vernetzung der Hirnrindenareale keinen Hinweis auf ein singuläres Konvergenzzentrum enthalten, das einem „Ich“ entsprechen könnte. Gehirne seien durch die Evolution daraufhin ausgelegt, fortwährend nach den besten Verhaltensoptionen zu suchen. Entscheidungen 409
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werden ohne Schiedsrichter getroffen. Zwischen Erregungsmustern, die Wissensinhalten, Werten und Bedürfnissen entsprechen, finden nichtbewusste kompetitive (wettbewerbsartige) Prozesse statt. Ist ein stabiler Zustand erreicht, äußert sich dieser als Handlung oder als Handlungsintention. Der Teil der Variablen, die an einer Entscheidung beteiligt sind, ist nur zu einem kleinen Teil bewusst. Nur, was bewusst wahrgenommen wurde, wird ins deklarative Gedächtnis überführt und steht als bewusste Entscheidungsvariable zur Verfügung. Singer bezweifelt die letztinstanzliche Funktion des Bewusstseins. Er plädiert dafür, etwa bei Delinquenten die Frage nach der Verantwortlichkeit durch die Unterscheidung von bewussten und unbewussten Prozessen zu ersetzen.351 Ob angesichts der Schwierigkeit, beides im Einzelfall valide zu trennen, hierdurch eine Beurteilung der Schuldfähigkeit einfacher wird, ist allerdings fraglich. Der Neurobiologe Gerhard Roth vertritt den Standpunkt: „Nicht das Ich, sondern das Gehirn hat entschieden!“352 Kritik seitens der Philosophie, er begehe einen Kategorienfehler, lässt er nicht gelten. Er weist auf zahlreiche Befunde der Hirnforschung hin, nach denen bestimmte Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns unzweifelhaft Konsequenzen für die Persönlichkeit, ihr Erleben und Verhalten haben. Auch für den gesunden Menschen besteht kein Grund für die Annahme, dass nicht nur jedem bewussten Inhalt bestimmte Hirnvorgänge zugeordnet sind, sondern dass ihnen auch nichtbewusste Vorgänge vorausgehen. So vergehen zwischen 200 und 1000 Millisekunden, bevor ein Wahrnehmungsinhalt ins Bewusstsein tritt, der zuvor zahlreiche Hirnzentren mit Millionen von beteiligten Nervenzellen durchlaufen hat. Ein solcher Vorlauf geschieht auch bei Entscheidungsprozessen, wie die Experimente von Libet gezeigt haben. Roth stellt in Frage, dass dem bewussten Willen überhaupt eine Bedeutung zukommt, weil das Willenserlebnis erst auftritt, nachdem das lateralisierte Bereitschaftspotential schon begonnen hat. Das Erlebnis, etwas zu wollen, sei als nachträgliche Selbstzuschreibung zu verstehen. Z. B. lässt sich durch transkranielle Magnetstimulation künstlich eine Aktion auslösen, die die betreffende Person anschließend als von ihr gewollt beschreibt. Den Einwand von Philosophen, bei Entscheidungen gehe es nicht um Ursachen, sondern um Gründe, weist Roth mit dem Hinweis zurück, dass er nur bei dualistischer Auffassung gelten könne, also wenn geistige und physiologische Vorgänge als getrennte Entitäten zu verstehen sind. Diese Annahme aber sei überholt, weil kein Vorgang plausibel gemacht werden kann, wie beide Entitäten interagieren. Dem muss entgegnet werden, dass es keiner dualistischen Auffassung bedarf, um für das Handeln aus Gründen nach hirnphysiologischen Korrelaten zu suchen. Zu den Merkmalen des Bewusstseins gehört, dass es intentional ist, zielgerichtet in seinen Wünschen und Absichten. Es ist durchaus möglich, dass Hirnprozesse gefunden werden, die Absichten und Zielvorstellungen entsprechen und von einer antizipierten Zukunft her handlungsrelevant werden, statt aus der zeitlichen Gegenrichtung als Ursachen. Dazu muss allerdings ein Stein weggeräumt 410
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werden, den sich die Naturwissenschaften selbst in den Weg gelegt haben. Seit längerer Zeit schon haben sie sich von teleologischen Annahmen verabschiedet und suchen nur noch nach Ursachen. Seitdem gilt die Vorstellung von zielgerichteten Naturvorgängen als obsolet. Im Zusammenhang mit der Erforschung kognitiver Vorgänge ist dieses Tabu aber in Frage zu stellen. Zwar kennt die Natur keine Ziele, aber der Mensch! Es ist anzunehmen, dass solche Ziele wie alle anderen psychischen Inhalte in Hirnvorgängen codiert und wirksam werden. Wenn ich z. B. mit dem Auto nach Hamburg fahren will, um dort etwas zu erledigen, dann habe ich einen Grund, es zu tun, ein Ziel. Diesem Ziel folgt alles andere. Ich setze mich ins Auto und fahre los. Alle subalternen Entscheidungen, ob ich nach links oder rechts fahre, Gas gebe oder bremse, kann ich weitgehend dem Zombie in mir überlassen, also zahllosen Entscheidungen, die mein Bewusstsein bestenfalls streifen, während ich unterwegs an ganz andere Dinge denke, etwa an die Aufgabe, die mich am Zielort erwartet. Sicherlich fallen Ihnen selbst weitere Beispiele ein. Sich ein Ziel zu setzen, ist eine typisch menschliche Willensentscheidung. Sie ist im Allgemeinen längerfristig angelegt, sie gestattet die wiederholte bewusste Reflexion des Vorhabens, den Abgleich mit dem, was mir wichtig ist, und ist insofern frei. Ob man sich das Ziel setzt, das Seepferdchen zu schaffen, das Abitur zu machen oder den Rivalen zu ermorden – solche Ziele wird man sich im Allgemeinen gut überlegen, d. h., bewusst reflektieren. Jedes Mal ergeben sich aus einer langfristigen Entscheidung für ein Ziel zahlreiche Einzelaktionen, bei denen untergeordnete Entscheidungen zu treffen sind, die man großenteils nichtbewussten Vorgängen überlassen und durch Automatismen erledigen wird. In ähnlichem Sinne äußert sich auch die Philosophin Bettina Wade.353 Manche definieren den freien Willen in dem Sinne, dass ich unter gleichen Bedingungen auch anders hätte entscheiden können. Das aber stellt die Willensfreiheit auf eine Stufe mit dem Zufall, und ich könnte ggf. den Würfel statt mich selbst entscheiden lassen. Für Wade gilt dagegen: „Frei handeln heißt, dass man gemäß seinen Überzeugungen und Wünschen handelt“ (Kompatibilismus). Libets Befunde betreffen nur eine Teilklasse von Aktionen, nicht aber Handlungen, bei denen nach Verantwortlichkeit gefragt ist wie bei einem geplanten Verbrechen oder bei solchen mit großer zeitlicher Perspektive wie etwa der Berufswahl. „Ein Fingerschnipsen ist noch keine Partnerwahl“, sagt Wade. Auch Libets Probanden hatten die wesentliche Entscheidung bereits getroffen, als sie sich entschlossen, an dem Experiment teilzunehmen und sich dessen Regeln zu unterwerfen. Auch der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff betont, dass Gründe und nicht Ursachen das menschliche Handeln bestimmen: „Menschen handeln um der Ziele willen, die sie durch ihr Handeln erreichen wollen.“354 Er stellt sich auf den Standpunkt, dass phänomenologische Erklärungen mit ihrer subjektiven Weltperspektive die Wirklichkeit menschlicher Handlungen besser erklären als die reduktionistischen Theorien der Neurologen. Er betont, dass diese Theorien selbst mentale Phänomene sind, was Neurologen vergessen, wenn sie ihren Modellen 411
Die zweite Entstehung der Welt
einen übergeordneten ontologischen Status zusprechen. Er hält es für ausgeschlossen, dass sich religiöse oder wissenschaftliche Überzeugungen, Moral, Gewissensregungen, Schuldgefühl und Scham auf neuronale Determinanten zurückführen lassen. Der Rechtsphilosoph Otfried Höffe untersucht den Freiheitsbegriff und folgt dabei der Ethik Immanuel Kants.355 Dieser unterscheidet drei Stufen von „Freiheit“: die technische, die irgendwelchen Zwecken dient, die pragmatische, die dem eigenen Wohl dient, und die moralische Freiheit, die der Höchstform des Guten dient. Die moralische Freiheit besteht darin, sich selbst das Gesetz des Handelns zu geben. Das bedeutet „Autonomie“ (griech. auto = selbst und nomos = Gesetz). Der damit verbundene hohe Anspruch wird an einem Gedankenexperiment Kants deutlich: Angenommen, von jemandem wird unter Androhung der Todesstrafe verlangt, dass er gegen einen ehrlichen Mann falsch aussagt – wird er seine Liebe zum eigenen Leben überwinden? Es gibt aus der Zeit nach Kant hinreichend Beispiele dafür, dass vergleichbare Fälle nicht nur ein Gedankenexperiment geblieben sind. Der Autonomie entgegen steht die „Heteronomie“, die Fremdbestimmung. Die Willensfreiheit entspricht der moralischen Autonomie. Der kleine Ruck, der in Libets Experimenten für eine Fingerbewegung verlangt wird, verfehlt das Thema der Willensfreiheit. Weniger absolut im Maßstab als Kant, im Prinzip aber ähnlich bestimmt der Philosoph Lutz Wingert Freiheit als Fähigkeit zur Selbstbindung im Handeln durch Gründe. „Frei ist man in seinem Tun, wenn man auch anders handeln könnte, gesetzt den Fall, man hätte einen Grund dafür, anders zu handeln.“356 Wingert erklärt mit Verweis auf Jean-Paul Sartre, dass Bedingtheit keine Festlegung bedeutet. Wenn unser Handeln und Urteilen determiniert wäre, dann hätten wir nicht nur für den Begriff der Schuld keine legitime Verwendung, sondern auch für den Begriff des Verdienstes, also eines Anspruchs kraft Leistung. Das Einstehen für sozial inakzeptable Handlungen und der Anspruch auf Urheberschaft von Leistungen sind zwei Aspekte der gleichen Autonomie, die immer nur relativ sein kann. Wingert wendet sich gegen die Behauptung von Roth, Gründe seien nur Rationalisierungen. „Sie zählen. Und sie erklären in vielen Fällen am besten den Erfolg und Misserfolg unserer Handlungen.“ Was nicht ausschließt, dass Gründe gelegentlich im Nachhinein konstruiert werden, um ein kohärentes Selbstbild aufrecht zu erhalten. Der Münchner Philosoph Thomas Buchheim setzt sich mit Singers Hauptthese „Keiner kann anders, als er ist“ auseinander und setzt dagegen „Wer kann, der kann auch anders“.357 Etwas tun zu können beinhaltet [im Gegensatz dazu, etwas tun zu müssen] die Möglichkeit, es zu lassen oder etwas anderes zu tun. „Dass der Mensch, wenn er etwas kann, auch anders kann, bezieht sich … nicht auf das schon Herbeigeführte, sondern allein auf das Ausstehende in seinem Handeln.“ Buchheim betont weiter, dass die Freiheit der Tätigkeit nicht allein auf die Bewusstheit bezogen werden kann, wie dies Singer meint, sondern vor allem darauf, dass sie bejaht wird. Letzteres, so ist zu ergänzen, kann auch durch eine Entscheidung oder 412
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Einstellung im Vorhinein geschehen sein, sodass die konkrete Einzelentscheidung einer Teilhandlung zwar nichtbewusst erfolgt, sich aber in den Rahmen der bewusst angestrebten Absicht einpasst. Der Molekularmediziner Gerd Kempermann bezeichnet den freien Willen ebenso wie die Menschenwürde als Konstrukte, als Zuschreibungen.358 Er betont die Abhängigkeit von Persönlichkeitseigenschaften von Zuständen des Gehirns und führt ein krasses Beispiel an: Ein Lehrer entwickelte pädophile Neigungen, die vollständig verschwanden, nachdem ihm ein Hirntumor entfernt worden war. Sie traten wieder auf, als der Tumor nachwuchs, und verschwanden wieder nach neuerlicher Operation. Diese Abhängigkeit gelte nicht nur in Krankheitsfällen, sondern allgemein auch für den gesunden Menschen. Die Wirkung von Antibiotika, Drogen und Psychopharmaka belegen den Zusammenhang zu Genüge. Er sieht den Menschen in unendlicher Wechselwirkung mit seiner Natur und der Umwelt, die in ethischen Fragen Geistes- und Naturwissenschaften in gleicher Weise herausfordert. Der Biologe Holk Cruse unterstützt den Standpunkt von Singer und Roth und titelt plakativ: „Ich bin mein Gehirn“.359 Er führt als Beispiel dafür, dass der freie Wille eine Illusion sei, folgenden experimentellen Vergleich an: Wenn man das Gehirn an einer bestimmten Stelle im Thalamus künstlich reizt, führt das dazu, dass der Betreffende einen Finger bewegt. Allerdings hat er dabei den Eindruck, dass es ohne seinen Willen geschieht. Erfolgt die Reizung dagegen im motorischen Kortex, berichtet die Person überraschenderweise, dass sie die Bewegung gewollt habe. Woher erlebnismäßig der Eindruck kommt, einen freien Willen zu besitzen, erklärt Cruse so: Bei Entscheidungsfindungen ist eine größere Anzahl dynamischer neuronaler Netze beteiligt. Da nicht alle Aspekte bewusst werden, ergibt sich eine Erklärungslücke, die das Gehirn wie beim blinden Fleck füllt, eben mit dem Konstrukt des freien Willens. Es fragt sich allerdings, warum die Erklärungslücke im Falle der Thalamusreizung nicht auch auf diese Weise geschlossen wird. Auch der Psychologe Wolfgang Prinz hält den freien Willen zusammen mit dem Ich für Konstrukte. Er leitet ihre Entstehung aus sozialen Prozessen ab. Er meint, dass es der LibetExperimente nicht bedurft hätte, um festzustellen, dass menschliche Entscheidungen determiniert sind, und zwar durch kulturelle Einflüsse. „An Erziehung – und übrigens auch an therapeutische Prozesse – zu glauben heißt ja gerade auch, an einen Determinismus zu glauben, sonst könnte man es ja gleich sein lassen.“ Diese Behauptung muss bezweifelt werden. Eltern, Erzieher und Therapeuten machen täglich die Erfahrung, dass sie zwar Einfluss auf ihre Zöglinge bzw. Patienten nehmen, dass dieser Einfluss aber oft auf jenen Widerstand stößt, der als Ausdruck dessen verstanden werden kann, was wir als Autonomie einer Person bezeichnen. Von Determinismus kann dabei keine Rede sein. Prinz sieht wie Singer und Roth Schwächen im derzeitigen Rechtssystem und schlägt eines vor, „das nicht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip beruht, sondern darauf, dass man für Handlungen, die anderen schaden, zahlen muss, ohne dass man dem Handelnden Freiheit und Schuldfähigkeit unterstellt.“360 413
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Der Vorschlag von Prinz entspricht – gewollt oder ungewollt – altgermanischem Stammesrecht, nach dem der Delinquent für den Schaden zahlen musste, gleich ob absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführt. Davon getrennt wurde die Tat als Verbrechen (= „Friedensbruch“) beurteilt nur, wenn sie absichtlich erfolgte.361 Im frührömischen Recht entsprach „culpa“, heute oft mit „Schuld“ übersetzt, der heutigen Fahrlässigkeit, unterschieden von „dolus“, dem Vorsatz. Die Willensfreiheit wurde grundsätzlich nicht in Frage gestellt, obwohl sie in der Antike bereits philosophisch diskutiert wurde.362 Diese Haltung unter Juristen hat bis heute Tradition. Der Strafrechtler E.-J. Lampe hält kaum ein Konzept für so hilfreich wie das der Willensfreiheit. Er sieht in dem historischen Erfolg des tradierten Rechtsdenkens ein Argument dafür, dass es Willensfreiheit gibt.363 Der Philosoph Georg Mohr erinnert an Aristoteles, der freiwilliges Handeln als Tun definiert hat, das nicht durch Zwang verursacht ist und wissentlich geschieht. Logische Voraussetzung des Schuldgrundsatzes ist die Entscheidungsfreiheit des Menschen. Grundlage für die Zumessung der Strafe ist die Schuld des Täters. Die Libet-Experimente und ihre Interpretation durch Singer, Roth und Prinz haben zu einer Diskussion geführt, die unter Rechtswissenschaftlern drei Positionen erkennen lässt. Die erste nimmt die Ergebnisse der Hirnforschung zum Anlass, eine grundlegende Revision des Strafrechts zu fordern, bei der auf den Schuldbegriff und dementsprechend auf Strafe verzichtet wird. Stattdessen wird auf Therapie (Abolitionismus) und Präventivmaßnahmen gesetzt. Die zweite Position baut darauf, dass ein Rechtssystem einschließlich von Grundannahmen wie Verantwortlichkeit und freiem Willen auf gesellschaftlich akzeptierten Setzungen beruht und so, wie es ist, beibehalten werden kann und nicht aufgrund strittiger Interpretationen wissenschaftlicher Ergebnisse von Hirnforschern und Sozialpsychologen geändert werden muss. In der dritten Position, wie sie Georg Mohr vertritt, wird die bestehende Verbindung von Freiheit, Schuld und Strafe beibehalten, die auf das legitime Eigeninteresse des Einzelnen zurückgeführt wird. Denn der Verzicht auf den Freiheitsbegriff würde jegliche Form von Urheberschaft und Verantwortung im positiven wie im negativen Sinne untergraben. Allerdings wird eine stärkere Berücksichtigung von etwaigen Persönlichkeitsmerkmalen vorgeschlagen, die sich der Kontrolle des Handelnden entziehen.364 Damit kommt Mohr Forderungen aus den Neurowissenschaften nach, in denen Gerhard Roth u. a. insbesondere auf psychobiologische Determinanten gewalttätigen Verhaltens hingewiesen haben. Helmut Meyer kritisiert das Libet-Experiment. Die Probanden sollen die Taste drücken, wenn sie den Wunsch, den Drang und den Willen spüren, es zu tun. „Aber nichts spricht dafür, dass eine willentliche Handlung von einem vorhergehenden Wunsch, Drang etc. begleitet werden muss. Ich handle nicht unfreiwillig, wenn dies nicht der Fall ist; etwa wenn ich ohne weiter darüber nachzudenken zu meinem Füllfederhalter greife. Außerdem würde ein empfundener Drang im Gegenteil darauf hinweisen, dass die Handlung unwillentlich geschieht: 414
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Dass ich den Drang verspüre zu gähnen, macht mein Gähnen nicht zur willentlichen Handlung.“365 Eine gründliche Kritik an Methode und Interpretation der Experimente von Libet und nachfolgender Untersuchungen unternimmt Frank Rösler.366 Sie gehören vermutlich zu den meistzitierten Experimenten der Hirnforschung. Sie können aber nicht als Schlüsselexperiment zur Frage der Willensfreiheit gewertet werden. Ihre Bedeutung besteht vielmehr darin, dass sie einen breitgefächerten Diskurs in Natur- und Geisteswissenschaften ausgelöst haben. Es wirkt wie Ironie des Schicksals, dass der Physiologe Benjamin Libet Dualist war und mit seinem Experiment ausmessen wollte, wie der Geist die Hirnfunktionen beeinflusst. Libet war sich der Tragweite seiner Versuche bewusst und hat sie bis in theologische Implikationen reflektiert, als die Ergebnisse von 1983 zu seinem großen Erstaunen darauf hinwiesen, dass das lateralisierte Bereitschaftspotential früher einsetzt als der bewusste Entschluss. Allerdings korrigierte Libet seine anfänglichen Schlussfolgerungen aufgrund späterer Beobachtungen in einem wichtigen Punkt. Er berichtet davon, dass in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Willensakt und der Ausführung ein Zeitfenster von 150 Millisekunden besteht, innerhalb dessen die Ausführung der Bewegung noch bewusst blockiert werden kann. Wie Abb. 141 veranschaulicht, reicht das Veto-Zeitfenster von 0,20 bis 0,05 Sekunden vor der Ausführung; erst im letzten Abschnitt ist das Bewegungsprogramm eingeleitet und kann nicht mehr gestoppt werden. Das bedeutet, dass der bewusste Wille eine bereits unbewusst getroffene Entscheidung nicht lediglich registriert, sondern dass er das Ergebnis hemmend beeinflussen kann. Dem Bewusstsein bleibt demnach mit seinem möglichen Veto eine letzte Kontrollfunktion. Es ist nicht schwer, sich Situationen vorzustellen, in denen das Bewusstsein eine solche Kontrolle ausübt: Im letzten Moment bleibt das kränkende Wort ungesagt, wird die Ohrfeige ausgebremst, die Pistole nicht abgefeuert. Libet folgert: „Da es der Vollzug einer Handlung ist, der bewusst gesteuert werden kann, sollte es legitim sein, dass man Personen aufgrund ihrer Handlungen für schuldig und verantwortlich hält.“367 Es ist davon auszugehen, dass auch der bewussten Vetoaktion zeitparallele Vorgänge im Gehirn zugeordnet sind, vielleicht im orbitofrontalen Kortex, also im unteren Stirnhirn, wo man das Zustandekommen von Entscheidungsprozessen vermutet. Die Hirnforscher sind sich weitgehend einig darin, dass im Prinzip alle Bewusstseinsvorgänge mit Hirnprozessen korreliert sind, auch wenn bis heute noch im Einzelnen offen ist, wie und wo sie sich abspielen. Die Veto-Befunde Libet’s werden von manchen Hirnforschern nur beiläufig oder gar nicht erwähnt, weil sie schlecht zu ihrem Konzept von Willensfreiheit als Illusion passen. Sie unterstreichen aber die grundsätzliche Vorläufigkeit von wissenschaftlichen Befunden und ihrer Interpretation sowie die Vorsicht, mit der möglicherweise weitreichende Konsequenzen gehandhabt werden müssen. Wolf Singer weist auf die Begrenztheit der Fähigkeiten des menschlichen Gehirns hin, die auch für den Forscher gilt: „Diese Vorbehalte stellen alle abschließenden Behauptungen in 415
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Frage, denn dem Argument ist schwer zu begegnen, dass jedwede Erkenntnis vorläufigen Charakter hat und sich durch Einbettung in neue Bezüge wesentlich verändern kann. Dennoch können wir nicht umhin zu versuchen, das jeweils Wissbare so zu ordnen, dass es sich in Modelle fügt, die uns kohärent und widerspruchsfrei erscheinen.“368 Es ist riskant, ohne zwingende Gründe ein Menschenbild zu propagieren, das einer willenlosen Maschine entspricht, die von außen und innen determiniert ist. Es nimmt dem Menschen die Würde und entwertet ihn auch dann, wenn man in der Willensfreiheit nicht, wie eingangs zitiert, die Ebenbildlichkeit Gottes sieht. Denn Schuldfähigkeit ist sachnotwendig mit Verantwortung verbunden. Mit dem Verlust der Urheberschaft im negativen Sinne geht auch der Anspruch auf Urheberschaft im positiven Sinne verloren. Der Begriff des Autors löst sich mit dem Verzicht auf den Begriff der Autonomie auf. Kunst, Literatur und Erfindertum verlören ihre wichtigste Quelle, das kreative Individuum. Auch bei Begrenzung einer solchen Sichtweise auf das Rechtswesen wären die möglichen Folgen inhuman. Dem Menschen würden Mündigkeit und Selbstbestimmung letztendlich abgesprochen. Ein Delinquent könnte als Maschine mit Fehlfunktionen behandelt werden. Wenn sich eine solche nicht reparieren lässt, wird sie ausgemustert. Unter totalitären Regimen ist eine solche Einstellung oft genug realisiert worden, indem der angebliche Wille des Volkes, des Führers oder der Partei, die immer Recht hat, über alles gestellt wurde. Doktrinär vertretene Lehrmeinungen der jüngsten Zeit, die Individuum und Subjektivität zugunsten des Kollektivs in Frage stellen, müssen daraufhin geprüft werden, ob sie zu ähnlichen Konsequenzen führen können. Eine wissenschaftliche Theorie kann, in praktisches Handeln umgesetzt, Schattenseiten entwickeln, die der Urheber nicht vorhergesehen hat, für die er aber – und hier realisiert sich das Thema selbst – mitverantwortlich ist. Er kann sich dem nicht in eigener Sache mit der Behauptung entziehen, es gäbe keine individuelle Verantwortlichkeit. Der freie Wille ist nach Julian Baggini nicht a priori gegeben, sondern er muss erarbeitet und kultiviert werden. Seine zentrale Aussage: Wenn ich weiß, dass ich verantwortlich für mein Tun bin, verhalte ich mich anders, als wenn ich nicht verantwortlich gemacht werden kann. Baggini berichtet von Untersuchungen, die zeigen, dass der Glaube, einen freien Willen zu haben, zu moralischerem Verhalten führt. Im Gegenfalle ist die Bereitschaft zu betrügen größer. „Die Fähigkeit zur Selbstregulation wird untergraben von der Überzeugung, dass wir dazu nicht fähig sind.“369 Vielleicht ist der freie Wille das beste Beispiel für Autopoiese – etwas selbst Geschaffenes im Kontext sozialer Systeme. Ob vom Schöpfer geschenkt oder autopoietisch entstanden – der freie Wille ist keine bloße Idee, sondern ein wirkender Faktor und deshalb wirklich. Der Kompatibilismus – „Frei handeln heißt, dass man gemäß seinen Überzeugungen und Wünschen handelt“ – bedeutet nicht, dass man rücksichtslos tun und lassen kann, was man will. Er beinhaltet vielmehr auch die Bereitschaft zur Rücksichtnahme, sofern ihre Notwendigkeit 416
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zu den Überzeugungen der Person gehört, also z. B. die Zurückstellung persönlicher Interessen zugunsten der Familie oder höherer Ziele. Die Bereitschaft hierzu wird durch die Erwartung eines höherwertigen Erfolgs bestärkt, z. B. dadurch, dass die Rücksichtnahme eine wechselseitige ist und allgemeine Regel wird. Auch wird die Bereitschaft durch das positive Gefühl bestärkt, das Richtige zu tun und damit das Selbstbild aufzuwerten. Ohne eine solche durch Sozialisation vermittelte und im besten Fall verinnerlichte Einstellung, die persönliche Wünsche und Interessen der Gruppe, der man angehört, austariert, ist keine Gemeinschaft lebensfähig. Bei Soziopathen besteht dieses Gleichgewicht nicht. Sie sind aber deshalb nicht freier. Ihre Überzeugungen sind lediglich auf den Horizont ihrer Person beschränkt, was die Gemeinschaft in der Regel nicht akzeptiert und durch Sanktionen ahndet, die für den Soziopathen auf eine reale Freiheitsbeschränkung hinauslaufen.
Das Brötchen Berta und Hilde waren Schwestern, die ein Leben lang gute und schlechte Zeiten zusammen verbracht hatten. Nun waren sie alt geworden und Hilde lag auf dem Sterbebett. „Etwas muss ich dir noch sagen“, flüsterte Hilde, „eigentlich hätte ich doch gern die obere Hälfte des Frühstücksbrötchens gegessen.“ „Nein, sowas“, meinte Berta, „und ich hätte viel lieber die untere Hälfte gegessen. Ich habe sie dir immer gelassen, weil ich meinte, dir damit einen Gefallen zu tun.“ „Und ich ließ dir die obere Hälfte, weil ich dir eine Freude machen wollte“, antwortete Hilde. Berta ergriff Hildes Hand, und beide mussten lächeln.
Die alte Geschichte von Berta und Hilde wird in ähnlicher Form immer wieder erzählt, meistens verbunden mit der Folgerung, dass man sich mit der Äußerung der eigenen Wünsche nicht zurückhalten solle. Tatsächlich aber zeigt sie, dass Willensfreiheit nicht notwendig die Erfüllung persönlicher Bedürfnisse zum Ziel hat. In diesem Falle erweist sich als höheres Ziel, durch eigenen Verzicht dem anderen eine Freude zu machen. Hätten die Schwestern ihre persönliche Vorliebe früher zum Ausdruck gebracht, hätten zwar beide das sinnliche Vergnügen an der bevorzugten Brötchenhälfte genossen, nicht aber die stille Freude daran, der Schwester etwas Gutes zu gönnen. Die späte Klärung offenbarte zwar einen beiderseitigen Irrtum, machte aber zugleich die liebevolle Antizipation des vermeintlichen Wunsches deutlich und vertiefte die wechselseitige Zuneigung. In Grenzfällen kann es dem eigenen Wunsch entsprechen, persönliche Vorteile einem höheren Ziel zu opfern. Dass „Islam“ die Bedeutung von „Unterwerfung“ hat, macht vieles verständlich. Allerdings ist von außen her schwer zu beurteilen, ob die Unterwerfung im Einzelfall dem eigenen frommen Wunsch oder einem sozialen Zwang folgt. Auch die Parole „Für Kaiser, 417
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Gott und Vaterland“ im Ersten Weltkrieg wurde zwar von manchen, aber nicht von jedem Soldaten verinnerlicht, auch nicht die Überzeugung, dass Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt wird, wie der Verteidigungsminister Peter Struck es 2004 sah. Soziale und sachliche Zwänge beherrschen unsere Entscheidungen öfter, als wir es möchten. Das schließt jedoch nicht aus, dass der Kompatibilismus in vielen Fällen Geltung besitzt, und dass wir uns gelegentlich sogar ausdrücklich gegen äußere Zwänge und gegen eigene Interessen entscheiden. Ein Beispiel gab der Kampf gegen die Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert in England und den USA, der im Sinne von Humanität und Moral gegen den eigenen Profit gefochten wurde. Wie verträgt sich nun die Idee des freien Willens mit dem Wissen darum, dass sich in meinem Gehirn erheblich mehr nicht bewusste als bewusste Vorgänge abspielen, die wesentlich an Entscheidungen beteiligt sind, die ich mir selbst zuschreibe? Dass es im Leben nichtbewusste Handlungsentscheidungen gibt, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Der Zombie in mir hat mir den Führerschein und das Leben gerettet, hat mich allerdings auch zum Opfer eines Justizirrtums gemacht (s. Kap. 7 u. 39). Die meisten alltäglichen „Entscheidungen“ verdienen die Bezeichnung nicht. Denn der größte Teil der Handlungen ergibt sich aus Vorlieben und Automatismen gleichsam von selbst, sie verlaufen, wie der Fluss seinem Bett folgt. So hat das schon der schottische Philosoph David Hume im 18. Jahrhundert gesehen. Eine echte Entscheidung ist nur gefordert, wenn der Fluss sich aufgabelt und wir bewusst zur Kenntnis nehmen, dass es in verschiedene Richtungen geht, von denen wir eine wählen müssen. Dazu noch einige abschließenden Anmerkungen. Das Fingerschnippen zu einem beliebigen Zeitpunkt ist kein Paradigma für eine freie Willenshandlung. Libet machte seine Probanden zu bloßen Zufallsgeneratoren, das hat mit Willensfreiheit nichts zu tun. Entscheidungen, die als frei getroffen zu werten sind, spielen sich in einem Bedeutungsrahmen ab, der insbesondere die Fähigkeit herausfordert, sich die jeweiligen Konsequenzen vorzustellen und sie abzuwägen. Es beginnt mit Entscheidungen zum Tagesplan oder zu anstehenden Einkäufen, geht über zur Wahl eines neuen Autos oder einer neuen Wohnung über die Lösung sozialer Probleme bis hin zur Berufs- oder Partnerwahl. Das macht nicht nur einen quantitativen, sondern einen grundsätzlichen Unterschied gegenüber einem belanglosen Fingerschnippen. In den genannten Fällen ist immer eines wichtig: Die mentale Antizipation des Handlungsergebnisses geht als rückwirkender Faktor in die Handlungsintention ein. Dies meint die „Reflexion“, das bewusste Überdenken eines Handlungsimpulses. Diese Impulskontrolle und ihr Ergebnis stellen die Grundlage einer freien Handlung dar. Ohne Zweifel sind alle beteiligten mentalen und emotionalen Vorgänge mit Hirnvorgängen korreliert, seien sie elektrochemischer oder hormoneller Natur. Aber das Ergebnis ist nicht das Endprodukt einer linearen Verursachungskette, sondern steht durch die oft mehrfach wiederholte Reflexion in Einklang mit den momentan erlebten Abwägungen und ist damit als Produkt des freien, weil bewussten und bejahenden Willens zu betrachten. 418
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Wolf Singer titelt: „Verschaltungen legen uns fest“.370 Diese Behauptung geht vom Bild elektronischer Hardware und einer Kausalkette aus, deren Endprodukt festgelegt ist. Damit ist sie aber falsch. Nicht nur, dass die neuronalen Verschaltungen sich fortlaufend ändern, wie Singer selbst am besten weiß. Durch Rekurrenzen, rückläufige neuronale Signale, ergeben sich ständig nichtlineare Systeme, deren Ergebnisse, wie man weiß, kaum vorhersagbar sind. Dabei treten gelegentlich Bifurkationen auf, gleichwahrscheinliche Gabelungen in zwei mögliche Richtungen. Kleinste Änderungen können weichenstellend für weitreichende Konsequenzen werden. Solche Änderungen können durch die Bewusstwerdung bestimmter Inhalte stattfinden, indem sich die Aufmerksamkeit darauf richtet. Nicht selten fällt einem beim Durchdenken eines Problems ein Aspekt ein, der dadurch, dass er für bedeutsam gehalten wird, letztendlich den Ausschlag gibt. Rekurrenzen erfolgen in allen Größenordnungen, von biochemischen Ringprozessen in jeder einzelnen Körperzelle über neuronale Reafferenzen im Gehirn bis hin zu sprachlichen Interaktionen zwischen Menschen und sozialen Gemeinschaften. Das Gehirn ist das komplexeste Beispiel hierfür. Der weitaus größte Teil seiner Aktivität besteht aus „Selbstgesprächen“, also aus rekurrenten Prozessen, die nicht wie lineare Prozesse als Ursache-Wirkungsketten prinzipiell vorhersehbar beschrieben werden können, sondern deren Ergebnisse einzig und allein durch ihre tatsächliche Ausführung ermittelt werden und sich von außen bestenfalls abschätzen lassen. Zu den rekurrenten Prozessen lassen sich im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die Korrelate zu dem nennen, was wir als bewusste Reflexionen bezeichnen, als das Wälzen von Gedanken, als ein Überdenken und Abwägen von Konsequenzen, das wichtigen Entscheidungen vorausgeht. In der Fähigkeit zu solchen Reflexionen ist die eigentliche Grundlage des freien Willens zu sehen. Natürlich gehen dabei tausenderlei Reminiszenzen sozial vermittelter Inhalte und Einstellungen ein, aber sie bilden meine Erfahrung. Natürlich ist dabei das Gehirn aktiv, aber es ist mein Gehirn. Natürlich gehen dabei Gefühle ein, die aus nichtbewussten Bereichen gespeist werden, aber es sind meine Gefühle. Deshalb ist das Ergebnis, zu dem ich reflektierend gelange, meine Entscheidung, und stehen die Folgen in meiner Verantwortung. Es wäre unredlich und unlogisch, wollte ich in diese Verantwortung nur Verdienste und Erfolge übernehmen, die ich vielleicht errungen habe. Es gehört dazu ebenso, dass ich zu Misserfolgen, Verfehlungen und Irrtümern stehe. Diese Haltung gehört nicht weniger zur Menschenwürde als mein Recht, das sich auf sie gründet. Kurz gesagt: Die Frage, wie weit das Ich autonom ist, hängt eng mit dem Problem der Willensfreiheit zusammen. Es hat tiefgreifende Implikationen in religiöser, ethischer, juristischer und neuropsychologischer Hinsicht, und in jeder Hinsicht gibt es unterschiedliche Einschätzungen. 1983 fand man, dass dem bewussten Entschluss, einen Finger zu bewegen, im Gehirn ein Bereitschaftspotential vorausgeht und nicht etwa folgt. Daraus wurden weitreichende 419
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Folgerungen gezogen, die das geltende Rechtssystem z. T. in Frage stellen. Dem ist zu entgegnen, dass Entschlüsse von Relevanz vielfach die Schleife der Reflexion und damit die bewusste Kontrolle durchlaufen, bevor sie realisiert werden.
Literatur Baggini 2016. Geyer 2004. Gutbrod & Kücklich 1959. Lampe, Pauen & Roth 2008. Libet 1983. Popper & Eccles 1987. Werth 2010.
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Wie hängen Gehirn und Bewusstsein zusammen?
Eine Entdeckung zur Bewusstseinsfrage Gerade habe ich das Examen hinter mir und mache im Labor des Psychologischen Instituts Experimente zum beidäugigen Sehen. Jeder kennt das Phänomen räumlicher Tiefe: Aus Unterschieden zwischen den beiden „Halbbildern“, die beide Augen getrennt empfangen, aus der sog. Querdisparation, macht die Wahrnehmung stereoskopische Tiefenunterschiede (s. Abb. 17). Das ist in der Wahrnehmungsforschung altbekannt. Normalerweise verschmelzen beide Halbbilder zu einem Ganzen. Wenn man beiden Augen unterschiedliche Muster bietet, entsteht ein Wettstreit. Man kann aber auch ein Muster so anlegen, dass es das andere Halbbild unterdrückt. Ich probiere es mit einer kleinen Kreisscheibe für das eine Auge und einem ebenso großen Kreisring für das andere Auge und bringe beide am Stereoskop zur Deckung. Überraschenderweise dominiert der Kreisring. Jetzt habe ich eine Idee: Was passiert eigentlich, wenn ich zwei Halbbilder anfertige, die querdisparate Unterschiede aufweisen, bei denen aber das eine Halbbild das andere unterdrückt? Wenn ich z. B. dem linken Auge zwei Kreisringe und dem rechten Auge zwei Kreisscheiben mit etwas größerem Abstand darbiete? Das Ergebnis ist: Ich sehe nur die zwei Kreisringe, aber der rechte scheint weiter hinten in der Tiefe zu liegen! Es ist unglaublich. Das, was das linke Auge empfängt, kann ich nicht sehen, und trotzdem trägt es dazu bei, zusammen mit dem, was das rechte Auge empfängt, einen Tiefenunterschied zu erzeugen! Wie kann das sein? Das widerspricht den geltenden Theorien etwa von J. Linschoten, die stereoskopisches Sehen phänomenologisch erklären.
Abb. 142: Die beiden Scheiben rechts sind ein wenig weiter voneinander entfernt als die beiden Ringe links. Bietet man die Ringe dem linken Auge und die Scheiben dem rechten Auge, dann werden die Scheiben von den Ringen im beidäugigen Wettstreit unterdrückt. Trotzdem macht sich der Abstandsunterschied, die Querdisparation, bemerkbar: Man sieht zwei Ringe, die in unterschiedlicher Tiefe liegen. Ausgehend von dieser Entdeckung entwickle ich eine Reihe von Experimenten mit vielen Beobachtern, und so entsteht meine Dissertation, die ich 1976 abliefere. Darin komme ich zu dem Schluss, dass das stereoskopische Sehen auf Hirnprozessen beruht, die nicht mit dem Bewusstsein korreliert sind. Bewusst wird die Tiefenverteilung der Objekte im Raum, nicht aber die zugrunde liegende Verrechnung der Querdisparation. Diese zu erforschen, ist nicht mehr Aufgabe der Psychologie, sondern der Hirnforschung.
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Die Philosophische Fakultät, der das Psychologische Institut angehört, lehnt meine Dissertation zunächst ab. Sie sei zu sehr naturwissenschaftlich orientiert. Es gelingt mir, den Dekan davon zu überzeugen, dass diese Grenzüberschreitung eine sachimmanente Konsequenz der psychologisch gewonnenen Befunde ist. Im Anschluss an einen Vortrag zu meinen Untersuchungen bekomme ich das Angebot, an einem renommierten Hirnforschungsinstitut die physiologischen Grundlagen der Stereoskopie zu untersuchen. Allerdings wäre das mit Tierexperimenten verbunden, gegen die ich persönlich Vorbehalte habe. Ich entscheide mich für einen Beruf, den es in Deutschland noch gar nicht gibt. Ich werde Professor für Wahrnehmungspsychologie an einer Kunstakademie. Die hirnphysiologischen Grundlagen der Stereoskopie werden von anderen Wissenschaftlern erforscht. 40 Jahre später ist unbestritten, dass ein Großteil der visuellen Wahrnehmungsprozesse auf nichtbewusster Ebene stattfindet, darunter auch die Verrechnung der Signale aus beiden Augen, die zum räumlichen Sehen führen (s. Kap. 6).
42 Wie hängen Gehirn und Bewusstsein zusammen? Anders gefragt: Was lässt sich zu dem alten Leib-Seele-Problem sagen, das gegenwärtig auf das Verhältnis von Gehirn und Geist fokussiert wird? Die Erfahrung der Sterblichkeit konfrontiert die Menschen seit jeher unausweichlich mit der Frage nach dem Danach, und die Hoffnung auf ein Weiterleben in anderer Form ist eine der Antworten, zu denen sie gefunden haben. Es ist zugleich die Frage, was den Menschen über seine vergängliche Leiblichkeit hinaus ausmacht. Seit der mittleren Steinzeit vor gut 10 000 Jahren war der Brauch verbreitet, die Verstorbenen in große Mengen Ockerpulver zu betten. Den steinharten Ocker zu zermahlen, war mühsame Arbeit, woraus geschlossen werden kann, dass er eine besondere Bedeutung gehabt haben muss. Man nimmt an, dass der rote Ocker als Farbe des Blutes und des Lebens gesehen wurde, und dass die Grabbeigabe ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tode ermöglichen sollte. Seit frühgeschichtlicher Zeit haben Priester und Philosophen zwischen Leib und Seele unterschieden und sich mit dem Verhältnis beider beschäftigt. Vor 3000 Jahren glaubte man in Ägypten, dass das Herz Sitz der Seele sei. Im ägyptischen Totenbuch, das an den Wänden vieler Gräber des Neuen Reiches zitiert wird, heißt es: „Ich habe Erkenntnis durch mein Herz, ich habe Macht durch mein Herz, ich habe Macht über meine beiden Arme,
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Wie hängen Gehirn und Bewusstsein zusammen?
ich habe Macht über meine beiden Füße, ich habe Macht über das, was mein Ka tut und wünscht.“371
Das Ich der Person ist hier eng mit dem Herzen verbunden. Ihm verdanke ich meine Geistestätigkeit, meinen Willen, die Möglichkeit zu handeln und mich zu bewegen. Der Ka ist in der Seelenlehre des alten Ägypten die allgemeine Lebenskraft. Dagegen gehört der Ba zur Person. Er verlässt im Tode als „Freiseele“ den Leichnam und kann ins Jenseits eingehen, kehrt aber auch immer wieder zum Leichnam zurück. Daher ist im Jenseitskult der Ägypter der Erhalt des Körpers wesentlich, der durch eine aufwändige Mumifizierungstechnik erreicht werden soll. Das Herz wird im Körper belassen. Dem Gehirn dagegen misst man keine besondere Bedeutung zu. Es wird mit Haken durch die Nase entfernt und entsorgt.372
Abb. 143: Der Ba, die „Freiseele“, oft als Vogel dargestellt, ist in der altägyptischen Religion der Teil der Person, der nach dem Tode ins Jenseits eingeht. Er hält als Schutzsymbol den Schen-Ring, der den (königlichen) Namen des Verstorbenen enthält. Neben dem Herzen ist es im Altertum der Atem, der für Seele und Geist steht. In der Genesis bläst Gott dem Menschen seinen Odem ein und verleiht ihm damit etwas von seinem spiritus sanctus. Indem der Mensch verstirbt, verlässt mit dem letzten Hauch die Seele den Körper. Leben und Seele werden als zusammengehörig gesehen, der Bezug zum Herzen und zum Atem sind offensichtlich: Das pulsierende Herz ist Inbegriff des Lebens, denn Alltagserfahrungen wie die Jagd und der Tod eines Menschen sagen unmissverständlich, dass mit dem Herzschlag auch das Leben aufhört. Ähnlich hängt auch der Atem unmittelbar mit dem Leben zusammen. Der letzte Hauch, unsichtbar, aber spürbar, kann auf sehr direkte Weise als Seele verstanden werden, die den Körper verlässt, und wird in diesem Sinne in den abrahamitschen Religionen verstanden. Auch in Indien, China und bei den Maya gibt es die Vorstellung von der Atemseele.
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Abb. 144: In der bildhaften Vereinigung des Herzens mit den Atemwegen versinnbildlicht die altägyptische Hieroglyphe das Leben. Diese für die sinnliche Erfahrung evidenten Zusammenhänge haben sich als so überzeugend erwiesen, dass sie noch heute als abgesunkenes Kulturgut gegenwärtig sind. Das Herz als anima des Aristoteles steht nach wie vor für das Gefühl bis hin zum Klischee des Liebessymbols, fortwährend bekräftigt durch das Pochen in der Brust, das Verliebte spüren. Der populäre Sinnspruch von Antoine de Saint-Exupéry „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ gibt wieder, wo viele Menschen das Zentrum der Empathie verorten. Als 1967 Christiaan Barnard die erste Herztransplantation durchführte, gab es in der Öffentlichkeit erheblichen Widerspruch gegen die Behauptung, das Herz sei nur eine Pumpe und damit ersetzbar. Manche waren der Überzeugung, dass bei der Transplantation auch ein Teil der Persönlichkeit übertragen wird. Die Bereitschaft zur Organspende ist in der Öffentlichkeit geringer als der Bedarf, und so ist derzeit die Xenotransplantation in der Entwicklung, die Übertragung von Schweineherzen auf den Menschen. Eine erste solche Operation wurde Anfang 2022 durchgeführt und führte erwartungsgemäß zu Diskussionen. Der Hinweis der Mediziner, dass sich Schwein und Mensch physiologisch sehr ähnlich sind, macht das Vorhaben psychologisch nicht unbedingt attraktiver. Nicht nur für Juden und Muslime wäre der Gedanke, das Herz eines Schweines in der Brust zu tragen, unerträglich. Platon gehörte zu den ersten Philosophen, die die Seele des Menschen mit dem Gehirn in Verbindung brachten. Zugleich sah er den Körper als Gefängnis der Seele. Dies kommt besonders in seinem Buch Phaidon zum Ausdruck: Sokrates war bereit, seine Hinrichtung anzunehmen und den Schierlingsbecher zu trinken, weil er davon überzeugt war, dass die Seele vom Körper unabhängig existiert, dass sie es ist, die die Person ausmacht und dass sie nach dem Tode weiterlebt. Platon lässt Sokrates sagen, dass er, sobald er gestorben ist, nicht mehr im Leichnam verkörpert ist, sondern an den Freuden der Seligen teilnimmt. Im Christentum wird dieser Grundgedanke bis heute fortgeführt.
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Abb. 145: Entschlafen der Gottesmutter. Russische Ikone, um 1600, Ausschnitt. Jesus hält die Seele seiner entschlafenen Mutter auf den Armen und übergibt sie dem Erzengel Michael, der die Seelen wiegt. Privatbesitz. Das Gehirn zeigt nicht die anschauliche Lebendigkeit von Herz und Atem. Es waren Hirnverletzungen, die auf die besondere Bedeutung dieses Organs hinwiesen. Ein ägyptischer Papyrus aus dem 17. Jahrhundert v. Chr. schildert einen Menschen mit einer Schädelverletzung, der Gehstörungen hatte, und eine andere Person mit eingedrückter Schläfe, die Sprachstörungen aufwies. Den ersten Blick ins Gehirn wagte Alkmaion von Kroton im 6. Jahrhundert v. Chr. und beschrieb die gekreuzte Sehbahn als „zwei schmale Wege, die vom Gehirn aus, in dem die höchste und entscheidende Kraft der Seele wurzelt, zu den Höhlungen der Augen gehen“.373 Der Ausdruck „Neuron“ war ursprünglich eine Bezeichnung für die Sehnen. Der griechische Arzt Herophilos übertrug ihn auf die Nerven, deren Funktion er erkannte und bereits zwischen sensorischen und motorischen Neuronen unterschied. Er unternahm in Alexandria die ersten Obduktionen. Für heutige Verhältnisse unvorstellbar, wurden ihm Gefangene zur Vivisektion überlassen, und sein Wissen über das Nervensystem gewann er, indem er ihnen einen Nerv nach dem anderen durchtrennte und nachfolgende Ausfälle notierte. Der römische Arzt Galen bezog viele Kenntnisse über Hirn und Nerven aus Untersuchungen der Verletzungsfolgen, die sich Gladiatoren bei ihren Kämpfen zugefügt hatten, etwa bei gespaltenem Schädel, sowie aus Vivisektionen bei Tieren. Seine medizinische Lehre sollte in Europa für 1500 Jahre wegweisend werden. Die grausamen Vivisektionen bei Mensch und Tier 425
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wurden nach Galen untersagt. Im Mittelalter wurden aus religiösen Gründen auch Obduktionen an Leichen verboten, was die Weiterentwicklung der medizinischen Wissenschaften lange Zeit erschwerte. Eine Ausnahme bildeten die Studien von Leonardo da Vinci, der mit künstlerischem und wissenschaftlichem Interesse heimlich Leichen sezierte und ihre Anatomie präzise darstellte. Dabei gab er auch der Vorstellung Ausdruck, dass die Bühne der geistigen Tätigkeit in den Ventrikeln, den mit Liquor gefüllten Hohlräumen des Gehirns, stattfindet.
Abb. 146: Leonardo da Vinci (um 1490–93): Anatomische Studie von Augen und Gehirn. Die 1,3 kg schwere Masse im Schädel erschien zunächst nichtssagend. Sie ist in lebendem Zustand rosa. Die übliche Rede von den „kleinen grauen Zellen“ ist für das lebende Hirn nicht 426
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zutreffend, denn im grauen Zustand sind sie blutleer und tot. Das Hirn entpuppte sich als hochkomplexes Wunderwerk, als der Wissenschaft Methoden zur Verfügung standen, die Feinstruktur der Milliarden Nervenzellen, der ungezählten Synapsen und Ionenkanäle erkennbar zu machen sowie ihr Zusammenspiel nach und nach zu entschlüsseln. Die Tür zu einem unabsehbaren Forschungsfeld war aufgestoßen. Mikroskope, Elektronenmikroskope, Methoden der Elektrophysiologie und der Biochemie sowie computergestützte bildgebende Verfahren ermöglichen ungeahnte Einblicke. Die Fortschritte sind bemerkenswert. Allerdings erinnern die Äußerungen mancher Hirnforscher an die „Eroberung des Weltraums“, kaum dass die ersten Raketen in einigen hundert Kilometern Höhe die Erde umkreisten in einem Kosmos von mehr als 26 Milliarden Lichtjahren Durchmesser. Lassen Sie uns ein wenig Anteil nehmen am Blick in den Kosmos Gehirn, der so rätselhaft mit unserer Erlebniswirklichkeit zusammenhängt und begeben wir uns in die gegenwärtige Diskussion. Zweifellos wagen wir uns damit auf ein schwieriges Gelände, doch ich meine, dass es die Anstrengung lohnt, nachdem wir schon so weit geklettert sind. Schließlich geht es um die Frage, was uns ausmacht. „Das Bewusstsein“ ist noch gar nicht so alt. Das deutsche Wort wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Christian Wolff geprägt, einem Philosophen der Aufklärung. Es bezog sich auf das lateinische „conscientia“, wörtlich „Mitwissen“, das auch mit „Gewissen“ oder „Denken“ übersetzt wurde. Die etymologische Rückfrage hilft allerdings wenig bei dem Versuch zu klären, was wir heute darunter verstehen. Mit dem Begriff „Bewusst-Sein“ wird ein ontologischer Status behauptet, der in die Probleme des Dualismus führt. Im Dualismus von René Descartes sind Leib und Seele getrennte Dinge, das Ausgedehnte und das Denkende (res extensa und res cogitans). Leibniz nahm an, dass beide in prästabilierter Harmonie nebeneinander existieren, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen (Parallelismus). Dieser Gedanke ist unbefriedigend, weil er der Intuition widerspricht, dass einerseits der Wille dem Körper gebietet und dass andererseits körperliche Zustände die Seele beeinflussen, dass also eine psychosomatische Wechselwirkung stattfindet. Falls Körper und Seele miteinander interagieren (Interaktionismus), dann müsste allerdings ein Energieaustausch zwischen beiden stattfinden. Dafür sind aber keinerlei Hinweise gefunden worden, wenn dies auch von Karl Popper und John Eccles, zwei bedeutenden Vertretern des Dualismus in jüngerer Zeit, gemutmaßt wurde.374 Dem Dualismus von Leib und Seele, von dem Platon überzeugt war, steht der Monismus gegenüber, wie er etwa von Aristoteles, Platons Schüler, vertreten wurde. Nach Aristoteles ist die Seele keine gesonderte Entität, sondern eine besondere Form, die für Lebewesen charakteristisch ist. Er sieht Leib und Seele in einem Verhältnis wie den Marmor und die vom Bildhauer geschaffene Form einer Statue. Im Stoff sah er Potentialität, in der Form Wirklichkeit.375 In den gegenwärtigen Neurowissenschaften wird vielfach versucht, den aristotelischen Ansatz fortzuentwickeln und Psychisches, insbesondere das Bewusstsein, aus der Organisationsform der Hirnprozesse zu erklären. 427
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Leibniz stellte sich in seinem berühmten Mühlengleichnis vor, er wandere durch eine Maschine, die denken und empfinden könne. Man könnte alle Bestandteile des Getriebes sehen, wie sie sich drehen und stoßen, aber Geist und Denken würde man darin nicht entdecken. Das Bild eines mechanischen Getriebes (oder wie bei Descartes eines pneumatischen Apparates) ist inzwischen dem Modell eines hochkomplexen elektrochemischen Netzwerks gewichen, in dem die Forscher mit ihren Instrumenten tatsächlich gleichsam herumwandern können. Doch weder auf makro- noch auf mikroskopischer Ebene, weder in den Oszillationen von Hirnwellen unterschiedlicher Frequenz, weder im chemischen Spiel der Neurotransmitter noch in den Erregungsverläufen neuronaler Netze finden sich Empfindungen, Wahrnehmungsinhalte oder Denkvorgänge. Als subjektive Erlebnisse sind sie jedermann vertraut, doch sie scheinen sich dem Zugriff physikalischer Instrumente zu entziehen. Für die überwiegende Mehrheit der Hirnforscher heute steht außer Frage, dass alle bewussten Erlebnisse mit der Aktivität bestimmter Hirntätigkeiten einhergehen. So sah es bereits Thomas Huxley im 19. Jahrhundert. Er stellte aber darüber hinaus die Behauptung auf, dass es für das Verhalten keinerlei Rolle spielt, ob es bewusste Erlebnisse gibt oder nicht. Sie seien ein Epiphänomen, eine belanglose Begleiterscheinung. Diese Position wird auch gegenwärtig von einigen Hirnforschern vertreten. Eine Spielart bildete die Leugnung des Bewusstseins durch den Behaviorismus, die in den USA jahrzehntelang vorherrschende „Psychologie“ ohne Psyche, die wie die Reflexologie in der UdSSR sich nur für Beziehungen zwischen Reiz und Reaktion interessierte und den Bereich dazwischen als „Black Box“ ignorierte. Seit den 1960er Jahren hat in den USA aufgrund der Beschäftigung mit Informationsverarbeitung und Sprache eine „kognitive Wende“ stattgefunden, und das Bewusstsein wurde wiederentdeckt. 40 Jahre zuvor hatte sich die Berliner Schule der Gestaltpsychologie entwickelt, die sich mehr mit dem Erleben als dem Verhalten beschäftigte. Gründer waren Max Wertheimer, der Experimentalpsychologe, und Wolfgang Köhler, der wenige Jahre zuvor auf Teneriffa Intelligenzprüfungen an Schimpansen durchgeführt und bei ihnen einsichtiges Verhalten festgestellt hatte. Sie bezogen sich auf Christian von Ehrenfels, der 1890 eine kleine Schrift „Über Gestaltqualitäten“ publiziert hatte.376 Dieser widmete sich dem seinerzeit aktuellen Problem, wie die Elemente des Empfindens in Parallele zur Chemie zu umfassenden Ganzheiten werden. Sein überraschender Lösungsvorschlag war, dass die Ganzheiten im Erleben das Primäre bilden. Diese „Gestalten“ haben Eigenschaften, die sich nicht aus den Eigenschaften der Bestandteile herleiten lassen. Paradigmatisch war für ihn die Melodie, die die gleiche bleibt, wenn sie in eine andere Tonart transponiert wird: Alle Elemente sind andere, aber die Gestalt bleibt die gleiche. Ein Künstler hat einen Stil, der erkennbar ist, obwohl jedes seiner Werke anders zusammengesetzt ist. In gleiche Richtung ging die Auffassung von Hans Cornelius, dass das Bewusstsein sich nicht aus Elementen zusammensetzt, sondern eine ursprüngliche Ganzheit bildet, die sich im Laufe der Entwicklung ausdifferenziert. „Das Ganze ist mehr und anders 428
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als die Summe seiner Teile“ wurde zu einer These, die nicht nur für die Beschreibung psychologischer Phänomene, sondern auch für andere Wissenschaften bis hin zu Biologie und Physik wegweisend wurde. Wolfgang Köhler entwarf ergänzend zur Phänomenologie der Gestaltpsychologie eine Gestalttheorie, die Postulate zu Vorgängen auf hirnphysiologischer Ebene enthielt. Er ging davon aus, dass es im Gehirn ein psychophysisches Niveau (PPN) gibt, auf dem zwischen Erlebnisinhalten und Hirnvorgängen organisatorische Strukturgleichheit (Isomorphie) besteht. Als Physiker ging Köhler davon aus, dass Strukturen in der Erlebniswirklichkeit solchen in der physikalischen Welt entsprechen. Er schloss aus, dass Isomorphie auf mikroskopischer Ebene oder gar auf Quantenebene zu suchen sei. Denn diese Vorgänge seien diskontinuierlich und könnten nicht den Kontinuitäten entsprechen, die für das Erleben charakteristisch sind. Es gäbe aber in der Physik Strukturen höherer Ordnung, die das Korrelat zu den Phänomenen bilden könnten. Dabei dachte Köhler besonders an elektromagnetische Felder, die sich von der Oberfläche der Neuronen aus im umgebenden Medium ausbreiten und sich in Form der Hirnwellen bemerkbar machen (die Elektroenzephalographie wurde in Jena in der Zeit entwickelt, in der Köhler in Berlin tätig war). Für länger andauernde Zustände dachte er an stehende Wellen. Isomorphie bedeutet nicht Qualitätsgleichheit. Dem Erlebnis „Blau“ würde zwar ein Ort im Strukturäquivalent des Farbraums entsprechen, doch gibt es in den Hirnprozessen selbst nicht so etwas wie Farben. Ohne sich zu sehr auf Spekulationen im Detail einzulassen, wies Köhler darauf hin, was das Isomorphieprinzip fordert: Die Hirnvorgänge, die dem bewussten Seherlebnis entsprechen, müssen Korrelate enthalten 1. zur Kontinuität des Anschauungsraums, 2. zur Aussonderung visueller Gegenstände, 3. zu den topologischen und 4. zu den metrischen Beziehungen im Sehraum, 5. zu den drei Dimensionen des Sehraums, ferner zu Gradienten und allen strukturellen Eigenschaften der phänomenalen Welt. 377 Die isomorphen Prozesse müssen auch die zeitliche Komponente enthalten. Wir können uns z. B. ohne Schwierigkeiten vorstellen, wie beim Basketball der Ball im Bogen durch die Luft fliegt und im Korb landet. Alle vier beteiligten Dimensionen aus Raum und Zeit müssen in irgendeiner Form hirnphysiologisch korreliert sein. Diese Postulate müssen durch jede Theorie erfüllt werden, die Hirnvorgänge mit Erlebnisinhalten widerspruchsfrei in Zusammenhang bringen will, sei es durchelektromagnetische Felder wie in Köhlers eigenem Vorschlag, durch Ordnungsbildungen etwa durch neuronale Netze oder durch andere Hirnleistungen höherer Ordnung, die sich etwa als Selbstorganisation im Sinne der Systemtheorie beschreiben lassen. Auch in diesem Sinne war Köhler seiner Zeit voraus, indem er auf dynamische stationäre Zustände physikalischer Prozesse hinwies, die sich durch makroskopische Selbstverteilung ergeben. Er vermutete, dass im Gehirn stehenden Wellen eine besondere Bedeutung zukommen könnte. 429
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Abb. 147: Wolfgang Köhler erläutert das Isomorphieprinzip an der Universität Münster, als ihm dort 1967 die Ehrendoktorwürde verliehen wird. Zahlreiche Gestaltpsychologen waren Juden. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus sahen sie sich gezwungen zu emigrieren, etwa in die USA, wo die Gestaltpsychologie neben dem Behaviorismus lediglich geduldet wurde (Köhler durfte dort keine Doktorarbeiten vergeben). Die eben erwähnte Schrift Köhlers entstand im Exil und war primär an die amerikanische Psychologie gerichtet. In Deutschland führte vor allem Wolfgang Metzger die Gestaltpsychologie fort, vor allem in phänomenologischer Hinsicht. Den Bezug zu Hirnvorgängen stellte er mehr im allgemeinen Sinne des kritischen Realismus zwischen geistig-seelischen Erscheinungen und psychophysischen Prozessen her, als dass er die Gestalttheorie Köhlers im physikalischen Sinne fortgeführt hätte (s. Abb. 102).378 Das Verhältnis zwischen erlebter Wirklichkeit und bewusstseinsfähigen Hirnprozessen ist nicht im Sinne eines substantiellen Dualismus wie etwa bei Descartes zu verstehen, auch nicht als Umschlossenes im Umschließenden (so ist Abb. 102 nicht zu verstehen), sondern eher im Sinne von zwei unterschiedlichen Perspektiven auf das möglicherweise Gleiche. Dabei können beiden Seiten unterschiedliche Funktionen zukommen. Eine Seite entspricht bestimmten Hirnvorgängen, auch wenn noch nicht geklärt ist, wie sie zu erfassen sind und um welche es sich genau handelt. Die andere Seite entspricht der phänomenalen Welt, der Wirklichkeit im 2. Sinn mit der Ich-Perspektive. Für Beobachtungen aus dieser Perspektive wird in Psychologie und Philosophie oft der Ausdruck „Introspektion“ verwendet. Der Ausdruck ist aber verfehlt, 430
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weil er ein wesentliches Merkmal irreführend beschreibt. Was ich erlebe, erlebe ich nicht, indem ich in mich hineinschaue, vielmehr nehme ich die phänomenale Welt außerhalb von mir wahr, auch die eigenen Hände, Füße etc. (s. Abb. 16). Der Ausdruck „Introspektion“ stammt aus den Anfängen der experimentellen Psychologie, als man versuchte, Gefühle und Denkvorgänge durch Selbstbeobachtung zu beschreiben, was allerdings nicht gelang; denn eigene Gefühle werden verfälscht, indem sie beobachtet werden, und die eigenen Gedankengänge lassen sich nur sehr unvollkommen beobachten. Der Ausdruck „Erlebnisbeschreibung“ gibt treffender wieder, worum es bei der 1. Person-Perspektive geht. Dieser „subjektiven“ Perspektive wird von naturwissenschaftlicher Seite gern die 3. PersonPerspektive als die „objektive“ gegenübergestellt, was wiederum nicht korrekt ist. Denn auch der Naturwissenschaftler, der etwa das Gehirn untersucht, ist selbst Subjekt und hat prinzipiell keinen anderen Zugriff auf die Wirklichkeit im 1. Sinn als andere Menschen. Der Unterschied besteht darin, dass er versucht, die Subjektivität seiner Beobachtung zu reduzieren 1. dadurch, dass er sie nach Möglichkeit nur für das Ablesen von Daten verwendet und 2. dadurch, dass er seine Beobachtungen mit denen anderer Wissenschaftler abgleicht. Die Beobachtungsdaten erhalten auf diese Weise zwar keine absolute, aber eine pragmatische Objektivität. Ihre Interpretation bezieht sich auf Modelle der Wirklichkeit im 1. Sinn, etwa über das Gehirn. Absolute Objektivität und Erkenntnis sind nicht möglich, auch wenn manche Laien dies wünschen und manche Wissenschaftler darüber hinwegsehen. Die Wissenschaft kann nur „emporirren“, wie dies der Physiker Harald Lesch in einer Talkshow treffend formuliert hat. Wir können stets nur von Beobachtungen ausgehen, die uns die Sinne ermöglichen. Der Philosoph Thomas Metzinger schreibt: „Um eine erfolgreiche Theorie des Bewusstseins zu entwickeln, müssen wir den phänomenalen Inhalt der Erste-Person-Perspektive mit den Inhalten von aus der Dritte-Person-Perspektive beobachteten Gehirnzuständen zur Deckung bringen.“379 Der Neurowissenschaftler Christof Koch hat sich ausgiebig der Frage nach dem Zusammenhang von Bewusstsein und Hirnvorgängen gewidmet, zusammen mit Francis Crick, der als Mitentdecker der DNA-Struktur bekannt geworden ist. Er geht von der Frage aus, wie ein physikalisches System wie das Gehirn irgendetwas empfinden kann, etwa Schmerz. Dazu verfolgt er ein Forschungsprogramm, das die neuronalen Korrelate des Bewusstseins (NCC) identifizieren soll. Die NCC entsprechen in etwa dem PPN, gehen allerdings von Kenntnissen über das Gehirn aus, die Wolfgang Köhler noch nicht zur Verfügung standen. Koch wendet sich ausdrücklich gegen Positionen wie die des amerikanischen Philosophen Daniel Dennett, der das Bewusstsein als komplexe Illusion bezeichnet. Koch beabsichtigt, „die Erfahrungen aus der Perspektive der ersten Person als harte Tatsachen des Lebens anzusehen und zu verstehen, sie zu klären“.380 Er verfolgt die Arbeitshypothese, dass das Bewusstsein aus neuronalen Merkmalen des Gehirns erwächst, als emergente Eigenschaft gewisser biologischer Systeme. Seit über 20 Jahren lässt Koch von Publikation zu Publikation die Leser an seiner 431
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Suche teilhaben, einschließlich aller Sackgassen und Irrtümer. Die Methode ist häufig die, dass er Reizvorlagen für bestimmte visuelle Phänomene auswählt und diese mit Ableitungen von Neuronen bzw. Neuronenverbänden bei Affen auf Korrelationen hin untersucht.
Abb. 148: Kanisza-Dreieck. Beispiel: Beim Kanisza-Dreieck sieht man deutlich ein weißes Dreieck, obwohl seine Seiten zum größten Teil aus Scheinkanten bestehen. Bei Ableitungen im sekundären visuellen Zentrum V2 von Affen fand man Neuronen, die auf Scheinkanten in gleicher Weise reagieren wie auf echte Konturen. Dies könnte man dahingehend interpretieren, dass V2 an bewussten visuellen Erlebnissen beteiligt ist. Crick und Koch nehmen an, dass an jeder bewussten Wahrnehmung explizite neurobiologische Repräsentationen beteiligt sind, die sich im Feuern bestimmter Neuronen äußern. Mit „expliziter Repräsentation“ ist die Codierung eines bestimmten Merkmals gemeint. Das Merkmal kann einfach bis hochkomplex sein, von der Codierung einer bestimmten Bewegungsrichtung bis hin zu einem bestimmten Objekt, das unabhängig von Größe, Lage, Farbe etc. identifiziert wird, etwa als Großmutter, weshalb man bei solchen Neuronen von „Großmutterzellen“ spricht. Der Kortex ist zu 90 % in Säulen gegliedert, die jeweils aus sechs Schichten von Neuronen bestehen (ähnlich dem Schema Abb. 136). Schicht 4 erhält aufsteigende Erregungen z. B. aus Richtung der Retina, Schicht 1 erhält absteigende Erregungen, also Rückkopplungen aus höheren Zentren. Solche Rückkopplungen, die der Optimierung der Systemleistung dienen, werden oft als „Backpropagation“ bezeichnet. Eine Hauptleistung der Säulen besteht in der Bildung expliziter Merkmale. Crick und Koch vermuten die Integrationsleistung, die mit dem Bewusstsein korreliert ist, vor allem in den Pyramidenzellen in Schicht 5. Sie sind in der Lage, über unterschiedliche Ausgänge gleichzeitig vorwärts- und rückwärts gerichtete Berechnungen auszuführen. Bestimmte Ausfälle in der Wahrnehmung, etwa bei der Gesichtserkennung oder der Farbempfindung, sind mit der Zerstörung umschriebener Hirngebiete verbunden. Normalerweise haben sie die Funktion „essentieller Knoten“. Koch geht davon aus, dass bewusste Wahrnehmung aus der Aktivität zahlreicher essentieller Knoten synthetisiert wird. 432
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Koch unterscheidet drei Arten von Kommunikation innerhalb des Gehirns: Die erste erfolgt durch Aktionspotentiale, die rasch und genau zwischen Neuronen über Synapsen übertragen werden. Ihnen misst Koch die größte Bedeutung für das Bewusstsein zu, auch wenn noch rätselhaft ist, wie „der höchst eigenartige Charakter jeder subjektiven Erfahrung – eine subtile Rosaschattierung oder Walzerklänge – über zahlreiche corticale und subcorticale Bereiche übermittelt werden“ soll.381 Die zweite Kommunikationsform erfolgt über das lokale Feldpotential, das beim Feuern einer Zelle entsteht und noch Zentimeter weit vom Ursprungsort nachzuweisen ist. Diese Felder entsprechen dem Postulat von Wolfgang Köhler (s. o.). Sie summieren sich bei Synchronisation von Aktivitäten zu messbaren Hirnwellen. Ein weiterer Kommunikationsweg ist chemischer Art und geschieht durch Diffusion von Neurochemikalien. Er wirkt großräumig und langsam. Koch misst ihm keine große Bedeutung bei der bewussten Wahrnehmung bei. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass etwa die Korrelate von Gefühlen und Stimmungen auf diesem Wege entstehen, die nach Antonio Damasio für das Bewusstsein von elementarer Bedeutung sind. Im Elektroenzephalogramm werden seit seiner Entdeckung 1924 weiträumige Hirnwellen von der Schädeldecke abgeleitet, wobei je nach Frequenz zwischen Alpha-, Beta-, Gamma- und Deltaband unterschieden wird. Die höchsten Frequenzen zeigen die Gammawellen (30 und mehr Hz). Sie werden bei hochkonzentriertem Wachbewusstsein gemessen. Relativ langsame Theta-Wellen (4–8 Hz) wurden im Hippocampus nachgewiesen, der mit dem Arbeitsgedächtnis in Zusammenhang steht. Solche rhythmischen Hirnpotentiale weisen auf synchronisierte Aktivität von kortikalen und subkortikalen Neuronen hin. Bei visuellen Reizen ließen sich evozierte Potentiale bei 40 Hz nachweisen, desgleichen bei auditiven Reizen. Bei Narkose lassen sie nach. Der Zusammenhang von 40 Hz-Oszillationen und Bewusstsein dient in der Medizin bereits als Indikator für die Tiefe von Narkose. Ein wichtiges neurobiologisches Thema ist das „Bindungsproblem“. Bei jedem Objekt, das wir bewusst wahrnehmen, sind zahlreiche Hirnzentren beteiligt, die relativ weit voneinander entfernt sein können, solche für Farbe, Form, Lage und andere Eigenschaften. Wie sind sie miteinander verbunden? Es können keine starren Verknüpfungen sein, weil unterschiedliche Eigenschaften wechselnden Objekten zukommen. Der deutsche Neurowissenschaftler Christoph von der Malsburg hat vorgeschlagen, dass die Verbindung nicht räumlich, sondern zeitlich erfolgt. Danach verbinden sich zu einer jeweiligen Einheit Hirnzentren, die bei 40 Hz synchron feuern. Crick und Koch nahmen dementsprechend ursprünglich an, dass die synchronisierten 40 Hz-Oszillationen als Signatur für die NCC dienen können. Seit 2005 nimmt Koch an, dass die Synchronisation dazu dient, im Wettstreit neuronaler Aktivitäten dominante Koalitionen zu bilden, die anschließend befristet stabil bleiben und den NCC für bewusste Ereignisse oder Objekte entsprechen. Solche flexible Bindung geschieht auf höheren Stufen
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visueller Verarbeitung. Auf unteren Stufen bestehen angeborene oder erlernte neuronale Verknüpfungen, die relativ fest „verdrahtet“ sind. Dominante neuronale Koalitionen als Grundlage für bewusste Inhalte werfen die Frage auf, was mit den supprimierten (unterdrückten) Inhalten geschieht. Hierzu ist ein Experiment von Sheng He interessant.382 Er bot einem Auge Fotos nackter Männer und Frauen, während ins andere Auge in permanenter Folge farbige Rechtecke geblitzt wurden. Bewusst wurden im beidäugigen Wettstreit nur die Rechtecke gesehen. Dennoch zeigte sich, dass die Beobachterinnen durch die Bilder nackter Männer und die Beobachter durch die Bilder nackter Frauen sexuell erregt wurden. Dies wirft ein Licht auf das Thema sexueller Stimulation, die offenbar auf Bahnen abseits des Bewusstseins erfolgen kann, wie es uns schon in Zusammenhang mit Pheromonen begegnet ist. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen den Inhalten des Bewusstseins und dem Eindruck, dass etwas bewusst ist. Für Letzteres ist eine Struktur im Hirnstamm wesentlich, die formatio reticularis, die die Wachheit reguliert. Daran wird deutlich, dass nach den NCC nicht nur im Neokortex, der sich erst mit den Säugern gebildet hat, sondern auch in den stammesgeschichtlich ältesten Hirnregionen gesucht werden muss. Die formatio reticularis wirkt auf das Pulvinar ein, einen Teil des Thalamus, der beim Menschen besonders ausgeprägt ist (s. Abb. 11). Es wirkt in alle Bereiche des Kortex hinein und ist besonders aktiv, wenn höchste Aufmerksamkeit mit allen Sinnen gefordert ist, wenn man konzentriert etwas mit den Augen sucht oder wenn man angespannt lauscht. Lange Zeit galt das visuelle Zentrum V1 als wahrscheinlicher Ort für bewusstseinskorrelierte Prozesse. Inzwischen konnte gezeigt werden, dass V1 bei Träumen weitgehend inaktiv ist, womit es als notwendiger Bestandteil für NCC ausfällt. Visuelle Träume sind den bewussten Phänomenen zuzurechnen und setzen eine Aktivität von Kortex und Thalamus voraus.383 V1 leistet eine unverzichtbare Vorverarbeitung retinaler Informationen, auf diesem Niveau wird aber z. B. noch nicht festgestellt, ob eine Musterverschiebung auf der Retina durch Objekt- oder Augenbewegung zustande kommt. Ca. 40 miteinander verschaltete Hirnzentren beschäftigen sich mit verschiedenen Aspekten der visuellen Verarbeitung. Die primären visuellen Zentren sind „retinotop“, ihre Akltivitätsmuster entsprechen der Ordnung der Reize auf der Retina. Im Verlauf höherer Ebenen werden die expliziten Merkmale unabhängig vom retinalen Koordinatensystem. Von V1 aus spaltet sich die visuelle Weiterverarbeitung in zwei Hauptbahnen auf: in die obere „Wo-Bahn“, bei der das Gesehene lokalisiert und auf motorische Optionen hin analysiert wird, und in die untere „WasBahn“, die auch mit dem Sprachzentrum verbunden ist und bei der das Gesehene identifiziert wird. Die Was-Bahn ist für das bewusste Sehen wesentlich. Beide Bahnen konvergieren im Frontalhirn. Koch nimmt für die visuellen NCC an, dass zwischen vorderen und hinteren Bereichen des Kortex essentielle neuronale Knoten mit expliziten Funktionen in wechselnden Koalitionen stehende Wellen aus aufsteigenden und absteigenden Erregungen bilden. Damit spezifiziert er die Idee stehender Wellen im Gehirn, die Wolfgang Köhler für das PPN schon 1938 hypothetisch gefordert hatte. 434
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Zu den Schlüsselphänomenen für die Frage nach bewusstseinskorrelierten und nicht bewusstseinskorrelierten neuronalen Funktionen gehört in der Hirnforschung der binokulare Wettstreit, ganz im Sinne des Themas meiner Dissertation von 1976.384 Wenn beim beidäugigen Sehen ein Halbbild das andere unterdrückt und trotzdem im bewussten Perzept das unterdrückte Muster Wirkung zeigt, erhebt sich die Frage, wo im Verlauf der visuellen Verarbeitung die entscheidende Stelle zu suchen ist, jenseits derer die Entsprechung zum bewussten Sehen beginnt. Untersuchungen zeigten, dass im CGL (s. Abb. 19) die Sehnerven beider Augen zwar zusammenlaufen, dass dort aber noch kein Signalaustausch stattfindet. Auch in V1 sind die retinalen Informationen noch beiderseits erhalten. Dagegen haben Befunde aus Experimenten an Affen ergeben, dass im nachgeschalteten V4, das vor allem wichtig für die Farbwahrnehmung ist, ein kleinerer Teil der Neuronen so antwortet, wie es dem Perzept (Wahrnehmungsinhalt) entspricht, auf den die Tiere reagieren. Der größere Teil der dortigen Neuronen aber enthält noch die getrennten Informationen beider Augen. Gleiches wurde für MT ermittelt, das für stereoskopische Tiefe und Bewegungssehen zuständig ist. Wie es scheint, sind die Grundlagen des Tiefensehens auf der Schwelle von nicht bewussten zu bewusstseinsfähigen Vorgängen zu suchen. Im IT schließlich, der für Formsehen und Gesichtswahrnehmung unverzichtbar ist, scheinen alle Zellen in dem Sinne zu feuern, wie es dem bewussten Perzept entspricht. Das spricht dafür, dass IT zu Kochs NCC gehört. Bei Ausfall von IT bestehen erhebliche Wahrnehmungsstörungen, insbesondere Prosopagnosie, bei der auch vertraute Gesichter nicht mehr wiedererkannt werden.
Abb. 149: Der mittlere temporale visuelle Kortex MT (= V5) ist wesentlich für das Sehen von Bewegung und von stereoskopischer Tiefe, der inferiotemporale Kortex IT für Formsehen und Gesichtserkennung. IT und MT gehören zu den Hirnzentren, die mit dem präfrontalen Kortex PK neuronale Schleifen bilden, die nach C. Koch an bewusstem Sehen beteiligt sind.385 435
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Aufmerksamkeit ist nicht mit Bewusstsein identisch, aber sie spielt dabei eine wichtige Rolle. Aufmerksamkeit kann aktiv oder passiv auf Objekte gerichtet sein, entweder durch konzentrierte Tätigkeit, etwa bei der Suche nach etwas, oder dadurch, dass das Objekt von sich aus auffällt wie ein schwarzes Schaf unter lauter weißen (Salienz). Durch Aufmerksamkeit werden nach Koch neuronale Koalitionen gebildet, die die Bindung schaffen, um ein Objekt als Code in das Langzeitgedächtnis überführen zu können. Aber auch ohne eine fokussierte Gerichtetheit kann man sehr bewusst wahrnehmen, etwa wenn man bei einer Wanderung die Landschaft oder bei einem Konzert die Musik genießt. Dies entspricht der „dilatierenden“ oder „fluktuierenden“ Aufmerksamkeit. Sie wird in der Psychologie schon seit langem von der „fokussierenden“ Aufmerksamkeit unterschieden, die auf ein Detail oder einen Aspekt gerichtet ist. Die Fähigkeit, in einem Moment das Ganze einer Szene zu erfassen, ohne auf Details zu achten, ist als „Gist“ bezeichnet worden (das Wesentliche, die Quintessenz). „Es ist eine Vignette, eine knappe Zusammenfassung dessen, was vor meinen Augen liegt, ohne Details … Das genau ist es, was gist ausmacht: Man sieht den Wald, aber nicht die Bäume!“386 Nach Koch sind Gist-Neuronen in den oberen Stufen der Hierarchie visueller Verarbeitung lokalisiert, während Details in früheren Stufen repräsentiert werden. Bewusste Wahrnehmungsinhalte ergeben sich aus dem Wechselspiel zwischen Bottom-up und Top-down, d. h. zwischen momentanen Reizeinflüssen und gedächtnisbasierten Konzepten. Neben aktuellen Sinnesmeldungen ist das deklarative Gedächtnis wirksam, das Langzeitgedächtnis. In ihm wird zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis unterschieden, das eigene Erlebnisse bzw. das Allgemeinwissen umfasst. Sich zu erinnern heißt, Inhalte aus diesen Speichern abzurufen. Die Kombination sensorischer Informationen zu einem Objekt oder Ereignis geschieht im Hippocampus, die Langzeitspeicherung erfolgt von dort aus in unterschiedlichen Kortexarealen. Hilfreich ist eine sprachliche Codierung. Liest man das Wort „Eiffelturm“, ruft es sofort eine bildhafte Vorstellung auf, die physiologisch als vorübergehende Koalition bestimmter neuronaler Zentren verstanden werden kann. Allerdings ist eine verbalsprachliche Codierung für die mentale Präsenz von Objekten keine notwendige Bedingung, wie sich bei Tieren und Kleinkindern zeigt. Versuche mit Taubenvögeln haben ergeben, dass sie zu hochkomplexen Wahrnehmungs- und Kategorisierungsleistungen fähig sind, z. B. können sie ein bestimmtes menschliches Gesicht trotz Variation der Stellung in unterschiedlichen Mehrpersonenfotos erkennen.387 Auch Kleinkinder, die der Sprache noch nicht mächtig sind, beweisen im Wiedererkennen von Personen und Objekten, dass sie über explizite nonverbale Begriffe verfügen. Die Rolle der Sprache für das Bewusstsein hat eine besondere Bedeutung in Zusammenhang mit Split-Brain-Patienten. In ansonsten unheilbaren Fällen schwerster Epilepsie ist seit den 1940er Jahren gelegentlich das gesamte Corpus Callosum operativ durchtrennt worden, 436
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der Balken, der beide Großhirnhälften miteinander verbindet. Zweck des massiven Eingriffs ist, die unkontrollierte Ausbreitung hochsynchroner Hirnwellen zu unterbinden, die zu schlimmsten Krampfanfällen führen. Gegen alle Erwartung verhielten sich die Patienten nach dem erfolgreichen Eingriff nicht sonderlich auffällig, sie konnten normal sprechen und ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Erst viele Jahre nach den ersten dieser Operationen fanden genauere Untersuchungen über die Folgen statt. Das Ergebnis war, dass die Patienten nach der Operation über ein gedoppeltes Bewusstsein verfügten. Dies war bis dahin unentdeckt geblieben, weil die dominante Hirnhälfte (bei 90 % die linke) Sprachkompetenz besitzt und die Person sich auf diesem Wege äußert, während die andere Hirnhälfte hauptsächlich für Form, Orientierung, Klangfarbe u. a. zuständig ist und sich weniger auffällig äußert. Obwohl ihr die Möglichkeit zur sprachlichen Artikulation nicht gegeben war, machte sich dennoch die nicht-dominante Hirnhälfte als eigenständig bemerkbar. So konnte es vorkommen, dass sie durch Handzeichen dem widersprach, was die andere verbal äußerte. Oder es zeigte sich daran, dass die eine Hand versuchte, eine Bluse anzuziehen, während die andere gleichzeitig dabei war, sie auszuziehen. Beide Hälften hatten auch Zugriff auf das deklarative Gedächtnis, wenn auch teilweise mit einander widersprechenden Erinnerungen. Die von Philosophen vielbeschworene Einheit des Bewusstseins war zweigeteilt, allerdings nur vorübergehend. Im Laufe von Monaten und Jahren nach der Operation bildete sich allmählich wieder eine Einheit, offenbar auf dem Wege der gemeinsamen Interaktion mit der Umwelt. 388 Das Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen in teils festen, teils wechselnden Verknüpfungen ist das komplexeste Objekt, das wir kennen und damit eine der schwierigsten Herausforderungen für die Wissenschaft. Es steuert die Lebensvorgänge in unserem Körper, verarbeitet die Sinnesmeldungen aus der Umwelt und komprimiert sie in relevante Informationen, legt die Grundlagen für all unsere Handlungen, speichert unsere Biographie, unser Wissen und erlernte Fähigkeiten und befähigt uns, auf diesen Fundus nach Bedarf zurückzugreifen. Es codiert unsere gesamte erlebte Welt, und das ist nur ein kleiner Teil seiner Arbeit. Das alles leistet das Gehirn bei einem Energiebedarf von lediglich 20 Watt, was zwar ein Fünftel dessen ist, was der 60-mal schwerere Körper insgesamt verbraucht, aber dennoch höchst effektiv – ein Notebook verbraucht dreimal so viel.
Wie hat mein Gehirn das angestellt? Mein Kopf wird wie bei einem Elektro-Enzephalogramm mit einer Anzahl von Elektroden versehen, die zu einem Interface führen. Dieses wiederum ist mit dem Monitor verbunden, vor dem ich sitze. Auf dem Monitor sehe ich unten das Schema einer
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Die zweite Entstehung der Welt Maus, oben einen Käfig. Ich soll versuchen, die Maus in den Käfig zu befördern, nur kraft der Gedanken, wie der Versuchsleiter mir sagt. Ok, ich will zumindest versuchen, die Aufgabe zu lösen, obwohl ich skeptisch bin. Zunächst ruht die Maus, nach Inbetriebnahme der Apparatur irrt sie ziellos hin und her. Ich konzentriere mich auf sie, stelle mir den Weg zum Käfig vor, doch die Maus macht, was sie will. Ich versuche es mit mentalen Befehlen wie „links“ und „rechts“, doch ohne Erfolg. Nach einigen frustrierenden Minuten höre ich auf, mich anzustrengen, entspanne mich und blicke einfach nur auf das Geschehen auf dem Bildschirm. Nach etwa einer Viertelstunde hat sich etwas geändert, zunächst kaum merklich. Die Maus bewegt sich häufiger in Richtung Käfig, ich bilde mir ein, dass sie mehr und mehr meinem Willen folgt. Ich kann es kaum glauben. Ich will nicht, dass sie nur zufällig in den Käfig gerät, und lasse sie eine Weile in verschiedene Richtungen laufen. Es funktioniert immer besser. Schließlich steuere ich sie in einer großen Kurve mitten ins Ziel, wo sie sitzen bleibt. Geschafft! Aber ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich sie dahin gesteuert habe. Mein Gehirn hat offenbar über das Feedback des Bildschirms seine Impulse mit dem virtuellen Geschehen im Sinne der Aufgabe systematisiert. Aber mir bleibt schleierhaft, wie es das gemacht hat.
Quantitativ vollzieht sich der größte Teil dessen, was in unserem Körper bei seinen Aktivitäten geschieht, auf der Basis angeborener und erlernter Reflexe und Automatismen. Auch, wenn wir etwas Neues lernen, wird uns nicht bewusst, wie das Gehirn diese Aufgabe bewältigt. Nur ein Bruchteil der Hirntätigkeit hängt direkt mit dem Bewusstsein zusammen, mit bewusstem Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln. Dafür gibt es kein singuläres Zentrum im Gehirn, wohl aber sind Aktivitäten im phylogenetisch alten Stammhirn Voraussetzung, die für Wachheit sorgen. Auch der Thalamus, in dem die Aufmerksamkeitsverteilung geregelt wird, hat eine zentrale Funktion. Viele Befunde sprechen dafür, dass sich bewusste Inhalte daraus ergeben, dass wechselnde Koalitionen aus essentiellen neuronalen Knoten zwischen dem Frontalhirn, visuellen und anderen kortikalen Hirnzentren durch Rückkopplungen befristete Aktivitätsmuster nach Art stehender Wellen bilden. Sie sind das Extrakt aus Abermillionen Prozessen, die sich in jeder Sekunde im Gehirn ereignen, selektiert durch aktive und passive Aufmerksamkeit. Kurz gesagt: Die Vorstellung einer Zweiheit von Leib und Seele gibt es seit vorgeschichtlicher Zeit. Lange galten Herz oder Atem als Verbindungen zwischen ihnen. Die Rolle des Gehirns wurde erst allmählich erkannt. Methoden der Hirnphysiologie brachten im 20. Jahrhundert Licht in die Vorgänge. In mikroskopischer Hinsicht sind viele Details neuronaler Vorgänge bekannt, makroskopisch sind die Hirnwellen aufschlussreich. 438
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Wie hängen Gehirn und Bewusstsein zusammen?
Raumzeitlich dazwischen liegen zahllose Vorgänge, die sich innerhalb und zwischen Hirnregionen abspielen und Gegenstand intensiver Forschung sind. Ein kleiner Teil von ihnen entspricht dem, was wir bewusst erleben.
Literatur Beckermann 2008. Kobbert 1976. Koch 2005, 2013. Köhler 1920, 1938. Oeser 2002. Pinel, Barnes & Pauli 2019.
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Die zweite Entstehung der Welt
Gespräch zwischen Eheleuten Sie: Woran denkst du, wenn du sagst „meine Frau“? Er: Im ersten Moment denke ich an dich, wie du jetzt leibhaftig bei mir bist, die Frau, die ich liebe. Wenn ich mir den Begriff „meine Frau“ weiter vergegenwärtige, spüre ich eine endlose Tiefe, wie bei einem Brunnen, bei dem ich zuerst nur die glitzernde Wasseroberfläche sehe. Sie: Was meinst du mit der Tiefe? Er: „Meine Frau“ ist für mich das Kürzel für einen großen Zusammenhang. Es meint dich als Person mit all ihren Eigenheiten, wie ich sie wahrgenommen habe, aber auch alle gemeinsamen Erfahrungen vom ersten Kennenlernen über Intimitäten, Alltäglichkeiten, Wohnungen, gemeinsame Reisen, Gespräche, Auseinandersetzungen, gemeinsame Freunde – tausende von Facetten, die du mitbestimmt hast. Sie: Aber das wird dir doch nicht alles in diesem Moment bewusst. Er: Nur im Ansatz. Der tiefe Grund ist vorbewusst vorhanden. Ich könnte ihn mir nach und nach vergegenwärtigen. Ich könnte den Eimer in den Brunnen herablassen, Vieles emporholen und erinnern. Die Möglichkeit dazu ist mir mitbewusst ist, ohne dass ich sie ständig realisieren müsste. Die Wasseroberfläche steht für das Ganze, das sich darunter befindet, pars pro toto. Sie: Was ist dir denn tatsächlich bewusst in dem Moment, in dem du „meine Frau“ sagst? Er: Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall sind diese Worte von einer besonderen Qualität, die gefühlsartig gefärbt ist. Dieses Gefühl ist für mich wohl einzigartig. Ähnlich, aber nicht gleich dem, wenn ich „Liebe“ sage. Die Ähnlichkeit ist vergleichbar mit der zwischen manchen anderen Qualia, etwa bei Farben wie Orange und Rot. Sie: Dann wäre der Begriff „meine Frau“ erlebnismäßig ein Quale, um nicht zu sagen eine Qual. Er: Du willst mich provozieren. Er wäre auf jeden Fall ein typisches Beispiel für Qualia, diesen schwierigen Begriff, mit dem Philosophen umschreiben, wie Erlebniszustände sich anfühlen. „Qual“ würde ich vielleicht, wenn ich genauer darüber nachdenke, auch irgendwo in der Tiefe des Brunnens entdecken. Sie: Wie stellst du dir denn vor, was sich unter der Wasseroberfläche befindet? Entspricht das dem Vorbewussten? Er: Das Vorbewusste verstehe ich als das, was im Langzeitgedächtnis gespeichert ist und bei Bedarf abgerufen werden kann. Die Hirnforscher haben inzwischen recht detaillierte Vorstellungen darüber, wie die Hirnzellen durch millionenfache Bildung synaptischer Verbindungen Gedächtnisinhalte abspeichern. Sie: Von solchen millionenfachen Hirnvorgängen merke ich aber nichts.
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Er: Es ist ein Glück, dass unser Bewusstsein nicht von den Milliarden Vorgängen belästigt wird, die in jeder Sekunde im Gehirn ablaufen. Bewusst werden nur Extrakte davon, nur das Wichtigste. Sie: Wie zum Beispiel der Begriff „meine Frau“. Er: So wie der Begriff „Liebe“. Sie: Liebe ist nur ein Wort, sagt ein bekannter Buchtitel. Er: Ich glaube nicht, dass du das glaubst. Wörter sind nicht mit Begriffen gleichzusetzen. Begriffe stehen für die Gesamtheit von Erfahrungen mit einem bestimmten Gegenstand. Wörter bilden Etiketten für solche Erfahrungskomplexe. Sie erleichtern die Kommunikation. Nicht jeder hat entsprechende Erfahrungen gemacht, oder Enttäuschungen können Erfahrungen entwertet haben. Dann können Wörter zu leeren Worthülsen werden. „Liebe“ ist ein Beispiel hierfür. Sie: Wenn dein Erfahrungshintergrund den Begriff „meine Frau“ geprägt hat – kannst du ihn dann auf eine andere Frau übertragen? Für den Fall, dass ich sterbe? Er: Das möchte ich mir nicht vorstellen müssen. Was ich mir vorstelle, ist, dass der Erfahrungshintergrund, der uns gemeinsam ist, im Laufe der vielen Jahre in meinem und deinem Gehirn ein unfassbar großes verzweigtes Netzwerk von Verbindungen gebildet hat, dicht versponnen mit Myriaden von Synapsen. Das entspricht der engen und vielfältigen Art unserer jahrzehntelangen Verbindung. Das ist nicht zu übertragen. Sollte eintreten, wovon du sprichst, würde ich wohl einen schmerzlichen Riss empfinden, der tief durch mein eigenes Selbst geht. Sie: Wie würde es dann für dich weitergehen können? Er: Es ginge dann wohl nur weiter, wenn die Verbindungen in dem versponnenen Netzwerk wie bei einer schmerzhaften, aber notwendigen Operation nach und nach aufgelöst würden, in Monaten oder in Jahren, damit eventuell ein neues Netzwerk gebildet werden kann. Das ist es wohl, was man als Trauerarbeit bezeichnet. Ein Rest würde bleiben und sich immer wieder im Bewusstsein bemerkbar machen, mit einem veränderten Quale, mit dem Gefühl des Verlustes und der Dankbarkeit für schöne Jahre.
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Welche Bedeutung hat das Bewusstsein?
Anders gefragt: Ist das Bewusstsein ein unbedeutendes Nebenprodukt der Hirntätigkeit oder ist es unverzichtbar? Was uns bewusst wird, entspricht einem Bruchteil der sichtbaren Spitze eines Eisbergs, mehr als 99 % der Vorgänge im Gehirn werden nicht bewusst. Aber die Menge muss nicht entscheidend sein. Der Wissenschaftsphilosoph Max Tegmark vergleicht das Bewusstsein mit dem Geschäftsführer eines großen Unternehmens, der nur mit den wichtigsten 441
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Entscheidungen befasst ist, während der größte Teil von Subalternen erledigt wird.389 Trifft dieser Vergleich den besonderen Vorzug, den das Bewusstsein hat? Oder steht das nicht in Widerspruch dazu, dass in manchen entscheidenden Momenten das Bewusstsein offenbar umgangen wird (s. Kap. 7 u. 39)? Welchen Wert soll das Bewusstsein für das Individuum haben? Ist es ein Fitness-Merkmal im Kontext der Evolution? Oder doch nur das zufällige Gekräusel an der Oberfläche eines unergründlichen Ozeans neuronaler Datenfluten? Könnten wir nicht ebenso gut gefühllose Wesen sein, die ihr Leben reflexhaft absolvieren und dessen Ende nicht bedauern? „Hätte all das nicht im Dunkeln geschehen können? … Hätte die Evolution nicht stattdessen Zombies hervorbringen können?“, fragt Thomas Metzinger.390 Für viele Philosophen und Sprachforscher gilt als ausgemacht, dass Bewusstsein und Sprache eine Einheit bilden. Demnach kann von Bewusstsein nur soweit gesprochen werden, wie es sich in Sprache äußert. In der Sprache wird die eigentliche geistige Leistung gesehen. Zweifellos kommt der Sprache höchste Bedeutung in der Kommunikation der Menschen zu, nicht zuletzt in der Schrift, die sich mehr noch als mündliche Äußerungen zum Multiplikator geistiger Inhalte entwickelt hat. Doch wenn man Sprache zur Voraussetzung für Bewusstsein macht, verwechselt man die Äußerung von Bewusstsein mit dem Bewusstsein selbst. Man müsste kleinen Kindern und Tieren von vornherein Bewusstsein absprechen. „Taubstummen“ unterstellte man vormals, kein Gedächtnis und kein Bewusstsein zu haben. Als man erkannte, dass Gehörlose durchaus in der Lage sind, mit geeigneten Methoden Sprache zu lernen, gewannen sie wichtige Möglichkeiten zur Kommunikation, zugleich wurde aber auch deutlich, dass man sie vormals falsch eingeschätzt hatte, und dass sie schon vor der Sprache ein reiches Innenleben hatten. Das zeigt etwa die bekannte Geschichte der taubblinden Helen Keller.391
Abb. 150: Zeichnung eines 13-jährigen taubblinden Mädchens. 442
43 Welche Bedeutung hat das Bewusstsein?
Gespräch mit einem taubblinden Mädchen Vor Jahren unterhielt ich mich im Taubblindenwerk Hannover mit mehreren betroffenen Personen unterschiedlichen Alters. Die Gespräche erfolgten mit einer Betreuerin über das „Lormen“, ein Fingeralphabet, das über Berührungen der Hand kommuniziert wird. Beispielsweise bedeutet das Antippen der Daumenspitze „A“, eine Kreisbewegung auf der Handinnenfläche „S“. Manche konnten schon von Geburt an weder sehen noch hören, andere hatten die Fähigkeiten durch Krankheit später verloren. Bei allen war ich erstaunt, wie reflektiert sie sich über eine Welt äußerten, von der sie größtenteils nur indirekt Kenntnis hatten. Eine von ihnen war ein 13-jähriges Mädchen, das aufgrund einer Erkrankung zunächst ihre Sehfähigkeit bis auf geringe Reste und dann auch die Hörfähigkeit vollständig verloren hatte. Offen und nüchtern schilderte sie mir, wie ihr Leben Schritt für Schritt in das „Land des Schweigens und der Dunkelheit“ überging, wie der Filmemacher Werner Herzog 1971 eine Dokumentation über taubblinde Menschen genannt hat. Schließlich fragte ich sie: „Wie fühlst du dich jetzt?“ Sie verlangte nach einem Blatt Papier und fertigte in mühsamer Arbeit, bei der sie das Blatt fast mit der Nasenspitze berührte, die obige Zeichnung. Daraufhin lormte sie: „Ich fühle mich wie in einer engen Kabine auf einem Schiff auf hoher See. Ich fühle, wie um mich herum alles in Bewegung ist, aber ich kann es nicht kontrollieren und weiß nicht, wohin die Reise geht. Ich bin ihm ausgeliefert. Ich bin eingesperrt und von allem isoliert, sobald unsere Hände sich nicht mehr berühren.“ Die Zeichnung ist perspektivisch genau, was nicht bei jeder Heranwachsenden ihres Alters zu erwarten ist. Von der ganzen Umgebung, von der sie erzählt, zeichnet sie nur eine Art Kasten, der ihren Körper unmittelbar umgibt. Sie steht am Steuerrad, aber es ist funktionslos. Die Kabine trägt die Aufschrift „ZU“. Als ich sie frage, ob sie die Kabine öffnen will, antwortet sie mit allen Zeichen der Angst: „Nein, sie muss zu bleiben.“
Merlin Donald hat sich mit einem seltenen Fall von „reversibler paroxysmaler Aphasie“ beschäftigt. „Bruder John“ war ein Mönch, der als Redakteur tätig war. Er litt unter langandauernden epileptischen Anfällen, bei denen regelmäßig das Sprachvermögen ausfiel. Allerdings blieb das Bewusstsein in diesen Phasen vollständig erhalten, seine Orientierung und gewohnte Hantierungen waren nicht gestört. Aber er konnte währenddessen kein Wort verstehen oder sprechen, auch das „innere Sprechen“ war ihm nicht möglich. Er ging einfallsreich mit seiner Situation um. So trug er ein Radio bei sich, das er immer wieder einschaltete, um zu überprüfen, ob sein Sprachverständnis wieder zurückkehrt. Er konnte seiner sozialen Umgebung ggf. signalisierten, dass er gerade „außer Betrieb“ sei. Seine Erinnerung an diese Phasen war ungetrübt, und es war ihm möglich, sich nachträglich darüber auch sprachlich zu äußern.392 443
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Dass bewusstes Denken auch ohne Sprache geschieht, hatten wir in Zusammenhang mit dem anschaulichen Denken schon ausführlich angesprochen (Kap. 30). Hinzu kommt, dass viele Fertigkeiten, solange sie noch nicht automatisiert sind, besonders viel Aufmerksamkeit und bewusste Steuerung verlangen, z. B. beim Erlernen von Klavierspielen, Stricken, Radfahren und Autofahren. Sprache kann hierbei sekundieren, doch die Umsetzung verlangt wache Konzentration auf Wahrnehmung und Motorik. Wenn die erlernten Fähigkeiten zunehmend automatisiert sind, kann sich das Bewusstsein anderen Gegenständen zuwenden. Wir sind geneigt, bewusstes Denken vor allem mit Erwachsenen in Verbindung zu bringen. Doch das ist wohl ein Fehler. Wenn man bedenkt, wie viele deklarative und prozedurale Inhalte Kinder zu lernen haben, wird deutlich, dass gerade bei ihnen oft das Bewusstsein gefordert ist und seine Stärken beweist. Merlin Donald sieht die vorrangige Leistung des menschlichen Bewusstseins in der Symbolbildung, die in Koevolution mit der Kultur entstanden ist. Er weist darauf hin, dass das menschliche Gehirn sich in anatomischer Hinsicht gegenüber dem anderer Primaten nicht durch zusätzliche Teile auszeichnet, sondern nur quantitativ vergrößert hat. Einzelne Affen sind auf das Erkennen und Verwenden von Zeichen trainiert worden. Berühmt geworden ist der Zwergschimpanse Kanzi, der mehrere hundert Symbole gelernt hat und auch teilweise englische Sprache versteht. Z. B. reagiert er richtig auf „Bring den Staubsauger nach draußen“. Er kennt zwar die einzelnen Wörter, hat sie aber in diesem Satzzusammenhang nie zuvor gehört.393 Das Hirnpotential für Symbolverständnis ist bei manchen Affen also vorhanden, aber es ist von ihnen über einige Kommunikationslaute hinaus zu keiner Kultur entwickelt worden, die es weiter gefördert hätte. Nach Ernst Cassirer ist Kultur ein symbolisches Universum, das die Welt als Sinnzusammenhang begreifen lässt.394 Bilder, Schriften, Ziffern, Zeichen, Icons, Riten, Spiele sind Symbole, die menschliche Ordnung in die Welt bringen, sie in vereinfachter Form verstehbar, handhabbar und kommunizierbar machen. Symbole sind kreative Produkte des menschlichen Bewusstseins, Verdichtungen von Bedeutung. Indem sie in der Kommunikation bei anderen Menschen das Bewusstsein ansprechen, werden ihre Bedeutungen immer wieder neu entfaltet – sofern, das darf nicht vergessen werden, das Verständnis hierfür zuvor vermittelt wurde. Die Betonung der Kultur für das Bewusstsein geht bei Merlin Donald so weit, dass er sagt, dass Kultur im Wesentlichen außerhalb des individuellen Gehirns angesiedelt ist. Das trifft aber aus dem gleichen Grunde nicht zu, warum Bibliotheken nicht als Gedächtnis bezeichnet werden können (s. Kap. 36). Alle kulturellen Güter und Symbole haben nur soweit Geltung, wie sie von menschlichen Individuen wahrgenommen und entsprechend ihrer erlernten und erlebten Bedeutung gewertet werden. Für die Affen in Angkor Wat ist die weitläufige Tempelanlage nur ein großes Klettergelände. Die Pyramiden von Gizeh wurden jahrhundertelang als Steinbruch für Kairo genutzt, sonst hätten sie immer noch ihre ehemals glatte weiße 444
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Welche Bedeutung hat das Bewusstsein?
Marmoroberfläche. Sie hatten lange Zeit keinerlei kulturelle Bedeutung; diese wurde erst in der Neuzeit wiederbelebt. In Deutschland würde manches Gebäude, das vor Jahren abgerissen wurde, heutzutage unter Denkmalschutz gestellt. 2001 wurde mit der Zerstörung der BuddhaStatuen von Bamiyan durch die Taliban und 2016 mit Zerstörungen in Palmyra durch die IS-Terrormiliz ausdrücklich Verachtung gegenüber fremdem Kulturgut demonstriert. Kulturgüter haben keinen absoluten ontologischen Status. Sie brauchen, um ihren Bestand zu wahren, Menschen mit einem entsprechenden Wertbewusstsein und mit der Bereitschaft, sie als Schätze zu pflegen und zu verteidigen. Nach Christof Koch liegt die wichtigste Funktion des Bewusstseins darin, Abstracts der Informationsverarbeitung des Gehirns zu bilden und damit effizient zu operieren. Selektivität und Ordnungsbildung der Wahrnehmung finden hier ihre Kulmination, oft aus einem Wettstreit konkurrierender Subsysteme heraus. Solche Kurzformen werden an die Planungsstufen des Gehirns weitergereicht, um schnelle Entscheidungen und optimales Handeln zu ermöglichen. Sie sind besonders in neuen Situationen wirksam, und das umso mehr, je verzweigter die Verbindungen sind, die das Bewusstsein herstellt. Die Chance, ins deklarative Langzeitgedächtnis überzugehen, haben nach Koch nur solche Inhalte, die Aufmerksamkeit gefunden haben, die also für eine gewisse Zeit im Fokus des Bewusstseins gestanden haben. Solche Inhalte sind für die spätere Verwendung umso effektiver, je weiter ihre „Penumbra“ gestreut ist, womit Koch das Netz der neuronalen Verbindungen bezeichnet (was in etwa dem „Halo“ in Kap. 29 entspricht). Koch sagt ausdrücklich, dass er mit diesen Vermutungen über den Punkt des empirisch Gesicherten die Grenze zur Spekulation überschreitet. Positiv formuliert sind es evidenzbasierte Annahmen, also begründete, wenn auch nicht gesicherte. Es ist lohnend, sich auf diesem Wege noch etwas weiter vorzuwagen. Dies ist umso mehr gerechtfertigt, wenn sich hieraus Annahmen ergeben, die empirisch geprüft werden können. Schauen wir uns Kochs Beschreibung bewusstseinskorrelierter Hirnfunktionen einmal von der anderen Seite an, von den Phänomenen her. Seine eigene Beschreibung changiert bereits zwischen der Terminologie des Hirnforschers und der des Psychologen. Wir müssen feststellen, dass in den Phänomenen kaum etwas von dem enthalten ist, was den Großteil des Hirngeschehens kennzeichnet: keine millionenfachen Einzelereignisse, die dem Impulsgewitter der Neuronen entsprächen, geschweige denn der unablässige Molekülaustausch an Synapsen und Ionenkanälen, nichts von elektrischen Impulsen oder chemischen Reaktionen. Nichts davon, dass die Signale der retinalen Rezeptoren durch Vergleiche mit den Nachbarrezeptoren vorverarbeitet werden, dass in nachgeschalten rezeptiven Feldern Konturen und Kanten festgestellt werden, diese wiederum auf komplexere Formen hin entschlüsselt werden. Wir spüren nichts von den Algorithmen in den biologischen neuronalen Netzen, die Invarianten und Korrelationen ermitteln, bis stabile Ergebnisse erzielt und im Netzwerk des Kortex abgespeichert werden können. 445
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Was uns visuell bewusst wird, sind Dinge und Vorgänge, wir sehen bekannte und unbekannte Menschen, mit denen wir uns unterhalten, Gegenstände, mit denen wir hantieren, Gebäude und Landschaften, in denen wir uns bewegen. Wir erkennen ein bekanntes Gesicht wieder, unabhängig davon, ob es nah oder fern ist, welche Mimik es zeigt oder wie der Kopf gedreht ist. Alles besteht aus gestaltlichen Einheiten, die sich voneinander abgrenzen und unterscheiden und trotz mancher Veränderungen in sich stabil bleiben. Das Haus, in das wir gehen, erleben wir als das gleiche, das wir von außen gesehen haben, obwohl es von innen ganz anders aussieht. Den Menschen, den wir morgens in Schlafanzug und mit strähnigen Haaren verschlafen sehen, erleben wir als den gleichen, der tags zuvor tipptopp gekleidet und frisiert mit uns durch die Stadt gebummelt ist und geistreich geplaudert hat. Wenn uns speiübel ist, der Kopf brummt, wir keinen klaren Gedanken fassen und uns taumelnd an der Wand entlang tasten, wissen wir, dass wir immer noch derselbe sind, der zu Beginn der Party in Hochstimmung war und mit amüsanten Geschichten gute Laune verbreitete, auch wenn nach einer nicht mehr zu rekonstruierenden Menge Alkohol irgendwann der Film gerissen zu sein scheint. Wir erleben, wie jemand etwas sagt, und wir erfassen fast unmittelbar die Bedeutung, ohne dass wir uns in irgendeiner Weise dessen inne sind, dass Schallwellen unser Innenohr treffen, dort Haarzellen reizen und Erregungen auf komplizierten Bahnen in Thalamus und Temporalhirn wirksam werden, um über den Rückgriff auf gespeicherte Spuren früherer Erfahrungen zu dem erlebten Resultat zu werden. Viele subalterne Hirnprozesse lassen sich als Methoden verstehen, mit denen die Hirntätigkeit zu Ergebnissen kommt, die die Essenz all dieser Vorgänge bildet. Die Methoden werden nicht bewusst, nur die Ergebnisse. Das erinnert an eine Bemerkung des Malers Franz Marc von 1915: „Der Beschauer soll nur das reine Werk sehen, unsere Nöte gehen ihn nichts an, auch unsere ‚Mittel‘ nicht.“395 Das erinnert an Gotthold Ephraim Lessing, dessen „Nathan der Weise“ wir bewundern, ohne dass wir merken, unter welchen Mühen seine Dichtungen zustande kamen: „Ich muss alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen.“396 Aus all dem Gesagten ergeben sich auch Konsequenzen für die Gestaltpsychologie (s. Kap. 42). Seit Ehrenfels vertritt sie die Ansicht, dass nicht Elemente, sondern Gestalten im Sinne von Ganzheiten das primär Erfasste sind, weshalb sich z. B. eine Melodie in eine andere transponieren lässt. Jetzt, mehr als 120 Jahre später, ergibt sich folgende Situation: Auf unterster Stufe der Wahrnehmungsprozesse stehen diskrete Einzelereignisse: punktuelle Reize im Auge bzw. lokale frequenzabhängige Reize in der Cochlea. Im weiteren Verlauf der Verarbeitung werden auf nichtbewussten Ebenen Beziehungen hergestellt, dann Beziehungen zwischen Beziehungen usw. Letztendlich ergibt sich visuell etwa ein Objekt, auditiv eine Melodie. Die Einzelfrequenzen einer Melodie werden schon auf einer mittleren Verarbeitungsebene in Relation zueinander gesetzt und bilden zusammen eine Struktur. Bereits dieses Relationsgefüge erlaubt eine Transposition in andere Tonarten. Die Erlebnisinhalte bilden als Gestalten die 446
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höchste Stufe der Ordnungsbildungen. Die Phänomene, die ins Bewusstsein treten, werden von der Gestaltpsychologie zutreffend beschrieben, nicht aber ihr Zustandekommen. Was uns bewusst wird, sind die Endprodukte all der genannten Hirnvorgänge, ohne dass sie als Produkte gewahr werden. Erlebt wird die momentan aktuelle Gesamtordnung, erlebt werden gestaltliche Einheiten im Kontext der Situation, in der wir uns gleichzeitig selbst befinden. Das Bewusstsein bleibt entlastet von den Vorarbeiten, die zur Präsentation seiner Inhalte notwendig sind, wobei „Präsentation“ ganz wörtlich aufzufassen ist als „Vergegenwärtigung“. „Mir wurde bewusst, dass ich einen Fehler gemacht hatte“ wird im Englischen übersetzt mit: „I realized that I had made a mistake.“ Im Englischen bekommt das Bewusstwerden den Rang einer Verwirklichung. Im Beispielsatz wird ein im biographischen Gedächtnis gespeicherter Vorfall nicht nur erinnert, sondern erhält eine neue Bedeutung und erlangt in dieser Form aktuelle psychische Wirklichkeit. Auch im deutschen Sprachgebrauch gibt es den Ausdruck, etwas geistig zu „realisieren“, oft in dem Sinne, dass etwas Unbeachtetes als Faktum neue Wertigkeit bekommt. Bewusst erleben wir konkrete Dinge und Menschen in dem gleichen Raum, in dem sich unser Körper-Ich als wandelndes Zentrum bewegt. Ebenso befassen wir uns mit abstrakten Bewusstseinsinhalten, schaffen Verbindungen zwischen ihnen, die auf unteren Niveaus der Informationsverarbeitung so nicht gebildet werden, beurteilen sie in übergreifenden Kontexten, entwerfen und prüfen Pläne, wägen Handlungsoptionen ab und treffen Entscheidungen nach reiflicher Überlegung. Offensichtlich sind diese Leistungen nicht möglich ohne Bewusstheit und ohne den wechselnden Fokus der Aufmerksamkeit, ansonsten wäre eine Zombie-Existenz zur Lebensbewältigung hinreichend. Wie verträgt sich diese Auffassung, bei der das Bewusstsein gleichsam die Chefetage des menschlichen Organismus besetzt, mit der Beobachtung, dass Handlungen möglich sind, die ohne Beteiligung des Bewusstseins zustande kommen? Beim Schlafwandeln ist das Bewusstsein ausgeschaltet wie allnächtlich bei jedem Schläfer, mit dem Unterschied, dass die Hemmungen der Motorik und Sensorik teilweise aufgehoben sind. Anders ist die Situation im hellwachen Zustand. Wenn hierbei Aktionen wie plötzliches Bremsen des Autos aufgrund einer Bewegung im seitlichen Gesichtsfeld erfolgen, so ist das zweckmäßig, weil das Durchlaufen der Kontrollschleife des Bewusstseins zu einer Verzögerung um ca. 0,25 Sekunden führen würde. Es ist ein Notfallmechanismus für die Ausführung einer umschriebenen Handlung wie in dem Fall, dass wir im Reflex die Hand zurückziehen, wenn wir etwas Heißes berühren. Sie setzt das Bestehen sensumotorischer Koordinationen voraus, die wahrscheinlich subkortikal gespeichert sind. Das Bemerkenswerteste hierbei ist, dass es offenbar eine Bewertungsinstanz im Gehirn gibt, die vor aller Bewusstheit die Entscheidung zu sofortigem und zielgenauem Handeln führt. Die prinzipielle Chef-Funktion des Bewusstseins wird hierdurch nicht in Frage gestellt, so wenig wie die Autorität des Geschäftsführers, wenn ein Arbeiter bei einem Brand 447
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zum Feuerlöscher greift, ohne erst nach dem Vorgesetzten zu suchen. Im menschlichen Gehirn geschieht Vieles nach dem Subsidiaritätsprinzip, und das ist gut so für unser Überleben. Wenn Christof Koch Bewusstseinsinhalte als Abstracts bezeichnet, dann betont er damit den großen Vorteil, dass mit solchen Kurzformen für komplex vernetzte Bedeutungseinheiten rasch und flexibel mentale Operationen durchgeführt werden können. Dabei spielen „Konzeptzellen“ eine zentrale Rolle. Sie können z. B. bestimmte Menschen repräsentieren. Bei einer Epilepsiepatientin wurde im medialen Temporallappen ein Neuron gefunden, das nur feuerte, wenn sie an den Schauspieler Josh Brolin dachte, und ein anderes Neuron, das nur beim Gedanken an Marylin Monroe feuerte. Über die Verbindung mit einem Display, an dem Bilder beider Personen überlagert waren, konnte die Patientin willkürlich das eine oder andere Bild durch reine Gedankentätigkeit hervortreten lassen.397 Wie solche Abstracts zustande kommen und wie das Gehirn sie nutzt, beantwortet Koch durch den Hinweis auf die Bildung neuronaler Koalitionen verschiedener „essentieller Knoten“. Im Folgenden ein paar ergänzende Bemerkungen hierzu, die auf neurologischen Befunden aufbauen und auch Begriffe aus der psychologischen Bezugssystemforschung hinzuziehen.398 Man verzeihe in diesem Provisorium das Hin und Her zwischen psychologischen und hirnphysiologischen Termini, die in reiner Fachsprache säuberlich getrennt werden müssten. Es hängt damit zusammen, dass wir uns gedanklich nahe der Ebene der NCC bzw. des PPN befinden und uns von der Idee leiten lassen, dass die Beschreibungen zwei Perspektiven auf gleiche Vorgänge betreffen.
Abb. 151: Schema zum Begriff „Apfel“ als funktionales Abstract in Verbindung mit ausgewählten Eigenschaftszentren. 448
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Gehen wir wieder von dem in den Kognitionswissenschaften beliebten Beispiel „Apfel“ aus und präzisieren die Annahmen, die in Kap. 29 vorläufig mit dem „Halo“ eines Begriffes angesprochen wurden. Wenn man einen Apfel sieht oder isst, wird in der „Was-Bahn“ eine Anzahl von Hirnzentren angesprochen, denen Eigenschaften unterschiedlicher Modalitäten wie Form, Farbe oder Geschmack zugeordnet sind. Mit jedem wahrgenommenen Apfel verstärken sich die korrelierten neuronalen Verbindungen, etwa durch neue Synapsen, und bilden ein Netzwerk aus, das sich wie in Abb. 151 denken lässt: Jedes Eigenschaftszentrum ist als Bezugssystem zu denken, in dem alle Farben vertreten sind, bzw. alle Formen, alle Oberflächenmerkmale, alle Düfte, alle Geschmäcke, Konsistenzen, Größen, Gewichte usw., die Gegenstände haben können. Diese Bezugssysteme bilden sich im Wechselspiel von Wahrnehmen und Handeln mit den Dingen aus. Jede Klasse von Objekten schafft sich innerhalb dieser Bezugssysteme einschlägige Teilbereiche (Partialsysteme), Äpfel z. B. bekommen in farblicher Hinsicht einen Bereich, der Grün, Braun, Gelb und Rot umfasst, in geschmacklicher Hinsicht einen Bereich von Süß bis Sauer und so fort. Für „Apfel“ bildet sich ein neuronaler Knoten, der ihn repräsentiert. Seine attributiven (merkmalsbezogenen) Neuronen Af, Ac usw. sind jeweils mit entsprechenden Eigenschaftszentren verbunden. Dabei ist die Verbindung mit den typischen Partialsystemen besonders eng, und die attributiven Neurone werden zu Teilen des jeweiligen Partialsystems. Mindestens ein Neuron Z steht im Zentrum des Knotens und sorgt bei Aktivierung dafür, dass auch die attributiven Mitglieder erregt werden und so insgesamt als Einheit fungieren. Diese Z-Neuronen, die den empirisch gefundenen Konzeptneuronen entsprechen, sind mit dem Sprachzentrum verbunden (im Schema nicht dargestellt). Jedes Mal, wenn man einen konkreten Apfel wahrnimmt, wird das Gesamtsystem „Apfel“ aktiviert und dabei weiter stabilisiert, ebenso wird in jedem Partialsystem die Verbindung zu dem passenden Ort verstärkt (z. B. zu „rot“ und „süß“), ebenso die Verbindung zum Phonem „Apfel“ im Sprachzentrum. Beim Kind werden die Verbindungen in der Regel über gleichzeitiges Zeigen und Sprechen der Eltern hergestellt bzw. erlernt. Wenn man den Apfel nicht wahrnimmt, sondern das Wort „Apfel“ sagt oder denkt, passiert etwas anderes. Dann wird über die Aktivität des Sprachzentrums das Zentralneuron Z erregt. Dieses aktiviert die attributiven Neuronen Af, A k usw. Weil sie Teil der Partialsysteme sind, ruft ihre gleichzeitige Erregung die sinnliche Vorstellung von „Apfel“ auf. Sie kann z. B. in Farbe und Geschmack unbestimmt bleiben, weil die Partialsysteme relativ unbestimmt sind, solange kein konkreter Apfel wahrgenommen wird. Das ist ein wichtiger Punkt, weil sich bislang schwer erklären lässt, wie ein Begriff mit der Unbestimmtheit seiner Attribute zu vereinigen sei. Der Charakter von Bewusstseinsinhalten als Abstract kann unterschiedliche Grade von Intensität haben, je nachdem, wie stark die Partialsysteme miterregt werden. Für die beiläufige Verwendung von Wörtern, wie sie beim Denken oder im Alltagsgespräch häufig sind, ist anzunehmen, dass oft nur die neuronalen Knoten aktiv werden. Für eine flüchtige Vorstellung von 449
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„Apfel“ mag hinreichend sein, dass nur die attributiven Neurone als Teil der Partialsysteme beteiligt sind. Beim Hungrigen dagegen, der sich mit geschlossenen Augen einen saftigen Apfel vorstellt, werden der Knoten und alle einschlägigen Partialsysteme aktiv, einschließlich exekutiver Verbindungen, die das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen und Handlungsimpulse hervorrufen, die die Beschaffung eines Apfels zum Ziel haben. Auch für die Bildung und Wandlung abstrakter Begriffe lässt sich ein solches Netzwerk vorstellen. Z. B. verbindet sich „Liebe“ im besprochenen Sinne eng mit „Vertrauen“ und „Geborgenheit“. Wird eine tief empfundene Liebe enttäuscht, lösen sich diese Verbindungen auf und zurück bleibt ein Begriff von Liebe, der nur noch als leere Worthülse empfunden wird. Soweit mein kleiner Beitrag dazu, wie man sich die neuropschologische Bildung, Entwicklung und Aktivierung eines Bewusstseinsinhalts vorstellen kann. Mit den empfundenen Qualitäten bewegen wir uns von der rein funktionalen Betrachtung des Bewusstseins fort auf ein Thema zu, das besonders heiß diskutiert wird: die Qualia. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, so heißt es. Genauer gesagt ist es fruchtlos, sich über Geschmack zu streiten, denn ob etwas schmeckt oder nicht, ist individuell sehr verschieden. Schon Protagoras wies darauf hin, dass sich nicht objektiv feststellen lasse, wie eine Frucht schmeckt. Wenn jemand sagt, sie sei süß, dann habe das die gleiche Gültigkeit wie die Behauptung eines anderen, sie sei bitter. „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ ist die Konsequenz des Sophisten aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Er meint damit nicht das Konstrukt eines abstrakten, durchschnittlichen oder idealen Menschen, sondern das Individuum. Nichts ist jedem Menschen so vollständig und unmittelbar gegeben wie das eigene Erleben, also auch, wie etwas schmeckt. Damit ist die letztlich einzigartige, weil unvergleichbare Erfahrungsweise von jedem einzelnen Menschen angesprochen, also auch die von Ihnen oder von mir ganz persönlich. Daraus ergeben sich auch die Schwierigkeiten, zu dem Thema irgendwelche Aussagen machen zu wollen, die über das einzelne Individuum hinausgehen. Sie beginnen bereits mit der Definition von „Qualia“ oder eines „Quale“. Vormals hat man Qualia mit „Empfindungen“ gleichgesetzt, später mit den jeweils spezifischen Qualitäten von Empfindungen, die dem Tasten, Hören, Sehen, Schmecken etc. entsprechen. Im wörtlichen Sinne hat das lateinische „qualis“ die Bedeutung von „irgendwie beschaffen“. Heute versteht man darunter die jeweilige Beschaffenheit von Erlebnisinhalten, wie sie sich anfühlen, wie wir sie erleben. Am Beispiel verschiedener Modalitäten wird es deutlich: Neben Geschmäcken wie süß oder salzig sind es Gerüche wie blumig oder faulig, Gefühle wie Schmerz und Lust. Oft genannte Qualia sind Farben. Jedem Farbtüchtigen ist bewusst, was Rot ist und wie sehr es sich von Grün oder Gelb unterscheidet. Doch es ist unmöglich, einem Farbenblinden zu vermitteln, was „Rot“ ist. Es lässt sich nicht definieren. Meine Empfindung „Rot“ lässt sich nicht reduzieren und nicht beschreiben. Der Hinweis auf Wellenlängen des Lichts hilft nicht. Bei synästhetischen Vergleichen oder bei Umschreibungen, etwa zu sagen, „Rot“ sei wie ein Trompetenton, lässt sich nicht 450
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überprüfen, ob dies irgendwie zum Verständnis des Quales geführt hat. Wenn wir bei einer Weinprobe feststellen, dass ein Wein dem einen schmeckt und dem anderen nicht, merken wir schnell die Grenzen des Vergleichs der persönlichen Eindrücke, sobald wir den Versuch machen, sie zu verbalisieren. Es kommt noch schlimmer: Wenn Person A und B darin übereinstimmen zu sagen, ein bestimmter Gegenstand sei rot, heißt das nicht, dass beide dabei das Gleiche empfinden. Es ist denkbar, dass A bei dieser Farbe das Gleiche fühlt, was B bei der Farbe empfindet, die beide Grün nennen. Es gibt keine Möglichkeit, das objektiv zu überprüfen. Dieses Problem diskutiert z. B. Ned Block unter dem Stichwort „invertiertes Spektrum“.399 Die Rätsel des subjektiven Erlebens fangen nicht erst damit an, dass es unmöglich ist, sich in eine Fledermaus einzufühlen, wie es Thomas Nagel in seinem berühmten Artikel dargelegt hat.400 Ein bestimmtes Quale entzieht sich jedem Versuch der Definition und Kommunikation. Das ist ein philosophisches und naturwissenschaftliches Ärgernis. Wir sind in unserem Erleben befangen. Der Versuch, die wissenschaftliche Position eines Außenbetrachters einzunehmen, erinnert an den Versuch Münchhausens, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Manche Wissenschaftler haben sich des Problems entledigt, indem sie seine Existenz leugnen. „Qualia eliminieren“ ist Programm bei Daniel Dennett, er versucht es mit 15 „Intuitionsargumenten“, u. a. mit der Behauptung, dass sie Pseudoentitäten seien, weil sich von einem objektivwissenschaftlichen Standpunkt her nichts über sie aussagen lässt.401 Aber ist dem wirklich so? Positiv gesagt verkörpern Qualia die Einzigartigkeit unseres Erlebens. Aber wenn sie nur subjektiv existieren, warum sollte es in irgendeiner Weise für die Wissenschaft von Interesse sein, sich damit zu beschäftigen? Diese Frage wird im Grunde genommen seit den Anfängen der experimentellen Psychologie im 19. Jahrhundert gestellt, die von Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt begründet wurde. Psychische Phänomene, so lautete schon damals der Einwand seitens der Philosophie, entzögen sich den naturwissenschaftlichen Methoden, weil sie nicht messbar seien. Eine Antwort darauf gab bereits eins der ersten diesbezüglichen Experimente. Fechner ging der Sonderstellung nach, die der „Goldene Schnitt“ seit Euklid in Mathematik, Kunst und Architektur spielt (s. Kap. 18). Er wollte wissen, ob dieses Verhältnis tatsächlich als besonders „wohlgefällig“ erscheint, also in einem bestimmten Quale. Dazu ließ er Reihen verschiedener Proportionen nach diesem Kriterium beurteilen. Er erhielt Häufigkeitsverteilungen der Urteile in Abhängigkeit von der Proportion und machte so die ästhetische Wirkung messbar und vergleichbar.402 Damit begründete er die empirische Ästhetik gewissermaßen demokratisch als eine „Ästhetik von unten“ anstelle einer „Ästhetik von oben“, die von der Lehrmeinung irgendwelcher Autoritäten bestimmt wurde. Er fragte nicht danach, wie „Wohlgefälligkeit“ sich anfühlt, wie beschaffen dieses Quale sei, vielmehr machte er diese erlebte Eigenschaft zum Kriterium einer Entscheidung. Er stellte Beziehungen her zwischen zwei Größen, physikalischen Maßen einerseits und einer Urteilsskala andererseits. Dieser Ansatz für die äußere Psychophysik sollte sich in der Folgezeit als außerordentlich fruchtbar erweisen. 451
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Diese Methode, Qualia verbal und nonverbal quantifizierbar zu machen, liegt einem großen Teil der psychologischen Forschung zugrunde. Zu erwarten ist, dass auch Beziehungen in der inneren Psychophysik, die dem Verhältnis von Erleben und Hirnprozessen gilt, sich in entsprechender Weise auf quantitativer Weise erfassen lassen. Noch ist es auch dem Hirnforscher nicht möglich, z. B. Schmerz anders zu quantifizieren als durch Skalierung in Fragebögen.403 Hier steht ein großes Forschungsfeld offen, das erst in Ansätzen bearbeitet wird. Als Beispiele lassen sich die Suche nach neuronalen Repräsentationen des Farbraums nennen, in dem erlebnismäßig nach Farbton, Helligkeit und Sättigung unterschieden wird, wobei V4 ein interessantes Hirngebiet ist, oder nach Repräsentationen von Gerüchen, für die bereits neuronale „Attraktoren“ für das Riechhirn modelliert wurden.404 Es ist denkbar, dass für eine Vielzahl von Sinnesempfindungen Entsprechungen gefunden werden können, auch für „Gestaltqualitäten“, die seit Christian v. Ehrenfels phänomenologisch beschrieben werden.405 Letztere haben gemein, dass sie sich auf räumliche und zeitliche Ganzheiten beziehen wie „symmetrisch“, „stetig“ oder „crescendo“, z. T. auch auf unterschiedliche Sinnesmodalitäten wie z. B., „weich“, „warm“ und „rau“. Die Vielzahl der Qualia ist keine ungeordnete Menge, sondern sie bildet ein differenziertes System. Sie sind leicht unterscheidbar und bieten damit die Voraussetzung dafür, dass mit ihnen mental flüssig operiert werden kann. Dass sich Qualia auf oberster Ebene mentaler bzw. hirnphysiologischer Ordnungsbildung befinden, heißt nicht, dass sie keinen Bezug zu lebensnotwendigen Grundfunktionen haben, im Gegenteil. Ein elementares Eigenschaftspaar ist das Angenehme/Unangenehme, das mit elementaren Handlungsbereitschaften verbunden ist, die in der Instinktlehre von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen als Appetenz und Aversion bezeichnet wurden.406 Sie sind schon bei einfachen Organismen zu beobachten und stützen die Annahme von Antonio Damasio, dass Bewusstsein im Sinne von erlebten Gefühlen stammesgeschichtlich uralt ist. Die Bewertung „positiv“ bzw. „negativ“, die wir auch abstrakten Gegenständen gegenüber einnehmen, ist als Variante anzusehen. Sie ist von solch grundsätzlicher Art, dass sie fast alle erlebten Gegenstände in der ein oder anderen Form einfärbt; die bei Stellungnahmen oft geforderte Neutralität ist nur bei bewusst distanzierter Einstellung zu realisieren. Auch das Eigenschaftspaar wichtig/unwichtig hat eine essentielle Bedeutung. Wenn ein Inhalt uns wichtig erscheint, spüren wir es sofort. Er hebt sich wie eine Figur vom Grund ab, Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft sind erhöht. Eine weitere wichtige Eigenschaft ist die „Vertrautheit“. Alles, was uns gut bekannt ist, mutet in bestimmter Weise an und hat einen deutlichen Unterschied zum Fremdartigen. Besonders intensiv macht sich diese Qualität bei der Wahrnehmung nahestehender Personen bemerkbar, aber auch bei dem, was wir unser „Zuhause“ nennen. Ein wiederholt genanntes Quale ist die „Meinigkeit“. Sie betrifft alle Gegenstände, die sich im eigenen Besitz befinden, von der Zahnbürste bis zum Auto. Es ist mit einer Handlungsbereitschaft verbunden, die ihre Wurzeln möglicherweise in der Revier- und 452
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Nahrungsverteidigung hat. Eine weitere wichtige Teileigenschaft ist das Gefühl der Urheberschaft, Autor von Worten, Handlungen oder Produkten zu sein. Wenn wir diese Eigenschaft mit positiver Bewertung verbinden, hebt sich unser Selbstgefühl, wenn wir sie mit negativer Bewertung verbinden, dann empfinden wir Scham. Qualia können also eine Kombination aus mehreren verschiedenen Eigenschaften bilden. Qualia können grobe Klassifizierungen wie die Einteilung der Menschen in Freund und Feind enthalten, sie können aber auch hochgradig differenziert und komplex ausgebildet sein. Qualia verleihen Dingen und Eigenschaften charakteristische, wiedererkennbare Merkmale. Sie erleichtern damit mentale Operationen und die Bewältigung der Lebenswirklichkeit. Ein bemerkenswertes Licht auf Qualia wirft der Umstand, dass es psychische Störungen gibt, bei denen solche Merkmale verloren gehen. Tragisch ist es, wenn die nächsten Angehörigen nicht als solche akzeptiert werden, sondern für Imitationen gehalten werden, weil ihnen die Vertrautheit fehlt. Dramatisch wird es, wenn Teile des eigenen Körpers nicht mehr als eigene erlebt werden, ihnen also das Quale der „Meinigkeit“ fehlt. Ich kannte einen jungen Mann, dem der linke Unterarm fehlte. Er hatte ihn sich mit einer Kreissäge abgetrennt, weil er das Gefühl hatte, dass er nicht zu ihm gehört. Die Großhirnrinde ist histologisch relativ einheitlich aufgebaut. In dieser Gleichförmigkeit wird sie nur noch vom Kleinhirn übertroffen. Eine der großen Fragen ist, wie aus dieser Gleichförmigkeit solch qualitativ unterschiedliche Erlebnisinhalte wie ein glänzendes Rot, die eigene Mutter oder der pochende Kopfschmerz hervorgehen sollen. Es gibt zwar geschätzt 1000 verschiedene Arten von Neuronen und 100 verschiedene Transmitter, es gibt Korrelationen zu Erlebnisformen wie zwischen Dopamin und Glücksgefühlen, aber das Warum bleibt ungeklärt. Der Verweis darauf, dass Modalitäten im Gehirn ortsabhängig sind, vergrößert das Rätsel mehr als dass es eine Lösung näherbringt. Denn warum soll eine Erregung im Okzipitalhirn als eine Farbe, eine Erregung im Temporallappen als Klang, eine Erregung in der Amygdala als Angst empfunden werden? Diese Fragen gehören zu den Geheimnissen, zu denen die Wissenschaften noch keinen Zugang gefunden haben. Festzuhalten bleibt auf jeden Fall, dass Qualia diese je besonderen Eigenarten aufweisen. Wahrscheinlich sind Aufgaben im Bereich der höchsten Organisationsebenen der Hirntätigkeit nur mit ihrer Hilfe zu lösen. Uns fehlen bislang die Methoden und Betrachtungsweisen, die psychologische und physiologische Seite aufeinander abzubilden. Die Behauptung, Qualia seien ein emergentes Produkt komplexer Systeme,407 wirkt eher wie ein Zauberwort als dass sie eine befriedigende Erklärung darstellt. Sie bleibt unbefriedigend, solange sie sich nicht sachnotwendig und logisch herleiten oder empirisch evident machen lässt. Manche verbinden mit dieser Behauptung die Erwartung, Bewusstsein und Qualia ließen sich auf Computer transferieren, und halten die biologischen Grundlagen für entbehrlich. Diese Meinung stellt auf ungesicherter Grundlage den Menschen schlankweg in Frage und 453
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erklärt ihn für technisch ersetzbar. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Diskussion um Qualia, die vielen zunächst rein akademisch vorkommen mag, einen hochbrisanten gesellschaftlichen Stellenwert für eine Zukunft hat, in der die künstliche Intelligenz eine immer stärkere Rolle einnehmen wird (s. Kap. 38).
Abb. 152: Ein großes Rätsel der Qualia besteht darin, wie in den neuronalen Strukturen des Gehirns solch unterschiedliche Erlebnisweisen repräsentiert sein sollen wie bei den hypothetischen Beispielen in der Abbildung. Im erweiterten Kontext bleibt die Frage, wie in dem Weltbild, für das die Physik Vollständigkeit anstrebt, die unbezweifelbare Existenz des Erlebens bzw. der Qualia ihren Platz findet. Der australische Philosoph David Chalmers hält dies für eins der schwierigsten Probleme.408 Albert Einstein wurde im Gespräch mit Herbert Feigl gefragt, ob in der vierdimensionalen Beschreibung des Universums nicht die subjektiven Qualitäten des Erlebens fehlen. Sie bezeichneten im Gespräch das Erleben als das „innere Licht“. Einstein antwortete drastisch: „Ohne dieses ‚innere Licht‘ wäre die Welt nichts anderes als ein Haufen Sch…!“409 Der amerikanische Philosoph Joseph Levine macht diese Erklärungslücke mit dem Vergleich zweier Aussagen deutlich:410 1. 2.
Wasser ist identisch mit H2O. Schmerz ist identisch mit der Reizung von C-Fasern.
Die erste Aussage hat ihren Wert darin, dass Kenntnisse über die beteiligten Elemente und die Art ihrer molekularen Verbindung Eigenschaften von Wasser erklären können. Die zweite Aussage hat keinen vergleichbaren Erklärungswert, weil sie zum Verständnis des subjektiven Quales „Schmerz“ keinen Beitrag liefert. Die Physik hat keine Mittel, diese Schranke zu überwinden, eine „explanatorische Reduktion“ ist nicht durchführbar. 454
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Auch Frank Jackson argumentiert gegen den Physikalismus. Alles physiologische Wissen über die Farbwahrnehmung ist unvollständig, wenn man selbst keine Farberlebnisse hat. Allerdings sieht er keinen Grund für die Annahme, Qualia seien in Bezug auf die physikalische Welt kausal wirksam, und hält sie daher für Epiphänomene.411 Diese Ansicht schließt allerdings ein, dass Menschen sich nicht anders verhalten würden, wenn sie keine Erlebnisse hätten. Das aber ist sehr unwahrscheinlich. Wenn sich am Strand von San Francisco hunderte von Menschen einfinden, um den Sonnenuntergang über dem Pazifik zu erleben und zu jubeln, wenn sich die Sonne in den letzten Sekunden mit einem seltenen grünen Aufleuchten verabschiedet, dann ist das Quale des grünen Scheins Ursache für das Verhalten der Menschen. Es ist kaum evident zu machen, dass auch Zombies ohne Bewusstsein über diesen fernen Fleck im mittelwelligen Spektralbereich jubeln würden. Michael Tye verteidigt den Physikalismus.412 Man könne sich einen Roboter oder Imitator denken, der genauso reagiert wie ein Mensch, der Schmerzen hat. Dieses Argument ist oft anzutreffen, ist aber genauso wenig stichhaltig wie der Turing-Test als Hinweis auf menschliche Intelligenz (s. Kap. 38). In beiden Fällen wird menschliches Verhalten imitiert. Aus dem Irrtum des Beobachters, einen Menschen und menschliches Empfinden vor sich zu haben, zu schließen, dass es sich bei Original und Simulation um gleiche Sachverhalte handelt, stützt nicht den Physikalismus, sondern verdoppelt den Irrtum. Heinz-Dieter Heckmann stellt fest, dass Qualia nicht das repräsentieren, was dargestellt wird, sondern das, was darstellt, auch wenn zur Eigenart von Qualia gehört, dass ich z. B. das Rot der Tomate dem Gegenstand zuschreibe, den ich sehe. Die naheliegende Benennung des Darstellenden, nämlich die Hirntätigkeit, vermeidet Heckmann. Denn er und die anderen Autoren seines Sammelbandes „Qualia“ sind allesamt Philosophen, die weder auf empirische Befunde der Psychologie noch der Hirnforschung Bezug nehmen. So überrascht nicht, wenn er zu dem Ergebnis kommt: „Wir werden keine rundum befriedigende Lösung des ‚Leib-Seele-Problems‘ (oder des ‚Gehirn-Geist-Problems‘) finden.“413 Christoph Koch als Hirnforscher kommt 2005 zu dem Schluss: „Warum sich Qualia so anfühlen, wie sie es tun, bleibt ein Rätsel.“414 Auch mit den Mitteln der psychologischen Forschung scheint die Frage empirisch nicht lösbar zu sein. Der Psychologe Hubert D. Zimmer verweist die Frage zurück an die Philosophie.415 Vermutlich sind Fortschritte nur interdisziplinär zu erreichen, wobei neben Philosophie, Psychologie und Hirnforschung auch die Physik einzubinden ist, für die noch völlig offen ist, wie sie Bewusstsein und Qualia in ein vollständiges Weltbild integrieren kann. Ob dabei das holistische Bild der Quantenphysik hilfreich ist,416 ist sehr fraglich, denn die schöne Vorstellung, dass alles mit allem verwoben ist, verträgt sich zwar mit der Ganzheitlichkeit des Erlebens, nicht aber mit seiner Differenziertheit.
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Abb. 153: 1987 maß ich aus, welche Merkmale eines einzelnen Gesichts innerhalb welcher Grenzen variieren, z. B., wie weit Mund oder Augen geöffnet werden können. Ich schrieb ein Computerprogramm, das die möglichen Werte nach Zufall kombinierte und auf dieser Basis tausende verschiedene Gesichter produzierte. Die Reaktionen von Betrachtern zeigten: Gleichgültig, welche Kombination der Computer bildete – alle Bilder wurden als Ausdruck von Emotionen unterschiedlichster Art wahrgenommen. Anders gesagt: wir empfinden gefühllose Simulationen wie echten Ausdruck von Gefühlen. Schon Karl Jaspers hat auf die als untrennbar erlebte Einheit von Erscheinung und Gefühl in der Mimik hingewiesen.417 Vermutlich wird man niemals herausfinden, ob Roboter Gefühle nicht nur darstellen können, sondern auch haben.
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An diesem Punkte wird die Integrierte Informationstheorie (IIT) des Neurowissenschaftlers Giulio Tononi interessant, die Christof Koch in seinem Buch von 2013 fast wie eine Erleuchtung behandelt. Auch Tegmark nimmt auf ihn Bezug, und zwar aus Sicht der KI.418 Information bedeutet Reduktion von Ungewissheit oder von Entropie. Dies zu erreichen ist eine Hauptleistung des Gehirns. Sie geschieht nach Koch nicht zuletzt über bewusstseinsrelevante Feedback-Bahnen zwischen Frontal- und Okzipitalhirn. Im Erleben findet durch Parallelverarbeitung im Gehirn gleichzeitig Integration und Differenzierung von Information statt. Tononi führt das Maß Φ (Phi) ein, in das beides als Produkt eingeht. Auf einer CD oder einem QR-Code befindet sich differenzierte Information, doch die Integration ist Null, also ist Φ Null. Das Kleinhirn ist hoch differenziert, aber es findet keine Integration statt, seine Leistung wird nicht bewusst. Beim Grand-mal-Anfall eines Epileptikers ist dagegen die Integration durch Synchronisation maximal, aber die Differenzierung ist minimal, was zum Verlust des Bewusstseins führt, auch hier ist Φ Null. Ein hoher Wert für Φ bedeutet ein hohes Maß an Integration in Verbindung mit einem hohen Maß an Differenzierung und stellt damit einen hohen Level des Bewusstseins dar. Tononi hat einen „Bewusstseinsdetektor“ entwickelt, mit dem sich über magnetische Stimulation des Gehirns und Messung des EEG feststellen lässt, wie weit ein Patient bei Bewusstsein ist. Auch Lebewesen mit einfachem Nervensystem haben ein Φ größer Null, also muss ihnen ein gewisser Grad an Bewusstheit zugeschrieben werden. Der evolutionäre Vorteil eines hohen Φ besteht darin, dass es dazu dient, in einer komplexen Umgebung mit ständig neuen Herausforderungen besser zurecht zu kommen. Brisant wird die Theorie dadurch, dass ihr zufolge auch elektronische Netzwerke oberhalb eines bestimmten Komplexitätsgrades Bewusstsein haben, ja, dass überall im Universum, wo simultan Integration und Differenzierung von Information stattfinden, mit Bewusstsein zu rechnen ist. Die Theorie bezieht auch die Qualia ein. Sie postuliert zweierlei: Erstens, dass integrierte Informationen einen vieldimensionalen Qualia-Raum bilden, dessen Dimensionalität gleich der Zahl der verschiedenen Zustände des Systems ist. Zweitens, dass es zwei Arten von Eigenschaften im Universum gibt, die sich nicht auseinander herleiten lassen: das Mentale und das Physikalische. Das ist zwar keine ganz neue Vermutung, neu ist aber der Anspruch, beide Seiten mathematisch fassen zu können. Neben diesen kühnen Annahmen scheint die Frage, warum das Unbewusste nicht ebenfalls bewusst wird, fast marginal, aber zu Unrecht. Nach allen geschilderten Leistungen des Unbewussten müsste ein Φ weit über Null angenommen werden. In der Theorie wird vorgeschlagen, dass dort die Prozesse nicht integrativ genug sind. Das jedoch würde dazu führen, dass man einfacheren Lebewesen die Bewusstheit wieder absprechen müsste, die man ihnen soeben zugestanden hat. Ungelöst bleibt auch bei Tononi, wie sich aus Quantitäten Qualitäten ableiten lassen. Wodurch die Qualia im Kontext der relativ uniformen Strukturen des Gehirns ihre Eigenart und Unterschiedlichkeit beziehen und aufrechterhalten, bleibt ein offenes Problem. Die 457
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meisten Hirnforscher und Neuropsychologen nehmen an, dass die psychologischen und neurologischen Methoden und Termini zwei Annäherungen an das Gleiche sind, das als PPN oder NCC benannt worden ist. Es scheint, dass die bisherigen Methoden den entscheidenden Durchbruch zur Klärung der Qualia-Frage nicht gestatten. Möglicherweise muss das Suchbild geändert werden. Geht man vom Isomorphiegedanken aus, muss nach Strukturen gesucht werden, die der Vielfalt der erlebten Eigenschaften und Dinge entsprechen. Eine Spur könnten die Erregungsmuster von Olfaktogrammen bilden, die möglicherweise bestimmten Geruchsqualitäten entsprechen, s. Kap. 12. Nicht von vornherein auszuschließen ist, dass chemische Moleküle eine Speicherfunktion haben.419 Proteine sind komplex und variantenreich genug, um praktisch unendlich viele Zustände zu codieren. Sollten sie eine Rolle spielen, müsste sich im Kortex ein System von Proteinen finden lassen, für die bislang noch keine Funktion gefunden wurde. Allerdings würden sich dabei neue Fragen stellen, nämlich wie dieser Code mit neuronaler Aktivität und mit dem Erleben in Zusammenhang gebracht werden kann. Schon 1868 schrieb der Physiker John Tyndall: „Nehmen wir beispielsweise an, das Bewusstsein für Liebe sei mit einer rechtsdrehenden Spiralbewegung der Moleküle im Gehirn verknüpft, und das Bewusstsein für Hass mit einer linksdrehenden Spiralbewegung. Wir müssten dann wissen, dass die Bewegung in eine Richtung verläuft, wenn wir lieben, und in die andere, wenn wir hassen. Das „WARUM?“ aber wäre so wenig zu beantworten wie zuvor.“420 Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich trotz der ungeklärten Fragen Einiges dazu sagen lässt, worin der Wert des Bewusstseins und der damit verbundenen Qualia besteht. Qualia machen die erlebten Eigenschaften und Gegenstände leicht unterscheidbar und für mentale Operationen verfügbar. Die Subjektivität der Qualia gehört zur intrinsischen Seite des Individuums. Dass sie nicht kommunizierbar sind, schmälert nicht ihre Bedeutung für das Individuum. Denn ihre Funktion erschöpft sich in ihrer Rolle im mentalen Leben der jeweiligen Person. Ihre allgemeine Bedeutung besteht darin, dass sie für jeden Menschen Bedeutung haben. Qualia sind die „Farben“ der Abstracts, von denen Christof Koch spricht. Was ihnen hirnorganisch auch zugrunde liegen mag, Qualia gehören zur Essenz des Erlebens, omnipräsent und jedem vertraut, eng verbunden mit Bewusstseinsinhalten. Ohne Bewusstsein ist nichts, sagt Christof Koch. Anders gesagt: Ohne Bewusstsein gäbe es nichts, was sich inne wäre, dass etwas ist. Im Popol Vuh der Maya sprechen die Götter: „Wir werden weder Ruhm noch Ehre ernten für all das, was wir geschaffen und gebildet haben, bis es Menschen mit einem fühlenden Wesen gibt.“421 Ohne Bewusstsein wäre, um mit Max Tegmark zu sprechen, die Welt eine „astronomische Platzverschwendung“.422 Qualia machen das Leben erst lebenswert, meint Heinz-Dieter Heckmann.423 Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in ihrer Funktion, sondern sie hat einen Eigenwert, der das Lebensgefühl insgesamt betrifft. Das Leben selbst belohnt ohne alle künstlichen Drogen mit Glücksgefühlen im sozialen Miteinander, im Schenken und Beschenktwerden, in kleinen und großen 458
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Erfolgen. So viel Leid, Schmerz und Misserfolg auch das Leben begleitet, überwiegen doch im Allgemeinen die positiven Erlebnisse, z. T. auch deswegen, weil wir die negativen gern vergessen oder weil wir uns über ihre Überwindung freuen können. Es ist schrecklich, wenn wir im Tal der Tränen gefangen sind, und umso mehr erfahren wir es als Stärkung, wenn wir hindurchgelangt sind. Gewiss, manche finden nicht mehr ohne Hilfe hinaus, und allzu viele Schicksale enden tragisch. Aber die, die es geschafft haben, machen anderen Mut und geben Hoffnung. In der Bilanz bleibt im Allgemeinen ein Überhang dessen, was das Leben lebenswert macht oder am Ende im Rückblick lebenswert gemacht hat: Lebensfreude. Wer will, kann auch darin einen funktionalen Wert im Sinne der Evolution sehen. Denn das überwiegend positive Lebensgefühl trägt sicherlich zu dem unbedingten Lebenswillen bei, der Menschen und Tieren gemeinsam ist. Kurz gesagt: Manche Wissenschaftler halten das Bewusstsein für eine zufällige Randerscheinung neuronaler Vorgänge oder leugnen gar seine Existenz. Andere vergleichen es mit dem Chef eines Unternehmens, der Ziele vorgibt und das Sagen hat, auch wenn er nicht immer weiß, was seine Untergebenen machen. Vermutlich erfolgen im Bewusstsein Kurzfassungen des Wichtigsten, das auf unteren Ebenen gebildet wird, mit denen man mental rasch und effektiv operieren kann. Viele solcher Inhalte haben die Eigenschaft spezifischer „Qualia“. Sie sind die „Farben“ der Kurzfassungen. Das Thema Bewusstsein und Qualia hat an Brisanz gewonnen, seitdem KI-Forscher behaupten, dass künstliche Systeme eines Tages darüber verfügen werden. Denn der Mensch könnte sich durch diese seine Geschöpfe selbst in Frage stellen.
Literatur Chalmers 1996. Donald 2008. Funke & Frensch 2006. Heckmann & Walter 2006. Koch 2005, 2013. Metzinger 2009. Nagel 1974. Pauen 2001. Roth & Strüber 2018. Tegmark 2017.
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Abb. 154: Grassodenkirche von Varmahlid, Island.
Überraschende Klänge auf Island Wir hören nichts von dem brodelnden Magma, das tief unter unseren Füßen die Kontinentalplatten Amerikas und Europas mit erdgeschichtlicher Langsamkeit anfüttert und auseinandertreibt. Es herrschen Einsamkeit und Stille. Auf der Rundreise über Island zwischen riesigen Gletschern und dampfenden Lavafeldern kommt es vor, dass wir hunderte von Kilometern fahren, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Die Fahrt wird von dem permanent mahlenden Geräusch der Reifen auf Schotter begleitet. Bei unseren Wanderungen herrscht eine Ruhe, die mit der weiten baumlosen Landschaft und mit uns selbst zur Einheit wird. Nur manchmal wird sie unterbrochen: vom Schrei eines Vogels, vom rhythmischen Spiel der Wellen mit dem schwarzen Sand der Südküste, vom Schlag der Gischt an der Steilküste im Norden, vom donnernden Rauschen mächtiger Wasserfälle wie Gullfoss und Dettifoss. Im Südwesten entlädt sich in regelmäßigen Abständen mit röhrendem Zischen der Strokkur neben dem alten schlafenden Geysir. In der Bucht Jökulsarlon treiben in majestätischer Langsamkeit die Eisberge, die sich vom Vatnajökul gelöst haben und gelegentlich mit dumpfem Klang aneinanderstoßen. Im Nordosten hört man, eingehüllt in Schwefeldämpfe, das schmatzende Blubbern der Solfataren. Westlich davon führt uns die R1 bei Varmahlid an einem ungewöhnlichen Kirchlein vorbei, das einsam in der Landschaft steht. Die weit herabgezogenen Dachflächen bestehen aus Grassoden, die Seitenwände aus Torf, eine Bauweise, die vor 200 Jahren nicht
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ungewöhnlich, weil billig war. Während wir die wenigen weißen Grabsteine vor der Kirche zu entziffern versuchen, kommt die Pastorin vom Nebengebäude her auf uns zu und lädt uns in das Innere der Kirche ein. Einige wenige Bänke drängen sich in dem kleinen Raum. Neben dem schlichten Altar und einem Triptychon von 1616 gibt ein Fenster den Blick auf die abendlichen Berge der Umgebung frei. Außer für eine kleine bemalte Kanzel ist gerade noch Platz für ein Harmonium, den Orgelersatz für bescheidene Verhältnisse. Meine Frau, geschult auf Klavier und Orgel, reizt das einfache Instrument, und die Pastorin ermuntert sie, etwas aus dem isländischen Gesangbuch zu spielen. Wir sind gespannt, welch fremdartige Musik jetzt erschallen wird. Meine Frau schlägt eine Seite auf – und schaut mich entgeistert an. Sie tritt die Bälge, greift in die Tasten, und es erklingt „Abend wird es wieder“, das bekannteste Lied von Christian Heinrich Rinck, einem deutschen Komponisten aus der Romantik. Die aus der Kindheit vertrauten Klänge treffen uns bis ins Mark. Das hatten wir nicht erwartet, mitten in dieser Welt aus Feuer und Eis im Polarmeer, dem Hort von Wikingern, wo es noch heute ein Ministerium für Elfen und Trolle gibt. „Das ist ein Begräbnislied“, erklärt uns die Pastorin den für uns kryptischen isländischen Text, der an die Stelle des Originaltextes von Hoffmann von Fallersleben getreten ist. Ja, warum nicht. Wir spüren neben der Ruhe und Beruhigung den Trost, den die schlichte Melodie spenden kann. Es stellt sich heraus, dass das Liederbuch eine ganze Reihe adaptierter deutscher Kompositionen enthält, darunter auch Weihnachtslieder, die durch neue isländische Texte ganz andere Sinnzusammenhänge gefunden haben.
44 Wofür brauchen wir die Musik? Anders gefragt: Ist Musik ein überflüssiger Luxus oder hat sie für Individuum und Gesellschaft tiefere Bedeutung? Der Sprachforscher Steven Pinker bezeichnet Musik als biologisch nutzlos, als „akustischen Käsekuchen“. Franz Liszt dagegen meinte: „Die Musik ist als universelle Sprache der Menschheit zu bezeichnen, durch welche das menschliche Gefühl sich allen Herzen in gleich verständlicher Weise mitteilen kann.“424 Musik ist wesentlich älter als die Schrift. Ihre Wurzeln führen tief in die Steinzeit. Zu den ältesten Kulturerzeugnissen, die man kennt, gehören zwei Flöten aus Vogelknochen, die in einer Höhle bei Ulm gefunden wurden und über 40 000 Jahre alt sind. Die Grifflöcher erzeugen eine Tonskala, die wie bei unseren modernen Flöten Ganz- und Halbtöne enthält. Auf einer Rekonstruktion ließen sich Kompositionen von Bach ebenso wie bekannte Kinderlieder spielen. Das Gleiche gilt für eine 19 000 Jahre alte Flöte aus Rentierknochen, die bei Krems an der Donau gefunden wurde. Aus der chinesischen Henan-Provinz gibt es 9000 Jahre alte 461
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Flöten, die dagegen die chinesische Fünfton-Skala aufweisen, die heute noch für die traditionelle chinesische Musik typisch ist. Eckart Altenmüller spricht die Möglichkeit an, dass sich die Charakteristik der Musik über viele Jahrtausende hinweg regional bewahrt hat, mag das aber nicht recht glauben.425 Wirkungen von Musik werden schon in der Antike beschrieben. Orpheus brachte der Sage nach mit seinem Gesang Steine zum Weinen und holte die geliebte Eurydike aus dem Totenreich. Der betörende Gesang der Sirenen in Homers Odyssee lockte Schiffer in den Untergang, ebenso der Gesang der Loreley am berühmten Rheinfelsen. In Politeia, seiner Schrift über den idealen Staat, preist Platon die pädagogische Wirkung der Musik. „Beruht nun nicht eben deshalb … das Wichtigste in der Erziehung auf der Musik, weil Zeitmaß und Wohlklang am meisten in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen?“426 Auch im alten China wusste man um die Wirkung der Musik auf Charakter und Moral und hielt sie unter staatlicher Kontrolle.427 Musik vermag eine große Palette von Emotionen zu erzeugen. Freude, Trauer, Wut, Überraschung, aber auch solche, die schwer zu operationalisieren sind und daher nicht im Grundbestand der Emotionspsychologie aufgeführt werden: Ergriffenheit, Ausgeglichenheit, Ruhe, Lebhaftigkeit, Stolz, Entschlossenheit, Verzweiflung, Erschrecken, Erstaunen, Transzendenz, Zärtlichkeit, Friedfertigkeit, Nostalgie, Trost, Sehnsucht, Macht, Schmerz und Glück. Was wären die Texte von Liedern wie in der obigen Anekdote ohne die passende Melodie, die Gefühl und Stimmung verstärkt und unter die Haut gehen lässt? Was wären Filme ohne die musikalische Begleitung, die den bewegten Bildern ihre emotionale Richtung gibt? Noch stärker im Vordergrund wirkt die Musik in der Oper und dominiert die Handlung mehr, als dass sie sie begleitet. Man denke nur an den ergreifenden Chor der Gefangenen in Verdis „Nabucco“. Oft vollzieht sich in der zeitlichen Gestalt eines Musikstücks ein Gegeneinander oder ein Wechselbad der Gefühle, dem man ausgesetzt ist oder in das man sich musizierend selbst begibt. Nicht zu vergessen ist das Gemeinschaftsgefühl, das man im Orchester oder im Chor erfährt, wenn jeder seinen Teil in das Klangereignis einbringt und sich als Teil des Ganzen fühlt. Altenmüller behauptet, nur Ekel und Verachtung fehlten der Musik in der Palette der Emotionen. Allerdings übersieht er dabei, dass das Gefühl der Aversion sehr wohl erzeugt werden kann, und zwar durch Musik, die als schlecht bzw. schlecht gemacht empfunden wird. Dabei spielt natürlich eine Rolle, welche Form von Musik man mag. Jeder kennt das: Was manche zu Tränen rührt, lehnen andere als Gefühlsduselei ab. Was in der Disco manche in Rausch versetzt, ist anderen als Lärm ein Ärgernis. „Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden,“ dichtete schon Wilhelm Busch in seiner Bildergeschichte, in der sich Gärtner Knoll durch Blasmusik gestört fühlt. Physikalisch gesehen besteht Schall aus Dichteschwankungen der Luft, die sich überlagern und in endloser Folge ein hochkomplexes Frequenzgemisch bilden. Die bewundernswerte 462
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Wofür brauchen wir die Musik?
Leistung des Gehörs, das Reizgeschehen zu analysieren, wurde bereits in Kap. 14 und 15 besprochen. Musik fordert diese Leistung bis an die Grenzen des Menschenmöglichen heraus, insbesondere die Bildung simultaner und sukzessiver Ordnungen, ohne die das Wahrgenommene in ein unerträgliches Chaos münden würde.
Abb. 155: Mikroskopische Aufnahme einer Schallplatte. Man erkennt in dem Ausschnitt der etwa 600 m langen eingepressten Spur die Transversalwellen, die die longitudinalen Schallwellen analog umsetzen. In dieser Form ist der Schallverlauf auch visuell nachvollziehbar. Zu hören ist „Yesterday“ der Beatles von 1965.
Abb. 156: Mikroskopische Aufnahme einer Audio-CD. Zu hören ist das Violinkonzert von Sibelius, gespielt von Anne-Sophie Mutter. Auf der 6 km langen Spiralspur der CD sind die Informationen in Form von eingebrannten Pits gespeichert. Sie bilden den seriellen digitalen Code für akustische Parameter wie Frequenz, Amplitude und Dauer. Anschaulich hat das Bild des Codes nichts mit dem zu tun, was er bedeutet. 463
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Musik entsteht, wie alles andere, was wir wahrnehmen, „im Kopf“, und wird daher für jedes Individuum von seinen biologischen wie kulturellen Voraussetzungen geprägt. 97 % der Deutschen sind an Musik interessiert. Ganz unmusikalisch, man spricht von „kongenitaler Amusie“, sind weniger Menschen als solche mit einer Störung des Farbensinns. Hirnanatomisch und -physiologisch gibt es für die Musik eine Aufgabenteilung, die der bei der Sprache entspricht: So wie bei den meisten Menschen die linke Hirnhälfte für die Analyse und Synthese von Sprachinhalten verantwortlich ist, die rechte Hälfte für die Prosodie, also für den Sprachklang, so ist hinsichtlich der Musik die linke Hirnhälfte für Analyse und Rhythmus zuständig, die rechte für Tonhöhen und Klangfarben. Die Broca-Region, die ein wichtiges Zentrum für das Sprechen darstellt, wird auch beim Musizieren stark beansprucht. Konsonante und angenehme Musik führt zur Aktivierung anderer Hirnbereiche als dissonante und unangenehme Musik.428 Bei Berufsmusikern werden die beanspruchten Hirnareale messbar erweitert. Bei Pianisten und Geigern sind ebenso die motorischen und prämotorischen Areale für die Finger vergrößert. Altenmüller behauptet wohl zu Recht, dass das Musizieren auf professionellem Niveau das Schwierigste ist, das ein Mensch vollbringen kann. Seit den Zeiten von Liszt und Paganini gilt schwer als schön. Wenn Vladimir Horowitz 20 bis 30 Noten pro Sekunde spielt, erfordert das 400–600 koordinierte motorische Einzelaktionen.429 Die Fingerfertigkeit ist bis auf wenige Millisekunden synchronisiert, automatisiert durch jahrelanges Üben. Die Aufmerksamkeit des Pianisten kann sich darauf richten, dem Werk Ausdruck zu verleihen. Virtuoses Musizieren verlangt allerdings seinen Preis. Dieser besteht nicht nur aus dem erheblichen Zeitaufwand, der mit täglichem Üben verbunden ist, nicht nur aus dem Druck ehrgeiziger Eltern, der z. B. dem Pianisten Lang Lang das kindliche Leben fast unerträglich gemacht hat. Nicht selten kommt es zu einer „Musikerdystonie“. Sie besteht aus Krämpfen und anderen motorischen Störungen in Bereichen, die besonders beansprucht werden. Der erste bekannte Fall war Robert Schumann, der seinem Tagebuch anvertraute: „Das Clavier wollte gestern nicht gehen, es war, als hielte mich Jemand am Arme.“430 Erfolgen Fehler, so brennen sie sich in das prozedurale Gedächtnis ein, und die Angst vor Versagen führt zum Teufelskreis. Fatal ist, wenn die Finger sich nicht mehr unabhängig voneinander bewegen lassen. Das kann passieren, wenn die Kortexareale für die Finger (s. Abb. 25) sich durch übertriebenes Üben so weit ausdehnen, dass sie sich gegenseitig überlappen. Dann wird die präzise Einzelansteuerung der Finger gestört. Die Entwicklung der Virtuosität von Musikern stößt an die Grenzen des Menschenmöglichen und bei ihrer Überschreitung zu Berufsunfähigkeit. Das Publikum hat an Höchstleistungen seinen Spaß, und manche Musiker leisten ihm Genüge. Kaum hatte der Geiger David Garrett den Hummelflug von Rimski-Korsakow in 65,25 Sekunden fehlerfrei durchgespielt, übertraf ihn Ben Lee mit 64,21 Sekunden. Übertriebenes technisches Training ist riskant und kann Karrieren zerstören. 1–2 % der Berufsmusiker sind von Dystonie betroffen. Der Gitarrist Roman Viazovskiy brauchte 10 Jahre, um sie zu 464
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überwinden. Dass in Musikerkreisen die Bezeichnung „virtuos“ oft abfällig gebraucht wird, dient nicht zuletzt dem Selbstschutz. Der musikalische Maßstab wird vielmehr in Interpretation und Ausdruck gesehen, einem unendlichen Feld von Qualitäten und Nuancen, in das hineinzufinden auch für Hörer eine Bereicherung bedeutet, und nicht in dem eindimensionalen Stoppuhr-Parameter Geschwindigkeit. Was ohne solche Interpretation verloren geht, kann man sich an einer Komposition zu Ohren bringen, die Conlon Nancarrow für ein mechanisches Klavier geschrieben hat, weil dieses nicht von den Grenzen menschlicher Sensomotorik beschränkt wird.431 Die vielleicht älteste Anwendung von Musik besteht in Wiegenliedern, die in allen Kulturen verbreitet sind. Oft ist es nur ein Singsang in wenigen Tönen, oft sind es einfachste Melodien im Dreivierteltakt, die das Kind beruhigen, unterstützt von einem körperlichen Wiegen, das die Bewegungen fortsetzt, die das Kind im Mutterleib erfahren hat. Wiegenlieder fördern den Schlaf und die Bindung an die Eltern. Cortisol im Speichel korreliert mit dem Wachheitsgrad des Babys. Bei überwachen Babys wird er durch Wiegenlieder reduziert, bei niedrigem Wachheitsgrad aktiviert.432 Viele Kompositionen, ob instrumental oder vokal, haben einen Verlauf, der in kleinem und großem Maßstab als Wechselspiel von Spannung und Entspannung empfunden wird. Dies kann durch den Melodieverlauf hervorgerufen werden, durch bestimmte Akkordfolgen, etwa vom Dominantseptakkord zur Kadenz, durch An- und Abschwellen der Lautstärke in crescendo und decrescendo oder durch Elemente des Metrums, durch ritardando und Fermate. Mit jedem Takt wird durch die regelmäßige Betonung ein Puls erzeugt, der an den Herzschlag mit seinem permanenten Wechsel von Systole und Diastole oder an den Wechsel von Ein- und Ausatmen gemahnt. Kaum etwas gehört so eng zum Leben wie Spannung und Entspannung, denn jede Aktion unserer Muskeln folgt diesem Wechsel. Auch für die dynamische Wirkung von Werken der bildenden Kunst ist dieses Wechselverhältnis hervorgehoben worden.433 Im Allgemeinen ist es für die Wissenschaft schwierig, die komplexen Wirkungen von Musik objektiv zu beobachten. Altenmüller hat eine besondere Wirkung mancher Musik ausgewählt, die sich nur gelegentlich einstellt, aber gut beobachten lässt, den sog. Chill-Effekt.434 Er hat nichts zu tun mit dem in der Jugendsprache gebräuchlichen „chillen“, wo es so viel wie Abhängen, Nichtstun bedeutet. Ganz im Gegenteil dazu meint Chill ein Gefühl intensiver Erregung und ein Frösteln, das nur wenige Augenblicke anhält und sich typischerweise mit „Gänsehaut“ verbindet, dem Aufrichten der Haare etwa an den Armen, also einer Reaktion des autonomen Nervensystems, das nicht der Willkür unterliegt (s. Kap. 8). Im Allgemeinen scheint es mit der Ausschüttung von Glückshormonen im limbischen System verbunden zu sein. Allerdings kann es bei positiver wie bei negativer Bewertung der Situation auftreten, sowohl bei dem Geräusch, das beim Kratzen auf einer Tafel entsteht wie bei einem überwältigenden Erlebnis. Viele Menschen kennen solche Chill-Reaktionen aus Erfahrungen mit bestimmten Musikstücken. 465
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Beispielsweise wurde festgestellt, dass beim Lacrimosa im Mozarts letztem Werk, dem Requiem, sich bei der Mehrzahl der Probanden subjektiv dieses intensive Gefühl einstellt, verbunden mit einer Absenkung des Hautwiderstandes und einer Aufrichtung der Haare. Altenmüllers ursprüngliche Absicht war, Chill-Reaktionen unabhängig vom kulturellen Hintergrund aufzufinden und eine universell wirksame Chill-Musik zu komponieren. Er sieht sich hier einem Ursprung der Musik auf der Spur. Er meint, dieses Phänomen als evolutionsbiologisches Relikt erklären zu können. Bei Affenkindern sträuben sich die Haare, wenn die Mutter ruft, ebenso bei einem Adlerschrei.
Chill im Gorillahaus Wir sind mit den Enkeln im Gorillahaus des Zoos, weil wir gelesen haben, dass vor wenigen Tagen ein Junges geboren wurde. Nun drücken sich die Enkel an der dicken Glasscheibe die Nasen platt, aber vom Affenbaby ist nichts zu sehen, weil die Mutter sich in der hintersten Ecke versteckt hat und uns den Rücken zukehrt. Im Vordergrund hat sich der Gorillamann breit gemacht und schaut, die Arme auf die Knöchel gestützt, die Besucher grimmig an. Etwas abseits sitzt ein halbwüchsiges Gorillakind und beobachtet die Szene. Unsere Enkel gestikulieren, pochen an die Scheibe und hoffen auf irgendeine Weise zu erreichen, dass sich das Weibchen mit dem Jungen herumdreht. Doch stattdessen geschieht etwas Unerwartetes. Der Gorillamann geht langsam einige Schritte zurück. Dann nimmt er Anlauf und springt mit der vollen Wucht seiner geschätzt 250 Kilogramm mit der muskelbepackten Schulter gegen die Scheibe, dass es dröhnt und das Haus erzittert. Wir schreien auf und ziehen uns erschrocken zurück, froh, dass die Panzerglasscheibe hält. Und während der Silberrücken sich in aller Ruhe wieder hinsetzt und seine Größe präsentiert, starrt das halbwüchsige Junge wie gebannt mit aufgerissenen Augen auf seinen Vater, und es sträuben sich ihm die Haare.
Phänomenologisch lässt sich eine Chill-Situation vielleicht am ehesten damit beschrieben, dass uns etwas erregt und uns dabei zugleich erstarren und erschauern lässt, während wir Gänsehaut bekommen. Etwas überwältigt uns und wir finden keine Antwort darauf, als abzuwarten, dass wir uns wieder fangen. Wirkungen von Musik sind seit alters her als Therapeutikum bei seelischen Erkrankungen bekannt. So ließ schon vor 3000 Jahren König Saul den jungen David kommen, damit dessen Harfenspiel seine Depressionen vertreiben solle. Schamanen verwenden gleichförmige musikalische Muster, um Trance zu erzeugen und Heilkräfte zu beschwören. Die „Goldbergvariationen“ schuf Johann Sebastian Bach auf Verlangen eines kranken Grafen in Leipzig, der sich 466
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sanfte und muntere Klänge wünschte, zu spielen von dem 14-jährigen Cembalisten Johann Goldberg. In der Gegenwart gibt es Angebote von der „musikalischen Hausapotheke“ mit klassischer Musik bis zu esoterischen Synthesizerklängen, die bei unterschiedlichsten Krankheitsbildern helfen sollen. Altenmüller betont, dass es keine pauschalen Rezepte gibt, allein schon deshalb, weil nicht jeder klassische Musik bzw. Synthesizerklänge liebt, sondern dass der Musiktherapeut unter Mitwirkung des Patienten die jeweils angemessene Musik finden muss. Besonders wirksam ist aktives Musizieren, denn das eigene Bewirken von Musik stärkt das Selbstgefühl. Hier ist eine Parallele zur freien Kunsttherapie zu sehen.435 In der Musiktherapie wird der Zusammenhang aufgegriffen, der zwischen dem Metrum der Musik und den Rhythmen des Lebens (besonders Puls, Atem und Gehen) besteht. Die Ordnung der Musik wird auf das innere Chaos angewandt, mit dem es die Psychotherapie zu tun hat.436 Musikalische Notationen sind voller Bezeichnungen, die sich sowohl auf motorische Bewegung wie auf psychische Bewegtheit beziehen. Andante nimmt Bezug auf ruhiges Gehen, adagio bedeutet nicht nur langsam, sondern zugleich ruhig, allegro bedeutet nicht nur schnell, sondern zugleich lebhaft. Bezeichnungen wie forte oder piano geben technisch die Lautstärke an, haben aber zugleich den Sinn von stark bzw. zart. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Bezeichnungen, die dem Interpreten explizit emotionale Hinweise geben: espressivo (ausdrucksvoll), con sentimento (mit Gefühl), affettuoso (leidenschaftlich), animoso (beherzt), dolendo (schmerzerfüllt), grave (ernst), lacrimoso (traurig), amabile (lieblich), vivace (lebhaft). Der Musiktherapeut und Neuropsychologe Wolfgang Mastnak stellt fest: „Klang und Psyche entsprechen sich qualitativ.“437 Wenn man „intakt“ ist, ist man in Ordnung. Gerät das Leben „außer Takt“, ist es gestört. Das Leben ist voller Rhythmen, und die Musik nimmt sie auf. Der Puls des Herzens, das regelmäßige Ein und Aus des Atems werden seit Urzeiten mit dem Leben und der Seele in Zusammenhang gesehen und finden sich als Zeitgeber in der Musik wieder, ebenso wie Gehen, Schreiten und Laufen, Verharren und Voranstürmen. Im Tanz wird alles zur Einheit. In Schwingung und Beschwingtheit löst sich manche Erstarrung. Der Tanz erzeugt auch Übereinstimmung und Gemeinschaft. Über die individuelle Erfahrung hinaus ist es die Synchronisation mit der Bewegung des Tanzpartners oder der Mittänzer, die zu einer Einheit mit Anderen führt. Wohl schon seit Urzeiten beschwor der Tanz um das Lagerfeuer ein intensives Gemeinschaftsgefühl, befeuert von Trommelklang und Gesang. „Die rhythmische Synchronisation von Gruppen ist vermutlich eine der mächtigsten Wirkungen von Musik“, schreibt Altenmüller.438 Beim Tanzen wird Oxytocin freigesetzt, was das Gruppenerlebnis stärkt, das gleiche Hormon, das die Verbundenheit zweier Menschen stärkt. Vielleicht nirgends sonst außer in der Liebe und in der Freundschaft tritt das Individuum so weit aus der Isolation seiner Subjektivität heraus wie unter der synchronisierenden Wirkung des gemeinsamen Erlebnisses von Musik und Tanz. 467
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Abb. 157: Anfang 1990 erklärt Litauen seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion, kurz darauf auch Lettland und Estland. Damit beginnt der Zerfall der Sowjetunion. Im August 1990 – noch hat Moskau die Unabhängigkeitserklärungen nicht anerkannt – gedenken die Litauer des Hitler-Stalin-Pakts vom 23.08.1939, der zur Folge hatte, dass die baltischen Staaten von der Sowjetunion vereinnahmt wurden. An der Ostsee entzünden sie große Feuer, tanzen und singen Heimatlieder. Selten habe ich Musik als Ausdruck der Verbundenheit in solcher Intensität erlebt. 2022 ist die Sorge groß, dass Russland den Ukrainekrieg ausweitet und ihre Länder erneut annektieren will, während die Russen beim nahegelegenen Kaliningrad Übungen für ballistische Atomraketen abhalten. Bei Kindern, die mit klassischer Musik aufwachsen, meint Altenmüller eine mit dem Lebensalter zunehmende Bevorzugung komplexer Musik festzustellen. Bei 10-jährigen konstatiert er Vorliebe für Mozart und Barockmusik, bei 14-jährigen für Schumann und Brahms, bei 17-jährigen für Debussy und Ravel. Neuere Musik wie die von Schönberg und Webern sieht er als derart hyperkomplex an, dass selbst manche professionelle Musiker Probleme haben, die Komplexität mental zu reduzieren, Schemata zu erkennen und die Musik im Gedächtnis zu behalten.439 Es wird vermutlich nicht vielen Liebhabern der Musik von Bach und Händel gefallen zu hören, dass sie in ihrem Musikverständnis auf der Stufe von 10-jährigen stehengeblieben seien. Altenmüllers Behauptung hängt wohl mit einer professionsbedingten Überbewertung neuer Musik zusammen. Kompositionen von Schönberg und Webern sind rationale Konstruktionen mit Innovationsanspruch, die eine kognitive Herausforderung bilden. Ob man sich dieser 468
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stellen will oder nicht, muss jeder selbst entscheiden. Während der Musikausbildung meiner Frau habe ich als musikalischer Trittbrettfahrer jahrelang neue Musik gehört und von ihren Hintergründen erfahren. Das war mir interessant, zugleich aber wurde mir bewusst, was verloren geht, wenn unsere gewachsene Musiktradition über Bord geworfen wird: der perlende Fluss von Melodien, der Lauf der Akkorde durch Harmonie und Disharmonie, die lebendige Vielfalt von Rhythmen, der emotionale Reichtum. Bezeichnend ist, dass Altenmüller selbst in allen Kapiteln, die die emotionale und therapeutische Wirkung von Musik behandeln, an keiner Stelle Beispiele etwa von Schönberg, Webern oder Berg hinzuzieht, sondern vor allem solche von Mozart und Bach. Altenmüller folgt Schönbergs Meinung, wenn er sagt, die neue Musik müsse nur häufiger gespielt werden, dann würde sie im Laufe der Zeit auch allgemeine Akzeptanz erfahren. Ich bin skeptisch und denke, dass den Schwierigkeiten mehr zugrunde liegt als eine Beharrung in Hörgewohnheiten. Es lohnt sich, dem inzwischen über 100 Jahre alten Problem nachzuspüren, zumal sich konstruktive Perspektiven abzeichnen, die ein Außenseiter unbefangener äußern kann als ein Insider in seinem soziokulturellen Kontext. Arnold Schönberg schuf zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Musik, die mit allen Traditionen der Klassik brach. Seine Zwölftontechnik war atonal, gab die Dur- und Moll-Tonalität mitsamt allen Tonarten auf und behauptete eine Gleichwertigkeit von Konsonanzen und Dissonanzen. Rhythmus, Metrum und Takt und damit die überkommene Ordnung der zeitlichen Bewegung wurden, weil als Einschränkungen gesehen, aufgelöst. Seine Schüler Anton Webern und Alban Berg führten die Entwicklung fort, in der zweiten Wiener Schule und ab 1950 in den Darmstädter Ferienkursen. Die atonale Kompositionstechnik setzte sich in serieller Musik fort, Geräusch und Zufall wurden emanzipiert. Tonales Komponieren bezeichnete Webern schon 1932 als „gestorben“, in der Darmstädter Schule galten bereits teilweise Rückfälle wie bei Hindemith und Strawinsky als reaktionär. Innerhalb der neuen Musik entwickelte sich ein heftiger Dissens, der nicht geringer war als der gegenüber der Hörerschaft. Theodor Adorno, Philosoph und Musiker, mischte sich wirkungsvoll ein. Die 12-Ton-Methode unterstütze zwar den Komponisten, nicht aber den Hörer. Adorno stellte fest: „Die Stimmigkeit der Zwölftonmusik ist nicht unmittelbar hörbar – das ist der einfachste Name für jenes Moment des Sinnlosen an ihr.“ Bei seinem Lehrer Alban Berg konstatiert Adorno dagegen tonale Elemente und Abwendung von Schönbergs Konsonanzverbot, womit er „über eine gewisse Fasslichkeit des Ausdrucks verfügt, die Brücken zum Hörer schlägt“.440 Die Entwicklung der musikalischen Avantgarde verlief turbulent. In den Darmstädter Ferienkursen wurde schließlich Schönberg selbst als reaktionär bezeichnet, nachdem er kein Verständnis für die serielle Technik aufbrachte. Die permanente Forderung, Kunst müsse neu sein, führte zu immer rascheren Brüchen mit dem jeweils Entwickelten, bis nach Minimal Music, Postmoderne und Postserialismus die Forderung nach Neuheit selbst in Frage gestellt wurde. Ursula Petrik hält die Vorstellung eines Fortschritts in der Musik ohnehin für unangemessen, 469
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weil es kein Ideal gibt, an dem sich der Fortschritt messen ließe. Gleiches könnte man für andere Formen der Kunst feststellen. Kunst entwickelt sich in endlosen Verzweigungen, nicht auf ein Ziel hin. Hier ist ein Unterschied etwa zu Technologie und Medizin zu sehen, in denen sich Fortschritt als Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen zeigt. Fortschritt in der Musik muss erst recht in Zweifel gezogen werden, wenn sich die Entwicklung vom Menschen wegbewegt. Eine Hinbewegung zum Menschen könnte zu kommenden Paradigmen gehören. Das ist allerdings schwer vorstellbar, solange Entfremdung und Provokation als implizite Gütekriterien eines l’art pour l’art gelten und von Protagonisten ausdrücklich angestrebt werden. Wenn ein Gegenwartskomponist wie Mieczysław Weinberg sagt: „Die Melodie ist das Wichtigste, denn sie gibt jedem Stück ein individuelles Gesicht“, läuft er bereits Gefahr, sich ins Abseits der Avantgarde zu stellen.441 Thomas Adès muss sich von der Musikkritikerin Eleonore Büning den Vorwurf eines „plüschigen Klingklangmilieus“ gefallen lassen, um als Kontrast zur gedankenreichen Zwölftonmusik Schönbergs herzuhalten.442 Dem Publikum wurde seitens der Komponisten Kunstverständnis und Urteilsfähigkeit abgesprochen. Beiderseitiger Rückzug führte die neue Musik in die soziale Isolation. Dass es heute keine lauten Proteste mehr gegen neue Musik gibt, ist nicht unbedingt ein Zeichen für gestiegene Akzeptanz, sondern eher für gleichgültige Ignoranz. „Der heutige Hörer wagt schon allein aus Furcht, als intolerant und konservativ zu gelten, kaum noch, sich abfällig zu einem Musikstück zu äußern, das ihm innerlich widerstrebt.“443 Das Publikum bleibt einfach fern oder wechselt den Sender, nur eine Minorität bevorzugt avantgardistische Klangwelten. Die klassische Musik stand zumindest zeitweise vor einem vergleichbaren Problem. Martina Bergler kommt in ihrer Dissertation von 2001 zu dem Ergebnis, dass Radioprogramme mit klassischer Musik eine überwiegend ältere Hörerschaft haben, die mit dem Versterben dieser Klientel verschwinden werden.444 Allerdings kommt die FAZ 2018 zu dem Ergebnis, dass sich der Trend umgekehrt hat und in Deutschland mehr Menschen klassische Musik hören als je zuvor.445 Der Dirigent Kent Nagano sieht in Schönberg eine Fortsetzung der klassischen Musik.446 Das ist im Sinne der „neuen Musik“ sicher gut gemeint, aber er tut der klassischen Musik damit einen Bärendienst. Sein Buch ist ein flammendes Plädoyer für den Erhalt der Musik von Bach bis Mahler, doch es besteht die Gefahr, die gerade gewonnenen Leser und Hörer wieder zu verlieren, wenn sie in der Entwicklung zu Schönberg und seinen Nachfolgern Gegenwart und Zukunft der Musik sehen sollen. Schon Igor Strawinsky warnte seinen Kollegen Schönberg, sich in einer „Sackgasse“ zu verlieren. Interessant ist der Vergleich mit außereuropäischen Musikkulturen. Bei solchen Vergleichen wird gern auf die Andersartigkeit etwa afrikanischer Musik oder der Gamelan-Musik auf Bali verwiesen, um zu beweisen, dass westliche Musik nur auf Hörgewohnheiten beruhe. Doch der Vergleich führt auch auf die Spur von Universalien. Afrikanische Musik enthält nicht unsere 470
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Tonalität, aber eine Vielzahl eigener Elemente, die durch das Prinzip Wiederholung wiedererkennbare Gestalten erzeugt. Vor allem ist sie durch ausgeprägte Rhythmik gekennzeichnet, die eine Einheit mit dem Tanz bildet und auch außerafrikanisch ankommt. Der Jazz hat durch Verbindung dieser Musik mit europäischen Instrumenten und ihrer Tonalität eine eigene Musikgattung hervorgebracht. Die Gamelan-Musik, mit Gongs, Xylophonen, Klangschalen und Saiteninstrumenten ausgeführt, weist teilweise Verwandtschaften mit der tonalen Musik auf, arbeitet mit Wiederholung und Variation und enthält eine Rhythmik, die eine Einheit mit den Bewegungen der Tänzerinnen bildet. Von Europäern wird die Wirkung dieser Musik mit religiösem Hintergrund oft als mystisch beschrieben. Die Klangbilder der verwendeten Gongs etwa sind teilweise harmonisch im Sinne ganzzahliger Obertonverhältnisse, teilweise disharmonisch und erzeugen oft Schwebungen durch leicht differente Schwingungsverhältnisse.447 Seit Ende des 18. Jahrhunderts hat der Gong Eingang auch in westliche Orchester gefunden. Sein sparsamer Einsatz in Aufführungen entspricht dem besonderen Effekt, den er auslöst. Aufschlussreich ist auch ein Vergleich mit den Revolutionen im Bereich der Bildenden Kunst, die zeitgleich mit denen der „Neutöner“ um etwa 1900 begonnen haben und trotz mancher Widerstände inzwischen in der Gesellschaft angekommen sind – mehr, als es manchem Gegenwartskünstler recht ist, der Kunst als permanente Störung auffassen möchte. Die klassische Moderne nahm Abschied vom Zwang zur gegenständlichen Darstellung. Form, Farbe und Bewegung entwickelten sich zu autonomen Kategorien. Auch wenn manche Betrachter immer noch wissen möchten, „was das darstellt“, haben viele andere die Konzentration auf Aspekte verstanden, die ohne semantische Ablenkung den Betrachter zum Mitspieler machen, weil sie etwas in ihm ansprechen und herausfordern: der Einbezug eigener Bewegung in ein Kunstwerk wie auf den „Floating Piers“ von Christo, die Emotionalität der Farben, deren Vielfalt etwa in Wassily Kandinskys Kompositionen aufeinander trifft, die Bewegtheit der Spuren in Jackson Pollocks Wandbildern, die Auflösung der Dichotomie von Innen und Außen in Skulpturen von Henry Moore, das Gleichgewicht von Asymmetrien in Piet Mondrians Gemälden, das Verhältnis von Spannung und Entspannung in Plastiken von Constantin Brancusi, der permanente Widerspruch zwischen der Flächigkeit und der räumlichen Wirkung in Zeichnungen und Gemälden aller Epochen.448 Bei den meisten Werken kann der Betrachter in emotionaler oder anschaulich denkender Hinsicht etwas entdecken, das ihn anspricht oder herausfordert. Wenn nicht, kann er den Blick abwenden und auf etwas richten, das ihn mehr interessiert. Diese Option hat der Hörer in einem Konzert nicht. Wenn ihn die Musik ärgert, sitzt er gefangen auf seinem Platz, den vorzeitig zu verlassen sich nicht schickt, und die Aversion steigert sich mit jeder Minute, die ihm nach seiner Einschätzung gestohlen wird. Schönberg glaubte, seine Pierrot-Musik werde nach 50 Jahren Volkslied werden. Webern meinte, dass seine Melodien eines Tages der Briefträger pfeifen werde. Doch diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Die ersten Aufführungen Schönbergs führten bei den Hörern zu 471
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turbulenten Missfallenskundgebungen. Dies setzte sich in der Folge fort. Begeisterung darüber, dass diese Musik wieder auf die Schulbank oder in „metamusikalische Räume“ versetze, blieben die Ausnahme. Der Musikkritiker Korngold schrieb, die tönenden Folgen bestünden nur aus Negationen jeder Syntax und Tonalität, seien „ohne Zusammengehörigkeit nicht zusammenfassbar… bleiben uns stumm, starr, leer, ausdruckslos. Sie sind das Resultat eines mit geistreicher Konsequenz verfolgten Irrtums“. Auch Max Reger schrieb, da käme er nicht mehr mit. „O, es ist zum Konservativwerden.“ Adorno sprach vom „großartigen Misslingen“.449 Schönberg ließ sich nicht beirren, weil er die Atonalität als „historische Notwendigkeit“ sah. Er gründete einen „Verein für musikalische Privataufführungen“, dessen Ziel die „Erziehung zum Hören und Verstehen moderner Musik“ war. Er betonte „Fasslichkeit“ als Kompositionsprinzip. Martin Eybl resümiert 2004, der Begriff der Fasslichkeit demotiviere die Hörenden, „indem er ihn oder sie zur permanenten Unzulänglichkeit verdammt. Wer lediglich Teilmomente der Ordnung erfasst, jedoch erfährt, dass Fasslichkeit deren höchstes Prinzip sei, muss an seinem Auffassungsvermögen zweifeln.“450 Die Proteste der Hörerschaft bestehen nicht mehr aus Randale, mit der sich Schönberg anfangs konfrontiert sah, es ist stiller Protest geworden, wie Petrik in ihrer Dissertation von 2008 feststellt. Der Ablehnung moderner Musik wurde mit dem Argument begegnet, dass die Tonsprache „ihrer Zeit voraus sei“ und erst von späteren Hörergenerationen verstanden werden könne. Derartiges war an der Rezeption und Würdigung von Beethovens Spätwerk beobachtet worden. Auch J. S. Bach war von seinen Zeitgenossen nicht die Würdigung zuteilgeworden, die ihm postum entgegengebracht wurde. Solche Einzelbeobachtungen erlauben jedoch nicht für jeden Fall von Innovation eine Vorhersage künftiger Akzeptanz. Die Musik der „Neutöner“ verkauft sich auch nach 100 Jahren schlecht. Nach wie vor werden viele Konzertprogramme so zusammengestellt, dass neue Musikstücke unauffällig in klassische hineingemixt werden, um ihnen eine Chance zu geben, ohne die Besucher zu vergrämen. Aber was genau liegt der verbreiteten Aversion zugrunde, die Petrik feststellt? Sind es nur die viel zitierten „Hörgewohnheiten“, ein Begriff, der sich mit der Annahme verbindet, man könne sie durch entsprechende Schulung in beliebige Richtung lenken? Schönberg kannte offenbar nicht die Untersuchungen von Helmholtz und Stumpf zur Klangwahrnehmung und zum Konsonanzphänomen, die nahelegten, dass es sich bei der Tonalität nicht um ein beliebiges System handelt, das einfach ausgewechselt werden kann. Schönberg kannte nicht den empirisch festgestellten Unterschied zwischen Hörgewohnheit und Hörempfindung. Vielmehr proklamierte er die Gleichwertigkeit von Konsonanz und Dissonanz wie einen Glaubenssatz und fand zahlreiche Jünger bis in die Gegenwart. Heute wäre es naiv, an die beliebige Manipulierbarkeit musikalischer Präferenzen zu glauben. Bei der Gleichsetzung von Konsonanz und Dissonanz geht das Spannungsverhältnis verloren, auf dem die tonale Musik aufbaut, wie es sich etwa beim Verhältnis von Tonika und 472
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Dominante zeigt. Wenn fast nur noch dissonante Klänge aufeinander folgen, findet der Hörer zu keinem strukturierten Ganzen. Der Hinweis, dass auch afrikanische Musik keine Tonarten kennt, lässt außer Acht, dass dort allein schon der stark betonte Rhythmus den Klangverlauf gliedert, während die „Neutöner“ auch auf regelmäßigen Rhythmus verzichten, weil er die Freiheit der Komposition angeblich einengt. Petrik weist darauf hin, dass bei der Diskussion um Tonalität oft vergessen wird, dass es nicht um austauschbare Moden geht, sondern um ein „psychophysiologisches Phänomen“, bei dem Wahrnehmung und Gedächtnis zusammenhängende Ganze (Gestalten) bilden. Die ganzzahligen Frequenzverhältnisse bei Oktave (1:2), Quinte (2:3) und Quarte (3:4), große Terz (4:5), kleine Terz (5:6), hatte schon Pythagoras am Monochord festgestellt. Das geschah allerdings innerhalb eines kosmischen Weltbildes, das mit seinem Zusammenbruch auch die Allgemeingültigkeit der Harmonielehre in Frage stellte. Tatsächlich hatte Pythagoras ein Prinzip entdeckt, das nicht nur physikalisch, sondern auch psychophysiologisch begründet ist. Zwar meint Altenmüller, dass wir in der tonalen Musik immer noch die Musik des antiken Arkadien zu hören meinen und spricht ihr die universale Wirkung ab. Inzwischen weiß man aber, dass die harmonischen Frequenzverhältnisse wahrnehmungsmäßig prägnante Sonderfälle in der unendlichen Vielfalt möglicher Mehrklänge darstellen. Fast alle Musikinstrumente sind durch spezifische Obertöne gekennzeichnet. Sie entsprechen den harmonischen Verhältnissen, aber in unterschiedlicher Gewichtung, die als „Formanten“ bezeichnet werden. Instrumente mit vielen Obertönen erzeugen einen brillanten, Instrumente mit wenigen Obertönen einen dumpfen Klang. Die Formanten bilden die Voraussetzung dafür, dass das Gehör Musikinstrumente unterscheiden kann. Dazu ist auch der Laie imstande, selbst wenn ihm die genannten Zusammenhänge nicht bewusst sind. Wichtig ist, dass die Obertöne einen übergreifenden Ordnungsrahmen sowohl für die Struktur der Tonarten wie für den Klang unterschiedlicher Instrumente und Stimmen bilden. Interessant ist, dass diese Frequenzverhältnisse, um „stimmig“ zu klingen, nicht unbedingt mathematisch perfekt sein müssen. Das beginnt schon beim Einzelton. Zahlreiche Töne des Klaviers werden durch Anschlagen von zwei oder drei Saiten erzeugt. Der Klavierstimmer achtet darauf, dass zwischen den zusammengehörigen Saiten ein geringer Frequenzunterschied besteht. Dadurch entsteht die sog. „Schwebung“, ein leichtes An- und Abschwellen der Lautstärke. Auch hier kommt es auf Feinheiten an. Ist der Unterschied zu groß, wird der Ton rau. Eine der Meisterleistungen von Johann Sebastian Bach ist „Das wohltemperierte Klavier“. Es ist eine Sammlung von Kompositionen durch alle Tonarten hindurch. Sie beruhen auf einer Stimmung des Klaviers in Anlehnung an Andreas Werckmeister, die von den mathematisch exakten Frequenzverhältnissen in systematischer Weise abweicht. Nur dann nämlich ergeben Terz und Quinte in allen Tonarten einen Wohlklang. Die wohltemperierte Stimmung von Tasteninstrumenten gilt bis heute als Standard, ist allerdings inzwischen so austariert, dass die 473
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spezifischen Charakteristika der Tonarten verschwinden. Die jeweilige Eigenart der Tonarten, von der traditionell ausgegangen wird, ist nur gegeben, wenn die wohltemperierte Stimmung nicht perfektioniert wird. Die Regelhaftigkeit der Obertöne stellt für die ständige Aufgabe des Hörens, Komplexität zu reduzieren und Ordnungen zu finden, eine wesentliche Vorstrukturierung dar. Da sich die Zusammenhänge systematisch wiederholen, vermag die auditive Wahrnehmung Muster herauszudestillieren und z. B. unterschiedliche Instrumente zu erkennen. Das geschieht auf der Grundlage, dass in der Cochlea Frequenzen ortsabhängig als Reize wirksam werden. Ein Grundton und seine Obertöne ergeben ein je nach Instrument anderes, aber wiederkehrendes Muster, das in der Gehörswahrnehmung gespeichert und wiedererkannt wird. Harmonische Akkorde entsprechen diesen Mustern und sind damit alles andere als beliebig. Die Analyse der Frequenzverhältnisse geschieht wie viele menschliche Leistungen, die in diesem Buch angesprochen wurden, auf nichtbewusster Ebene. „Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi,“ schrieb schon Gottfried Wilhelm Leibniz.451 Musik ist eine verborgene mathematische Tätigkeit der Seele, derer sie sich nicht bewusst ist. Genauer gesagt, vollziehen hier die Neurone der auditiven Zentren eine Autokorrelation, d. h. die Analyse und Speicherung häufig wiederkehrender Frequenzverhältnisse.452 Im Bewusstsein treten die Ergebnisse solcher Verarbeitung als Klangfarben, Akkorde und Melodien in Erscheinung. Um es anders auszudrücken: Bei aller Variation der Stile muss Musik psychophysiologische Bedingungen berücksichtigen, denn der Hörvorgang ist eine hochkomplexe neuronale Leistung mit dem Ziel von Komplexitätsreduktion der akustischen Reizvielfalt und arbeitet ohnehin ständig an der Grenze des Menschenmöglichen. Wenn Musik die Reizvielfalt nicht entsprechend vorstrukturiert, ist die auditive Wahrnehmung überfordert. Das gilt selbst für Kenner der neuen Musik, auch wenn sie es ungern zugeben. Um 1970 wurden in Graz mit 66 weiblichen und männlichen Probanden, denen Musik von Schönberg und Webern vertraut war und die sie z. T. selbst praktizierten, Hörversuche unternommen. Dabei wurde ein Stück von Webern in sechs Versionen vorgeführt, der originalen und fünf, in denen für einzelne Instrumente systematische Tonhöhenveränderungen vorgenommen worden waren. Kein einziger Proband erkannte die originale Version als richtig und alle anderen als falsch.453 Bis zu Schönberg hatten ungewöhnliche Akkorde einen besonderen Stellenwert innerhalb der tonalen Musik. Der berühmte Tristan-Akkord Wagners wird während des Musikdramas nicht aufgelöst, sondern erst am Schluss, wenn Tristan und Isolde im Tode vereint sind. Der in Quarten geschichtete „mystische“ Akkord in „Prométhée“, einer Tondichtung von Alexander Skrjabin, synästhetisch begleitet von einer „Farborgel“, dient der Erzeugung einer mystischreligiösen Wirkung. Geht der Kontext verloren, geht auch die Rolle verloren, die ein Teil im Ganzen spielt. 474
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Dissonanzen, Geräusche und Brüche im Metrum sind in der Musik heute das, was Gewürze in der Küche sind. Niemand möchte sich allein von Gewürzen ernähren, aber ebenso möchte sie niemand als Zutaten in gekonnter Platzierung und Dosierung missen. Heute beschränkt sich die Atonalität auf Teile der E-Musik, des Free Jazz und auf Einsprengsel in der Filmmusik. Eine Bedeutung der „Neutöner“ und der experimentellen Musik besteht zweifellos darin, dass sie künstlerische Forschungsfelder aufgetan und Neues erprobt haben, wobei sie auch die Grenzen des Zumutbaren für die menschliche Wahrnehmung ausgelotet haben. Sie können zur „intelligenten Enttäuschung von Erwartungen“ führen, wie es auch in der bildenden Kunst immer wieder geschieht. Als Zeichen besonderer Musikalität gilt manchen ein absolutes Gehör, tatsächlich aber ist das relative Gehör die bedeutsamere Leistung. Weil sie uns selbstverständlich ist, wird sie unterschätzt. Tiere verfügen häufig über ein absolutes Gehör, die auditive Wahrnehmung ist bei ihnen nicht auf Relationen zwischen Frequenzen eingerichtet. Melodien in verschiedenen Tonarten werden von Vögeln, Hunden und Affen nicht als gleich wahrgenommen!454 Die Verarbeitung akustischer Ereignisse nach Intervallverhältnissen ist offenbar eine typisch menschliche Eigenart. Die Ursache ist möglicherweise in der Entwicklung der menschlichen Sprache zusammen mit ihrer Prosodie begründet. Männliche, weibliche und kindliche stimmliche Äußerungen liegen in je unterschiedlichen Tonlagen. Damit z. B. Wörter dennoch als gleich wahrgenommen werden, müssen die Intervallverhältnisse unabhängig von der Stimmlage verarbeitet werden. Unter diesem Aspekt ist der mehrstimmige Gesang eine Kultivierung und Perfektionierung dieser besonderen menschlichen Fähigkeit. Die menschliche Stimme liefert zudem eine Pointe in der Diskussion um die Sonderstellung harmonischer Akkorde. Genau gesagt sind es Befunde aus der Physiologie der Stimme: „Der durch die Phonation erzeugte Klang besteht aber nicht nur aus dem Grundton, sondern enthält ein reiches Spektrum von Obertönen mit ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz (sog. Harmonische).“455 Damit erzeugt schon die eigene Stimme permanent ein wichtiges Merkmal der Tonalität, nämlich die prägnanten Frequenzverhältnisse, die wir in den Obertonreihen unterschiedlichster Instrumente und in der tonalen Musik wiederfinden. Sie sind also nicht beliebig, sondern gehören zum Grundbestand menschlicher Klangerzeugung und -wahrnehmung, und wir können sie nicht ignorieren, ohne einen Teil unseres Selbst zu leugnen. Hätte Schönberg auf seine eigene Stimme gehört, die neuere Musikgeschichte wäre vielleicht anders verlaufen. Vielleicht aber auch nicht, denn ein Künstler muss seinen Weg gehen, wenn er meint, etwas Neues entdeckt zu haben oder neue Grenzen auszuloten. Das heißt aber nicht, dass ihm so viele hinterherlaufen müssen. Ich erinnere mich an einen 10-Minuten-Film, der vor Jahren an der Kunstakademie Münster gezeigt wurde. Er war aus tausenden von Einzelbildern zusammengeschnitten, die jeweils nur für einen winzigen Sekundenbruchteil sichtbar waren. Der Betrachter sah nur ein Geflimmer, ohne irgendetwas identifizieren zu können. Der Witz bestand 475
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darin, dass der Betrachter wusste, eine Menge von Bildern geboten zu bekommen, ohne auch nur ein einziges wirklich sehen zu können, und so die Grenzen seiner sinnlichen Aufnahmefähigkeit erfuhr. Ich weiß nicht, ob dieses Filmexperiment Nachahmer gefunden hat. Ein weiterer derartiger Film mit anderen Einzelbildern würde weder sinnlich noch kognitiv zu neuen Erkenntnissen führen. Wenn ich eins in meiner Tätigkeit an den Kunstakademien Düsseldorf und Münster gelernt habe, dann dies: Die Aufgabe eines Künstlerlehrers ist nicht, Nachahmer der eigenen Ideen heranzubilden, sondern Vorbild in Authentizität und Intensität zu sein.456 Altenmüller bezeichnet Musik als Gedächtniskunst. Damit sie das werden kann, muss sie der Art, wie Gedächtnisinhalte gebildet werden, entgegenkommen. Ein Computer kann eine Ziffernfolge wie 175328604729 problemlos speichern und wiedergeben. Menschliche Wahrnehmung und Gedächtnis brauchen gestalthafte Gliederungen. Daher ist es sehr hilfreich, Nummern zu gruppieren, etwa in 1753-2860-4729 oder 175-328-604-729, wie es uns etwa von Telefon- oder Kontonummern her geläufig ist. Musik kommt dem durch „Chunking“ entgegen, durch Takt und Rhythmus, durch regelmäßige Betonungen im Metrum. Wer das ignoriert, übersieht, dass Menschen keine Computer sind. Ständig wird unser Gehör von einem Strom unterschiedlichster Schallereignisse getroffen. Die auditive Wahrnehmung sucht, daraus zusammenhängende Gestalten zu bilden. Dabei spielen Speicherung und Abruf von wiederkehrenden Zusammenhängen eine wichtige Rolle. Diese Leistung ist im Wiedererkennen mit dem Gefühl der Befriedigung verbunden. Physiologisch lässt sich die Ausschüttung von Dopamin nachweisen, das Hirn belohnt sich also für diese Leistung selbst. Es ist frustrierend, wenn es bei mancher Musik nicht gelingt, in hinreichendem Maße Ordnungen heraushören zu können, besonders, wenn der Verdacht besteht, dass solche gar nicht zu finden sind. Schönberg lehnt das Konzept der Erwartung völlig ab. Das zeigt sich schon darin, dass er die Wiederholung eines Tones so weit wie möglich hinauszögert, um die Bildung eines Grundtones (der Tonika) zu verhindern.457 In der Gedächtniskunst Musik ist Erwartung aber ein wesentliches Element, gleich, ob die Erwartung lang- oder kurzfristig gespannt ist, ob sie erfüllt wird oder enttäuscht, ob es sich um E- oder U-Musik handelt. Jede musikalische Variation lebt davon, dass ein Thema zu einer Erwartung wird. Soweit sie sich erfüllt, wird ein Wiedererkennen ausgelöst. Soweit ihr widersprochen wird, erlebt der Hörer eine Überraschung oder Weiterentwicklung, die er als positiv erfährt, sofern sie ihn überzeugt. Ohne Wiederholung, Variation und zeitliche Gruppierung kann der Hörer die Folge der Klänge nicht gliedern. Schönberg „konnte nicht einsehen, dass sich der gängige Schönheitsbegriff auch für die Musik von der Wiederholung ableitet“, sagt Kent Nagano.458 Hörende müssen, was ihnen zu Ohren kommt, wie alles andere, was sie wahrnehmen, in eine eigene Ordnung bringen können. Das heißt vor allem, Sinneinheiten und Zusammenhänge zu bilden, Abfolgen zu strukturieren. Das geschieht in der Wahrnehmung von Melodien, Akkorden und Rhythmen. Musiksysteme sind kulturelle Entwicklungen, aber sie haben nur dann 476
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eine Chance auf allgemeine Akzeptanz, wenn sie die psychobiologischen Grundbedingungen berücksichtigen, was wir im Allgemeinen schon intuitiv tun. Das ist nicht anders als bei kulturell gewachsenen Essgewohnheiten, die biologischen Bedingungen des Verdauungssystems folgen müssen, die unter Menschen bis auf einige Varianten universell sind. Kein Mensch könnte sich von Steinen ernähren, und wenn es Paul Bocuse wäre, der sie uns als Nouvelle Cuisine vorsetzen würde mit dem Hinweis, dass Flechten das ja auch können. Man darf die Utopie einer humanen Musik nicht mit einer Orientierung am Publikumsgeschmack verwechseln. Um ein krasses Beispiel zu nennen: Als Schüler wurde ich aus Radio und Jukebox monatelang mit dem Schlager „Das alte Försterhaus“ malträtiert. Walter Brandin und Rudi Stemmler hatten sich 1954 einen Spaß daraus gemacht, unter Vereinigung aller Klischees aus Volksmusik und Schlager eine ultimative Schnulze im Dreivierteltakt zusammenzubasteln. Friedel Hensch und die Cyprys machten ihn zum Hit. Leser, die der Versuchung erliegen sollten, das Lied unter YouTube abzurufen, seien gewarnt. Es besteht die Gefahr, einen lästigen Ohrwurm nicht loszuwerden. Altenmüller empfiehlt in solchen Fällen Kaugummikauen, das soll ihn vertreiben. Dass Altenmüller die Analyse von Klängen, die Chill erzeugen, zum Zwecke der Komposition ebensolcher Musik geplant hat, wird er wohl nicht ganz ernst gemeint haben, es erinnert fatal an das Zustandekommen von Das alte Försterhaus. Bei einigermaßen reflektiertem Rezeptionsverhalten wäre die Reaktion von Goethes Torquato Tasso zu erwarten: „So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“ Im Übrigen trägt ein solches Verfahren den Keim der Übersättigung in sich. Chill-Erlebnisse sind Höhepunkte im Drama musikalischer Ereignisse, sie werden durch häufige Wiederholung entwertet. Man denke daran, dass G. F. Händels Zadok the Priest von Tony Britten in die Hymne der UEFA Champions League umgeschrieben wurde. Als Intro und Outro jedes Spiels ertönt immer wieder der gleiche Ausschnitt, der Chillpunkt der Krönungszeremonie, und wird allmählich aber sicher abgenutzt. Kitsch, Seichtes und Effekthascherei führen in Sackgassen im Labyrinth kultureller Entwicklungen, dahin führt aber auch Ignoranz gegenüber dem filigranen Kunstwerk des menschlichen Hörvermögens. Die menschlichen Erlebnisweisen und Wirkungen von Musik in all ihrer Vielfalt sind ein endloses Feld für künftige Entwicklungen der Musik. Erwartungsbildung, Tonalität, Melodie und Rhythmus totzusagen erinnert an die vielfache Behauptung in der Bildenden Kunst, die Malerei sei tot. Musik und Kunst sind zeit- und grenzenlos in ihrem Potential, wenn sie ihre Verwurzelung in der menschlichen Psyche nicht leugnen, angereichert mit immer neuen Erfindungen menschlicher Kreativität. Man höre nur die Sinfonie Nr. 1 c-Moll op. 68 von Johannes Brahms, und man spürt den unendlichen Reichtum und die unerschöpfliche Tiefe einer humanen Musik. Vordergründig ist Musik zu nichts nütze, und doch gehört sie zu dem Schönsten und Wichtigsten, was das Leben uns schenkt. Musik bewahrt, was die Sprache zerredet hat: die Seele, das Insgesamt dessen, was wir mit „Kopf und Herz“ meinen. 477
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Wer hört und sieht, wie Khatia Buniatishvili aus Bachs Kantate BWV 208 oder wie Pinyin Lang Lang die Goldbergvariationen auf dem Flügel spielt, der spürt, was gemeint ist.459 Musik erlaubt es, den Begriff der Seele wieder in die Wissenschaft zurückzuholen, den sie in der Psychologie zwar im Namen führt, aber jahrzehntelang nur wie eine Leerformel für etwas gebraucht hat, das angeblich nicht existiert oder über das sich nichts sagen lässt und worüber man gemäß dem frühen Wittgenstein schweigen müsse. Es gibt keine bessere Bezeichnung für das Insgesamt dessen, was unser Erleben ausmacht, worin sich unser Gespür für die ganze Reichhaltigkeit und Tragik des Lebens versammelt, seine Höhen und Tiefen, die körperliche und innere Bewegung, unserer Gefühlswelt, das unvollständige Wissen über die Welt mit seinen bleibenden Rätseln und über die Gründe der eigenen Existenz. Durch all diese Abgründe und Weiten zieht uns Musik, die uns bewegt, lässt uns erbeben, rührt uns an und lässt Körper, Seele und Geist als ersehnte Einheit spüren. Wir haben im vorliegenden Buch anfänglich die Befangenheit des Individuums in seiner Subjektivität betont. Dichter und Philosophen haben die Einsamkeit des Individuums beklagt. Bei jedem Menschen muss die Welt neu entstehen, an dieser Einsicht der Wahrnehmungspsychologie und der Erkenntnistheorie führt kein Weg vorbei. Andererseits sind die Menschen soziale Wesen, sie brauchen die Mitmenschen von Geburt an, und die Einsicht in die grundsätzliche Trennung der Subjekte ist eine schmerzliche, aber unvermeidliche Konsequenz der Fähigkeit, über sich selbst zu reflektieren. Dadurch bekommt alles Gewicht, womit versucht werden kann, diese Trennung zu überwinden. Sprache und Interaktion gleichen die subjektiven Welten mehr oder weniger einander an, allerdings eingeschachtelt von der Community, die der Einzelne real oder virtuell teilt. Das gemeinsame Musikerlebnis erzeugt darüber hinaus bis tief in die emotionale Sphäre Resonanz, und zwar in ihrem Doppelsinn: im innerlich gespürten Gefühl und in der nach außen wirkenden Emotion, die sich auf andere übertragen kann. Man denke an das oben genannte Beispiel der Stimmgabeln, die wechselseitig in Resonanz geraten, obwohl sie getrennt sind (Abb. 87). Altenmüller weist darauf hin, dass diese Wirkung sich auch auf das Sozialverhalten überträgt. So haben sich Kinder, die gemeinsam musizieren, als besonders kooperativ erwiesen. Die gegenwärtig verbreitete Ohrverstöpselung konterkariert die Gemeinschaftsbildung und vertieft die Vereinzelung. Sie passt zu einem Bild, das man häufig antrifft: Vier Personen sitzen um einen Tisch, und statt sich zu unterhalten, tippt jeder auf seinem Handy. Solche Zeiterscheinungen machen die Erfahrung gemeinsamen Musikhörens, Instrumentierens und Chorgesangs umso wichtiger, genauso wie gute Gespräche, Diskussionen, gemeinsame Erlebnisse und gemeinsames Handeln. Dass Musik in allen Kulturen als soziales Band gepflegt wird, sollte zu denken geben. Wenn man es verkümmern lässt, wird eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten vernachlässigt, Gemeinschaft zu schaffen und zu erleben. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass die Vision vom Internet als einem Medium, das Menschen miteinander verbinden kann, 478
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sich in mancher Hinsicht doch verwirklicht hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das internationale Projekt „Playing for Change“ „entstand aus der allgemeinen Überzeugung, dass Musik das Potential hat, Grenzen zu durchbrechen und Distanzen zwischen Menschen zu überwinden.“460 Es ist zu hoffen, dass solche Plattformen nicht von Kräften mit unlauteren Interessen gekapert werden. Und es ist zu hoffen, dass die Wirkung dieser virtuellen Brücken auch in Gemeinschaften der realen Lebenswirklichkeit reicht. Musik bringt Ordnung in die Seele. Musik bringt unsere Seele in Resonanz, und wenn sie viele Menschen zugleich erfasst, verbindet sie zugleich unsere individuellen Erlebniswelten zu einer Gesamtheit, die miteinander zu teilen ein tiefes Glücksgefühl vermittelt. Lang Lang sagte, als er die Goldbergvariationen in der Thomaskirche in Leipzig gespielt hatte: „Bach vereint die Herzen der Menschen“. Geteilte Musik hat ihre größte Bedeutung darin, dass sie gemeinsames Erleben hervorruft und Gemeinschaft bis tief unter die Haut spüren lässt. So wie das ganze Orchester den Kammerton vom ersten Geiger übernimmt, so geraten alle Teilnehmer in Einklang mit der Musik und miteinander, zumindest für einen kleinen raumzeitlichen Abschnitt des Lebens. Kurz gesagt: Musik rührt die Menschen an. Sie ist, was die Thematik dieses Buches angeht, wirksam in beiderlei Hinsicht: Erstens berührt sie das Individuum emotional und intendiert körperliche Mitbewegung. Zweitens bringt sie die Gemeinschaft von Hörenden oder Musizierenden durch das gemeinsame Erlebnis von Klängen und Rhythmus in Resonanz. Dadurch entsteht zumindest vorübergehend eine übergreifende Einheit, die angesichts der prinzipiellen Vereinzelung individueller Wirklichkeiten ein seltener Wert ist. Dies setzt allerdings eine humane Musik voraus, die menschliche Klangwahrnehmung und Lebensrhythmen berücksichtigt.
Literatur Altenmüller 2018. Büning 2020. Ebeling 2007. Fleischer 2002. Hörmann 2014, 2020. Levitin 2009. Mischke 2020. Nagano & Kloepfer 2019. Petrik 2008. Spitzer 2014.
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Endgedanken Im gleichen Alter, in dem ich, wie einleitend geschildert, das Ende der Welt suche, werde ich auf der Hauptstraße des Dorfes erstmals mit dem Tod konfrontiert. Schwer und laut schlagen die Hufe von zwei großen Rappen auf das Pflaster. Das schnaufende Gespann trägt schwarze Decken mit Troddeln und zieht einen schwarzen Wagen mit mannshohen Speichenrädern, geschmückt mit Girlanden und Quasten. Der Kutscher mit hohem Zylinder hält die Zügel lose, die Kaltblüter kennen den Weg. Die Seitenwände des Wagens sind aus weiß verziertem Glas, durch das ein Sarg zu sehen ist. Gemessenen Schritts folgt dem Gespann eine endlose Menschenschlange in dunkler Kleidung. Der alte Pastor sei gestorben, so erfahre ich, und werde nun begraben. Am nächsten Tag besuche ich das Grab und staune über den Berg von Kränzen und bunten Blumen. Ich höre, der Pastor sei jetzt im Himmel, und kriege das nicht ganz zusammen damit, dass er unter dem bunten Berg begraben ist. Ich selbst, da bin ich mir gewiss, werde auf keinen Fall sterben. Als ich zum erstem Mal Bilder von den Pyramiden sehe, die die ägyptischen Pharaonen für sich als Grabmäler errichtet haben, denke ich: Ja, das ist angemessen für die Bedeutung eines Menschenlebens. Für den Fall, dass ich vielleicht doch einmal sterben sollte, möchte ich das für mich auch. Später wird mir klar, dass längst die gesamte Erdoberfläche von Pyramiden versiegelt wäre, wenn man für jeden Verstorbenen eine errichtet hätte. Ich bin erwachsen, als mein Großvater stirbt. Ich sehe, wie sein Gesicht allmählich wachsweiß wird und spüre, wie das Leben ihn verlässt, indem das geliebte Gesicht immer kälter wird. Als mein Vater stirbt, wehrt er sich mit den verbliebenen Kräften dagegen bis zuletzt. Nach einem letzten Aufbäumen sinkt er auf die Kissen und ist verschieden. Dieses Ende ohne Abschied erschüttert mich zutiefst. Meine Mutter entschläft friedlich im Kreis der Angehörigen. Sie hat schon lange zuvor Vorbereitungen getroffen, sowohl für sich selbst wie für ihre Lieben. Intensiv wie nie zuvor wird mir bewusst, was alles ich ihr verdanke, und dass ich ihr nun nicht mehr danken kann. Jahre später haben wir in der Familie ein Gespräch mit einer Bekannten darüber, wie man mit der Unvermeidlichkeit des Sterbens umgeht. Ich sage, dass ich mir vorstellen kann, nach einem langen erfüllten Leben dazu bereit zu sein und den Tod anzunehmen, so wie Sokrates in Platons Phaidon, auch wenn ich nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaube wie er. Sie schaut mich entgeistert an und sagt, dass sie mir das nicht abnimmt. Sie rechne vielmehr mit Fortschritten in der Computertechnik, die es ermöglichen wird, den Geist eines Menschen in eine künstliche Intelligenz zu transponieren und somit unsterblich zu machen. Ich antworte, dass es für mich kaum eine grauenvollere Vorstellung gibt als die, ein Bewusstsein zu haben ohne einen Körper, mit dem ich fühlen
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und handeln kann, oder in einem Körper gefangen zu sein, den ich nicht als den meinen empfinde, und zu wissen, dass dieses Eingeschlossensein kein Ende nehmen soll. Im wirklichen Leben wird jeder neue Tag zum Geschenk, wenn wir den Gedanken akzeptieren, dass es irgendwann der letzte Tag sein wird. Das Leben erhält seine Bedeutung nicht zuletzt durch seine Endlichkeit, aus der heraus wir etwas weitergeben können an die, die unseren Platz einnehmen.
Abb. 158: Sternschnuppe – Lebensspur eines Meteors zwischen Aufglühen und Verglühen. Perseiden am 14.08.2021.
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Gern bedanke ich mich bei Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie mir bis hierher gefolgt sind, und muss mich gleichzeitig entschuldigen. Sicher haben Sie manche Themen vermisst, denn schließlich sollte es um nicht weniger als die ganze Welt gehen, die bei jedem Menschen neu entsteht, und um die Frage, wie trotz aller Subjektivität Gemeinschaft und Verständigung möglich sind. Mir ist bewusst, wie lückenhaft dieses Buch ist. Aber auch ein Schwamm besteht größtenteils aus Luft und ist trotzdem nützlich. Vielleicht reichern Sie den Raum zwischen den Zeilen mit dem Wasser Ihrer eigenen Lebenserfahrungen an. Ich selbst habe den Bezug zur 481
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eigenen Lebenswirklichkeit in vielen persönlichen Anekdoten von frühesten Erinnerungen bis zu Endgedanken hergestellt, um das Buch nicht zu theorielastig werden zu lassen. Denn es geht um unser Leben. Ich fasse zusammen, wobei ich wegen der Vielfalt der über vierzig Kapitel einer kompakteren Gliederung folge: in Individuum, Gemeinsamkeit, Wissen, Gehirn und Bewusstsein.
Individuum Die ersten Teile des Buches haben zum Thema, wie bei jedem Menschen neu die Welt entsteht, die uns so selbstverständlich erscheint. Sie bildet sich nicht einfach im Auge ab und ist uns damit gegeben. Vielmehr werden Punkt für Punkt die Lichtreize im Auge analysiert und zu Strukturen zusammengefasst, die dann auf Invarianten (Unveränderlichkeiten) untersucht und gespeichert werden, um nachfolgenden Reizen als Vergleichsgrundlage zu dienen. Etwa 13 verschiedene Sinne mit Millionen Rezeptoren liefern Meldungen ans Gehirn, das über etliche Stufen der Informationsverarbeitung mit ständigem Rückgriff auf bereits Gespeichertes Konzepte entwickelt, die wir als Dinge und Ereignisse in einer dreidimensionalen Welt erleben. Dazu gehört auch unser eigener Körper, den wir auf der Basis dessen empfinden, was spezielle Rezeptoren melden. Jeder Sinn führt dazu, dass wir uns besser in unserer Welt orientieren können, führt zur Anreicherung der Erlebniswelt mit anderen Qualitäten, mit Farben, Klängen, Gerüchen, Geschmäcken, mit Lust, aber auch mit Schmerz, der uns in besonderer Weise die Wirklichkeit der Phänomene erfahren lässt. Ein Kapitel widmet sich der Entwicklung der Wahrnehmungswelt, beginnend mit der vorgeburtlichen Phase, in der über die Körpersinne die erste wichtige Unterscheidung zwischen Selbst und Umgebung getroffen wird. Schon hier und erst recht in der Zeit nach der Geburt erfolgt der Aufbau der Welt in permanentem Kreislauf zwischen Aktivität und Wahrnehmung. In Abhängigkeit von der biologischen Mitgift und dem Angebot der Umgebung entwickelt sich ein Modell zunächst der näheren, dann der ferneren Umwelt, das aber nicht als Modell erlebt wird, sondern zunächst als die einzige Wirklichkeit, die im Sinne des naiven Realismus nicht selten das ganze Leben über bestehen bleibt. Dabei erfährt die erlebte Wirklichkeit über die persönliche Sinneserfahrung hinaus durch Sprache und Bild Erweiterung und Bereicherung als persönliches Wissen. Das Innewerden der eigenen Individualität ergibt sich aus der Interaktion mit anderen Menschen, die ihre jeweiligen Erfahrungen und Meinungen äußern und eigene Verhaltensweisen zeigen. Die Subjektivität wird besonders deutlich im Vergleich mit Menschen, die wie etwa Farbenblinde oder Synästhetiker eine Erlebniswelt haben, deren Eigenart sich letztlich nicht kommunizieren lässt. An Beispielen wie Unterschieden im Geschmack oder in der Benennung von Farben zeigt sich, dass letztlich jede Erlebniswelt idiosynkratisch, also einzigartig ist, und 482
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dass diese Welten voneinander inselartig geschieden sind. Die Trennung wird auch nicht aufgehoben dadurch, dass die physikalische Realität als gemeinsame Grundlage und Medium benannt wird, denn jedes Individuum ist auf seine Weise selektiv mit ihr verbunden und bildet eigene Erfahrungen. Die Frage, inwieweit die erlebte Welt mit der physikalischen übereinstimmt, deren Eigenschaften uns nicht unmittelbar zugänglich sind, führt zu der Frage nach Wirklichkeit und Täuschung. Dabei zeigen sich optische Täuschungen nicht als Kuriosa, sondern als wertvolle Hinweise darauf, mit welchen Methoden die Wahrnehmung ihre Wirklichkeit erschafft. Bestimmte physikalische und chemische Parameter werden vom Organismus anverwandelt zu Farben, zu Lauten, zu Druckempfindungen, zu Geschmäcken und Gerüchen. Manche aber, wie der größte Teil der elektromagnetischen Strahlung, Ultra- und Infraschall, bleiben außerhalb dessen, was für den Menschen zum Phänomen wird. Andererseits gibt es für bestimmte Empfindungen, die Gefühle, keinerlei physikalische Entsprechungen. Die eigentümliche Welt der Träume beschäftigt uns nicht zuletzt wegen des Rätsels, ob wir wachen oder träumen. Phänomene wie Halluzination und Wahnvorstellungen führen uns einerseits zu dem Thema, wie und auf welche Weise Drogen auf uns wirken können, andererseits zu der Frage, wie psychische Krankheiten Leben und Erleben verändern. Auf dem Umweg über die Frage, ob es paranormale Fähigkeiten gibt, gelangen wir zu der Frage, wie es möglich ist, andere Menschen zu verstehen. Ausdruck und Körpersprache werden auf Universalität bzw. Kulturabhängigkeit befragt. Geschlechtsmerkmale als Teil der Körpersignale führen zum Themenkomplex Sexualität. Dabei wird deutlich, auf welchem Wege jeder Mensch nicht nur durch Umwelteinflüsse, sondern schon genetisch zu einem einzigartigen Individuum wird. Dabei zeigt sich auch die Vielfalt sexueller Ausprägung und Orientierung, neben der die gewöhnliche Unterscheidung von Mann und Frau eine Vereinfachung darstellt.
Gemeinsamkeit Im Alltag haben wir im Allgemeinen keinen Zweifel daran, dass wir mit den Mitmenschen in einer gemeinsamen Welt leben, in der wir miteinander umgehen und reden. Wie ist das mit dem Umstand, dass die Welt bei jedem neu entsteht, zu vereinbaren? Erstens ist die physikalische Welt als Quelle der Sinnesreize strukturiert und trifft jeden Organismus in vergleichbarer Weise. Zweitens gehen wir davon aus, dass die biologischen Prozesse in allen Menschen ähnlich ablaufen. Drittens machen wir von Kindheit an unmittelbare und sprachliche Erfahrungen in einem gemeinsamen kulturellen Umfeld. Viertens tendieren wir innerhalb der Lebensgemeinschaft dazu, Unterschiede im Sinne des verträglichen Zusammenlebens abzugleichen. Die „soziale Wirklichkeit“ ist eine Gedankenkonstruktion, die oft praktisch ist, letztlich aber aus lauter Einzelwirklichkeiten besteht. Das zeigt sich spätestens dann, wenn wir mit 483
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Menschen zu tun haben, die andersartige biologische oder kulturelle Voraussetzungen mitbringen oder anders mit Erfahrungen umgehen. Wie verschieden die Erlebniswelten sein können, weiß jeder aus den Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Jugendlichen während der Pubertät, wenn Hirn, Welt- und Selbstbild sich in Umbau befinden und man manchmal den Eindruck hat, nur noch aneinander vorbeizureden. Da hilft nur, bei der Renovierung nicht die Geduld zu verlieren und mitzuhelfen. Der Gemeinplatz vom Menschen als sozialem Wesen muss auf die Möglichkeit einer neuen Grundlage befragt werden, nachdem die Existenz eines kollektiven Unbewussten, eines kollektiven Bewusstseins oder Feldes nicht haltbar ist. Vielmehr zeigt sich gerade in der Gegenwart trotz und wegen neuer Kommunikationsformen im Internet eine zunehmende Zersplitterung dessen, was bislang vielleicht zu Unrecht als Gemeingut vorausgesetzt wurde. Redensarten wie die von einer Bibliothek oder einer Kultur als „kollektivem Gedächtnis“ erweisen sich als unzutreffend, wenn vergessen wird, dass beides Individuen voraussetzt, die lesen und verstehen können, die eine Kultur mit Leben füllen oder wertschätzen. Die Verinnerlichung dessen, was kulturell vermittelt wird, ist stets begrenzt von der Bereitschaft, es zu übernehmen, und von dem Horizont der Community, der man angehört. Vorrangiges Medium zur Kommunikation von Gemeingut ist die Sprache. Allerdings sind ihre Begriffe gebunden an den jeweiligen persönlichen Erfahrungshintergrund, was dazu führt, dass sie von Mensch zu Mensch niemals deckungsgleich sind. Andererseits wird diese von Wittgenstein beklagte Ungenauigkeit teilkompensiert durch die Fähigkeit, Inferenzen zu bilden, d. h. unter Berücksichtigung des Kontextes Ergänzungen hineinzutragen, die die bestehenden Unterschiede in Verständnis und Interpretation so weit ausgleichen, dass gemeinsames Handeln möglich wird. Zugleich ist damit einerseits die Möglichkeit zu Missverständnissen geschaffen, andererseits die Voraussetzung dafür, dass Sprache samt der Bedeutung von Begriffen sich weiterentwickeln kann. Die verbreitete Annahme, dass Denken an Verbalsprache gebunden ist, muss durch die Hinzunahme anderer Denkformen, insbesondere des anschaulichen Denkens, erweitert werden. Letzteres findet in der Bildenden Kunst seine stärkste kulturelle Ausprägung. Gemeinsamkeit entwickelt sich in gemeinsamem Reden und Handeln, es wird bekräftigt in Riten. Dies geschieht exemplarisch auch im Spiel, zwischen Individuen unterschiedlichster Herkunft, oft unabhängig von Sprache, mit eigenen Regeln und neuen Rollen. Das Inseldasein des Individuums wird teilweise überwunden durch gemeinsam Geschaffenes, weil hieran jeder durch sein Tun beteiligt ist und innerlich Anteil nimmt. Dazu gehören nicht nur konkrete Dinge, sondern auch ideelle Güter wie gemeinsame Werte. Ein eigenes Thema stellt die Liebe dar, die wohl einen anderen Ursprung als die Sexualität besitzt. Die übliche Verwendung des Wortes steht der Einsicht im Wege, dass Liebe im Sinne selbstloser Hingabe ihren Ursprung vermutlich in der Mutterliebe hat. In Liebe und Freundschaft kann das Individuum sein Inseldasein in gewisser Hinsicht überwinden. Entscheidend ist die positive Erfahrung von Resonanz in Denken 484
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und Fühlen, die sich im Fluss wechselseitigen Gebens und Nehmens entwickelt. Die damit verbundene Abkapselung der Zweierbeziehung kann in die Stärke und Sicherheit einer gemeinsam gewonnenen Basis übergehen, die zu sozialer Offenheit nach außen führt. Dagegen werden negative Konsequenzen von Meinungsverstärkung am Phänomen der Echokammern deutlich, die sich oft in den sogenannten sozialen Netzwerken bilden. Nicht selten befördert durch politische Interessengruppen entstehen hier tribalistische Haltungen eines „Wir-gegen-die“, die die Gesellschaft spalten. Die Einflussnahme autokratischer Regime auch durch Desinformationen verfolgt offensichtlich den Zweck, dass sich Demokratien in unlösbaren Gegensätzen verwickeln und damit ihre Attraktivität verlieren sollen. Demgegenüber liegt die Stärke der Demokratie in der Kultur des Diskurses unterschiedlicher Sichtweisen. Dabei bildet sich eine Form von Gemeinsamkeit, die nicht auf Gleichschaltung ausgerichtet ist, sondern auf wechselseitigen Respekt einer Vielfalt, die bereits auf individueller Ebene mit der jeweiligen subjektiven Wirklichkeit gegeben ist und sich in der Unterschiedlichkeit von Kulturen mit ihren jeweiligen Weltbildern fortsetzt. Sie benötigt einen Minimalkonsens über Strukturen, Werte und Regeln, die für ein Zusammenleben und für die Kommunikation unerlässlich sind.
Wissen Für das Kind ist die Welt immer vollständig. Was es nicht weiß, ist ein Geheimnis mit all seinem Reiz, es zu erkunden, und so ist die Welt am Anfang voller Geheimnisse. Wissen über sich und seine Umwelt erwirbt das Kind in erster Linie auf dem Wege der Interaktion zwischen Wahrnehmen und Agieren, die schon im Mutterleib beginnt und nachgeburtlich im Rahmen eines sich immer weiter ausdehnenden Horizontes fortgeführt wird. Es schlägt sich im impliziten Gedächtnis nieder, dessen Quellen vergessen werden, im Unterschied zum expliziten Gedächtnis, das über Sprache und Bilder vermitteltes Wissen enthält. Es verfügt über kulturspezifisch gefärbte Inhalte, nicht selten angereichert mit je eigenen Mythen und Vorurteilen über die Welt und ihre Bewohner. In der Pubertät, in der das Gehirn eine Umstrukturierung erfährt, werden viele Inhalte in Frage gestellt, neu begründet, verworfen oder ersetzt. Auf vielen Wegen erfährt man alternative Denk- und Lebensweisen und stellt vermeintliche Selbstverständlichkeiten auf die Probe. Zunehmend wichtig wird, Informationsquellen auf ihre Validität hin unterscheiden zu können und Fehlinformationen zu erkennen. Da das Gute sich nicht von selbst durchsetzt, kommt es darauf an, die Wertschätzung wissenschaftlicher Aussagen zu fördern. Denn die Wissenschaften sind geprägt vom Leitgedanken der empirischen Kontrolle und von immanenter Selbstkritik, die sie von der Dogmatik traditions- und autoritätsdominierter Aussagen unterscheidet. 485
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Das Weltbild wird je nach Kultur unterschiedlich stark durch die Naturwissenschaften geprägt, die empirisch und theoretisch in internationaler Kooperation und Konkurrenz arbeiten. Wissenschaften sind durch ihre jeweiligen Methoden und Inhalte gekennzeichnet. Das wird hier exemplarisch an zwei Strängen skizziert, zum einen an der Methodengeschichte der Beobachtung vom freien Auge bis zu Netzwerken von Radioteleskopen, zum anderen an der Ideengeschichte der Schwerkraft, die bei Kindern immer wieder neu mit der Frage beginnt, warum die Menschen auf der anderen Seite des Globus nicht hinunterfallen. Das Thema führt von Newton zur allgemeinen Relativitätstheorie und zur Quantenmechanik, ein Weg, der die Physik immer weiter weg von unserer unmittelbaren Anschauung geführt hat. Dieser Unanschaulichkeit der physikalischen Realität steht die Selbstverständlichkeit gegenüber, mit der wir Geräte wie Handys und Computer als Teile unserer Wirklichkeit nutzen. Sie beruhen technologisch auf der Quantenmechanik, wie auch bildgebende Verfahren wie PET und MRT. Mit gleicher Selbstverständlichkeit nutzen wir Navigationssysteme, die uns präzise mitteilen, wo auf der Welt wir uns befinden, weil sie die Zeitdilatation der Satellitensignale einrechnen, die aus der Relativitätstheorie hervorgeht. Mikrokosmische und makrokosmische Argumente aus der Physik führen zu der Überlegung, ob unser beobachtbares Universum nicht das einzige ist. Die gegebene Konstellation der Naturkonstanten ist so unwahrscheinlich, dass das anthropische Prinzip, also allein die Tatsache, dass es Menschen gibt, zur Annahme eines kosmischen Sonderfalls führt. Wenn man zusätzlich die vielen lebensfeindlichen Katastrophen und Engpässe in der Vergangenheit berücksichtigt, stellt die Existenz der jetzt lebenden Menschen einen extremen Glücksfall dar. Wichtig ist die Konsequenz daraus: Die Logik des anthropischen Prinzips beinhaltet die Gewährleistung unserer Existenz nur bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nicht aber darüber hinaus. Vielmehr ergibt sich für die Menschheit zusammen mit dieser Erkenntnis eine Verantwortung für die Zukunft, die nicht nur die Klimaveränderung betrifft. Verschiedene erkenntnistheoretische Positionen werden zum Verhältnis zwischen erlebter Wirklichkeit und physikalischer Realität befragt. Der naive Realismus, der diesbezüglich keinen Unterschied macht, behält dennoch einen Eigenwert, weil er dem psychologischen Verständnis nicht nur der Welt von Kindern dienlich ist. Es ist das Wirklichkeitsverständnis, das die Menschen im Alltag einnehmen, auch diejenigen, die gelegentlich darüber reflektieren. Für den, der mit dem „So-als-ob“ des Spiels zu tun hat, ist das nichts Ungewöhnliches. Man kommt weitgehend damit zurecht, dass man so denkt und lebt, als ob das, was wir wahrnehmen, objektiv stimmt und mit dem, was Mitmenschen wahrnehmen, identisch ist. Wir alle spielen im Alltag dieses Spiel. Doch angesichts der Erkenntnis, dass Menschen sehr verschiedene Wahrnehmungsweisen, Weltbilder und Werthaltungen haben, müssen wir bereit sein, diese Haltung zu reflektieren und Konsequenzen zu ziehen. Wir müssen unsere Subjektivität mitsamt dem „So-als-ob“ erkennen, 486
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um den „Overview“ anzustreben und die Achtsamkeit zu erreichen, die zur Lösung der Zukunftsaufgaben notwendig ist. Der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass wir keinerlei Aussagen über eine Realität außerhalb der Erlebniswelt machen können, noch nicht einmal die, dass sie existiert. Diese Position führt in die Nähe des Solipsismus, der nichts als das eigene Selbst gelten lässt. Die Aussage, dass die Erlebniswelt eine Konstruktion des Gehirns sei, ist ohne die Annahme einer Wirklichkeit außerhalb der Erlebniswelt absurd, denn dann wäre auch das Gehirn nur eine Erfindung. Demgegenüber geht der kritische Realismus von der Annahme aus, dass es außerhalb der persönlich erfahrenen Wirklichkeit eine physikalische Realität gibt, die uns zwar nicht unmittelbar zugänglich ist, die aber als Quelle der Reize vorausgesetzt wird, die die Sinnesorgane treffen, und die wir durch Aktionen unseres Organismus real verändern. Wie bei allen Naturwissenschaften wird davon ausgegangen, dass die physikalische Realität sich in messbaren Parametern zu erkennen gibt. Mit den Beziehungen beider Wirklichkeiten befasst sich die Psychophysik in doppelter Hinsicht: die äußere Psychophysik mit Beziehungen zwischen Erlebniswelt und physikalischer Außenwelt, die innere Psychophysik (Neuropsychologie) mit Beziehungen zwischen Erlebniswelt und Hirnvorgängen. Die physikalische Realität nimmt ständig Einfluss darauf, wie wir die Welt erfahren, ausschlaggebend ist aber letztlich die Art und Weise, was unser Gehirn daraus macht. Um eine möglichst realitätsgerechte Weltsicht zu erlangen, ist ein häufiges Update in Orientierung an verlässlichen Quellen notwendig. Letztlich ist alles Wissen persönliches Wissen. Medien sind nur Mittler. Sie haben keinen Wert, wenn ihre Informationen nicht von Individuen aufgenommen und verstanden werden und dadurch immer neu Bedeutung erhalten. Die Fähigkeit, lesen und verstehen zu können, droht angesichts der digitalen Bilderflut ins Hintertreffen zu geraten und braucht mehr denn je pädagogische Aufmerksamkeit. Bei jedem Menschen entsteht die Welt neu, durch persönliche Erfahrung und durch vermitteltes Wissen. Das heißt aber auch, dass ein ganzer Kosmos erlischt, wenn ein Mensch stirbt.
Gehirn Unsere Vorstellung vom Gehirn hat von der rosagrauen Masse, die von den ägyptischen Mumifizierern als unwichtig entsorgt wurde, bis zu dem komplexesten Objekt, das wir kennen, eine wissenschaftsgeschichtlich einzigartige Karriere vollzogen. Mit 100 Milliarden Neuronen und Billionen Schaltstellen ist es die Instanz, die alles Fühlen, Denken und Wissen, alles Planen, Handeln und alle Kreativität ermöglicht. Fast die Hälfte seiner Funktionen hat direkt und indirekt mit dem Sehen zu tun. Sie beginnen bei den Augen, die zum Gehirn gerechnet werden, führen über zahlreiche parallel und sequentiell geschaltete Stationen zu Ordnungen immer 487
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höheren Grades. Dabei durchlaufen die neuronalen Erregungen zweimal den ganzen Kosmos des Gehirns, zunächst von den Augen bis zum Okzipitalhirn im Hinterkopf, und von dort in Gegenrichtung auf zwei Bahnen, die die empfangenen Informationen auf das Was und auf das Wo analysieren, zum Frontalhirn, das wesentlich an rationaler Kontrolle, Planung und Sozialverhalten beteiligt ist. Zwischenstationen analysieren die Flut der Reize, die sekündlich aus Billionen Einzelereignissen bestehen, auf Helligkeit, Farbe, formale Eigenschaften, Bewegung und räumliche Tiefe. Dabei werden die visuellen Informationen mit denen aus anderen Sinnesgebieten in Zusammenhang gebracht, sodass die Grundlage zu einer in sich stimmigen und konstanten Umwelt entstehen kann. Gleichzeitig bildet sich aus Reizflüssen aus Haut, Muskeln, Sehnen und Gelenken, die in den Bereich des Scheitelhirns münden, ein Konzept des eigenen Körpers, das mit der Umwelt interagiert. Dabei spielt die Haptik eine Doppelrolle, indem sie gleichzeitig objektiviert und somatisiert, d. h. die Dinge der Außenwelt und den eigenen Körper erfahren lässt. Viele Rezeptoren funktionieren an der Grenze des physikalisch Möglichen. So führt im Auge bereits die Energie von wenigen Photonen zu einem wirksamen Reiz, bei den Haarzellen im Innenohr eine Auslenkung in der Größenordnung eines Atoms. Die Farbenwelt ist das Ergebnis der Verarbeitung minimaler Unterschiede bei elektromagnetischen Reizen, die Klangwelt ist das Ergebnis der Fähigkeit des Hörsystems, aus verrauschten Schallsignalen zeitliche Ordnungen zu destillieren, die Sprache und Musik zu erkennen gestatten. Die sog. höheren Funktionen des Gehirns spielen sich großenteils im Kortex ab, der die stammesgeschichtlich älteren Hirnteile überwölbt, darunter das limbische System. Es erfüllt notwendige Funktionen für Antrieb und Emotionen, für den Schlaf-Wach-Rhythmus sowie für die Speicherung von Gedächtnisinhalten im Kortex. Dadurch hat es erhebliche Bedeutung auch für die Hirnprozesse, die bewusste Vorgänge ermöglichen. Besondere Bedeutung in sozialer Hinsicht haben die Spiegelneuronen. Sie werden nicht nur bei eigenem Verhalten aktiv, sondern auch bei der Beobachtung entsprechenden Fremdverhaltens. Damit erfüllen sie wichtige Funktionen beim Imitationslernen und beim Zustandekommen von Empathie. Das Gehirn ist stets in Zusammenhang mit seinen afferenten Zubringern, also den Reizen aus allen Sinnesgebieten zu sehen, ebenso mit seinen efferenten Wirkungen, also der Steuerung der Muskulatur, die Bewegungen und Handlungen ermöglichen. Daraus ergibt sich die Interaktion mit der physischen und damit auch der sozialen Umwelt. Hierbei ist der Informationsfluss von etlichen Rückkopplungsschleifen gekennzeichnet, die z. B. die Reizaufnahme modifizieren und die Motorik verfeinern. Der größte Teil der Hirntätigkeit erfolgt in „Selbstgesprächen“, in denen interne Vorgänge abgeglichen, Invarianzen gebildet und abgespeichert werden. Die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnzentren geschieht einerseits auf schnellem elektrochemischem Wege, andererseits auf langsamerem chemischen Wege durch Hormone, die übergreifende Wirkungen entfalten und besonders Einfluss nehmen auf das, was sich erlebnismäßig in Form von Gefühlen und Stimmungen bemerkbar macht. 488
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Die rechte oder die linke Hand?
Bewusstsein Was wir bewusst erleben, ist uns so selbstverständlich, dass wir im Allgemeinen darüber kaum reflektieren. Lange Zeit wurde es mit der Psyche gleichgesetzt. Erst in der Neuzeit wurde thematisiert, dass das, was das Seelenleben ausmacht, nur zum Teil bewusst wird. Sigmund Freud wertete das Unbewusste zum eigentlichen Kern der Psyche auf, dem Ursprung von Triebimpulsen und Konflikten, der sich der Kontrolle durch das Bewusstsein entzieht. Das überforderte Ich wurde zum Sklaven des Unbewussten zwischen den Triebansprüchen des Es und den Forderungen des Überichs erklärt. Die jüngere Neuropsychologie hat sich der Dämonisierung des Unbewussten durch die Psychoanalyse entledigt und spricht lieber vom Nichtbewussten. Dabei ist deutlich geworden, dass der weitaus größte Teil der neuronalen Prozesse nicht bewusst wird. Er macht sich u. a. in zahlreichen reflexhaften und automatisierten Handlungen bemerkbar, die als der „Zombie in uns“ bezeichnet werden können. In dieser Situation gerät die Rolle des Ich und des Bewusstseins neu in die Diskussion. Der Dekonstruktivismus geht so weit, das Ich zur Illusion zu erklären und individuelle Urheberschaft zu bestreiten, weil alles Handeln Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses sei. Die Diskussion spitzt sich zu in der Frage nach der Willensfreiheit des Menschen. Es hat sich gezeigt, dass einer punktuellen Willenshandlung (der Bewegung eines Fingers) das neuronale „Bereitschaftspotential“ mehr als eine halbe Sekunde früher vorausgeht als der bewusste Entschluss. Daraus folgern einige Hirnforscher, dass der freie Wille eine Illusion sei und die Verantwortung des Menschen für sein Tun in Frage gestellt werden müsse. Diese weitreichende Konsequenz hat Stimmen aus Philosophie, Theologie, Jurisprudenz und anderen Wissenschaften hervorgerufen. Ein grundlegender Gegeneinwand besagt, dass relevante Willenshandlungen nicht aus einem Fingerzucken bestehen, sondern in der Wahl längerfristiger Ziele, die von persönlichen Neigungen und Wertvorstellungen abhängen. Diese werden vielfach reflektiert und dabei einer wiederholten bewussten Kontrolle unterzogen. Demgegenüber ereignen sich auf dem Weg zur Erreichung eines Zieles viele kleinteilige Entscheidungen auch ohne solche Kontrolle. Während das Thema Bewusstsein in der europäischen Psychologie und Philosophie mit ihrer Betonung der Phänomenologie stets von Bedeutung war, wurde es von der behavioristischen Psychologie Amerikas jahrzehntelang geleugnet, die nur messbares Verhalten als Forschungsgegenstand gelten lassen wollte. Die aus Deutschland emigrierten Gestaltpsychologen wie Wertheimer, Köhler, Arnheim u. a. hatten keinen leichten Stand. Erst seit der Sprachforschung in den 1960ern wird das Bewusstsein auch in den USA zum Thema. In den letzten Jahrzehnten ist intensiv an der Frage geforscht worden, welcher Art bewusstseinskorrelierte Prozesse sind und welche Hirngebiete beteiligt sind. Holisten, die davon überzeugt sind, dass stets das ganze Hirn beteiligt ist, standen Lokalisationstheoretikern gegenüber, 489
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die einen bestimmten Ort als Funktionszentrum vermuteten. Doch weder das Okzipitalhirn mit seinen Sehfunktionen noch das Frontalhirn mit seinen für die Persönlichkeit relevanten Funktionen noch ein anderes Hirngebiet erwies sich als singuläre Zentrale. Vielmehr scheinen Prozesse, die mit dem Bewusstsein zu tun haben, von wechselnden Koalitionen neuronaler Knoten getragen zu werden, die in rückgekoppelten Schleifen zwischen Frontalhirn, Okzipitalhirn, weiteren Kortexgebieten und stammesgeschichtlich älteren Bereichen stattfinden. Dabei spielen offenbar Synchronisationen im Gammawellenbereich eine Rolle, bei denen sich stehende Wellen bilden können. Solche hatte schon in den 1930er Jahren Wolfgang Köhler für das „Psychophysische Niveau“ postuliert, kurz nachdem die Elektroenzephalographie erfunden wurde. Seither sind unterschiedliche Frequenzen in Korrelation etwa zu Wachheit und Ruhe gut untersucht, ebenso die Mikroprozesse an Neuronen bis auf die Ebene molekularer Ereignisse. Nach wie vor aber gestalten sich hirnphysiologische Untersuchungen schwierig, zum einen, weil sich invasive Methoden am Menschen verbieten, zum anderen, weil der Komplexitätsgrad des Gehirns unvergleichlich hoch ist. Vermutlich bedarf es der Entwicklung weiterer Methoden, um die für die Bewusstseinsfrage relevanten Funktionsebenen zwischen Makro- und Mikroereignissen abzubilden. Als besonders schwierig gilt das Problem der Qualia, das zwischen Philosophie und Neurowissenschaften hin- und hergeschoben wird. Es handelt sich um die besonderen Erlebnisweisen, in der Farben, Schmerz, ja letztlich alles, was uns bewegt, empfunden wird. Für diese Kategorie findet sich in der Physik kein Pendant, weswegen ihr Weltbild unvollständig ist. Auch die Zusammenhänge von neuronalen Vorgängen und Erlebnisweisen sind noch unverstanden. Vorläufig bleibt als seltsames Faktum, dass die Empfindung von Farben an Prozesse im Hinterkopf, von Klängen im Bereich der Schläfen und Berührungen im Bereich des Scheitels geknüpft sind, also ortsabhängig sind, obwohl die Mikrostrukturen des Gehirns überall sehr ähnlich sind. Eine andere ungelöste Frage ist die, ob die Qualia funktional notwendig oder lediglich ein Epiphänomen sind, dem keinerlei eigene Bedeutung zukommt. Vieles deutet darauf hin, dass ihnen eine ordnungsbildende Funktion auf höchster Ebene zukommt. Phänomenologisch zeigt sich dies in der großen Vielfalt unterschiedlicher Qualia, die durch Ähnlichkeiten und Unterschiede miteinander verbunden sind, wie es sich am Beispiel der Farben zeigt. Das ermöglicht rasche mentale Operationen mit Inhalten, die uns jeweils wichtig sind. Auf das hirnorganische Geschehen bezogen entspricht dies einer Verbindung von hohem Integrations- und Differenzierungsgrad. Das setzt eine hochkomplexe Vernetzung voraus, die beim Gehirn gegeben ist. Dieses Niveau versprechen sich manche KI-Forscher mittelfristig mit künstlicher Intelligenz simulieren zu können. Die Diskussion um Möglichkeiten der Erzeugung oder Übertragung von Bewusstsein und Qualia auf technologische Substrate inklusive der Hoffnung auf Unsterblichkeit hat die Thematik aus philosophischen und technologischen Zirkeln mitten auf das Forum menschlicher Hoffnungen und Ängste versetzt. 490
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Einen eigenen Bereich von Qualia bilden die Klänge, deren Kultivierung Aufgabe der Musik ist, auch wenn sich die avantgardistische Musik z. T. vom Menschen fortentwickelt hat. Musik enthält vielfache Beziehungen zu Lebensrhythmen wie Puls, Atmung und Gang, sie fordert der Gehörswahrnehmung sowie der Leistung von Musikern das Äußerste ab und genießt durch ihre Wirkung auf die Psyche hohe Wertschätzung. Ihre Bedeutung ist für das Individuum ebenso groß wie für die Gesellschaft, denn es gibt nur Weniges, was das Empfinden vieler Menschen so umfassend in Resonanz und damit zu einem gemeinschaftlichen Erleben bringen kann. Darum wird hier für eine humane Musik geworben, die die menschliche Wahrnehmung würdigt und menschliche Bereitschaften berücksichtigt. Das Potential der tonalen Musik ist nicht erschöpft, sondern erst in Gang gesetzt und eröffnet der Kreativität ein unendliches Feld. Diese Anregung ist eine der Grenzüberschreitungen, die ich mir in diesem Buch erlaubt habe. Die Weite des Themas und die übergreifenden Aspekte brachten mit sich, dass ich mich mehrfach in Kompetenzfelder außerhalb der Psychologie gewagt habe. Geistes- und Naturwissenschaften, Musik und bildende Kunst, Politik, Recht, Technologie und Medien wurden tangiert. Ich hielt es für notwendig. Ob es gerechtfertigt war, überlasse ich Ihrem Urteil. Wie schon zu Beginn gesagt, sehe ich in meinen Ausführungen kein in Stein gemeißeltes Weltbild, wohl aber eine Zusammenfassung dessen, was ich für evident und wichtig halte. Jeder muss zu seinem eigenen Weltbild finden und bereit sein, immer wieder ein Update zu wagen – so wie in der Anekdote, mit der ich das Buch eingeleitet habe. Bleiben Sie selbstkritisch und lassen Sie sich von keiner Seite ein X für ein U vormachen. Und so schwierig es ist bei allem Misstrauen gegenüber Falschmeldungen – bewahren Sie sich das Vertrauen darauf, dass Sie mit anderen Menschen auf eine Wellenlinie kommen und in Resonanz geraten können, ganz ohne ein zersetzendes Wir-gegen-die, sondern vielmehr mit dem Ziel der Verständigung mit Vielen. Das ist es, was wir alle brauchen, im kleinen wie im großen Rahmen, und ganz besonders in der jetzigen Zeit, in der die Errungenschaften von Kultur und Zivilisation durch Kriege bedroht werden, die schrecklicher sein können als alle bisherigen. Kurz gesagt – im Blick auf das gesamte Buch: Die erlebte Wirklichkeit entsteht und vergeht mit jedem Menschen neu und ist von je eigener Art. Zugleich besteht bei den meisten Menschen ein ausgesprochenes Zugehörigkeitsbedürfnis, das der Notwendigkeit eines verträglichen Miteinanders entspricht. Gleichartige Erfahrungen in Gespräch, Spiel, Sport, Musik sowie in vereintem Tun und Schaffen können Resonanzen erzeugen, die die Isolierung der Individuen untertunneln und Überein-Stimmung erzeugen. Am intensivsten wird das Inseldasein des Individuums in recht verstandener Liebe und Freundschaft überwunden. Gemeinschaftserfahrungen werden umso wichtiger, je mehr unsere Gesellschaft, von der Familie bis zum demokratischen Gemeinwesen, von Zersplitterung, Desinformation und Zerstörung bedroht wird. Notwendig sind das respektvolle Zuhören, das Ringen um Ausgleich und der Blick darauf, 491
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den Bezug auf das Verbindende zu wahren. Zum Verbindenden gehören die Wissenschaften in ihrem steten Bemühen um Objektivität und das Geschenk des Bewusstseins, das jedem Menschen eigen ist. Die eigene Subjektivität kann niemand verlassen, auch kein Wissenschaftler. Jeder ist in mehr oder weniger starkem Maße gefangen in seinen Überzeugungen und in seiner jeweiligen Community mit ihrem Erwartungsdruck. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit sowie Zwangssituationen können mit intellektueller Redlichkeit in Konflikt geraten. Dennoch setze ich auf die Kraft selbständigen Denkens und die positive Wirkung eines offenen Diskurses, bei dem die Wissenschaften trotz und wegen ihrer permanenten Selbstzweifel in der Öffentlichkeit Gehör finden. Es gibt keine verlässlichere Basis für ein gemeinsames Weltbild und für unser Zusammenleben. Wir brauchen eine solche Basis angesichts der vielen Verunsicherungen, mit denen wir zu kämpfen haben. Aus zahlreichen Begegnungen mit Wissenschaftlern unterschiedlichster Richtung bin ich überzeugt, dass die faustische, unbestechliche Suche nach Erkenntnis ein primäres Bestreben ist, das sich emergent aus dem naturgegebenen Bedürfnis nach Orientierung entwickelt hat. Sie entspricht dem Statement des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing, mit dem er sich 1778 in einer Streitschrift gegen Bevormundung wandte und damit riskierte, dass seine Schriften der Zensur zum Opfer fielen: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen … Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib!“461
René Descartes fand in seinem Trieb nach unbezweifelbarer Wahrheit zum cogito ergo sum – ich denke, also bin ich – als letztem Grund auf rationaler Ebene. Gut 350 Jahre später findet Antonio Damasio eine Entgegnung auf möglicherweise noch tieferem Grund: „Ich fühle, also bin ich“. Dazu gehört elementare Lebensfreude, die zum Schönsten gehört, was das Bewusstsein bereithält. Er vermutet, dass ein solch existentielles Gefühl jedem Lebewesen eigen ist und der entscheidende Keim zur Entwicklung einer differenzierten Gefühlswelt war. Aus menschlicher Sicht lässt sich sagen, im Sinne von Max Tegmark, aber ohne dessen Glauben an die synthetische Fortsetzung des Bewusstseins in einem digitalen Medium: Ohne Lebensfreude und ohne das Staunen über die Großartigkeit der sichtbaren, hörbaren, fühlbaren Welt, ohne Wesen mit dem unstillbaren Durst, sie begreifen zu wollen, kurz, ohne Bewusstsein wäre der ganze Kosmos eine gigantische sinnlose Maschine. 492
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Ich fragte die Welt, die alte, Was sie als Bestes enthalte In ihrem großen Gebäude; Sie sagte: „Des Herzens Freude!“ Omar Chajjam, persischer Mathematiker, Astronom und Dichter (1048–1131)462
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Anhang Glossar Absolutes Gehör – Fähigkeit, die Höhe eines Tones ohne Hilfsmittel zu bestimmen Achromatopsie – Farbenblindheit Adaptation – Anpassung, z. B. an Temperatur oder andere Dauerreize Afferenz – Nervenimpuls in Richtung auf das Zentralnervensystem affin – verwandt, passend affizieren – reizen Aktionspotential – Form der elektrischen Erregung bei Nervenzellen Aphasie – Sprachverlust aphrodisierend – das sexuelle Verlangen anregend apodiktisch – Aussage, die keinen Widerspruch duldet a priori – vor aller Erfahrung Artefakt – scheinbarer, künstlich herbeigeführter Zusammenhang autopoietisch – selbstschaffend Bereitschaftspotential – neuronales Signal vor einer Willkürhandlung Derivat – chemische Substanz, die aus einer anderen gewonnen wurde Desinformation – falsche Mitteilung zum Zwecke der Täuschung diskret – einzeln, abzählbar Diskurs – Abhandlung oder Diskussion eines Themas Dissoziative Identitätsstörung – multiple Persönlichkeit distinkt – deutlich abgegrenzt Diversität – Unterschiedlichkeit Endorphine – körpereigene Schmerzhemmer, „Glückshormone“ Efferenz – Nervenimpuls vom Zentralnervensystem in Richtung Peripherie emergent – unerwartet neu auftretend endogen – von innen her bedingt Entität – etwas Seiendes entoptische Erscheinung – s. Phosphen
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Glossar Epiphänomen – randständige Erscheinung ohne Bedeutung evident – offensichtlich, unmittelbar einleuchtend exprimieren – Vorgang, bei dem ein Gen in ein Genprodukt umgesetzt wird Follikel – sackförmige Umgebung der Haarwurzel generieren – entstehen lassen Gradient – Verlauf einer Änderung Hate Speech – Hassreden Hemi-Neglect – Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit auf den linken bzw. rechten Teil der Dinge und des Gesichtsfeldes zu lenken. Dieser Teil scheint dann nicht zu existieren. Hemisphäre – linke bzw. rechte Hirnhälfte Hermeneutik – Verfahren, das der Auslegung von Texten und Bildern gilt Hypostase – Verdinglichung eines bloßen Gedankens idiografisch – einmalig, einzigartig inadäquate Reizung – Erregung von Rezeptoren mit ungewöhnlichen Mitteln Inkompatibilität – Unvereinbarkeit intendieren – beabsichtigen Interferenz – Überlagerung von Wellen intrauterin – vorgeburtlich, im Unterus intrinsisch – von innen her Invarianzen – Unveränderlichkeiten Isomorphie – Gestaltgleichheit, Strukturgleichheit Koevolution – stammesgeschichtliche Entwicklung von zwei Organismen unter wechselseitiger Anpassung kohärent – zusammenhängend Korrelation – (statistischer) Zusammenhang kumulieren – anreichern Lexigramm – bedeutungshaltiges Zeichen limbisches System – Hirngebiete unterhalb der Großhirnrinde, typisch für Säugetiere multisensorisch – im Zusammenwirken mehrerer Sinne NCC – neuronale Korrelate des Bewusstseins neuropathische Schmerzen – Schmerzen aufgrund von Nervenschädigungen Neurotransmitter – Botenstoffe, die Signale zwischen Neuronen auf chemischem Wege übertragen noxisch – schädlich für den Organismus Nozizeption – Schmerzreize, die zur Schmerzempfindung führen können Ockhams Rasiermesser – Von mehreren Theorien soll nur die mit den sparsamsten Annahmen gelten. Die anderen werden als nutzlos wegrasiert, nach Wilhelm of Ockham (1285–1347).
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Anhang Ontogenese – individuelle Entwicklung eines Organismus Overview – Überblick, besonders über die gefährdete Lebenswelt als Ganzes Oxymoron – Wort aus zwei sich widersprechenden Begriffen Parameter – Kenngrößen eines physikalischen oder mathematischen Systems Perzeption – Wahrnehmung Phosphen – Lichterscheinung ohne optischen Reiz Parasomnie – Schlafwandeln pars pro toto – ein Teil, das für das Ganze steht peripher – außen gelegen Phylogenese – Stammesentwicklung Postulat – Grundsatz, der für unabdingbar erklärt wird PPN – psychophysisches Niveau, auf dem sich Erlebnis- und Hirnvorgänge entsprechen pränatal – vorgeburtlich Propriozeption – Wahrnehmung von Lage und Bewegungen des eigenen Körpers Querdisparation – unterschiedlich entfernte Punkte im Raum werden in beiden Augen an unterschiedliche Stellen projiziert. Diese Differenz führt zum Stereosehen. reduktionistisch – Versuch, Systemeigenschaften aus Einzelelementen herzuleiten Reiz – Wirkung eines physikalischen Ereignisses auf Rezeptoren des Organismus Reizirrtum – Fälschliche Folgerung aus Reizbedingungen auf die Erlebnisweise Rekurrenz – rückläufiges neuronales Signal Reminiszenz – Überbleibsel von etwas Früherem Resilienz – Widerstandsfähigkeit retinotop – räumliche Ordnung, die der auf der Netzhaut folgt reversible paroxysmale Aphasie – gelegentlich anfallartig auftretender Sprachverlust Scoville-Skala – Maßstab für die Schärfe von Gewürzen, die Capsacain enthalten signifikant – statistisch bedeutsam Signifikant, Signifikat – das Bezeichnende und das Bezeichnete simultan – gleichzeitig und gemeinsam Solipsismus – These, nach der nur das eigene Selbst oder Ich existiert Struktur – Gesamtheit von Beziehungen subkortikal – Hirngebiete unterhalb des Kortex Topologie – räumliche Lage und Anordnung Trichromasie – das (vorherrschende) Farbensehen mit drei Zapfentypen Unstetigkeit – Ungleichmäßigkeit valide – gültig, zutreffend
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Glossar Vestibularorgan – „Labyrinth“, Gleichgewichtsorgan im Innenohr Vexierbilder – Bilder, die verschiedene Auffassungen zulassen (Kippbilder) Winkelgröße – Winkel, unter dem ein Gegenstand ins Auge projiziert wird
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Anhang
Register Abbildung 23, 134
Bedeutungsperspektive 214
Absolutes Gehör 475, 494
Begriffsbildung 68, 109, 241, 248–253, 272, 293, 448–450
ADHS 182, 189, 225
Behaviorismus 209, 271, 382, 389, 428, 430
Adler, Alfred 388 Afferenz und Efferenz 51, 74, 92, 105, 123, 390, 494 Alexie 349
Bender, Hans 193, 196 Beuys, Joseph 301 Bewusstsein 24, 42, 46–49, 51, 59, 67, 76, 77, 157, 160, 168, 169, 180, 181, 271, 273, 315, 372, 382– 384, 387–396, 400, 403–405, 410, 415, 421–459, 474, 489–492
Alhazen, Al-Haitam 138, 143, 287 Alkohol 84, 93, 178, 182 AlphaZero 374, 386
Bipolar-Störungen 189
Amphetamine 182
Blinde 52, 63–69, 95, 120, 124, 131, 159, 188, 255, 346
Anästhesie 76, 162
Blinder Fleck 25
Anaximander 316, 321, 322, Angst 11, 55, 72, 88, 92, 96, 155, 160, 175, 190, 208, 209, 210, 213, 225, 332, 443, 453
Blindsehen 46 Brettspiel 245, 364–369
Anschauliches Denken 255–266
Brownsche Bewegung 292
anthropisches Prinzip 305, 308, 311, 312, 486
Bruno, Giordano 136, 302
Aphasie 443, 494, 496
Cannabis 176, 179, 183
Appetenz und Aversion 85, 227, 282, 389, 452
Chajjam, Omar 384, 493
Aristoteles 50, 81, 138, 161, 195, 235, 243, 273, 278, 290, 298, 321, 322, 367, 414, 424, 427
Chill-Effekt 465–466, 477
Arnheim, Rudolf 258, 263–268, 274, 301, 489
China 121, 184, 214, 323–324, 335, 339, 350, 365, 424, 462 Chomsky, Noam 244, 247, 377
Ästhetik 33, 69, 132, 133, 254, 451
Christen 320, 335, 347, 367
Astronomie 17, 150, 287, 289, 324, 493
Christentum, Bibel 136, 155, 159, 314, 319–321, 392, 424
Atem 60, 105, 106, 317, 398, 423, 424, 425, 467, Âtman 397, 398, 405
Chromosomen 116, 219–224
Atome 99, 130, 287, 288, 292, 298, 305, 306
CIPA–Syndrom 74
Auge, Aufbau 17–26, 27–32
Cochlea, Corti-Organ 90, 97–99, 105, 112, 446, 474
Augenbewegungen 29, 103, 124, 158, 345 Ausdruck 80, 200–217, 456, 465, 467
Computer 162, 245, 252, 304, 339, 372–386, 453, 456, 476, 480
Autismus 189, 207, 225, 370
Contergan 188, 189
Automatismus 93, 142, 315, 389, 393, 396, 411, 418, 438, 444, 464, 489
Coping 330
Balken s. Corpus callosum
Corona-Pandemie 55, 81, 105, 221, 222, 325–336, 345, 356–358
498
Register Corpus callosum 30, 44, 436
Emotion 55, 68, 80, 84, 92, 111, 118, 183, 190, 191, 201–209, 234–238, 247, 347, 366, 384, 456, 462, 467, 469, 471, 478, 488
Darwin, Charles 204, 205, 213, 214, 233, 373 DDR 336–338, 355
Empirie 132, 167, 194, 196, 271, 301, 315, 322, 329, 451, 453, 455, 472, 485, 486
Demokrit 279, 287, 292, 321 Denken 103, 110, 151, 159, 166–169, 178, 189, 255–266, 273, 312, 316, 319, 321, 353, 360, 371, 375–377, 400, 402, 405, 419, 427, 428, 444, 449, 484, 492
Endorphine 75, 76, 91, 106, 184, 368, 384, 494
Depersonalisation 190, 399
Epilepsie 192, 436, 448
Descartes, René 17, 42, 166, 278, 376, 390, 427, 428, 430, 492
Erdkatastrophen 309–311, 408, 486
Desinformation 10, 149, 326, 327, 335, 338–343, 349, 355–358, 485, 491, 494
Erde, Kugelgestalt 146, 322–324
Determinismus 301, 413
Fake News 10, 325–343, 356
Distanzzonen 213
Faraday, Michael 291
DNA 163, 221, 222, 310, 327, 431
Farbenblindheit 35, 115, 450, 482
Dopamin 111, 180, 181, 183, 185, 186, 384, 476
Farbensehen 25, 26, 33–36, 83, 116, 117
Doppelspaltexperiment 302, 303 Dreidimensionalität 37, 40, 44, 45, 108, 110, 133, 134, 139, 142, 144, 263, 291, 293, 297, 307, 308
Dualismus 129, 427, 430 Duchenne, G.-B. 203, 204, 206 Dunkelraum 275, 344, 359 Echnaton 320 Echokammer 10, 329, 330, 343, 485 Eibl-Eibesfeld, Irenäus 224, 233
Erismann, Theodor 18–20
Evolutionstheorie 315, 319
Dissoziative Störung 190, 399, 494
Drogen 134, 151, 158, 175–177, 178–186, 458
Eratosthenes 321–323
Es, psychoanalytisch 400, 401
Dissonanz, kognitive 151, 330, 331
Driesch, Hans 195, 197, 200, 346
Entwicklungsstörungen 189
Erkenntnistheorie 237, 267–280, 477, 486
Deuteranopie 116
Dreifarbentheorie 34, 35
entoptische Erscheinungen 125, 126, 494
Farbwirkungen 118 Fechner, Gustav Th. 126–132, 395, 451 Feld, physikalisch 291, 292, 295 Feynman, Richard 303 Filterblase 14, 329, 345, 353, 359, 383 Fischer, Ernst Peter 286 Formkonstanz 32, 109 Foerster, Heinz v. 270 Foucault, Michel 233, 401 Freud, Sigmund 158–162, 168, 185, 231, 258, 330, 373, 387–396, 400, 403, 489
Einstein, Albert 15, 286, 292–295, 303, 353, 454
Freude 77, 103, 156, 183, 202, 203, 208, 210, 238, 315, 347, 368, 377, 417, 459, 462, 492, 493
Ekman, Paul 201, 203, 207, 208–210
Freundschaft 236, 325, 345, 362, 384, 467, 484
Eliade, Mirca 316
Fromm, Erich 231–233, 237
Embryo und Fötus 104, 105, 107, 188, 282
Fuzzy–Logik 252
499
Anhang Galilei, Galileo 93, 288, 289
Handy 295, 341, 478, 486
Galtonbrett 299, 300, 303, 311, 312
Haptik 51, 64–71, 100, 103, 108, 135, 140, 146, 168, 169, 284, 488
Ganglienzelle 28, 29, 31, 42
Hautsinne 50–56, 66, 67, 76, 104, 169
Ganzfeld 44, 196, 345 Geburt 14, 104–110
Heisenberg, Werner 293, 303, 353
Gefühl 45, 55, 136, 156, 175, 177, 178, 189, 200–217, 218, 231–238
Helmholtz, Hermann v. 34, 472 Hemi-Neglect 47, 48, 495
Gegenfarbentheorie 34, 35
Hering, Ewald 34
Gegenwart, erlebte 70, 235, 284, 305
Herz 61, 75, 124, 422–425, 461, 465, 467, 477
Geheimnis 12, 281, 285, 286, 291, 364, 453
Hitler, Adolf 11, 299, 301, 334, 355, 468
Gehirn, Übersicht 30, 41, 422–439
Hofmann, Albert 174–177
Geller, Uri 137, 163
Homosexualität 191, 226, 227
Gemeinschaft 13, 15, 115, 311, 312, 324, 342, 344– 361, 364, 369, 371, 417, 462, 467, 478, 479, 483, 484, 491
Huizinga, Johan 364, 369
Gender 225, 233
Humanität 10, 385, 386, 418, 477, 479, 491 Huxley, Aldous 172, 173, 241 Hyperraum 33
Genitalien 161, 224
Hypnose 76, 195, 344
Geruch, Geschmack 54, 79–87
Ich-Eigenschaften 397–406
geschlechtliche Zuchtwahl 214, 215, 230
inadäquate Reizung 74, 123–127
Geschlechtsbildung 224
inattentional blindness 149
Geschlechtsmerkmale 216, 224, 227 Gesichtsfeld 19, 20, 26, 29, 42–47, 93, 108, 145, 171, 346
Inferenzen 251–253, 484 Infodemie 335, 340, 357
Gestaltkreis 68, 103, 23–239, 241
Inkubation 394, 395
Gestaltpsychologie 139, 210, 264, 267, 273–275, 344, 428–430, 446, 447
Inquisition 159, 289
Gestik 103, 201, 207, 211–214, 237, 238
Invarianzen 31, 109, 134, 135, 488, 495
Gibson, James J. 134
Islam, Koran 155, 252, 335, 357, 417
Glasersfeld, Ernst v. 268–270
James-Lange-Theorie 208
Gleichgewichtssinn 20, 50, 60, 89–94
James, William 194, 303
Go 365, 374, 375, 378
Jaspers, Karl 45, 168, 172, 173, 206, 346, 353, 398– 400, 456
Goldener Schnitt 133, 451
Introspektion 404, 430, 431
Götz, Karl O. und Karin 254, 255, 257, 258, 265, 389
Juden 334, 352, 356, 424, 430
Haar 105, 120
Kamera 18, 20, 35
Halluzinationen 81, 125, 171–177, 182–185, 189, 190, 192, 276
Kant, Immanuel 45, 161, 167, 269, 271–273, 278, 349, 351, 357, 368, 402, 412
Jung, Carl Gustav 200, 235, 346, 388
500
Register Kasparow, Garri 360, 373, 375
Libet, Benjamin 408–415, 418
Kepler, Johannes 17, 322
Licht 17, 18, 21, 23–25, 28, 33–36, 42, 64, 106, 116– 119, 125, 130–132, 138, 270, 279, 290–292, 295, 298, 320, 321, 344–346, 454
Kinetose 89, 92, 93 Kinästhesie 67 Klang 95–101, 124, 128, 131, 247, 282, 318, 437, 453, 460–479, 488 Koch, Christof 392, 395, 431–436, 445, 448, 455, 457, 458
Liebe 228, 229–239, 241, 441, 450, 467, 484 Lorenz, Konrad 353, 452 LSD 174–177, 178, 181 Lügen 10, 11, 145, 160, 209, 339, 340, 358
Kohler, Ivo 18–21
Mach, Ernst 39, 61
Köhler, Wolfgang 262, 267, 273–278, 428–434
Manipulation 149, 153, 190, 325, 338, 339, 341, 345, 356, 382
Koffein 185, 186
Marihuana 183
Kokain 179, 185
Maxwell, James C. 291, 292
kollektives Gedächtnis 349, 350, 351, 484
Meiose und Mitose 219–221
kollektives Feld 200, 235, 346, 353
mental map 147, 148
Kompatibilismus 411, 416, 418
Meskalin 172, 173
Konsonanz 44, 472
Methoden 130, 147, 153, 195, 262, 286–289, 355, 359, 385, 427, 442, 446, 451, 453, 458
Konstruktivismus 234, 267–280 Kopfstehendes Bild 17–21
Metzger, Wolfgang 210, 274–277, 344, 430
Körperbild 61, 62
Metzinger, Thomas 385, 401, 402, 431, 442
Körpersprache 201, 211, 212, 217
Migräne 75, 124, 171
Kosmologie 14, 303, 312, 322, 378
Mimik 103, 108, 200, 201, 203, 207, 208, 210, 456
Kreativität 23, 25, 103, 104, 162, 163, 175, 237, 251, 278, 394, 395, 416, 477, 487, 491
Molcho, Samy 211, 212
Kunst, bildende 133, 141, 153, 175, 200, 214, 254– 266, 267, 276, 301, 341, 354, 381, 389, 403, 416, 451, 465, 470, 471, 475, 484
Money, John 225, 233
Mondrian, Piet 260, 261, 471 Monismus 129, 427
Künstliche Intelligenz 307, 372–386, 454, 480
Moral 401, 404, 408, 412, 416, 418, 462
Kurz- und Weitsichtigkeit 25, 112
MRT 43, 188
Lamarck, Jean-Baptiste 205, 222
Multitasking 261
Lanugohaar 105, 107, 282
Multiversum 301–312
Laser 295
Mündigkeit 416
Leib-Seele-Problem s. Seele
Mundraum 87, 108, 109, 113
Leibniz, Gottfried W. 166, 167, 309, 408, 427, 428, 474
Musik 97, 105, 106, 460–479
Lesen 25, 66, 111, 149, 247, 251, 262, 349–352
Musik, Wirkungen 462, 465–469, 471, 473, 474, 477, 478,
Lessing, Gotthold E. 446, 492
Musik anderer Kulturen 462, 470, 471, 473
501
Anhang musikalische Bezeichnungen 467
Pheromone 81
Musikerdystonie 464
Phoneme 245–247, 253
Muslime 138, 334, 347, 367, 424
Phosphene 125, 126
Mythos 316, 318, 322
photischer Reflex 125
Nachbilder 161, 276
Photonen 24, 28, 36, 292, 390, 488
Navigationssystem 294, 377, 486
Phylogenese 87, 105, 268, 438, 496
Neandertaler 244, 245, 310
Piaget, Jean 268, 269, 282
Nervensystem 61, 84, 99, 104, 106, 109, 124, 191, 233, 390, 425, 457, 465
Planck, Max 265, 292, 294, 295, 309
Nervenzelle 31, 32, 40, 41, 110, 179, 180, 437
Platon 81, 138, 147, 165, 172, 231, 235, 263, 271, 297, 350, 424, 427, 462, 480
Netzhaut s. Retina
Polarisierung 340, 345
neuronale Netze 135, 376, 380, 383, 395, 429
Polarlicht 164, 169
Neuron s. Nervenzelle
Pöppel, Ernst 46
Neutöner 471–475
pränatal 104, 496
Newton, Isaak 33, 130, 289–293, 297, 298
Precht, Richard David 216, 232–235, 384–386, 389, 404
Nichtbewusstes 134, 346, 389, 390, 395, 409, 410, 411, 413, 418, 419, 422, 446, 474, 489 Nikotin 181 Nozizeption 74–76, 495 Oben – unten 17–21 Objektivität 267, 275, 279, 431, 492
Problemlösen 256 Propaganda 325, 328, 334, 336–338, 341, 348, 358, 359 Proportionen 57, 129, 132, 133, 451 Propriozeption 57, 105, 496
Ockhams Messer 197, 303, 495
Prosodie 247, 464, 475
Ommatidien 27, 28
psychische Störungen 187–192
Onanie 227
Psychophysik 129–136
Ontogenese 104, 142, 242, 268
Pubertät 103, 111–113, 213, 224, 225, 227, 247, 400, 484, 485
Opium, Heroin, Fentanyl 184, 185 optische Täuschungen 13, 137–154 Ortega y Gasset 15, 230, 231, 236 Oxymoron 46, 496 Parallelismus 427 Parameter 60, 157, 252, 309, 463, 483, 496 Parapsychologie 193–198 Persönlichkeitsstörungen 191
Putin 10, 11, 328, 336, 338, 339, 355, 357, 358, 361 Quanten 25, 197, 290, 294–298, 303–306, 367, 402, 486 Quantenmechanik 197, 294, 302, 486 RAF 355 Ratzinger, Joseph A. 407 Raumsymbolik 212, 214, 217
Perzeption 103, 104, 496
Raumwahrnehmung 37–45, 133, 134, 139, 142, 144, 293, 297, 307
Phantomschmerz 74, 123, 127
Raumzeit 292, 293, 295–297
502
Register Realität 10, 18, 39, 77, 118, 123, 129–136, 139, 165, 168, 169, 177, 189, 234, 235, 268–280, 291, 294, 297, 298, 315, 329, 330, 343, 346, 353–355, 358, 361, 365–369, 402, 483, 487 Recht 151, 328, 356, 357, 371, 408, 414
Seele 42, 129, 155, 158, 161, 165, 196, 201, 206, 212, 236, 387, 388, 398, 422–427, 455, 462, 467, 474, 477–479 Seelenfeld 196–198, 200 Sehbahn 41–44, 425
Reflexion 173, 398, 403, 411,420 Reimer, David 225
Sehen 17–49, 108, 109, 112, 115–127, 130–146, 250, 263–266, 275–280, 293, 344, 421, 432–435
Reiz 23, 47, 54, 74, 75, 84, 97, 98, 129, 145, 159, 271, 428
Sexualität 81, 191, 219–228, 231, 233, 239
Reizirrtum 27, 28, 44, 69, 95, 141, 273, 496
Simultankontrast 139 Singer, Wolf 402, 409, 412, 414, 415, 419
Relativitätstheorie 292, 293, 298, 486,
Solaranlagen 292
Religion 231, 233, 316, 319, 322, 347, 371, 423, 424
Solipsismus 270, 487, 496
REM-Phasen 157, 158, 162 Resonanz 99, 236–239, 259, 347, 371, 478, 479, 484, 491
somatoviszeral 57, 74 Spandrel 233
Retina 25, 28, 29, 34, 112, 125, 134, 142, 144, 145, 273, 423, 434, 435, 445
Speckmann, Erwin-Josef 73, 518
retinotop 31, 43, 434, 496
Spiel 362–371
Revesz, Geza 69, 70
Split-Brain 436
Rezeptives Feld 28, 29, 445
Sprache 240–266, 448, 449
Roth, Gerhard 332, 410, 412–414
Sprachwahrnehmung 247
Rovelli, Carlo 290, 322, 323, 353
Steinzeit 111, 207, 245, 287, 312, 422, 461
Sacks, Oliver 47, 192
Stendhal 230
Schach 373–379
stereoplastisch 70, 108
Schall 95, 100, 128, 130, 132, 270, 279, 462
Subjekt-Objekt-Spaltung 45
Schein 137–154, 272, 275–277, 432 Schizophrenie 173, 176, 189, 344
Symbol 161, 162, 213, 241, 243, 258, 265, 283, 364– 369, 375, 423, 444
Schlaf 42, 74, 76, 104, 155–170, 186, 391, 392
Symmetrie 259–261, 305
Schlafwandeln 391, 392
Synapse 41, 76, 77, 110, 179–186, 433, 445
Schlaganfall 32, 46, 47, 48, 101
Synästhesie 121, 122
Schmerz 52, 60, 72–78, 84, 99, 123, 124, 127, 162, 169, 180, 183, 184, 203, 224, 400, 403, 431, 441, 450, 454, 455
Taubblinde 442, 443
Schönberg, Arnold 468–476
Telepathie 194–196
Schrift 247, 350, 351 Schuld 189, 391, 408, 412,414 Scoville-Wert 86
Spiegelneurone 206, 207, 488
Tegmark, Max 303, 378, 379, 381–384, 441, 458, 492 Tesserakt 293, 294 Thalamus 47, 74, 84, 87, 247, 390, 403, 413, 434, 438, 446
503
Anhang Tinnitus 100, 124, 126, 128
Was- und Wo-Bahn 434, 449
Tod 77, 155, 173, 185, 408, 423, 480
Watson (Computer) 374, 377, 386
Tonalität 471–473
Weber, Ernst H. 129
Transmitter 173, 180,
Weiskrantz, Larry 46
Traum 57, 155–170, 388
Weizsäcker, Victor v. 68, 103, 235, 302
Trigeminusnerv 75, 84, 125
Weltanschauung 194, 316
Trump 151, 331, 335, 338–340, 358, 363
Weltbild 10–13, 133, 136, 292, 302, 314–324, 407, 454, 455, 473, 485, 486, 490–492
Tunnelblick 346, 349, 359
Weltkrieg 10, 194, 299, 334, 388, 418
Turing, Alan 376, 381, 455
Wettstreit 363, 367, 368, 421, 433, 435, 445
Über-Ich 330, 400, 401
Widerständigkeit des Realen 168, 169
Ulrichs, Timm 256, 259
Willensfreiheit 407–420
Umkehrbrille 18–21 Unbewusstes 60, 161, 167, 200, 211, 346, 388–390, 400, 401, 410, 415, 457, 484, 489 unipolare Depression 189 Unsterblichkeit 383–385, 398, 480, 490 Urknall 14, 289, 290, 305, 378, 379 Vagheit 251, 252, 253 Venus 81, 217, 228, 287 Verantwortung 11, 312, 355, 392, 413–419 Vergil 81, 228 Verleugnung, Verdrängung 161, 330, 331, 401 Verschwörungserzählungen 325–343 Vestibularapparat 90, 93, 120 Viele-Welten-Theorie 303, 308, 311 Vinci, Leonardo da 42, 156, 201, 426 Virus 81, 221, 271, 326, 327, 335, 339, 357
Win-Win-Situation 361, 364 Wirklichkeit 13–16, 77, 115, 123–154, 164–170, 267–280, 294, 297, 328–361, 365, 369, 402, 427, 429–431, 447, 487, 491 Wissen 143, 146, 147, 281–298, 323, 354, 485 Wissenschaft 21, 167, 286–298, 327, 328, 431 Young, Thomas 34 Zapfentypen 26, 34, 35 Zauberkünstler 50, 137, 153, 195 Zeigen 246, 251, 354 Zeit 104, 162, 292, 293, 304, 364, 371, 429, Zeitdilatation 486 Zersplitterung, soziale 13, 348, 353, 354, 484 Ziegenproblem 151, 152 Zirbeldrüse 41, 42, 166, 390
Visuelle Zentren 31, 40–42, 44, 109, 390, 434, 435
Zukunft 14, 169, 239, 284, 302, 305, 311, 312, 360, 378, 379, 383, 385, 398, 410, 454, 486
Vorbewusstes 163, 389, 405, 440
Zunge 51, 84–86, 108, 124, 209, 244
Wahnvorstellungen 172–177, 189
Zwangsstörungen 190
Wärme 53, 118, 119, 131, 132, 182
Zyklopenauge 38, 39
504
Abbildungsnachweis
Abbildungsnachweis Abb. 20: MRT-Aufnahme: Radiologie Münster Centrum Abb. 24: Matthias Schüssler – Luchs-Portrait (2), CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/ index.php?curid=83670007 Abb. 25: akg-images / sciencesource / Abb. 26: Antikensammlung Kassel Abb. 43: Modifiziert nach Raven, Evert, Eichhorn (2006), S. 529 Abb. 52: Heritage Images / Fine Art Images / akg-images Abb. 71: MRT-Aufnahme: Radiologie Münster Centrum Abb. 74: Museum am Rothenbaum (MARKK), Hamburg, Foto: Max Kobbert Abb. 76: akg-images Abb. 81: akg-images / CDA / Guillemot Abb. 95: Mit freundlicher Genehmigung von Timm Ulrichs Abb. 99: Foto: Paul Jaronski Abb. 112: Modifiziert nach C. Rovelli 2020, S. 205 Abb. 128: akg-images / brandstaetter images/Votava Abb. 130: akg / Science Photo Library Abb. 132: Foto: Sunghee Jung Abb. 135: Public Domain Abb. 141: Schema modifiziert nach K. R. Popper & J. C. Eccles 1987, S. 336; B. Libet 2004 S. 276; E.-J. Speckmann u. a. 2019 S. 209 Abb. 145: Russische Ikone, um 1600, Privatbesitz Abb. 146: akg-images
Sofern hier oder in den Bildtexten nicht anders angegeben, stammen die Zeichnungen und Fotos vom Verfasser.
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300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313
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K. Jaspers 1959 S. 87. C. Rovelli 2021 S. 283. https://www.anne-cyron-afd.de/maulkorberlass-oder-wie-weit-koennen-regierungen-gehen-umdas-volk-mundtot-zu-machen/, vom 01.12.2020. H. König 2020 S. 46. https://www.spiegel.de/ausland/krise-im-donbass-donald-trump-nennt-wladimir-putins-winkelzuege-in-der-ostukraine-genial-a-d8743ed6-ffc0-42dc-a2f0-63835b12d1cb https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/deutschlands-bekanntester-philosoph-putinsniveau-erinnert-sloterdijk-an-tischgespraeche-hitlers_id_107970489.html vom 19.6.2022 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_1568, vom 10.09.2020. J. Leinen & A. Bummel 2017. https://www.focus.de/digital/dldaily/dldaily-gastbeitrag-von-gary-kasparov-upgrade-fuer -die-demokratie_id_13015932.html, vom 26.02.2021. M. T. Nguyen-Kim 2021. W. Eilenberger 2019. https://www.suedkurier.de/ueberregional/politik/ex-botschafter-in-moskau-traf-putin-mehrfachpersoenlich-er-wird-scharf-zynisch-auch-ausfallend;art410924,11138520 vom 11.05.2022. R. Reilly 2020. J. Huizinga 1956 S. 20. W. Decker 1987; U. Schädler 2007; M. J. Kobbert 2019b. M. Eigen & R. Winkler 1975. R. Pausch 2008. H. Sbrzesny 1976. M. J. Kobbert 2019b S. 51. I. Kant 1803. https://www.dak.de/dak/bundesthemen/computerspielsucht-2103398.html#/, vom 13.12.2021. S. Freud 1917. https://de.wikipedia.org/wiki/Watson_(K%C3%BCnstliche_Intelligenz, vom 29.06.2021. https://link.springer.com/article/10.1007/s00048-017-0167-6, vom 07.04.2017. M. Heßler 2017 S. 13. https://www.deutschlandfunk.de/autonome-waffen-ki-systeme-im-militaer.676.de.html?dram:article_id=459749, vom 26.09.2019. M. Heßler 2017 S. 22. R. D. Precht 2020 S. 14. M. Tegmark 2017 S. 53. ebd. S. 99. vgl. M. Tegmark 2017 Abb. 2.9. M. Tegmark 2017 S. 120. ebd. S. 139. ebd. S. 386 f. Y. N. Harari 2019 S. 162. M. Tegmark 2017 S. 465. R. D. Precht 2020, S. 26. ebd. S. 34 f. O. Chajjam 1881, 10. Buch, Nr. 12. https://www.edge.org/conversation/thomas_metzinger-benevolent-artificial-anti-natalism-baan, vom 08.07.2017. R. Kurzweil 2016.
527
Anhang 315 316 317 318 319 320 321 322 323 324
325 326 327 328 329 330 331 332 333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348
349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359
R. D. Precht 2020 S. 168. zit. nach D. E. Zimmer 1995 S. 295. S. Freud 1922 S. 529. S. Freud 1923 S. 253. K. O. & K. Götz 1972 S. 67. W. Kandinsky 1955 S. 214. R. D. Precht 2020 S. 79. Shakspeare’s dramatische Werke 1855, S. 532 f. C. Koch 2005 S. 245 f. https://www.researchgate.net/profile/Jan-Bumb/publication/285594809_Forensic_Implications_ of_Sleep-Associated_Behavior_Disorders/links/570f79f808aec95f0613df56/Forensic-Implicationsof-Sleep-Associated-Behavior-Disorders.pdf, vom 14.04.2016. Mises 1875 S. 448. R. E. Beaty & Y. N. Kenett 2021. H. Beck 2013 S. 190. C. Koch 2005 S. 229 ff. ebd. S. 233. S. Hansen 1991 S. 215. K. Jaspers 1959 S. 101 ff. S. Freud 1923. ebd. S. 368 f. ebd. S. 379. H. Fink-Eitel 2002. T. Metzinger 1996. zit. nach W. Eilenberger 2019 S. 233. T. Metzinger 2009 S. 13. ebd. S. 100. W. Singer & M. Ricard 2017 S. 47. W. Prinz 2013. A. Damasio 2010 S. 34 f. A. Damasio 1996. A. Damasio 2010 S. 198. R. D. Precht 2012 S. 70. K. Gutbrod & R. Kücklich 1959 S. 1403. zit. nach M. Pauen 2008 S. 41. Schema modifiziert nach K. R. Popper & J. C. Eccles 1987, S. 336; B. Libet 2004 S. 276; E.-J. Speckmann u. a. 2019 S. 209. B. Libet 2004 S. 268. J. Baggini 2016. W. Singer 2004. G. Roth 2004. B. Walde 2004. E. Schockenhoff 2004. O. Höffe 2004. L. Wingert 2004. T. Buchheim 2004. G. Kempermann 2004. H. Cruse 2004.
528
Quellen 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407
W. Prinz 2004. K. Amira 1913. C. Baldus 2008. ebd. S. 192. G. Mohr 2008. H. Meyer 2004. F. Rösler 2008. B. Libet 2004. W. Singer 2004 S. 32. J. Baggini 2016 S. 256. W. Singer 2004 S. 30. E. Hornung 1990 S. 90. J. Assmann 1995. E. Oeser 2002 S. 19. K. R. Popper & J. C. Eccles 1989. A. Beckermann 2008 S. 13 f. C. v. Ehrenfels 1890. W. Köhler 1938. W. Metzger 1986. T. Metzinger 2009 S. 98. C. Koch 2005 S. 8. ebd. S. 40. ebd. S. 83. C. Koch 2013 S. 88. M. J. Kobbert 1976; C. Koch 2013 S. 91 ff. C. Koch 2013 S. 93. C. Koch 2005 S. 180 f. J. D. Delius 1986. C. Koch 2005 Kap. 17. M. Tegmark 2019 S. 421 ff. T. Metzinger 2009 S. 86. H. Keller 1907. M. Donald 2008 S. 75. ebd. S. 129 f. E. Cassirer 1944. F. Marc 1994 S. 269. G. E. Lessing 1767-69 101/4. C. Koch 2013 S. 108 ff. W. Witte 1960. N. Block 2006. T. Nagel 1974. D. Dennett 2006. G. Th. Fechner 1871. E. Pöppel & A.-L. Edingshaus 1994 S. 139. W. Gruber 2001. C. Ehrenfels 1890; W. Metzger 1968 Kap. 2. K. Lorenz 1978. z. B. M. Tegmark 2017; G. Roth & N. Strüber 2018.
529
Anhang 408 409 410 411 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445
446 447 448 449 450 451 452 453 454
D. J. Chalmers 1996. zit. n. H.-D. Heckmann & S. Walter 2006, S. 5. J. Levine 2006. F. Jackson 2006. M. Tye 2006. H.-D. Heckmann 2006. C. Koch 2005 S. 341. H. D. Zimmer 2006 S. 327. P. Roitzsch 2020. K. Jaspers 1959 S. 214. C. Koch 2013, Kap. 8; M. Tegmark 2017 S. 446 ff. C. Koch 2005 S. 309. zit. nach C. Koch 2013 S. 42. S. Hawking & L. Mlodinow 2010 S. 161. M. Tegmark 2017 S. 421. H.-D. Heckmann 2006 S. 182. E. Altenmüller 2018 S. 14 u. 374. ebd. S. 43. Platon, Politeia III, 401d. M. Spitzer 2014 S. 4. E. Altenmüller 2018 S. 374. ebd. S. 209. ebd. S. 322. https://www.youtube.com/watch?v=LFz2lCEkjFk, vom 18.05.2010. E. Altenmüller 2018 S. 60. H. Kreitler & S. Kreitler 1980. E. Altenmüller 2018 S. 385 ff. M. J. Kobbert 1990. K. Hörmann 2014 S. 92 f. s. K. Hörmann 2014 S. 110. E. Altenmüller 2018 S. 155. ebd. S. 115. U. Petrik 2008 S. 108, 112. J. Mischke 2020 S. 278. E. Büning 2020 S. 128. U. Petrik 2008 S. 168. M. Bergler 2001. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/vielbeschworene-klassikkrise-gibt-esgar-nicht-15684569.html, vom 11.07.2018. K. Nagano & I. Kloepfer 2019. H. Fleischer 2002. M. J. Kobbert 1986 u. 1989. U. Petrik 2008 S. 72 u. 103. ebd. S. 101. K. Hörmann 2020 S. 132. M. Ebeling 2007. U. Petrik 2008 S. 109. E. Altenmüller 2018 S. 179 f.
530
Quellen 455 456 457 458 459 460
461 462
E.-J. Speckmann u. a. 2019 S. 145. M. J. Kobbert 2006. D. J. Levitin 2009 S. 135. K. Nagano & I. Kloepfer 2019 S. 103. https://www.youtube.com/watch?v=rjm9aGioXaw, vom 31.01.2017. https://playingforchange.com/, vom 16.08.2021. https://www.youtube.com/watch?v=Us-TVg40ExM, vom 16.08.2021. G. E. Lessing 1979 S. 32 f. O. Chajjam 1881 9. Buch, Nr. 52.
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Anhang
Über den Autor Max J. Kobbert ist 1944 in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und zwei Enkel. Er studierte in Münster Psychologie, Philosophie und Naturwissenschaften mit dem Abschluss als Diplompsychologe. 1976 promovierte er über bewusste und nicht bewusste Prozesse der visuellen Wahrnehmung. An den Universitäten Münster und Regensburg war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Forschung und Lehre in Allgemeiner Psychologie und Rehabilitationspsychologie tätig. Ab 1978 arbeitete er als Professor für Wahrnehmungs- und Kunstpsychologie an der heutigen Kunstakademie Münster, zusätzlich seit 1982 an der FH Münster im FB Design. Emeritierung 2009. Zu seinen außerberuflichen Interessen gehört das Sammeln von Bernsteininklusen und von antikem Spielmaterial.
Bereits erschienene Buchtitel: Kobbert, M. J. (1986) Kunstpsychologie. Kunstwerk, Künstler und Betrachter. wbg, Darmstadt. Kobbert, M. J. (2005) Bernstein – Fenster in die Urzeit. Planet Poster Editions, Göttingen. Kobbert, M. J. (2013) Wunderwelt Bernstein. Faszinierende Fossilien in 3D. wbg, Darmstadt. Kobbert, M. J. u. Speckmann E.-J. (2013) Eingefangene Momente. Haiku und Tuschpinsel. Daedalus, Münster. Kobbert, M. J. (2015) Antje erfindet die Kunst. Kinderzeichnung und Kreativität. Daedalus, Münster. Kobbert, M. J. (2016) Diamant und Schneekristall. Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München. Gröhn, C u. Kobbert, M. J. (2017) Pflanzen in Bernstein. Wachholtz, Kiel/Hamburg. Kobbert, M. J. (2019a) Das Buch der Farben. wbg, Theiss, Darmstadt (2. Aufl.). Kobbert, M. J. (2019b) Kulturgut Spiel. Nürnberger Museen, Nürnberg (2. Aufl.).
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Max J. Kobbert promovierte 1976 mit einer Arbeit über bewusste und nicht bewusste Prozesse der visuellen Wahrnehmung. Er war mit Schwerpunkt Wahrnehmungspsychologie an den Universitäten Münster und Regensburg, an der Kunstakademie Münster und am FB Design der FH Münster tätig.
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40760-6
Max J. Kobbert Die zweite Entstehung der Welt
Bei jedem Menschen entsteht die Welt neu. Dieser Prozess beginnt schon vor der Geburt und setzt sich bis ins Alter fort. Was man als Wirklichkeit erfährt, umfasst die physische und die soziale Welt ebenso wie das eigene Selbst. Überindividuelle Wirklichkeit, Kommunikation, Gemeinschaft und Gemeinsamkeiten verstehen sich nicht von selbst. Sie müssen, weil wir sie brauchen, als zentrale Aufgaben begriffen und immer neu geschaffen werden. Desinformationen und Spaltungstendenzen erschweren sie zusätzlich. Das Buch analysiert nicht nur die anthropologische Grundsituation, sondern enthält auch konkrete Beiträge zur Lösung drängender Probleme. Dabei spannt es einen weiten Bogen über Natur- und Geisteswissenschaften, über Sprache, Kunst und Musik. Bei aller Tiefgründigkeit bleibt das Buch allgemeinverständlich. Zahlreiche Anekdoten und über 150 Abbildungen lockern den Text auf.
Max J. Kobbert
Die zweite Entstehung der Welt Was uns trennt und was uns verbindet