Deformationen der Ordnung: Bausteine einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie 9783839443132

How can the complex relational structure between »order« and »catastrophe« be analyzed from the perspective of cultural

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German Pages 354 Year 2018

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Inhalt
I. Einleitung
II. Theoretische Grundlagen einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie
III. Versuch einer Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons
IV. Resümee
Literatur
Quellen
Danksagung
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Deformationen der Ordnung: Bausteine einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie
 9783839443132

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Sandro Ratt Deformationen der Ordnung

Sozialtheorie

Sandro Ratt (Dr. phil.), geb. 1980, lebt und arbeitet in München.

Sandro Ratt

Deformationen der Ordnung Bausteine einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie

Die vorliegende Arbeit wurde im September 2017 von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Gutachter: Prof. Dr. Reinhard Johler, Prof. Dr. Hubert Knoblauch Gefördert durch: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Sonderforschungsbereich 923 »Bedrohte Ordnungen«

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4313-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4313-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I.

Einleitung | 7

II.

Theoretische Grundlagen einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie | 33

1. 2. 3.

Ordnungsperspektiven | 33 Extrauteriner Ordnungsbedarf | 48 Ordnungsdimensionen | 62 3.1 Das Ordnungsgefüge | 62 3.2 Existentielle Ordnungen | 67 Ordnungsrelationale Bedrohungen | 81 Immunisierte Räume | 93 5.1 Existentielle Immunisierung | 96 5.2 Soziale Immunisierung | 102 Ordnungsverwundende Ereignisse | 117 6.1 Katastrophische Ordnungsdeformationen | 124 6.2 Postkatastrophische Ordnungsrekonfigurationsprozesse | 133

4. 5.

6.

III.

Versuch einer Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons | 147

1. 2.

Präkatastrophische Ordnungsverhältnisse | 147 Katastrophengenese | 164 2.1 Rekonstruktion der Lawinenursachen | 164 2.2 Rekonstruktion der Lawineneffekte | 185 Ordnungsrekonfigurationsprozesse | 206 3.1 Rekonstruktion der postkatastrophischen Reaktion | 208 3.2 Rekonstruktion der postkatastrophischen Rekreation | 224 3.2.1 Materielle Aspekte | 225 3.2.2 Soziale Aspekte | 249 3.2.3 Semantische Aspekte | 275

3.

IV.

Resümee | 299

Literatur | 313 Quellen | 339 Danksagung | 351

I. Einleitung

Dem Begriff der Katastrophe ist eine herausfordernde Unschärfe zu eigen. Weder im alltäglichen noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch basiert seine Verwendung auf einer konstanten, konsistenten Bedeutung. Versuche, diesem Umstand durch die Festlegung objektiver Definitionskriterien entgegenzuwirken, sind in der Regel jedoch nur wenig überzeugend. Vielmehr zeigt sich, dass die Vagheit des Begriffs nicht Ausdruck einer definitorischen Nachlässigkeit ist, sondern notwendige Folge seiner konstitutiven Relationalität: Katastrophen lassen sich nur dann adäquat verstehen – und kulturwissenschaftlich analysieren –, wenn sie in ihren vielschichtigen, je spezifisch konfigurierten Bezügen zu den lebensweltlichen Ordnungen der von ihnen betroffenen Akteure betrachtet werden. Die vorliegende Arbeit geht diesem Zusammenhang nach. Ihr liegt die Intention zugrunde, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, vermittels dessen das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen „Ordnung“ und „Katastrophe“ auf erhellende Weise in den Blick genommen werden kann. Die explizite Berücksichtigung dieser Relationen soll es ermöglichen, Katastrophen entgegen verbreiteten Exkulpationsstrategien als hybride, prozessuale Ereigniskomplexe zu analysieren – als Geschehen, deren Genese stets eng mit jenen Verhältnissen verknüpft ist, die schließlich von ihnen bedroht, zerstört und verändert werden. Was sich demzufolge in einiger Hinsicht als ein theoretischer Beitrag zum interdisziplinären Projekt der Erarbeitung einer allgemeinen kulturwissenschaftlichen Katastrophologie lesen lässt, soll hier nun aber nicht zuletzt auch der Untersuchung eines konkreten historischen Gegenstands dienen. Am Beispiel der Lawinenkatastrophe von Blons gilt es die entwickelten Begriffe empirisch anzuwenden und zu schärfen.

8 | Deformationen der Ordnung

1. ZIEL DER UNTERSUCHUNG Im Januar 1954 wurde das österreichische Bundesland Vorarlberg vorübergehend in einen katastrophisch bedingten Ausnahmezustand versetzt. Infolge heftiger Schneefälle und Stürme sind in den Berggebieten des Landes binnen wenigen Tagen rund 400 Lawinen abgegangen, die vielfach zu heftigen Zerstörungen führten und im Gesamten 125 Menschen das Leben kosteten. Besonders gravierend wirkten sich die damaligen Witterungsverhältnisse in Blons aus, einer kleinen, bergbäuerlich geprägten Gemeinde des Großen Walsertals. Hier waren am 11. Januar gleich mehrere große Lawinen zu Tal gegangen und hatten dabei verheerende Verwüstungen hervorgerufen: Ein Drittel der Gebäude sowie erhebliche Teile des Waldes und der landwirtschaftlichen Nutzflächen wurden zerstört, ein Sechstel der Bevölkerung und ein Großteil der Tiere starben. Aufgrund der zahlreichen Opfer und massiven Schäden markiert dieser Tag eine einschneidende Zäsur in der jüngeren Gemeindegeschichte. Die Lawinenabgänge rückten Gegenwärtiges schlagartig in eine ferne Vergangenheit, zogen im Zuge des Wiederaufbaus einen umfassenden Strukturwandel nach sich und prägten als eindringlich wirksamer Ereigniskomplex die Biographien der betroffenen Akteure 1. So zeitigten sie irreversible Transformationen, die sich mit nachhaltiger Intensität auf verschiedenen Ebenen des lokalen Lebensvollzugs niedergeschlagen haben. In der vorliegenden Arbeit sollen die skizzierten theoretischen Intentionen mit einer Untersuchung der damaligen Geschehnisse verknüpft werden. Auf der Grundlage des zu entwickelnden analytischen Instrumentariums wird also der Versuch unternommen, die Lawinenkatastrophe von Blons aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu rekonstruieren. So sehr zu diesem Zweck über weite Strecken auch (über-)regionale Zusammenhänge in den Blick zu nehmen sind, liegt der primäre Untersuchungsfokus damit letztlich stets auf den Geschehnissen innerhalb des Gemeindegebiets. Zugunsten einer dichteren Darstellungsweise sollen die weitreichenden Verflechtungen dieses Ereigniskomplexes also vornehmlich hinsichtlich ihrer konkreten Relevanz für die Sphäre des Lokalen analysiert werden. Wie, so die forschungsleitende Ausgangsfrage, realisierte sich die damalige Lawinenkatastrophe im Rahmen der materiellen, sozialen und kulturellen Bedingungen des Blonser Alltagsbetriebs.

1

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

Einleitung | 9

Das Ziel dieser Untersuchung der Lawinenkatastrophe von Blons besteht – fürs Erste kurz und allgemein gefasst – in der Visibilisierung ihrer Komplexität. Entgegen der nach wie vor verbreiteten Praxis, Katastrophen monolithisch als plötzlich auftretende, von außen hereinbrechende, quasinatürliche Extremereignisse zu repräsentieren, soll das damalige Geschehen in seiner konstitutiven Prozesshaftigkeit, Hybridität und Ordnungsverwobenheit beleuchtet werden. Es gilt danach zu fragen, welche soziomateriellen Wechselbezüge zum Abgang der Lawinen geführt haben, wie sich die dergestalt bedingten Lawinenabgänge realisierten und welche längerfristigen Veränderungen diesen Ereignisrealisierungen mit der Zeit entwuchsen. Vor dem Hintergrund der bisher noch recht allgemein formulierten Erkenntnisinteressen zeichnet sich eine Vielzahl verschiedener Konkretisierungs- und Operationalisierungsoptionen ab. Bevor nun aber im ersten Hauptteil der Arbeit detaillierter zu klären ist, vermittels welcher Begriffe, Konzepte und Fragen wir diesen Erkenntnisinteressen im Einzelnen nachgehen wollen, soll zunächst auf einige zentrale Faktoren eingegangen werden, die sich in der Auswahl und Ausrichtung dieser Analyseinstrumente niedergeschlagen haben. Es gilt den institutionellen Kontext der Untersuchung zu umreißen, sodann auf den aktuellen Stand der sozial- und kulturwissenschaftlich orientierten Katastrophenforschung einzugehen und daraufhin einen Überblick über das verfügbare Quellenmaterial zu geben. Am Ende der Einleitung soll schließlich in groben Zügen die Gliederung der Arbeit skizziert werden.

2. INSTITUTIONELLER KONTEXT Die vorliegende Untersuchung entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts der Empirischen Kulturwissenschaft, das am Tübinger Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“ angesiedelt war. 2 Im Zentrum dieses interdisziplinä-

2

Zum SFB 923 vgl. Ewald Frie/Mischa Meier (Hg.): Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften. Tübingen 2014. – Das Forschungsprojekt „Lawinen als Bedrohung sozialer Ordnungen. Katastrophentraditionen im zentralen Alpenraum“ umfasste zwei Untersuchungen, die neben der Lawinenkatastrophe von Blons auch die Lawinenkatastrophe von Galtür zum Gegenstand hatten. Vgl. hierzu etwa Jan Hinrichsen/Reinhard Johler/Sandro Ratt: Katastrophen. Vom kulturellen Umgang mit (außer)alltäglichen Bedrohungen. In: Ewald Frie/Mischa Meier (Hg.): Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften. Tübingen 2014, S. 61-82.

10 | Deformationen der Ordnung

ren Verbundes steht die epochenübergreifende Untersuchung von Ordnungen in Momenten gravierender Bedrohung. Es geht um Aufruhr, Revolutionen und Katastrophen – um Situationen, in denen der gewohnte Lebensvollzug dergestalt durchbrochen ist, dass etablierte Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Handlungsmuster thematisch, ja fraglich werden und sich die betroffenen Akteure nicht mehr im gewohnten Maße aufeinander verlassen können. Hierbei gilt das gemeinsame Interesse zum einen den jeweiligen ordnungskonstitutiven Elementen, also jenen spezifischen Bedingungen, die den Lebensvollzug der Akteure ehedem selbstverständlich strukturiert haben und nun eigens zur Disposition stehen. Zum anderen soll mit Blick auf die ereignisinduzierten Formen der Bedrohungskommunikation und des Bewältigungshandelns untersucht werden, wie die jeweilige Bedrohung innerhalb dieser spezifisch konfigurierten Ordnungsverhältnisse gedeutet, bearbeitet und – gegebenenfalls – überwunden wird. Neben der interdisziplinären Zusammensetzung ist für das Vorhaben des Sonderforschungsbereichs auch eine weite räumliche und zeitliche Streuung seiner Untersuchungsgegenstände essentiell. Auf dieser Basis eröffnet sich dem Forschungsverbund die Möglichkeit, ein breites Spektrum divergierender Ordnungskonfigurationen unter dem Aspekt der Bedrohung zu analysieren und die Ergebnisse einem umfassenden Vergleich zuzuführen. Vermittels der historischdiachron ansetzenden Untersuchung verschiedener Situationen verdichteten Veränderungsdrucks wird somit das langfristige Ziel verfolgt, ein epochenübergreifendes Modell bedrohter Ordnungen zu erarbeiten. Hiermit ist die Absicht verbunden, gegenwärtige Formen der Krisendiagnostik zu historisieren, die Entwicklung einer weitreichenden Theorie schnellen sozialen Wandels voranzubringen und die ehedem fraglose Geltung überkommener Leitdifferenzen – wie vormodern/modern oder westlich/nichtwestlich – zu überwinden beziehungsweise einer Überprüfung und Neujustierung zu unterziehen.3 Während der ersten Förderphase, in deren Verlauf die ursprüngliche Projektformation durch den Zusatzverbund „Kulturelle Dynamiken der Bedrohungskonstitution“ ergänzt wurde, waren insgesamt elf Disziplinen an der Arbeit des SFB 923 beteiligt.4 Die Untersuchungsgegenstände umfassten dabei sowohl europäi-

3

Vgl. Ewald Frie/Mischa Meier: Bedrohte Ordnungen. Gesellschaften unter Stress im Vergleich. In: Dies. (Hg.): Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften. Tübingen 2014, S. 1-27, hier S. 2.

4

Neben der Geschichtswissenschaft, die den SFB dominierte, waren die Fächer Amerikanistik, Empirische Kulturwissenschaft, Ethnologie, Germanistik, Gräzistik, Katholische Theologie, Medizinethik, Politikwissenschaft, Sozialpsychologie und Soziologie vertreten.

Einleitung | 11

sche als auch außereuropäische Figurationen und reichten in zeitlicher Hinsicht von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Vor dem Hintergrund der übergeordneten Forschungsinteressen des SFB zeichneten sich zunächst fünf konkretisierende Leitfragen ab, die den einzelnen Untersuchungen einen gemeinsamen Bezugsund Diskussionsrahmen boten: „1. Wann, wie und warum identifizieren und definieren Akteure eine Bedrohung? Mit welchen Mitteln halten sie die Bedrohung kommunikativ überzeugend präsent? 2. Wann, wie und warum endet die Bedrohung? Unter welchen Bedingungen findet Bedrohungskommunikation keinen Glauben mehr, weil die Akteure zu der Überzeugung gelangen, dass Handlungsoptionen wieder sicher sind, Verhaltenserwartungen und Routinen nicht mehr in Frage stehen? 3. Wer hat in der Bedrohungssituation die Definitions- bzw. die Handlungsmacht? Welche Machtbeziehungen werden in bedrohten Ordnungen sichtbar? Wie verändern sie sich? 4. Ergeben sich aus hohem Zeitdruck und unvollständigen bzw. fehlerhaften Informationen nichtintendierte Nebenfolgen und Überraschungen? 5. Sind im Agieren und Reagieren in bedrohten Ordnungen bestimmte Regelmäßigkeiten erkennbar, die sich zu Regeln verdichten und eventuell zu einer Verlaufstypologie bedrohter Ordnungen entwickeln lassen?“5

Die zentralen Ziele des SFB 923 werden in seiner zweiten Förderphase weiterverfolgt. Während aber zu Beginn der ersten Phase das Phänomen der „Bedrohung“ im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und die Architektur des Projektverbunds strukturierte,6 hat sich der Fokus inzwischen auf den Prozess des bedrohungsinduzierten „re-ordering“ verschoben.7 Gefragt wird dabei insbesondere nach dem jeweiligen Wechselbezug zwischen Bedrohungsdiagnose und Bewältigungspraxis, nach der konkreten Zusammensetzung und Wirksamkeit des hierbei mobilisierbaren Arsenals an Ressourcen und Akteuren sowie nach den angestoßenen Akten der Reflexion, in deren Vollzug die involvierten Akteure ehedem implizite Aspekte der bedrohten Ordnungskonfigurationen eigens thematisieren und klassifizieren. Vermittels dieser Hinwendung zum ordnungsspezifi-

5 6

Frie/Meier 2014, S. 7. Die vier Teilbereiche des SFB repräsentierten vier „Bedrohungstypen“, die es vergleichend zu analysieren galt: „Aufruhr“, „Katastrophen“, „Ordnungszersetzung“ und „Ordnungskonkurrenz“.

7

Vgl. Ewald Frie/Boris Nieswand: Zwölf Thesen zur Begründung eines Forschungsbereichs. In: Dies. (Hg.): „Bedrohte Ordnungen“ als Thema der Kulturwissenschaften. Journal of Modern European History 15 (2017), Heft 1, S. 5-19.

12 | Deformationen der Ordnung

schen Umgang mit Bedrohungen soll in der aktuellen Förderphase der zweite von drei Schritten zur Realisierung der oben genannten Forschungsziele zurückgelegt werden.8 Die vorliegende Arbeit schließt an das Forschungsprogramm des SFB 923 an. Sie greift zentrale Fragestellungen und Begriffe des Verbunds auf, verleiht diesen aber einen disziplin- und gegenstandsspezifischen Zuschnitt. Essentiell ist dabei insbesondere die Aufgabe, ein analytisches Konzept von „Ordnung“ zu entwickeln, das mit den lebensweltbezogenen Erkenntnisinteressen einer volkskundlich-kulturwissenschaftlich perspektivierten Katastrophenforschung kompatibel ist. Auf dieser Grundlage kann der vorgesehene Rekonstruktionsversuch in produktiver Weise mit den Anliegen des SFB 923 verknüpft werden: Wie konstituierte sich die damalige Bedrohung? Welche ordnungsrelevanten Elemente wurden im Zuge der Bedrohungsrealisierung verwundet oder zerstört? Wie konnte nach der Katastrophe wieder in einen geordneten Alltagsbetrieb zurückgefunden werden?

3. FORSCHUNGSSTAND Trotz ihrer großen regionalen Bedeutung ist die Lawinenkatastrophe von Blons aus kulturwissenschaftlicher Perspektive bislang kaum untersucht worden. Sie erfuhr indessen eine breite mediale Aufmerksamkeit, was sich nicht nur in zahlreichen Zeitungsartikeln, sondern auch in verschiedenen populärwissenschaftlichen Publikationen,9 Romanen,10 Fernsehdokumentationen11 und einer Kinoverfilmung12 niedergeschlagen hat. Zudem veröffentlichte der Blonser Volksschuldirektor und Heimatforscher Eugen Dobler ein mit Fotografien, Zeichnungen

8

Vgl. das Forschungsprofil des SFB 923. URL: http://www.uni-tuebingen.de/forschung/ forschungsschwerpunkte/sonderforschungsbereiche/sfb-923/forschungsprofil.html (13.03.2018).

9

Vgl. etwa Hans Haid: Mythos Lawine. Eine Kulturgeschichte. Innsbruck 2007, S. 113-136.

10 Reinhold Bilgeri: Der Atem des Himmels. Wien 2005; Joseph Wechsberg: Blons. Geschichte einer Katastrophe. Hamburg 1959. Letzterer war 1958 zunächst in englischer Sprache bei Alfred A. Knopf, New York, erschienen. 11 Tod im Schnee. Die größte Lawinenkatastrophe der Welt. Menschen und Mächte, Folge 37. (AT 2010, R: Gerhard Jelinek/Sabine Zink) 12 Der Atem des Himmels (AT 2010, R: Reinhold Bilgeri)

Einleitung | 13

und Erfahrungsberichten angereichertes Buch über die damaligen Ereignisse. 13 Des Weiteren haben schließlich die Kulturwissenschaftler Bernd Rieken und Michael Simon vor wenigen Jahren mehrere Interviews mit Zeitzeugen durchgeführt, diese aus einer ethnologisch-psychoanalytischen Perspektive ausgewertet und hierbei aufschlussreiche Einblicke in die lokalen Verarbeitungsstrategien eröffnet.14 Die vorliegende Untersuchung wird diese Publikationen als spezifische – für die regionale Erinnerungskultur in divergierenden Maßen relevante – Formate der Wissens(re)produktion näher thematisieren. Zur besseren Einordnung unseres forschungsleitenden Ansatzes soll im Folgenden aber zunächst etwas detaillierter auf das Feld der kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten Katastrophenforschung eingegangen werden. Als hochgradig problematische Zerstörungsereignisse wurden Katastrophen schon früh zu einem Gegenstand menschlicher Erklärungsbemühungen. Lange Zeit dominierten hierbei mythische, religiöse und magische Interpretationen, doch sind seit der Antike vermehrt auch naturkundliche Beobachtungen in die Deutungsprozesse eingeflossen.15 Mit dem Aufschwung der empirischen Wissenschaften im 17. Jahrhundert erfuhren letztere eine zunehmende Differenzierung. Im Rahmen der sich fortschreitend professionalisierenden naturwissenschaftlichen Diskurse entstanden neue Analysemodelle, die katastrophische Ereignisse naturimmanent in geophysikalischen Termini zu erklären erlaubten und somit eine belastbare säkulare Alternative zu den weiterhin fortbestehenden religiösen Interpretamenten boten.16 Das „Erdbeben von Lissabon“, in dessen Folge am 1. November 1775 große Teile der portugiesischen Hauptstadt zerstört worden waren, hatte auf diese Entwicklungen eine katalysatorische Wirkung und wird daher zuweilen auch als Ausgangspunkt der modernen Katastrophenfor-

13 Eugen Dobler: Leusorg im Großen Walsertal. Die Lawinenkatastrophe 1954. Blons 2008. 14 Vgl. Michael Simon/Bernd Rieken: Die Lawinenkatastrophe von Blons im Großen Walsertal anno 1954. Ethnologische und psychoanalytische Zugänge. In: Bernd Rieken (Hg.): Erzählen über Katastrophen. Beiträge aus Deutscher Philologie, Erzählforschung und Psychotherapiewissenschaft. Münster u.a. 2016, S. 265-274. 15 Vgl. Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen: Einleitung. Naturkatastrophen – wahrgenommen, gedeutet, dargestellt. In: Dies. (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, S. 11-33, hier S. 20f. 16 Vgl. hierzu etwa Ruth Groh/Dieter Groh: Zum Wandel der Denkmuster im geologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für historische Forschung 24 (1997), S. 575-604.

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schung verstanden.17 Es verlieh der naturwissenschaftlichen Analyse katastrophischer Ereignisse eine größere Legitimität und gab nachhaltig relevante Impulse für Innovationen auf dem Gebiet der Seismologie. Daneben führte es aber auch zu resonanzreichen philosophisch-theologischen Debatten, in denen etwa das Theodizee-Problem neu verhandelt oder Kritik an allzu naiv optimistischen Aufklärungsbegriffen geübt wurde.18 Während man sich in den Feldern der Theologie, der Philosophie und der Naturwissenschaft also schon früh mit Katastrophen befasste, ist von den soziologischen, ethnologischen und kulturanthropologischen Klassikern der ersten Generation indessen keine explizite Katastrophentheorie überliefert.19 Erste systematische Untersuchungen von menschlichem Verhalten in katastrophischen Situationen finden sich seit dem frühen 20. Jahrhundert.20 Zu einer nennbaren Institutionalisierung dieser Forschungsbestrebungen kam es aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.21 So wurde 1949 am „National Opinion Research Center“ (NORC) der University of Chicago auf Initiative der U.S.Armee die weltweit erste sozialwissenschaftlich ausgerichtete „Disaster Rese-

17 Vgl. etwa Wolf R. Dombrowsky: Zur Entstehung der soziologischen Katastrophenforschung – eine wissenshistorische und -soziologische Reflexion. In: Carsten Felgentreff/Thomas Glade (Hg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen. Berlin/Heidelberg 2008, S. 63-76, hier S. 65. 18 Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1966, S. 352; Gerhard Lauer/Thorsten Unger: Angesichts der Katastrophe. Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. In: Dies. (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008, S. 1343. 19 Vgl. Lars Clausen/Elke M. Geenen/Elísio Macamo: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen. Münster 2003, S. ix-x, hier S. ix; Martin Voss: Symbolische Formen. Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe. Bielefeld 2006, S. 43. 20 Vgl. etwa Samuel Henry Prince: Catastrophe and Social Change based on a Sociological Study of the Halifax Disaster. New York 1920. 21 Einen Überblick über die Institutionalisierungsphase der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung bieten etwa Dombrowsky 2008, hier S. 64-66; Nicolai Hannig: Die Suche nach Prävention. Naturgefahren im 19. und 20. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 300 (2015), S. 33-65, hier S. 53-55; Cécile Stephanie Stehrenberger: Systeme und Organisationen unter Stress. Zur Geschichte der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung (1949-1979). In: Zeithistorische Forschungen 11 (2014), S. 406-426.

Einleitung | 15

arch Group“ gegründet. Unter der Leitung von Charles E. Fritz, einem Vertreter der „Chicago School of Sociology“, führte die Forschergruppe bis 1954 rund 70 vorwiegend interviewbasierte Fallstudien durch, in denen es um die Analyse und den Vergleich von sozialen Auswirkungen friedenszeitlicher Katastrophen – wie Tornados, Erdbeben, Industrieunfälle oder Flugzeugabstürze – ging.22 Ferner konstituierte sich 1952 im Auftrag der Generaloberstabsärzte am „National Research Council“ (NRC) das „Committe on Disaster Studies“; eine zweite Forschergruppe, die jedoch einige personelle und inhaltliche Überschneidungen mit der Chicagoer „Disaster Research Group“ aufwies.23 Schließlich wurde 1963 – erneut mit finanzieller Unterstützung der Armee – durch die bereits in der Katastrophenforschung erfahrenen Soziologen Enrico Quarantelli, Russell Dynes und Eugene Haas an der Ohio State University ein „Disaster Reserch Center“ (DRC) gegründet, das die dritte zentrale Institution dieser Etablierungsphase der auf menschliches Verhalten fokussierten Katastrophenforschung bildete.24 Parallel zu den Forschungen in Nordamerika entstanden auch in Japan, Singapur, Hongkong, Australien, Neuseeland sowie in zahlreichen Ländern Mittelund Südamerikas sozialwissenschaftlich orientierte Katastrophenstudien. Diese waren in ihrer inhaltlichen und methodischen Ausrichtung vorerst jedoch stark von den nordamerikanischen Ansätzen beeinflusst.25 Als weithin dominant erwies sich somit zunächst eine sozialpsychologisch ausgerichtete Perspektive, die man mit Anthony Oliver-Smith als „hazard/event/behavior focus“26 bezeichnen kann. Man verstand Katastrophen dabei in erster Linie als isolierte monolithische Ereignisse, die gleichsam von außen über eine als gegeben gedachte soziale Ordnung hereinbrechen, und interessierte sich vor allem dafür, wie die betroffenen Akteure mit dem dadurch hervorgerufenen Ausnahmezustand umgehen. Neben dem Bestreben, verallgemeinerbare Aussagen über menschliches Verhalten

22 Vgl. Charles E. Fritz/Eli S. Marks: The NORC Studies of Human Behavior in Disaster. In: Journal of Social Issues 10 (1954), S. 26-41. 23 Vgl. Charles E. Fritz/J. H. Mathewson: Convergence Behaviour in Disasters. A Problem in Social Control. A Special Report Prepared for the Committee on Disaster Studies. Washington D.C. 1957. 24 Vgl. Enrico L. Quarantelli: The Disaster Research Center (DRC) field studies of organized behavior in disasters. In: Robert Stallings (Hg.): Methods of Disaster Research. Philadelphia 2002, S. 94-116. 25 Vgl. Dombrowsky 2008, S. 66. 26 Anthony Oliver-Smith: Theorizing Disasters. Nature, Power, and Culture. In: Susanna M. Hoffman/Anthony Oliver-Smith (Hg.): Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster. Santa Fe 2002, S. 23-47, hier S. 27.

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in Extremsituationen zu gewinnen, war damit oftmals auch das anwendungsbezogene Ziel verbunden, empirisch fundiertes „Regulierungswissen“27 zu produzieren, das der besseren Regierung katastrophisch gefährdeter Bevölkerungsgruppen dienen sollte. Im Laufe der 1970er Jahre begann sich ein Wandel hin zu jenem Paradigma abzuzeichnen, das die sozial- und kulturwissenschaftliche Katastrophenforschung bis heute prägt. Katastrophen werden hierbei nicht mehr als distinkte, extern verursachte Ereignisse, sondern – nun bereits mit dem noch zu entwickelnden Vokabular der vorliegenden Arbeit formuliert – in ihrer konstitutiven Ordnungsverwobenheit verstanden. Durch diese perspektivische Erweiterung entstand ein transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich – immer wieder neu dynamisiert durch verschiedene kontextprägende Faktoren wie die konstruktivistische Wende in den Sozialwissenschaften, die zunehmende Institutionalisierung der Umweltbewegung, konkrete Anfragen aus dem Feld der Politik, gravierende katastrophische Ereignisse, die Etablierung der Risikoforschung, oder, verhältnismäßig jung, die theoretische Rehabilitierung des Materiellen – im dialektisch fortschreitenden Prozess der wissenschaftlichen Katastrophen-Repräsentation seither zunehmend ausdifferenzierte. Einige Grundzüge dieses Paradigmenwechsels sollen nun kurz umrissen werden. Im April 1976 erschien in der Zeitschrift Nature ein Artikel von Phil OʼKeefe, Ken Westgate und Ben Wisner, dessen Betitelung die zentrale Intention der perspektivischen Neujustierung plastisch veranschaulicht: „Taking the naturalness out of natural disasters“28. Am Anfang des neuen Paradigmas – an dessen Weiterentwicklung vor allem Kulturanthropologen,29 Soziologen,30 Human-

27 Stehrenberger 2014, S. 422. 28 Phil OʼKeefe/Ken Westgate/Ben Wisner: Taking the naturalness out of natural disasters. In: Nature 260 (1976), S. 566-567. 29 Vgl. Anthony Oliver-Smith: Anthropological Research on Hazards and Disasters. In: Annual Review of Anthropology 25 (1996), S. 303-328; Susanna M. Hoffman/ Anthony Oliver-Smith: Anthropology and the Angry Earth. An Overview. In: Dies. (Hg.): The Angry Earth. Disaster in Anthropological Perspective. New York/London 1999, S. 1-16. 30 Vgl. Lars Clausen/Frerk Möller: Bestandsaufnahme im Bereich der Katastrophensoziologie. In: Erich Plate et al. (Hg.): Naturkatastrophen und Katastrophenvorbeugung. Bericht des Wissenschaftlichen Beirats der DFG für das Deutsche Komitee für die „International Decade for Natural Disaster Reduction“. Weinheim 1993, S. 108-147; Clausen/Geenen/Macamo 2003; Dombrowsky 2008; Voss 2006.

Einleitung | 17

geographen31 sowie, seit den 1990er Jahren, auch Historiker32 und Ethnologen33 mitgewirkt haben – stand also die Forderung nach einer begrifflich-analytischen Entnaturalisierung katastrophischer Geschehen. Katastrophen, so der Gedanke, resultieren niemals nur aus „natürlichen“ Extremereignissen, sondern müssen stets als Ausdruck historisch bedingter, gesellschaftsspezifischer MenschUmwelt-Relationen verstanden werden.34 Dieser Perspektivenwandel fand seinen griffigsten begrifflichen Ausdruck in den Konzepten der Vulnerabilität und Resilienz.35 Mit der Frage nach der Ver-

31 Vgl. David Alexander: The Study of Natural Disasters, 1977-1997: Some Reflections on a Changing Field of Knowledge. In: Disasters 21 (1997), Heft 4, S. 284-304; Kenneth Hewitt: Regions of Risk: A Geographical Introduction to Disasters. Harlow 1997; Jürgen Pohl: Die Entstehung der geographischen Hazardforschung. In: Carsten Felgentreff/Thomas Glade (Hg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen. Heidelberg 2008, S. 47-62. 32 Vgl. René Favier/Anne-Marie Granet-Abisset: Society and Natural Risks in France, 1500-2000. Changing Historical Perspectives. In: Christof Mauch/Christian Pfister (Hg.): Natural Disasters, Cultural Responses. Case Studies toward a Global Environmental History. Lanham 2009, S. 103-136; Uwe Lübken: Undiszipliniert: Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte. In: H-Soz-u-Kult 2010, URL: http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-07-001 (13.03.2018); Franz Mauelshagen: Keine Geschichte ohne Menschen. Die Erneuerung der historischen Klimawirkungsforschung aus der Klimakatastrophe. In: André Kirchhofer et al. (Hg.): Nachhaltige Geschichte. Festschrift für Christian Pfister. Zürich 2009, S. 169-193; Gerrit Jasper Schenk: Historical Disaster Research. State of Research, Concepts, Methods and Case Studies. In: Historical Social Research 32 (2007), Heft 3, S. 9-3. 33 Vgl. Urte Undine Frömming: Naturkatastrophen. Kulturelle Deutung und Verarbeitung. Frankfurt am Main/New York 2006; Annette Hornbacher: Von der Naturkatastrophe zur Modernisierungskrise? Ein ethnologischer Blick auf kulturspezifische Varianten im Umgang mit Erdbeben und Tsunamis. In: Carla Meyer/Katja PatzelMattern/Gerrit Jasper Schenk (Hg.): Krisengeschichte(n). „Krise“ als Leitbegriff und Erzählmuster in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Stuttgart 2013, S. 97-116. 34 Vgl. hierzu etwa Kenneth Hewitt: The idea of calamity in a technocratic age. In: Ders. (Hg.): Interpretations of calamity from the viewpoint of human ecology. Boston 1983, S. 3-32, hier S. 27. 35 Vgl. Greg Bankoff: Rendering the World Unsafe: ‚Vulnerability‘ as Western Discourse. In: Disasters 25/1 (2001), S. 19-35; Hans-Georg Bohle: Leben mit Risiko – Resilience als neues Paradigma für die Risikowelten von morgen. In: Carsten Felgentreff/Thomas Glade (Hg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen. Berlin/Heidelberg

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wundbarkeit beziehungsweise Widerstandsfähigkeit sozialer Gruppierungen rückte nun das heterogene Ensemble all jener sozialen, kulturellen und materiellen Elemente in den Blick, die als begünstigende, beschleunigende, verhindernde oder lindernde Faktoren dafür ausschlaggebend sind, ob und auf welche Weise sich Katastrophen de facto ereignen. So heißt es etwa in einer häufig zitierten Arbeitsdefinition von Ben Wisner et al.: „By vulnerability we mean the characteristics of a person or group and their situation that influence their capacity to anticipate, cope with, resist and recover from the impact of a natural hazard […]. It involves a combination of factors that determine the degree to which someone’s life, livelihood, property and other assets are put at risk by a discrete and identifiable event (or series or ‚cascade‘ of such events) in nature and in society.“36

Infolge dieser entschiedenen Hinwendung zu gesellschaftsimmanenten Faktoren fand nun auch die räumliche und historische Diversität von Katastrophen eine stärkere Berücksichtigung. Die differenzierte Kontextualisierung begründete, wie David Alexander formuliert, „a basis for analysing disaster in relation to current developments and preoccupations, and with respect to their variation from place to place.“37 Dass es Regionen gibt, in denen Katastrophen nicht nur häufiger, sondern auch mit gravierenderen Zerstörungseffekten auftreten, musste vor diesem Hintergrund nun nicht zuletzt als Folge globaler Marginalisierungsprozesse verstanden werden.38 Darüber hinaus schärfte das Vulnerabilitätskonzept aber auch den Blick für innerkatastrophische Divergenzen. Es verdeutlichte dabei etwa, dass die Betroffenheit der katastrophisch involvierten Akteure häufig mit präkatastrophischen Strukturen sozialer Ungleichheit korrelierte. So galt es nun zu untersuchen, „how social systems generate the conditions that place people, often differentiated along axes of class, race, ethnicity, gender, or age, at dif-

2008, S. 435-441; Anthony Oliver-Smith: Theorizing Vulnerability in a Globalized World: A Political Ecological Perspective. In: Greg Bankoff/Georg Frerks/Dorothea Hilhorst (Hg.): Mapping Vulnerability. Disasters, Development and People. London 2004, S. 10-24; Martin Voss: Vulnerabilität. In: Christa Hammerl/Thomas Kolnberger/Eduard Fuchs (Hg.): Naturkatastrophen. Rezeption – Bewältigung – Verarbeitung. Wien/Bozen 2009, S. 103-121. 36 Ben Wisner/Piers Blaikie/Terry Cannon/Ian Davis: At Risk: Natural hazards, peopleʼs vulnerability and disasters. London 2004, S. 11. 37 Alexander 1997, S. 299f. 38 Vgl. OʼKeefe/Westgate/Wisner 1976.

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ferent levels of risk from the same hazard and of suffering from the same event.“39 Dass die jeweiligen Gruppierungen hierbei nicht nur eine passive Rolle spielen, sondern ihre Verwundbarkeit und Resilienz in der Regel durch explizite Präventionsstrategien zu bearbeiten suchen, veranschaulichten insbesondere jene Studien, die sich mit der Entstehung von Katastrophenkulturen befassten.40 In diesem Zusammenhang wird, allgemein formuliert, der Frage nachgegangen, ob sich infolge früherer Katastrophen erfahrungsbasierte Sicherheitsdispositive – Deutungsmuster, Handlungsweisen, Institutionen, Technologien etc. – herausgebildet haben, die den aktuellen Umgang mit katastrophischen Situationen strukturieren. Begünstigt wurde die Entwicklung dieser Forschungsrichtung nicht zuletzt dadurch, dass in erheblich stärkerem Maße als ehedem auch nicht-westliche Katastrophen Berücksichtigung fanden und somit auf eine breitere Vergleichsbasis zurückgegriffen werden konnte.41 Mit dem analytischen Interesse an ordnungsimmanenten Ursachen und Prägekräften war nun vielfach auch eine stärkere Berücksichtigung der Prozessualität katastrophischer Ereignisse verbunden. Beispielsweise rekonstruierte OliverSmith jenes heftige Erdbeben, dem am 31. Mai 1970 in Peru über 70.000 Menschen zum Opfer fielen, als ein Ereignis, dessen Ursachen eng mit vulnerabilitätssteigernden Effekten der spanischen Kolonialherrschaft verflochten gewesen seien.42 Auch Lars Clausen hat auf Basis seiner Arbeiten an der Kieler Katastrophenforschungsstelle ein Prozessmodell der Katastrophe entwickelt. Aus makrosoziologischer Perspektive werden hierbei idealtypisch die Stadien „Friedensstiftung“, „Alltagsbildung“, „Klassenformation“, „Katastropheneintritt“, „Ende kollektiver Abwehrstrategien“ und „Liquidation der Werte“ unterschieden – sechs Typen von Stadien, die es ermöglichen sollen, katastrophische Ereignisse in ihren langfristigen Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen zu analysieren. 43

39 Oliver-Smith 2002, S. 28. 40 Vgl. Greg Bankoff: Cultures of Disaster. Society and Natural Hazard in the Philippines. London/New York 2003; Fred Krüger et al. (Hg.): Cultures and Disasters: Understanding Cultural Framings in Disaster Risk Reduction. New York/London 2015. 41 Vgl. Bankoff 2003; Frömming 2006; Hornbacher 2013. 42 Vgl. Anthony Oliver-Smith: Peruʼs Five-Hundred-Year Earthquake: Vulnerability in Historical Context. In: Ders./Susanna M. Hoffman (Hg.): The Angry Earth: Disaster in Anthropological Perspective. New York 1999, S. 74-88. 43 Lars Clausen: Übergang zum Untergang. Skizze eines makrosoziologischen Prozeßmodells der Katastrophe. In: Ders./Wolf R. Dombrowsky (Hg.): Einführung in die Soziologie der Katastrophen. Bonn 1983, S. 41-79.

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Neben diesen vielfältigen ursächlichen Bedingungen fand seit den 1990er Jahren schließlich aber auch die Wahrnehmung und Deutung von Katastrophen eine größere Berücksichtigung. Es wurde nun verstärkt danach gefragt, vermittels welcher Interpretamente die betroffenen Akteure solche Geschehnisse im Rückblick einzuordnen suchen – und welche Faktoren diese Einordnungsbemühungen strukturieren. In diesem Zusammenhang galt es freilich insbesondere auch die Rolle der Medien detaillierter zu analysieren.44 Inhaltlich fragten die oftmals historisch-vergleichend ausgerichteten Studien vor allem nach den Veränderungen des Verhältnisses zwischen religiösen und naturwissenschaftlichen Deutungsmustern sowie nach dem Wandel der hierbei prozessierten „Naturbilder“.45 Infolge des umrissenen Paradigmenwechsels vollzog sich also eine stärkere Berücksichtigung der konstitutiven soziokulturellen Bedingtheit katastrophischer Geschehenszusammenhänge. Die hieraus erwachsenen Forschungen erbrachten denn auch zahlreiche neue Erkenntnisse hinsichtlich der komplexen Entstehungs- und Verarbeitungsprozesse von Katastrophen. Indessen wurde nur selten der Versuch unternommen, die verschiedenen Aspekte dieser hybriden Ereigniskomplexe in einem belastbaren Theorieentwurf zu integrieren. Was von Seiten der Soziologie bereits mehrfach festgestellt wurde, gilt letztlich auch für die anderen beteiligten Disziplinen: die „Katastrophensoziologie [krankt] an dem Fehlen einer umfassenden theoretischen Fundierung.“46

44 Vgl. etwa Knut Hickethier: Katastrophenmelder, Skandalisierungsinstrument und Normalisierungsagentur. Die Risiken und die Medien. In: Ästhetik und Kommunikation 116 (2002), S. 41-46; Kurt Imhof: Katastrophenkommunikation in der Moderne. In: Christian Pfister/Stephanie Summermatter (Hg.): Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen. Bern u.a. 2004, S. 145-162; Rolf Lindner: Medien und Katastrophen. Fünf Thesen. In: Hans Peter Dreitzel/Horst Stenger (Hg.): Ungewollte Selbstzerstörung. Reflexionen über den Umgang mit katastrophalen Entwicklungen. Frankfurt am Main/New York 1990, S. 124-134. 45 Vgl. etwa Jens Ivo Engels: Vom Subjekt zum Objekt. Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. In: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, S. 119-142; Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann: Religion in Katastrophenzeiten: Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten. Göttingen 2003, S. 7-13. 46 Elke M. Geenen: FAKKEL. Ein katastrophensoziologisches Prozeßmodell. In: Wolf R. Dombrowsky/Ursula Pasero (Hg.): Wissenschaft. Literatur. Katastrophe. Fest-

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Die volkskundliche Kulturwissenschaft – in deren epistemischen Feldern die vorliegende Arbeit zu verorten ist – hatte an den umrissenen Entwicklungen nur einen sehr marginalen Anteil, da sich „Katastrophenforschung“ im Sinne eines eigenen Teilgebiets des Faches erst in jüngerer Zeit zu entwickeln begann. Auch wenn etwa Eduard Hoffmann-Krayer bereits 1902 in seiner viel diskutierten Antrittsvorlesung „Die Volkskunde als Wissenschaft“ zu bedenken gab, dass „die Kenntnis solcher Ereignisse insofern für die Kulturgeschichte wie die Volkskunde wichtig [ist], als sie entweder den menschlichen Geist zum Denken anregen oder Anlass geben zur Äusserung volkstümlicher Anschauungen, vielleicht auch, wie bei Seuchen und Feuersbrünsten, auf hygienische und sonstige Ordnungszustände schliessen lassen“47 – auch wenn sich also innerhalb des Faches schon ein recht früher Hinweis auf die (ordnungsanalytischen) Erkenntnispotentiale des Gegenstandes findet, wurden lange Zeit nur wenige Bemühungen unternommen, diese Potentiale eingehender zu prüfen. Bis in die 1980er Jahre beschränkten sich die ohnehin nicht sehr zahlreichen volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Katastrophenstudien jedenfalls vornehmlich auf das Sammeln von mythischen und volksreligiösen Motiven im Rahmen popularer Katastrophenerzählungen.48 Max Lüthis 1980 publizierte Untersuchung der „Blümlisalpsage“49 stand zwar ebenfalls in dieser Tradition, richtete den Fokus nun aber insbesondere auf die Funktionen des Erzählens. Vor dem Hintergrund des volkskundlichen Paradigmenwechsels der 1970er Jahre wurde dem rückwärtsgewandten Bewahren volkskultureller Güter jetzt eine Perspektive entgegengesetzt, die sich den konkreten soziokulturellen Kontexten ihrer jeweiligen Gegenstände zuwandte. In den 1990er Jahren folgten weitere Studien, die katastrophische Phänomene und deren Verarbeitung in komplexeren Zusammenhängen analysierten. So plädierte etwa Helge Gerndt in einem Aufsatz über das „Atomunglück von Tschernobyl“

schrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars Clausen. Opladen 1995, S. 176-186, hier S. 179. Vgl. dazu auch Wolf R. Dombrowsky: Soziologische Katastrophenforschung im Aufriß. In: Lars Clausen/Wolf R. Dombrowsky (Hg.): Einführung in die Soziologie der Katastrophe. Bonn 1983, S. 11-39, hier S. 15; Voss 2006, S. 43. 47 Eduard Hoffmann-Krayer: Die Volkskunde als Wissenschaft. In: Gerhard Lutz (Hg.): Volkskunde. Ein Handbuch zur Geschichte ihrer Probleme. Berlin 1958, S. 43-60, hier S. 46. 48 Vgl. hierzu den fachgeschichtlichen Überblick in Andreas Schmidt: „Wolken krachen, Berge zittern, und die ganze Erde weint …“. Zur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen in Deutschland 1755 bis 1855. Münster u.a. 1999, S. 22-28. 49 Max Lüthi: Aspekte der Blümlisalpsage. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 76 (1980), S. 229-243.

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nachdrücklich dafür, Katastrophen nicht auf naturwissenschaftlich analysierbare Aspekte zu reduzieren. Möchte man solche Geschehen in einem umfassenden Sinne verstehen, so gelte es vielmehr, sie als „kulturelle Tatsachen“ zu begreifen.50 Zeitgleich verdeutlichte Paul Hugger, dass sich Katastrophen multifaktoriell aus den je vorherrschenden „topographischen, klimatischen, demographischen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen“51 ergeben, und wandte sich der Frage nach den spezifischen soziokulturellen Effekten der so bedingten Widerfahrnisse zu. Mit ihren Hinweisen auf die unauflösbare Kulturgebundenheit katastrophischer Ereignisse boten Gerndt und Hugger wichtige Impulse für die disziplinäre Entwicklung des Forschungsfeldes. Allerdings lag der analytische Schwerpunkt hierbei weiterhin vor allem in der Erzählforschung. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive befasste sich etwa Andreas Schmidt in den späten 1990er Jahren mit Erklärungsmustern von Katastrophendeutungen in verschiedenen populären Textgattungen, die zwischen 1755 und 1855 erschienen waren, und fragte dabei insbesondere nach Prozessen des Wissenstransfers zwischen der damaligen Eliten- und Volkskultur.52 Auf der Basis mentalitätsgeschichtlicher und psychoanalytischer Ansätze untersuchte Bernd Rieken Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Erzählungen über Flutkatastrophen der südlichen Nordseeküste vom Mittelalter bis zur Gegenwart und arbeitete heraus, wie die jeweiligen Erklärungsfiguren dabei halfen, das Geschehene besser zu bewältigen.53 Aus vergleichbarer Perspektive, aber gegenwartsbezogen, analysierte Rieken daraufhin auch verschiedene Interviews, die er mit Betroffenen der Lawinenkatastrophe von Galtür geführt hatte.54 Neben diesen Untersuchungen beziehungsweise den hieraus entstandenen Monographien sind aber auch diverse Aufsätze55 und Sammelbände56

50 Helge Gerndt: Kulturvermittlung. Modellüberlegungen zur Analyse eines Problemkomplexes am Beispiel des Atomunglücks von Tschernobyl. In: Zeitschrift für Volkskunde 86 (1990), S. 1-13. 51 Paul Hugger: Elemente einer Ethnologie der Katastrophe in der Schweiz. In: Zeitschrift für Volkskunde 86 (1990), S. 25-36. 52 Schmidt 1999. 53 Bernd Rieken: „Nordsee ist Mordsee“. Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen. Münster u.a. 2005. 54 Bernd Rieken: Schatten über Galtür? Ein Beitrag zur Katastrophenforschung. Gespräche mit Einheimischen über die Lawine von 1999. Münster u.a. 2010. 55 Bernd Rieken: Vom Nutzen volkskundlich-historischer Zugänge für die Katastrophenforschung: New Orleans 2005. In: Andreas Hartmann/Silke Meyer/Ruth-E. Mohrmann (Hg.): Historizität. Vom Umgang mit Geschichte. Münster u.a. 2007, S. 149-

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erschienen, die sich ebenfalls gewinnbringend mit der Frage befassen, wie Katastrophen von den betroffenen Akteuren wahrgenommen, gedeutet und erzählt werden. Einzelne Beiträge – wie auch jene, die im Rahmen des Tübinger Sonderforschungsbereichs 923 „Bedrohte Ordnungen“ entstanden sind – verfolgen demgegenüber einen etwas weiter perspektivierten, teils auch genealogische Aspekte miteinschließenden Zugang und rücken damit wiederum in die Nähe der Ansätze von Gerndt und Hugger.57 Die vorliegende Arbeit schließt an Zugänge und Ergebnisse der bisherigen volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Studien an, stützt sich aber insbesondere auch auf die interdisziplinär vorangetriebenen Entwicklungen im Rahmen des oben umrissenen Paradigmas. Dabei sollen die Leitbegriffe des SFB 923 dazu genutzt werden, verschiedene Aspekte der einschlägigen Debatten aufzugreifen und fokussiert zueinander in Beziehung zu setzen. Vor diesem Hintergrund kann das begriffliche Instrumentarium der Arbeit einerseits als spezifische Analyseapparatur zur Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons gelesen werden, andererseits aber auch als ein kleiner Beitrag zum großen transdisziplinären Projekt der Entwicklung einer allgemeinen kulturwissenschaftlichen Katastrophologie.

4. QUELLEN UND METHODEN Befasst man sich mit der methodologischen Frage nach dem (erstrebenswerten) Verhältnis zwischen „Theorie“ und „Empirie“ in kultur- oder sozialwissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungen, so gerät man in einen Diskurs, dessen inhaltlicher Rahmen durch zwei opponierende Positionen definiert wird. Auf der

162; Andreas Schmidt: Der Tanz auf dem Vulkan. Naturwahrnehmung im Angesicht des Todes. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 28 (1996), S. 35-50. 56 Vgl. Volkskunde in Rheinland-Pfalz 22 (2007) zum Schwerpunktthema „Katastrophenforschung“; Bernd Rieken (Hg.): Wie bewältigt man das Unfassbare? Interdisziplinäre Zugänge am Beispiel der Lawinenkatastrophe von Galtür. Münster u.a. 2015; Ders. (Hg.): Erzählen über Katastrophen. Beiträge aus Deutscher Philologie, Erzählforschung und Psychotherapiewissenschaft. Münster u.a. 2016. 57 Thomas Antonietti: Verkehrte Alltagswelt – die Katastrophe. In: Info-Labrec. Informationsblatt der Forschungsstelle für regionale Gegenwartsethnologie 4 (1993), S. 4-9; Hinrichsen/Johler/Ratt 2014; Michael Simon: Die „Jahrtausendflut“ 2002 – ethnographische Anmerkungen aus dem Müglitztal. In: Volkskunde in Rheinland-Pfalz 22 (2007), S. 55-77.

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einen Seite ein deduktivistischer Standpunkt, aus dessen Perspektive das Wesen empirischer Forschung in der Überprüfung – beziehungsweise Falsifikation oder Verifikation – vorab formulierter Hypothesen besteht. Auf der anderen Seite ein induktivistischer Standpunkt, demzufolge empirische Forschung weniger dem Test, sondern primär der datenbasierten Hervorbringung von Theorie dient. Die erste Position ermöglicht es, explizit an den jeweiligen Stand der einschlägigen Forschung anzuschließen und die Strukturierungseffekte des untersuchungsrelevanten Vorwissens besser kontrollieren zu können, läuft dabei aber Gefahr, die je konkreten Relevanzstrukturen der untersuchten Akteure nicht in hinreichendem Maße zu berücksichtigen – oder, allgemeiner formuliert, die spezifischen Erkenntnispotentiale des Untersuchungsgegenstandes durch allzu starre Vorabfokussierungen radikal zu beschneiden. Zur Vermeidung oder Reduzierung epistemozentrischer Fehlschlüsse58 setzt die zweite Position diesem Mangel an methodischer Sensibilität und Flexibilität eine entschiedene Offenheit für die faktischen Sinnorientierungen der Handelnden – wiederum allgemeiner: für die fremden Eigenheiten der interessierenden Phänomene – entgegen, droht mit ihrem Plädoyer für die Suspendierung der eigenen Vorannahmen zugunsten des Fremdverstehens letztlich aber in einen naiven Realismus zu münden, der die unhintergehbare Theoriegeladenheit empirischer Erkenntnisse verschleiert oder zumindest zu wenig in Rechnung stellt.59 Die vorliegende Arbeit möchte sich weder der einen noch der anderen Position verschreiben, sondern eine Vermittlung versuchen, die den zentralen Argumenten beider Seiten folgt.60 Ihr Vorgehen gründet in der Annahme, dass Theo-

58 Zur Gefahr des Epistemozentrismus vgl. etwa Pierre Bourdieu: Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität. In: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main 1993, S. 365-374. 59 Vgl. hierzu etwa Udo Kelle: Strukturen begrenzter Reichweite und empirisch begründete Theoriebildung. Überlegungen zum Theoriebezug qualitativer Methodologie. In: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main 2008, S. 312-337; Werner Meinefeld: Hypothesen und Vorwissen in der qualitativen Sozialforschung. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 265-275. 60 Vgl. hierzu etwa Herbert Kalthoff: Einleitung: Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung. In: Ders./Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main 2008, S. 8-32.

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rien niemals bloß aus den jeweiligen Daten selbst emergieren, sondern sich nur vor dem Hintergrund forschungsleitender Analysekategorien abzeichnen können, und beinhaltet somit zunächst eine explizite Ausformulierung des untersuchungsrelevanten begrifflichen Instrumentariums. Zugleich wird hierbei aber die Ansicht vertreten, dass dieses Instrumentarium nur dann der Entwicklung gegenstandsadäquater Theorien dienlich sein kann, wenn es sich nicht zu einer starren, hermetischen Vorabsystematik fügt, sondern für potentielle Irritationen aus dem Untersuchungsfeld empfänglich bleibt und damit Möglichkeiten bietet, auf ein entsprechendes Veto der Quellen mit hinreichenden kategorialen Adaptionen zu reagieren. Theoretische Konzepte werden aus dieser Perspektive gleichsam als sensible „Sehinstrumente“61 begriffen, die angesichts dessen, was durch sie zum Vorschein gebracht wird, immer wieder aufs Neue zu verändern beziehungsweise weiterzuentwickeln sind. Unser Rekonstruktionsversuch folgt also dem methodologischen Grundsatz einer strukturierten Offenheit. Er operiert dabei unter Verwendung variierender, sich gegenseitig ergänzender Methoden und basiert auf einem heterogenen Ensemble unterschiedlicher Auswertungsmaterialien, bei denen es sich zu einem Großteil jedoch um archivalische Quellen handelt. Von zentraler Bedeutung sind etwa die einschlägigen Archivalien des Vorarlberger Landesarchivs, umfassen diese doch zahlreiche Akten der Vorarlberger Landesregierung – des Präsidiums sowie der zuständigen Abteilungen und angeschlossenen Dienststellen –, die erhellende Einblicke in das institutionelle Gefüge beziehungsweise die organisatorischen Strukturen der damaligen Katastrophenbewältigung gewähren. Neben entsprechenden Korrespondenzen, Einsatzprotokollen und Abschlussberichten finden sich hier aber auch weitere gehaltvolle Quellen, zu denen etwa zahlreiche Pressemitteilungen, Richtlinienbeschlüsse, Schadenserhebungen oder Fotografien aus dem Katastrophengebiet zählen. Des Weiteren sind die Materialien aus dem Archiv der Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz zu nennen. Diese umfassen unter anderem zahlreiche Briefwechsel zwischen dem Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, der Sektionsleitung Bregenz, der Gebietsbauleitung Bludenz und dem Gemeindeamt Blons – Briefwechsel, vermittels derer beispielsweise die Formierung der Entscheidungsprozesse für die lokale Installierung lawinenspezifischer Sekurisationstechnologien nachvollzogen werden kann. Aufschlussreich sind zudem die dort gelagerten Begehungsprotokolle, technischen Berichte und bilanzierenden

61 Gesa Lindemann: Theoriekonstruktion und empirische Forschung. In: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main 2008, S. 107-128, hier S. 114.

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Kollaudierungsoperate, aber auch mehrere Baubescheide des Blonser Gemeindeamts sowie verschiedene Aufzeichnungen zur Geschichte der Lawinenkatastrophen in Vorarlberg. Ferner sind für unseren Rekonstruktionsversuch diverse Quellen aus dem Archiv der Diözese Feldkirch – hier insbesondere das Verkündbuch des damaligen Gemeindepfarrers – und aus dem Archiv der Polizeiinspektion Sonntag – wo noch einzelne Akten und Protokollbücher des inzwischen aufgelösten Gendarmeriepostenkommandos Blons lagern – relevant. Zudem wurden uns im Gemeindearchiv Blons die Protokolle der Gemeinderatssitzungen zwischen 1924 und 1955 sowie eine bisher unveröffentlichte Gemeindechronik des früheren Volksschuldirektors zugänglich gemacht. Hilfreiche Einblicke in das Geschehen vor Ort bieten schließlich aber auch die Notizen und Berichte der lokalen Pfarrchronik, die – neben zahlreichen, inzwischen digitalisierten Lichtbildaufnahmen aus den Tagen der Lawinenabgänge – im Pfarrarchiv Blons zu finden war. Die erhobenen Materialien dienen einer möglichst exakten Darstellung der damaligen Ereignisse und ermöglichen es, auf verschiedenen Ebenen die Genese der Katastrophe, die Organisation der Rettungs- und Wiederaufbaumaßnahmen sowie die hieraus erwachsenen Ordnungstransformationen zu rekonstruieren. In Anlehnung an die konversationsanalytisch ausgerichtete Dokumentenanalyse 62 und verschiedene Überlegungen zu den Möglichkeiten einer archivvermittelten historischen Ethnographie63 sollen die Archivalien jedoch nicht nur als Träger expliziter Informationen gelesen werden. Vielmehr gilt es, sie als historische Objektivationen kommunikativer Praktiken zu verstehen, die sich innerhalb relational strukturierter Felder beziehungsweise konkreter feldspezifischer Situationen vollzogen haben. Dies bedeutet, dass vermittels der einzelnen Dokumente nach Möglichkeit auch Rückschlüsse auf die jeweiligen Relevanzstrukturen und Handlungslogiken ihrer konkreten Urheber zu ziehen sind. Zu diesem Zwecke

62 Vgl. Stephan Wolff: Dokumenten- und Aktenanalyse. In: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 502-513. 63 Vgl. Gesa Ingendahl/Lioba Keller-Drescher: Historische Ethnografie. Das Beispiel Archiv. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 106 (2010), S. 241-263; Kaspar Maase: Das Archiv als Feld? Überlegungen zu einer historischen Ethnographie. In: Katharina Eisch/Marion Hamm (Hg.): Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse. Tübingen 2001, S. 255-271; Jens Wietschorke: Historische Ethnografie. Möglichkeiten und Grenzen eines Konzepts. In: Zeitschrift für Volkskunde 106 (2010), S. 197-224.

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soll neben den Texten selbst auch die Art und Weise der Textgestaltung – vom verwendeten Schreibmaterial über Layout und Gliederung bis zu den rhetorischen Stilmitteln – in die Analyse miteinbezogen und hinsichtlich ihrer impliziten Botschaften ausgewertet werden. Des Weiteren liegt der Arbeit ein Konvolut von etwa 600 Zeitungsartikeln zugrunde, die zu einem Großteil in den Monaten nach den Lawinenabgängen erschienen sind. Sie decken das gesamte politische Spektrum der damaligen regionalen Medienlandschaft ab, entstammen vereinzelt aber auch nationalen und nichtösterreichischen Zeitungen. Unter der Miteinbeziehung mehrerer Protokolle von Landtags- und Nationalratssitzungen sowie von verschiedenen behördlichen Trauerkundgebungen soll vermittels dieser Materialien im Rekurs auf Elemente einer wissenssoziologischen Diskursanalyse 64 die öffentliche Deutung – und politisch-strategische Inanspruchnahme – der Lawinenkatastrophe rekonstruiert werden. Neben den genannten Archivalien und Zeitungsartikeln gehören aber auch die oben erwähnten populärwissenschaftlichen, literarischen und filmischen Darstellungen der damaligen Ereignisse zum Quellenfundus unserer Untersuchung. Hierbei handelt es sich um Materialien, die insbesondere auch einen Zugang zu längerfristigen, erinnerungskulturellen Aspekten der Katastrophenverarbeitung vermitteln. Zu klären gilt es in diesem Zusammenhang etwa, welche Deutungsmuster im Rahmen der betreffenden Abhandlungen, Romane und Verfilmungen (re-)produziert wurden und wie man die dergestalt verbreiteten Katastrophenbilder rezipierte. Darüber hinaus basiert die Arbeit aber nicht zuletzt auch auf Erfahrungen, Beobachtungen und Erhebungen, die im Zuge eines zweimonatigen Aufenthalts vor Ort entstanden sind. Dokumentiert wurden die materiellen Spuren im Gemeinde- und Landschaftsbild sowie religiöse Schutzzeichen und Objektivationen der lokalen Memorialkultur. Teilgenommen wurde an einer geführten Wanderung auf den Lawinenerinnerungswegen, an einer expertenbegleiteten Exkursion zu den technischen Lawinenverbauungen, an einer „Erzählrunde“, in deren Rahmen Zeitzeugen der Lawinenabgänge von ihren damaligen Erfahrungen berichteten, sowie an einer Gedenkveranstaltung, die anlässlich des sechzigsten Jahrestages der Lawinenabgänge in der Blonser Mittelschule stattgefunden hat. Neben zahlreichen informellen Gesprächen mit verschiedenen Gemeindebewohnern wurden schließlich aber auch acht leitfadengestützte Interviews mit Be-

64 Vgl. Reiner Keller: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. Wiesbaden 2011; Ders.: Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden 2011.

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troffenen und Zeitzeugen der damaligen Geschehnisse durchgeführt. Von letzteren liegen Transkriptionen vor, die im Verbund mit den anderen vor Ort generierten Materialien – Feldnotizen, Beobachtungsprotokolle, Fotografien – Einblicke in die lokalen Formen und Modi der Katastrophenerinnerung gewähren. Auf der Grundlage dieser Einblicke sollen unsere historisch ausgerichteten Analysen punktuell um Hinweise auf die gegenwärtigen Bezüge zu den damaligen Ereignissen ergänzt werden.

5. AUFBAU DER ARBEIT Aus den bisherigen Darlegungen wurde deutlich, dass die vorliegende Arbeit zwei miteinander verbundene Ziele verfolgt: Zum einen geht es darum, in Anknüpfung an die Erkenntnisinteressen des SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“ sowie an aktuelle Ansätze aus dem Feld der kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten Desasterstudien theoretische Bausteine für die Entwicklung eines allgemeinen katastrophenanalytischen Forschungsprogramms zu erarbeiten. Zum anderen soll auf der Grundlage dieses Analyseinstrumentariums der Versuch unternommen werden, die Lawinenkatastrophe von Blons zu rekonstruieren. Die empirische Anwendung der entwickelten Begriffe basiert dabei auf einem heterogenen Korpus verschiedener Quellen und Methoden, hat ihren analytischen Schwerpunkt jedoch in der historisch-ethnographisch ausgerichteten Auswertung des oben beschriebenen Archivmaterials. Architektonisch gliedert sich das Buch in zwei Hauptteile, deren Entstehung – entgegen dem linear diachronen Anschein des Textverlaufs – durch wechselseitig wirksame Spezifizierungseffekte geprägt war. Die Ausführungen des ersten Hauptteils befassen sich mit dem allgemeinen, über das konkrete Fallbeispiel hinausweisenden Ziel der Arbeit. Sie sind also von der Intention geleitet, theoretische Grundlagen für den Entwurf einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie zu entwickeln. Im Rahmen des Entstehungskontextes der Untersuchung bedeutet dies, dass hierbei Theoreme, Konzepte und Begriffe erarbeitet werden sollen, die es ermöglichen, Katastrophen als ordnungsverwundende Ereigniskomplexe zu analysieren. Folglich stellt sich zunächst die Aufgabe, in hinreichendem Maße zu klären, was im Rahmen dieses Vorhabens unter „Ordnung“ verstanden wird. Zu diesem Zweck wendet sich die Arbeit im ersten Kapitel der Geschichte volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschens zu und geht der Frage nach, welche forschungsleitenden Ordnungskonzepte diese Disziplin seit der Zeit ihrer Entstehung geprägt haben. Im Anschluss an die jüngere Fachgeschichte kann hierbei schließlich der Ausgangs-

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punkt unseres Ansatzes umrissen werden: Es gilt ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das Katastrophen in ihren vielschichtigen Bezügen zur Geordnetheit des alltäglichen In-der-Welt-seins zu analysieren erlaubt. Mit Blick auf dieses Ansinnen soll daraufhin in mehreren Schritten ein Ordnungskonzept erarbeitet werden, vermittels dessen die strukturellen Bedingungen der Möglichkeit eines tendenziell fraglos selbstverständlichen Lebensvollzugs in den Blick geraten – also die Grundlagen jenes Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmodus, der für das alltägliche In-der-Welt-sein charakteristisch ist. Zu diesem Zweck befasst sich das zweite Kapitel des ersten Hauptteils zunächst mit der Frage, ob und inwiefern die vielschichtigen Ordnungspraktiken des tagtäglichen Agierens als spezifische Antworten auf ein grundlegendes Sinnund Orientierungsbedürfnis verstanden werden können. Aus einer philosophischanthropologischen Perspektive wendet sich die Arbeit dem extrauterinen Ordnungsbedarf des menschlichen Daseins zu. Vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Fundierung geht es im dritten Kapitel um die eigentliche Konzeptualisierung des Ordnungsbegriffs. Hierbei gilt es analytisch zwischen der Dimension des Ordnungsgefüges und der Dimension existentieller Ordnung zu unterscheiden. Zugleich ist jedoch auch dem konstitutiven Wechselbezug dieser Dimensionen in hinreichendem Maße Rechnung zu tragen. So bedarf es eines Zugangs, auf dessen Basis die Ebene der jeweils vorherrschenden Strukturformationen mit der Ebene des lebensweltlichen Wahrnehmens, Deutens und Agierens der konkreten historischen Akteure konzeptuell verknüpft werden kann. Während die Ausführungen der ersten drei Kapitel also der Gewinnung eines katastrophenanalytisch geeigneten Ordnungsbegriffs dienen sollen, geht es im vierten Kapitel um die Frage, wie die Ursachen und Effekte ordnungrelationaler Bedrohungen beschreibbar gemacht werden können. Da wir letztere als problematische Verweise auf die Möglichkeit zukünftiger Probleme verstehen, münden die dortigen Überlegungen zur Konzeptualisierung des Bedrohungsbegriffs in eine – lebensweltlich dimensionierte – Analytik des Problematischen und somit schließlich in eine Auseinandersetzung mit den variablen Grenzen der akteursspezifischen physiopsychischen Belastbarkeit. Mit dem Begriff der Immunisierung werden im fünften Kapitel daraufhin grundlegende Komplementärprozesse in den Blick genommen, die der Bedrohlichkeit des Bedrohlichen auf verschiedenen Ebenen entgegenwirken und den Akteuren trotz ihrer unaufhebbaren Vulnerabilität insulare Daseinsräume einer zeitweiligen Gesichertheit eröffnen. Zwecks Differenzierung des begrifflichen Analysepotentials wird hierbei zwischen verschiedenen existentiellen und sozialen Formen der Immunisierung unterschieden, letztlich aber auch deren wechsel-

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seitige Bedingtheit berücksichtigt. Besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang schließlich insbesondere der Herausbildung bedrohungsspezifischer Immunisierungsapparate – gefasst als heterogene Objektivationen expliziter Bedrohungskommunikationen, die der präventiven Regierung des Zukünftigen dienen. Im sechsten – und letzten – Kapitel des ersten Hauptteils sollen die bis dorthin erzielten Ergebnisse zusammengefasst und für die Analyse katastrophischer Ereigniskomplexe fruchtbar gemacht werden. Die gewonnenen Begriffe fungieren dabei als Bausteine einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie – sie bieten Grundlagen für den Entwurf eines katastrophenanalytischen Forschungsprogramms, das es hier nun im Rekurs auf aktuelle Ansätze aus dem Feld der interdisziplinären Desasterforschung zu umreißen gilt. So endet das Kapitel schließlich mit der konzepthaften Skizzierung eines umfassenden Fragenkatalogs, der dem weiteren Vorgehen als untersuchungsleitendes Navigationsinstrument dienen soll. Der zweite, empirisch ausgerichtete Teil der Arbeit besteht daraufhin im Versuch einer Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons. Vermittels des entwickelten katastrophologischen Analyseinstrumentariums soll nun anhand der uns zugänglichen Materialien den vielfältigen historischen Verflechtungen dieses Ereigniskomplexes nachgegangen werden. Im Zentrum der Untersuchung steht also die Frage, wie sich die Relationen zwischen den damaligen Geschehnissen und dem Blonser Ordnungsgefüge sowie den existentiellen Ordnungen der in diesem Gefüge agierenden Akteure verstehen und beschreiben lassen. Vor diesem Hintergrund gliedern sich die Ausführungen in drei chronologisch strukturierte Teile. Im ersten Kapitel gilt das Interesse den präkatastrophischen Ordnungsverhältnissen des Blonser Alltagsbetriebs zu Beginn der 1950er Jahre. So befasst sich die Arbeit, nach einigen Hinweisen zur Geschichte der Gemeinde, mit jenen klimatischen, naturräumlichen, ökonomischen und soziokulturellen Bedingungen, die – in zahlreichen Wechselbezügen – den strukturierten strukturierenden Rahmen der damaligen Lebensweise bildeten. Die hierbei sich abzeichnenden Umrisse des lokalen Ordnungsgefüges können als spezifisch verwundbare Ausgangskonfiguration eines mehrdimensionalen, katastrophisch dynamisierten Wandels verstanden werden. Auf der Grundlage dieses ersten Überblicks wendet sich das zweite Kapitel der Katastrophengenese zu. Hierbei wird zunächst den soziomateriellen Prozessen der Lawinenentstehung nachgegangen und somit der Versuch unternommen, einige zentrale Ursachen der Abgänge in ihrer historischen Gewordenheit zu beleuchten. Sodann gilt das Interesse aber freilich auch den – ihrerseits historisch

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bedingten – Lawineneffekten: Es soll geklärt werden, aus welchen Gründen die damaligen Lawinenabgänge zu einer Katastrophe wurden beziehungsweise dazu Anlass gaben, als eine solche verstanden werden zu müssen. Der Fokus des dritten Kapitels liegt daraufhin auf den postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozessen. Angesichts der massiven Zerstörungen gilt es hier nun die materiellen, sozialen und semantischen Aspekte all jener – intendierten wie nichtintendierten – Vorgänge zu rekonstruieren, in deren Vollzug sich die zentralen Prägekräfte des künftigen Alltags herausbildeten. Neben den Transformationen des lokalen Ordnungsgefüges soll im Rahmen der materialbasierten Möglichkeiten aber auch die lebensweltliche Dimension dieser Vorgänge beleuchtet werden. So geht es hierbei schließlich um die Frage, wie der postkatastrophische Wandel von den einzelnen Akteuren vor Ort mitgestaltet und erfahren wurde. Im Anschluss an die theoretischen Erörterungen des ersten Teils und den empirischen Rekonstruktionsversuch des zweiten Teils folgt am Ende der Arbeit ein kurzes Resümee, in dem die zentralen Ergebnisse des zurückgelegten Weges nochmals zusammengefasst werden. Hierbei gilt es abschließend in verdichteter Form darzulegen, inwiefern die kulturwissenschaftliche Analyse katastrophischer Ereignisse von einer ordnungstheoretischen Fundierung ihres Vorgehens profitieren kann.

II. Theoretische Grundlagen einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie

Die Ausführungen des ersten Hauptteils haben zum Ziel, theoretische Grundlagen für den Entwurf einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie zu erarbeiten, in deren Rahmen die eingangs formulierten Forschungsleitfragen der Untersuchung konkretisiert und entsprechende begriffliche Analyseinstrumente entwickelt werden können. Im Zentrum steht somit der Versuch, allgemeine Strukturen jener vielgestaltigen Phänomene herauszuarbeiten, die man üblicherweise unter dem Begriff der „Katastrophe“ rubriziert. Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass diese Ereigniskomplexe freilich stets auf je eigene Weise geschehen und als solche damit nur durch konkrete empirische Untersuchungen rekonstruierbar sind. Wenn im Folgenden also aus einer (proto-)kulturwissenschaftlichen Perspektive zunächst nach den allgemeinen Merkmalen katastrophischer Phänomene gefragt wird, so kann es dabei vorerst nur um die Konzeptualisierung eines analytischen Zugangs gehen – eines Zugangs, der die Analyse selbst nicht zu substituieren vermag.

1. ORDNUNGSPERSPEKTIVEN In Anlehnung an alltagssprachlich verbreitete Konnotationen werden Katastrophen im Rahmen der vorliegenden Arbeit als ordnungsverwundende Ereignisse aufgefasst. Um diese Auffassung näher bestimmen und ihre analyserelevanten Implikationen im Einzelnen erörtern zu können, muss zunächst hinreichend genau geklärt sein, was im hier interessierenden Zusammenhang unter „Ordnung“ verstanden wird – handelt es sich dabei doch um einen Begriff, der aufgrund seiner vielfältigen Konzeptualisierungspotentiale in theoretische Untiefen zu führen droht und daher einer präzisierenden Konturierung bedarf. Vermittels der überblickhaften Rekonstruktion verschiedener Ordnungsperspektiven soll im Fol-

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genden – vor allem mit Blick auf den historischen Wandel des volkskundlichkulturwissenschaftlichen Begriffsverständnisses – der Ausgangspunkt dieses Vorhabens gewonnen werden. Unter Ordnung (griech. τάξις/táxis, κόσμος/kósmos; lat. ordo) wird gemeinhin schlicht ein „übersichtlicher Zustand“ beziehungsweise eine „geregelte, ungestörte Situation“ sowie, etwas abstrakter, eine „unter einem bestimmten Prinzip zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügte Vielheit von Teilen oder Elementen“65 verstanden. Ordnung bezeichnet im Allgemeinen also „einen stabilen, dauerhaften, ganzheitlichen Zusammenhang“66 und entspricht somit einer „Art von Synthese, die bewirkt, daß etwas mit etwas anderem einen gemeinsamen Stand gewinnt.“67 Es handelt sich dabei zugleich aber um einen biologischen, mathematischen, philosophischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Grundbegriff mit je eigenen fachspezifischen Bedeutungsdimensionen. Während er in der Biologie etwa zur systematisierenden Vereinheitlichung von Familien und Klassen verwendet wird und in der Mathematik auf die Kennzeichnung reflexiver, antisymmetrischer und transitiver Mengenrelationen zielt, verweist er als philosophischer Begriff auf die metaphysisch-ontologische Frage nach der Seinsverfasstheit von „Welt“ und „Kosmos“ oder, epistemologisch gewendet, auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit verallgemeinerbarer Erkenntnis.68 Die in der Moderne entstehenden Gesellschafts- und Kulturwissenschaften konstituierten sich wiederum in starker Auseinandersetzung mit dem „Hobbesʼschen Problem der Ordnung“69, also mit der Frage, so Gottfried Korff, „wie soziale und kulturelle Ordnungen nach dem Zerfall theologischer Garantien einerseits und im Unterschied zur Barbarei des Naturzustandes andererseits möglich sind“70 – einer Frage, die auch innerhalb der einzelnen Fachbereiche freilich in sehr differierenden, teils widersprüchlichen Formen beantwortet wurde und wird.

65 Meyers großes Taschenlexikon, Bd. 17. Mannheim 2003, S. 5404. 66 Wörterbuch der Soziologie. Herausgegeben von Karl-Heinz Hillmann. Stuttgart 1994, S. 637. 67 Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Herausgegeben von Helmuth Vetter. Hamburg 2004, S. 400. 68 Vgl. Meyers enzyklopädisches Lexikon, Bd. 17. Mannheim 1978, S. 711f. 69 Vgl. hierzu Talcott Parsons: The Structure of Social Action. Volume I. New York 1968, S. 89-94; Andreas Anter: Die Macht der Ordnung. Tübingen 2007, S. 59-65. 70 Gottfried Korff: „Über Denkmäler, Weiber und Laternen“. Zur Ordnungsliebe einer Wissenschaft. In: Silke Göttsch/Christel Köhle-Hezinger (Hg.): Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. Münster u.a. 2003, S. 1-14, hier S. 1.

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Wie sämtliche gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen lässt sich auch die aus der Volkskunde hervorgegangene Kulturwissenschaft per se als eine Ordnungswissenschaft verstehen.71 Zum einen bezieht sie ihre identitätsprägenden Fragestellungen aus Zeitverhältnissen, die aufgrund soziokultureller Dynamiken, sinnhafter Eruptionen und fortschreitender Entzauberungsprozesse in hohem Maße ein Bedürfnis nach Selbstauslegung generieren, und ist somit Effekt und Akteur moderner Ordnungsbemühungen im Allgemeinen. Zum anderen verwirklicht sie diesen Beitrag zum gesellschaftlichen Großprojekt der reflexiven Selbstsondierung und -explikation infolge ihrer Transformation zu einer alltagsorientierten Wirklichkeitswissenschaft schließlich vornehmlich vermittels der Analyse „lebensweltlicher Orientierungs-, Deutungs- und Sortierungssysteme“72, also durch eine Hinwendung zu jenen Ordnungen, die das Leben der Einzelnen in seinen faktischen Vollzügen durchwirken. So handelt es sich bei der volkskundlichen Kulturwissenschaft also nicht nur deshalb um eine Ordnungswissenschaft, weil sie zu den jeweiligen wissenschaftlichen, theoretisch-begrifflich verfahrenden Ordnungs- und Verortungsbemühungen ihrer Zeit beiträgt, sondern auch, weil Ordnung – nun verstanden als ein konkretes, der sozialen Wirklichkeit zugehöriges Phänomen, das von den historischen Akteuren in ihrem gelebten Leben intersubjektiv ausgehandelt, reproduziert und transformiert wird – dabei den zentralen Gegenstand ihrer Analysen darstellt. Die relevanten Vorannahmen und Leitdifferenzen dieser Ordnungsbezüge haben sich im Verlauf der bisherigen Fachgeschichte indessen substanziell gewandelt. Bevor sich die Arbeit dem gegenwärtigen Gebrauch des Ordnungsbegriffs zuwendet, sollen nun einige Grundzüge dieses Wandels in einem schematischen historischen Überblick nachgezeichnet werden:73

71 Vgl. hierzu neben dem soeben angeführten Beitrag Korffs etwa auch die einschlägigen Aufsätze von Brückner, Gerndt und Greverus: Wolfgang Brückner: Ordnungsdiskurse in den Kulturwissenschaften. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 102 (1999), S. 457-497; Helge Gerndt: Ordnungen. Wie man sich Distanz verschafft. In: Klara Löffler (Hg.): Dazwischen. Zur Spezifik der Empirien in der Volkskunde. Wien 2001, S. 75-82; Ina-Maria Greverus: Kulturelle Ordnung. In: Klaus Beitl (Hg.): Volkskunde. Fakten und Analysen. Festgabe für Leopold Schmidt zum 60. Geburtstag. Wien 1972, S. 6-13. 72 Korff 2003, S. 2. 73 Zur Geschichte der Volkskunde in ausführlicherer Form vgl. etwa Hermann Bausinger: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Darmstadt 1971; Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. München 2012; Ingeborg Weber-Kellermann/Andreas C. Bimmer/Siegfried Becker: Einführung in die

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Zunächst waren die Ideen der Aufklärung prägend. Während die Vorläufer der „Volkskunde“ von Grimmelshausen über Hans Sachs und Sebastian Brant bis zu Tacitus und Herodot zurückreichen, lassen sich ihre unmittelbar disziplinrelevanten Anfänge im späten 18. Jahrhundert lokalisieren. Zu nennen sind etwa die vielfältigen geographischen und ethnographischen Reiseberichte dieser Zeit, in denen Autoren wie Ludwig Philipp Hermann Röder oder Friedrich Nicolai versuchten, zahlreiche Beobachtungen, die sie in den von ihnen besuchten Ländern gemacht hatten, einem breiten Publikum zu vermitteln. Daneben ist aber auch das Umfeld der aufklärerischen Kameralistik, Topographie und Statistik ins Feld zu führen, also jene detaillierten landeskundlichen Erhebungen innerhalb der einzelnen Territorialstaaten, die insbesondere dem Ziel einer optimierten Regierung und Regulierung des spätabsolutistischen Gesellschaftsgefüges dienen sollten. Hier wie dort wurde von einer gegebenen Natur des Menschen ausgegangen, die es durch rationale Erkenntnis zu erschließen und in einer vernunftgeleiteten staatlichen Organisation der jeweiligen sozialen Ordnung zu berücksichtigen gelte. Während in den genannten Kontexten erstmals der Begriff der „Volkskunde“ formuliert wurde,74 sollten sich für die spätere Identität des gleichnamigen Faches zunächst vor allem Elemente der Romantik als prägend erweisen, die sich unter dem Eindruck der Dynamiken des ausgehenden 18. Jahrhunderts entwickelt hatten.75 Hiermit sind insbesondere vereinheitlichende, gemeinschaftsfundierende Begriffe und Konzeptionen gemeint, vermittels derer man den rapiden gesellschaftlichen Transformationen des damaligen Epochenumbruchs zu begegnen versuchte. Die Auflösung der Ständegesellschaft und die zunehmende Zersetzung ihrer ursprünglichen Sinn- und Identitätsquellen – insbesondere ihrer

Volkskunde/Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte. Stuttgart/Weimar 2003. 74 Vgl. Hermann Bausinger: Einleitung: Volkskunde im Wandel. In: Ders./Utz Jeggle/Gottfried Korff/Martin Scharfe: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978a, S. 1-15, hier S. 1f. 75 Zu den Bezügen zwischen Romantik und Volkskunde vgl. etwa Wolfgang Brückner: Geschichte der Volkskunde. Versuch einer Annäherung für Franzosen. In: Isac Chiva/ Utz Jeggle (Hg.): Deutsche Volkskunde – Französische Ethnologie. Zwei Standortbestimmungen. Frankfurt am Main u.a. 1987, S. 105-127; Wolfgang Seidenspinner: Romantik und Kulturanthropologie. In: Michael Simon/Wolfgang Seidenspinner/ Christina Niem (Hg.): Episteme der Romantik. Volkskundliche Erkundungen. Münster 2014, S. 9-19; Harm-Peer Zimmermann: Ästhetische Aufklärung. Zur Revision der Romantik in volkskundlicher Absicht. Würzburg 2001.

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sozialen Verortungs- und religiösen Versicherungssysteme – im Zuge der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege führte in den betreffenden bürgerlichen Kreisen zu einer zeitspezifischen, von durchaus widersprüchlichen Tendenzen geprägten Mentalitätsmelange aus gesteigertem historischen Bewusstsein, ins Offene drängendem Freiheitsdrang sowie gemeinschafts- und geborgenheitsbedürftigem Ordnenwollen.76 Der zuletzt genannte Aspekt äußerte sich schließlich in Fragen nach dem „Eigentlichen“, „Echten“, „Wahren“, „Ursprünglichen“, bei deren Beantwortungsversuchen vor allem der Idee des „Volksgeistes“ eine zunehmend zentrale Rolle zukam. Im Anschluss an Giambattista Vico und Johann Gottfried Herder, 77 nun aber stärker nationalistisch grundiert, wurde von einem überindividuellen „Gemeinschaftscharakter“ ausgegangen, den es in den tradierten Kulturgütern des Volkes aufzufinden und wiederzubeleben gelte. Findet dieser Gedanke etwa in Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ (1807/1808) einen beredten Ausdruck, so entwuchsen ihm zugleich umfassende Sammelbestrebungen, zu deren prominentesten Zeugnissen wohl Achim von Arnims und Clemens Brentanos Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806-1808), die von Joseph Görres herausgegebenen „Teutschen Volksbücher“ (1807) oder die „Kinder- und Hausmärchen“ (1812-1822) sowie die „Deutschen Sagen“ (1816-1818) von Jacob und Wilhelm Grimm zählen. Die Suche nach dem Eigenen entfachte also ein lebhaftes Interesse an volkstümlichen Liedern, Mythen, Märchen und Sagen, die als lebendige Überlieferungen eines ursprünglich-vollkommenen Lebensvollzugs gedeutet wurden – führte die genannten Akteure dabei aber nur vordergründig in die lebensweltliche Fremde der Landbevölkerung, da „Volk“ für sie, wie Hermann Bausinger formuliert, „eher wirkende poetische Kraft als soziale Realität“78 war.

76 Zum Begriff des „Ordnenwollens“, dort jedoch in Auseinandersetzung mit der Ordnungslehre von Hans Driesch im Sinne einer apriorisch vorherrschenden „latente[n] Eingestelltheit des Lebens des Menschen“ vgl. Helmuth Plessner: Die wissenschaftliche Idee. Ein Entwurf über ihre Form (1913). In: Ders.: Frühe philosophische Schriften. Gesammelte Schriften I. Frankfurt am Main 2003, S. 7-141, hier S. 101. 77 Vgl. Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen. Frankfurt am Main 1981; Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Leipzig 1978. Zu Herders Rezeption des Vicoʼschen „Volksgeist“Gedankens vgl. Weber-Kellermann/Bimmer/Becker 2003, S. 20f. 78 Bausinger 1971, S. 32. Dass hierbei eher idealistische und pädagogische als empirische Interessen verfolgt wurden, zeigt sich auch an den recht freimütig verändernden Eingriffen der Herausgeber sowie daran, dass ein Teil der gesammelten Kulturgüter ja

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Hatte die oben skizzierte aufklärerische „Volkskunde“ einen eher nüchternpragmatischen Charakter, so waren hier nun insbesondere auch idealistischmythologische Motive prägend. Um der weithin empfundenen Bedrohung einer zunehmenden Desorganisation entgegenzuwirken, rief man dazu auf, sich des „Volksgeistes“ zu besinnen und strebte somit eine rückwärtsgewandte, im doppelten Sinne schöpferische Erneuerung der Daseinsverhältnisse an. Vermittels der Repristination des Volksgeistes – der ja, wie Korff formuliert, „nichts anderes als die Umschreibung einer Energie der Selbstorganisation sozialer und kultureller Ordnungen“79 ist – wollte man der Nation gleichsam zu sich selbst verhelfen. Indem also die Idee proklamiert wurde, dass sich in überlieferten Kulturgütern der einheitliche Geist eines Kollektivsubjekts objektiviert habe, schien man dem Prozess der „epistemischen Nationalisierung“80 ein legitimes Fundament unterlegen zu können: Was als latente Ordnung bereits vorhanden war, so der Gedanke, sollte nun zu wirklicher Wirksamkeit gelangen. Ausgehend von den Romantikern folgte im Laufe des 19. Jahrhunderts eine rege volkskundliche Sammeltätigkeit, die zwar nach wie vor mit einer deliziösen Grundhaltung verknüpft war,81 dabei aber neben Überlieferungen auf dem Feld der Ästhetik immer mehr auch Sitten, Bräuche und gegenständliche Objektivationen umfasste. Auch wenn man sich nun also nicht mehr ausschließlich auf den Bereich des Philologischen beschränkte, wurden die gesammelten Güter dabei weiterhin als Emanationen eines nationalen Volksgeistes aufgefasst und somit idealisierend überhöht. „Diese Studien“, heißt es in einem häufig angeführten Zitat Wilhelm Heinrich Riehls, das die damalige volkskundliche Programmatik anschaulich zur Sprache bringt, „[d]iese Studien über höchst kindische und widersinnige Sitten und Bräuche, über Haus und Hof, Rock und Kamisol und Küche und Keller sind in der That für sich allein eitler Plunder, sie erhalten erst ihre

eigentlich bürgerlichen Ursprungs war und dabei oftmals auch italienische oder französische Einflüsse aufwies. Vgl. hierzu etwa Bausinger 1971, S. 35; WeberKellermann/Bimmer/Becker 2003, S. 33f. 79 Korff 2003, S. 4. 80 Vgl. Bernd Estel: Nation und nationale Identität. Versuch einer Rekonstruktion. Wiesbaden 2002, S. 200-202. 81 Zum Deliziösen als Charakteristikum der frühen Volkskunde vgl. Hermann Bausinger: Kritik der Tradition. Anmerkungen zur Situation der Volkskunde. In: Helge Gerndt (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde“ in der Diskussion. Darmstadt 1988, S. 223-246, hier S. 224.

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wissenschaftliche wie ihre poetische Weihe durch ihre Beziehung auf den wunderbaren Organismus einer ganzen Volkspersönlichkeit“82. Vor dem Hintergrund der bisherigen Skizzierungen lässt sich die Idee des Volksgeistes als das zentrale Ordnungsparadigma der frühen Volkskunde verstehen. So wurde die Vorstellung, dass es sich hierbei um eine ordnungsstiftende Kraft handle, die es historisch zu rekonstruieren und im Sinne eines nationalen Bewusstwerdungsprozesses zu stärken gelte, zu einem nachhaltig wirksamen Strukturierungsfaktor des volkskundlichen Forschens. Sie schlug sich in den Erkenntnisinteressen sowie in der Auswahl und Ausdeutung der Erkenntnisgegenstände nieder – und sie war als grundlegender ideeller Entwurf gerade auch dort prägend, wo man sich auf eine vornehmlich positivistisch ausgerichtete Praxis des Sammelns beschränkte. Als ein solches Ordnungsparadigma enthielt die Idee des Volksgeistes zahlreiche Implikationen, die auch dann noch relevant waren, als sich die Volkskunde gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der zunehmenden Gründung von Museen, Vereinen und Zeitschriften in einem umfassenderen Sinne zu institutionalisieren begann. Der romantisierende rückwärtsgewandte Blick auf die tradierten Güter der bäuerlichen Kultur, die Vorstellung einer kontinuierlichen Überlieferung mythischer Ursprünge, der Drang nach dem vermeintlich Eigentlichen des Eigenen und der damit verbundene Impetus zum Retten und Bewahren verbanden sich dabei unter dem Eindruck der ökonomischen, politischen und sozialen Transformationen des sich fortschreitend industrialisierenden Zeitalters immer wieder mit reaktionären, antimodernistischen Tendenzen. Ideologisch verengte sich die Volkskunde somit zunehmend zu einer „Kompensationswissenschaft, die den dramatischen, von Industrialisierung, Kapitalismus und Verstädterung hervorgerufenen sozialen Wandel abzuschwächen versuchte und die Realität einer Klassengesellschaft durch das harmonisch-organisch gesehene Konzept ‚Land‘, durch die literarische Neubewertung von ‚Provinz‘ zu beeinflussen trachtete.“83 Zwar gab es durchaus auch erste Öffnungs- und Erweiterungsversuche, wie sie etwa von Karl Weinhold, Eduard Hoffmann-Krayer oder Otto Laufer formuliert wurden; zudem entstanden zuweilen auch heterodoxe Ansätze, die, wie im

82 Wilhelm Heinrich Riehl: Die Volkskunde als Wissenschaft. In: Gerhard Lutz (Hg.): Volkskunde. Ein Handbuch zur Geschichte ihrer Probleme. Berlin 1958, S. 23-37, hier S. 29. 83 Reinhard Johler: Nachwort. In: John W. Cole/Eric R. Wolf: Die unsichtbare Grenze. Ethnizität und Ökologie in einem Alpental. Wien/Bozen 1995, S. 419-433, hier S. 424.

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Falle von Hans Naumanns Konzept des „gesunkenen Kulturguts“, lebhafte Debatten nach sich zogen. Zu einem wirklichen Paradigmenwechsel kam es in deren Folge jedoch nicht. Es blieb beim „Sinnzentrum ‚Volkstum‘“84, es blieb bei der Reliktfixierung und es blieb somit beim Festhalten an Grundzügen, die schließlich – zwar nicht zwangsläufig, aber doch zwanglos –85 in tiefgreifende Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus führten. Die frühe Volkskunde operierte also über lange Zeiträume hinweg im Rahmen forschungsleitender Ordnungsschemata – wie Kontinuität, Gemeinschaft, Stamm oder Sitte –86, die ursprünglich in engem Zusammenhang mit der romantischen Idee eines ordnungsstiftenden Volksgeistes standen. Vor dem Hintergrund soziokultureller Umbrüche – von den Napoleonischen Kriegen über Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung, Technisierung, Bürokratisierung und Pluralisierung bis zu den radikal-anomischen Dynamiken der beiden Weltkriege – verband sich dieser mythisch-idealistische Grundentwurf immer wieder mit einem normativen „Ruf nach Ordnung“87 und infolgedessen mit dem empfundenen Auftrag, den Orientierungs- und Sicherheitsverlusten der jeweiligen Zeit durch die Rekonstruktion vermeintlich ursprünglicher volkskultureller Wurzeln heilsam entgegenzuwirken. Eine solche Atmosphäre der Verunsicherung bildete auch den gesellschaftsund fachspezifischen Kontext von Leopold Schmidts 1948 publizierter Abhandlung über die „Volkskunde als Geisteswissenschaft“. Im Gegensatz zu früheren volkskundlichen Ordnungsbemühungen wurde „Ordnung“ hier nun aber explizit als ein analytischer Leitbegriff eingeführt.88 So definiert Schmidt „Volkskunde“ im Sinne seiner programmatischen Skizzierung des disziplinären Profils als „die

84 Kaschuba 2003, S. 76. 85 Winfried Franzen skizziert mit dieser Wendung in einem anderen, wenngleich vergleichbaren Kontext, das Verhältnis zwischen einzelnen Passagen aus „Sein und Zeit“ und Heideggers politischer Positionierung in den Jahren 1933 und 1934. Vgl. Winfried Franzen: Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte. Eine Untersuchung über die Entwicklung der Philosophie Martin Heideggers. Meisenheim am Glan 1975, S. 80. Zu den inneren und äußeren Verstrickungen zwischen Volkskunde und Nationalsozialismus vgl. etwa Wolfgang Emmerich: Germanistische Volkstumsideologie. Genese und Kritik der Volksforschung im Dritten Reich. Tübingen 1968. 86 Vgl. Bausinger 1971, S. 74-140. 87 Korff 2003, S. 11. 88 Leopold Schmidt: Die Volkskunde als Geisteswissenschaft. In: Ders.: Volkskunde als Geisteswissenschaft. Gesammelte Abhandlungen zur geistigen Volkskunde. Wien 1948, S. 9-31.

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Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen.“89 Den Terminus der „überlieferten Ordnungen“ verwendet er dabei zunächst in klassisch volkskundlicher Manier als begriffliche Kategorie zur Herausarbeitung der „Bedeutung des statischen Momentes im Kulturgeschehen“90. Entgegen zentralen Implikationen des früheren Kontinuitätsparadigmas betont er daraufhin jedoch, dass diese tradierten Regeln des Agierens „in unendlichen Variationen zu Aufbauformen zusammentreten können“91 und sich damit im Verlauf der Geschichte empirisch als Elemente verschiedenster Lebenszusammenhänge beobachten ließen. Indem Schmidt den Gedanken einer überlieferungskonstanten Permanenz dieser „Ordnungen“ also gleichsam auf den Aspekt ihrer jeweiligen Form reduziert, öffnet er sein Konzept für Prozesse des Wandels. So seien zwar nicht die erscheinenden Elemente selbst variabel, wohl aber ihre wechselseitigen Beziehungen – und dies im Konkreten jenen „Funktionen entsprechend, welche die Erscheinungen jeweils zu erfüllen haben.“92 Vor diesem Hintergrund plädiert Schmidt dafür, jeden Gegenstand des volkskundlichen Interesses vermittels der Methode einer „dreigliedrigen Betrachtungsweise“93 sowohl nach seiner Erscheinung als auch nach seiner Geschichte und seiner Funktion zu befragen. Das Ziel solle dabei sein, „eine neue Form der volkskundlichen Betrachtungsweise“ zu entwickeln, „welche dieses Leben in überlieferten Ordnungen nicht den Stoffgebieten, sondern einigen übermateriellen Erkenntnisregeln entsprechend aufzuschließen versucht.“94 Diese Erkenntnisregeln, von denen sich Schmidt also eine perspektivische Aufhebung der kanonisch bedingten inneren Segmentierungen des Faches zugunsten einer synthetisierenden Hinwendung zum Erkenntnisgegenstand des „Lebens“ verspricht, basieren auf drei Fundamentalsätzen: So gelte es davon auszugehen, dass, erstens, „das gesamte Leben nicht oder nicht nur nach individuellen Anstößen verläuft“, sondern in hohem Maße an überlieferte Ordnungen gebunden sei,95 dass, zweitens, diese Überlieferungen „in einem eigentümlichen Zustand der Unbewußtheit empfangen und gelebt werden“ 96 und dass schließlich, drittens, jene „nicht individuellen Anstöße und unbewußten Erscheinungen

89 Ebd., S. 13. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 31. 92 Ebd., S. 29. 93 Ebd., S. 28. 94 Ebd., S. 17. 95 Ebd., S. 18. 96 Ebd., S. 19.

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der Überlieferung […] nicht primär psychisch oder physisch gebunden [sind], sondern kulturell.“97 Wenn diesen Überlegungen Leopold Schmidts nun etwas mehr Platz eingeräumt wurde, so geschah dies deshalb, weil sich in ihnen ein – freilich durch sie selbst noch nicht vollkommen vollzogener – Wandel abzeichnet. Sie markieren gleichsam einen Übergang innerhalb der hier schematisch rekapitulierten Geschichte volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Ordnungsbezüge. Einerseits wird nun explizit nach den Ordnungen des konkreten Lebensvollzugs gefragt: Die Beschäftigung mit volkskulturellen Gütern sollte nicht mehr der ordnenden Rekonstruktion eines abstrakten Volkscharakters, sondern vielmehr der Erklärung des an diese Elemente in wechselnden Konfigurationen gebundenen Daseins dienen. Andererseits wird diese Gegenstandsbestimmung im Rahmen einer begrifflichen Instrumentierung konzeptualisiert, in die nach wie vor eine ausgeprägte nostalgisch-retrospektive Tendenz eingeschrieben ist. So bieten die eingeführten Begriffe zwar sensible analytische Werkzeuge zur Rekonstruktion dynamischer Überlieferungsprozesse, nicht aber – oder in deutlich geringerem Maße – zur Untersuchung der Dynamiken des gelebten Lebens. Schmidts Entwurf weist also trotz seiner funktionalistisch fundierten Berücksichtigung überlieferungsbezogener Konfigurationstransformationen eine konzeptionelle Überbetonung der statischen Prägeelemente des Daseins auf und lässt dabei wenig Raum für die Analyse all jener machtstrukturierten Aushandlungsprozesse und Definitionskämpfe, die der ordnungsstiftenden Prägekraft dieser Elemente stets zugrunde liegen. Wenn in der Abhandlung beispielsweise von „Überlieferungsformung“98 die Rede ist, so meint dies das Geformtwerden durch Überlieferungen, nicht aber die im Lebensprozess sich sowohl rezeptiv als auch schöpferisch vollziehende Formung von Überlieferungen. Schließlich macht sich die perspektivische Überberücksichtigung tradierter Objektivationen aber gerade auch bei der konzeptionellen Verortung des Ordnungsbegriffs bemerkbar. So bezieht sich dieser hier ausschließlich auf das jeweils zu untersuchende Überlieferungsgefüge – im Sinne einer primordialen Zusammensetzung kultureller Güter – ohne dabei auch das in und mit diesen Gütern sich vollziehende Leben selbst zu umfassen. Im Rahmen eines am Lebensvollzug interessierten Ansatzes droht ein solcher überlieferungsfixierter Ordnungsbegriff jedoch zu objektivistischen Verzerrungen zu führen, da er letztlich eine Sicht der Dinge nahe legt, in deren Fokus „Leben“ vornehmlich auf Effekte institutionalisierter Formen des Gewesenen reduziert wird.

97 Ebd., S. 21. 98 Ebd.

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Trotz – oder gerade wegen – der umrissenen nostalgisch-retrospektiven Tendenzen des Gesamtentwurfs wurde Schmidts Formel vom „Leben in überlieferten Ordnungen“ während der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte zu einer akzeptierten Gegenstandsbestimmung des Faches. Sie bringt den Versuch zur Sprache, eine Reform unter konservativen Vorzeichen zu initiieren, und erinnert darin an die zu jener Zeit gleichfalls verbreitete Fachdefinition, die Richard Weiss 1946 in seiner „Volkskunde der Schweiz“ formuliert hatte: „Volkskunde“, heißt es dort, „ist die Wissenschaft vom Volksleben. Das Volksleben besteht aus den zwischen Volk und Volkskultur wirkenden Wechselbeziehungen, soweit sie durch Gemeinschaft und Tradition bestimmt sind.“99 Beide Texte bargen Aufbruchs- und Erneuerungspotential, beide blieben in vielem aber dem Bisherigen treu. In ihrer damaligen Rezeption dominierte denn auch zunächst eine Lesart, die das Konservativ-Orthodoxe der Abhandlungen rezipierte, ihren innovativreformerischen Gehalten aber nur wenig Geltung einräumte. Dies entsprach der vorherrschenden Gesamtsituation des Faches, wo den sehr vereinzelten – so etwa von Will-Erich Peuckert formulierten – Aufrufen zum Bruch mit bisherigen Annahmen die verbreitete Tendenz gegenüberstand, durch das Festhalten an überkommenen Fachtraditionen eine „ungebrochene Kontinuität“ zu wahren.100 Zwar vollzog sich zu dieser Zeit eine Art ernüchterungsbedingter Versachlichung, so dass die breit befürwortete Bewahrung vermeintlich altbewährter Forschungsgegenstände nun nicht mehr von der Intention beflügelt war, einen nationalen „Volksgeist“ zu rekonstruieren, doch lagen den Studien der ersten Nachkriegsjahre normative Leitdifferenzen – wie vormodern/modern, volkstümlich/technisch, kulturell/zivilisatorisch, ursprünglich/entfremdet oder authentisch/künstlich –101 zugrunde, die sich aus dem oben umrissenen Paradigma des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten und als unkritisch übernommene Taxonomien den volkskundlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit nach 1945 noch immer beherrschten. Solche gewachsenen Vorannahmen, die als prädisponierende Strukturierungsfaktoren gleichsam das Unbewusste des Faches besetzt hatten, konnten erst im Zuge weiterer und weiterreichender Reformbemühungen expliziert, kritisiert und überwunden werden. Zu nennen sind hier zum einen die von Hans Moser

99

Richard Weiss: Volkskunde der Schweiz. Erlenbach-Zürich 1946, S. 11 (Hervorhebung S.R.).

100 Vgl. Helge Gerndt: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Fach und Begriff „Volkskunde“ in der Diskussion. Darmstadt 1988, S. 1-21, hier S. 7f. 101 Vgl. hierzu Stefan Beck: Umgang mit Technik. Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte. Berlin 1997, S. 119.

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und Karl-Sigismund Kramer in München ausgehenden Impulse der 1950er und 1960er Jahre. Dort wurde versucht, eine quellenkritisch arbeitende historische Volkskunde zu initiieren, die zwar nach wie vor das – vornehmlich bäuerliche – „Volksleben“ zum Gegenstand hatte, dieses jedoch jenseits bisheriger Idealisierungen vermittels sensibler Quellenanalyse auch in seinen soziokulturellen (Herrschafts-)Bezügen und geschichtlichen Wandlungsprozessen nüchtern zu beschreiben versuchte.102 Zum anderen trugen aber insbesondere die von Hermann Bausinger in Tübingen entwickelten Perspektiven zu einer nachhaltigen Revision überkommener Zugänge bei. Im Rahmen differenzierter Analysen der soziokulturellen Dynamiken des Zusammenlebens von „Flüchtlingen“ und „Einheimischen“ während der 1950er Jahre103 sowie in den 1961 veröffentlichten Untersuchungen zur „Volkskultur in der technischen Welt“104 wurden bisherige Leitkonzepte des Faches dekonstruiert und Grundlagen für einen umfassenden Neuaufbruch gelegt. Wenn in diesem Zusammenhang noch von „Volk“ die Rede war, so handelte es sich dabei nicht mehr um das „unantastbare Ideal einer organischen Gesamtpersönlichkeit […], sondern um die reale Welt der kleinen Leute“105. Vor diesem Hintergrund konnte „Volkskultur“ nun als ein dynamischer, von vielfältig wandelbaren Daseinsverhältnissen durchdrungener Untersuchungsgegenstand konzeptualisiert werden, den es sowohl historisch als auch gegenwartsbezogen vermittels empirischer Methoden zu analysieren galt. Sie verlor ihren Status eines unbefleckten Hortes ursprünglicher Überlieferungen und wurde nun als Bestandteil der Gesellschaft wieder in die Geschichte zurückgeführt. Diese entschiedene Hinwendung zu einer historisch argumentierenden, problemorientierten Analyse gegenwärtiger Alltagskultur setzte sich im Rahmen der zunehmend auch politisch geprägten Debatten zur Fachidentität während der 1960er Jahre fort und führte in Tübingen schließlich zu einem „Abschied vom

102 Vgl. hierzu exemplarisch Hans Moser: Gedanken zur heutigen Volkskunde. Ihre Situation, ihre Problematik, ihre Aufgaben. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (1954), S. 208-234. 103 Vgl. Hermann Bausinger/Markus Braun/Herbert Schwedt: Neue Siedlungen. Volkskundlich-soziologische Untersuchungen des Ludwig Uhland-Instituts Tübingen. Stuttgart 1959. Zur hierbei erarbeiteten Neuperspektivierung vgl. Sandro Ratt: Didaktik des Umbruchs. Ein Rückblick auf das Neue-Siedlungen-Projekt. In: Mathias Beer/Reinhard Johler/Christian Marchetti (Hg.): Donauschwaben und andere. Tübinger Südosteuropaforschung. Tübingen 2015, S. 37-58. 104 Vgl. Hermann Bausinger: Volkskultur in der technischen Welt. Frankfurt am Main 2005. 105 Ebd., S. 9.

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Volksleben“106, der mit der dortigen Umbenennung des Faches in „Empirische Kulturwissenschaft“107 zu Beginn der 1970er Jahre vollends institutionalisiert wurde. Die skizzierten Impulse zogen einen einschneidenden Paradigmenwechsel nach sich, der das disziplinäre Selbstverständnis bis heute prägt. Seit Ende der 1960er Jahre wirkten immer größere Teile des Faches an der Revision des Überkommenen zugunsten weitreichender Neuperspektivierungen mit und ersetzten den früheren Leitbegriff des „Volkes“ zunehmend durch jenen der „Kultur“. Hierbei ist freilich entscheidend, dass letzterer fortan in einem sehr weiten Sinne verstanden wurde und damit sämtliche „Annahmen, Vorstellungen, Werte, Normen [umfasste], welche gesellschaftliche Praxis und deren Objektivationen durchwirken.“108 Waren für die Konzeptualisierung der nun erfolgenden alltagsbezogenen Kulturanalysen zunächst vor allem Einflüsse aus der Soziologie relevant, so rezipierte man mit der Zeit verstärkt auch Begriffe und Theorien anderer Nachbardisziplinen wie der Ethnologie, der Alltags- und Mentalitätsgeschichte oder der Kultur- und Sozialanthropologie. Auf der Grundlage eines zunehmend interdisziplinär und international beeinflussten theoretisch-begrifflichen Analyseinstrumentariums und einer Vielfalt vornehmlich hermeneutisch ausgerichteter Methoden versuchte man nun die „kulturelle Seite der Gesellschaft“ 109 vermittels eines gegenstandsbezogenen und interessengeleiteten Eklektizismus in den Blick zu nehmen. Dieser in den 1960er und 1970er Jahren vollzogene Wandlungsprozess, weg von der romantisch-retrospektiven Reliktfixierung hin zu einer geschichtlich informierten Analyse gegenwärtiger Alltagskultur, legte auch den Grundstein für die heute im Fach gebräuchliche Verwendung des Ordnungsbegriffs. Nachdem er aber wohl insbesondere aufgrund seiner normativen, autoritär-politischen Implikationen – die in geläufigen Formeln und Komposita wie „Recht und Ord-

106 Vgl. Klaus Geiger/Utz Jeggle/Gottfried Korff (Red.): Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970. 107 Zu Hintergrund und Programmatik der Fachumbenennungen vgl. Gottfried Korff: Namenswechsel als Paradigmenwechsel? Die Umbenennung des Faches Volkskunde an deutschen Universitäten als Versuch einer „Entnationalisierung“. In: Reinhard Johler/Bernhard Tschofen (Hg.): Empirische Kulturwissenschaft. Eine Tübinger Enzyklopädie. Tübingen 2008, S. 139-157. 108 Bernd Jürgen Warneken: Zum Kulturbegriff der Empirischen Kulturwissenschaft. In: Siegfried Fröhlich (Hg.): Kultur – ein interdisziplinäres Kolloquium zur Begrifflichkeit. Halle (Saale) 2000, S. 207-213, hier S. 209. 109 Vgl. Kaschuba 2012, S. 93f.; Warneken 2000, S. 209.

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nung“, „Staatsordnung“, „Polizeiordnung“ oder „Ordnungswidrigkeit“ zum Ausdruck kommen – sowie der ihm anhaftenden Gefahr, als Beschreibungsinstrument homogenisierende, naturalisierende und damit geschichts- und herrschaftsverschleiernde Effekte zu zeitigen,110 zunächst gemieden wurde, kann er seit den 1990er Jahren wieder als eine verbreitete Fachvokabel gelten.111 Bei allen Variationen seiner Verwendung dominiert seither ein Begriffsverständnis, das zum einen durch eine Verabschiedung normativer Gehalte und zum anderen durch einen stärker selbstreflexiv ausgerichteten Fokus auf die Ordnungsverknüpfungen der eigenen Tätigkeit gekennzeichnet ist. Der gegenwärtige Begriffsgebrauch zeugt also nicht zuletzt auch von einer größeren Sensibilität hinsichtlich des Umstands, dass sich Wissenschaft nicht jenseits des Sozialen ereignet, sondern einen strukturierten strukturierenden Bestandteil des zeitspezifischen gesellschaftlichen Diskursgefüges darstellt und somit die jeweils zu untersuchenden Ordnungsverhältnisse im Zuge ihrer Erhebungen, Untersuchungen und Analysen stets mitkonstruiert. Seinen zentralen Gegenstandsbereich hat der so verwendete Ordnungsbegriff im Raum symbolischer Repräsentationen. Er bezieht sich also vornehmlich auf Wissensformen und -formationen, vermittels derer die Alltagswirklichkeit eine semantische Strukturierung erfährt. Hierbei wird insbesondere zu analysieren versucht, in welchen sozialen und materiellen Zusammenhängen diese Wissensbestände stehen, wie sie produziert, distribuiert und transformiert werden, welche Institutionalisierungsprozesse ihnen zugrunde liegen und welche Handlungsweisen aus ihnen hervorgehen. Als ein zentrales übergeordnetes Erkenntnisinteresse lässt sich dabei die Beleuchtung der facettenreichen Aspekte des dynamischen Wechselbezugs zwischen kulturellen Ordnungen und sozialem Wandel ausmachen. Es soll also, wie Silke Göttsch formuliert, erörtert werden, „in welcher Weise kulturelle Ordnungskonzepte als Orientierung wirken können und wie Menschen unter dem Eindruck von Wandlungsprozessen und Veränderun-

110 Vgl. hierzu exemplarisch: „Das Prinzip der Ordnung verstellt und absorbiert Herrschaftsstrukturen.“ Hermann Bausinger: Zur Problematik historischer Volkskunde. In: Klaus Geiger/Utz Jeggle/Gottfried Korff (Red.): Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970, S. 155-172, hier S. 163. 111 Vgl. etwa Walter Deutsch/Maria Walcher (Hg.): Sommerakademie Volkskultur 1995: Ordnungen. Wien 1997; Silke Göttsch/Christel Köhle-Hezinger (Hg.): Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. Münster u.a. 2003; Ute Elisabeth Flieger/Barbara Krug-Richter/Lars Winterberg (Hg.): Ordnung als Kategorie der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschung. Münster u.a. 2017.

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gen ihrer Lebenswelt diese Ordnungskonzepte umbauen und neu organisieren, um die Welt fassbar und erklärbar zu machen.“112 Die allgemeinen Hinweise zu Beginn des Kapitels und der daran sich anschließende fachgeschichtliche Überblick verdeutlichen, dass es sich beim Begriff der Ordnung um einen Terminus handelt, der in höchst unterschiedlichen thematischen Kontexten relevant ist. Nicht selten wird er dabei an grundlegende, das Prinzipielle berührende Wirklichkeitsmodelle gebunden und mit weitreichenden normativen Implikationen versehen. Da er zudem die Gefahr einer Naturalisierung des Geschichtlichen – mit entsprechenden Effekten der Verschleierung und Legitimierung bestehender Ungleichheitsverhältnisse – birgt, ist hinsichtlich seiner (wissenschaftlichen) Verwendung ein nicht unerhebliches Maß an Vorsicht geboten. Das hier verfolgte Vorhaben knüpft nun weder an die großen kosmologischverortenden oder taxonomisch-bewertenden noch an die mathematischvermessenden Begriffstraditionen an,113 sondern operiert vielmehr im Rahmen soziokultureller Dimensionen. Es geht dabei nicht um die Rekonstruktion einer – vermeintlich primordialen – biologischen, materiellen oder ökonomischen Grundstruktur, sondern um eine Hinwendung zum faktischen In-der-Welt-sein, dessen Gehalte in keiner dieser Konfigurationen vollkommen aufgehen. Inwiefern Katastrophen als ordnungsverwundende Ereignisse aufgefasst werden können, soll im Folgenden also vor dem Hintergrund eines lebensweltbezogenen Ordnungsverständnisses erörtert werden. Um sich dieser „Sphäre guter Bewährungen“114 analytisch annähern zu können, gilt es einen existentiellen Begriff von Ordnung zu entwickeln, der in seiner Grundausrichtung an die jüngeren volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Verwendungsweisen anschließt, hierbei aber insbesondere auch die Wirkmächtigkeit des Materiellen zu berücksichtigen erlaubt. „Ordnung“ soll in diesem Zusammenhang schließlich nicht als ein vermeintlich klarer oder unbefragbarer Sachverhalt verstanden werden, dessen begriffliche Repräsentation keiner weiteren Erläuterungen bedarf, sondern viel-

112 Silke Göttsch: Vorwort. In: Dies./Christel Köhle-Hezinger (Hg.): Komplexe Welt. Kulturelle Ordnungssysteme als Orientierung. Münster u.a. 2003, S. XI-XII, hier S. XI. 113 Zu diesen großen, das westliche Denken nachhaltig prägenden Ordnungsmustern vgl. Bernhard Waldenfels: Es gibt Ordnung / Il y a de lʼordre. In: Phainomena 84-85 (2013), S. 5-23, hier S. 5f. 114 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Husserliana Band VI. Den Haag 1956, S. 465.

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mehr als ein in hohem Maße fragwürdiges Phänomen, das dazu herausfordert, den komplexen Bedingungen seiner Möglichkeit nachzugehen.

2. EXTRAUTERINER ORDNUNGSBEDARF Mit der Wahl des perspektivischen Ausgangspunktes fällt im Rahmen jedes sozial- und kulturwissenschaftlichen Theoriebildungsprozesses eine weitreichende Vorentscheidung. Da im hier interessierenden Kontext davon ausgegangen wird, dass es konzeptionell höchst problematisch wäre, „Ordnung“ einseitig auf der Ebene objektivierter Strukturen zu fixieren, wenden sich die nachstehenden Ausführungen zunächst der – stets soziokulturell geprägten – Ontogenese des Einzeldaseins zu. Diese Hinwendung zur Herkunft jeder Individualexistenz soll theoretische Zugänge eröffnen, vermittels derer nach den faktischen Vollzügen des gelebten Lebens gefragt werden kann. Hierbei darf der Ansatz aber freilich nicht in einen egologisch perspektivierten Subjektivismus abdriften. Vielmehr gilt es Grundlagen zur Gewinnung eines existentiellen Begriffs von Ordnung zu erarbeiten, der das konkrete Wahrnehmen, Denken und Handeln der historischen Akteure und die Ebene der soziomateriellen Objektivationen in ihrem konstitutiven Wechselbezug zu analysieren erlaubt. Am meisten Ordnung, so scheint es, herrscht in der pränatalen Phase unseres Lebens. Auch wenn wir aufgrund einer unhintergehbaren Herkunftsvergessenheit offenbar keinen Zugang zu intrauterinen Erfahrungsweisen haben, kann dabei doch von einem Zustand die Rede sein, der durch eine tiefgreifende, in hohem Maße störungsresistente Verwobenheit von Organismus und Umwelt sowie durch eine weitreichende Entbundenheit vom Druck des Realen geprägt ist. Insbesondere die in freischwebender Lastlosigkeit zugebrachte fötale Phase vor der zunehmenden perinatalen Beengung gibt Anlass, von einer vorweltlichen uterosphärischen Geborgenheit auszugehen, deren Basis darin besteht, dass das Dasein in die es konstituierenden Seinsverhältnisse vorübergehend widerspruchsund widerstandslos eingelassen ist.115 Durch die Geburt wird das Kind aus seinem geordneten Eingelassensein entlassen. Es geht seiner pränatalen Geborgenheit verlustig und ist fortan, wie Sart-

115 Vgl. hierzu Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016, S. 85-88; Christina Schües: Philosophie des Geborenseins. Freiburg/München 2008, S. 301-306; Peter Sloterdijk: Zur Welt kommen – Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main 1988, S. 109f.

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re formuliert, zur Freiheit verurteilt.116 Aufgrund einer charakteristischen „Unfertigkeit“ vermag das Neugeborene jedoch nur dann zu überleben, wenn es nach seiner Geburt eine hinreichende soziale Einbindung erfährt. Jenseits der uterosphärischen Vorwelt ist es auf Anhang117 angewiesen, bedarf also eines sekundären, zuwendungsbasierten Schutz- und Entwicklungsraums, in dessen Rahmen sich sukzessive der überlebensnotwendige „Anschluß des Organismus an die Außenwelt“118 vollziehen kann. Mit Blick auf diesen Zusammenhang prägte Adolf Portmann zu Beginn der 1940er Jahre den Terminus des „extrauterinen Frühjahrs“119. Da Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren „zu früh“ beziehungsweise relativ unentwickelt zur Welt kämen, so Portmanns zentrales Argument, realisierten sich elementare Schritte ihrer physiopsychischen Selbstwerdung erst außerhalb des Mutterleibes, und damit unter dem nachhaltig relevanten Einfluss der jeweiligen Bezugspersonen und Existenzverhältnisse. Hierbei werde deutlich, „in welchem Maße [die] menschlichen Eigenschaften der Haltung, Sprache und Handlungsart von allem Anfang an Phänomene sozialen Gepräges sind“120. Bevor diese Frühphase unserer Sozialisation, in deren Vollzug es gleichsam zu einer „zweiten, sozio-kulturellen Geburt“121 kommt, nun näher beleuchtet werden soll,122 befasst sich das vorliegende Kapitel zunächst mit jenem Phänomen, das den soziokulturellen Einbindungsprozessen auf Seiten des Einzeldaseins zugrunde liegt – und bisher nur sehr vage als „Unfertigkeit“ bezeichnet wurde. Diese „Unfertigkeit“ ermöglicht einerseits die Entwicklung vielfältigster

116 Vgl. Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus. In: Ders.: „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ und andere philosophische Essays 1943-1948. Reinbek bei Hamburg 2012, S. 145-192, hier S. 155. 117 Vgl. Emil M. Cioran: Vom Nachteil, geboren zu sein. Frankfurt am Main 2013, S. 20. 118 Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Frankfurt am Main 1989, S. 82. 119 Vgl. Adolf Portmann: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel 1944, S. 68-85. 120 Ebd., S. 80. 121 René König: Soziologie der Familie. In: Arnold Gehlen/Helmut Schelsky (Hg.): Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde. Düsseldorf/ Köln 1955, S. 119-156, hier S. 125. Vgl. dazu auch Dieter Claessens: Familie und Wertsystem. Eine Studie zur „zweiten, sozio-kulturellen Geburt“ des Menschen. Berlin 1962. 122 Vgl. das Teilkapitel II.3.2 „Existentielle Ordnungen“.

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Handlungspotentiale, birgt andererseits aber auch ein elementares Ergänzungs-, Orientierungs- und Sinnbedürfnis, das man in Anlehnung an Portmann als extrauterinen Ordnungsbedarf bezeichnen kann. Die begriffliche Bezugnahme verdeutlicht, dass wir mit dem Ausgangspunkt unserer Argumentation an verschiedene Überlegungen anknüpfen, die im Laufe des vorigen Jahrhunderts innerhalb der Philosophischen Anthropologie123 entwickelt wurden. Als Max Scheler und Helmuth Plessner, geprägt von Ansätzen der Phänomenologie, Lebensphilosophie und vitalistischen Biologie,124 in den 1920er Jahren nach dem Wesen des Menschen und seiner Stellung im Kosmos fragten, sahen sie dessen Daseinsbezüge eng an eine morphologisch begründete, konstitutive Notwendigkeit zur kulturvermittelten Selbstfundierung gekoppelt. Auch Arnold Gehlen bezog sich in den 1940er Jahren auf diesen Zusammenhang und entwickelte, beeinflusst von jüngeren biologischen Erkenntnissen – insbesondere aus den Bereichen der Anatomie und zoologischen Verhaltensforschung –125, in Auseinandersetzung mit Motiven Schelers, Plessners und Meads sein Konzept einer systematischen Anthropologie. Seit den 1960er Jahren flossen einige der hierbei relevanten Argumentationsfiguren in zahlreiche soziologische und kulturwissenschaftliche Ansätze ein.126 Im Folgenden sollen nun zentrale Grundge-

123 Mit „Philosophischer Anthropologie“ ist hier deren moderne Variante gemeint. Es geht im Folgenden also um einen Denkansatz, der sich im 18. Jahrhundert zu konstituieren begann, seine spezifische Prägung und Ausdifferenzierung aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr. Zur Modernität der Philosophischen Anthropologie vgl. etwa Odo Marquard: Der Mensch ‚diesseits der Utopie‘. Bemerkungen über Geschichte und Aktualität der philosophischen Anthropologie. In: Joris van Nispen/ Douwe Tiemersma (Hg): The Quest for Man. The Topicality of Philosophical Anthropology. Assen/Maastricht 1991, S. 3-10. 124 Neben Nietzsche, Bergson und Husserl war hierbei auch Hans Driesch ein wichtiger Impulsgeber. 125 Außer Portmanns Ausführungen zum „extrauterinen Frühjahr“ waren dabei auch Louis Bolks Konzept der „Retardation“ sowie Otto Storchs Unterscheidung zwischen „tierischer Erbmotorik“ und „menschlicher Erwerbsmotorik“ wichtig. Vgl. Louis Bolk: Das Problem der Menschwerdung. Jena 1926; Portmann 1944; Otto Storch: Die Sonderstellung des Menschen in Lebensabspiel und Vererbung. Wien 1948. 126 Zur Rolle der Philosophischen Anthropologie innerhalb der bundesrepublikanischen Soziologie vgl. etwa Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie – Ein wirkungsvoller Denkansatz in der deutschen Soziologie nach 1945. In: Zeitschrift für Soziologie 35 (2006), Heft 5, S. 322-247. Zur Rezeption dieser Motive innerhalb der

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danken der von Scheler, Plessner und Gehlen entwickelten Perspektiven näher skizziert werden, um auf dieser Basis schließlich das Phänomen des extrauterinen Ordnungsbedarfs etwas differenzierter beleuchten zu können. Schelers Abhandlung über „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (1928) zählt bekanntlich zu den Gründungsschriften der jüngeren Philosophischen Anthropologie. Hierin deutet er das Dasein des Menschen im Sinne einer Vermittlung zwischen den Antriebskräften des „Lebens“ und den formgebenden Ideen des „Geistes“. Ermöglicht – und zugleich notwendig gemacht – werde diese Geistdurchwirktheit des menschlichen Wesens dadurch, dass es „nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern ‚umweltfrei‘ und, wie wir es nennen wollen, ‚weltoffen‘ [sei]“127. Die Weltoffenheit des Menschen entspringe also einer „existentiellen Entbundenheit“128 beziehungsweise einer „eigenartigen Fernstellung“129 und habe eine symbolische Vergegenständlichung sowohl seiner Umwelt als auch seines Selbst zur Folge. Da er sich aber von dieser Welt- und Selbstgegebenheit selbst wiederum distanzieren könne, stellten sich ihm immer wieder aufs Neue fundamentale Fragen nach dem Sinn oder Urgrund des Seins. Seine Fernstellung entspreche gleichsam einer dreifachen reflexiven Gebrochenheit und führe letztlich zu einem „unbezwinglichen Drang nach Bergung“130, der als Ursprung des metaphysischen, mythischen und religiösen Denkens verstanden werden könne. Vergleichbares bringt Plessner mit seiner vielzitierten Formel der „exzentrischen Positionalität“ zum Ausdruck, ermöglicht der Philosophischen Anthropologie durch diese strukturelle Fundierung jedoch eine Überwindung des psychophysischen Dualismus und eine Loslösung aus dem Bann der Metaphysik.131 In „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) charakterisiert er die Existenzweise des Menschen dadurch, „daß das Zentrum der Positionalität, auf des-

volkskundlichen Kulturwissenschaft vgl. Ina-Maria Greverus: Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie. München 1978, hier insbesondere S. 58-61; Martin Scharfe: Geschichtlichkeit. In: Hermann Bausinger/Utz Jeggle/Gottfried Korff/Martin Scharfe: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978, S. 127-203. 127 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn 2010, S. 28 (Hervorhebung im Original). 128 Ebd. 129 Ebd., S. 30 (Hervorhebung im Original). 130 Ebd., S. 65. 131 Vgl. dazu Jürgen Habermas: Philosophische Anthropologie. In: Ders.: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt am Main 1973, S. 89-111, hier S. 96f.

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sen Distanz zum eigenen Leib die Möglichkeit aller Gegebenheit ruht, zu sich selbst Distanz hat.“132 Diese Selbstgegebenheit des Subjekts dürfe jedoch nicht als Verdopplung der subjektiven Existenzmitte verstanden werden, vielmehr gelte es, die Vorstellung eines vorab seienden, in sich einheitlich geschlossenen positionalen Zentrums generell zu verabschieden. Die Positionalität des Menschen ist Plessner zufolge also nicht statisch zu erfassen, da sich ihre spezifische Exzentrizität im Vollzug des Daseins konstituiere, also aus dem gelebten Leben erst eigens hervorgehe: „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus. […] Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“133 Aus der so verstandenen exzentrischen Positionalität des Menschen leitet Plessner drei „anthropologische Grundgesetze“ ab. Das zuerst genannte „Gesetz der natürlichen Künstlichkeit“ liegt in der reflexiven Gebrochenheit des Daseinsbezugs begründet. Seiner Freiheit und Voraussichtsmöglichkeit entspreche ein Mangel an existentieller Direktheit und Instinktsicherheit, so dass aus der exzentrischen Positionalität eine „konstitutive Heimatlosigkeit des menschlichen Wesens“134 resultiere. Da der Mensch zu sich selbst in Distanz stehe, einer umfassenden natürlichen Eingebundenheit entbehre und sein Leben daher führen müsse, bedürfe er einer künstlichen Ergänzung, um sich quasinatürlich orientieren zu können. „In dieser Bedürftigkeit“, so Plessner, „liegt das Movens für alle spezifisch menschliche […] Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.“135 Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit besagt also, dass der Mensch von Grund aus auf Geschaffenes angewiesen sei, es beinhaltet darüber hinaus aber auch normative Implikationen hinsichtlich der Beschaffenheit dieser künstlich stabilisierenden Kulturgüter. Nur wenn sie ein „Eigengewicht“ erhielten und sich vom Prozess ihrer Entstehung ablösen ließen, so Plessners Argumentation, böten sie dem Menschen die Möglichkeit, seine Orientierungsbedürftigkeit zeitweilig zu überwinden und „in einer zweiten Natur“ zu existieren.136 Aus der exzentrischen Positionalität lasse sich, zweitens, das „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“ ableiten. Plessner benennt mit „vermittelter Unmittelbarkeit“ zunächst eine Struktur, die seiner Ansicht nach das Leben jedes

132 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/Leipzig 1928, S. 289. 133 Ebd., S. 291f. (Hervorhebung S.R.). 134 Ebd., S. 309. 135 Ebd., S. 311 (Hervorhebungen im Original). 136 Vgl. ebd.

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Lebewesens durchwirke. So habe die konstitutive Grenze der organischen Form eines Lebewesens zur Folge, „daß zwischen ihm und dem Umfeld eine durch es selber vermittelte Beziehung existiert“137 – eine vermittelte Beziehung, die für das wahrnehmende oder reagierende Wesen jedoch den Charakter der Unmittelbarkeit habe, sofern dieses sich selber als Wesen verborgen sei und daher in der Vermittlung restlos aufgehe. Die exzentrische Positionalität des Menschen bewirke hingegen, dass er das ihm Begegnende zwar unmittelbar erfahre, zugleich aber um die unhintergehbare sensomotorisch und kulturell geprägte Vermitteltheit dieser Erfahrung wisse. In reflexiven Akten werde ihm deutlich, „daß er faktisch nur Bewußtseinsinhalte hat und daß, wo er geht und steht, sein Wissen von den Dingen sich als Etwas zwischen ihn und die Dinge schiebt.“ 138 Durch das Bewusstsein dieser Immanenz eröffne sich jedoch jene „seinsentsprechende Distanz“139, vermittels derer ein adäquater Zugang zur Wirklichkeit gefunden werden könne. Das Sein des Seienden weise selbst die Struktur vermittelter Unmittelbarkeit auf, so dass die immanent erfassten Aspekte des Begegnenden durch die exzentrische Positionalität als Erscheinungsweisen seiner transzendenten Wesensmannigfaltigkeit zur Wahrnehmung gelangen könnten. Neben der Rezeption und den jeweiligen Rezeptionsgegenständen ist Plessner zufolge schließlich auch die expressive Entäußerung durch vermittelte Unmittelbarkeit geprägt. Da jede Intention im Vollzug ihres formgebenden Ausdrucks gebrochen – aber nicht zerbrochen – werde, bliebe bei aller inhaltlichen Adäquatheit des zum Ausdruck Gebrachten eine unüberwindbare Differenz zwischen dem Erstrebten und dem Realisierten. Schon allein aufgrund der Unüberwindbarkeit dieser Diskrepanz sei es dem Menschen verwehrt, in einer Sphäre vollkommener Selbstentfaltetheit gleichsam zur Ruhe kommen zu können. Durch die vermittelte Unmittelbarkeit seiner Expressivität sei er also „ein Wesen, das selbst bei kontinuierlich sich erhaltender Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so eine Geschichte hinter sich zurückläßt.“140 Das „Gesetz des utopischen Standorts“, das erneut an die Ausführungen Schelers erinnert, bildet die dritte Plessnerʼsche Ableitung aus der exzentrischen Struktur menschlichen Existierens. Wie diese spezifische Positionalität nämlich eine Vorbedingung dafür sei, „daß der Mensch eine Wirklichkeit in Natur, Seele und Mitwelt faßt, so bildet sie zugleich die Bedingung für die Erkenntnis ihrer

137 Ebd., S. 325 (Hervorhebung im Original). 138 Ebd., S. 329. 139 Ebd., S. 331. 140 Ebd., S. 338.

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Haltlosigkeit und Nichtigkeit.“141 Aufgrund seiner reflexiv gebrochenen Daseinsform könne sich der Mensch nicht dauerhaft verorten und sei dem kontingenten Grundton des Weltgeschehens letztlich ausgeliefert. So blieben ihm angesichts der Einsicht in die Grundlosigkeit seines Seins am Ende nur die Bindungskräfte des Glaubens. Das innerweltliche Wissen könne niemals ein „Definitivum“ schaffen, vermöge kein dauerhaftes Zuhause zu geben – „letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur Religion.“142 Mit Gehlen ist nun der dritte Protagonist dieser Form des philosophischanthropologischen Denkens zu nennen. In engem – wenngleich nicht immer expliziertem – Anschluss an Scheler und Plessner befasst auch dieser sich mit den Zusammenhängen zwischen der Kulturdurchdrungenheit und den biologischen Komponenten des menschlichen Daseins, geht dabei jedoch stärker als seine beiden Vorläufer auf den Aspekt des Handelns ein. Wie Johann Gottfried Herder, dessen Rezeption für die Entwicklung der Philosophischen Anthropologie zentrale Impulse bot,143 versteht Gehlen den Menschen als „Mängelwesen“. In „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ (1940) betont er dessen „unspezialisierte“, „instinktreduzierte“ beziehungsweise „weltoffene“ Seinsverfasstheit und charakterisiert diese im Sinne einer chancenreichen Belastung. So habe die Grundkonstitution des Menschen zur Folge, dass seine Umwelteindrücke in ihm keine unmittelbar notwendigen Reaktionen hervorriefen, keine fest umrissene Signalwirkung hätten und sich nicht ohne weiteres einordnen ließen, was dazu führe, dass die jeweiligen Erfahrungsfelder einer ungebündelten Mannigfaltigkeit möglicher Wahrnehmungen glichen und den Menschen durch Reizüberflutung zu überfordern drohten. Jeder Einzelne stehe somit vor der Aufgabe, sich einen sinnhaften Ordnungsrahmen zu erarbeiten und sein Verhalten gleichsam selbst in die Hand zu nehmen: „[A]us eigenen Mitteln und eigentätig muß der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.“144 Da er aus instinktregulierten Umweltsymbiosen weitgehend freigesetzt sei, könne er letztlich nur in einer selbstgeschaffenen Wirklichkeit Orientierung finden.

141 Ebd., S. 346. 142 Ebd., S. 342. 143 Vgl. insbesondere Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Stuttgart 2001. 144 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Bonn 1958, S. 38.

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Im Prozess des Heranwachsens werde die unstrukturierte Fülle an Wahrnehmungsmöglichkeiten reduziert und vermittels Erfahrung sukzessive in eine symbolische Geordnetheit transformiert. „Die Dinge“, so Gehlen, „werden der Reihe nach in Umgang gezogen und abgestellt, im Zuge dieses Verfahrens aber unvermerkt mit einer hochgradigen Symbolik angereichert, so daß endlich das Auge allein, ein müheloser Sinn, sie übersieht und in ihnen zuletzt Gebrauchs- und Umgangswerte mitsieht“145. Dieser, von der „weltoffenen“ Grundkonstitution ermöglichte – und notwendig gemachte – Prozess der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion beziehe seine innere Dynamik aus einem „Antriebsüberschuss“, der dem Menschen deshalb zur Verfügung stehe, weil seine Lebensenergien nicht an vorgeprägte Reiz/Reaktions-Schemata gebunden seien. Wie Freud geht auch Gehlen in diesem Zusammenhang davon aus, dass die menschlichen Antriebe hemmbar seien, dass sie vorübergehend zurückgestellt und der Verfolgung wandelbarer Ziele unterworfen werden könnten. Vor dem Hintergrund einer solchen Plastizität der Antriebskräfte eröffne sich dem Menschen nun die Möglichkeit, seine Wahrnehmungswelt und seine Handlungspotentiale zunehmend auszudifferenzieren. Entscheidend sei hierbei insbesondere die Fähigkeit zur gewohnheitsbasierten Selbstentlastung, da die für eine Handlungsform ursprünglich aufzubringende „Motivations-, Versuchs- und Kontrollenergie“146 durch Habitualisierungsprozesse stets wieder freigesetzt werden könne. „Das habitualisierte Verhalten“, so Gehlen, „wird eben dadurch, daß es der Intervention des Bewußtseins entgleitet und sich ablagert, auch stabilisiert, es wird kritikfest und einwandsimmun, und so die Basis für ein höheres, auf ihm erwachsendes variables Verhalten.“147 Nun vollzieht sich ein solcher Prozess der erfahrungsbasierten Konstitution, Stabilisierung und Ausdifferenzierung subjektiver Wissens- und Handlungsmuster freilich nicht im Vakuum, sondern unter spezifischen soziokulturellen Bedingungen. Indem Gehlen – im Rekurs auf Portmann – diesem Aspekt einen zentralen Stellenwert beimisst, öffnet er seinen Ansatz dezidiert auch für kultur- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen. Während „die tierischen Gruppen und Symbiosen durch Auslöser und durch Instinktbewegungen zusammengehalten werden“, führt er aus, „so die menschlichen durch Institutionen und die darin ‚sich feststellenden‘ quasiautomatischen Gewohnheiten des Denkens, Fühlens, Wertens und Handelns, die allein als institutionell gefaßte sich vereinseitigen,

145 Ebd., S. 43 (Hervorhebung im Original). 146 Ebd., S. 70. 147 Ebd., S. 69f.

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habitualisieren und damit stabilisieren.“148 Aufgrund seiner instinktreduzierten und weltoffenen Grundkonstitution bedürfe der Mensch also institutionell regulierter Räume des sinnhaften Handelns und sei daher „von Natur ein Kulturwesen“149. Bereits in diesem Zusammenhang betont Gehlen also, dass Institutionen sowohl für das Individuum als auch für soziale Gruppierungen fundamentale Stabilisierungsfunktionen erfüllen. Er weist ihnen hierbei eine zentrale Vermittlerrolle zu, ohne aber auf ihre Genese, Beschaffenheit oder konkrete Wirkung näher einzugehen. In seinen späteren Schriften, die den Menschen stärker „unter dem kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Aspekt“150 betrachten, wird dies jedoch an verschiedenen Stellen nachgeholt. Gehlen fasst den Begriff der Institution dabei in einem sehr weiten Sinne und versteht hierunter neben den großen gesellschaftlichen Einrichtungen und Konventionen auch sämtliche der geltenden kleinen Traditionen und Überlieferungen, aus denen ein „stummes SchonVerständigtsein“151 folge, kurz: alle – in verschiedenen Maßen materialisierten und legitimierten – sozialen Übereinkünfte, die das Handeln der Individuen situationsübergreifend strukturieren. Er verdeutlicht hierbei, dass dieser Strukturmacht stets ein Prozess zugrunde liegt, der sowohl intersubjektiver Objektivierungsmechanismen als auch subjektiver Internalisierungsvorgänge bedarf: „Dieselben Einrichtungen also, die die Menschen in ihrem Denken und Handeln untereinander hervorgehen lassen, verselbständigen sich ihnen zu einer Macht, die ihre eigenen Gesetze wiederum bis in ihr Herz hinein geltend macht“ 152. Ihre signifikanten Wirkungen bestünden dabei zum einen in der Ordnung des jeweiligen Sozialgefüges und zum anderen in der durch Gewohnheitsstiftung ermöglichten Entlastung und inneren Stabilisierung des Einzelnen. Qua Habitualisierung griffen Institutionen „bis in unsere Wertgefühle und Willensentschlüsse durch“, vermittelten diesen die „Überzeugungskraft des Natürlichen“ und ermöglichten somit jene „wohltätige Fraglosigkeit oder Sicherheit“, durch die man erst „für eigentlich persönliche, einmalige und neu zu erfindende Dispositionen

148 Ebd., S. 84 (Hervorhebung S.R.). 149 Ebd., S. 86. 150 Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt am Main/Bonn 1964, S. 7. 151 Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg 1957, S. 59. 152 Gehlen 1964, S. 8.

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frei [wird].“153 Gehlen ist also der Ansicht, dass der Mensch aufgrund seiner konstitutionsbedingten Verhaltensunsicherheit institutionell regulierter Möglichkeitsreduktionen bedürfe, und sieht die zentrale Leistung von Kultur daher in einer Befreiung der Individualexistenzen – dies jedoch im vornehmlich konservativen Sinne einer Befreiung der Subjekte von sich selbst – durch formfixierende Einschränkungen ihrer polymorphen Entfaltungspotentiale. Die skizzierten Grundzüge des philosophisch-anthropologischen Denkansatzes erwiesen sich als anschlussfähig für zahlreiche kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Fragestellungen. Wenn dabei zuweilen eine biologistische Reduktion des Kulturellen kritisiert wird, so geht das zwar an den Intentionen Schelers, Plessners und Gehlens vorbei, doch kann dies andererseits auch als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass entsprechende Missverständnisse hier nahegelegt sind oder zumindest drohen. Entschieden distanzieren muss man sich hingegen davon, dass die Ansätze eine kategorische Grundunterscheidung zwischen dem Menschen und allen anderen Lebewesen exekutieren. Jüngeren Erkenntnissen der Verhaltensforschung zufolge sollte demgegenüber hier lediglich in graduellen Differenzen gedacht werden. Daneben ist insbesondere auch im Umgang mit dem Gehlenʼschen Institutionenkonzept Vorsicht geboten, da dieses bei aller Schlüssigkeit und trotz der schließlich vollzogenen sprachlichen Distanzierung von seinen ursprünglich nationalsozialistisch geprägten Implikationen, 154 doch ausgeprägte reaktionäre Tendenzen aufweist und zur Basis einer ethisch indifferenten Legitimierung jeder Form institutioneller Stabilisierung werden kann.155

153 Vgl. Arnold Gehlen: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 71f. 154 Für die Auflagen nach 1945 hat Gehlen explizite Verweise auf die nationalsozialistische Politik gestrichen und den Gedanken der biologisch verwurzelten „Führungssysteme“ durch ein stärker gesellschaftstheoretisch orientiertes Institutionenkonzept ersetzt. Vgl. Gehlen 1958, S. 414f. Vgl. hierzu auch Wolfgang Eßbach: Denkmotive der philosophischen Anthropologie. In: Justin Stagl/Wolfgang Reinhard (Hg.): Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen. Wien u.a. 2005, S. 325-349, hier S. 345f. 155 Vor diesem Hintergrund wies etwa Habermas wiederholt darauf hin, dass sich der Sinn gesellschaftlichen Handelns nicht in biologischen Zweckmäßigkeiten erschöpfen dürfe, da eine „blinde Reproduktion des Lebens, rein um ihrer selbst willen, […] gleichgültig gegen Barbarei und Humanität [ist]“. Habermas 1973, S. 101. Vgl. hierzu auch Wolf Lepenies: Anthropologie und Gesellschaftskritik. Zur Kontroverse Gehlen-Habermas. In: Ders./Helmut Nolte: Kritik der Anthropologie. München 1971, S. 77-102.

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Ist man sich solcher Gefahren bewusst, scheinen diese Ansätze jedoch auch im Hinblick auf die hier verfolgte Fragestellung einen fruchtbaren Anschluss zu ermöglichen. In Anlehnung an Plessner, demzufolge die Philosophische Anthropologie „in keinem natürlichen Bündnis weder mit der ontologischen noch mit der ethischen Frage“ steht, sondern „es nur mit der Konfiguration der Bedingungen zu tun [hat], welche für menschliches Verhalten spezifisch sind“,156 werden die genannten Argumente hierbei als Mittel zur Erhellung eines strukturellen Hintergrundes des In-der-Welt-seins gelesen. Die dargestellten philosophischanthropologischen Erörterungen verweisen auf eine körperbasierte Daseinsverfasstheit, die den Wirklichkeitsbezug und das Verhalten der Menschen prägt, ohne diese jedoch als solche festzulegen. Ihre morphologische Fundierung mündet daher nicht in einer naturalisierenden Legitimierung spezifischer Existenzgehalte, sondern dekuvriert vielmehr einen existentiellen Grundzug, den man mit Joachim Fischer als „konstitutionelle Offenheit des Menschen“ bezeichnen kann.157 Die erörterten Überlegungen eröffnen somit zwar ein besseres Verständnis des eingangs umrissenen extrauterinen Ordnungsbedarfs – und Ordnungsvermögens –, führen dabei aber nicht zu Aussagen über den sinnhaften Gehalt und die konkrete Ausformung der jeweils bedurften und ermöglichten Ordnungen. Was also im Einzelnen aus der exzentrischen Positionalität hervorgeht, ist eine empirische Frage, die nur vermittels einer Analyse der jeweiligen historischen Daseinsbedingungen beantwortet werden kann und somit wieder in das Aufgabengebiet der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zurückführt. Vor diesem Hintergrund sollen nun drei Aspekte der skizzierten philosophisch-anthropologischen Ansätze festgehalten werden, die für unsere weiteren Überlegungen zur Entwicklung einer ordnungsbezogenen Katastrophologie von zentraler Bedeutung sind. Erstens sensibilisieren die Ausführungen Schelers, Plessners und Gehlens dafür, das soziokulturell strukturierte Dasein der zu untersuchenden Akteure stets

156 Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers. In: Ders.: Ausdruck und menschliche Natur. Gesammelte Schriften, Bd. VII. Frankfurt am Main 2003, S. 399-418, hier S. 418. 157 Vgl. Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft. In: Jürgen Friedrich/Bernd Westermann (Hg.): Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Frankfurt am Main 1995, S. 249280, hier S. 255f. Vgl. hierzu auch Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003.

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auch in seiner „Körperverhaftetheit“ und „Leibverfallenheit“ zu verstehen. 158 Der Körper, den man hat und der man als Leib zugleich ist, konstituiert sich zwar unter dem beständigen Einfluss der vorherrschenden historischen Verhältnisse – wird von diesen tiefgreifend geprägt und durchformt, da er „von Anfang an der Welt der anderen anvertraut ist“159 –, doch muss er dabei zugleich auch in seiner existenzformierenden Wirkmacht berücksichtigt werden. Auch wenn er die jeweiligen Daseinsgehalte als solche nie determiniert, birgt er substanzielle Notwendigkeiten, Bedürfnisse und Begehrenspotentiale, die diese weitreichend beeinflussen. Der Leibkörper160 ist an unhintergehbare Bedingungen einer Lebensumwelt gebunden, mit der er in komplexen Stoffwechselbeziehungen steht, er eröffnet einen umgrenzten Raum hochgradig spezialisierbarer Wahrnehmungs- und Verhaltensmöglichkeiten und er prägt das Dasein durch seine Belastbarkeit, Verwundbarkeit und Endlichkeit. In spezifische Bedingungen entlassen, kommt der Leibkörper zur Welt und prägt fortan eine Existenz, die sich in seinen Möglichkeitsräumen entwickelt. Mit seinem Zerfall verlassen wir die Welt, in der wir durch ihn existiert haben. Für unsere weitere Argumentation ist zweitens die konstitutive Kulturdurchdrungenheit menschlichen Existierens zentral. Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität, seiner Instinktentbundenheit und Weltoffenheit entwickelt sich das menschliche Dasein in soziokulturellen Dimensionen. Es ist, so Konrad Köstlin, „von allem Anfang an – ‚von Natur aus‘ – auf Künstlichkeit, auf Kultur und Zivilisation, angewiesen.“161 Da der Mensch nur bedingt durch biologisch fixierte Gesetze geleitet wird, muss er sein Leben selbst führen und ist sich somit, wie Helmut Fahrenbach formuliert, „in seiner Daseinsgegebenheit immer auch selbst aufgegeben“162. Er bedarf wissensbasierter Selbst- und Weltzugänge, die diese Aufgabe lösbar machen – und er findet solche Lösungen, gesellschaftsvermittelt, noch bevor sich ihm die Aufgabe als solche überhaupt stellt. So kann man mit Berger und Luckmann „geradezu sagen, daß die ursprüngliche biologi-

158 Zu den Begriffen „Körperverhaftetheit“ und „Leibverfallenheit“ vgl. Fischer 1995, S. 251f. 159 Judith Butler: Gewalt, Trauer, Politik. In: Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main 2012, S. 36-68, hier S. 43. 160 Vgl. Fischer 1995, S. 251. 161 Konrad Köstlin: Kultur als Natur – des Menschen. In: Rolf Wilhelm Brednich/Annette Schneider/Ute Werner (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. Münster u.a. 2001, S. 1-10, hier S. 3. 162 Helmut Fahrenbach: Existenzphilosophie und Ethik. Frankfurt am Main 1970, S. 185.

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sche Weltoffenheit der menschlichen Existenz durch die Gesellschaftsordnung immer in eine relative Weltgeschlossenheit umtransponiert wird“163. Im Zuge der Sozialisation formiert sich mit dem Subjekt auch eine lebensweltkonstituierende Orientierung, was zur Folge hat, dass der Einzelne fortan in intersubjektiv geteilten Wirklichkeitsbezügen existiert. Sein „Weltwissen“ gründet also vornehmlich in individuell nachvollzogenen Erfahrungen und ist daher, wie Reiner Keller schreibt, „nicht auf ein angeborenes, kognitives Kategoriensystem rückführbar, sondern auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme oder Ordnungen“164. Kurz, die mit der Geburt sich vollziehende Freisetzung ins Offene wird durch soziosphärische Eingliederungsprozesse in hohem Maße relativiert, da sich das Individuum dabei Wissens- und Praxisformen aneignet, die ihn zu einem sowohl rezeptiven als auch expressiven Kulturwesen werden lassen, dessen Wirklichkeitsbezüge über weite Strecken mit den Bedingungen seiner Existenz korrespondieren. Neben der Körpergebundenheit und Kulturdurchdrungenheit des menschlichen Daseins ist drittens schließlich aber auch die Permanenz seines extrauterinen Ordnungsbedarfs zu berücksichtigen. „Lebewesen, die exzentrisch existieren, stehen vor der Aufgabe“, so Gesa Lindemann in Anlehnung an Plessner, „das selbstverständliche aufeinander Einspielen von Leib und Umwelt immer wieder neu in ein Gleichgewicht, in eine selbst geschaffene Lebensform, zu bringen.“165 Zwar findet das Individuum nach seiner perinatalen Entbindung wieder Halt und Schwere durch die soziosphärischen Bergungskräfte der Kultur, doch sind die hierbei sich herausbildenden existentiellen Ordnungsverhältnisse letztlich „auf Nichts gestellt“166 und somit von einer nur im Glauben überwindbaren Grundlosigkeit getragen. Wenn der Mensch in den skizzierten philosophisch-anthropologischen Ansätzen als „riskiertes und unstabiles Wesen“ (Gehlen) charakterisiert wird, wenn aus seiner Fernstellung auf einen „unbezwinglichen Drang nach Bergung“ (Scheler) beziehungsweise aus seiner exzentrischen

163 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 2001, S. 55. 164 Keller 2011a, S. 59. 165 Gesa Lindemann: Soziologie – Anthropologie, und die Analyse gesellschaftlicher Grenzregimes. In: Hans-Peter Krüger/Gesa Lindemann (Hg.): Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert. Berlin 2006, S. 42-62, hier S. 53 (Hervorhebung S.R.). 166 Vgl. Plessner 1928, S. 293. Zum Einfluss von Denkmotiven Max Stirners auf das Plessnerʼsche Werk vgl. Wolfgang Eßbach: Auf Nichts gestellt. Max Stirner und Helmuth Plessner. In: Der Einzige. Jahrbuch der Max Stirner Gesellschaft 1 (2008), S. 57-78.

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Positionalität auf einen „utopischen Standort“ (Plessner) geschlossen wird, so ist damit ein existentieller Grundzug zur Sprache gebracht, dessen Problemgehalt im Lebensvollzug jedes Einzelnen immer wieder aufs Neue thematisch werden kann. Aufgrund seiner konstitutiven Weltoffenheit sind die Gewissheiten und Handlungsroutinen des animal insecurum167 von einer unauflösbaren Verwundbarkeit. So gilt es zu berücksichtigen, dass existentielle Ordnungen die Widerständigkeit des Realen stets nur bedingt aufzuheben vermögen. Ihre notwendigen Festlegungen, Stillstellungen und Entschiedenheiten formieren seinsverräumlichende Grenzen und damit zugleich eine unübersehbare Fülle außerordentlicher Herausforderungen, deren Zersetzungseffekte bis zu den verinnerlichten nomischen Gewissheiten vordringen und tiefgreifende Konversionsprozesse nach sich ziehen können. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die jeweilige ordnungsspezifische Begrenzung des Unbegrenzbaren stets einen daseinsdynamisierenden Rückwirkungsdruck durch Ausgegrenztes evoziert, dessen lebensweltlicher Niederschlag sich in der potentiellen Fragwürdigkeit jeder Antwort äußert, vermittels derer man dem extrauterinen Ordnungsbedarf zu begegnen vermag. Nach den ersten begrifflichen Annäherungen widmeten sich die bisherigen Ausführungen einer philosophisch-anthropologisch perspektivierten Grundlegung des Ordnungsphänomens. Hierbei wurde davon ausgegangen, dass sich die morphologisch bedingte Offenheit menschlicher Lebewesen in einem existentiellen Sinn- und Orientierungsbedarf manifestiert, der vermittels soziokultureller Bergungskräfte zwar präthematisch gestillt wird, dabei aber von einem letztlich unaufhebbaren Präsenzpotential gekennzeichnet bleibt. Bevor nun der Frage nachgegangen werden kann, welche Ereignisse diese latente Präsenz in eine problematische Aktualität zu überführen vermögen und wie sich vor diesem Hintergrund das Verhältnis zwischen Ordnungsbedarf, Bedrohung, Immunisierung und immunisierungsnegierenden, bedrohungsrealisierenden, ordnungsverwundenden, kurz: katastrophischen Ereignissen analysieren lässt, ist es nun zunächst an der Zeit, präziser zu bestimmen, was hier und im Folgenden unter Ordnung verstanden wird.

167 Peter Wust: Ungewißheit und Wagnis. München 1962, S. 31.

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3. ORDNUNGSDIMENSIONEN Mit der Geburt werden wir in die vorherrschenden Zeitverhältnisse entlassen. Der Leibkörper kommt zur Welt; findet sich in spezifischen materiellen Bedingungen und signifikanten sozialen Beziehungen wieder, die sein Dasein auf substanzielle Weise prägen. Das In-der-Welt-sein jedes Individuums konstituiert sich somit im Rahmen interobjektiver und intersubjektiver Bezüge, deren Charakter wiederum in hohem Maße von der sozialen Position seiner Herkunftsfamilie abhängt. Innerhalb der in diesen Zusammenhängen sich abzeichnenden Relationen kann eine Vielzahl an Ebenen und Formen analysierbarer Geordnetheit ausgemacht werden, die es auch in unserem Kontext, gemäß den hier verfolgten Erkenntnisinteressen, auf spezifische Weise zu konzeptualisieren gilt. Um einen Zugang zur Analyse katastrophischer Widerfahrnisse gewinnen zu können, soll dabei im Folgenden zwischen zwei zentralen Ordnungsdimensionen unterschieden werden. Zunächst wenden sich die Ausführungen der Dimension des Ordnungsgefüges zu, bevor sie in einem zweiten Schritt die ursprünglich eingeschlagene Annäherung an das lebensweltlich zu dimensionierende Phänomen existentieller Ordnung wieder aufzugreifen beabsichtigen. 3.1 Das Ordnungsgefüge Der Begriff des Ordnungsgefüges benennt den soziomateriellen Relationenkomplex innerhalb der zeitspezifischen Lebenszusammenhänge einer gegebenen Gruppierung – sei diese nun als Familie, Sippe, Dorf, Gemeinschaft oder Gesellschaft verstanden. Es handelt sich hierbei also um einen weiten Begriff, der neben den historischen Akteuren auch all jene materiellen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren umfasst, denen aufgrund ihrer intersubjektiv vernehmbaren Wirkung innerhalb der betreffenden Gruppierung eine (quasi-)objektive Wirklichkeit oder Wirklichkeitsrelevanz zukommt. Somit bezieht er sich auf die jeweilige Gesamtheit der Bezüge zwischen den zu einer bestimmten Zeit in definierbaren Räumen vorherrschenden – hinsichtlich ihrer Ursprünge und Gehalte aber diese Zeit-Räume stets weit überschreitenden – Existenzverhältnissen sowie den durch, in und mit diesen Verhältnissen – sowohl rezeptiv als auch expressiv – existierenden Menschen. Die Existenzverhältnisse innerhalb eines solchen Ordnungsgefüges basieren auf materiellen, sozialen und kulturellen Elementen, denen der Status von „Tat-

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sachen“168 zukommt, die das Agieren der Akteure prägen und unabhängig von ihrem Wünschen oder Wollen situationsübergreifend wirksam sind. Als ein solcher Faktorenkomplex beinhalten sie also sämtliche tradierten und durch (stille) Übereinkunft, Brauch oder positives Recht fixierten Regeln des Zusammenlebens; alle institutionalisierten Wissens- und Handlungsmuster, aber auch Körper, Techniken, Dinge und Sachen.169 Die genannten materiellen Aktanten sind dabei freilich nicht nur Beiwerk, „sondern sie konstituieren die Umwelt des Menschen und bestimmen die Möglichkeiten seines Handelns.“ 170 Das Materielle ist in sämtlichen Praktiken präsent und leistet, wie in den Science and Technology Studies plastisch verdeutlicht wird, „einen aktiven Beitrag bei der Ausformung von sozialen Phänomenen“171. Da sich in ihrem Sein Geschichte eingeschrieben, objektiviert und sedimentiert hat, sind Körper und Dinge zwar in hohem Maße symbolisch besetzt und durchformt, doch eignen ihnen stets auch machtvolle Wirkungspotentiale diesseits der Hermeneutik.172 Die lebensweltprägende Wirkmacht des Materiellen gründet sowohl in den soziokulturell formierten Be-

168 Vgl. Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main 1984, S. 105-140. Durkheim bezieht sich mit seinem methodologischen Postulat, soziologische Tatbestände wie „Dinge“ zu betrachten, freilich unmissverständlich auf die „moralische Wirklichkeit“, begründet die Wahl dieser Analogie aber mit der „Exteriorität“ und dem „Zwang“ materieller Objekte, so dass er implizit auch auf deren Relevanz für die Handelnden – sowie für die soziologische Handlungstheorie – verweist. Auf expliziter Ebene werden materielle Objekte von ihm aber wiederum vor allem im Rahmen ihrer kulturellen Wertigkeiten beziehungsweise Funktionen – und weniger infolge ihrer physikalisch-materiellen Eigenwirksamkeit – als handlungsrelevant aufgefasst. Vgl. hierzu auch René König: Einleitung. In: Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode. Frankfurt am Main 1984, S. 21-82, hier S. 46-66. 169 Zur Unterscheidung zwischen naturgegebenen „Dingen“ und hergestellten „Sachen“ vgl. Hans Linde: Sachdominanz in Sozialstrukturen. Tübingen 1972. Zur Relativierung dieser Unterscheidung vgl. etwa Hermann Bausinger: Ding und Bedeutung. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 107 (2004), S. 193-210. 170 Hans Peter Hahn: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005, S. 31. 171 Jörg Niewöhner/Estrid Sørensen/Stefan Beck: Einleitung. Science and Technology Studies – Wissenschafts- und Technikforschung aus sozial- und kulturanthropologischer Perspektive. In: Dies. (Hg.): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld 2012, S. 9-48, hier S. 31. 172 Dies in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004.

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deutungs- und Handhabbarkeitsdimensionen seiner Geschichtlichkeit als auch in den konkreten Effekten seiner historisch stets nur bedingt überschriebenen Materialität. Ordnungsgefüge stehen niemals still. Aufgrund der komplexen Vielfalt ihrer inneren Wechselbezüge sind sie in beständiger Veränderung begriffen. Diese Veränderungen werden nicht zuletzt deshalb immer wieder aufs Neue dynamisiert, weil den Relationen zwischen dem Lebensvollzug der Akteure und ihren Existenzverhältnissen eine dialektische Struktur zugrunde liegt. So gilt es im Rahmen einer kulturwissenschaftlich perspektivierten Ordnungsanalyse stets zu berücksichtigen, „wie die gesellschaftlichen Verhältnisse in der alltäglichen Lebenstätigkeit der Individuen (re)produziert werden und wie umgekehrt Individualität gesellschaftlich produziert wird.“173 Die als Existenzverhältnisse bezeichneten Faktorenkonfigurationen bilden sich in vielfältigen machtstrukturierten Interaktionen konkreter historischer Akteure – und Aktanten – heraus, wirken im Maße ihrer eigenwirkmachtbegründeten oder institutionalisierungsbedingten Wirklichkeitsgehalte als entfaltungslimitierende „Wände von Tatsächlichkeit“174 ihrerseits strukturierend auf das Wahrnehmen, Denken und Agieren der Akteure zurück und werden im Zuge ihrer kontextabhängigen Realisierung sowohl reproduktiv als auch transformativ aktualisiert. 175 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die beständig dynamisierte Ausgestaltung eines Ordnungsgefüges freilich nicht rein volitional reguliert erfolgt, sondern immer auch durch vielfältige Faktoren geprägt wird, die jenseits

173 Kaspar Maase: „Persönlicher Sinn“ – „Lebenswelt“ – „Habitus“. Zu Forschungsproblemen einer kulturwissenschaftlichen Analyse der Lebensweise. In: Alltag – Lebensweise – Kultur: kulturwissenschaftliche Beiträge aus der Ungarischen Volksrepublik und der Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen. Frankfurt am Main 1988, S. 124-164, hier S. 124. 174 Wilhelm Dilthey: Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht. In: Ders.: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Band V. Stuttgart 1990, S. 90138, dort S. 105. Dilthey zitiert hier Schiller, der sich mit dieser Wendung auf seine Erfahrungen als Schüler in der Militärakademie bezieht. 175 Vergleichbares bringt Anthony Giddens mit seiner Formel der „Dualität von Struktur“ zum Ausdruck. Vgl. Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt am Main/New York 1997, S. 77-81.

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bewusster Intentionen zur Wirkung kommen. Aufgrund komplexitätsbedingter Undurchschaubarkeiten und grundlegender – wirklichkeitsdefinierender – Begrenzungen der jeweiligen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen muss von einer prinzipiellen Unaufhebbarkeit des Kontingenten ausgegangen werden, die zur Folge hat, dass historische Gruppierungen stets in Existenzverhältnissen leben, deren konkrete Gestalt sie nur bedingt zu modellieren vermögen. Sofern nun die Existenz der Akteure von Bedingungen getragen ist, die als solche nicht hinreichend durchschaut werden können, und die Vollzüge dieser Existenzen eine Vielzahl an nichtintendierten Effekten zeitigen, die als solche gleichfalls unerkannt bleiben, müssen die interdependenten Verflechtungen eines Ordnungsgefüges immer auch als „riskante Verwicklungen“176 verstanden werden – ein Aspekt, den es im Rahmen katastrophologischer Erörterungen freilich festzuhalten gilt. Die Frage, ob sich in den zeitraumspezifischen interdependenten Verflechtungen, die hier als Ordnungsgefüge bezeichnet werden, eine übergeordnete Ordnung verwirklicht beziehungsweise ob diese beobachtbaren Gefüge in einem teleologischen Sinne nach Ordnung streben, führt letztlich in die Gefilde der Metaphysik. Im hier interessierenden Zusammenhang geht es indessen nicht um einen kosmologischen Theorieentwurf, der eine Ordnung der Ordnungsgefüge postulieren würde oder gar bestrebt wäre, eine solche begrifflich zu fassen, sondern vielmehr um den Versuch, sich den lebensweltlichen Ordnungen der in und mit den Gefügen existierenden Akteure anzunähern – mithin zu erörtern, ob und wie diese die übergeordnete Geordnetheit ihres Lebensvollzugs erfahren und denken, sowie zu klären, in welchen Kontexten und aus welchen Gründen Ordnungsfragen im Verlauf ihres Daseins überhaupt thematisch werden. Kosmologien, Ideologien und Utopien von Ordnung sollen hier also nur dann und nur in dem Maße relevant sein, in dem sie – etwa in Form sinnstiftender und wirklichkeitslegitimierender symbolischer Sinnwelten – für die zu untersuchenden Akteure relevant sind. Deren gelebtes Leben gilt es vor dem Hintergrund ihrer materiellen, sozialen und kulturellen Verflochtenheit mit den vorherrschenden Ordnungsverhältnissen zu beleuchten, um einen Zugang zu deren Katastrophenerfahrung, -deutung und -bewältigung zu finden. Auf dieser Ebene muss nun berücksichtigt werden, dass jedes Ordnungsgefüge eine Vielzahl heterogener Daseinsordnungen umfasst, die als koexistente – zwar tiefgreifend synchrone, subjektrelational aber doch jeweils spezifisch konfigurierte – Lebenskosmen zu verstehen sind. Damit wird das bisher umrissene

176 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt am Main 2010, S. 298.

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Konzept des Ordnungsgefüges um eine existentielle Dimension erweitert: Die jeweiligen Akteure werden nicht nur als zeitlich, räumlich und soziokulturell verortbare Elemente eines Gefüges ins Bild genommen, sondern auch als erfahrende, denkende, agierende Wesen, die innerhalb dieses Gefüges gleichsam eine innenräumlich belebte, sinnhaft durchwirkte Daseinssphäre ausbilden und bewohnen. Wie etwa Sloterdijk vermittels seines Denkbildes des „Schaumes“ – bei aller fruchtbaren Bezugnahme auf Latour – versucht, „den anorektischen Charakter der Netzmetaphorik [zu] korrigieren“ 177, sollen auch die hier verfolgten Ausführungen nicht bei einem mechanischen Ordnungsmodell verharren, das jener elementaren inneren Volumina entbehrt, die doch den notwendigen Hintergrund jedes Ansatzes bilden, der auch interpretative, auf verstehende Analyse setzende Methoden in sich aufzunehmen beabsichtigt.178 Wenn Jakob von Uexküll konstatiert, dass sich das Dasein der lebenden Organismen nicht auf einer Bühne abspiele, sondern jedes Lebewesen infolge seiner spezifischen Wahrnehmungsweise eine eigene „Spezialbühne“ besitze, wenn er also davon ausgeht, dass das „Universum nicht aus einer einzigen Seifenblase [besteht], die wir über unseren Horizont hinaus bis ins Unendliche aufgeblasen haben, sondern aus Abermillionen eng umgrenzten Seifenblasen, die sich überall überschneiden und kreuzen“179, so beschreibt er aus biologischer Perspektive ei-

177 Peter Sloterdijk: Gute Theorie lamentiert nicht. Im Gespräch mit Frank Hartmann und Klaus Taschwer. In: Ders.: Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews. Berlin 2013, S. 178-186, hier S. 179. Sloterdijk bezieht sich dabei aber insbesondere auf die raumprägenden Effekte mikrosphärisch-sozialer Bindungen und Interaktionen: „[D]ie Klimatisierung des koexistentiellen Innenraums erfolgt durch die reziproke Extraversion der Symbioten, die wie ein Herd vor dem Herd das gemeinsame Interieur temperieren.“ Peter Sloterdijk: Schäume. Sphären III. Frankfurt am Main 2004, S. 56. 178 „Wir sind ja“, heißt es bei Max Weber plastisch, „bei ‚sozialen Gebilden‘ (im Gegensatz zu ‚Organismen‘) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionalen Zusammenhängen und Regeln (‚Gesetzen‘) hinaus etwas aller ‚Naturwissenschaft‘ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ‚Erklärung‘ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ‚Verstehen‘ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z.B. von Zellen nicht ‚verstehen‘, sondern nur funktional erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können.“ Max Weber: Soziologische Grundbegriffe. Tübingen 1984, S. 32f. (Hervorhebungen im Original). 179 Jakob von Uexküll: Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Frankfurt am Main 1980, S. 355. Zur Deutung des von Uex-

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nen grundlegenden Zusammenhang zwischen existentieller Positionalität und bewohnter Umwelt, der seiner relational-pluralistischen Struktur nach auch kulturtheoretisch gedeutet werden kann. Um dem hierbei sich abzeichnenden aspektologisch gefassten Ordnungsbegriff weiter nachgehen zu können, wendet sich die Arbeit im Folgenden der Ebene des faktischen Daseins zu. Sie greift damit die lebensweltlich perspektivierten Erörterungen zum extrauterinen Ordnungsbedarf wieder auf und versucht, diese mit den bisherigen Überlegungen zum Ordnungsgefüge zu verknüpfen. 3.2 Existentielle Ordnungen Der Begriff der existentiellen Ordnung bezieht sich auf die variierende, verwundbare Geordnetheit des konkreten Lebensvollzugs historischer Akteure. Möchte man diese Geordnetheit näher betrachten, so mag sich der Blick zunächst auf die jeweils vorherrschenden Daseinsbedingungen – also auf die positionsrelational verfassten Konfigurationen des Ordnungsgefüges – richten. Diese umfassen alle für einen Akteur potentiell relevanten naturräumlichen, materiellen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren, denen aufgrund ihrer intersubjektiven Wirkung beziehungsweise Geltung der Status einer quasiobjektiven Wirklichkeit zukommt. Berücksichtigt man jedoch, dass sich die jeweiligen Daseinsbedingungen nicht zu einem bruchlosen System von aufeinander abgestimmten, hierarchisch eindeutig verortbaren Wirklichkeitselementen ergänzen, sondern durch vielfältige innere Widersprüche – etwa zwischen ökonomischen, rechtlichen und moralischen Geboten – gekennzeichnet sind, und geht man zudem davon aus, dass menschliches Existieren kein bloßer Effekt struktureller Determinanten ist, sondern einem deutenden, schöpferischen, transformativaktiven Agieren innerhalb strukturierter Möglichkeitsspielräume entspricht, so wäre es konzeptionell höchst problematisch, existentielle Ordnung einseitig auf der Ebene objektivierter Strukturen rekonstruieren zu wollen. Vielmehr muss sie als ein Phänomen verstanden werden, das den situations- und konstellationsspezifischen Relationen zwischen den jeweiligen Existenzbedingungen und den konkreten Akteuren entspringt. „The cultural, contractual and technical imperatives leave gaps, require adjustments and interpretations to be applicable to particular situations, and are

küllʼschen Umweltkonzepts im Sinne einer „pluralistischen Ontologie” vgl. Sloterdijk 2004, S. 63.

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themselves full of ambiguities, inconsistencies, and often contradictions“180, schreibt Sally Falk Moore und bringt damit einen zentralen Aspekt unserer Skepsis gegenüber dem Versuch zum Ausdruck, sich bei der Rekonstruktion existentieller Ordnungen auf eine Analyse von Objekten und Objektivationen zu beschränken. Zugleich ist aber freilich ebenfalls zu bedenken, dass der Ursprung dieser Geordnetheit auch nicht einseitig auf Seiten der Akteure lokalisiert werden kann. Es gilt im Folgenden also mit einem Begriff von Ordnung zu operieren, der diese weder mechanistisch auf reine Strukturformationen reduziert noch sie intentionalistisch als freie Entwürfe ungebunden agierender Individuen auffasst. So wenig sich der anzuvisierende Gegenstandsbereich auf die vermittelten Wechselbezüge materieller und soziokultureller „Tatsachen“ beschränken darf, so wenig sollen dabei lediglich Bewusstseinsleistungen der Subjekte in den Blick geraten. Jenseits des hier anklingenden Dualismus und seiner objektivistischen oder subjektivistischen Alternativen müssen im Rahmen eines existentiellen Begriffs von Ordnung vielmehr beide Analyseebenen Berücksichtigung finden: Ordnung konstituiert sich in dem Maße, in dem die positionsspezifischen Ordnungsdispositionen der Akteure mit den situativen Gegebenheiten des Ordnungsgefüges korrespondieren. Wenn existentielle Ordnung hier also im Sinne einer Akteur/UmweltKorrespondenz konzeptualisiert werden soll, so geht es dabei um eine Grundstruktur des menschlichen Daseins, die im konkreten Lebensvollzug der Akteure stets aufgehoben ist. Wie sämtliche Organismen, könnte man im Rekurs auf Jakob von Uexküll formulieren, bilden auch menschliche Akteure mit ihren jeweiligen Umwelten „Funktionskreise“181 – Funktionskreise, in deren komplexen Wechselbezügen sich sowohl die Akteure als auch ihre positionsrelationalen Umwelten erst eigens herausbilden. Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität vollzieht sich das Dasein dabei jedoch in einer letztlich unüberwindbaren Seinsdistanz, die zur Folge hat, dass diese existentiellen Funktionskreise in hohem Maße verwundbar sind und somit immer wieder neuen Restrukturierungsprozessen unterliegen. Wenn hier nun also nach den Bedingungen der Möglichkeit (stabiler) Akteur/Umwelt-Korrespondenzen gefragt wird, so gerät damit ein fundamentaler Konstitutionszusammenhang in den Blick, der – im Rahmen je eigener analyti-

180 Sally Falk Moore: Epilogue. Uncertainties in Situations, Indeterminacies in Culture. In: Dies./Barbara G. Myerhoff (Hg.): Symbol and Politics in Communal Ideology. Cases and Questions. Ithaka 1975, S. 210-239, hier S. 220. 181 Vgl. Jakob von Uexküll und Georg Kriszat: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten. Berlin 1934, S. 6f.

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scher Interessen – Gegenstand zahlreicher soziologischer, kulturwissenschaftlicher und philosophischer Theoriebildungsprozesse ist. „Ganz allgemein gesagt“, heißt es etwa bei Bergson, „ist die Wirklichkeit genau in dem Maße geordnet, in dem sie unserem Denken Genüge tut. Ordnung ist also eine gewisse Übereinstimmung von Subjekt und Objekt. Sie ist der in den Dingen sich wiederfindende Geist.“182 In ähnlicher Weise beschreibt Plessner eine „Korrelativität von Mensch und Welt“, führt deren Ursache aber weniger auf die Ordnungskraft des Geistes zurück, sondern sieht diese vielmehr in einer strukturellen Konvergenz von exzentrischer Positionsform und dinglicher Realität begründet.183 Berger und Luckmann gehen von einer „Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit“184 aus, die sich im Zuge der Primärsozialisation einstelle – und zwar dann, wenn im Bewusstsein des Einzelnen die je konkreten Rollen „signifikanter Anderer“ durch einen „generalisierten Anderen“185 ersetzt würden, so dass er fortan wisse, was „man“ in spezifischen Kontexten typischerweise denkt, sagt und tut. Bourdieu fasst die uns hier interessierende Grundstruktur hingegen mit dem Terminus einer „ontologischen Komplizenschaft zwischen Habitus und Feld“186. Sofern ein Habitus unter Bedingungen zur Wirkung komme, die jenen seiner ursprünglichen Genese entsprechen, resultiere aus dieser vorreflexiven Abgestimmtheit ein „praktischer Sinn“ für erfolgreiches, feldadäquates Agieren. Genealogisch führt Bourdieu die genannte Komplizenschaft dabei auf einen doppelten – die Dimension der Körper und die Dimension der Dinge durchwirkenden – Realisierungsprozess der Geschichte zurück: „Die menschliche Exis-

182 Henri Bergson: Schöpferische Entwicklung. Jena 1921, S. 227. Bergsons Ausführungen über die „Ordnung der Natur und die Form des Intellekts“ wurden u.a. auch von Julien Freund und Alfred Schütz aufgegriffen. Vgl. Julien Freund: Der Begriff der Ordnung. In: Der Staat 19 (1980), S. 325-339; Alfred Schütz: Symbol, Wirklichkeit und Gesellschaft. In: Ders.: Theorie der Lebenswelt 2. Die kommunikative Ordnung der Lebenswelt. Konstanz 2013, S. 117-223. 183 Plessner 1928, S. 322. Vgl. hierzu auch die obigen Hinweise zum „Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit“. 184 Berger/Luckmann 2001, S. 144. 185 Mit dem Begriff des „generalisierten Anderen“ beziehen sich Berger und Luckmann auf Mead. 186 Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon. In: Ders.: Sozialer Raum und „Klassen“. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main 1985, S. 47-81, hier S. 75. Vgl. auch Ders.: Antworten auf einige Einwände. In: Klaus Eder (Hg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie. Frankfurt am Main 1989, S. 395-410, hier S. 397.

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tenz, der Habitus als das Körper gewordene Soziale, ist jene Sache der Welt, für die es eine Welt gibt. […] Ich bin in der Welt enthalten, aber die Welt ist auch in mir enthalten. Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.“187 Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, verschiedene Aspekte der genannten Ansätze vor dem Hintergrund unserer katastrophologischen Erkenntnisinteressen aufzugreifen und in die Argumentation der Arbeit zu integrieren. Um die verschiedenen Implikationen der Konzeption einer ordnungsgenerierenden Akteur/Umwelt-Korrespondenz explizieren zu können, muss jedoch zunächst geklärt werden, worauf sich die oben genannten „akteurs-“ beziehungsweise „positionsspezifischen Ordnungsdispositionen“ genau beziehen und was in diesem Kontext mit „Umwelt“ – also der „situativen Gegebenheit des Ordnungsgefüges“ – im Einzelnen gemeint ist. Erst dann kann der Frage nachgegangen werden, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen und durch welche (inter-)individuell und gouvernemental regulierten Stabilisierungs- und Immunisierungsstrategien auf dieses Verhältnis Einfluss genommen wird. Unter positionsspezifischen Ordnungsdispositionen ist die Gesamtheit der Wahrnehmungs-, Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster zu verstehen, vermittels derer ein Akteur das ihm Begegnende erfährt und mit ihm umzugehen vermag. Sie umfassen somit sämtliche – zwar stets soziokulturell geprägte, doch der jeweiligen Individualexistenz zurechenbare – Faktoren, die sich in den Perzeptionen, Empfindungen, Bewertungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Akteurs zu einem bestimmten Zeitpunkt niederschlagen. Was in diesem Zusammenhang relevant ist, reicht demzufolge von den physisch-rezeptiven Sinnesorganen und kinästhetischen Funktionen über basale Vulnerabilitäten und Begehrensstrukturen bis zu konstitutionsgebundenen Verarbeitungs- und Entäußerungspotentialen, beinhaltet dabei aber nicht zuletzt auch die jeweiligen Formen und Konfigurationen des erfahrungsbasierten Vorrats an sinngenerierenden Typisierungen und Handlungsmustern.188

187 Pierre Bourdieu/Loїc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main 1996, S. 161. 188 Was hier unter Ordnungsdispositionen verstanden wird, weist demzufolge einige noch weiter zu explizierende Parallelen zum Begriff des Habitus auf, den Bourdieu bekanntlich als ein „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewußten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ definiert. Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt am Main 1974, S. 40.

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Neben den Möglichkeiten und Begrenzungen des Leibkörpers ist für die Strukturierung dieser Ordnungsdispositionen also insbesondere das Wissen der Akteure von zentraler Bedeutung. Unter Wissen sollen dabei sämtliche sozial vermittelten oder durch physiopsychische Erfahrungen gewonnenen Kenntnisse verstanden werden, die der subjektiven Konstitution von Sinn und Handeln zugrunde liegen. Sinn bezeichnet in diesem Zusammenhang die durch das jeweilige Wissen hervorgerufene Bedeutung eines Phänomens. Er entsteht, wie man mit Hubert Knoblauch formulieren kann, durch die „Bezugnahme auf etwas vor dem Hintergrund von Anderem und Ähnlichem“189 – also dadurch, dass diese Bezugnahme nicht mit sich selbst identisch ist, sondern infolge eines Rückbezugs auf frühere Erfahrungen beziehungsweise erfahrungsbasierte Typisierungen gebrochen wird. Hierbei kommt es zu einer produktiven Einschränkung der semantisch unerschöpflichen Seinspotentiale des jeweiligen Phänomens, die dieses erst als sinnhaften Gegenstand hervorbringt. Handeln wiederum soll in Weberʼscher Manier ein Verhalten heißen, „wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“190. Was das Handeln vom Verhalten unterscheidet, so könnte man mit Schütz ergänzen, ist „das Entworfensein der Handlung, die durch das Handeln zur Selbstgegebenheit gelangen soll.“191 Während sich dieser Entwurf des Handelns aber, wie Schütz betont, modo futuri exacti auf eine phantasierte zukünftige Erinnerung, also auf eine vorgestellte beziehungsweise vorerinnerte Handlung beziehe, konstituiere sich dessen vereinheitlichender Sinn erst in der rückblickenden Zuwendung auf die tatsächlich realisierte Handlung und sei als monothetisch synthetisiertes Resultat einer solchen Reflexion ex post nicht zwangsläufig mit dem ursprünglichen Entwurf identisch: „Was beim Entwerfen im Licht lag, rückt ins Dunkle und die im Schatten gelegenen protentionalen Erwartungen

189 Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie. Konstanz 2010, S. 360. Knoblauch knüpft hiermit an Schütz an, der die „Sinnhaftigkeit der Erlebnisse“ auf eine grundlegende Spannung zwischen Leben und Denken zurückführt: „Das ‚Sinnhafte‘ liegt nicht im Erlebnis oder seiner noematischen Struktur, sondern nur in dem Wie der Zuwendung auf dieses Erlebnis oder, wie wir es früher antizipierend formuliert haben, in der Attitüde des Ich zu seiner abgelaufenen Dauer.“ Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien 1932, S. 72. 190 Weber 1984, S. 19 (Hervorhebung im Original). 191 Schütz 1932, S. 59. Wenngleich der zentrale Terminus des „Entwurfes“ von Heidegger entlehnt ist, bezieht sich Schütz in seinem Versuch einer Präzisierung des Weberʼschen Handlungsbegriffs freilich insbesondere auf Husserl und Bergson.

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erhalten Licht, wenn nach vollzogener Handlung auf sie hingesehen wird.“ 192 Neben dieser konstitutiven Zeitdimension der Sinnstruktur – und der hierbei relevanten Differenz zwischen Entwurfs- und Reflexionssituation – gilt es aber auch die komplexen soziomateriellen Kontexte jedes motivierten Verhaltens, das hier als Handeln bezeichnet wird, eigens zu bedenken. Aufgrund seiner sozialen, kulturellen und materiellen Verflechtungen ist also zu berücksichtigen, dass dessen konkreter Vollzug – wie bereits Weber mit seinem Hinweis auf die Einflüsse „unverstehbarer Gegebenheiten“193 einräumt – niemals in einer bloßen Verwirklichung hermeneutisch erfassbarer Sinnzusammenhänge aufgeht, sondern stets auch von Bedingungen geprägt ist und Effekte zeitigt, die jenseits der jeweils intendierten Entwürfe und rückbezüglichen Synthesen liegen. In diesem Zusammenhang soll uns daher „Praxis“ als ein sehr weiter Oberbegriff dienen, der neben dem zweck- und wertrationalen Handeln auch die definitorischen Grenzformen des affektuellen und traditionalen Handelns umfasst. Wenn im Folgenden also von Praktiken die Rede ist, so bezieht sich dies insbesondere auch auf jene – durch eingelebte Gewohnheiten hervorgerufenen – Handlungen, deren ursprüngliche Sinnentwürfe sich im Rahmen wiederholungsbasierter Inkorporierungsbeziehungsweise Habitualisierungsprozesse zunehmend sedimentiert haben und damit in unbewusste, ja teils unverfügbare Wissenssphären abgesunken sind, sowie auf leiblich-routinisierte Bewegungsabläufe, die von vornherein diesseits jeder sinnhaft regulierten Vermittlung in intersubjektiv-mimetischen Angleichungen194 oder basal-materiellen Assimilations- und Prägeprozessen erlernt wurden. Es gilt nun zu berücksichtigen, dass sich die genannten Elemente dieser existentiellen physiopsychischen Matrix – Sinnesorgane, kinästhetische Funktionen, Begehrensstrukturen, Wissensformen, Handlungsmuster etc. – in einem dynamischen wechselbezüglichen Verhältnis konstituieren und als isolierte, an-sich-

192 Ebd., S. 66. Zum Aspekt der rückblickend reflektierenden Umwandlung polythetischer Konstitutionen in monothetische Gegenständlichkeiten heißt es an anderer Stelle: „Der ganze Erlebnisvorgang, der durch den Titel des Handelns gekennzeichnet wird, angefangen vom Entwerfen von Handlungen überhaupt bis zur vollzogenen konkreten Handlung, die in den rückschauenden Blick gefaßt wird, ist eine sich in gegliederten polythetischen Akten konstituierende synthetische Gegenständlichkeit und kann daher nach ihrem Ablauf in einem einstrahligen Blick, also monothetisch erfaßt werden.“ Ebd., S. 72 (Hervorhebung im Original). 193 Weber 1984, S. 22f. 194 Vgl. hierzu insbesondere Gabriel de Tarde: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt am Main 2003.

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seiende Merkmale daher nur um den Preis der Gefahr intransparenter Verstellungen und Verschleierungen gedacht werden könnten. Neben den limitierenden und potenzierenden Effekten ihrer inneren Wechselbezüglichkeit fließen in den fortwährenden Konstitutionsprozess der akteursspezifischen Existenzmatrix aber freilich insbesondere äußere Prägekräfte mit ein. Aufgrund der weltoffenen Grundverfasstheit des Menschen lassen sich die Elemente dieser Ordnungsdispositionen also nur dann adäquat beschreiben, wenn sie aus einer biographischgenealogischen Perspektive in den Blick genommen und in ihrer dialektischen Verbundenheit mit den jeweiligen Existenzbedingungen betrachtet werden. So handelt es sich dabei nicht um dauerhaft feststehende Konstanten, sondern vielmehr um einflussoffene, in verschiedenen Maßen prägbare Variablen, deren konkrete Gestalt und existentielle Wirksamkeit sich in enger Abhängigkeit von der spezifischen – materiell und soziokulturell strukturierten – Lebensumwelt herausbilden. Von zentraler Bedeutung für die Ausprägung der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen sind zunächst die Strukturierungseffekte im Rahmen der Primärsozialisation. Dieser Prozess, der mit Berger und Luckmann als eine „Internalisierung der Wirklichkeit“195 oder mit Bourdieu als eine „Interiorisierung der Exteriorität“196 verstanden werden kann, bildet die erste Grundlage des individuellen Selbst- und Weltbezugs. Er vollzieht sich unter dem Einfluss spezifischer Existenzbedingungen, die den situativen Konstellationen des historischen Ordnungsgefüges entsprechen und dabei in hohem Maße von der sozialen Position der jeweiligen Herkunftsfamilie abhängig sind. So verdeutlicht etwa Bourdieu, wie sich das Volumen und die Struktur der familieneigenen Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital in konkreten Möglichkeiten und Zwängen des Agierens niederschlägt, die im Zuge der Primärsozialisation als quasinatürliche Gegebenheiten verinnerlicht werden und den Habitus der Akteure tiefgreifend und nachhaltig prägen.197 Mit der Identität des Akteurs bildet sich im Zuge der Primärsozialisation zugleich eine positionsspezifische Involviertheit in das Ordnungsgefüge aus: „Gesellschaft, Identität und Wirklichkeit sind subjektiv die Kristallisation eines ein-

195 Vgl. Berger/Luckmann 2001, S. 139. 196 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 2009, S. 164. 197 Vgl. etwa Bourdieu 2009, S. 268. Zu Bourdieus Kapitalbegriff vgl. Ders.: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183-198.

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zigen Internalisierungsprozesses.“198 Das zentrale Medium dieser grundlegenden Kristallisationsvorgänge ist die Sprache. Sprache ermöglicht spezifische Synthetisierungen des Begegnenden, bringt die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke in greifbare Formen, eröffnet eine differenzierte Vielfalt an Kommunikationsoptionen und verleiht dem semantisch Geformten die objektive Geltungskraft intersubjektiv geteilter Wirklichkeit. Mit und neben dem Erlernen der Sprache ist in diesem Zusammenhang freilich auch das Hineinwachsen in soziale Rollen, das Bekanntwerden mit Skripten, Spielregeln und Dekodierungstechniken sowie die Aneignung ethischer und ästhetischer Entscheidungskompetenzen zu nennen. Hierbei handelt es sich aber nicht um rein kognitive, sondern insbesondere auch um körperliche Lernprozesse, die sich etwa in der Routinisierung von Bewegungsabläufen, in der sensomotorischen Regulierung von Mimik und Gestik oder der spezifischen Fokussierung und Ausdifferenzierung des sinnlichen Wahrnehmungsvermögens manifestieren. Dementsprechend beinhalten die Strukturierungsfaktoren der Primärsozialisation sowohl explizite Erziehungsformen, wie die bewusste Vermittlung von Wissen oder das ausdrückliche Aufstellen von Verboten und Regeln, als auch implizite Einflüsse, die sich gleichsam intuitiv – jenseits bewusst verfolgter Strategien – beispielsweise in regelmäßig wiederkehrenden Ermahnungen bezüglich der Körperhaltung, der Wortwahl oder der Tischmanieren äußern. Daneben umfasst der Verinnerlichungsprozess aber auch Einprägungen infolge der Beobachtung und Nachahmung von Bewegungen, körperlichen Ausdrucksweisen und Eigenheiten des Sprachgebrauchs sowie der basalen Anpassung und Gewöhnung an hygienische Standards, Ernährungsgepflogenheiten oder materielle Eigenheiten der Räume und Kontexte des tagtäglichen Agierens.199 Aufgrund der weitreichenden Plastizität ihrer Daseinskonstitution erfolgt die Subjektentwicklung der Akteure also in enger Abhängigkeit von den jeweiligen Lebensbedingungen, so dass sowohl der kommunikative Kontakt mit anderen als auch, wie Gehlen in Anlehnung an Portmann formuliert, „die unbestimmte Reizeinwirkung der Umgebung zu ‚obligatorischen Teilfunktionen der ganzen Ontogenese‘ werden“200. Wenn nun dieses erste, durch spezifische Existenzverhältnisse und signifikante Andere vermittelte Vertrautwerden mit dem Ordnungsgefüge beziehungsweise mit den vorherrschenden materiellen, sozialen und kulturellen Gegeben-

198 Berger/Luckmann 2001, S. 144 (Hervorhebung im Original). 199 Zu den genannten Formen einer impliziten Pädagogik und der assimilierenden Inkorporierung konkreter Existenzbedingungen vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1993, S. 122-146. 200 Gehlen 1958, S. 48. Vgl. auch Portmann 1944, S. 81.

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heiten eines intersubjektiven Lebenszusammenhangs als Primärsozialisation bezeichnet wird, so bringt dies neben einer chronologischen auch eine strukturelle Vorrangigkeit zum Ausdruck. In der Tat muss ja bei allen De- und Restrukturierungseffekten, denen die existentielle Matrix im fortschreitenden Lebensvollzug unterliegt, von einer prinzipiellen Prägedominanz des Vorgängigen ausgegangen werden, da das jeweils Begegnende trotz seiner ihm grundsätzlich eignenden Irritationspotentiale zunächst und zumeist im Rahmen bisheriger Perzeptionsformeln erfahren wird.201 Hierbei ist die Transformationsresilienz individuell etablierter Wissens- und Praxismuster umso stärker ausgeprägt, je länger beziehungsweise häufiger sie sich zuvor infolge unproblematischer, weitgehend widerstandsloser Wiederholungen zu habitualisieren und zu sedimentieren vermochten. Dieser Aspekt ist für die hier verfolgte Erörterung nicht zuletzt deshalb wichtig, weil er es ermöglicht, identitäts- und wirklichkeitsgenerierende Persistenzen innerhalb der Lebenswelt eines Akteurs nicht ausschließlich auf die jeweiligen Bedingungen des Ordnungsgefüges zurückführen zu müssen, sondern dabei auch die innere Struktur seiner physiopsychischen Existenzmatrix als Erklärungsmoment heranziehen zu können. Trotz der genannten Prägedominanz des Vorgängigen beschränkt sich die Ontogenese der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen freilich nicht auf die Phase der Primärsozialisation. Vielmehr handelt es sich dabei um einen unabschließbaren Prozess, der den gesamten Lebensvollzug begleitet. „Wir wachsen“, heißt es bei Herder plastisch, „immer aus einer Kindheit, so alt wir sein mögen, sind immer im Gange, unruhig, ungesättigt. Das Wesentliche unseres Lebens ist nie Genuß, sondern immer Progression, und wir sind nie Menschen gewesen, bis wir – zu Ende gelebt haben; dahingegen die Biene Biene war, als sie ihre erste Zelle bauete.“202 Neben regressiven, zu Kompensationsbemühungen drängenden Prozessen des Vergessens und Verlernens liegt diesem unabschließbaren Werden insbesondere die prinzipielle Unerschöpflichkeit des Ord-

201 Bourdieu schließt aus dieser Prävalenz ursprünglicher Erfahrungen auf eine „relative Geschlossenheit des für den Habitus konstitutiven Dispositionensystems.“ Bourdieu/ Wacquant 1996, S. 168 (Hervorhebung im Original). In ähnlicher Weise formulieren Berger und Luckmann, dass „bereits internalisierte Wirklichkeit die Neigung hat, haften zu bleiben“, und betonen vor diesem Hintergrund, dass die sekundäre Sozialisation – hier verstanden als eine Internalisierung institutionalisierter Subsinnwelten – oftmals besonderer Rituale sowie expliziter theoretischer Konstruktionen bedürfe, um mit den ursprünglichen Internalisierungen der Primärsozialisation verschränkt werden zu können. Berger/Luckmann 2001, S. 150f. 202 Herder 2001, S. 84f.

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nungsgefüges zugrunde: die „Umfänglichkeit und Veränderlichkeit der Kultur“203, die damit verknüpften Dynamiken sozialer Relationen sowie die bei aller funktionaler Durchdringung und semantischer Besetzung beharrlich wirksame Eigenmächtigkeit des Materiellen. Das Ordnungsgefüge birgt demzufolge ein hohes Maß an Unverfügbarkeit und zeitigt beständig kontingente Entwicklungen, die den einzelnen, durch eine konstitutive Weltoffenheit geprägten Akteur im Rahmen biographisch und situativ vermittelter Relevanzen immer wieder mit neuen Erfahrungen konfrontieren und damit zu einer fortwährenden Transformation und Ausdifferenzierung seiner physiopsychischen Existenzmatrix führen. Die dergestalt in dauerhafter Veränderung begriffenen Wissens- und Praxismuster leiten das Wahrnehmen, Denken und Agieren der Akteure. Sie lassen sich als zentrale Ordnungsdispositionen verstehen, weil sie einen spezifischen Möglichkeitsraum eröffnen, in dessen Rahmen geordnete Lebensvollzüge verwirklicht werden können. Ob und in welchem Maße sie Ordnung ermöglichen, hängt aber in entscheidender Weise von den Gegebenheiten des Ordnungsgefüges ab. Diese umfassen die jeweiligen materiellen Bedingungen genauso wie die beteiligten menschlichen Akteure sowie die zwischen den Akteuren wirkenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Sie beinhalten daneben aber insbesondere auch die jeweils relevanten, durch Sanktionen gestützten Regeln, die das Legitime vom Illegitimen trennen und den einzelnen Entäußerungsformen der Interaktionen einen spezifischen, sich in Graden sozialer Anerkennung manifestierenden Wert zuschreiben. Die Ordnungsdispositionen der Akteure wirken also nicht frei, sondern stets im Rahmen materiell und soziokulturell strukturierter Situationen, auf die sie in Abhängigkeit der bisherigen Vorerfahrungen mehr oder weniger gut abgestimmt sind. Im Folgenden soll die Gesamtheit der positionsrelationalen Konfigurationen des Ordnungsgefüges als Umwelt bezeichnet werden. In diesem akteursbezogenen Sinn benennt der Begriff Umwelt folglich sämtliche materiellen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, die aufgrund ihrer intersubjektiven Wirkung und Geltung den Status potentiell widerständiger Tatsachen haben und damit für einen Akteur aufgrund seines je situativ, also zeitlich, räumlich, physisch und soziokulturell bestimmten Standorts als praxisprägende Faktoren relevant sein können. Da diese – aus einer abstrakten Beobachterperspektive definierten – Umweltelemente dem jeweiligen Akteur jedoch nie an sich begegnen, sondern durch dessen perzeptives Prisma stets gebrochen werden, da also jeder „einzelne

203 Martin Scharfe: Menschenwerk. Erkundungen über Kultur. Köln u.a. 2002, S. 167. Scharfe bezieht sich im Zusammenhang seiner Ausführungen zum Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesamtkultur u.a. ebenfalls auf Herder.

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Organismus“, wie George Herbert Mead formuliert, „durch seine Sensitivität seine eigene Umwelt bestimmt“,204 ist in diesem Zusammenhang eine begriffliche Unterscheidung notwendig: Die von einem Akteur in „vermittelter Unmittelbarkeit“205 erfahrene und gemäß dieser Erfahrung bewohnte Umwelt soll mit dem Begriff der Lebenswelt benannt werden. Wie also das Ordnungsgefüge die akteursspezifische Umwelt transzendiert, so transzendiert die Umwelt wiederum das, was sie für einen Akteur als dessen konkrete Lebenswelt ist. Während die Umwelt dem Akteur gleichsam offen gegenübersteht und infinite Aspektpotentiale aufweist, in denen sie erfahren werden könnte, konstituiert sich die tendenziell geschlossen erscheinende Lebenswelt erst durch den Akteur in seinem faktischen Lebensvollzug. Sie entspricht somit einer subjektspezifischen, durch die jeweilige existentielle Matrix erst eigens hervorgerufenen Wirklichkeit, deren Genese zwar nicht als solche determiniert, aber doch tiefgreifend strukturiert ist, da die ihr zugrundeliegende Umwelt infolge ihrer konkreten Widerständigkeit sowie ihrer vielfachen Anreize, Verführungen, Abweisungen und Zumutungen spezifische Spielräume formiert und im Rahmen dieser Spielräume eine begrenzte Unerschöpflichkeit an realisierbaren Erfahrungs- und Handlungsoptionen eröffnet. Vor diesem Hintergrund kann nun an den Beginn unserer Überlegungen angeknüpft werden: Ordnung konstituiert sich diesen zufolge in dem Maße, in dem die physiopsychische Konstitution und die darin eingegangenen, durch wiederholte Praxis habitualisierten und sedimentierten Wissens- und Handlungsmuster der Akteure mit den situativ gegebenen Umweltbedingungen ihres Lebensvollzugs korrespondieren. „Korrespondieren“ lässt sich dabei zum einen diachron, als ein dynamisches „Aufeinanderantworten“ oder „Im-Austausch-stehen“ lesen und verweist in dieser Hinsicht auf unsere bisherigen Ausführungen zur umweltgeprägten Ontogenese der existentiellen Ordnungsdispositionen. „Korrespondieren“ lässt sich zum anderen aber auch synchron, als eine komplementäre „Übereinstimmung“ verstehen und bezieht sich damit auf die je aktuell möglichen Effekte dieser Dispositionen im Rahmen konkreter Situationen beziehungsweise situationsspezifisch konfigurierter Gegebenheiten des Ordnungsgefüges. Hierbei sind die Spielräume der synchronen Korrespondenz freilich eng an die jeweiligen diachronen Korrespondenzen gebunden: Ob – und auf welche Weise – sich die existentielle Matrix der Akteure mit einer situativ gegebenen Umweltkonfiguration in komplementärer Übereinstimmung befindet, hängt in hohem Maße

204 George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt am Main 1998, S. 291 (Hervorhebung S.R.). 205 Vgl. Plessner 1928, S. 321-341.

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davon ab, welche materiellen und soziokulturellen Bedingungen ihre bisherigen Erfahrungen geprägt haben und inwiefern diese Erfahrungen durch habitualisierungsbasierte Sedimentierungsprozesse zu einer festen Grundlage des Wahrnehmens, Denkens und Agierens geworden sind. Es lassen sich verschiedene Aspekte dieser ordnungskonstituierenden Akteur/Umwelt-Korrespondenz unterscheiden. Zentral ist zunächst, ob ein Akteur im Rahmen seines subjektiven Wissensvorrats dazu in der Lage ist, die sinnlich wahrgenommenen Eindrücke der ihn betreffenden Umweltkonfigurationen sinnhaft zu synthetisieren und, falls erforderlich, in hinreichendem Maße auszudeuten – wobei sich die dabei notwendige Ausdeutungstiefe aus den biographisch und situativ bedingten Relevanzstrukturen ergibt.206 Neben dieser perzeptiven gilt es freilich auch die praxeologische Dimension zu berücksichtigen, da entscheidend ist, ob in einer Situation gemäß routinisierter Verhaltens- und Handlungsmuster unproblematisch agiert oder zumindest erfolgreich improvisiert werden kann. Im Allgemeinen ist eine Akteur/Umwelt-Korrespondenz demzufolge dann gegeben, wenn die inkorporierten Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster einen Akteur von seiner weltoffenheitsbedingten Überforderung durch infinite Perzeptions- und Praxisoptionen auf eine Weise entlasten, die den potentiellen Widerständigkeiten der vorherrschenden Umweltbedingungen in komplementärer Form entspricht – wenn also trotz der notwendigen Deflexibilisierung der physiopsychischen Existenzmatrix die Wirkungs- und Geltungskräfte der jeweiligen Existenzverhältnisse im konkreten Vollzug des Wahrnehmens, Deutens und Agierens akzeptiert, toleriert oder integriert und damit aufgehoben werden. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei zum einen den Mitakteuren sowie den situationsspezifisch geltenden Regeln zu. So muss für die Konstitution geordneter Interaktionssituationen zunächst gegeben sein, dass man die Handlungen der involvierten Anderen sinnhaft zu erschließen vermag – und dass dies auf eine Weise geschieht, die den eigenen Erwartungen in groben Zügen entspricht. Gleichfalls relevant ist jedoch, inwieweit wiederum die eigenen Handlungen mit den Erwartungen der jeweiligen Mitakteure korrespondieren. Angesichts der

206 Mit Schütz kann in diesem Zusammenhang zwischen „thematischer Relevanz“, „Interpretationsrelevanz“ und „Motivationsrelevanz“ unterschieden werden. Vgl. Alfred Schütz: Das Problem der Relevanz. Frankfurt am Main 1982; Ders.: Strukturen der Lebenswelt. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze III. Studien zur phänomenologischen Philosophie. Den Haag 1971, S. 153-170; Ders./Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Band 1. Frankfurt am Main 1979, S. 224-276. Vgl. hierzu auch die Ausführungen des folgenden Kapitels.

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„doppelten Kontingenz“ dieser Situationen entsteht in ihnen also nur dann Ordnung, wenn die beteiligten Akteure über komplementäre Erwartungserwartungen verfügen und ihr Erwarten und Handeln in hinreichendem Maße an diesen Erwartungserwartungen orientieren können – und wollen.207 Daneben ist für die situative Ordnungsgenese schließlich aber ebenfalls entscheidend, ob die Art und Weise der eigenen Situationsinvolviertheit mit den eigenen, identitätsgebundenen Werten und Selbstansprüchen beziehungsweise Selbsterwartungen korrespondiert, ob es dem Einzelnen also möglich ist, sein selbstbeobachtetes Agieren vor dem Hintergrund des ihm verfügbaren situationsrelevanten Wissens zu akzeptieren. Weitere Aspekte ergeben sich zum anderen aus der Frage nach den Korrespondenzen zwischen der körperlichen Verfassung eines Akteurs und den jeweiligen materiellen Bedingungen der konkreten Situationen seines Lebensvollzugs. Dies betrifft zunächst grundsätzliche Anforderungen in Bezug auf Temperatur, Luftsauerstoff, Ernährungsmöglichkeiten etc., denen die Umweltbedingungen innerhalb eines gattungs- und individuumsspezifischen Toleranzbereiches entsprechen müssen. Daneben ist hierbei aber auch relevant, inwiefern die Materialität des Materiellen im Vollzug gewohnter Verhaltens- und Handlungsweisen aufgehoben werden kann. Im Allgemeinen konstituiert sich Ordnung auf dieser Ebene also in dem Maße, in dem ein Akteur infolge kontinuierlicher materialitätsgebundener Erfahrungen und erfahrungsbasierter Routinisierungsprozesse mit den begegnenden Dingen auf eine vorreflexiv abgestimmte Weise umzugehen weiß, so dass deren potentielle Widerständigkeit nicht oder nur in unproblematisch bewältigbaren Problemen zur Wirkung kommt. Hierbei ist die Materialität des Materiellen insofern lebensweltlich integriert als sie nicht nur mitberücksichtigt, sondern auch in konkrete Bewegungsabläufe mitaufgenommen wird und damit einen konstitutiven Bestandteil gewohnter Praxisformen darstellt. Im Rahmen einer solchen soziomateriellen Verwobenheit entfaltet die greifbare Persistenz der Gegenstände elementare Fundierungseffekte, da sie den semantischen Netzen, in die sie eingesponnen sind, zu einer sinnlich wahrnehmbaren Präsenz verhilft. „Die Materialität“, so Korff, „verleiht den Sachen Evidenz und Dauerhaftigkeit“, 208 sie lässt den so anschmiegsamen wie flüchtigen Bedeutungen eine quasiobjektive Faktizität zukommen. Vor dem Hintergrund

207 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 411f. 208 Gottfried Korff: Dinge: unsäglich kultiviert. Notizen zur volkskundlichen Sachkulturforschung. In: Franz Grieshofer/Margot Schindler (Hg.): Netzwerk Volkskunde. Ideen und Wege. Wien 1999, S. 273-290, hier S. 278f.

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gewohnheitsstabilisierter Akteur/Umwelt-Korrespondenzen vermag die Materialität des Materiellen also sowohl die ihm zugeschriebenen Sinngehalte und Funktionen als auch die damit verknüpften Verhaltens- und Handlungsformen beständig zu bestätigen. In unthematischer Verlässlichkeit209 leistet sie somit einen elementaren Beitrag zur tagtäglichen Reproduktion der jeweils gewohnten Daseinsweise. Die umrissene Akteur/Umwelt-Korrespondenz gleicht also einer kognitiv und leiblich sensibel differenzierten, normativ regulierten, durch Wiederholung und Gewohnheit stabilisierten Abstimmung zwischen individuellen Ordnungsdispositionen und situativ variierenden Gegebenheiten des Ordnungsgefüges. Da diese Abgestimmtheit aber nie vollkommen ist, wird in der vorliegenden Arbeit unter existentieller Ordnung ein zumeist nur graduell realisiertes Phänomen verstanden: In dem Maße, in dem die physiopsychischen Rezeptions-, Entäußerungs- und Reaktionspotentiale das potentiell Problematische des Begegnenden – seine grundlegende Fremdheit sowie seine in soziokulturellen Sanktionen und materiellen Eigenmächtigkeiten gründende Widerständigkeit – routiniert aufzuheben vermögen, erfahren die Akteure ihre Umwelt im Modus verlässlicher Vertrautheit und finden dergestalt zu einer insularen Bergung in der extrauterinen Offenheit. Die durch differenzierte Abstimmungsprozesse erfolgende Aufhebung von Ungewissheiten und Widerständigkeiten führt gleichsam zu einer Einsenkung des Daseins in die positionsspezifisch konfigurierten Existenzverhältnisse und ermöglicht hierbei jene elementare Form der entlasteten Seinsvergessenheit, ohne die der Einzelne einem beständigen – letztlich radikal lähmenden – Zwang zu unabschließbaren Auslegungs- und Entscheidungsprozessen ausgesetzt wäre.210 Dabei vermag der eingelebten Akteur/Umwelt-Korrespondenz das grundlegende, sicherheitsvermittelnde Vertrauen entwachsen, dass sich die Welt, wie Wolf Dombrowsky formuliert, „‚freundlich‘ verhält, wenn man sie ‚richtig‘ be-

209 In seinem Aufsatz über den Ursprung des Kunstwerkes sieht Heidegger hierin das „Zeugsein des Zeuges“ begründet. Durch dessen „Verläßlichkeit“ sei die Bäuerin – um deren Dasein es in diesem Kontext geht – „eingelassen in den schweigenden Zuruf der Erde, kraft der Verläßlichkeit des Zeuges ist sie ihrer Welt gewiß.“ Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 2005, S. 28. Vgl. hierzu auch Sandro Ratt: Die Dynamik des Stillgestellten. Heideggers Deutung der Kunst, museologisch gelesen. Tübingen 2009, S. 44-49. 210 Sowohl in alltagskommunikativen als auch in verschiedensten theoretischen Kontexten wird zur Veranschaulichung dieser präreflexiv abgestimmten Akteur/UmweltKorrespondenz gerne die Metapher des „Fisches im Wasser“ bemüht. Vgl. etwa Bourdieu 1989, S. 397; Weiss 1946, S. 31.

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handelt“.211 Aufgrund dieser daseinsstabilisierenden Effekte bildet sie das tragende Fundament des Alltags. Sie ist die zentrale Bedingung der Möglichkeit fraglos selbstverständlichen Agierens, geht mit einer weitreichenden Naturalisierung der jeweils vorherrschenden Daseinsverhältnisse einher und eröffnet somit jene „Sphäre guter Bewährungen“, in der die unthematische Gegebenheitsweise des Gewohnten gründet. Was oben aber als ein zentrales Merkmal des Ordnungsgefüges erwähnt wurde, muss abschließend auch hinsichtlich der Ordnung des faktischen Lebensvollzugs Berücksichtigung finden: Die tragenden Parameter ihrer jeweiligen Realisierung unterliegen fortwährend einem dialektisch dynamisierten Wandel. Entscheidend ist hierbei zum einen, dass die genannten soziomateriellen Strukturierungselemente der gegebenen Umwelt nicht als Determinanten aufzufassen sind, sondern als praxisprägende Faktoren, die spezifische Spielräume formieren und im Rahmen dieser Spielräume letztlich unerschöpfliche Handlungsoptionen eröffnen. Zum anderen ist in Anschlag zu bringen, dass die somit stets nur bedingt strukturierten Praktiken ihrerseits strukturierend auf die jeweiligen Strukturierungselemente zurückwirken und diese hierbei wiederum nur bedingt reproduzieren. Aufgrund der genannten Möglichkeitsspielräume, insbesondere aber infolge situativ variierender Strukturkonstellationen sowie der prinzipiellen Unaufhebbarkeit des Kontingenten, lässt sich die lebensweltkonstituierende Akteur/Umwelt-Korrespondenz also nicht im Sinne eines starren Gerüstes verstehen – vielmehr entspricht sie einer dynamischen, im Grunde höchst fragilen Beziehungskonfiguration, deren relative Dauerhaftigkeit nur vermittels tiefgreifender Stabilisierungs- und Immunisierungsmechanismen gewährleistet werden kann.

4. ORDNUNGSRELATIONALE BEDROHUNGEN Den bisherigen Ausführungen zufolge stehen weder Ordnungsgefüge noch existentielle Ordnungen jemals still. Sowohl die soziomateriellen Konfigurationen aus Akteuren, Dingen, Artefakten, Techniken, Institutionen, Regeln und Gesetzen als auch die in diesen Konstellationen sich herausbildenden Akteur/UmweltKorrespondenzen sind daher in einem prozessualen Sinne aufzufassen. Bevor die

211 Wolf R. Dombrowsky: Entstehung, Ablauf und Bewältigung von Katastrophen. Anmerkungen zum kollektiven Lernen. In: Christian Pfister/Stephanie Summermatter (Hg.): Katastrophen und ihre Bewältigung. Perspektiven und Positionen. Bern u.a. 2004, S. 165-183, hier S. 177.

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Arbeit nun verschiedenen Modi der Immunisierung nachgeht und sich daraufhin mit katastrophischen Immunisierungsüberlastungen befasst, soll im Folgenden zuerst allgemein danach gefragt werden, inwiefern es im Rahmen dieser dynamischen, sich in ständigem Wandel befindlichen Ordnungsprozesse zu Bedrohungen kommen kann. Möchte man sich Phänomenen der Bedrohung theoretisch nähern, gilt es zunächst zu berücksichtigen, dass sich diese stets in einem modus potentialis befinden. So evident sie im Einzelnen auch sein mögen, Bedrohungen bleiben letztlich nur als Möglichkeiten real, da sie im Zuge ihrer faktischen Realisierung augenblicklich in Verwundungen oder Zerstörungen umschlagen. Ihnen eignet demzufolge ein Moment des Präexistenten – sie sind plastische, in verschiedenen Graden bearbeitbare Phänomene, die auf eine mögliche Zukunft verweisen. Diese konstitutive Offenheit vermag einen situativen Veränderungsdruck zu evozieren, der sich zumeist in Impulsen zu (symbolischen) Praktiken der Flucht und Gegenwehr niederschlägt. Im Maße ihrer überindividuell vernommenen Relevanz transformieren sie also vorübergehend die etablierten Aufmerksamkeitsstrukturen innerhalb der betroffenen Gruppierungen. Sie dynamisieren die Kommunikationsflüsse und werden hierbei zu bedeutsamen Gegenständen machtstrukturierter und -strukturierender sozialer Aushandlungsprozesse. Neben der Plastizität des Phänomens ist auch zu bedenken, dass von Bedrohungen nur vor dem Hintergrund der Enttäuschbarkeit normativer Erwartungen gesprochen werden kann. In Bedrohungen kündigen sich Realisierungsmöglichkeiten des Ungewollten und Unerwünschten an, die das menschliche Dasein – als „Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht“212 – in seinem Sein betreffen. Da nun Ordnungsgefüge lediglich wandelbare Konfigurationen benennen, die in ihrer jeweiligen Ausprägung und hinsichtlich ihrer jeweiligen Auswirkungen zwar begrüßt, erhofft, missachtet oder gefürchtet werden können, als solche dabei aber weder bedrohbar noch verwundbar, sondern lediglich veränderbar sind, muss die Konzeptualisierung des Bedrohungsbegriffs auf der Ebene existentieller Ordnungen ansetzen. Mit Blick auf die Konstitution von Risiken formulieren etwa Douglas und Wildavsky allgemein: „Fear of risk, coupled with the confidence to face it, has something to do with knowledge and something to do with the kind of people we are.“213 Zu klären ist in unserem Zusammenhang demzufolge, wann und inwiefern die positionsspezifischen Umwelten – also die sich in beständiger Transformation befindlichen Gegebenheiten

212 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 2006, S. 191. 213 Mary Douglas/Aaron Wildavsky: Risk and Culture. An Essay on the Selection of Technological and Environmental Dangers. Berkeley u.a. 1983, S. 2.

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des Ordnungsgefüges – Aspekte aufweisen, die von den Akteuren selbst als bedrohlich empfunden werden. Vor dem Hintergrund dieser ersten Vorüberlegungen sollen Bedrohungen im Folgenden als subjektrelationale Probleme aufgefasst werden, die deshalb problematisch sind, weil sie auf Problematisches verweisen, das dem sich-inEntwürfen-selbst-vorweg-seienden Dasein zukünftig widerfahren könnte beziehungsweise aller Wahrscheinlichkeit nach widerfahren wird.214 Die Frage nach dem Bedrohlichen erweist sich somit als eine Frage nach dem Problematischen. Um nun das Problematische näher in den Blick nehmen zu können, wenden sich die nachstehenden Ausführungen den diffusen Grenzbezirken der physiopsychischen Belastbarkeit zu. Sie fragen nach den variablen Horizonten der körperlichen und kognitiven Integrations- und Reaktionspotentiale und erörtern somit die Beschaffenheit jener Randbereiche, die als flexible Arrondierungen der Möglichkeitsräume des vertrauten Erfahrens, Denkens und Handelns fungieren. Jenseits der gewohnheitsfundierten Vertrautheitssphäre, so der Gedanke, herrscht das subjektrelational Außerordentliche, das so unvertraut wie real ist und aufgrund dieser Gleichzeitigkeit problematisch werden kann. „Durch Typisierung“, schreibt etwa Waldenfels in Anlehnung an Schütz, „entsteht eine Welt des Vertrauten. Doch das Atypische ist beiseitegesetzt, aber nicht ein für allemal ausgeschieden; es ist das Unvertraute, das sich in kritischen Erfahrungen und Krisensituationen zu Wort meldet und neue Antworten provoziert.“215 Wenngleich sie in der Regel als gewisse Ordnungen erfahren werden, sind existentielle Ordnungen somit stets als Ordnungen im Ungewissen zu verstehen. So weit ihre

214 Vgl. Heidegger 2006, S. 192: „Dasein ist immer schon ‚über sich hinaus‘, nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist. Diese Seinsstruktur des wesenhaften ‚es geht um …‘ fassen wir als das Sich-vorweg-sein des Daseins“ (Hervorhebungen im Original). Plessner sieht hierin ein anthropologisches Spezifikum: „Alles Lebendige, soweit es tierisch organisiert ist, ängstigt sich, wenn es Bedrohung […] merkt. Aber bis auf den Menschen kennt es keine Sorge um das eigene Dasein oder gar um das Dasein anderer Wesen. Es kennt keine Furcht vor gefahrbringender Wirklichkeit, denn es lebt sich nicht vorweg.“ Plessner 1928, S. 318f. (Hervorhebungen im Original). 215 Bernhard Waldenfels: Im Labyrinth des Alltags. In: Ders./Jan. M Broekman/Ante Pažanin (Hg.): Phänomenologie und Marxismus. Band 3. Sozialphilosophie. Frankfurt am Main 1978, S. 18-44, hier S. 24. Vgl. hierzu auch Ders.: Das Ordentliche und das Außer-ordentliche. In: Bernhard Greiner/Maria Moog-Grünewald (Hg.): Kontingenz und Ordo. Selbstbegründung des Erzählens in der Neuzeit. Heidelberg 2000, S. 1-13.

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Integrationskraft auch reichen mag, bleiben sie letztlich doch von einer „Sphäre der Unberechenbarkeit“216 gerahmt, die man auf Dauer weder ignorieren noch beherrschen kann. Der infinite Kosmos des Ausgegrenzten, jene unhintergehbare Offenheit, die jede existentielle Ordnung umschließt, sickert gleichsam immer wieder in die gesicherten Lebenswelten der einzelnen Akteure ein. Diese Einbrüche ins Vertraute äußern sich in zahlreichen kontingenten Ereignissen, die im Rahmen des konkreten Lebensvollzugs als mehr oder weniger problematische Probleme erfahren werden. Im Anschluss an den oben gewonnenen Begriff existentieller Ordnung lassen sich außerordentliche Ereignisse nun als Durchbrechungen der eingelebten Akteur/Umwelt-Korrespondenzen beschreiben. Problematisch werden diese Ereignisse dann, wenn sie normativen Entwürfen widersprechen und aufgrund ihrer Evidenz oder Persistenz nicht ohne weiteres ausgeblendet werden können. Dies trifft zum einen auf Situationen zu, in denen sich ein auftretendes Phänomen einer sinnhaften Einordnung widersetzt und daher (vorerst) unbeantwortbare Fragen aufwirft.217 Zum anderen trifft dies aber freilich auch dann zu, wenn das Begegnende zwar verstehbar, als solches jedoch unerwünscht ist – wenn es Hoffnungen und Erwartungen falsifiziert, wenn es etablierte Denk- und Handlungsweisen verunmöglicht oder die Funktionen des körperlichen Organismus beeinträchtigt. Somit handelt es sich hierbei also um Phänomene, die im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht ohne Weiteres aufgehoben werden können, obwohl eine – wie auch immer motivierte – Notwendigkeit zu deren Aufhebung besteht. Es geht um Situationen, in denen die Wissens- und Handlungsmuster der Akteure vorübergehend nicht mehr mit den jeweiligen Umweltbedingungen eines Handlungskontextes korrespondieren – um Situationen, in denen die Akteure mit etwas Neuem, Fremdem, Unerwartetem konfrontiert werden, das sie zu einer Reaktion herausfordert, die sich auf der Grundlage ihres erfahrungsbasierten Repertoires an Typisierungen und Handlungsrezepten nicht situationsadäquat verwirklichen lässt. Ist man nun bestrebt, die Ursachen und Effekte solcher potentiell bedrohlichen Probleme in ihrer Relation zur lebensweltlichen Wahrnehmung, Orientierung und Praxis der Akteure näher analysieren zu können, so dürfte es hilfreich sein, sich mit den Schützʼschen Überlegungen zum Problem der Relevanz ver-

216 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main 2014, S. 10. 217 So geht etwa auch die Logotherapie in ihren Ansätzen von einem existentiellen Sinnbedürfnis aus. Vgl. hierzu Viktor E. Frankl. Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Bern 1972.

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traut zu machen. Schütz geht es hierbei um die grundlegende Frage nach den Selektivitätsstrukturen des alltäglichen Erfahrens und Handelns. Er möchte klären, welche „Interessenkonstellationen“218 die Aufmerksamkeit der Akteure leiten, welche Deutungsmechanismen diese variierenden Fokussierungen begleiten und welche Faktoren die damit verknüpften handlungsrelevanten Entscheidungsprozesse strukturieren. In synthetisierender Auseinandersetzung mit Ansätzen von Husserl, Bergson, William James und Aron Gurwitsch entwickelt er ein begriffliches Instrumentarium, vermittels dessen analysiert werden kann, wann, wie, aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen spezifische Themen zum Gegenstand des subjektiven Bewusstseins werden, und unterscheidet in diesem Zusammenhang idealtypisch zwischen den empirisch stets eng miteinander verflochtenen Formen der „thematischen Relevanz“, der „Interpretationsrelevanz“ und der „Motivationsrelevanz“. Von thematischer Relevanz ist bei Schütz zunächst ganz allgemein dann die Rede, wenn sich ein Gegenstand beziehungsweise Sinnzusammenhang vom nichtthematisierten Hintergrund fraglos gegebener Vertrautheit abhebt und so als explizites Thema in den Fokus der subjektiven Aufmerksamkeit gerät. Hierbei unterscheidet er zwischen „auferlegter“ und „motivierter“ thematischer Relevanz. Auferlegt sei diese dann, wenn sie den Charakter einer erzwungenen Aufmerksamkeit habe, also in Situationen, in denen man plötzlich mit etwas Unvertrautem konfrontiert werde, das insofern eine explizite Thematisierung erfordere als es den ursprünglichen, auf sedimentierten Vorerfahrungen beruhenden Situationsentwürfen nicht entspreche – es handle sich dabei um einen „Themenwechsel, der infolge eines Bruchs in den automatischen Erwartungen (allgemeiner: infolge einer Stockung in den lebensweltlichen Idealisierungen) zustande kommt.“219 Demgegenüber bezeichnet die motivierte thematische Relevanz all jene Formen der Aufmerksamkeitsfokussierung, denen eine freiwillige Zuwendung zugrunde liegt. Dies erfolge beispielsweise dann, wenn man sich bewusst auf eine unvertraute Gesamtsituation einlasse und ihr demzufolge von vornherein mit gesteigerter Aufmerksamkeit begegne – Schütz spricht hierbei ebenfalls von einem „Themenwechsel“ –, oder aber, wenn man sich im Zuge der Auslegung eines Themenhorizontes spezifischen Implikationen zuwende, die nun ihrerseits eigens thematisch würden – wobei diese innere „Themenentwicklung“

218 Vgl. Thomas Luckmann: Einleitung. In: Alfred Schütz: Das Problem der Relevanz. Frankfurt am Main 1982, S. 7-23, hier S. 22. 219 Schütz/Luckmann 1979, S. 232.

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gleichfalls in einen „Themenwechsel“ münden könne, „wenn das Hauptthema zugunsten einer Subthematisierung aufgegeben wird“.220 Während es bei der thematischen Relevanz also um eine begriffliche Differenzierung jener Vorgänge geht, durch die ein Gegenstand zu einem abgehobenen Thema des Bewusstseins wird, sollen unter dem Begriff der Interpretationsrelevanz verschiedene Modi der Themenbehandlung einer näheren Analyse zugeführt werden: „Was geschieht […], wenn ein Thema einmal ‚da‘ ist?“221 Auch in diesem Zusammenhang unterscheidet Schütz zwischen einer auferlegten und einer motivierten Form. Mit auferlegter Interpretationsrelevanz bezeichnet er all jene thematischen Gegebenheitsweisen, die durch eine sich in „passiven Synthesen“222 vollziehende adäquate Deckung zwischen Thema und Wissenselementen gekennzeichnet sind. In diesen problemlosen Wahrnehmungsvollzügen werde die Interpretationsrelevanz der betreffenden Themen selbst nicht thematisch – bei „routinemäßiger Deckung ist ‚Interpretation‘ automatisch. Es erfolgt keine explizit urteilende Auslegung, in der einerseits das Thema, andererseits relevante Wissenselemente gesondert in den Griff des Bewusstseins kommen und miteinander ‚verglichen‘ werden.“223 Demgegenüber bezieht sich die motivierte Interpretationsrelevanz auf thematische Gegebenheitsweisen, die im Rahmen routinisierter Typisierungen nicht ohne weiteres eingeordnet werden können. In diesem Fall seien die jeweiligen Auslegungsprozesse also nicht durch eine gewohnte Situationskonstellation auferlegt, sondern resultierten vielmehr aus der Motivation zur Lösung eines aufgetretenen Problems. Jede auferlegte thematische Relevanz kann demzufolge in eine motivierte Interpretationsrelevanz umschlagen, sofern sich ihre Ursachen nicht in hinreichendem Maße klären beziehungsweise beheben lassen.

220 Ebd., S. 238. Am Rande sei erwähnt, dass in den „Strukturen der Lebenswelt“ auch die „hypothetische Relevanz“ – im Sinne einer erzwungenen Aufmerksamkeit für ein Thema, das künftig relevant sein könnte – als eigener Typus thematischer Relevanz unterschieden wird. Da der genannte Aspekt aber in den Strukturen der anderen Relevanztypen (vgl. „auferlegte thematische Relevanz“; „motivierte thematische Relevanz“; „motivierte Interpretationsrelevanz“) aufgeht, wird diese Unterscheidung hier nicht eigens berücksichtigt. Im Übrigen beschränkt sich auch Schütz in anderen Publikationen auf die hier von uns genannten Typen. Vgl. Schütz 1982. 221 Schütz/Luckmann 1979, S. 241. 222 Ebd., S. 244. Vgl. hierzu auch Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis (1918-1926). Husserliana Band XI. Den Haag 1966. 223 Schütz/Luckmann 1979, S. 242.

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Schütz unterscheidet nun drei mögliche Entstehungszusammenhänge solcher auslegungsmotivierender Probleme. Wie bereits oben verdeutlicht, entstehe ein Problem, erstens, „wenn eine aktuelle Erfahrung nicht schlicht in einen im Wissensvorrat vorhandenen Typus – und zwar auf der situationsrelevanten Ebene der Typ-Bestimmtheit – ‚hineinpasst‘.“224 Sofern und soweit sich also ein Wahrnehmungsgegenstand, dessen Deutungsmöglichkeiten ja prinzipiell unerschöpflich sind, ohne Widerstände der jeweiligen Typisierung füge, komme dessen Erfahrung in der Regel schnell zu einem unproblematischen Ende und gebe keinen Anlass zu weiteren Auslegungen des in der Erfahrung verborgen mitgegebenen Gegenstands- beziehungsweise Themenhorizontes. Setze die aktuelle Erfahrung einer solchen Zuordnung jedoch Widerstände entgegen, so werde der Gegenstand problematisch und erscheine auslegungsbedürftig. Dies sei etwa dann der Fall, wie Schütz an anderer Stelle anhand des erhellend banalen Beispiels eines (vermeintlichen) Pilzfundes veranschaulicht,225 wenn spezifische Erwartungen, die mit einer bisher geltenden Typisierung verknüpft waren, nicht eintreten; also dann, wenn einzelne der typusgemäß appräsentierten Aspekte eines Gegenstandes im faktischen Vollzug der Gegenstandserfahrung auf eine Art zur Selbstgegebenheit kommen, die der – nun erinnerten – vormaligen Appräsentation widerspricht. Ein Problem könne aber nicht nur aufgrund der erfahrungsbasierten Enttäuschung typusspezifischer Entwürfe entstehen, sondern, zweitens, auch dann, „wenn zwar die Erfahrung in einen im Wissensvorrat vorhandenen Typus ‚hineinpasst‘, aber die Bestimmtheit des Typus zur Bewältigung der Situation nicht ausreicht, das heißt, wenn sich herausstellt, daß die im Typus sedimentierten Auslegungsprozesse ‚zu früh‘ unterbrochen wurden.“226 Problematisch erscheint ein Wahrnehmungsgegenstand aus dieser Perspektive also auch dann, wenn sich durch einen Wandel der situativen Gegebenheiten, beispielsweise durch veränderte physische Bedürfnisse, die bisherige Vertrautheit mit ihm als unzureichend herausstellt, so dass eine weitere beziehungsweise tiefere Auslegung der Gegenstandshorizonte notwendig wird. Dies ist etwa dann der Fall, um nochmals an das oben erwähnte Beispiel anzuknüpfen, wenn man einen Pilz zwar eindeutig als Pilz typisieren kann, nun aber hungrig ist und daher zusätzlich wissen müsste, ob es sich um einen essbaren oder um einen giftigen Pilz handelt.

224 Ebd., S. 246. 225 Vgl. ebd., S. 30-37. Auch Reiner Keller knüpft in seinen Erörterungen zum Verhältnis zwischen Risikoereignissen, Risikodiskursen und symbolischen Ordnungen an dieses Beispiel von Schütz und Luckmann an. Vgl. Keller 2011b, S. 290f. 226 Schütz/Luckmann 1979, S. 246.

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Schließlich könne etwas, drittens, auch zum Problem werden, „wenn aufgrund einer aktuellen Erfahrung die Unverträglichkeit […] zwischen zwei im Wissensvorrat bisher fraglos mitbestehenden Wissenselementen ins Bewusstsein tritt, wenn also ein aktuelles Thema mit zwei sich als relevant anbietenden Wissenselementen in Deckung zu bringen ist, diese Elemente aber wechselseitig unverträglich sind.“227 Wie im ersten und im zweiten Fall motiviert auch eine solche ambivalente Erfahrungsform zu weiteren Auslegungsprozessen, um einerseits zu einer hinreichenden Gegenstands- beziehungsweise Themenbestimmung zu kommen und um andererseits die jeweiligen Typisierungen dementsprechend differenzieren oder transformieren zu können. Im Rahmen der „natürlichen Einstellung“228 des Alltagsvollzugs führe die Vorherrschaft des pragmatischen Motivs dabei im Allgemeinen dazu, dass die prinzipiell unabschließbare Horizontauslegung der Erfahrungsgegenstände immer nur so weit vorangetrieben werde, wie es zur Bewältigung der jeweiligen lebensweltlichen Problemsituation notwendig sei. Den bisherigen Ausführungen zufolge strukturieren thematische Relevanzen die Prozesse der Aufmerksamkeitsverteilung und Interpretationsrelevanzen die Reichweite der jeweiligen Ausdeutung eines gegebenen Themas. Die dritte idealtypisch differenzierbare Kategorie, jene der Motivationsrelevanz, bezieht sich demgegenüber nun in erster Linie auf zentrale Strukturierungsformationen des Handelns. Auch hinsichtlich dieser Form der Relevanz können Schütz zufolge zwei Varianten unterschieden werden: Motivationen im „Um-zu-Zusammenhang“ und Motivationen im „Weil-Zusammenhang“. Motivationen im „Um-zuZusammenhang“ beziehen sich auf „Handlungsentscheidungen, die im Sinnzusammenhang von Planhierarchien stehen“229 – also auf Entscheidungen, deren motivierende Wichtigkeit sich daraus ergibt, dass sie in einem sinnhaft rekonstruierbaren Bezug zu übergeordneten Tages- und Lebensplänen stehen. Was Schütz nun als „Um-zu-Zusammenhang“ bezeichnet, entspricht der vom jeweiligen Handelnden – in Abhängigkeit seines individuellen Wissensvorrats und der von ihm erfassten situativen Gegebenheiten – entworfenen Motivationskette, die ausgehend von einem verfolgten Handlungsziel in quasikonsequenten Etappen bis zur je konkreten Entscheidungssituation zurückführe. Gemäß der oben umrissenen Grundstruktur des sinnorientierten Handelns ist hierbei also entschei-

227 Ebd. 228 Schütz verwendet diesen Terminus in Anlehnung an Schelers Begriff der „relativnatürlichen Weltanschauung“. Vgl. Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Leipzig 1926, S. 58f. 229 Schütz/Luckmann 1979, S. 255f.

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dend, „daß das Handlungsziel den Handlungsentwurf in seinen verschiedenen Phasen, einschließlich des Handlungsansatzes, motiviert.“ 230 Es handelt sich bei dieser Form der Motivationsrelevanz somit um einen aktuell vernehmbaren Rückwirkungssog zukunftsbezogener Wollens- und Sollensentwürfe, der dazu führt, dass den konkreten Entscheidungen ein teleologisch vermitteltes Gewicht zukommt, das die rein situativ nahegelegten Relevanzen entsprechend überschreitet. Nun sind Handlungsentscheidungen aber nicht nur durch zukünftige Ziele, sondern insbesondere auch durch vergangene Erfahrungen motiviert. Schütz spricht hierbei von „Motivationen im Weil-Zusammenhang“ und betont in diesem Kontext die biographische Bedingtheit subjektiver Einstellungen. Unter einer Einstellung versteht er ein „aus Erwartungen, hypothetischen Relevanzen, Handlungsentwürfen, Fertigkeiten und anderen Elementen des Gewohnheitswissens wie aus ‚Gemütszuständen‘ bestehendes ,Syndrom‘“ 231 – ein „Syndrom“ also, das sich im Zusammenhang bisheriger Erfahrungen herausgebildet hat, als Gewohnheitswissen zu einem „habituellen Besitz“232 wurde und im Falle seiner situativen Aktivierung die Relevanz der jeweils aktuellen Aufmerksamkeitsfokussierungen, Auslegungsmechanismen und Handlungsentscheidungen gemäß diesen Vorerfahrungen prägt. Letztlich weist Schütz aber darauf hin, dass Umzu-Zusammenhänge und Weil-Zusammenhänge in einer weitreichenden Wechselbezüglichkeit verstanden werden müssten: Rückwirkend motivierende Handlungsziele sind stets auch von biographisch bedingten Einstellungen motiviert; Einstellungen wiederum konstituieren sich ihrerseits immer auch im Rahmen einer motivierenden Verwobenheit mit übergeordneten Lebensentwürfen und daraus sich ergebenden Planhierarchien. Was eben für die beiden Varianten der Motivationsrelevanz konstatiert wurde, gilt indessen für die von Schütz erörterten Relevanzstrukturen im Gesamten. So ist zu berücksichtigen, dass thematische, interpretative und motivationsmäßige Relevanzen im faktischen Lebensvollzug eng miteinander verflochten sind und die hier rekonstruierten Unterscheidungen der Schützʼschen Konzeption daher in einem idealtypischen Sinne verstanden werden müssen. Jede Verabsolu-

230 Ebd., S. 258. 231 Ebd., S. 264. 232 Vgl. ebd., S. 266f. Aufgrund dieser auf Sedimentierungsprozessen basierenden Habitualisierung von Einstellungen entzögen sich solche Motivationen im WeilZusammenhang in der Regel dem eigenen Bewusstsein und seien, so Schütz, vom Handelnden selbst daher oftmals nicht leichter zu entdecken als von einem außenstehenden Beobachter.

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tierung ihres jeweiligen Erklärungspotentials führte analytisch in die Irre, da sie einer reduktionistischen Verfremdung des faktischen Erfahrens entspräche. Im Allgemeinen ist Schütz der Ansicht, dass sich Erfahrungen dann konstituieren, wenn „man die Aufmerksamkeit einem wohlumschriebenen Thema innerhalb der aktuellen Situation zuwendet.“233 Neben thematischen Relevanzen, die entweder aus Effekten interpretativer Relevanzen hervorgehen („Themenentwicklung“) oder durch Irritationen geweckt werden und dabei neue interpretative Relevanzen hervorbringen („Themenwechsel“) sind hierbei stets auch Motivationsrelevanzen wirksam, da sie die jeweilige Situation in Form von Einstellungen und übergeordneten Tages- und Lebensplänen entscheidend mitbestimmen. In dieser nur analytisch trennbaren Verwobenheit prägen die Relevanzstrukturen – die einerseits vom subjektiven Wissensvorrat und andererseits von den (ihrerseits wissensabhängig erfahrenen) situativen Gegebenheiten bedingt sind – den Ablauf des tagtäglichen Erfahrens und Agierens. Sie konstituieren hierbei jene Grenzlinie, an der sich das fraglos Gegebene vom Problematischen scheidet, und strukturieren somit auch die uns hier in besonderer Weise interessierenden Prozesse der Wahrnehmung, Deutung und Verarbeitung existentieller Bedrohungen. Zu Beginn unserer Ausführungen fassten wir Bedrohungen als Probleme auf, die deshalb problematisch sind, weil sie auf Problematisches verweisen, das dem Dasein zukünftig widerfahren könnte. Das Problematische wiederum definierten wir als eine Durchbrechung eingelebter Akteur/Umwelt-Korrespondenzen, die sich immer dann ereignet, wenn ein auftretendes Phänomen im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht ohne weiteres integriert werden kann, obwohl eine – wie auch immer motivierte – Notwendigkeit zu dessen Integration besteht. Vermittels der Schützʼschen Erörterungen zum Problem der Relevanz lassen sich diese Ausgangsüberlegungen differenzieren: Sie bieten der Unterscheidung zwischen dem fraglos Gegebenen und dem Problematischen ein theoretisches Fundament, zeigen dabei drei mögliche Entstehungszusammenhänge auslegungsrelevanter Probleme auf und veranschaulichen schließlich, wodurch diese Auslegungsrelevanzen im Einzelnen motiviert sein können. Dabei verdeutlichen sie, dass Probleme in allen ihren Varianten zu einer mehr oder weniger tiefgreifenden Stockung jener ordnungsfundierenden Grundannahmen führen, die Schütz in Anlehnung an Husserl als die lebensweltlichen Idealisierungen des „Und-so-weiter“ und des „Ich-kann-immer-wieder“ bezeichnet.234 Das Problematische des Problematischen erscheint aus dieser Perspektive als eine Beeinträchtigung des fraglos selbstverständlichen Vertrauens in die grundlegende

233 Ebd., S. 270. 234 Vgl. ebd., S. 29.

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Konstanz der Wirklichkeit und als eine Irritation der damit verknüpften Überzeugung, innerhalb dieser Wirklichkeit gemäß den bisherigen Vorerfahrungen immer wieder auf gleiche Weise agieren zu können. Wenn im Rahmen der hier verfolgten Argumentation das Problematische als Ausdruck einer Widerständigkeit des Realen aufgefasst wird, dessen Genese auf die notwendig begrenzten Potentiale der akteursspezifischen Integrationskapazitäten verweist, so bezieht sich dies freilich nicht nur auf kognitive Aspekte. Bereits in den skizzierten Ausführungen von Schütz ist vielmehr die Dimension des Leibkörpers als konstitutives Medium des Erfahrens und Agierens stets mitzudenken. Mit Verweis auf Merleau-Ponty fasst dieser den Leib als einen „Nullpunkt des Koordinatensystems“ auf, der das je individuell positionierte Zentrum der zeitlich und räumlich ausgedehnten Lebenswelt darstelle.235 Dabei berücksichtigt er körpergebundene Strukturierungseffekte des Wissenserwerbs genauso wie die Wissensdurchdrungenheit des Körpers. So veranschaulicht Schütz etwa, wie sich durch wiederholungsbasierte Prozesse der Routinisierung und Sedimentierung spezifischer Handlungsabläufe selbstverständlich verfügbare „Fertigkeiten“ herausbilden – und beschreibt damit einen ontogenetischen Zusammenhang, dem bekanntlich auch innerhalb des Bourdieuʼschen Habitus- beziehungsweise Hexiskonzeptes größte Bedeutung zukommt. Hierbei handle es sich um „auf die Grundelemente des gewohnheitsmäßigen Funktionierens des Körpers aufgestufte gewohnheitsmäßige Funktionseinheiten der Körperbewegung“236, die wiederum einen zentralen Bestandteil des „Gebrauchswissens“ und der daran gebundenen routinemäßigen Lösung alltäglich wiederkehrender „Probleme“237 darstellten. Da der Leibkörper nun aber nicht in seiner Wissensdurchdrungenheit aufgeht, also nicht ausschließlich ein Produkt diskursiver Disziplinierungsmechanismen und

235 Vgl. ebd., S. 135f.; Schütz 1982, S. 213-216; Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 125f. Siehe hierzu auch Hubert Knoblauch: Kulturkörper. Die Bedeutung des Körpers in der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. In: Markus Schroer (Hg.): Soziologie des Körpers. Frankfurt am Main 2005, S. 92-113, dort S. 101; Ilja Strubar: Kosmion. Die Genese der pragmatischen Lebenswelttheorie von Alfred Schütz und ihr anthropologischer Hintergrund. Frankfurt am Main 1988, S. 57. 236 Schütz/Luckmann 1979, S. 140. 237 Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass es sich hierbei genau genommen ja lediglich um ehemalige Probleme handelt, die bis auf weiteres gelöst wurden. Solche Begebenheiten ziehen in der Regel keine Irritationen mehr nach sich, da die jeweiligen Problemlösungen zu einem festen Bestandteil des Wissensvorrats geworden sind.

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biographischer Habitualisierungsprozesse ist, sondern eigenmächtige Dimensionen des Vermögens und Unvermögens beinhaltet, die in die Konstitution seiner soziokulturell vermittelten Realisierung stets miteingehen, müssen in diesem Zusammenhang auch vulnerabilitäts- und resilienzprägende Integrationspotentiale diesseits inkorporierter Wissensformen mitberücksichtigt werden: Begrenzungen der Lebendigkeit, des Wahrnehmungsfeldes, der Beweglichkeit und Belastbarkeit, die zwar als solche nicht festgelegt sind, zugleich aber stets nur bedingt formbar bleiben und letztlich nicht ohne existentielle Einbrüche überschritten werden können. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen zeichnet sich ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Geordneten und dem Problematischen ab. Als Außerordentliches erscheint das Problematische an den Grenzlinien geordneter Vertrautheit und führt im Maße des von ihm aufgeworfenen Integrationsdrucks zu Reaktionen, die erfahrungsbedingte Transformationsprozesse nach sich ziehen und damit die genannten Arrondierungen der lebensweltlichen Bewährungssphäre immer wieder verschieben. Bei den akteursspezifischen Wissens- und Handlungsmustern handelt es sich aus dieser Perspektive um Problemlösungsformeln, die sich durch eigene oder sozial vermittelte Erfahrungen herausbilden und es nach Maßgabe dieser Vorerfahrungen ermöglichen, die potentiellen Widerständigkeiten einer je aktuell gegebenen Umweltkonfiguration in spezifischer Weise aufzuheben. Im Falle problematischer Einbrüche sind dabei entsprechende auslegungsbasierte Modifikationen notwendig, die sich im Zuge erneuter Prozesse der Routinisierung, Habitualisierung und Sedimentierung zunehmend festigen. Existentielle Ordnungen entwickeln sich demzufolge in fortwährender Auseinandersetzung mit widerstandsbedingten Problemsituationen, deren jeweilige Lösung einerseits zu einer Ausdifferenzierung oder Neujustierung der Akteur/Umwelt-Relationen führt, damit andererseits aber auch neue Sensibilitäten und Verwundbarkeiten schafft, die wiederum neue Umweltwiderstände hervorrufen und somit neue Problemlösungen erforderlich machen. Im Anschluss an Berger und Luckmann kann man hierbei nun zwischen unproblematischen Problemen und problematischen Problemen unterscheiden.238 In beiden Fällen kommt es zu einem Einbruch gewohnter Akteur/UmweltKorrespondenzen und somit zu einer Stockung der lebensweltlichen Idealisierungen. Während erstere sich aber durch Bewältigungsprozesse im Rahmen bestehender Deutungs- und Handlungsmuster aufheben lassen, dabei die Routinewirklichkeit der Lebenswelt im Grunde nicht zerstören und insofern nur Transformationen hervorrufen, die einer Ausdifferenzierung der bestehenden Ordnung

238 Berger/Luckmann 2001, S. 26f.

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entsprechen, führen letztere – sofern sie überhaupt bewältigt werden können – zu einer grundlegenden Neujustierung dieser Ordnungsverhältnisse. Problematische Probleme müssen als tiefgreifende Verwundungen der physiopsychischen Existenzmatrix verstanden werden. Sie betreffen die gewohnte Konstitution des Leibkörpers und stellen Wissensbestände aus der Tiefenschicht des Nomischen in Frage.239 Da sie an substanzielle Bedingungen des bisherigen Selbst- und Weltbezugs der Akteure rühren, führen sie die etablierten Planhierarchien der jeweiligen Um-zu-Zusammenhänge ad absurdum und verhindern somit eine rasche Rückkehr in den vertrauten Modus des selbstverständlichen Lebensvollzugs. Es handelt sich hierbei also um Korrespondenzeinbrüche, zu deren Bearbeitung und nachhaltigen Überwindung es der Herausbildung neuer Wissensund Praxisformen bedarf. Ob und in welchem Maße außerordentliche Widerfahrnisse nun als Begebenheiten erscheinen, die in diesem Sinne problematische Probleme zeitigen könnten, ist demzufolge die zentrale Beurteilungsgrundlage ihres ordnungsrelationalen Bedrohungspotentials.

5. IMMUNISIERTE RÄUME Aufgrund ihrer Weltoffenheit leben menschliche Akteure in bedrohlich unübersichtlichen Verhältnissen. Die positionsspezifischen Umwelten, so könnte man im Anschluss an Gehlen formulieren, haben den Charakter „eines ‚Überraschungsfeldes‘, in das die erfolgreiche Praxis sozusagen Inseln des Neutralisierten und Gewohnheitssicheren eingebaut hat.“240 Vor dem Hintergrund der permanenten Transformationsdynamiken des Ordnungsgefüges stellt sich nun aber die Frage, ob und inwiefern diese insularen Existenzräume – also die im rezeptiv-expressiven Daseinsvollzug als Lebenswelten erfahrenen und bewohnten

239 In Anlehnung an Estel ist hier mit „nomischem Wissen“ das grundlegend orientierungsstiftende und wirklichkeitslegitimierende Wissen der Akteure gemeint – also „mythisches, religiöses, ideologisches, moralisches u.ä. Wissen […], das den Menschen angibt, was die Dinge ‚in Wirklichkeit‘, d.h. nach ihrem Wesen, ihrem eigentlichen Rang und Wert sind“. Estel 2002, S. 102. Vgl. hierzu auch Ders.: Soziale Vorurteile und soziale Urteile. Opladen 1983, S. 262-280. 240 Gehlen 1964, S. 99. Gehlen bezieht sich an dieser Stelle zwar auf die Naturerfahrung in archaischen Kulturen, in „Der Mensch“ hat er den Zusammenhang zwischen Weltoffenheit, Überraschungsfeld und Gewohnheitssicherung jedoch an verschiedenen Stellen auch seiner allgemeinen Struktur nach behandelt. Vgl. hierzu etwa Gehlen 1958, S. 140f.

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Umwelten – eine vertrauenswürdige241 Form von Dauerhaftigkeit entwickeln können. Da der Leibkörper sowie der daran gekoppelte Fundus an Wissensgewissheiten und Handlungsroutinen im Grunde höchst verwundbar sind, bedarf die Ausprägung belastbarer Formen lebensweltlicher Dauerhaftigkeit der unterstützenden Wirkung nachhaltiger Stabilisierungs- und Sicherungsverfahren. Diese – auf unterschiedlichen Ebenen beobachtbaren und in verschiedenen Maßen bewusst regulierten – Vorgänge, Strategien und Techniken zur Prävention problematischer Probleme sollen im Folgenden unter dem Begriff der Immunisierung beleuchtet werden.242 Das Adjektiv immun wurde im 18. Jahrhundert aus dem lateinischen immunis („frei, unberührt, rein“) entlehnt, dessen ursprüngliche Verwendung in einem privativen Sinne zum Ausdruck brachte, dass jemand oder etwas von der Last eines munus – eines Amtes, einer Aufgabe, einer Verpflichtung – entbunden war.243 Hieraus entwickelte sich im 19. Jahrhundert sowohl eine politischrechtliche als auch eine biologische beziehungsweise medizinische Inanspruchnahme des Begriffs, die seine bis heute gebräuchlichen Bedeutungen hervorbrachten. So wird unter Immunität seither also einerseits ein Parlamentariern und Diplomaten vorübergehend garantierter Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung verstanden und andererseits die Unempfänglichkeit oder Unempfindlichkeit eines Organismus gegenüber biochemischen Krankheitserregern. Wenn im Folgenden – wie dies ja auch alltagssprachlich in verschiedenen Kontexten geläufig ist – metaphorisch vor allem an die medizinische Verwendung des Begriffs angeknüpft wird, so birgt dies freilich durchaus Gefahren. Die Rede von Immunisierungsprozessen droht in biologistische Gefilde zu führen, den Gegenständen der Betrachtung konkrete Wertigkeiten zuzuschreiben und diese Wertzuschreibungen unter der Hand zu naturalisieren. Werden also spezi-

241 Vgl. Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Konstanz/München 2014. 242 Zur kulturtheoretischen Konzeptualisierung des Immunisierungsbegriffs vgl. insbesondere Jacques Derrida: Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch. In: Jürgen Habermas/Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori. Berlin/Wien 2004, S. 117-178; Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Berlin 2004; Isabell Lorey: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Zürich 2011; Sloterdijk 2004. 243 Vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim 2007, S. 359; Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim 1994, S. 611.

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fische Ordnungsbedingungen als Gegenstände von Immunisierungsbemühungen bezeichnet, so könnte das zu implizieren scheinen, dass sich diese in einem bewahrenswerten – der Analogie entsprechend: gesunden – Zustand befinden. Zugleich droht die Begriffsverwendung den Anschein einer Pathologisierung des Außerordentlichen zu erwecken, da dessen ordnungsrelationales Bedrohungspotential im Umkehrschluss den Charakter einer einzudämmenden kontagiösen Kontaminierungsmacht bekommen könnte. Vor diesem Hintergrund soll zum einen betont werden, dass es uns im Folgenden freilich um einen werturteilsfreien Immunisierungsbegriff geht. Wie Bedrohungen in unserem Kontext als Phänomene konzeptualisiert werden, die aus konkreten lebensweltlichen Ordnungen heraus entstehen und nur in ihrem Bezug auf diese Ordnungen als Bedrohungsphänomene zu verstehen sind, so fassen wir auch die damit eng verbundenen Immunisierungsprozesse ausschließlich in einem relationalen, von sämtlichen übergeordneten Qualifizierungen unabhängigen Sinne. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff auch innerhalb des medizinischen Immunisierungsdiskurses selbst zunehmend einem demilitarisierenden und deontologisierenden Wandel zu unterliegen scheint. Dominierte hier ehedem eine militaristisch aufgeladene Beschreibungsweise, in der von martialischen Gefechten zwischen Antikörpern und Antigenen die Rede war, sowie ein Körperkonzept, das diesen als eine geschlossene, an sich seiende, definitive Gegebenheit repräsentierte und daher eine scharfe Trennung zwischen Eigenem und Fremdem nahelegte, so begannen sich diese Eindeutigkeiten in jüngerer Zeit mehr und mehr aufzulösen.244 In Opposition zu ursprünglichen Leitdifferenzen wurde ein deutlich fluiderer, prozessualer Begriff des Körpers in Stellung gebracht, der diesen als wandelbaren Effekt permanenter Austauschbeziehungen auffasst und die als Immunreaktionen bezeichneten biochemischen Vorgänge demzufolge nicht länger auf rigide Ein- und Ausschlussverfahren zu reduzieren erlaubt. Im Rahmen unseres katastrophologischen Versuchs wird mit dem Begriff der Immunisierung nun nach den Bedingungen der Möglichkeit von Ordnungspersistenz gefragt. So gilt es zu erörtern, worin jene „tendenzielle Bestandsträg-

244 Vgl. Donna Haraway: The Biopolitics of Postmodern Bodies: Determinations of Self in Immune System Discourse. In: Shirley Lindenbaum/Margaret Lock (Hg.): Knowledge, Power, and Practice: The Anthropology of Medicine and Everyday Life. Los Angeles/Berkeley 1993, S. 364-410; Esposito 2004, S. 27f.; Thomas Lemke: Immunologik – Beitrag zu einer Kritik der politischen Anatomie. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 42 (2000), Heft 3, S. 399-411; Sloterdijk 2004, S. 199f.

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heit der Lebenswelt“245 gründet, die der je konkreten Daseinsrealisierung trotz ihrer grundlegenden Offenheit einen selbstverständlichen Charakter verleiht. Sofern es hierbei um den vielschichtigen – präventiven, kurativen, kommunikativen, integrativen, exkommunizierenden, exkludierenden, isolierenden etc. – Umgang mit Außerordentlichem geht, gleicht ein solcher Immunisierungsbegriff seiner inneren Struktur nach jenem strukturell erweiterten der eben angeführten neueren medizinischen Ansätze. Sein Bedeutungsgehalt umfasst in unserem Kontext neben biochemischen aber freilich vor allem soziokulturelle Aspekte: Es geht um Stabilisierungsprozesse, die in weitreichender wechselseitiger Interdependenz sowohl biologische als auch politische, rechtliche, versicherungstechnische, architektonische, psychologische, symbolische, ideologische und religiöse Elemente umfassen. Da sich mit einem solchen kulturtheoretisch perspektivierten Immunisierungsbegriff also eine komplexe, dynamische und überaus unübersichtliche Gemengelage eröffnet, muss er durch konkrete Differenzierungen analytisch geschärft werden. Zu diesem Zweck gilt es im Folgenden zwischen den Dimensionen der existentiellen und der sozialen Immunisierung sowie zwischen den Formen der immanenten und der transzendenten Immunisierung in ihren jeweiligen impliziten und expliziten Ausprägungen zu unterscheiden. 5.1 Existentielle Immunisierung Der Begriff der existentiellen Immunisierung bezieht sich auf die Dimension des Einzeldaseins. Er bezeichnet somit sämtliche Prozesse, die dem Schutz des individuellen Lebens dienen – unabhängig davon, ob sich diese bewusst oder unbewusst vollziehen beziehungsweise ob ihnen eine spezifische Intention vorausgegangen ist oder nicht. Notwendig sind solche Immunisierungsprozesse aufgrund einer unaufhebbaren Schutzbedürftigkeit, die ihren Ursprung zum einen in der Verwundbarkeit des Leibkörpers und zum anderen in der exzentrischen Positionalität des menschlichen Daseins hat.246 Indem sie die Physis protegieren und zur Ausbildung stabiler Selbst- und Weltbezüge beitragen, ermöglichen sie den Akt-

245 Hans Blumenberg: Theorie der Lebenswelt. Berlin 2010, S. 105. 246 Wenngleich sie strukturell in letzter Konsequenz also auf konstitutive Grundzüge des Existierens zurückführbar sind, käme es freilich einer bedenklichen Vereinseitigung gleich, ihr Wesen generell auf diesbezügliche Funktionen zu reduzieren. Zudem müsste auch bei einer rein funktionalistischen Betrachtungsweise bedacht werden, dass sich die faktische Funktion von Immunisierungen zumeist nicht auf dieser basalen Bezugsebene ansiedeln lässt, handelt es sich bei Immunisierungen in der Regel doch vielmehr um Immunisierungen von Immunisierungen.

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euren ein gesichertes Agieren in den offenen „Überraschungsfeldern“ ihres tagtäglichen Lebensvollzugs. Existentielle Immunität muss vor diesem Hintergrund als ein plastisches Phänomen aufgefasst werden, dem eine Vielzahl an heterogenen Faktoren zugrunde liegt. Zunächst ergibt sie sich aus den Responsivitätspotentialen der physiopsychischen Ordnungsdispositionen. Auf dieser Ebene entspricht sie also dem akteursspezifischen Vermögen, das Begegnende auf unproblematische Weise begegnen zu lassen und ihm somit den potentiell verwundenden „Stachel des Fremden“247 zu entziehen. Die Plastizität der hierfür ausschlaggebenden Reaktions- und Integrationsmöglichkeiten basiert dabei in erster Linie auf der Lernfähigkeit und Kreativität der Akteure – also auf ihrem Vermögen, neue Erfahrungen zu verinnerlichen und mit verinnerlichten Erfahrungen schöpferisch umzugehen. Lernfähigkeit und Kreativität sind damit die zentralen Antriebskräfte eines expansiven, grenzerweiternden und für Außerordentliches prinzipiell geöffneten Immunsystems, das die einzelnen Akteure mit weitreichenden Entbindungs- und Erneuerungspotentialen versieht. Der lernende Leibkörper erweitert seine Immunität nicht nur vermittels biochemischer Vorgänge der Herausbildung spezifischer Antikörper, die ihn vor eindringenden Krankheitserregern und Giften schützen, sondern durch basalmaterielle Abstimmungsprozesse im Allgemeinen. So führen die häufigen Wiederholungen von Praktiken und die Inkorporierung der hierbei gewonnenen Erfahrungen zu einer weitreichenden Ausdifferenzierung des Körperwissens. Durch fortwährende Feinjustierungen im Rahmen routinisierter Bewegungsabläufe kommt es dabei zu einer zunehmenden Aufhebung materialitätsbedingter Widerstände. Es vermag sich eine sensible präreflexive Abgestimmtheit zu entwickeln, eine „Stringenz zwischen dem Menschen und seiner Umwelt“248, die den Akteur schützt und entlastet. Infolge grundlegender Unverfügbarkeiten, Transformationsprozesse und Integrationsversäumnisse – etwa im Sinne einer Vernachlässigung der praxisbedingten Untergrabung von Praxisbedingungen – hält sich diese eingelebte basalmaterielle Verwobenheit aber freilich nicht in konstanter dialektischer Aufhebung. Vielmehr wird die beschriebene Feinabstimmung zuweilen

247 Vgl. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main 1990. 248 Martin Scharfe: Signatur der Dinge. Anmerkungen zu Körperwelt und objektiver Kultur. In: Gudrun M. König (Hg.): Alltagsdinge. Erkundungen der materiellen Kultur. Tübingen 2005, S. 93-116, hier S. 96f. In Auseinandersetzung mit der Signaturenlehre Jakob Böhmes und Jakob von Uexkülls Beobachtungen zum kontrapunktischen Mensch-Ding-Verhältnis geht Scharfe hierbei insbesondere dem materiell grundierten Wechselbezug zwischen Leib- und Objektwelt nach.

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von eruptiven Ereignissen durchbrochen, die eine umfassende Neujustierung etablierter Praxisvollzüge erfordern und den beschriebenen Immunisierungsprozess des Leibkörpers immer wieder aufs Neue dynamisieren. Neben dem Schutz vor materiellen Widerständen umfasst die existentielle Immunisierung auch einen Schutz vor den bedrohlichen Effekten der Weltoffenheit. Zwar hat es den Charakter einer fragwürdigen, konservativ tendenziösen Einseitigkeit, wenn Gehlen, wie Odo Marquard formuliert, „den Menschen zentral als Defektflüchter [bestimmt], der nur durch Kompensationen zu existieren vermag.“249 Zwar kann man, wie Heinrich Popitz bemerkt, die Hervorbringung kultureller Güter auch auf eine entsprechende „Organeignung“ statt auf einen „Organmangel“ zurückführen,250 oder, wie Sloterdijk vorschlägt, von einem verwöhnten „Luxuswesen“ statt von einem bedürftigen „Mängelwesen“ ausgehen251 und somit die exzentrische Positionalität menschlicher Akteure vielmehr als Chance, denn als Bürde deuten. Zwar spricht also vieles dafür, das Phänomen der Weltoffenheit eher positiv als negativ zu verstehen, es bleibt damit aber dennoch eine Notwendigkeit zu grundlegenden Protektionsprozessen verknüpft – zu Protektionsprozessen, die vor dem semantischen Nichts und dem sensorischen Zuviel bewahren. Vor diesem Hintergrund lassen sich die subjektiven Wissensvorräte als eine immunisierende Matrix verstehen, die der drohenden Reizüberflutung produktiv-beschränkend entgegenwirkt und den Akteuren einen sinnhaft durchwobenen Orientierungsraum eröffnen. Die im Lebensvollzug angeeigneten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster transformieren offene Umwelten in relativ geschlossene Lebenswelten. Bis auf weiteres vermitteln sie den begegnenden Begebenheiten Sinn, ja lassen sie gleichsam vor jeder unmittelbaren Begegnung in fraglos selbstverständlicher Bedeutsamkeit erscheinen und legen dabei spezifische Formen des situationsadäquaten Agierens nahe. Durch gewohnte Vollzüge habitualisiert und sedimentiert, entlasten sie vom Zwang zu aktiven Wahrnehmungssynthesen, von der Not beständiger Sinnsuche und vom Druck dauerhafter Entscheidungsfindungen. Die existentielle Matrix hat so gesehen also eine fundamentale Sekurisationsfunktion, sie ist „ein erstes pragmatisches Immunsystem, das die Infektion der Psyche durch ein Übermaß an unassimilierbaren Reizen abwehrt und zugleich die Verbrennung psychischer Energien in

249 Odo Marquard: Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, S. 11-32, hier S. 27. 250 Heinrich Popitz: Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik. Tübingen 1995, S. 56. 251 Sloterdijk 2004, S. 711.

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ekstatischen Öffnungen auf das Handlungs- und Wahrnehmungsfeld hin unterbindet.“252 Nun bedarf aber die dergestalt schützende Matrix ihrerseits eines Schutzes. So sehr sie vor der Unmittelbarkeit des Offenen bewahrt, so sehr kann sie durch auftretende Probleme in Frage gestellt werden. Angesichts dieser grundlegenden Unsicherheit bedürfen existentielle Immunisierungen stets auch Mechanismen der Stabilisierung von Wissensgewissheiten und Handlungsroutinen, die den umrissenen primären Sicherungsvorgängen eine sekundär sichernde Verankerung bieten. Mit Berger und Luckmann lassen sich im Rahmen des Prozesses der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit analytisch vier Ebenen der Legitimierung institutionalisierter Ordnungselemente unterscheiden,253 die im subjektiven Wissensvorrat ihren je eigenen Niederschlag finden und in Stufen zunehmender Integrationskraft eine wissens- und wertebezügliche Immunisierung der immunisierenden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster konstituieren: „Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, was sie sind.“254 Auf der ersten Ebene, die man als Ebene tautologischer Immunisierungen bezeichnen könnte, macht sich der Effekt bemerkbar, dass Sprache gleichsam für sich selbst spricht. Sie scheint die Dinge wie selbstverständlich zum Vorschein zu bringen und ihnen gegenüber konkrete Verhaltensweisen nahezulegen. Wird die autoimmunisierende Substanz dieser vortheoretischen Ebene thematisch, so beschränkt sich dies auf Versicherungen wie „So ist es eben“ oder „Das macht man halt so“.255 Die zweite Ebene lässt sich als Ebene der pragmatischen Immunisierung verstehen. Hier sind nun insbesondere verbreitete Sprichworte, Lebensweisheiten, Legenden, Märchen oder Fabeln zu nennen, die spezifische Wissensformen, Werte und Handlungsweisen postulieren, diese in rudimentärer Form theoretisch untermauern und dabei stets eng an konkrete Anforderungen

252 Ebd., S. 709. 253 Dementsprechend verstehen sie unter Legitimierung „eine ‚sekundäre‘ Objektivation von Sinn“, deren Aufgabe es sei, „‚primäre‘ Objektivationen, die bereits institutionalisiert sind, objektiv zugänglich und subjektiv ersichtlich zu machen“. Letzteres verdeutlicht, dass auch Berger und Luckmann hierbei nicht nur an den intersubjektiven Konstruktionsprozessen interessiert sind, sondern diese zugleich im Horizont subjektiver Wirklichkeitsauffassungen analysieren. Vgl. Berger/Luckmann 2001, S. 98f. 254 Ebd., S. 100 (Hervorhebungen im Original). 255 Vgl. ebd., S. 101.

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des alltäglichen Lebensvollzugs geknüpft bleiben.256 Eine dritte Ebene der Legitimation bilden explizite Immunisierungen – differenzierte Theorien, die sich von rein pragmatischen Anforderungen gelöst haben und spezifische Wissensbestände in konkreten Argumentationssystemen erklären und rechtfertigen. 257 Ihre Verwaltung und Ausdifferenzierung obliegt zwar in der Regel den jeweiligen Experten, doch können diese Systeme in hohem Maße auch für Laien relevant sein – entweder direkt, auf der Grundlage entsprechender Wissenstransferprozesse, oder indirekt, wenn sich Nichtexperten zur Untermauerung ihres Wissens und Handelns im Sinne einer verweisenden Legitimierung auf vermeintlich expertengesicherte Gewissheiten berufen. Schließlich kann in Anlehnung an Berger und Luckmann eine vierte Ebene der Legitimation unterschieden werden, die sich, wie die Autoren formulieren, durch „symbolische Sinnwelten“ konstituiert. Hierbei handelt es sich um „synoptische Traditionsgesamtheiten, die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen“258. Im Rahmen unserer Überlegungen sollen diese „symbolischen Sinnwelten“ als transzendierende Immunisierungen bezeichnet werden. Während sich tautologische, pragmatische und explizite Immunisierungen in innerweltlichen Bezügen verorten lassen, geht es hier nun um Legitimierungen, die diese Sphäre überschreiten. Während auf den bisherigen Ebenen jeweils nur einzelne Teilgebiete des Wissensvorrats integriert wurden, zielt die vierte Ebene auf das große Ganze und damit gewissermaßen auf eine Metaintegration. Bei transzendierenden Immunisierungen handelt es sich um Mythen, Religionen und metaphysische Systeme sowie um nachmetaphysische Weltbilder, die dem Sein des Seienden einen tragenden Grund vermitteln. Die zentrale immunisierende Wirkung dieser Kosmologien, Theologien, Ontologien, Anthropologien, Ideologien und Utopien besteht darin, dass sie der Existenz einen benennbaren Ort und haltbaren Sinn zuschreiben. Sie entziehen ihr den Charakter absurder Beliebigkeit, indem sie das Alltags- und Weltgeschehen in den erhabenen Bedeutungsraum eines übergeordneten Gesamtzusammenhangs einrücken.259 Ihre fundamentalen Sicherungseffekte entfalten symbolische Sinnwelten dann, wenn immanente Immunisierungen nicht mehr greifen. So ermöglicht es

256 Vgl. ebd. 257 Vgl. ebd., S. 101f. 258 Ebd., S. 102. 259 Vgl. hierzu etwa auch Clifford Geertz: Religion als kulturelles System. In: Ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 1987, S. 44-95.

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die Bezugnahme auf überzeitliche Ideale und kosmische Zusammenhänge, gerade auch jene grundlegenden Probleme zu relativieren, die in alltagsweltlichen Kontexten unlösbar zu sein scheinen. Die imaginierte Teilhabe an der Ewigkeit des Großen und Ganzen – wie auch immer dieses im Einzelnen vorgestellt sein mag – eröffnet gleichsam Wege zu einer transzendierenden Aufhebung des innerweltlich Unaufhebbaren. Dass es sich bei symbolischen Sinnwelten immer auch um immunisierende Verortungssysteme handelt, wird also gerade angesichts existentieller Bedrohungen deutlich: „Die harmonikalen, auf Ausgleich der Gewalten, auf Form und Gerechtigkeit zielenden Weltbilder“, so Hartmut Böhme, „sind weniger aus ihrer Semantik als aus ihrer Funktion zu erklären, die sie für die grundlegende Kulturaufgabe haben: die Stillstellung der elementaren Ängste. Nicht nur der Tod, als Tribut an die gleichgültige Natur, ist dabei zentral, sondern die großen Sphären der Gewalten, welche in der Tetrade der Elemente zusammengefasst sind.“260 Symbolische Sinnwelten geben also mögliche Antworten auf die elementaren Herausforderungen existentieller Einbrüche, wie sie etwa von innerweltlichen Gewaltexzessen oder Katastrophen hervorgerufen werden. Ihre transzendierende Immunisierung entspricht einer tiefgreifenden orientierungsstiftenden Bergungskraft, die auch dem zerrütteten Dasein einen Boden verlässlicher Grundgewissheiten zu bieten vermag. Die bisherigen Ausführungen zum primären Schutz vor materiellen Widerständigkeiten und weltoffenheitsbedingten Überlastungen sowie die daran anschließenden Erörterungen zum sekundären Schutz der hierbei relevanten Wissens- und Handlungsformen durch tautologische, pragmatische, explizite und transzendierende Immunisierungen bezogen sich auf die Ebene der einzelnen Akteure. Dabei klang an verschiedenen Stellen aber bereits an, was es im zweiten Abschnitt dieses Teilkapitels nun explizit zu berücksichtigen gilt: Existentielle Immunisierungen sind bei aller Individualität keine individuellen Prozesse. Sie vollziehen sich im strukturierten Raum des jeweiligen Ordnungsgefüges und sind dabei elementar geprägt von objektivierten Wissensformen, Diskursen, Gesetzen, Regeln, Artefakten, Technologien sowie von den vielfältigen konkreten Wechselwirkungen des tagtäglichen Interagierens. Im Folgenden soll nun insbesondere auf diese soziale Dimension der Immunisierung eingegangen werden, da das bisher Beschriebene ohne deren Explikation in einem allzu einseitigen Licht erschiene. Um einen differenzierteren katastrophologischen Immunisierungsbe-

260 Hartmut Böhme: Theoretische Überlegungen zur Kulturgeschichte der Angst und der Katastrophe. In: Anne Fuchs/Sabine Strümper-Krobb (Hg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Würzburg 2003, S. 27-44, hier S. 39.

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griff gewinnen zu können, wendet sich die Arbeit jetzt also der „Wir-Sphäre“ zu und fragt nach Schutz- und Stabilisierungsmechanismen im Rahmen intersubjektiver Figurationen.261 5.2 Soziale Immunisierung Soziale Immunisierungen basieren auf der interexistentiellen Struktur des menschlichen Daseins. Wenn Akteure gemeinsam existieren, dann halten sie sich, wie man mit Heidegger formulieren kann, „in derselben Sphäre von Offenbarkeit“262. Das Dasein jedes Einzelnen ist aufgrund seiner Weltoffenheit nicht nur für Anderes, sondern insbesondere auch für Andere zugänglich, es konstituiert sich trotz einer unaufhebbaren wechselseitigen Transzendenz von Beginn an in intersubjektiven Bezügen und ist bis zuletzt weniger durch Differenz als durch Gemeinsamkeit geprägt. „Auf dem Grunde dieses mithaften In-der-Welt-seins“, so nochmals Heidegger, „ist die Welt je schon immer die, die ich mit den Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein.“263 Wie Heidegger grenzt sich auch Schütz bei allen phänomenologischen Wurzeln seines protosoziologischen Ansatzes von Husserls Versuch ab, Intersubjektivität streng egologisch aus den Bewusstseinsleistungen des transzendentalen Ich zu verstehen. Vielmehr betont er, dass es sich hierbei um eine konstitutive, jeder subjektiven Wirklichkeit vorgängige Grundgegebenheit der Lebenswelt handle: „Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundieren Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins.“264 Existentielle Ordnungen müssen vor diesem Hintergrund stets in ihrer interexistentiellen Verwobenheit mit den jeweiligen Ordnungen koexistierender Mitmenschen gedacht werden. Sie sind von Beginn an durch soziale Beziehungen geformt und sie konvergieren kraft dieser sozialen Geformtheit in vielfacher Hinsicht mit den entsprechenden Ordnungen der figurationsspezifischen Mitakteure. Im Rekurs auf klassische soziologische Ansätze lässt sich die erklärungsmächtige Grundstruktur der sozialisationsbedingten Konvergenz zwischen den existentiellen Ordnungen koexistierender Akteure etwa in Form einer „Homolo-

261 Zum Begriff der Figuration vgl. Norbert Elias: Figuration. In: Johannes Kopp/ Bernhard Schäfers (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. Wiesbaden 2010, S. 75-78. 262 Martin Heidegger: Einleitung in die Philosophie. Frankfurt am Main 1996, S. 138. 263 Heidegger 2006, S. 118 (Hervorhebungen im Original). 264 Alfred Schütz: Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl. In: Philosophische Rundschau 5 (1957), S. 81-107, hier S. 105.

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gie der Habitusformen“265, einer „Reziprozität der Perspektiven“266 oder einer „relativen Homogenität der Relevanzstrukturen“267 beschreiben. Sofern sich die Subjektwerdung der einzelnen Akteure unter gleichen oder ähnlichen Existenzbedingungen – beziehungsweise im Rahmen einer vergleichbaren Gegebenheitsweise des Ordnungsgefüges – vollzieht, entwachsen hieraus weitreichende Homologien ihrer Wirklichkeitsauffassungen, ihrer Werte, Wünsche, Sorgen und Interessen. Aufgrund der Verinnerlichungsprozesse im Zuge des wiederholten Umgangs mit analogen soziomateriellen Tatbeständen verfügen sie über einen geteilten Grundstock an nomischem Wissen, das „gemeinsame Verständnis- und Bedeutungsräume“268 eröffnet. Infolge struktureller Symmetrien innerhalb der Sozialisationsprozesse weisen ihre Praktiken ein hohes Maß an wechselseitiger präreflexiver Abgestimmtheit auf. Diesseits jeder konkreten Thematisierung konstituiert sich durch die Grundgegebenheit der Intersubjektivität somit eine gemeinsame Sphäre innerweltlicher Beherbergung. Obwohl die Akteure durch vielfache Differenzen geprägt sind und ihre wechselseitige Fremdheit letztlich nie vollkommen überwinden können, führen die strukturellen Homologien ihrer Ordnungsdispositionen dazu, dass sie sich im faktischen Vollzug des Alltags als Angehörige der gleichen Wirklichkeit erfahren und verstehen. Unter sozialen beziehungsweise intersubjektiven Immunisierungen sollen nun Prozesse verstanden werden, die diesen Homologien entwachsen und auf verschiedenen Wegen zu ihrem Schutz beitragen. Sie dienen der Protektion des Lebenszusammenhangs einer gegebenen Gruppierung – einer Familie, einer Dorfgemeinschaft, eines Staates etc. – und betreffen somit nicht nur einzelne, sondern stets mehrere Akteure zugleich. Soziale Immunisierungen stabilisieren die tragenden Elemente des jeweiligen Ordnungsgefüges. Sie bewahren und festigen die innere Kohäsion der betreffenden Akteurskonstellationen, protegieren konstitutive Grenzlinien gemeinsamer Gewohnheitssphären, bearbeiten kontin-

265 Vgl. Bourdieu 1993b, S. 113. 266 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Band 2. Frankfurt am Main 1984, S. 95. 267 Vgl. Thomas Luckmann: Über die Grenzen der Sozialwelt. In: Ders.: Lebenswelt und Gesellschaft. Grundstrukturen und geschichtliche Wandlungen. Paderborn u.a. 1980, S. 56-92, hier S. 87. 268 Friedrich H. Tenbruck: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne. Opladen 1989, S. 52. Tenbruck geht der Genese, Auswirkung und Beschaffenheit dieser nomischen Wissensbestände unter dem Begriff der „repräsentativen Kultur“ nach. Vgl. hierzu auch Ders.: Repräsentative Kultur. In: Hans Haferkamp (Hg.): Sozialstruktur und Kultur. Frankfurt am Main 1990, S. 20-53.

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gente Räume zukünftiger Möglichkeiten und zeitigen somit eine Vielzahl polyvalenter, intersubjektiv relevanter Effekte. Dabei umfassen sie nicht nur bewusst figurierte Sicherheits- und Präventionsmaßnahmen, die auf gemeinsam erfahrene, thematisierte und ausgehandelte Bedrohungen reagieren, sondern beinhalten zugleich auch ein breites Spektrum an unbewussten und nichtintendierten Stabilisierungsprozessen. Wenngleich im Rahmen katastrophologischer Erkenntnisinteressen zunächst die Frage nach ersteren nahezuliegen scheint, gilt es vor dem Hintergrund eines weiten Begriffs von Immunität – beziehungsweise eines weiten Verständnisses von Vulnerabilität und Resilienz – im Folgenden insbesondere auch letztere zu berücksichtigen. Implizite soziale Immunisierungen basieren auf einer wechselseitigen Bestätigung von Selbst- und Weltbildern, Werten, Kenntnissen und Routinen, deren Spezifikum darin besteht, dass sie den Vollzug alltäglicher Interaktionen begleiten, ohne dabei als solche thematisch zu werden. Es handelt sich hierbei also um eine intersubjektive – in verschiedenen Graden vermittelte – Stabilisierung etablierter Wissens- und Praxisformen, die den gemeinsamen Alltag jenseits aller bewussten Intentionen durchwirkt. Implizite soziale Immunisierungen ereignen sich so sichtbar wie verborgen, sie entwachsen der geteilten, durch fraglose Präsenz verdunkelten Selbstverständlichkeit gewohnter Daseinsvollzüge, bedürfen dabei aber keines totalen Konsenses, sondern entstehen auch in konflikthaften Konstellationen, sofern dem jeweiligen Dissens ein nicht eigens thematisierungsbedürftiger Fundus eingelebt-gefestigter – semantischer und praktischer – Abgestimmtheit zugrunde liegt. Ein überaus bedeutender Mechanismus impliziter sozialer Immunisierung besteht im Prozess der alltäglichen Konversationskonservation, also in der Konservierung gemeinsamer Wirklichkeit durch Unterhaltung. So kann man das Alltagsleben der Akteure mit dem „Rattern einer Konversationsmaschine“269 vergleichen und jedes Gespräch als Bestandteil des intersubjektiven Hervorbringens, Erhaltens und Veränderns „eines ordnenden und typisierenden Apparats“270 verstehen. An diesen beständigen Akten sprachlicher Kommunikation, vermittels derer Wissen unentwegt objektiviert, reproduziert und transformiert wird, interessiert in unserem Zusammenhang zunächst insbesondere der Aspekt verborgener Wirklichkeitsbestätigung. Unabhängig von den jeweils verhandelten Themen und den diesbezüglichen Standpunktdifferenzen haben Gespräche stets

269 Berger/Luckmann 2001, S. 163. 270 Peter L. Berger/Hansfried Kellner: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Abhandlung zur Mikrosoziologie des Wissens. In: Soziale Welt 16 (1965), S. 220-235, hier S. 228.

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auch eine grundlegende Konservierungsdimension. Sie erhalten und festigen gerade das, was in ihnen scheinbar fraglos vorausgesetzt werden kann: homologe nomische Daseinsbezüge – Basiselemente des Selbst- und Weltverständnisses, die als unbeleuchtete gemeinsame Grundannahmen sinnhafte Aushandlungsprozesse erst ermöglichen und für Gewöhnlich nur in Krisen, Kriegen, Katastrophen und anderen Situationen radikalen Umbruchs eigens zur Disposition stehen. Diese wechselseitige Untermauerung von tragenden Sinnstrukturen existentieller Ordnungen vollzieht sich freilich nicht nur im rein sprachlichen Austausch, sondern vermittels sämtlicher Formen des kommunikativen Handelns. Neben der Semantik des Wortgebrauchs müssen hierbei also auch Prosodie, Gestik, Mimik und weitere nonverbale Kommunikationselemente wie Körperhaltung, Blickkontakte oder Berührungen Berücksichtigung finden. Zu diesen körpergebundenen kommen schließlich aber auch körpererweiternde Vermittlungsweisen hinzu – also Artefakte und Techniken, in deren Gestalt sich subjektiver Sinn materialisiert hat. So betont etwa Knoblauch, dass die „triadische Struktur“ des kommunikativen Handelns neben verkörpertem Ego und Alter Ego sämtliche „Objektivierungen [umfasst], die als Teil der gemeinsamen Umwelt wahrgenommen werden.“271 Auf Basis der verschiedensten (objektvermittelten) Ausdrucksvermögen ihrer Leibkörper sind die Akteure in intersubjektive Kommunikationsprozesse verwickelt und tragen durch ihre je konkreten Entäußerungen sowohl zum Prozess der thematischen Aushandlung und Explikation gesellschaftlicher Wirklichkeit als auch zur unthematischen Reproduktion der sinnhaften Fundamente dieser gemeinsamen Wissenssphäre bei. „There are no signifying practices“, formuliert Giddens formelhaft und ergänzt in einem vergleichbaren Sinne: „signification should rather be understood as an integral element of social practices in general.“272 Abgesehen von der bisher umrissenen kommunikationsbasierten Festigung des Geordneten – die ihrerseits ja bereits weit über die als Kommunikation erfahrenen Aspekte intersubjektiven Austauschs hinausgehen – können im Sinne einer weiteren Erweiterung des Konzepts der wechselseitigen Wirklichkeitsversicherung auch vermeintlich individuelle beziehungsweise isolierte Praktiken als Formen einer impliziten sozialen Immunisierung verstanden werden, sofern sich

271 Hubert Knoblauch: Grundbegriffe und Aufgaben des kommunikativen Konstruktivismus. In: Reiner Keller/Hubert Knoblauch/Jo Reichertz (Hg.): Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Wiesbaden 2013, S. 25-47, hier S. 31. 272 Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis. Berkeley/Los Angeles 1979, S. 39.

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in ihnen Ordnungselemente reproduzieren, die für andere Akteure der jeweiligen sozialen Figuration relevant sind. Intersubjektive Stabilisierungsprozesse der hier interessierenden Art lassen sich demzufolge nicht nur in Konstellationen faktischer – oder medial vermittelter – Kopräsenz beobachten. Vielmehr vermag ein Akteur durch sein Handeln auch dann auf die Elemente der existentiellen Ordnungen seiner Zeitgenossen einzuwirken, wenn diese in die konkrete Situation aktuell nicht involviert sind. Die pragmatisch fundierte Immunisierung umfasst dabei sowohl semantische als auch materielle beziehungsweise inkorporierte Bestandteile der gewohnheitssichernden Ordnungsverhältnisse. Deutlich wird der genannte Aspekt, wenn man bedenkt, dass die Einverleibung – Routinisierung, Habitualisierung, Sedimentierung – von Handlungsabläufen auf der Ebene einzelner Akteure einer handlungsspezifischen Form sozialer Widerstandslosigkeit bedarf. Diese intersubjektive Eröffnung des jeweiligen Routinisierungsraumes wird zum einen durch eine weitgehende Absenz negativer Sanktionen begünstigt, basiert zum anderen aber auch auf der Möglichkeit, Handlungsabläufe innerhalb der basal-substanziellen Dimension des figurationsspezifischen Ordnungsgefüges integrieren zu können. Sie gründet so gesehen in soziomateriell figurierten Entfaltungsschablonen, deren Form und inneres Volumen sich durch die jeweiligen Grenzlinien der Thematisierung konstituieren – also durch jene Grenzlinien, innerhalb derer das Agieren von der Notwenigkeit befreit ist, als solches in den Griff des Bewusstseins genommen werden zu müssen. Als implizite soziale Immunisierungen lassen sich nun alle Vorgänge und Mechanismen des (gemeinsamen) Agierens verstehen, die diese Entfaltungsräume festigen und somit eine fortdauernde Reproduktion inkorporierter Vollzüge ermöglichen. Schließlich können Praktiken nur dann in fragloser Selbstverständlichkeit wiederholt werden, wenn sie unter Bedingungen zur Anwendung kommen, die jenen gleichen, welche ihrer Genese und Inkorporierung ehedem zugrunde lagen.273 In unserem Kontext ist hierbei insbesondere die vorreflexive intersubjektive Abgestimmtheit des Handelns sowie die damit zusammenhängende prinzipielle Verlässlichkeit der konkreten Mitakteure und Zeitgenossen relevant. Sofern also die Akteure einer sozialen Figuration von homologen und komplementären Dispositionen geprägt sind, denen relativ dauerhafte Formen des präreflexiven Interagierens entwachsen, bewirken sie schon durch den bloßen Vollzug ihrer Alltagspraktiken eine weitreichende wechselseitige Immunisierung der subjektiv einverleibten Handlungsmuster, ohne dass dieser intersubjektive Verstetigungsprozess dabei eigens realisiert oder gar bewusst intendiert werden müsste.

273 Vgl. Bourdieu 1993b, S. 104f.

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Während es bisher um Prozesse impliziter Immunisierung ging, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sich die Akteure gegenseitig bergen, indem sie vermeintlich Selbstverständliches reproduzieren und in seiner Selbstverständlichkeit bestätigen, wenden sich die Ausführungen nun den expliziten Formen intersubjektiver Immunisierung zu, die immer dann zu beobachten sind, wenn Selbstverständliches fragwürdig wird, weil existentielle Ordnungselemente bedroht zu sein scheinen und sich die Akteure ihrer Zukunft nicht länger in hinreichendem Maße sicher sind.274 Auch explizite soziale Immunisierungen dienen dem Schutz eines figurationsspezifischen Ordnungsgefüges, unterscheiden sich von ersteren aber dadurch, dass ihnen (ursprünglich) bewusste Intentionen zugrunde liegen. Sie richten sich gegen problematisch thematisch gewordene Bedrohungen und sind dabei eng an die jeweils vorherrschenden Wissens- und Machtverhältnisse gebunden. So konstituiert sich ihre konkrete Gestalt zum einen im Zusammenhang mit intersubjektiven Diagnose-, Problematisierungs- und Alarmierungsprozessen, die man als Bedrohungskommunikationen oder Risikodiskurse beschreiben kann, und zum anderen in Abhängigkeit der etablierten Stile und verfügbaren Techniken zur Integration oder Exklusion des Außerordentlichen – also in Abhängigkeit spezifischer Sekurisationsdispositive, die als institutionalisierte Apparate der Regierung, Regulierung, Disziplinierung oder Negierung ordnungsrelationaler Verwundungsmächte fungieren. Zwar lassen sich explizite soziale Immunisierungen, etwa in Form von Mythen, Riten, Schutzarchitekturen und Armierungen oder in Gestalt präventiver Praktiken der Vorratshaltung und sozialen Organisation, wohl in sämtlichen Räumen und Epochen beobachten, doch scheinen sie – Aspekt einer Dialektik der Aufklärung –275 durch die Herausbildung des neuzeitlichen Denkens eine expansive Ausdifferenzierung erfahren zu haben. Besteht das zentrale Apriori der Neuzeit darin, „der Latenz eine Manifestation abzuringen und den Welthintergrund in den Vordergrund einzubauen, um ihn in praktischen Benutzungen zu entfalten“276, so führt dies in zweifacher Hinsicht zu einer Dynamisierung expliziter sozialer Immunisierungen. Zum einen evoziert die progrediente Produktion – und medial vermittelte Distribution – technisch-wissenschaftlichen Wissens ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis, da die Figurationen der Wissenden durch die

274 Vgl. hierzu den Bedrohungsbegriff des SFB 923 „Bedrohte Ordnungen“: Frie/Meier 2014, S. 4. 275 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 2001. 276 Sloterdijk 2004, S. 228. In diesem Sinne beschreibt Sloterdijk den Prozess der Aufklärung als eine fortschreitende „Hintergrundexplikation“.

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fortschreitende Beleuchtung ehedem unbefragt wirkender Ordnungselemente mehr und mehr ihrer Geborgenheit im Unbewussten verlustig gehen. „Je mehr man weiß“, so formuliert etwa Luhmann, „desto mehr weiß man, was man nicht weiß, und desto eher bildet sich ein Risikobewußtsein aus.“277 Es kommt zu einer Sensibilisierung des „Gefahrensinns“278, die das Sicherheitsbedürfnis der Akteure antreibt und sie in einen Modus erhöhter Alarmbereitschaft versetzt. Die aufklärende Entbergung des Ordnungsgefüges hat also eine zunehmende Explikation vormals impliziter Bedrohungen zur Folge, darf dabei aber nicht auf ein bloßes Medium der Vermittlung und Bewusstwerdung von Bedrohlichem reduziert werden, sondern ist vielmehr auch als folgenreicher Bedrohungsgenerator zu verstehen. Schließlich verändert sich das Explizierte sowohl durch den Fakt als auch durch die Art und Weise seiner Explikation und findet somit erst vermittels und gemäß der konkret explizierenden Hervorbringung beziehungsweise kontextgebundenen Artikulation in die spezifische Gestalt seines historischen Seins.279 Zu den zentralen Ursachen der zunehmenden Ausdifferenzierung expliziter sozialer Immunisierungen gehört neben der rasant gesteigerten Produktion wissenschaftlichen (Bedrohungs-)Wissens aber freilich auch die hiermit eng verknüpfte Ausweitung technisch-invasiver Einflussmöglichkeiten. So vollzieht sich in der Neuzeit, wie Hermann Lübbe formuliert, eine „Zunahme des relativen Anteils derjenigen Lebensvoraussetzungen, die zugleich unsere eigenen Hervorbringungen sind“280. Demzufolge werden immer größere Bereiche des jeweiligen Ordnungsgefüges denn auch nicht mehr als unverfügbare Schicksalssphären, sondern als beeinflussbare, ja regulierbare Gestaltungsräume erfahrbar. Wenn die begegnenden Dinge und Begebenheiten aber zunehmend in Form einer – intendierten oder nichtintendierten, selbst- oder fremdverursachten – Folge menschlichen Handelns erscheinen, kann dies dazu führen, dass die Bereitschaft zur Hinnahme von Unerwünschtem sinkt und die Sensibilität für Bedrohungen

277 Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin/New York 1991, S. 37. 278 Vgl. Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl: Editorial. In: Dies. (Hg.): Gefahrensinn. München 2009, S. 5-8. 279 Mit Latour ließen sich die genannten Hervorbringungen dementsprechend als „artikulierte Propositionen“ beschreiben. Vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 171-174. 280 Hermann Lübbe: Sicherheit. Risikowahrnehmung im Zivilisationsprozeß. In: Risiko ist ein Konstrukt. Wahrnehmungen zur Risikowahrnehmung. Herausgegeben von der Bayerischen Rück. München 1993, S. 23-41, hier S. 26.

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steigt. Die fortschreitende Ausweitung technischer Potentiale generiert somit nicht nur neue Gefahren und neue Immunisierungsoptionen, sondern – aus der Perspektive moralisch argumentierender Akteure – auch neue Immunisierungszwänge, da mit ihnen der „Umkreis der Lebensvoraussetzungen [expandiert], von denen wir uns abhängig wissen und für die es zugleich Verantwortlichkeiten gibt oder für die es Verantwortlichkeiten zu konstituieren gilt.“281 Was nun im fortschreitenden Prozess der Aufklärung hervorgebracht wird, erscheint zumeist im grellen Licht technisch-wissenschaftlich fabrizierter Erhellung. Hierbei vollzieht sich eine beständige Transformation ehedem unbekannter beziehungsweise unverfügbarer Gefahren in vermeintlich messbare, berechenbare und bearbeitbare Risiken. Das Spezifische des Risikos kann man mit Adalbert Evers und Helga Nowotny darin sehen, „daß es aus der unbegrenzten Fülle von Handlungen, die mit Ungewißheit und möglichen Schäden verknüpft sein können, – also aus dem Schattenreich der Gefahr – herausgeholt wurde, daß es durch gesellschaftliche Diskurse thematisiert und benennbar wurde, abgrenzbar und letztlich abwägbar.“282 Auch Luhmann bezieht sich auf diesen Zusammenhang und verdeutlicht, dass der Unterscheidung zwischen Risiken und Gefahren eine entscheidende Attribuierung zugrunde liegt: „Wenn etwaige Schäden als Folge der eigenen Entscheidung gesehen und auf diese Entscheidung zugerechnet werden, handelt es sich um Risiken […]. Von Gefahren spricht man dagegen, wenn und soweit man die etwaigen Schäden auf Ursachen außerhalb der eigenen Kontrolle zurechnet.“283 Welcher Kategorie ein beobachtetes Phänomen zuzuordnen ist, hängt so gesehen also davon ab, ob es als bearbeitbar beziehungsweise vermeidbar gilt. Während man Gefahren ausgesetzt ist, geht man Risiken ein. Während Gefahren jenseits des rational Durchdrungenen liegen, erscheinen Risiken im Licht kausaler Zusammenhänge. Während Gefahren unvermeidbar sind, kann man für eingegangene Risiken zur Verantwortung gezogen werden. Das Risiko ist somit gleichsam ein spezifisch moderner – durch technische Seismographen erhobener, diskursiv verbreiteter, vermittels entsprechender Verwaltungsapparaturen regierter – Abkömmling der Gefahr. Was ehedem vornehmlich zu transzendierenden Immunisierungen veranlasste, ist vielfach ein Gegenstand innerweltlicher Schutzmechanismen geworden und hat im Zuge dieser Aufbereitung

281 Ebd., S. 28. 282 Adalbert Evers/Helga Nowotny: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Frankfurt am Main 1987, S. 143. 283 Niklas Luhmann: Risiko und Gefahr. In: Wolfgang Krohn/Georg Krücken (Hg.): Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung. Frankfurt am Main 1993, S. 138-185, hier S. 160.

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zur Bearbeitbarkeit eine veränderte Gestalt angenommen. Gemäß unserer Unterscheidung zwischen der Dimension des Ordnungsgefüges und der Dimension interdependenter existentieller Ordnungen ist jedoch auch in diesem Zusammenhang zu betonen, dass die betreffende integrationsrelationale Differenzierung des Bedrohlichen bei aller kommunikativen Verbreitung des Bedrohungswissen und bei aller intersubjektiven Relevanz entsprechender Sekurisationstechnologien letztlich immer auf die Ebene des Einzeldaseins zurückverweist: Was für den Einen ein Risiko ist – also innerhalb seiner Entscheidungs- und Vermeidungsmöglichkeiten liegt –, mag zugleich für einen Anderen unverfügbar und damit „gefährlich“ bleiben. „Ein Risiko“, so nochmals Luhmann, „kann noch so rational kalkuliert sein, für diejenigen, die an der Entscheidung nicht beteiligt sind, entsteht daraus eine Gefahr.“284 Die intersubjektive Verbreitung und verbreitungsbasierte Formierung von Gefahren und Risiken vollzieht sich im Rahmen – medial vermittelter – Kommunikationsprozesse. Hierbei handelt es sich freilich nicht um ein Zirkulieren bereits definitiv feststehenden Bedrohungswissens, sondern um einen stets nur bedingt abschließbaren Vorgang schöpferischer Konstituierung. Was sich vor dem Hintergrund der integrierten institutionell gefestigten Elemente des figurationsspezifischen Ordnungsgefüges und seiner jeweiligen Sekurisationsdispositive als potentiell destruktives beziehungsweise nicht ohne weiteres integrierbares Phänomen abhebt, oder vielmehr: ankündigt, gewinnt erst im Verlauf seiner kommunikativ-diagnostischen Erfassung eine konkret verfasste Form. Auch wenn Bedrohungskommunikationen einen Zuspruch des Bedrohlichen zur Grundlage haben, handelt es sich bei ihnen stets um dialektisch strukturierte Hervorbringungsprozesse, deren Hervorbringungen nur durch hinreichende Berücksichtigung der jeweiligen Bedingungen des Hervorbringens adäquat verstanden werden können. Sie sind, wie Foucault für Diskurse im Allgemeinen empfiehlt, als Formationen von „Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“285 Dieser Hervorbringungsprozess, vermittels dessen ein Bedrohungsgegenstand aus der Sphäre präpropositionaler Dunkelheit her in die intersubjektiv gelichtete soziale Wirklichkeit vor gebracht wird, ist durch zahlreiche heterogene Faktoren geprägt, die sich als produktive Kräfte in der jeweiligen „Phänomenkonstitution“286 niederschlagen und von den vorherrschenden Wissensbeständen über – damit verwobene – Machtstrukturen bis zu den Wirkmechanismen kon-

284 Ebd., S. 164. 285 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main 2013, S. 74. 286 Vgl. Keller 2011a, S. 265f.

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kreter Dinge, Artefakte und Techniken reichen. Mit Ulrich Beck können diese Faktoren als „Definitionsverhältnisse“ benannt werden – ein Terminus, der sich auf den Marxʼschen Begriff der Produktionsverhältnisse bezieht und hier nun sämtliche „Regeln, Institutionen und Ressourcen [bezeichnet], welche die Identifikation und Definition von Risiken bestimmen.“287 Im Einzelnen gilt es dabei also etwa die Materialien und Techniken der Bedrohungsveranschaulichung, die Sprecherpositionen innerhalb des jeweiligen „kommunikativen Haushalts“ und entsprechenden Diskursgefüges,288 die medialen Mittel des Kommunizierens sowie die resonanzraumbildenden Effekte der akteursspezifischen Relevanzstrukturen zu berücksichtigen. Ob, inwiefern und in welcher Form eine Bedrohung kommunikativ vermittelt zum Gegenstand einer intersubjektiven Figuration wird, ist von sämtlichen soziomateriellen Elementen der (re-)aktiv wirksamen Diagnose- und Objektivierungsapparatur abhängig. Den bisherigen Ausführungen zufolge vollzieht sich die Formierung eines figurationsspezifischen Bedrohungsgegenstandes in enger Abhängigkeit von der jeweiligen Bedrohungskommunikation. Diese setzt sich aus einer Vielzahl konkreter, in Texten, Sprechakten und körperlichen Artikulationen verwirklichter Äußerungen zusammen, in denen – oftmals konkurrierende – Aussagen über den Bedrohungsgegenstand gemacht werden. Welche Äußerungen hierbei aber überhaupt möglich – also als solche denkbar und sagbar – sind und welche Aussagen

287 Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft, ökologische Krise und Technologiepolitik. In: Ders./Maarten A. Jaher/Sven Kesselring (Hg.): Der unscharfe Ort der Politik. Empirische Fallstudien zur Theorie der reflexiven Modernisierung. Opladen 1999, S. 307334, hier S. 328. Vgl. auch Ders.: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main 2008, S. 55-93. 288 Zum Begriff des „kommunikativen Haushalts“ vgl. Thomas Luckmann: Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. In: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius/ Johannes Weiß (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1986, S. 191-211, hier S. 206. Knoblauch schlägt vor, diesbezüglich den Begriff des Diskurses als theorieerweiterndes Pendant zu verstehen: „Während nämlich der kommunikative Haushalt statisch synchron einen bestimmten Zeitpunkt zu erfassen sucht, lenkt der Begriff des Diskurses das Augenmerk auf die dynamischen diachronen Kommunikationsprozesse, die für eine Gesellschaft relevant sind.“ Hubert Knoblauch: Diskurs, Kommunikation und Wissenssoziologie. In: Reiner Keller/Andreas Hirseland/Werner Schneider/Willy Viehöver (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band I: Theorien und Methoden. Opladen 2001, S. 207-223, hier S. 213.

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sich auf der Grundlage dieser möglichen Äußerungen als wahre, adäquate oder zumindest geltende Aussagen durchsetzen, ist von einem komplexen Bündel an Faktoren abhängig, die den jeweiligen Hervorbringungs- und Aushandlungsprozess strukturieren und dergestalt in die Genese des Bedrohungsgegenstandes miteinfließen. Wie für Kommunikationen im Allgemeinen, gilt aber insbesondere auch für Bedrohungskommunikationen, dass ihre soziomaterielle Verwobenheit keinem eingleisigen Ursache/Wirkungs-Zusammenhang entspricht, sondern vielmehr im Sinne eines dialektischen Wechselbezugs zu verstehen ist. So werden die sich entfaltenden Aushandlungsprozesse zwar einerseits von den vorherrschenden, je situativ relevanten soziomateriellen Bedingungen geprägt, doch sind sie als bedeutungsregulierende „Signifikationsregime“289 andererseits auch selbst prägend – und wirken somit fortwährend auf die Grundlagen ihrer Entstehung zurück. Sie verhallen nicht in einem folgenlosen Resonanzraum, sondern zeitigen wirklichkeitsformierende Effekte, in denen sie sich sukzessive verstetigen. Im Zuge dieser Objektivierungsvorgänge verändern die ehedem fluiden Prozesse der Bedrohungskommunikation ihren Aggregatszustand. Sie kristallisieren gleichsam in der Sphäre konkreter Formen und bilden ein greifbares Gefüge, dessen Elemente sich von ihren ursprünglichen Entstehungszusammenhängen gelöst haben. Explizite soziale Immunisierungen gewinnen so die Konturen ihrer jeweiligen historischen Gestalt. Durch die Diagnose- und Deutungsprozesse, in deren Vollzug sich ein Bedrohungsgegenstand herausbildet, kommt es schließlich also zu bedrohungsspezifischen Transformationen des jeweiligen Ordnungsgefüges. Die Bedrohungskommunikation generiert neue soziomaterielle Tatsachen und schreibt sich vermittels ihrer Objektivationen in die jeweiligen Zeitverhältnisse ein. Aufgrund dieser Verdichtungs- und Materialisierungsprozesse tragen Bedrohungskommunikationen zur Entstehung komplexer Immunisierungsapparate bei. Diese funktional konfigurierten Subgefüge des jeweiligen Ordnungsgefüges konstituieren sich im Rahmen der zeitspezifischen Möglichkeitsräume und erhalten ihre konkrete Ausrichtung in Abhängigkeit der jeweiligen Bedrohungsdiagnosen. Dabei umfassen sie ein breites Spektrum objektivierter Sekurisationselemente, das von Begriffen und Handlungsmustern über Gesetze, Verordnungen, Paradigmen, Theorien und Legitimationen spezifischer Akteurspositionen bis zu Artefakten, Architekturen und Technologien reicht. Was hier und im Folgenden als Immuni-

289 Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation. In: Herbert Kalthoff/Stefan Hirschauer/Gesa Lindemann (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt am Main 2008, S. 188-209, hier S. 192.

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sierungsapparat bezeichnet wird, weist somit einige Parallelen zum Foucaultʼschen Begriff des Dispositivs auf: Es handelt sich um eine „Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin besteht, auf einen Notstand (urgence) zu antworten“290 – um ein Responsivitätsgefüge, das sich aus heterogenen Elementen zusammensetzt, die von den vorherrschenden Macht- und Wissensverhältnissen durchdrungen werden und im Hinblick auf eine dominante Funktion (quasi-)strategisch miteinander vernetzt sind.291 Wenn Immunisierungsapparate also jenen Arrangements entsprechen, die oben – noch weitgehend unbefragt – als Sekurisationsdispositive benannt wurden, so schließt sich an dieser Stelle der Kreis des bisherigen Argumentationsgangs. Die vorherrschenden Immunisierungsapparate dienen dem Schutz sozialer Figurationen, indem sie als Instrumente der Kalkulierung, Regierung und Negierung des Außerordentlichen fungieren. Sie sind dabei einerseits Effekt von Bedrohungskommunikationen, wirken andererseits aber auch als deren Generator. Auf der Basis früherer Erfahrungen, die sich in ihnen verobjektiviert haben, strukturieren sie die Art und Weise, wie Bedrohungen erfahren und bearbeitet werden. Dabei ist entscheidend, dass die aktuellen Bedrohungskommunikationen vor dem Hintergrund der Transformationsdynamiken des Ordnungsgefüges immer wieder neue Bedrohungen und Bedrohungsaspekte artikulieren, die ihrerseits entsprechende Neujustierungen der Immunisierungsapparate erforderlich machen. Ob und auf welche Weise dies geschieht, hängt einerseits von den vorherrschenden materiellen beziehungsweise technischen Möglichkeiten ab, wird andererseits aber wiederum in hohem Maße durch Macht- und Wissensverhältnisse regiert, die sich kommunikativ vermittelt sowohl in der Definition des jeweiligen Bedrohungsgegenstands als auch in den grundsätzlichen figurationsspezifischen Responsivitätspotentialen sowie in den Strukturen jener politischen Felder niederschlagen, in denen über das Maß und die Form der konkreten Ausschöpfung dieser Potentiale entschieden wird.

290 Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1978, S. 120. 291 Vgl. Michel Foucault: Dits et Ecrits. Schriften, Band III. 1976-1979. Frankfurt am Main 2003, S. 392-395. Vgl. hierzu auch Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin 2008; Gilles Deleuze: Was ist ein Dispositiv? In: François Ewald/ Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt am Main 1991, S. 153-162; Jürgen Link: Dispositiv. In: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008, S. 237-242.

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Die dominante Funktion der sich in Bedrohungskommunikationen herauskristallisierenden Immunisierungsapparate lässt sich mit dem Begriff der Prävention fassen. Ganz im Sinne der etymologischen Bedeutung des Terminus, ergibt sich ihre strategische Ausrichtung aus der Absicht, der befürchteten Realisierung einer diagnostizierten Bedrohung zuvorzukommen: „Man tut etwas“, schreibt Ulrich Bröckling, „bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben wird oder ihre Folgen begrenzt werden.“ 292 Dieses vorbeugende Zuvorkommen vor dem Hintergrund eines diagnostischen Vorlaufens in die realisierte Bedrohung ist gleichsam das gemeinsame Grundmotiv sämtlicher Immunisierungsapparate. Es manifestiert sich aber in divergierenden Formen, die so vielfältig sind wie die Bedrohungsgegenstände und architektonischen Konfigurationen der entsprechenden Apparaturen. „Prävention“, so nochmals Bröckling, „straft und belohnt, droht und ermutigt, schreckt ab und belehrt, sammelt und sondert aus, entzieht Ressourcen und teilt sie zu, installiert technische Kontrollsysteme und nutzt soziale Netzwerke.“ 293 Ist mit Prävention also die dominante Funktion von Immunisierungsapparaten genannt, so lässt sich die damit verknüpfte Strategie als ein Bestreben zur Bändigung künftiger Möglichkeiten beschreiben.294 Das Zuvorkommen hat den Charakter einer manipulativen Intervention, deren Ziel es ist, dem Lauf der Dinge die bedrohlichen Aspekte seiner weiten Ereignisspielräume zu entziehen und das Leben somit vor einer Despotie des Zufalls zu bewahren. Es folgt der grundlegenden Idee, durch gegenwärtige Operationen „die Zukunft zu disziplinieren“295. Auf welche Weise dies geschieht, ist nicht zuletzt von den jeweiligen Vorannahmen hinsichtlich jener Mächte abhängig, denen ein signifikanter Einfluss auf das Zukünftige zugesprochen wird. Während es in manchen Zeiten, Räumen und Situationen die Götter günstig zu stimmen gilt, fordern andere Kontexte eher nach technisch-wissenschaftlich konfigurierten Zugriffen auf die soziomaterielle Umwelt. Hier wie dort lässt sich das Bemühen aber als ein Versuch

292 Ulrich Bröckling: Vorbeugen ist besser … Zur Soziologie der Prävention. In: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2008), S. 38-48, hier S. 38 (Hervorhebungen im Original). 293 Ebd., S. 39. 294 Vgl. Michael Makropoulos: Möglichkeitsbändigungen. Disziplin und Versicherung als Konzepte zur sozialen Steuerung von Kontingenz. In: Soziale Welt 41 (1990), S. 407-423. 295 François Ewald: Die Versicherungs-Gesellschaft. In: Kritische Justiz 22 (1989), S. 385-393.

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der Kontingenzbewältigung verstehen. Hier wie dort geht es um die Beschränkung offener Möglichkeitshorizonte – um eine bewusste, gegenwartsvermittelte Bearbeitung des Bevorstehenden. Die präventive Regierung der Zukunft kann nun an zwei unterschiedlichen Punkten ansetzen: Entweder sie dient der zuvorkommenden Verhinderung eines bedrohungsrealisierenden Ereignisses oder aber seiner zuvorkommenden Linderung. Der Begriff der Prävention bezieht sich also sowohl auf ereignisverhütende Maßnahmen, deren Intention es ist, die Eintrittswahrscheinlichkeit von Unfällen, Anschlägen, Aufständen, Angriffen, Krankheiten, Seuchen oder Katastrophen zu mindern, als auch auf ereignisverändernde Maßnahmen, die dann greifen, wenn erstere sich als erfolglos erweisen.296 In der Moderne wird die Versicherung zum Inbegriff dieser zweiten, auf eine vorab strukturierte Eindämmung – genauer: Kompensation – möglicher Ereignisfolgen bedachten Präventionsform. Dabei handelt es sich, wie François Ewald ausführt, um eine „Technologie des Risikos“297, deren Spezifikum darin besteht, auf der Grundlage rationaler Kalkulation eine wechselseitige Linderung möglicher Schäden zu garantieren und diese „Umverteilung nicht in Form einer Hilfe oder Gabe, sondern in der Form einer Regel wirksam werden zu lassen.“298 Die Versicherung ist gleichsam ein mathematisierter Abkömmling früherer, auf gegenseitigen Schutz und Beistand ausgerichteter Solidargemeinschaften, wie sie etwa die römischen collegia teniorum oder die altgermanischen Gilden bildeten.299 Sie repräsentiert eine rationalistische Optimierung des Prinzips der zuvorkommenden Linderung, dessen Maßnahmen in der Regel eng mit jenen der zuvorkommenden Verhinderung abgestimmt sind. In ihrer jeweiligen Kombination strukturieren diese beiden Prinzipien die strategische Ausrichtung sämtlicher figurationsspezifischer Immunisierungsbemühungen. Die konkrete Realisierung dieser Bemühungen bleibt indessen stets unabgeschlossen. Hierbei ist zum einen relevant, dass es sich bei der Ausrichtung von Immunisierungsapparaten um hochgradig umkämpfte Gegenstände handelt. Aufgrund ihrer Machteffekte provozieren explizite Immunisierungen oftmals subversive Gegenreaktionen, die ihre Wirkung untergraben und ihre Legitimität grundlegend in Frage stellen. Auch die Herausbildung neuer Wissensformen

296 Vgl. Bröckling 2008, S. 41; Makropoulos 1990, S. 417. 297 Ewald 1989, S. 389. 298 Ebd., S. 391. 299 Vgl. Burkhardt Wolf: Das Gefährliche regieren. Die neuzeitliche Universalisierung von Risiko und Versicherung. In: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.): Gefahrensinn. München 2009, S. 23-33, hier S. 26f.

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kann zur Konstituierung opponierender Diskurskoalitionen führen, die eine entsprechende Neujustierung der Apparate durchzusetzen bestrebt sind. Zum anderen ist in Anschlag zu bringen, dass die existentielle Verwundbarkeit der Akteure letztlich unaufhebbar bleibt und die Horizonte künftiger Möglichkeiten stets nur bedingt kontrollierbar sind: „Vorbeugen kann man nie genug und nie früh genug.“300 Da Immunisierungsapparate die „Sphäre der Unberechenbarkeit“ 301 nicht hinreichend zu bannen vermögen und sich somit „gerade im Schatten etablierter Sekuritätssysteme immer wieder neue Bedrohungslagen ergeben“ 302, tendieren gewonnene Sicherheiten früher oder später dazu, selbst zur Gefahr zu werden. So gilt in einem doppelten Sinne, dass Immunisierungsprojekten von Grund auf der Charakter des Vorläufigen eignet. Im Anschluss an die vorausgegangenen Überlegungen verstehen wir unter expliziten sozialen Immunisierungen strategisch motivierte Sicherungsverfahren, die aufgrund ihrer inneren Struktur beständigen Dynamiken unterliegen. Sie entwickeln sich auf der Basis bedrohungsspezifischer Kommunikationsprozesse, die im Zuge ihrer Objektivierung einen entsprechenden Immunisierungsapparat konstituieren und zu diesem fortan in einem dialektisch strukturierten Verhältnis stehen. Neben dem Wechselbezug zwischen der Bedrohungskommunikation und den objektivierten Sekurisationsgefügen muss im Rahmen einer Analyse expliziter sozialer Immunisierungen auch berücksichtigt werden, dass sich ihre präventiven Strategien gegen einen Bedrohungsgegenstand richten, den sie vermittels ihrer Artikulationen als solchen erst eigens zum Vorschein bringen. Da diese multipolaren Formierungsprozesse zudem stets den Einflüssen eines soziomateriellen Kräftefelds unterliegen, gilt es schließlich aber insbesondere auch ihre jeweiligen Relationen zu den vorherrschenden Machtverhältnissen in den Blick zu nehmen. Die skizzierten Prozesse impliziter und expliziter sozialer Sekurisierung konstituieren immunisierte Räume des intersubjektiven Agierens. Sie sind dabei Bedingung der Möglichkeit und signifikante Prägekraft der zuvor umrissenen Vorgänge existentieller Immunisierung. Im Rahmen einer weitreichenden intersubjektiven Geborgenheit vermögen die einzelnen Akteure jene „Inseln des Neutralisierten und Gewohnheitsgesicherten“ hervorzubringen, in deren Sphären sie

300 Ulrich Bröckling: Dispositive der Vorbeugung. Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution. In: Christopher Daase/Philipp Offermann/Valentin Rauer (Hg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr. Frankfurt am Main 2012, S. 93-108, hier S. 95. 301 Blumenberg 2014, S. 10. 302 Wolf 2009, S. 32.

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trotz ihrer unaufhebbaren Verwundbarkeit zu einem stabilisierten Dasein finden. Auf der Basis impliziter wechselseitiger Versicherungen und expliziter Immunisierungsapparate bilden sie ordnungsgenerierende Wissensformen und Handlungsmuster aus, die ihnen einen haltvermittelnden Schutz vor den potentiellen Bedrohungen ihrer offenen Umwelten gewähren. In welchem Maße die einzelnen Akteure von den jeweiligen sozialen Immunisierungen profitieren – und in welchem sie unter ihnen leiden – ist dabei freilich insbesondere von ihrer Position innerhalb der figurationsspezifischen Ordnungsgefüge abhängig. Im Rahmen dieser Verschränkung konstituieren soziale und existentielle Immunisierungen eine komplex konfigurierte Sicherheitsarchitektur, die der alltagsbewahrenden Bändigung des Außerordentlichen dient.

6. ORDNUNGSVERWUNDENDE EREIGNISSE Die bisherigen Ausführungen hatten zum Ziel, theoretische Grundlagen einer kulturwissenschaftlichen Katastrophologie zu entwickeln. Bevor sich die Arbeit nun explizit dem Phänomen der Katastrophe zuwendet, sollen einige zentrale Ergebnisse des zurückgelegten Argumentationsgangs in groben Zügen rekapituliert werden. Da Katastrophen in Anlehnung an die thematische Ausrichtung des Tübinger Sonderforschungsbereichs 923 als ordnungsverwundende Ereignisse aufgefasst wurden, galt es zunächst eingehender nach dem Begriff der Ordnung zu fragen. Zu diesem Zweck befasste sich die Arbeit in einem ersten Schritt mit der Geschichte volkskundlich-kulturwissenschaftlicher Forschung und rekonstruierte schematisch, wie sich das Ordnungsverständnis dieser Disziplin seit der Zeit ihrer aufklärerischen Ursprünge dargestellt, entfaltet und durch einschneidende Paradigmenwechsel gewandelt hat. Vor dem Hintergrund der jüngeren Fachgeschichte konnte daraufhin der Ausgangspunkt des vorliegenden Ansatzes umrissen werden: Wir fanden uns vor die Aufgabe gestellt, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das katastrophische Ereignisse in ihren vielschichtigen (konträr-)relationalen Bezügen zur Geordnetheit des alltäglichen In-derWelt-seins zu analysieren erlaubt. Da eine Analyse dieser Geordnetheit nicht auf die Rekonstruktion objektivierter Strukturen beschränkt werden kann, wandte sich die Arbeit daraufhin zunächst der Ontogenese des Einzeldaseins zu. Vermittels einer philosophischanthropologischen Fundierung des Ansatzes galt es Grundlagen zur Gewinnung eines existentiellen Begriffs von Ordnung zu gewinnen, der es schließlich ermöglichen sollte, die Ebene der jeweils vorherrschenden Strukturformationen mit dem konkreten Wahrnehmen und Agieren historischer Akteure konzeptuell

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zu verknüpfen. Aufgrund ihrer exzentrischen Positionalität und der damit verbundenen Weltoffenheit, so die an Scheler, Plessner, Portmann und Gehlen anschließende Argumentation, sind menschliche Wesen in ihrem Dasein von einem extrauterinen Ordnungsbedarf geprägt. Zwar wird dieses Orientierungs- und Sinnbedürfnis im Vollzug der Sozialisation durch soziokulturelle Bergungskräfte vorthematisch gestillt, doch handelt es sich hierbei um eine brüchige Stillstellung, die durch auftretende Probleme immer wieder aufs Neue affiziert, relativiert und negiert werden kann. Dem zu entwickelnden katastrophologischen Entwurf liegt also eine Anthropologie zugrunde, die das menschliche Dasein sowohl in seiner Körperverhaftetheit beziehungsweise Leibverfallenheit als auch in seiner grundlegenden Kulturdurchdrungenheit zu verstehen bestrebt ist und hierbei davon ausgeht, dass die morphologisch begründete Offenheit des Existierens stets nur bedingt in soziokulturell vermittelte Formen der Geschlossenheit überführbar ist. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wandte sich die Arbeit im nachfolgenden Kapitel zwei zentralen Ordnungsdimensionen zu. Zunächst befasste sie sich dabei mit der Dimension des Ordnungsgefüges, also mit jenem figurationsspezifischen soziomateriellen Gesamtlebenszusammenhang, in den die einzelnen Akteure durch ihre Geburt auf je eigene Weise entlassen – heideggerisch: geworfen – werden. Im Rahmen unserer begrifflichen Instrumentierung umfasst das Ordnungsgefüge somit sämtliche zeit/raum-spezifischen materiellen und soziokulturellen Elemente, denen aufgrund ihrer intersubjektiv vernehmbaren Wirkung oder Geltung der Status (quasi-)objektiver Wirklichkeit zugeschrieben werden kann. Es handelt sich um ein Gefüge aus Objektivationen, die im Interagieren hervorgebracht, ausgehandelt, institutionalisiert, reproduziert oder transformiert werden und den Einzelnen dabei in der Regel als Tatbestände eigener Realität erscheinen. Die Art und Weise ihres Erscheinens ist indessen von ihrer konkreten Relevanz innerhalb der je spezifisch konfigurierten Daseinsbezüge faktisch existierender Akteure abhängig. Mit dem Begriff der existentiellen Ordnung soll diese konstitutive Relationalität des Begegnenden in den Blick genommen und somit gleichsam nach den inneren, erfahrungsräumlichen Volumina des Ordnungsgefüges gefragt werden. Existentielle Ordnungen bilden sich im Rahmen der positionsspezifischen Gegebenheitsweise des Ordnungsgefüges aus und kompensieren den extrauterinen Orientierungsbedarf der Akteure. Da sie hierbei weder objektivistisch als bloßer Struktureffekt noch subjektivistisch als Ergebnis freischwebender Bewusstseinsleistungen verstanden werden sollen, bedurften sie einer begrifflichen Konzeptualisierung, die beiden Analyseebenen zu entsprechender Berücksichtigung verhilft. Ordnung, so die hieraus erwachsene Definition, konstituiert sich in dem Maße, in dem die akteursspezifischen Ord-

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nungsdispositionen mit der positionsspezifischen Gegebenheitsweise des Ordnungsgefüges korrespondieren. Ordnung ist dann, insofern und so lange ein Akteur die potentielle Widerständigkeit des ihm Begegnenden auf der Grundlage seiner physiopsychischen Konstitution und der daran gebundenen Wissens- und Praxismuster in situationsadäquat hinreichender Weise vor jedem probleminduzierten Thematisierungsbedarf aufzuheben vermag. Da sowohl die soziomateriellen Konfigurationen des Ordnungsgefüges als auch die in diesen Konstellationen sich herausbildenden existentiellen Ordnungen stets in einem prozessualen Sinne zu verstehen sind, stellte sich daraufhin die Frage, inwiefern es im Rahmen fortwährend dynamisierter Ordnungsprozesse zu ordnungsrelationalen Bedrohungen kommen kann. Bedrohungen wurden dabei – akteursbezogen – als problematische Verweise auf die Möglichkeit zukünftiger Probleme aufgefasst. Probleme wiederum verstanden wir als mehr oder weniger gravierende Durchbrechungen der eingelebten Akteur/Umwelt-Korrespondenzen, die sich immer dann ereignen, wenn ein auftretendes Phänomen im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht ohne weiteres integriert werden kann, obwohl eine – wie auch immer motivierte – Notwendigkeit zu dessen Integration besteht. Vermittels der Schützʼschen Erörterungen zum Problem der Relevanz ließ sich dieser Unterscheidung zwischen dem fraglos Gegebenen und dem Problematischen ein differenzierteres theoretisches Fundament unterlegen. Ferner erhellten die Ausführungen drei mögliche Entstehungszusammenhänge auslegungsrelevanter Probleme und veranschaulichten schließlich, wodurch diese Auslegungsrelevanzen im Einzelnen motiviert sein können. Nachdem daraufhin zu verdeutlichen war, dass die probleminduzierte Stockung lebensweltlicher Idealisierungen auf einer Überlastung der Integrations- und Responsivitätspotentiale basiert, die sowohl kognitiven als auch physischen Ursprungs sein kann, wurde in Anlehnung an Berger und Luckmann schließlich zwischen unproblematischen Problemen und problematischen Problemen unterschieden: Während erstere sich durch Bewältigungsprozesse im Rahmen bestehender Deutungs- und Handlungsmuster aufheben lassen, die Routinewirklichkeit der Lebenswelt dabei nicht zerstören und insofern nur solche Transformationen nach sich ziehen, die einer Ausdifferenzierung der bisherigen Ordnung entsprechen, gleichen letztere einer tiefgreifenden Verwundung der physiopsychischen Existenzmatrix, verhindern eine rasche Rückkehr in den vertrauten Modus des tendenziell selbstverständlichen Lebensvollzugs und führen – sofern sie überhaupt bewältigt werden können – zu einer grundlegenden Neujustierung der existentiellen Ordnungsverhältnisse. Ob und in welchem Maße außerordentliche Widerfahrnisse den Akteuren als Begebenheiten erscheinen, die problematische

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Probleme zeitigen könnten, so der abschließende Gedanke, ist die zentrale Beurteilungsgrundlage ihres ordnungsrelationalen Bedrohungspotentials. Mit Bezugnahme auf jüngere kulturtheoretische Konzepte der Immunisierung wurde im anschließenden Kapitel jenen grundlegenden Komplementärprozessen nachgegangen, die der Bedrohlichkeit des Bedrohlichen auf verschiedenen Ebenen entgegenwirken und den Akteuren trotz ihrer unaufhebbaren Verwundbarkeit insulare Daseinsräume einer zeitweiligen Gesichertheit eröffnen. Unter existentiellen Immunisierungen verstanden wir grundlegende Sekurisierungsvorgänge innerhalb der physiopsychischen Daseinsmatrix, die es den Akteuren ermöglichen, das Begegnende auf unproblematische Weise begegnen zu lassen. Sie fördern jene plastischen, auf den Prinzipien der Lernfähigkeit und Kreativität basierenden Integrations- und Reaktionspotentiale, deren Wirkung in einer lebensweltstabilisierenden Transformation potentiell bedrohlicher Umweltreize besteht. Dabei umfassen sie sowohl basale Abstimmungsprozesse, die einen präreflexiven Schutz vor materiellen Widerständen gewähren, als auch die Herausbildung sinngenerierender Typisierungen, die vor dem semantischen Nichts und dem sensorischen Zuviel bewahren. Mit den Konzepten der tautologischen, pragmatischen, expliziten und transzendierenden Immunisierung wurden daraufhin sekundäre Stabilisierungsformen benannt, die den primär immunisierenden Wahrnehmungs-, Wissens- und Handlungsmustern in Stufen zunehmender Integrationskraft eine sichernde Verankerung bieten. Im zweiten Teil des Kapitels befassten wir uns mit sozialen Immunisierungen und explizierten dabei, was innerhalb des ersten Teils vorerst unthematisch vorausgesetzt wurde: die elementaren Fundierungseffekte der interexistentiellen Struktur des menschlichen Daseins. Unter sozialen Immunisierungen verstanden wir sämtliche Prozesse, die der Protektion des Lebenszusammenhangs einer gegebenen Gruppierung dienen und somit nicht nur einzelne, sondern stets mehrere Akteure zugleich betreffen. Zunächst befassten wir uns mit impliziten Formen sozialer Immunisierung und fassten hierunter intersubjektive Stabilisierungsmechanismen, die den gemeinsamen Alltag diesseits aller bewussten Intentionen durchwirken. Diese Vorgänge wechselseitiger Bergung entsprechen einer präreflexiven Untermauerung tragender Sinnelemente und Praxisformen. Indem sie vermeintlich Selbstverständliches als Selbstverständliches reproduzieren, festigen sie die Strukturen gemeinsam bewohnter Interaktionsräume, in denen sich die einlassgewährenden Wirklichkeitsbezüge der jeweiligen Bewohner unthematisch bestätigen. Mit dem Terminus der expliziten sozialen Immunisierung wurden demgegenüber Prozesse bezeichnet, denen bewusste Intentionen zugrunde liegen, da sie sich gegen problematisch thematisch gewordene Bedrohungen richten. Hierbei galt es also zu berücksichtigen, dass sich ihre jeweilige Gestalt

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auf der Grundlage bedrohungsspezifischer phänomenkonstituierender Kommunikationsprozesse formiert: Bedrohungskommunikationen bringen die Gegenstände, von denen sie handeln, erst eigens hervor, werden dabei von den vorherrschenden Wissens- und Machtverhältnissen strukturiert und materialisieren sich in Form konkreter Immunisierungsapparate, welche die künftige Diagnose und Bearbeitung entsprechender Bedrohungen regulieren. Die dergestalt strukturierten und strukturierenden Immunisierungsapparate dienen der präventiven Regierung des Zukünftigen im Sinne einer zuvorkommenden Verhinderung oder Linderung bedrohungsrealisierender Ereignisse. Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass die genannten Immunisierungsprozesse eng miteinander verwoben sind, so dass die impliziten und expliziten Formen sozialer Immunisierung als zentrale Prägekräfte existentieller Immunisierungen verstanden werden müssen. Im Rahmen intersubjektiv stabilisierter Räume vermögen die Akteure bis auf weiteres persistente lebensweltliche Ordnungen zu etablieren, die in positionsrelationalem Maße vor bedrohlichen Einbrüchen des Außerordentlichen geschützt sind. Es gilt nun, sich Begebenheiten zuzuwenden, deren signifikantes Merkmal darin besteht, dass sie die Immunisierungsapparate der betroffenen Gruppierungen massiv überlasten und infolgedessen zu tiefgreifenden Ordnungsverwundungen führen. Bevor wir nun den Begriff der Katastrophe näher bestimmen und vor diesem Hintergrund eine katastrophenanalytische Operationalisierung der bisherigen Erörterungen in die Wege leiten, mag es aufschlussreich sein, sich zunächst mit einigen etymologischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen. Das Wort „Katastrophe“ wurde um 1600 aus dem lateinischen catastropha („Umkehr“, „Wendung“; „Vernichtung“, „Verderben“) entlehnt und geht auf das griechische Verb καταστρέφειν („umkehren“, „umwenden“) beziehungsweise auf das entsprechende Substantiv καταστροφή („Wendung nach unten“) zurück.303 Ausgehend von dieser Grundbedeutung lassen sich in der antiken Verwendung des Begriffs eine Vielzahl von Bedeutungsvariationen ausmachen; terminologiegeschichtlich folgenreich war dabei zunächst aber vor allem sein poetologischer Gebrauch, wobei sich wiederum drei semantische Ebenen unterscheiden lassen: „Ebene des poetologischen Strukturbegriffs (letzter Teil des Dramas); Ebene des dramatischen Veränderungsbegriffs (Umschlag zum Schlechten oder zum Guten); Ebe-

303 Vgl. Duden. Das große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. Mannheim 1994, S. 713; Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Mannheim 2007, S. 397.

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ne des intentionalen Wirkbegriffs (beruhigende und friedvolle Wirkung auf die Akteure des Dramas sowie auf das Publikum)“304. Als der Begriff zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch im Deutschen zunehmend Verwendung fand, zeichnete sich eine quantitative Erweiterung seines Gebrauchs ab, da er aus der Poetologie in andere Disziplinen – wie die Theologie oder die Astrologie – übertragen wurde und bald auch der Bezeichnung von gravierenden Einschnitten innerhalb des menschlichen Lebens im Allgemeinen diente. Daneben begann sich unterdessen auch eine qualitative Transformation zu vollziehen: Nachdem der Katastrophenbegriff bereits in der Septuaginta in einem pejorativen Sinne verwendet wurde, war sein Gebrauch daraufhin über lange Zeit von vorwiegend positiven Konnotationen („glückliche Wendung“; „harmonisierende Auflösung“ etc.) getragen. Erst jetzt, im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts schlug diese Tendenz wieder um, bis der Terminus um 1800 schließlich in erster Linie eine „Wendung zum Schlechten“ bezeichnete.305 Außer diesem Wandel, der dazu führte, dass das Wort „Katastrophe“ in seinem alltagssprachlichen Gebrauch schließlich vor allem auf „Unglück“, „Unheil“ oder „Verhängnis“ verwies,306 war für die Genese der heute üblichen Verwendung des Katastrophenbegriffs auch seine allmähliche semantische Kopplung an einschneidende Naturereignisse prägend. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff in geologischen Theorien adaptiert, blieb dabei zunächst aber – so etwa bei Thomas Burnet, John Woodward oder William Whiston – an theologisch geprägte Sintflut- und Apokalypsevorstellungen gebunden. Unter dem Einfluss Jean-André de Lucs, insbesondere aber durch die Arbeiten Georges Cuviers, dem Begründer des Katastrophismus, begann sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts hingegen eine säkularisierte, auf „umwälzende Naturereignisse“ im rein geophysikalischen Sinne abzielende Bedeutung zu etablieren.307 „Katastrophe“ ersetzte hierbei zunehmend den zur Bezeichnung solcher natürlichen Extremereignisse ursprünglich gebräuchlichen Begriff der „Revolution“, was wohl nicht zuletzt damit zusammenhing, dass der Revolutionsbegriff nach 1789 mehr und mehr von seinen naturkundlichen Bezügen gelöst wurde und fortan vornehmlich

304 Olaf Briese/Timo Günther: Katastrophe. Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 155-195, hier S. 163. Vgl. auch Mischa Meier: Zur Terminologie der (Natur-)Katastrophe in der griechischen Historiographie – einige einleitende Anmerkungen. In: Historical Social Research 32/3 (2007), S. 44-56. 305 Briese/Günther 2009, S. 163-172. 306 Vgl. Groh/Kempe/Mauelshagen 2003, S. 16f. 307 Vgl. Hannig 2015, S. 36f.

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in politischen Kontexten zur Anwendung kam.308 Zwar wurden die zentralen Positionen des Katastrophismus unter dem Einfluss des Uniformitarismus – demzufolge die Erdgeschichte, wie etwa Charles Lyell postulierte, als ein langsamer, stetiger Prozess zu verstehen sei, der weniger durch einzelne große, denn vielmehr durch eine große Anzahl kleinerer Extremereignisse vorangetrieben werde – im Verlauf des 19. Jahrhunderts relativiert, doch hatte dies letztlich keine Negierung, sondern vielmehr eine weitere Pluralisierung des Katastrophenbegriffs zur Folge. Bezeichnete er ursprünglich lediglich zwei religiös konnotierte Elementarereignisse (Sintflut und Jüngstes Gericht) und später mehrere einschneidende, epochenkonstituierende Großereignisse, so wurde er von nun an zur Benennung natürlicher Extremereignisse im Allgemeinen verwendet.309 Die skizzierte pejorative Engführung und gegenstandsbezogene Pluralisierung prägt den Katastrophenbegriff bis heute. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts festigte sich in verschiedenen Wissensgebieten seine Verwendung zur Bezeichnung negativ konnotierter Ereignisse des Außergewöhnlichen. Gerade auch im öffentlichen Sprachgebrauch fand er immer größere Verbreitung und wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts schließlich zu einer „universalen Krisenkategorie“310. Die gesteigerte Zirkulation des Begriffs seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts hat dabei Tendenzen einer semantischen Verflachung nach sich gezogen, da sich angesichts seiner ubiquitären Verwendung Bedeutungsaspekte des „Wandelevozierenden“, „Außergewöhnlichen“, „Außeralltäglichen“ etc. nicht in ihrer ursprünglichen Brisanz gehalten haben. Neben der – nicht zuletzt nachrichtenwertgesteuerten – medialen Dauerpräsenz des „Katastrophischen“,311 ist hierfür insbesondere die weite Verbreitung eines synonymischen Wortgebrauchs zur Benennung von inneralltäglichen Unglücksfällen beziehungsweise von unproblematischen Problemen aller Art verantwortlich, weil, wie Wolf Dombrowsky zuspitzend formuliert, „nichts Katastrophe ist, wenn alles Katastrophe heißt“312. Im Rekurs auf die eingangs skizzierten soziologischen, kulturanthropologischen und humangeographischen Forschungsansätze soll nun vermittels des bis-

308 Vgl. Groh/Kempe/Mauelshagen 2003, S. 18f.; Reinhart Koselleck: Revolution. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1984, S. 653-788, hier S. 775. 309 Vgl. Briese/Günther 2009, S. 187. 310 Ebd., S. 189. 311 Vgl. hierzu etwa Imhof 2004. 312 Wolf R. Dombrowsky: Katastrophe und Katastrophenschutz. Eine soziologische Analyse. Wiesbaden 1989, S. 47.

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her erarbeiteten begrifflichen Instrumentariums an den semantischen Kern des „Außerordentlichen“ angeknüpft werden. Diesem Verständnis liegt indessen kein normativer, sondern ein empirisch variabler, auf die Wirklichkeit der zu untersuchenden Akteure bezogener Begriff von „Ordnung“ zugrunde. Was eine Katastrophe ist, kann hier demzufolge nicht substantialistisch über konkret benennbare Effekte, Schäden und Opfer definiert werden – vielmehr gilt es, sie in einem relationalen Begriffsgefüge zu verorten. Im Folgenden werden Katastrophen somit als Phänomene aufgefasst, deren katastrophischer Charakter darin besteht, dass sie die lebensweltkonstituierenden existentiellen Ordnungen der betroffenen Akteure tiefgreifend verwunden. Es handelt sich um bedrohungsrealisierende Ereignisse, die im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht aufgehoben werden können und daher ein heterogenes Syndrom problematischer Probleme evozieren. Die umrissene Relationalität katastrophischer Ereignisse bildet den Ausgangspunkt unseres Ansatzes. Auf der Grundlage dieser Vorannahme soll nun danach gefragt werden, was sich hinter „Katastrophen“ im Einzelnen verbirgt: Welche Prozesse und Ereignisse liegen diesen sprachlich vereinheitlichten Widerfahrnissen zugrunde? Inwiefern sind sie mit den jeweiligen präkatastrophischen Ordnungen verknüpft? Worin bestehen ihre ordnungsspezifischen Ursachen? Wie werden sie erfahren und verarbeitet? Welche kurz-, mittel- und langfristigen Effekte zeitigen sie in den jeweiligen Ordnungsdimensionen? Und wie kann schließlich wieder zu einer stabilen Ordnung zurückgefunden werden? Im Folgenden gilt es diese Fragen weiter auszudifferenzieren und analytisch zu schärfen. Zu diesem Zweck befasst sich die Arbeit zunächst mit der Katastrophengenese, bevor es daraufhin um die Vorgänge und Mechanismen der Ordnungsrekonfiguration geht. Diese analytisch-pragmatische Unterscheidung darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Katastrophen in unserem Zusammenhang als plastische, deutungsoffene Phänomene verstanden werden, deren semantische Gestalt sich im Zuge der jeweiligen Ordnungsrekonfigurationsprozesse erst eigens herausbildet. 6.1 Katastrophische Ordnungsdeformationen Der erste Teil des zu entwickelnden Untersuchungsprogramms bezieht sich auf die Rekonstruktion katastrophischer Ordnungsdeformationen: Es gilt einen kulturwissenschaftlichen Zugang zum historisch-analytischen Nachvollzug der ordnungsrelationalen Ursachen und Effekte katastrophenevozierender Ereignisse zu gewinnen. Innerhalb der konkreten Untersuchung geht es zum einen also darum, den soziomateriellen Prozess nachzuzeichnen, der dem jeweiligen Ereignis vo-

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rausgegangen ist, und somit zu klären, welche unterschiedlichen Faktoren etwa den Anstieg eines Hochwassers, die Explosion eines Reaktors oder den Abgang einer Lawine auf verschiedenen Wegen beeinflusst beziehungsweise mitverursacht haben. Zum anderen sollte dabei aber auch in den Blick genommen werden, wie – also in welchen katastrophischen Subereignissen – sich das katastrophenevozierende Ereignis de facto ereignet hat. Neben den komplexen Entstehungszusammenhängen gilt es somit also auch die materiellen, sozialen und kulturellen Folgen zu untersuchen, durch die das betreffende Hochwasser, die betreffende Reaktorexplosion oder der betreffende Lawinenabgang erst zu einer Katastrophe wurden – genauer: dazu Anlass gaben, als „Katastrophe“ verstanden werden zu müssen. Auf der Basis dieser – möglichst früh ansetzenden – genealogischen Grundausrichtung vermag man jener verbreiteten Narrationsfigur entgegenzuwirken, deren implizite Exkulpationsstrategie darin besteht, Katastrophen als schicksalhafte, natürliche Extremereignisse zu repräsentieren und ihren Ursprung dabei einseitig der Sphäre des Unverfügbaren zuzuordnen. Die differenzierte Visibilisierung der Ereignisursachen und -effekte ermöglicht es, Katastrophen entgegen solchen Strategien als prozessuale Geschehnisse zu beschreiben, die einem komplexen Gefüge unauflösbar verwobener materieller und soziokultureller Elemente entwachsen. Sie verdeutlicht, dass es sich bei jeder „Naturkatastrophe“ stets auch um eine „Sozial-“ und „Kulturkatastrophe“ handelt.313 So entsprechen katastrophologische Genealogien einer analytischen Entnaturalisierung des betreffenden Ereignisses und folgen damit einem Gebot, das sich dem kulturwissenschaftlichen Blick auf „Natur“ aus zwei zentralen Gründen ja auch generell stellt. Zum einen gibt es, wie etwa Franz Fliri formuliert, „weder in den Alpen

313 Dies ist freilich ein zentrales heuristisches – und Legitimität stiftendes – Argument der historischen sowie der sozial- und kulturwissenschaftlichen Katastrophenforschung. Vgl. etwa Lars Clausen: Tausch. Entwürfe zu einer soziologischen Theorie. München 1978, S. 133; Uwe Lübken: Die Natur der Gefahr. Überschwemmungen am Ohio River im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2014, S. 11-13; Patrick Masius: Naturkatastrophen in der Geschichte: Begegnungen zwischen Machtlosigkeit und Machbarkeit. In: Ders./Jana Sprenger/Eva Mackowiak (Hg.): Katastrophen machen Geschichte. Umweltgeschichtliche Prozesse im Spannungsfeld von Ressourcennutzung und Extremereignis. Göttingen 2010, S. 153-171, hier S. 153; Gerrit Jasper Schenk: Katastrophen in Geschichte und Gegenwart. Eine Einführung. In: Ders. (Hg.): Katastrophen. Vom Untergang Pompejis bis zum Klimawandel. Ostfildern 2009, S. 9-19, hier S. 11f.

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noch weltweit eine vom Menschen unbeeinflußte Natur“314. Wenn der Mensch aber „zu einem wesentlichen Wirkfaktor dafür geworden ist, was wir als Natur vorfinden,“ so Gernot Böhme, dann muss diese Natur auch als ein „soziales Produkt“ verstanden werden.315 Zum anderen sollte ferner die konstitutive Positionsgebundenheit jeder Naturwahrnehmung eine hinreichende Berücksichtigung finden. Da „Natur“ uns immer im Rahmen soziokulturell formierter Resonanzräume begegnet, ist eine adäquate Analyse „ihres“ Erscheinens und Wirkens nur dann möglich, wenn diese Konstitutionsbedingungen in ihrer formierenden Kraft mitbedacht werden. So stellte sich etwa für die Umweltsoziologie, wie Birgit Peuker und Martin Voss resümieren, von Beginn an immer wieder auch die Frage, „ob Umweltprobleme tatsächlich, also objektiv zugenommen hätten, oder ob sich nur die gesellschaftliche Sensibilität für die menschliche Umwelt erhöht habe.“316 Kurzum: Auch wenn Katastrophen als unvermittelte, plötzlich auftretende, außerordentliche Ereignisse erfahren werden, gilt es zu berücksichtigen, dass es sich hierbei zugleich um hybride, durch heterogene Faktoren geprägte Geschehen handelt, deren Genese – und Gestalt – stets eng mit jenen Ordnungsverhältnissen verflochten ist, die schließlich von ihnen durchbrochen werden. Da die genealogische Rekonstruktion also der Intention folgt, Katastrophen in ihren ordnungsrelationalen Bezügen zu verstehen, wendet sie sich insbesondere dem präkatastrophischen Alltag zu. Von zentralem Interesse ist etwa, welche Bedrohungstraditionen sich in den alltagsprägenden Ordnungsgefügen niedergeschlagen haben.317 Mit Blick auf die jeweilige Katastrophe gilt es also danach zu

314 Franz Fliri: Mensch und Naturkatastrophen in den Alpen. In: Interpraevent 2 (1975), S. 37-49, hier S. 38. 315 Gernot Böhme: Aporien unserer Beziehung zur Natur. In: Ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1992, S. 9-25, hier S. 16. 316 Birgit Peuker/Martin Voss: Einleitung: Vom realen Verschwinden einer Fiktion. In: Dies. (Hg.): Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion. Bielefeld 2006, S. 9-33, hier S. 10. Vgl. dazu auch Wolfgang Krohn/Georg Krücken: Risiko als Konstruktion und Wirklichkeit. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung. In: Dies. (Hg.): Riskante Technologien: Reflexion und Regulation. Einführung in die sozialwissenschaftliche Risikoforschung. Frankfurt am Main 1993, S. 9-44, hier S. 9-14. 317 Zu den Bezügen zwischen „Tradition“ und „Bedrohung“ vgl. Hermann Bausinger: Tradition. In: Jan Hinrichsen/Reinhard Johler/Sandro Ratt (Hg.): Katastrophen/ Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt. Tübingen 2018, S. 117-126 (im Erscheinen).

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fragen, ob die betreffenden Akteure bereits früher mit vergleichbaren Widerfahrnissen konfrontiert wurden und es infolge dieser – möglicherweise wiederholten – Konfrontation zu entsprechenden Immunisierungsprozessen gekommen ist. Solche Immunisierungsprozesse beziehungsweise die hieraus erwachsenden Sekurisationselemente – die sowohl übergeordnete Organisationsstrukturen, Institutionen, Techniken, Diagnoseverfahren, Bauverordnungen etc. als auch präventive und kurative Wissens- und Handlungsmuster der einzelnen Akteure umfassen können – werden in jüngeren sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen häufig unter dem Begriff der „Katastrophenkultur“ zusammengefasst.318 Es handelt sich um spezifische Sicherheitsdispositive, die sich infolge früherer Erfahrungen herausgebildet haben und den jeweils aktuellen Umgang mit Bedrohungen und katastrophischen Bedrohungsrealisierungen auf verschiedenen Ebenen strukturieren. Eine kulturwissenschafliche Rekonstruktion der konkreten Ursachen des katastrophenevozierenden Ereignisses beinhaltet sodann freilich die Klärung der naheliegenden Frage, inwiefern die betreffenden Vorgänge von Praktiken des präkatastrophischen Lebensvollzugs direkt oder vermittelt mitverursacht wurden. „Im Hintergrund des Alltags“, so eine zentrale katastrophologische These, „bildet sich ein Verflechtungszusammenhang, der in der Katastrophe schlagend sichtbar wird.“319 Neben konkreten ereignisbedingenden Fehlentscheidungen – wie die Verwendung schlechter Baumaterialien, die Missachtung bekannter katastrophischer Vorzeichen o.Ä. – müssen hierbei folglich insbesondere auch schleichende Zersetzungsprozesse in den Blick genommen werden. So ist in vielen Fällen beispielsweise zu klären, ob die ökonomische Bewirtschaftung der

318 Vgl. etwa Bankoff 2003; Favier/Granet-Abisset 2009, S. 107-119; Carsten Felgentreff/Wolf R. Dombrowsky: Hazard-, Risiko- und Katastrophenforschung. In: Carsten Felgentreff/Thomas Glade (Hg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen. Berlin/Heidelberg 2008, S. 13-29, hier S. 23f.; Hugger 1990, S. 25; Reinhard Johler: Die Kultur der Katastrophe und die Materialisierung der Kultur. In: Karl Braun/ Claus-Marco Dieterich/Angela Treiber (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse, Dinge, Praktiken. Würzburg 2015, S. 438-443, hier S. 440-442; Christian Pfister: Die „Katastrophenlücke“ des 20. Jahrhunderts und der Verlust traditionalen Risikobewusstseins. In: GAIA. Ecological Perspectives for Science and Society 18/3 (2009), S. 239-246, hier S. 240. 319 Elke M. Geenen: Kollektive Krisen. Katastrophen, Terror, Revolution – Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Lars Clausen/Elke M. Geenen/Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen. Münster 2003, S. 5-23, hier S. 11.

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materiellen Umwelt eine sukzessive Destabilisierung der Existenzbedingungen nach sich gezogen hat, da sie auf einer unterschätzten beziehungsweise in Kauf genommenen Vergeudung notwendiger Ressourcen basierte oder nichtintendierte Nebenfolgen zeitigte, die infolge langer Vernachlässigung ein gravierendes Bedrohungspotential akkumulierten. – Es gilt zu analysieren, ob die ursprünglichen Verhältnisse deshalb „katastrophenträchtig“320 wurden, weil das präkatastrophische Ordnungsgefüge von Strukturen getragen war, deren permanente Realisierung mit der Zeit ihre eigenen Grundlagen unterwanderte. Des Weiteren ist aber auch danach zu fragen, weshalb diese „riskanten Verwicklungen“ schließlich zu einer Katastrophe führten. Erhoben werden muss in diesem Zusammenhang etwa, ob und wie – also vermittels welcher Wissensmuster und Diagnosetechnologien – die betreffende Bedrohung wahrgenommen wurde. Ferner gilt es zu rekonstruieren, welche Akteure die dergestalt wahrgenommene Bedrohung thematisierten und ob diese Akteure – mit Blick auf die je spezifischen medialen Verbreitungsoptionen und vorherrschenden Resonanzbedingungen – auf der Basis ihrer sozialen Position dazu in der Lage waren, eine wirkmächtige Bedrohungskommunikation zu initiieren. Schließlich ist zu erörtern, wie der betreffende Bedrohungsgegenstand im Rahmen dieser Kommunikationsprozesse formiert wurde und ob die Bedrohungskommunikation innerhalb des jeweiligen kommunikativen Haushalts einen hegemonialen Status erlangen konnte.321 Neben der Diagnose beziehungsweise der Wahrnehmung, Beurteilung und kommunikativen Verhandlung des katastrophenträchtigen Zustands, gilt es die hieraus erwachsenen und bereits vorhandenen Immunisierungsapparate zu rekonstruieren. Um nachvollziehen zu können, auf welche Weise sich die Bedrohungskommunikation objektivierte, also in welchen präventionsdienlichen Begriffen, Theorien, Verordnungen, Gesetzen, Notfallplänen, Institutionen, Techniken, Bauwerken etc. sie sich niederschlug, muss dabei nicht nur nach den inhaltlich formierten Räumen des Sag- und Sichtbaren sowie den verfügbaren finanziellen und materiellen Mitteln gefragt werden, sondern insbesondere auch nach den diesbezüglich relevanten Machtstrukturen. So stellt sich in diesem Zu-

320 Vgl. Lars Clausen/Wieland Jäger: Zur soziologischen Katastrophenanalyse. In: Zivilverteidigung 39 (1975), S. 20-25, hier S. 22; Clausen 1983, S. 44. 321 Vgl. Fabian Fechner/Tanja Granzow/Jacek Klimek/Roman Krawielicki/Beatrice von Lüpke/Rebekka Nöcker: „We are gambling with our survival.“ Bedrohungskommunikation als Indikator für bedrohte Ordnungen. In: Ewald Frie/Mischa Meier (Hg.): Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaften. Tübingen 2004, S. 141-173.

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sammenhang die Aufgabe, das jeweilige Ordnungsgefüge hinsichtlich der in ihm auffindbaren Sprecherpositionen und Entscheidungsbefugnisse zu analysieren. Im Einzelnen gilt es also zu erheben, welche Akteure über politische Macht verfügten oder aufgrund ihrer sozialen Stellung als legitime Experten galten beziehungsweise wie das spezifische Bedrohungswissen verteilt war und wie die relevanten Entscheidungsprozesse abliefen. Ferner muss aber auch geklärt werden, welchen Status die bedrohten Regionen und Akteure hatten, wie die translokalen Bezüge zwischen dem Zentrum und der Peripherie strukturiert waren und mit welchen konkreten Konsequenzen die maßgeblich Entscheidungsbefugten im Falle einer Katastrophe zu rechnen hatten. Die genealogische Rekonstruktion des katastrophenevozierenden Ereignisses umfasst zum einen also eine rückblickende Darstellung der riskanten soziomateriellen Verwicklungen und zum anderen – soweit beobachtbar – eine Analyse der ereignisbezogenen expliziten Immunisierung. Sofern es zu entsprechenden präventiven Immunisierungsprozessen gekommen ist, bleibt zudem zu klären, aus welchen Gründen diese Bemühungen letztlich scheiterten – weshalb die kommunikativ vermittelte Bedrohungswahrnehmung also trotz der in Gang gesetzten Gegenmaßnahmen nicht zu einer „self-destroying prophecy“322 werden konnte. So mag etwa die Radikalität der Bedrohung unterschätzt oder die Effektivität der Immunisierungsapparate überschätzt worden sein. Ferner könnte sich mit der Zeit ein Wissensverlust oder eine Transformation der Relevanzstrukturen vollzogen und damit entsprechende Effekte der Desensibilisierung und Bedrohungsvergessenheit nach sich gezogen haben. Mit Blick auf das gesamte Spektrum des präkatastrophischen Ordnungsgefüges gilt es also zu analysieren, aus welchen Gründen die vorherrschenden Verhältnisse trotz der initiierten Immunisierungsprozesse katastrophenträchtig blieben oder im Laufe der Zeit wieder katastrophenträchtig wurden. Neben den Ursachen katastrophenevozierender Ereignisse ist aber auch deren je konkrete Realisierung zu beleuchten. Schließlich wurden das Hochwasser, die Reaktorexplosion oder die Lawinenabgänge ja nur deshalb zu einer Katastrophe, weil sie sich nicht im resonanzlosen Vakuum unbewohnter Orte und Zeiten ereigneten, sondern einen historisch gewachsenen, gemäß seiner spezifischen soziomateriellen Konstitution deformierbaren Daseinsraum trafen und die existentiellen Ordnungen der dort lebenden Menschen tiefgreifend verwundeten. Die jeweiligen ereignisrealisierenden Deformationen sind dementsprechend nicht als Katastrophenfolgen zu verstehen, sondern als Geschehnisse, in deren Vollzug sich die Katastrophe erst eigens konstituierte: „So wenig der Wind

322 Vgl. Clausen/Möller 1993, S. 121.

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weht, so wenig zerstören Katastrophen – sie sind die Zerstörung, wie bewegte Luft ‚Wind‘ ist.“323 Da die hervorgerufenen Effekte der Ereignisrealisierung potentiell alle Bereiche des jeweiligen Ordnungsgefüges betreffen und auf der Ebene existentieller Ordnung eine „radikale Form der Kontingenz“324 entwickeln können, die „das Menschenleben im ganzen“ zerrüttet,325 ist hierbei eine entsprechend expansive Ausweitung der Untersuchungsperspektive notwendig. Während es im ersten Teil nur um jene spezifischen Formen expliziter Immunisierung ging, die wir oben den Strategien der zuvorkommenden Verhinderung zugeordnet haben, geht es nun auch um jene der zuvorkommenden Linderung sowie um sämtliche impliziten sozialen und existentiellen Immunisierungen, die auf den Wirkungsverlauf des Ereignisses Einfluss hatten. Um die Rekonstruktion der Katastrophengenese fortsetzen zu können, müssen die Vulnerabilität und Resilienz der betroffenen Gruppierungen und Akteure also in einem möglichst umfassenden Sinne in den Blick genommen werden. Die resonanz- und damit ereignisformierenden Faktoren können dabei von den geographischen Bedingungen und der aktuellen Wetterlage über die lokale Siedlungsstruktur und die materielle Beschaffenheit der Gebäude bis zu den vorhandenen Kommunikationsmitteln, Bergungsutensilien und Erste-Hilfe-Materialien reichen. Relevant ist in diesem Zusammenhang zudem, ob die Betroffenen auf entsprechende Notfallpläne zurückgreifen konnten, wie der Ort infrastrukturell vernetzt war, ob es überregional institutionalisierte Rettungskräfte gab oder ob man über einen adäquaten Versicherungsschutz verfügte. Durch die fallspezifische Analyse der präkatstrophischen Ordnungsverhältnisse und Immunisierungsapparate ist also zu prüfen, aus welchen Gründen sich das katastrophenevozierende Ereignis in Gestalt einer Katastrophe ereignete. Entscheidend ist nun aber freilich insbesondere, wie das betreffende Ereignis von den Betroffenen erfahren wurde. Schließlich waren die jeweils hervorgerufenen Zerstörungen nur insofern verwundend als sie die existentiellen Ordnungen konkreter Akteure betrafen. So ereignen sich Katastrophen unserer Auffassung nach dann, wenn ein Ereignis zerstörerische Effekte zeitigt, die aufgrund

323 Dombrowsky 2004, S. 179 (Hervorhebungen im Original). 324 Vgl. Waldenfels 2000, S. 10: „Die radikale Form der Kontingenz betrifft die Ordnung selbst; nicht nur etwas innerhalb der jeweiligen Ordnung, sondern diese selbst kann auch anders sein.“ 325 Arno Borst: Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung. In: Historische Zeitschrift 233 (1981), S. 529-569, hier S. 541.

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ihrer Rapidität und Radikalität326 im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht aufgehoben werden können – Effekte, in denen sich für einschneidende Momente „die ultimative Bedrohung des Verlustes aller Anschlussmöglichkeiten“327 realisiert. Wir verstehen Katastrophen als Ordnungsdeformationen, die sich dann ereignen, wenn der beständige Wandel eines Ordnungsgefüges dergestalt dynamisiert wird, dass die physiopsychischen Ordnungsleistungskapazitäten der betroffenen Akteure hiervon massiv überlastet sind. Ordnungsdeformationen entsprechen demnach einem rapiden, radikalen Ordnungstransformationsprozess, dessen katastrophischer Charakter daraus erwächst, dass er die akteursspezifischen Grenzen des Integrierbaren drastisch überschreitet und infolgedessen zu Angst, Schmerz, Panik, Agonie, Verzweiflung, Sinnverlust und Tod führt. Katastrophenevozierende Ereignisse realisieren sich so gesehen zum einen in Abhängigkeit der soziomateriellen Konstitution des betroffenen Ordnungsgefüges und zum anderen in Relation zu der – bei aller Intersubjektivität doch je individuell konfigurierten – Existenzmatrix der betroffenen Akteure. Die jeweilige Katastrophe ereignet sich also niemals einheitlich, sondern umfasst stets einen heterogenen Erfahrungsraum prismatisch spezifizierter Wahrnehmungsvollzüge. Vor dem Hintergrund dieser positionsrelational divergierenden Katastrophenerfahrung variiert die konkrete Betroffenheit der Betroffenen in hohem Maße und reicht vom Verlust des Lebens über den partiellen Verlust der Existenzbedingungen bis zum „distanzierten Mitleiden“328 infolge einer bloß medial vermittelten Ereignisinvolviertheit. Wie bereits umrissen, resultiert diese Variation freilich nicht nur aus topographisch bedingten Lageunterschieden, sondern aus einem breiten Spektrum variabler Faktoren, die sich in der physiopsychischen

326 Dies in Anlehnung an Lars Clausen, der Katastrophen mit Bezug auf Ralf Dahrendorfs Revolutionstheorie als eine Form „krassen sozialen Wandels“ auffasst, die u.a. durch die Merkmale erhöhter Radikalität und Rapidität gekennzeichnet ist. Vgl. etwa Lars Clausen: Entsetzliche soziale Prozesse. Eine neue soziologische Herausforderung? In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Band 2. Frankfurt am Main 2008, S. 835-843, hier S. 838f. 327 Klaus P. Japp: Zur Soziologie der Katastrophe. In: Lars Clausen/Elke M. Geenen/ Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen. Münster 2003, S. 77-90, hier S. 82. 328 Vgl. Reiner Keller: Distanziertes Mitleiden. Katastrophische Ereignisse, Massenmedien und kulturelle Transformation. In: Berliner Journal für Soziologie 3 (2003), S. 395-414.

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Positionalität der Betroffenen niederschlagen. Für das Ausmaß beziehungsweise die Art und Weise der Betroffenheit sind außer dem Aufenthaltsort zum Zeitpunkt des Geschehens also etwa auch das Alter, das Geschlecht, die physische Konstitution, der ethnische Hintergrund und die verinnerlichten Wahrnehmungs, Denk- und Handlungsmuster der Akteure maßgebend – die katastrophische Betroffenheit variiert mit den spezifisch konfigurierten Ordnungsdispositionen sowie mit der damit in engem Zusammenhang stehenden und insbesondere für die jeweiligen Regenerierungsmöglichkeiten in hohem Maße relevanten Verfügbarkeit von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Neben einer Analyse der verursachten Zerstörung materieller und sozialer Tatsachen auf der Ebene des Ordnungsgefüges muss die genealogische Rekonstruktion der Katastropheneffekte somit auch eine Hinwendung zu den existentiellen Ordnungen der betroffenen Akteure umfassen. Nur wenn diese lebensweltliche Dimension Berücksichtigung findet, kann nach den problematischen Problemen gefragt werden, durch die sich das jeweilige Ereignis als eine Katastrophe ereignete. Es gilt zu untersuchen, aus welchen Gründen die eingelebten Akteur/ Umwelt-Korrespondenzen im Ereignisverlauf durchbrochen wurden, so dass es zu einer massiven Stockung der lebensweltlichen Idealisierungen des „Und-soweiter“ und des „Ich-kann-immer-wieder“ kommen musste: Zu welchen Verletzungen führte die Unauflösbarkeit der leibkörperlichen Situationsgebundenheit?329 Welche habitualisierten Deutungs- und Handlungsroutinen liefen jetzt ins Leere? Wurden gewohnte Erwartungssicherheiten außer Kraft gesetzt, normative Entwürfe enttäuscht, Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, bisherige Relevanzen relativiert? Schien das Begegnende seine ehedem verlässliche Umgänglichkeit zu verlieren, verstummte seine vermeintlich vertraute Bedeutsamkeit, so dass sich vormals fraglos zuhandene Dinge nun in ihrer bloßen Faktizität, in ihrer fragwürdig fremden Vorhandenheit zeigten?330 Verlor die soziomaterielle Umwelt ihren lebensweltlichen Nimbus, verloren die symbolischen Sinnwelten ihre daseinsverankernde Kraft? Kurzum: Vermittels einer möglichst detaillierten Berücksichtigung ihrer physiopsychischen Existenzmatrix gilt es zu analysieren, aufgrund welcher Deformationen die betroffenen Akteure den gewohnten Ordnungen des bisherigen Alltagsvollzugs entrissen wurden. Die genealogische Rekonstruktion von Katastrophen sollte unseren bisherigen Ausführungen zufolge sowohl eine Analyse der soziomateriellen Vorgeschichte des katastrophenevozierenden Ereignisses als auch eine Untersuchung der Effekte seiner konkreten Realisierung beinhalten. Wenngleich Katastrophen

329 Vgl. Böhme 2003, S. 41. 330 Vgl. Heidegger 2006, S. 73-75.

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von den Betroffenen in der Regel als plötzliche, quasi von außen kommende Einbrüche erfahren werden, sind sie im Rahmen einer kulturwissenschaftlich perspektivierten Analyse als prozesshafte, hybride Phänomene zu verstehen, deren Genese eng mit den präkatastrophischen Ordnungsverhältnissen verflochten ist. Die spezifische semantische Gestalt dieser Phänomene verdichtet sich indessen erst im Zuge der postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse, also durch die im Rückblick auf das jeweilige Geschehen sich vollziehenden Verarbeitungsbemühungen. 6.2 Postkatastrophische Ordnungsrekonfigurationsprozesse Mit dem Terminus der „Ordnungsrekonfiguration“ soll im Rahmen unseres katastrophologischen Analyseprogramms das polydimensionale Geflecht all jener Vorgänge benannt werden, die der postkatastrophischen Wiedergestaltung und (gestaltungsbasierten) Wiedergewinnung von Ordnung dienen. Der Begriff verdeutlicht, dass es durch katastrophische Ereignisse unserer Auffassung nach weniger zu einem radikalen Bruch, sondern vielmehr zu dynamisierten Transformationen kommt, in deren Folge sich zwar Substanzielles wandelt, prägende Elemente der präkatstrophischen Ordnungsverhältnisse aber nach wie vor wirksam bleiben.331 Ordnungsrekonfigurationsprozesse können dabei einerseits in Form einer sukzessiven Restabilisierung, Reimmunisierung und schließlich: Entdynamisierung des jeweiligen Ordnungsgefüges beschrieben werden, sie lassen sich andererseits aber auch im Sinne einer – in höchst unterschiedlichen Maßen gelingenden – Regenerierung der verwundeten existentiellen Ordnungen konkreter historischer Akteure verstehen. Während sie aus dem erstgenannten Blickwinkel als eine katastrophisch katalysierte Neuanordnung zentraler ordnungsrelevanter Elemente des betroffenen soziomateriellen Gesamtlebenszusammenhangs erscheinen, hebt die zweitgenannte Anschauungsweise erneut die lebensweltliche Dimension dieser Vorgänge in den Blick und fokussiert sie somit in ihrer vielfältigen positionsrelational-prismatischen Gebrochenheit. Die postkatastrophische Ordnungsrekonfiguration erscheint vor diesem Hintergrund als ein heterogenes

331 Wenngleich in anderem Zusammenhang – bezogen auf die „refigurierte Moderne“ –, verwendet etwa auch Knoblauch den verwandten Begriff der „Refiguration“, um bloße Gegenüberstellungen zu vermeiden und stattdessen eine Prozessperspektive einzunehmen, auf deren Basis die komplexen Zusammenhänge zwischen Kontinuität und Wandel nicht vorschnell aus dem Blick geraten. Vgl. Hubert Knoblauch: Die kommunikative Konstruktion der Wirklichkeit. Wiesbaden 2017, S. 391-398.

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Ensemble ordnungsgenerierender Prozesse, das von den betroffenen Akteuren in je eigener Weise erfahren und mitgestaltet wird. Neben der akteurs- beziehungsweise positionsrelationalen Differenzierung gilt es auch die genannte Heterogenität der hierbei relevanten Prozesse zu berücksichtigen. So müssen postkatastrophische Ordnungsrekonfigurationen als vielschichtige Vorgänge verstanden werden, die zahlreiche materielle und soziokulturelle Transformationen umfassen. Die einzelnen Elemente – Artefakte, Architekturen, Gesetze, Sanktionen, Machtpositionen, Wissensbestände etc. –, in denen sich die jeweiligen Prozesse verobjektivieren, weisen dabei eine enge transelementare Verflochtenheit auf. Wenn im Folgenden also nacheinander auf die somatische, materielle, soziale und semantische Seite postkatastrophischer Ordnungsrekonfigurationen eingegangen wird, so dient diese analytische Sezession der Rekonstruktion ordnungsgenerierender Teilaspekte, die sich stets wechselseitig bedingen und auf der Grundlage ihrer Wechselbezüge jenen Prozesskomplex konstituieren, in dessen Vollzug die deformierten Ordnungsrelationen Stück für Stück zu einer neuen Gestalt finden. Die genannten Prozesse haben ihren Ausgangspunkt in den massiven katastrophischen Zerstörungen beziehungsweise dem dadurch hervorgerufenen Bedarf an nachhaltigen Regenerierungsmaßnahmen und vollziehen sich somit vor dem Hintergrund eines polyvalenten Versehrungssyndroms. Sie führen im Verlauf ihrer Verwirklichung aber freilich weniger zu einer Resurrektion der präkatastrophischen Daseinsverhältnisse, sondern generieren in der Regel ihrerseits einschneidende Ordnungstransformationen. Ob und inwiefern dies der Fall ist, hängt wiederum von der zerstörungsbedingten Porosität des betroffenen Gefüges ab: „Je größer die Notlage, desto drängender bedarf es Lösungen, desto offener ist Gesellschaft auch für grundlegende Innovationen – und manchmal auch für besonders radikale Veränderungen.“332 Wenn nun im zweiten Teil unseres katastrophologischen Forschungsprogramms danach gefragt wird, vermittels welcher Techniken und Therapeutiken man dem soziomateriellen Katabolismus des katastrophischen Geschehens heilsam entgegenzuwirken vermochte, so gilt es dabei folglich auch die daraus erwachsenen ordnungsmodifizierenden Konsequenzen zu beleuchten. Im Einzelnen muss untersucht werden, ob und inwiefern die involvierten Akteure das hervorgerufene Syndrom problematischer Probleme deutend und handelnd bewältigen konnten, durch welche materiellen und soziokulturellen Faktorenkonstellationen diese Bewältigungsprozesse strukturiert wurden und in welchen kurz-, mittel- und langfristigen Transformationen sie sich auf verschiedenen Ordnungsebenen niedergeschlagen haben.

332 Dombrowsky 2008, S. 63.

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Ein erster analytischer Zugang zu postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationen eröffnet sich durch die Beleuchtung ihrer somatischen Aspekte. Aus dieser Perspektive erscheinen die zu untersuchenden Vorgänge als materiell/ soziokulturell strukturierte Heilungs- und Transformationsprozesse katastrophisch versehrter Leibkörper. Hierbei gilt es zunächst die Bergung, Rettung und (medizinische) Versorgung der elementar verwundeten Opfer zu rekonstruieren.333 Entscheidend ist dabei insbesondere, ob und in welchem Maße man vor Ort über die hierfür notwendigen Organisationsstrukturen, Materialien und Kenntnisse verfügte. Geklärt werden muss also, inwiefern die lokalen Verhältnisse – nicht zuletzt infolge vergangener Katastrophenerfahrungen – immunisierungsbasierte Optionen zur Selbsthilfe boten und ob die überlebenden, körperlich unversehrten Akteure dazu in der Lage waren, diese Möglichkeiten zu nutzen. Ferner ist zu rekonstruieren, ob, auf welche Weise und wie schnell man trotz der hervorgerufenen Zerstörungen Hilfe von außen mobilisieren konnte. In diesem Zusammenhang gilt es etwa die geographische Lage der betroffenen Gebiete, die verfügbaren Kommunikationsmittel, die infrastrukturelle Vernetzung oder die – freilich ihrerseits erfahrungsbasierten – Organisationsstrukturen der (über-)regionalen Rettungsdienste, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen zu berücksichtigen. Schließlich muss zur Rekonstruktion dieser ersten Maßnahmen aber auch geklärt werden, aus welchen (nicht-)menschlichen Akteuren sich die involvierten Rettungsdienste im Einzelnen zusammensetzten, also welche Experten, Artefakte und Techniken hier zum Einsatz kamen beziehungsweise über die Gestalt und den Verlauf des Einsatzes entschieden haben. Neben der unmittelbaren Rettung gilt es freilich auch längerfristige Prozesse in den Blick zu nehmen. So muss beispielsweise nach der medizinischen Behandlung und damit nach den zeit- und raumspezifischen Diagnose- und Heilpraktiken gefragt werden. Von Interesse ist hierbei etwa, welche Institutionen und Experten mit der Behandlung oder Pflege der Versehrten betraut werden konnten, welche Körperbilder beziehungsweise welche physikalischen, chemischen, biologischen etc. Vorannahmen dem je relevanten medizinischen Wissen zugrunde lagen oder vermittels welcher Apparaturen, Medikamente und therapeutischen Techniken physische Schmerzen gelindert und erforderliche kurative Prozesse gefördert werden konnten. Des Weiteren – und hiervon sind sowohl Versehrte als auch Unversehrte betroffen – stellt sich in diesem Kontext die Fra-

333 Da die Katastrophenerfahrung der Betroffenen in hohem Maße von der konkreten materiellen Beschaffenheit des katastrophischen Ereignisses abhängt, plädiert etwa Böhme dafür, die „Leib-Phänomenologie von Katastrophen nach den vier Elementen […] auszudifferenzieren“. Böhme 2003, S. 42.

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ge nach den somatischen Effekten der anderen Transformationen des Ordnungsrekonfigurationsprozesses. Zu klären ist also, wie sich die hervorgerufenen materiellen, sozialen und kulturellen Veränderungen auf die Körper der Akteure ausgewirkt haben – welche praxisvermittelten physischen Niederschläge sie fanden. Schließlich kann mit Blick auf die Dimension existentieller Ordnung aber gleichsam auch nach den Transformationen der Leiber gefragt werden – also danach, wie die im Rahmen der Rettung und medizinischen Behandlung sowie infolge der Effekte des beschleunigten Umweltwandels sich vollziehenden körperlichen Veränderungen von den Betroffenen selbst erfahren, gedeutet und angeeignet wurden. Ein zweiter Zugang zur Rekonstruktion postkatastrophischer Ordnungsrekonfigurationsprozesse ergibt sich aus der Beleuchtung ihrer materiellen Aspekte. Nach den Transformationen der Körper soll nun also die sukzessive Rematerialisierung der betroffenen Gebiete nachvollzogen werden. Hierzu zählt eine Analyse der verursachten Schäden genauso wie eine Rekonstruktion der lokalen Räumungsarbeiten – der analytische Schwerpunkt dieses Untersuchungsfeldes liegt indessen auf den raumeröffnenden und raumgestaltenden Prozessen des Wiederaufbaus.334 Es gilt nach den historisch figurierten materiellen Transformationen der konkreten postkatastrophischen Lebenswelten zu fragen. Schließlich schreiben sich, wie Henri Lefebvre formuliert, „die Geschichte und ihre Folgen, die ‚Diachronie‘, die Etymologie der Orte, d.h. all das, was dort geschehen ist und dabei Orte und Plätze verändert hat, in den Raum ein.“335 Zunächst kann in diesem Zusammenhang der Frage nachgegangen werden, wie sich die katastropheninduzierten expliziten Immunisierungsbemühungen auf lokaler Ebene materialisierten. Zu denken ist hierbei etwa an die Errichtung neuer Schutzverbauungen, an das Aufforsten von Bannwäldern oder an die Installation von Frühwarnsystemen, aber auch an Schutzkapellen, Bildstöcke, Mahnmahle und andere Objektivationen, die weniger dem Feld naturwissenschaftlich konfigurierter Technik denn jenem der magisch oder religiös motivierten Sekurisation und symbolischen Erinnerungspflege zuzurechnen sind. Ferner muss im Rahmen einer Rekonstruktion der Rematerialisierungsprozesse die Frage geklärt

334 Zur (katastrophen-)analytischen Kategorie des Raums vgl. auch Patrick Kupper: Raum. In: Jan Hinrichsen/Reinhard Johler/Sandro Ratt (Hg.): Katastrophen/Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt. Tübingen 2018, S. 105-116 (im Erscheinen). 335 Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 330-342, hier S. 334.

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werden, inwiefern es aufgrund von Kontaminierungen oder Zerstörungen zu gravierenden Veränderungen der Raumnutzungsoptionen kam. So gilt es etwa zu erörtern, ob ehedem bewohnte Gebiete nun nicht mehr besiedelt werden konnten, ob manche Flächen immunisierungsstrategischen Umwidmungen unterlagen oder ob sich in den jetzt als gefährdet geltenden Lagen die formellen Baubedingungen und Grundstückspreise veränderten. Damit zusammenhängend sollten des Weiteren die Architektur, Substanz und Anordnung der neu errichteten Bauwerke in den Blick geraten. Beispielsweise muss geklärt werden, ob es neben dem Wiederaufbau des Zerstörten auch zur Errichtung neuer, zusätzlicher Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude, öffentlicher Einrichtungen, Straßen, Wege, Brücken etc. gekommen ist und ob sich vor dem Hintergrund der Katastrophenerfahrung sowie sich wandelnder Mittel, Möglichkeiten und Zwänge die äußere Gestalt und innere Struktur dieser Bauten im Vergleich zu den Objektivationen präkatatrophischer Prägung verändert haben. In Fällen tiefgreifender katastrophischer Zerstörungen und entsprechend weitreichender Rematerialisierungsvorgänge gilt das analytische Interesse daneben aber insbesondere auch den Artefakten des Gebrauchs. Hierbei ist zu erörtern, ob und inwiefern sich durch Sachspenden oder Neuanschaffungen das lebensweltprägende materielle Gefüge aus Mobiliar, Kleidung, Kochutensilien, Werkzeug, Spielzeug, Schmuck, technischen Geräten etc. nachhaltig gewandelt hat. Sofern im Zuge des Wiederaufbaus also ein gravierender Austausch jener vielfältigen lebensweltlich zuhandenen Dinge erfolgte,336 die den Alltagsvollzug der Akteure gemäß ihrer spezifischen Widerständigkeit, Handhabbarkeit, Bedeutung und Anmutungskraft maßgeblich mitgestalten, sind diese Transformationen nun in ihren jeweiligen Wechselwirkungen zu rekonstruieren. Zudem muss im hier interessierenden Zusammenhang aber nicht zuletzt auch nach den verfügbaren Lebensmitteln gefragt werden. So gilt es mit Blick auf etwaige landwirtschaftliche Verwüstungen oder externe Einflussnahmen im Zuge postkatastrophischer Hilfsprogramme schließlich zu klären, ob – und mit welchen Folgen – sich die Ernährungsgewohnheiten der Betroffenen in den Jahren nach der Katastrophe verändert haben. Im Rahmen einer detaillierten Rekonstruktion postkatastrophischer Rematerialisierungsprozesse ist es freilich aufschlussreich, auch die diesen zugrunde

336 Zentrale Aspekte der theoretischen Rehabilitierung alltäglicher Artefakte im Zuge des „material turn“ hat Heidegger in seiner Analytik der „Zuhandenheit des Zeugs“ bereits vorweggenommen. Siehe Heidegger 2006, S. 63-88; vgl. hierzu auch Andreas Reckwitz: Der Ort des Materiellen in den Kulturtheorien. Von sozialen Strukturen zu Artefakten. In: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, S. 131-156, hier S. 155.

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liegenden soziokulturellen Kräftefelder zu explizieren. Schließlich wird die materielle Ausgestaltung der betreffenden Lebenswelten durch komplexe Wissensund Machtkonstellationen geprägt, die sich dergestalt in den postkatastrophischen Ordnungsverhältnissen greifbar objektivieren. So stellt sich in diesem Zusammenhang etwa „die Frage der Strukturierung von Beziehungen zwischen ‚Katastrophengebiet‘ und ‚Nichtkatastrophengebiet‘“337. – Prozesse postkatastrophischer Rematerialisierung sind durch vielfältige interdependente Faktoren beeinflusst, die in der Regel von den einschlägigen Deutungsdiskursen und juristisch verankerten Regularien über die Begutachtungs- und Planungskompetenzen der zu Rate gezogenen Experten bis zu den positionsspezifischen Einflussmöglichkeiten der einzelnen Betroffenen reichen – ihrer Vernetzung mit Entscheidungsträgern, ihrer Fähigkeit, legitime Ideen zu entwickeln, oder ihren technischen Mitteln und sprachlichen Möglichkeiten, diese Ideen in überzeugender Weise zu unterbreiten. Daneben kann schließlich aber auch der Frage nachgegangen werden, in welcher Form die solcherart strukturierten Rematerialisierungsprozesse ihrerseits strukturierende Effekte zeitigten. Der Raum des Materiellen ist in diesem Kontext als ein Raum von Möglichkeiten und Begrenzungen zu analysieren. Mit Blick auf die akteursspezifischen Ordnungsdispositionen gilt es hierbei also zu rekonstruieren, inwiefern die postkatastrophische Rekonfiguration ihrer positionsspezifisch verfassten materiellen Umwelten die Herausbildung neuer Wissens- und Praxismuster ermöglichten, erforderten, nahelegten, behinderten oder verhinderten. Wie schlugen sich die veränderten materiellen Bedingungen in den existentiellen Ordnungen der Akteure nieder? Welche kurz-, mittel- und langfristigen Transformationen zeitigte ihre lebensweltliche Integration? Wie prägten sie den zurückkehrenden Alltagsbetrieb? Eine dritte Dimension postkatastrophischer Ordnungsrekonfigurationsprozesse eröffnet sich durch die Analyse ihrer sozialen Aspekte. Neben den Körpern und Artefakten sowie den damit verknüpften interobjektiven Beziehungen gilt es nun also die intersubjektiven Relationen eingehender in den Blick zu nehmen. Hierbei ist zunächst aus einer weiten, die Sphäre des lokalen Mikrokosmos erneut überschreitenden Perspektive nach den katastrophisch bedingten sozialen Transformationen zu fragen. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang etwa die hervorgerufenen (De-)Legitimierungseffekte des katastrophischen Falsifika-

337 Geenen 1995, S. 182.

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tionsereignisses.338 So gilt es zu klären, ob und inwiefern Experten, Politiker und sonstige Entscheidungsträger durch das Geschehen ihren vormaligen Status verloren und welche Akteure gegebenenfalls an ihre Stelle traten oder anderweitig reüssierten. Um diesen Fragen nachgehen zu können, ist es aufschlussreich, sich mit den – an späterer Stelle noch detaillierter zu erörternden – postkatastrophischen Deutungsdiskursen zu befassen: Welche Koalitionen bildeten sich? Welche Positionen wurden vor dem Hintergrund der dominierenden Deutungen geschwächt oder gestärkt? Welche neuen Felder des Agierens und Konkurrierens entstanden infolge der angestoßenen Debatten? Im Anschluss an eine solche Transformationsanalyse auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sollen auch lokale Prozesse des sozialen Wandels in den Blick genommen werden. Hierbei gilt es zu untersuchen, wie sich Tod, Zerstörung und Verlust sowie die vielfältigen externen Einflüsse im Rahmen des Wiederaufbaus auf das betroffene Sozialgefüge ausgewirkt haben. Zunächst sind in diesem Kontext die beobachtbaren Dynamiken während der ersten Tage, Wochen und Monate nach der Katastrophe von Interesse. So stellt sich etwa die Frage nach den gemeinschaftsstiftenden Effekten der katastrophischen Versehrungen – also danach, ob es vor dem Hintergrund gemeinsamer Betroffenheit vorübergehend zur Herausbildung einer lokalen Kooperations- und Solidargemeinschaft kam, in deren Rahmen präkatastrophische Differenzen vorübergehend nivelliert wurden.339 Zudem sind in diesem Zusammenhang aber auch die lokalen Auswirkungen der Katastrophendeutung relevant. Hierbei ist beispielsweise zu rekonstruieren, ob einzelnen Akteuren vor Ort eine Mitschuld an den Ereignissen gegeben wurde oder ob sich unter den Betroffenen vornehmlich kohäsionskonsolidierende Exkulpationsstrategien etablierten, die entsprechende Verantwortlichkeiten – mit Verweis auf externe Akteure wie Gott, die Natur, das Schicksal, die Technik, das System, die Regierung etc. – lediglich außerhalb der betreffenden Gruppe lokalisierten. Neben solchen zeitweilig forcierten Ein- und Ausschließungstendenzen sind bezüglich der sozialen Rekonfigurationsprozesse auch die mittel- und längerfristigen strukturellen Veränderungen zu rekonstruieren. Beispielsweise muss unter-

338 In Anlehnung an Poppers Fallibilismus bezeichnet Dombrowsky Katastrophen als eine „‚Real-Falsifikation‘ des menschlichen Mühens, die Probleme des Überlebens technisch und organisatorisch zu lösen.“ Dombrowsky 1989, S. 258. 339 Zur vorübergehenden Konstituierung postkatastrophischer Solidargemeinschaften vgl. etwa Anthony Oliver-Smith: Post Disaster Consensus and Conflict in a Traditional Society: The 1970 Avalange of Yungay, Peru. In: Mass Emergencies 4 (1979), S. 39-52, hier S. 43-45; Simon 2007, S. 68-71.

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sucht werden, welche Beziehungen und Interaktionsverflechtungen aufgrund des Todes von Angehörigen, Freunden, Vertrauten und Bekannten auf Dauer abbrachen und welche Rollen und Funktionen innerhalb des lokalen Gefüges infolgedessen bis auf weiteres nicht mehr erfüllt werden konnten. Zudem ist es aufschlussreich danach zu fragen, ob es zu Abwanderungen und Zuzügen kam und ob sich im Zuge der eklatant gesteigerten Präsenz fremder Akteure während der Rettungs-, Räumungs- und Wiederaufbauphasen neue Beziehungen ergaben. Schließlich sind aber auch die sozialen Effekte der jeweiligen Rematerialisierungsprozesse zu erheben. Von Interesse ist hierbei etwa, inwiefern sich durch den Zufluss von Versicherungsgeldern oder (materiellen) Spenden die akteursspezifische Kapitalausstattung beziehungsweise die ressourcenbasierten intersubjektiven Machtverhältnisse wandelten und ob es vor diesem Hintergrund zu desolidarisierenden Affekten und Verteilungskonflikten kam. Außer diesen binnenstrukturellen Veränderungen ist zuletzt jedoch auch zu untersuchen, ob die lokalen Akteure durch postkatastrophische Rematerialisierungseffekte in erweiterte soziale Figurationen integriert wurden – so etwa dann, wenn es infolge nachhaltiger infrastruktureller Transformationen zu einer veränderten Alltagsmobilität und damit zur Herausbildung neuer Interaktionsformen kam. Eine vierte Dimension der zu untersuchenden Ordnungsrekonfigurationsprozesse erschließt sich vermittels einer Analyse ihrer semantischen Aspekte. Wenn es hier nun also dem sukzessiven Wiedergewinn geordneter Verhältnisse mit Blick auf die Kategorie des Wissens nachzugehen gilt, so stellen sich damit insbesondere Fragen nach den „kommunikativen Folgewirkungen“340 der katastrophischen Ereignisse. Vermittels einer Analyse der in Gang gebrachten Debatten und Diskurse soll erörtert werden, wie die Betroffenen das Erfahrene einzuordnen versuchten und welche kurz-, mittel- und langfristigen (Lern-)Effekte341 diesen Einordnungsbemühungen entwuchsen. Daneben ist aber auch zu klären, welche Transformationen den dadurch hervorgerufenen Transformationen folgten, inwiefern also die Objektivationen dieser Kommunikationsprozesse ihrerseits zur Produktion neuer Wissens- und Praxisformen beitrugen. Der zentrale Gegenstand semantischer Ordnungsrekonfigurationen ist die Katastrophendeutung. Zunächst gilt es hierbei der Frage nachzugehen, weshalb das betreffende Syndrom problematischer Probleme als „Katastrophe“ bezeich-

340 Keller 2003, S. 400. 341 Zu den Möglichkeiten und Grenzen der „Katastrophendidaktik“ vgl. etwa Dombrowsky 2004; Peter Sloterdijk: Wieviel Katastrophe braucht der Mensch? In: Heiko Ernst et al. (Hg.): Wieviel Katastrophe braucht der Mensch? Thema: Zukunft. Weinheim u.a. 1987, S. 51-69.

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net wurde, welche Akteure diese Benennung favorisierten und auf welchen Wegen sie sich schließlich durchsetzte. Daneben ist aber insbesondere zu erörtern, mit welchen Bedeutungen der so rubrizierte Ereigniskomplex im Vollzug seiner weiteren Thematisierung verknüpft wurde. Katastrophische Zerstörungen und Verwundungen sind dabei als Ereignisse aufzufassen, die sich den gewohnten Deutungsroutinen entziehen und demzufolge eine hohe Auslegungsrelevanz evozieren. Evident in ihrer Faktizität, scheinen sie zugleich eines annehmbaren Grundes zu ermangeln. Da sie sich somit bis auf weiteres nicht in die Sphäre des Vertrauten integrieren lassen, generieren sie einen massiven Deutungsdruck, den die jeweiligen Akteure durch kommunikativ dynamisierte Interpretationsbemühungen aufzuheben suchen. Vor diesem Hintergrund gilt es im Detail zu rekonstruieren, vermittels welcher Erklärungen die Betroffenen schließlich aus dem katastrophenspezifischen „Zustand der Erklärungsbedürftigkeit“ 342 herausfinden konnten. Die Brisanz der Katastrophendeutung korreliert mit dem Ausmaß der subjektiven Betroffenheit, ihre konkrete Gestalt formiert sich hingegen in Abhängigkeit von den vorherrschenden Definitionsverhältnissen. Wie im Rahmen des oben skizzierten analytischen Zugangs zu Prozessen der Bedrohungsdiagnose soll also auch an dieser Stelle untersucht werden, welche soziomateriellen Konfigurationen den Verlauf und die Ausprägung der postkatastrophischen Sinngebungsdebatten strukturierten. So gilt es zunächst das Gefüge all jener Elemente zu rekonstruieren, die an der Phänomenkonstitution beteiligt waren. Dies umfasst sowohl menschliche Akteure mit ihrer jeweils spezifischen Kapitalausstattung als auch Institutionen, Regeln und Artefakte. Vor dem Hintergrund einer Analyse der zeitspezifischen Räume des legitimen Denkens, Sprechens und Agierens ist danach zu fragen, welche Akteure die Katastrophendeutung wann, wie, wo, aus welchen Gründen, mit welchen Strategien und kraft welcher Ressourcen durch äußerungsvermittelte Aussagen beeinflussten.343 Dabei muss insbesondere geklärt werden, wer die relevanten Experten waren und worin ihre Sprecherpositionen innerhalb des jeweiligen kommunikativen Haushalts gründeten – also welche Professionen sie hatten, welche formellen Qualifikationen sie vorweisen konnten, welches Sonderwissen ihnen eignete und welchen Institutionen sie angehörten. Zudem gilt es die Einflüsse nichtmenschlicher Akteure zu berücksichtigen: Vermittels welcher Artefakte wurden Schäden erhoben, Daten verarbeitet,

342 Marie Bartels: Katastrophen und Kausalität. In: Dies./Leon Hempel/Thomas Markwart (Hg.): Aufbruch ins Unversicherbare. Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 193-208, hier S. 200. 343 Vgl. Keller 2011b, S. 69-74.

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Informationen verbreitet – welche Instrumente trugen auf welche Weise zur Hervorbringung relevanten Wissens bei und schlugen sich somit in der semantischen Gestalt des Katastrophenphänomens nieder? Neben einer Rekonstruktion des soziomateriellen Gefüges der Bedeutungsproduktion sollte die Untersuchung aber auch eine Analyse des konkreten Verlaufs dieser Prozesse miteinbeziehen. Relevant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob und wie sich die Relationen zwischen den beteiligten Akteuren mit der Zeit gewandelt haben. So muss etwa untersucht werden, welche Diskurs- beziehungsweise Deutungskoalitionen sich konstituierten, ob es zu einer Verschiebung der Deutungshoheiten kam und welche neuen Artefakte im Verlauf der Phänomenkonstitution hinzukamen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Mitteln und Techniken der Kommunikation. Da eine Katastrophe „die Nachricht par excellence“344 ist, da sie also in hohem Maße vom Gewöhnlichen abweicht, sich – in der Regel – drastisch, plastisch, dramatisch ereignet und somit einen kaum zu überbietenden Nachrichtenwert hat, erfährt sie gerade unter neuzeitlichen Bedingungen eine massive mediale Aufbereitung – „Aktualität, Spektakularität, Visualisierbarkeit, Konflikt und Betroffenheit erzeugen die höchste Mediennachfrage.“345 Im Rahmen katastrophologischer Untersuchungen muss vor diesem Hintergrund danach gefragt werden, wie sich die Produktionsbedingungen der involvierten (Massen-)Medien auf die Formierung der jeweiligen Katastrophenbedeutung auswirkten. Zudem gilt es schließlich die resonanzraumbildenden Relevanzstrukturen jener Akteure zu berücksichtigen, die diese expertendominierten Deutungsdiskurse rezipierten und sie in den Vollzügen ihrer Alltagskommunikation reproduzierten oder transformierten. Die gewonnenen Einblicke in die Konfigurationen und Dynamiken des strukturellen Rahmens der Katastrophendeutung eröffnen ein differenzierteres Verständnis ihrer Inhalte. So sollte sich vor dem Hintergrund der umrissenen Faktorenkonstellation erklären lassen, vermittels welcher Bedeutungen und Bedeutungsfacetten der hybride katastrophische Ereigniskomplex semantisch integriert wurde. Es gilt nun im Einzelnen zu erörtern, welche naturwissenschaftlichen und/oder religiösen Deutungsmuster – typischerweise: „Strafe Gottes“, „Schicksal/Fügung“, „menschliche Hybris“, „ungebändigte Natur“, „rebellierende Na-

344 Lindner 1990, S. 127. 345 Kurt Imhof: Der Sinn von Katastrophen. In: Alex Reichmuth (Hg.): Verdreht und hochgespielt. Wie Umwelt- und Gesundheitsgefahren instrumentalisiert werden. Zürich 2008, S. 297-311, hier S. 308.

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tur“ sowie „technisches oder menschliches Versagen“ –346 sich im Verlauf der Debatten durchsetzten und in welchen Analysen, Prognosen, Mythen, Sagen, Legenden, Metaphern, Bildern etc. sie Verbreitung fanden. Dabei ist es aufschlussreich, nach den konkreten sozialen und semantischen Funktionen dieser Narrative und Topoi zu fragen: Welche Akteure und Gruppen wurden durch sie gestärkt oder geschwächt? Wie trugen sie zur Einordnung des Außerordentlichen bei? Welche Skandalisierungs- oder Verharmlosungsstrategien lagen ihnen zugrunde? Wurden Ängste beschwichtigt oder geschürt? Wurden Bedrohungen naturalisiert oder dramatisiert? Wurden Episteme, Paradigmen, Grundannahmen protegiert oder in Frage gestellt? – Neben diesen unmittelbaren Funktionen sollen aber auch längerfristige Effekte der Katastrophendeutung in den Blick genommen werden. So gilt es schließlich danach zu fragen, in welchen Wissensund Handlungsmustern, Organisationsformen, sozialen Positionen, Regeln, Artefakten und Techniken sich die hervorgebrachten Deutungen verstetigten. Untersucht werden soll hierbei also, vermittels welcher – reimmunisierenden – Objektivationen sich die Auslegung der Katastrophe in den postkatastrophischen Ordnungsverhältnissen niedergeschlagen hat. Beschränkten sich die bisherigen Hinweise zum semantischen Aspekt der Ordnungsrekonfiguration auf die Katastrophendeutung in einem engen Sinne, so muss nun abschließend berücksichtigt werden, dass die ereignisinduzierten Herausforderungen an den sinngenerierenden Wissensvorrat der Akteure hierüber in der Regel weit hinausgehen. Katastrophische Ereigniskomplexe sind, wie Lars Koch und Christer Petersen für „Störfälle“ im Allgemeinen konstatieren, „prominente Anlässe gesellschaftlicher Selbstthematisierung, im Rahmen derer die Verhältnisse von Ordnung und Unordnung, von systemischen Ein- und Ausschlüssen, von Faktischem und Kontrafaktischem jeweils neu verhandelt werden.“347 Aufgrund ihrer tiefgreifenden Verunsicherungspotentiale können katastrophische Zerstörungen zum Ausgangspunkt einer umfassenden Revision der präkatastrophischen Ordnungsverhältnisse werden. In plastischer Anschaulichkeit verdeutlichen etwa die sozialen, technischen, politischen, literarischen und philosophischen Folgeerscheinungen des verheerenden Lissabonner Erdbebens

346 Zur kulturhistorischen Frage nach Kontinuität und Wandel dieser Deutungsmuster vgl. etwa François Walter: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart 2010. 347 Lars Koch/Christer Petersen: Störfall – Fluchtlinien einer Wissensfigur. In: Dies./ Joseph Vogl (Hg.): Störfälle. Bielefeld 2011, S. 7-11, hier S. 10.

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vom 1. November 1755,348 dass Katastrophen als wirkmächtige Katalysatoren der gesellschaftlichen Wissensproduktion fungieren können – und dies auf verschiedensten Ebenen der intersubjektiven Figurationen. Vermögen sie die unmittelbar Betroffenen zu grundlegenden Existenzexegesen zu veranlassen, so wirken sie zuweilen auch auf vermittelt involvierte Akteure als reflexionsdynamisierende Irritationsereignisse und führen dabei oftmals zu einer fieberhaften Erhitzung der gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse. Die relevanzrelativierende und resonanzeröffnende Wirkung katastrophischer Zerstörungen kann sich hierbei darin äußern, dass neben der Ereignisdeutung als solcher – und der damit verbundenen Erörterung unmittelbarer Ursachen und möglicher Konsequenzen – auch ereignistranszendierende Fragen nach den vorherrschenden Selbst- und Weltverhältnissen, nach der Gültigkeit etablierter Gottes-, Natur- und Technikbegriffe oder nach den substanziellen Werten und Normen des Gesellschaftsbetriebs thematisch werden. Kurzum: Katastrophen können den Prozessen der Explikation und Distribution neuer oder vormals implizit wirksamer Daseinsgehalte nachhaltige Transformierungs-, Akzelerierungs- und Verdichtungsschübe verleihen, die es im Rahmen einer Rekonstruktion der Ordnungsrekonfigurationsprozesse zu berücksichtigen gilt. Dabei ist auch in diesem Zusammenhang nach den prägenden Bedingungen und Effekten der jeweiligen Hervorbringungsvorgänge zu fragen – erneut muss somit analysiert werden, welche soziomateriellen Faktorenkonfigurationen sich in der postkatastrophischen Wissensproduktion niederschlugen und wie das hervorgebrachte Wissen auf die jeweiligen Ordnungsverhältnisse zurückwirkte. Bereits an früherer Stelle haben wir festgehalten, dass Ordnungsgefüge in beständiger Veränderung begriffen sind. Neben den Eigendynamiken des Materiellen führen insbesondere die in ihren Wirkfeldern sich vollziehenden Praktiken zu permanenten Transformationen, die im Zuge ihrer Institutionalisierung und Materialisierung wiederum neue Zwänge und Möglichkeiten des Agierens eröffnen. Während diese Wandlungsprozesse in Phasen befriedeten Alltagsvollzugs aber tendenziell den Charakter eines Fließgleichgewichts haben, müssen Katastrophen vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ausführungen als einschneidende, nachhaltig wirksame Protuberanzen aufgefasst werden: Die beständig fortschreitende Ordnungstransformation schlägt rapide radikalisiert in eine -deformation um und generiert aufgrund dieser Zerstörungen einen umfassenden Deutungs- und Handlungsdruck, dessen Effekte sich zumeist in einem

348 Vgl. hierzu etwa die Beiträge in Gerhard Lauer/Thorsten Unger (Hg.): Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert. Göttingen 2008.

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verdichteten Wandel tragender Elementen des jeweiligen Ordnungsgefüges manifestieren. Im vorliegenden Teilkapitel sollten nun Fragen entwickelt werden, die es erlauben, diese postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse einer kulturwissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Zu diesem Zweck haben wir uns nacheinander den somatischen, materiellen, sozialen und semantischen Aspekten solcher Vorgänge zugewandt. Hierbei handelt es sich unserer Auffassung nach indessen nicht um wesenhaft voneinander getrennte Seinsbereiche, sondern um analytisch hervorgehobene Bestandteile eines polydimensionalen Prozesses, die ihre Gestalt in dessen Vollzug erst eigens entfalten. So gesehen sind die genannten Aspekte – in phänomenspezifisch variierenden Einflusshierarchien – unaufhebbar miteinander verknüpft und können daher nur auf der Basis einer hinreichenden Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Bedingtheit adäquat rekonstruiert werden. Möchte man nun der Frage nachgehen, wie diese Rekonfigurationsprozesse von den einzelnen Individuen in ihrem je konkreten Lebensvollzug erfahren werden, so gilt es sich der existentiellen Dimension des Geschehens zuzuwenden. Die im Interagieren von Akteuren – und Artefakten – hervorgerufenen somatischen, materiellen, sozialen und semantischen Transformationen führen zu einem positionsspezifisch gebrochenen Wandel der akteursrelationalen Umwelten. Nach Maßgabe divergierender Einflussoptionen wirken die einzelnen Individuen an diesen Prozessen mit, generieren im intersubjektiven und interobjektiven Verbund aber Veränderungen, die das Ausmaß des eigenen Einflusses weit überschreiten und mit wirklichkeitshaltiger Kraft auf sie zurückwirken. Im Rahmen einer katastrophologischen Analyse muss somit erörtert werden, wie sich die postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse in den individuell konfigurierten Denk- und Handlungsräumen niederschlugen und welche neuen, positionsrelational relevanten Möglichkeiten und Zwänge sie dabei hervorriefen. Zugleich ist auch danach zu fragen, wie diese Veränderungen von den jeweiligen Betroffenen vor dem Hintergrund ihrer biographisch strukturierten Ordnungsdispositionen lebensweltlich integriert werden konnten. So gilt es abschließend zu rekonstruieren, ob sich mit der Zeit neue Wissens- und Praxismuster herausbildeten, die es den Akteuren ermöglichten, den rapiden Wandel ihrer positionsspezifischen Umwelten einzuholen, seine potentiellen Widerständigkeiten aufzuheben und somit wieder in den Modus eines tendenziell fraglos selbstverständlichen Alltagsvollzugs zurückzufinden.

III. Versuch einer Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons

Im Winter 1953/1954 stellten heftige Schneefälle und Stürme zahlreiche Orte Vorarlbergs vor außerordentliche Herausforderungen. Betroffen waren vor allem das Montafon, das Klostertal, der Bregenzerwald und das Große Walsertal. Innerhalb weniger Tage sind in diesen Gebieten etwa 400 Lawinen abgegangen, die zu gravierenden Zerstörungen führten und schließlich 125 Menschen das Leben kosteten. Besonders stark traf es die Großwalsertaler Gemeinde Blons. – Im zweiten Teil der Arbeit wird nun der Versuch unternommen, die Lawinenkatastrophe von Blons aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu rekonstruieren. Auf der Grundlage des entwickelten Analyseinstrumentariums gilt es anhand der uns zugänglichen Materialien349 zu untersuchen, wie es zu den Lawinenabgängen kam, weshalb sie zu einer Katastrophe wurden und auf welche Weise man die hervorgerufenen Zerstörungen verarbeitete. Zu diesem Zweck befasst sich das erste Kapitel zunächst mit den Ordnungsverhältnissen des präkatastrophischen Alltags, bevor es im zweiten Kapitel darum geht, die – ordnungsverwobenen – Ursachen und Effekte der Lawinenabgänge zu beleuchten. Das dritte Kapitel wendet sich daraufhin den postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozessen zu und geht dabei der Frage nach, in welchen längerfristigen Transformationen diese Vorgänge schließlich mündeten.

1. PRÄKATASTROPHISCHE ORDNUNGSVERHÄLTNISSE Die Vorarlberger Gemeinde Blons liegt in den Österreichischen Zentralalpen an einem Südhang des Großen Walsertals. Hierbei handelt es sich um ein von Westsüdwest nach Ostnordost verlaufendes Seitental des Walgaus, welches an 349 Vgl. den diesbezüglichen Überblick in Kapitel I.4.

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das Laternsertal, den Bregenzerwald und das Lechquellengebirge angrenzt. Die Distanz von Blons nach Wien beträgt rund 650 km, nach Bregenz etwa 55 km und nach Bludenz – wo die Bezirkshauptmannschaft ihren Sitz hat – 16 km. Sie kann aber, wie etwa Lucie Varga in Bezug auf das Montafon verdeutlichte, durchaus auch als variable Größe verstanden werden. „Während die in Kilometern gemessene Entfernung zwischen diesen Zentren und dem Tal stets die gleiche bleibt, ändert sich laufend […] die tatsächliche Distanz: mal ist sie größer, mal ist sie kleiner, den jeweiligen ökonomischen und ideologischen Veränderungen entsprechend.“350 Bevor wir uns den historischen Dynamiken der Gemeindegeschichte näher zuwenden, sollen nun zunächst einige naturräumliche Aspekte beleuchtet werden. Das Große Walsertal, ein etwa 20 km langes Kerbtal, umfasst im Gesamten eine Fläche von rund 192 km². Es ist durch steile, von zahlreichen tiefen Einschnitten durchdrungene Flanken geprägt und wird in seiner engen Sohle von der Lutz und dem davon abzweigenden Marulbach durchflossen. Während es im Westen, zum Walgau hin, offen ist, erhebt sich am Talschluss im Osten das 2239 m hohe Rothorn. Da das Tal zudem nördlich vom sogenannten „Walserkamm“ begrenzt wird – der zwischen dem Hochgerach (1985 m) im Westen und dem Zitterklapfen (2403 m) im Osten verläuft – und südlich durch eine mächtige Bergkette der Lechtaler Alpen gerahmt ist – die sich von der Gamsfreiheit (2011 m) im Südwesten über die Rote Wand (2704 m) bis zur Braunarlspitze (2648 m) im Osten zieht – weist das Gebiet einen auffallend eigenräumlichen, in sich geschlossenen Charakter auf.351 Geologisch lassen sich zwei Zonen des Großen Walsertals unterscheiden. Der nördliche Teil gehört zum rhenodanubischen Flysch und ist somit von einem Untergrund getragen, in dem sich harte Schichten mit weicheren Tonschiefern abwechseln. Da die Flyschgesteine zum Fließen neigen und leicht verwittern, ist das Landschaftsbild durch gerundete Höcker und zahlreiche kleine, tief ausgewaschene Täler – alemannisch: „Tobel“ – geprägt. Der südliche Teil des Tales gehört hingegen zu den nördlichen Kalkalpen. Diese Zone besteht überwiegend aus Karbonatgestein, was sich landschaftlich in markanten Steilwänden und schroffen Gipfeln äußert. Aufgrund des unterschiedlichen Strukturaufbaus von Flysch und Kalkalpen findet sich in den jeweiligen Regionen des Tals auch eine je eigene Ausprägung des Gewässernetzes. Während die Gesteine im Flysch ei-

350 Lucie Varga: Ein Tal in Vorarlberg – zwischen Vorgestern und Heute. In: Dies.: Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939. Frankfurt am Main 1991, S. 146-169, hier S. 147. 351 Vgl. Johann Peer: Kulturlandschaft Großes Walsertal. Wien 2010, S. 17-21.

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nen oberflächennahen Wasserabfluss fördern und somit eine Vielzahl kleinerer Bäche hervorbringen, führt das Karbonatgestein in den Kalkalpen zu einer stärkeren Versickerung des Wassers und begünstigt daher die Entstehung mächtiger Sturzquellen.352 Aufgrund des Einflusses ozeanischer Luftmassen ist das Große Walsertal von einem vergleichsweise ausgeglichenen, milden und niederschlagsreichen Klima geprägt.353 So liegt die Jahresdurchschnittstemperatur auf 1140 m Seehöhe – also in jener Höhenregion, in der die dortigen Siedlungsgebiete liegen – bei 6,7º C. Der jährliche durchschnittliche Niederschlag beträgt in dieser Lage 1791 mm, wobei in unserem Kontext freilich bedeutsam ist, dass es sich bei einem großen Teil der lokalen Niederschläge um Schnee handelt. Laut den Aufzeichnungen einer auf 900 Höhenmeter installierten Messstation in Blons liegt die mittlere jährliche Neuschneemenge bei 527 cm. Zudem geht aus den Daten hervor, dass die Dauer der geschlossenen Schneedecke etwa drei bis vier Monate beträgt – im Schnitt liegt an 102 Tagen im Jahr mindestens 1 cm Schnee. Für den Charakter des lokalen Wetters sind daneben insbesondere die klimamildernden West- und Südwestwinde bestimmend: Im Sommer und Winter dominieren die niederschlagbringenden Westwinde, im Frühling und Herbst treten häufiger auch warme und trockene Südwestwinde auf. Die „kontinentalen“ Ost-, Nordostund Südostwinde machen hingegen nur etwa 20% der zu beobachtenden Luftströme aus. Hinsichtlich der klimatischen Bedingungen muss freilich berücksichtigt werden, dass sich diese in Abhängigkeit der jeweiligen Höhenlage signifikant verändern. Während die Niederschlagsmenge vor Ort mit zunehmender Höhe ansteigt, sinkt die mittlere Jahrestemperatur um etwa 0,5º C pro 100 Höhenmeter. Infolge dieser Unterschiede weist die lokale Vegetation eine höhenspezifische Zonierung auf. Findet man in den niederen Lagen entlang der Lutz einen Laubmischwaldgürtel, der vor allem aus Buchen, Eschen und Ahorn besteht, so fol-

352 Vgl. Birgit Reutz-Hornsteiner: Das Große Walsertal. In: Leben in Vielfalt. UNESCO-Biosphärenreservate als Modellregionen für ein Miteinander von Mensch und Natur. Herausgegeben von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wien 2005, S. 90-94, hier S. 90f. 353 Die folgenden Angaben beziehen sich auf Richard Werner (Hg.): Klima von Vorarlberg. Eine anwendungsorientierte Klimatographie. Bregenz 2001. Vgl. auch Hemma Burger-Scheidlin: Wetter- und Klimakonzepte von Landwirten. Wahrnehmung und Wissen zwischen Praxis und Theorie. Eine sozialanthropologisch-ethnoklimatologische Studie im Großen Walsertal, Österreich. Unveröffentlichte Dissertation. Wien 2007, S. 76f.

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gen daraufhin Tannen-Buchen-Wälder, die in höheren Lagen wiederum von Bergfichtenwäldern abgelöst werden, bis schließlich an der Baumgrenze, bei etwa 1800 m bis 1900 m, nur noch Latschendickichte zu sehen sind.354 Die Länge der Vegetationsperiode variiert mit der jeweiligen Höhenlage also drastisch – innerhalb der Besiedlungszone, deren Kernbereich sich von 800 m bis 1200 m erstreckt, umfasst sie etwa 180 bis 240 Tage.355 Wie im Einzelnen noch zu rekonstruieren ist, hatten die skizzierten naturräumlichen Bedingungen stets einen prägenden Einfluss auf das Leben der ansässigen Bevölkerung. Nach derzeitigem Kenntnisstand begann die Besiedlung des Großen Walsertals im 9. Jahrhundert durch Rätoromanen, die seine vorderen Bereiche als Jagd- und Weidegebiet nutzten.356 Durch die Gründung der Benediktiner-Propstei St. Gerold wurden diese ersten Besiedelungsprozesse weiter vorangetrieben.357 Im 14. Jahrhundert begann daraufhin die Zuwanderung von Siedlern aus dem Schweizer Wallis – eine Kolonisierung, die von den damaligen Lehensherren der Werdenberger Landesherrschaft gefördert worden war, da sich diese durch den Zuzug der Walser eine Urbarmachung bislang ungenutzter Waldgebiete und eine Stärkung ihrer Heereskraft erhofften.358 Schon bald wurde die lokale Lebensweise im Tal von den zunehmend anwachsenden Walser Bergbauernfamilien dominiert, bis schließlich nur noch einige Flurnamen relikthaft von der früheren rätoromanischen Besiedlungszeit zeugten. In politisch-juristischer Hinsicht waren die Ortschaften des Großen Walsertals vom 14. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert hinein getrennt. Während Fontanella noch im Einflussgebiet des sogenannten „Oberen Gerichtes“ von Damüls lag und somit Teil der Herrschaft Montfort war, gehörten die Gebiete Sonntag,

354 Vgl. Ingeborg Schmid-Mummert: Das Große Walsertal. Innsbruck 2009, S. 9; Reutz-Hornsteiner 2005, S. 91. 355 Burger-Scheidlin 2007, S. 77. 356 Vgl. Andrea Fritsche/Lucia Studer: Lebenswelt Großes Walsertal. Regensburg 2009, S. 9. 357 Da entsprechende Quellen fehlen, ist der genaue Zeitpunkt der Klostergründung indessen nicht bestimmbar. Die traditionelle Geschichtsschreibung datierte diese auf das Jahr 960, das erste schriftliche Zeugnis stammt jedoch erst aus dem 13. Jahrhundert: In der Gütergeschichte des Prämonstratenser-Stifts Weissenau wird für den Zeitraum von 1220 bis 1227 eine klösterliche Niederlassung namens „Frisun“ erwähnt. Vgl. Joachim Salzgeber: St. Gerold. In: Helvetia Sacra. Abteilung III: Die Orden mit Benediktinerregel. Band I. Zweiter Teil. Bern 1986, S. 1372-1396, hier S. 1372f. 358 Vgl. Burger-Scheidlin 2007, S. 85.

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Raggal, Blons und Thüringerberg zum „Unteren Gericht“ in Sonntag, dessen Ammann von der Herrschaft Blumenegg eingesetzt wurde. Nachdem die Propstei St. Gerold 1648 zur Reichspropstei des Klosters Einsiedeln geworden war, erhielt sie 1718 ein eigenes Hochgericht, dem fortan auch die Einwohner der ehedem blumeneggerischen Gebiete von Blons, St. Gerold und Thüringerberg unterstanden.359 Als das Große Walsertal von 1805 bis 1814 zum Königreich Bayern gehörte, änderte sich diese Zuteilung erneut. Von nun an gab es im Tal sechs selbständige Gemeinden, die 1806 im Zuge einer Neuordnung der Vorarlberger Gerichtssprengel dem Landgericht Sonnenberg – das sich zunächst in Nüziders, ab 1810 aber in Bludenz befand – unterstellt wurden.360 Nachdem das Gebiet 1814 wieder an Österreich gegangen war, erfolgte 1817 eine weitere Neuorganisation der Gerichte. Das Landgericht Sonnenberg behielt dabei aber seine Funktion und kann somit rückblickend als Vorläufer des heutigen Bezirksgerichts Bludenz bezeichnet werden. Zwar wurde Vorarlberg 1861 Kronland mit eigenem Landtag und eigenem Landesausschuss in Bregenz, es blieb in administrativer Hinsicht jedoch bis zum Ende der Habsburger Monarchie in einer Verwaltungseinheit mit Tirol, wobei die zentralen Verwaltungsbefugnisse – in Vertretung des Kaisers und der Wiener k.k. Regierung – der k.k. Statthalterei für Tirol und Vorarlberg in Innsbruck oblagen. 1918 wurde Vorarlberg zu einem selbständigen Land im Rahmen des deutschösterreichischen Staates, 1938 erfolgte der sogenannte Anschluss an das Deutsche Reich, von 1945 bis 1955 war das Gebiet Teil der französischen Besatzungszone. Sowohl auf Landes- als auch auf Bezirksebene entstand in Vorarlberg nun zunächst ein Nebeneinander von österreichischer und französischer Verwaltung, bevor mit dem Inkrafttreten des Staatsvertrags am 27.07.1955 die Souveränität der Republik wieder hergestellt war. Die zu untersuchenden Lawinenabgänge ereigneten sich also in einer Zeit, die durch eine sukzessive Konsolidierung der Zweiten Österreichischen Republik gekennzeichnet war. Neben der Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse stellten sich nach 1945 zahlreiche weitere Aufgaben von großer Dringlichkeit: „die Überwindung der Ernährungsschwierigkeiten, die Rückführung der Evakuierten, die Wiederinstandsetzung der Baulichkeiten im Lande, die Ingang-

359 Vgl. Hans Kreis: Die Walser. Ein Stück Siedlungsgeschichte der Zentralalpen. Bern 1966, S. 153. 360 Vgl. Georg Carl von Mayr (Hg.): General-Index über alle Landes-Verordnungen, welche durch die königlich baierischen Regierungs-Blätter von den Jahren 1806, 1807, 1808 und bis zum Etatsjahr 1809/10 promulgirt und bekannt gemacht worden sind. München 1809, S. 636.

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bringung der Wirtschaft […] usw.“361 Da aber während der NS-Zeit große infrastrukturelle Investitionen getätigt worden waren und die unmittelbaren Kriegsschäden verhältnismäßig gering blieben, konnte in Vorarlberg mittels gezielter Förderungen binnen wenigen Jahren eine solide ökonomische Restabilisierung erreicht werden. Wie Markus Barnay anschaulich rekonstruiert, war das soziokulturelle Klima dabei geprägt durch ein Erstarken konservativer Kräfte und einer hiermit verknüpften Renaissance des politischen Katholizismus sowie durch weitreichende exkulpationsstrategische Verdrängungsmechanismen und eine recht schleunige Rehabilitierung ehemaliger Nationalsozialisten, von denen sich demzufolge nicht wenige schon bald wieder in Amt und Würden befanden.362 Einige dieser Tendenzen auf Landesebene spiegelten sich ein Stück weit auch in den Gemeinden des Großen Walsertals wider. Bei allen Nachwirkungen der Kriegserfahrungen hatte man zu Beginn der 1950er Jahre auch hier wieder zu einem stabilen Alltagsvollzug zurückgefunden. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen gilt es nun das damalige Blonser Ordnungsgefüge im etwas detaillierter in den Blick zu nehmen. Mit einer Fläche von 14,88 km² gehörte Blons zu den kleineren der sechs Gemeinden des Großen Walsertals. Sie erstreckte sich vom Rüffitobel im Westen bis zum Ladritscher Tobel im Osten und von der Lutz (680 m) im Süden bis zum Walserkamm (1962 m) im Norden. Zum Gemeindegebiet Blons gehörten die Alpen Sentum, Hüggen, Vorderkamm, Hinterkamm und Sera. Die dauerhaft besiedelten Parzellen lagen indessen zwischen 800 m und 1300 m Seehöhe und umfassten neben dem Ortskern – auch „Kirchdorf“ genannt – die Ortsteile Oberblons, Walkenbach und Valentschina. Direkt oberhalb dieses Siedlungsgebiets lagen der Mont Calv (1804 m) und der Falvkopf (1849 m) – zwei Berge, von denen sich im Verlauf der Gemeindegeschichte immer wieder mächtige Staublawinen gelöst hatten. Die Gemeinde Blons war von Beginn an als Streusiedlung organisiert. Diese Siedlungsform resultierte zum einen aus der morphologischen Beschaffenheit des Gebiets. Da die steilen Hänge nur wenige – sich vor allem auf die flyschtypischen Fließhöcker beschränkende – flache Bauflächen boten und das Gebiet von zahlreichen kleinen Einschnitten durchbrochen war, hätte sich eine geschlossene Dorfstruktur nicht herausbilden können. Die Streusiedlung war, wie der Blonser

361 Karl Heinz Burmeister: Geschichte Vorarlbergs. Ein Überblick. Wien 1980, S. 197. 362 Vgl. Markus Barnay: Vorarlberg. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. Innsbruck/Wien 2014, S. 70-103.

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Lokalhistoriker Eugen Dobler formuliert, „von der Natur geradezu vorgeschrieben“363. Abbildung 1: Das Blonser Gemeindegebiet

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Zum anderen entsprach die gestreute Gemeindestruktur aber auch organisationsstrategisch begründeten Siedlungs- und Bewirtschaftungstraditionen der Walser Bergbauern. So wurden die einzelnen Höfe ursprünglich auch deshalb nahe an den zu bewirtschaftenden Wiesen- und Weideflächen errichtet, weil man hierdurch vermeiden konnte, im Rahmen der tagtäglichen Arbeitsverrichtungen mit dem Vieh oder Heu allzu weite Strecken zurücklegen zu müssen.364 Schließlich mag die genannte Siedlungs- und Wirtschaftsweise aber auch von mentalitätsprägenden Selbstentwürfen untermauert gewesen sein, die in den klassischen Beiträgen zur Walserforschung – teils mit freilich fragwürdig essentialistischen Tendenzen – vermittels der Formel eines „walserischen Individualismus“ zur Sprache gebracht werden.365 363 GAB: Eugen Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 59. 364 Vgl. Burger-Scheidlin 2007, S. 75; GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 90-95. 365 Vgl. etwa Karl llg: Die Walser in Vorarlberg. 1. Teil. Die Verbundenheit mit dem Boden: Siedlung und Wirtschaft als volkskundliche Grundlagen. Dornbirn 1949, S. 175; Paul Zinsli: Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Piemont. Erbe, Dasein, Wesen. Frauenfeld 1976, S. 317f.

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Neben der weiten Streuung war für die Siedlungsstruktur der Gemeinde auch die Paarhofbauweise charakteristisch: In der Regel lagen Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude getrennt voneinander. Die in Blockbaumanier konstruierten Wohnhäuser waren unterkellert und umfassten in der Regel eine Vorlaube, eine Küche, eine Stube und eine Nebenkammer im Erdgeschoss, eine Stubenkammer und eine Hinterkammer als Schlafräume im ersten Stock sowie einen Dachgiebelraum und einen wetterseitig gelegenen Holzschopf. Die Wirtschaftsgebäude setzten sich üblicherweise aus einem erdgeschossigen Stall und einem bergseitig angegliederten Heuboden zusammen. 366 Dass Wohnhaus und Wirtschaftsgebäude häufig getrennt voneinander errichtet wurden, ist in erster Linie den vorherrschenden Geländebedingungen geschuldet, da die Hänge an den meisten Stellen keine ausreichenden Grundflächen für den Bau von Einheitshöfen boten. Daneben sprachen hygienische und arbeitsstrategische Gründe für eine solche Separierung. Zudem waren damit aber nicht zuletzt auch Präventionsgedanken verknüpft. So bot die Paarhofbauweise im Falle eines Brandes – sowie bei Murenund Lawinenabgängen – in der Regel den Vorteil, dass zumindest eines der beiden Gebäude verschont geblieben ist.367 Die Gestalt der Blonser Siedlungsstruktur war indessen nicht nur durch notwendigkeitsbedingte, praktisch motivierte und – gegebenenfalls – mentalitätsuntermauerte Streuungseffekte geprägt, vielmehr wirkte neben den genannten Zentrifugalkräften auch eine zentripetale Verdichtungstendenz. Zwar arbeitete ein Großteil der damals 367 Personen umfassenden Bevölkerung als Bergbauern und bewohnte die verstreuten Einzelhöfe in den Hanglagen von Oberblons, Walkenbach und Valentschina. Die etwas besser gestellten Familien schien es jedoch seit vielen Generationen in das Kirchdorf zu ziehen, was sich dort etwa in einer deutlich stärkeren Parzellierung der Siedlungsfläche äußerte.368 Das auf 900 m Seehöhe gelegene Kirchdorf war die einzige Blonser Parzelle, die eine größere ebene Fläche aufwies. Daneben wirkte sie für die Bewohner wohl nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sich dort mit der Zeit zentrale Institutionen des Gemeindelebens agglomeriert hatten. Neben der Kirche und dem Pfarrhof befanden sich hier auch das Schul- und Gemeindehaus, das Feuerwehrgerätehaus, ein Gendar-

366 Vgl. Peer 2010, S. 25f. 367 Vgl. GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 95. Zur präventionsstrategischen Dimension der Paarhofbauweise vgl. etwa auch Benno Furrer: Der Berg hatʼs gegeben – der Berg hatʼs genommen. Schwieriges Bauen in den Alpen. In: Nina Hennig/Michael Schimek (Hg.): Nah am Wasser, auf schwankendem Grund. Der Bauplatz und sein Haus. Aurich 2016, S. 289-302, hier S. 292f. 368 GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 90f.

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merieposten, ein „Konsum“ und eine privat geführte Gemischtwarenhandlung sowie die beiden Gasthäuser „Krone“ und „Schwarzer Adler“. Abbildung 2: Das Kirchdorf

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Die Siedlungsstruktur der Gemeinde Blons wies also einerseits eine weite Streuung auf – wobei sich in den Außenbezirken durch den Bau von gemeinsam genutzten Drahtseilbahnen und genossenschaftlich organisierten Sennereien kleine Wirtschaftseinheiten herausgebildet hatten.369 Sie war andererseits aber auch durch einen gemeinsamen Gesellungskern im Kirchdorf gekennzeichnet. Hier ging man zur Schule und in die Kirche, hier wurden Neuigkeiten an den Ladentheken ausgetauscht, hier lagen die Gasthäuser, wo Vereinsversammlungen und Gemeinderatssitzungen abgehalten wurden, wo sich die Männer nach dem sonntäglichen Kirchgang zum Jassen trafen, wo – wenn auch äußerst selten – Tanzbälle veranstaltet wurden, wo Taufen, Hochzeiten und Totenmahle stattgefunden haben. Im Kirchdorf bündelten sich sowohl die inneren Kommunikationskanäle als auch die Schaltstellen der Außenweltvernetzung in Form eines Fernsprech369 1903 wurde die erste handbetriebene Seilbahn errichtet. Laut den Gemeinderatsprotokollen erfolgte in den 1930er und 1940er Jahren der Bau größerer Drahtseilbahnen, die vor allem dem Transport von Molkereiprodukten, Holz und Dünger dienten. Vgl. etwa GAB, Protokolle der Gemeindevertretung Blons. 1924 bis 1955: Niederschrift über die Sitzung vom 23.01.1938. Vgl. auch GAB: Eugen Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band II, S. 534f.

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apparats, einer Postfiliale und einer Haltestelle, von der aus man mit dem Postautobus auf der Großwalsertalstraße ins Talinnere oder hinaus bis nach Bludenz fahren konnte. Angesichts der Gleichzeitigkeit dieser Streuungs- und Verdichtungstendenzen wird deutlich, dass die Optionen zur Teilnahme an den lokalen Kommunikationsprozessen und zur Teilhabe an der regionalen Infrastruktur sehr ungleich verteilt waren. Zwar wurden sämtliche Höfe zu Beginn der 1940er Jahre an das Elektrizitätsnetz angeschlossen, sie verfügten aber nach wie vor nur über eine sehr basale technische Ausstattung. Da man also in der Regel kein Telefon hatte, das Gelände unwegsam war und es noch keine Güterwege gab, war man in den Außenbezirken vom Alltagsgeschehen des Dorfzentrums weitestgehend abgeschnitten. Aufgrund der ausgeprägten Lawinengefahr ist es den Bewohnern von Valentschina an manchen Wintertagen nicht möglich gewesen ins Kirchdorf zu kommen – und auch im Sommer handelte es sich hierbei um einen einstündigen Fußweg. Bedenkt man die umrissene Korrespondenz zwischen sozialer Stellung und topologischer Verortung innerhalb der Siedlungsstruktur, so nimmt es vor dem Hintergrund solcher Distanzen nicht wunder, wenn Joseph Wechsberg – ein tschechischer Journalist, der sich Mitte der 1950er Jahre im Zuge seiner Recherchen für einen dokumentarischen Roman über die Lawinenkatastrophe für einige Monate vor Ort aufgehalten hat – festzustellen meinte, dass die Blonser Bezirke „durch gesellschaftliches Vorurteil und wirtschaftliches Ressentiment ebenso scharf voneinander getrennt sind wie die verschiedenen Klassen an Bord eines modernen Ozeandampfers.“370 Wie die skizzierte Siedlungsstruktur standen auch die ökonomischen Verhältnisse in einer engen Verflochtenheit mit den naturräumlichen Bedingungen. Noch im 19. Jahrhundert wurden – im Rahmen der klimatischen und bodenspezifischen Möglichkeiten – neben der Haltung von Kühen, Ziegen und Schweinen sowie der Produktion von Butter oder Sauer- und Magerkäse auch Hanf, Flachs, Mischkorn, Roggen und Weizen angebaut. Durch den Einfluss verschiedener Faktoren wie die zunehmende Einfuhr von Kartoffeln, die Konjunktur der Vorarlberger Baumwollindustrie, die getreideimportfördernde Öffnung des Arlbergtunnels und die Einführung der Fettsennerei hatte sich dies sukzessive geändert, so dass in Blons – wie in den anderen Gemeinden des Großen Walsertals – zu Beginn der 1950er Jahre eine extensive Milchviehhaltung in Verbindung mit einer entsprechenden Grünland- und Weidewirtschaft dominierte.371 Daneben

370 Wechsberg 1959, S. 49. 371 Vgl. Eugen Dobler: Vom Ackerbau im Großwalsertal. In: Walserheimat in Vorarlberg 15 (1974), S. 188-199, hier S. 193.

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wurden Ziegen und vereinzelt auch Schweine gehalten. Zudem gab es zahlreiche Bienenstöcke sowie kleinere Obst- und Gemüsegärten, deren Erträge in der Regel aber lediglich der Deckung des Eigenbedarfs dienten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie dem Pfarrer, dem Lehrer, dem Bürgermeister, den Gastwirten und einzelnen Pendlern, handelte es sich bei der damaligen Blonser Bevölkerung um Bergbauern in Vollerwerbsbetrieben. Da es kaum Fremdenverkehr und keine selbständigen gewerblichen Unternehmen gab, setzten sich die Einkünfte der Haushalte also im Wesentlichen aus den Erlösen des Viehhandels und des Milchverkaufs beziehungsweise des Verkaufs von Produkten der örtlichen Genossenschaftssennereien zusammen. Auf dieser Basis konnte indessen nur eine geringe Kapitalbildung erfolgen – die investierte Arbeit ging vornehmlich in der Reproduktion des Bestehenden auf und zeitigte daher nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Mechanisierung der Landwirtschaft oder geldbasierten Ausgestaltung der Lebenswelt im Allgemeinen. Ein zentraler limitierender Faktor der jeweiligen Bewirtschaftungsoptionen war dabei freilich die Größe des verfügbaren Bodens. Folgt man den Angaben Doblers, so bedurfte eine Bergbauernfamilie, die sechs bis acht Personen umfasste, zur sicheren Gewährleistung ihres Lebensunterhalts einer Betriebsgröße von sechs bis acht „Kuhwinterungen“. Sie musste also über ausreichende landwirtschaftliche Nutzflächen verfügen, um sechs bis acht Kühe von Mitte September bis Mitte Juni ausreichend ernähren zu können. Zur Abdeckung des hierbei anfallenden Futter- und Streubedarfs waren etwa sechs bis acht Hektar an Wiesen und Weiden notwendig.372 Da die durchschnittliche Größe der Blonser Bergbauernbetriebe vor den Lawinenabgängen bei rund 5,8 Hektar lag,373 konnte vielfach also schon aus einem Mangel an Grundbesitz nur an der Grenze des Existenzminimums gewirtschaftet werden. Die genannte Winterungszeit ergab sich aus den chronologischen Rhythmen der Dreistufenwirtschaft. Dieses verbreitete Bewirtschaftungssystem ist bekanntlich dadurch gekennzeichnet, dass „auf den drei vertikal getrennten Betriebsstufen Heimbetrieb - Vorsäß - Alpe eine jahreszyklische Weide- und Mähwirtschaft betrieben wird.“374 So ergaben sich zentrale Strukturen der alltagsprägenden Jahresrhythmen aus der Notwendigkeit, mit dem Vieh den Weiden beziehungsweise

372 Vgl. GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 96-101. 373 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Fördermaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957. 374 Michael Groier: Die 3-Stufenwirtschaft in Vorarlberg. Entwicklung – Bedeutung – Perspektiven. Wien 1990, S. 21.

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dem Futter nachzuziehen. Man verbrachte den Winter im Heimbetrieb, zog im Laufe des Frühjahrs ins Vorsäß – hier „Maisäß“ genannt –, bevor dann Mitte Juni der Alpauftrieb erfolgte. Auf den Alpen, die zum größten Teil genossenschaftlich organisiert waren, konnte das Vieh in der Regel drei Monate weiden, so dass man sich Mitte September erneut auf die Maisäßstufe begab und daraufhin wieder den Heimbetrieb bezog. Auf Basis der Heimbetriebsbewirtschaftung mussten indessen vom Frühjahr bis zum Herbst genügend Streu und Heu für den Winter erzeugt worden sein. Schließlich begann nun, mit zunehmender Kälte, zunehmendem Schneefall und abnehmender Helligkeit, die lange Phase der Stallfütterung. Im Rahmen dieser Bewirtschaftungszyklen waren das Frühjahr, der Sommer und der Herbst die arbeitsintensiven Jahreszeiten. Wie in sämtlichen hochgelegenen Alpenregionen musste „die kurze Wachstumsphase so produktiv wie möglich genutzt werden.“375 Neben der ganzjährig zu bewältigenden Haus- und Stallarbeit sowie den regelmäßigen Milchlieferungen an die lokalen Sennereien fielen in den wärmeren Monaten – also während der Zeit zwischen dem Ausapern der Wiesen im April/Mai und dem ersten Schneefall im Oktober/November – vielfältige Aufgaben an, die von der Erosionsbekämpfung durch wiederholte Erdaufschüttungen über das regelmäßige Düngen der Wiesen und die Heuernte bis zum Umzäunen der wechselnden Weideflächen reichten. Die Arbeitstage begannen dabei in der Regel bereits vor Sonnenaufgang und endeten erst mit dem Einbruch der Dunkelheit. Lediglich an Sonn- und Feiertagen sowie in ausgeprägten Schlechtwetterperioden bot sich daneben auch Gelegenheit zur Rekreation. Drehten sich die zentralen Tätigkeiten im Frühjahr und Sommer vor allem um die Bewirtschaftung der Wiesen und Weiden, so fielen im Herbst insbesondere Aufgaben an, die im Zusammenhang mit den unmittelbaren Vorbereitungen auf die kalte Jahreszeit standen. Nun erfolgten also verschiedene Instandhaltungsarbeiten und Reparaturen sowie das Anlegen eines Holzvorrats. Zudem wurde geschlachtet, geräuchert, gemostet, eingekocht und eingelegt. Daneben kam man zu gewissen Einnahmen durch die jetzt ausbezahlten anteilsspezifischen Einkünfte aus der abgelieferten Milch und gegebenenfalls durch den Verkauf einzelner Tiere auf dem Herbstviehmarkt. Auf der Basis dieser Vorräte konnten die nun folgenden Wintermonate ein Stück weit der Erholung dienen. So erfolgte während dieser Zeit in der Regel eine vorübergehende Verlangsamung der Tagesrhythmen, da sich das Diktat der anfallenden Tätigkeiten nach den ersten Schneefällen – und dem damit verbundenen Abebben vieler Notwen-

375 John W. Cole/Eric R. Wolf: Die unsichtbare Grenze. Ethnizität und Ökologie in einem Alpental. Wien/Bozen 1995, S. 171.

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digkeiten der Wiesenbewirtschaftung – vornehmlich auf die Anforderungen der innenräumlichen Haus- und Stallarbeit beschränkte.376 Die Blonser Bergbauernökonomie zu Beginn der 1950er Jahre schien durch eine weitreichende Integration der vorherrschenden ökologischen Gegebenheiten gekennzeichnet gewesen zu sein. So entsprach die betriebene Vieh- und Weidewirtschaft – gerade auch in ihrer dreistufigen Organisationsform und dem damit verbundenen Jahreszyklus – einer erfahrungsbasierten Adaption an die spezifischen Bedingungen von Topographie, Flora, Fauna und Klima. Aufgrund ihrer lokalen Dominanz schlugen sich die Rhythmen dieser Wirtschaftsform wiederum in den Strukturen der dörflichen Institutionen nieder. So gehörte das Große Walsertal beispielsweise zu jenen Regionen Vorarlbergs, denen – ein Resultat der ländlich-bäuerlichen antizentralistischen Opposition gegen das gouvernemental regulierte Bildungswesen – seit 1887 eine Sonderregelung hinsichtlich der verpflichtenden Schulzeiten zugestanden wurde. Laut Paragraph sieben des damaligen Schulgesetzes beschränkte sich die Verpflichtung zum Unterricht auf die Dauer von Oktober bis Mai, so dass die Kinder in den Sommermonaten traditionsgemäß bei den anfallenden Alp- und Heuarbeiten mithelfen konnten – eine Ausnahmeregelung, die noch bis zum Jahre 1961 in Kraft geblieben ist. 377 Die Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresrhythmen der Blonser waren also in hohem Maße durch die ökologisch strukturierten Erfordernisse der alpinen Bergbauernwirtschaft geprägt. Hierbei handelte es sich um ein Produktionssystem, das im Grunde sämtliche Familienmitglieder durch fest umrissene Aufgaben integrierte. Ausnahmen gab es dabei vor allem in den unteren und oberen Randbezirken der lokalen Vermögensverteilung. So wurden manchen Kindern der reicheren, größeren Höfe durchaus auch Weiterbildungsmöglichkeiten – etwa durch den Besuch der landwirtschaftlichen Fachschule in Bregenz –378 eröffnet. Aus den wohlhabenderen Familien gingen folglich oftmals jene Personen hervor, die nicht (nur) in das bergbäuerliche Tagesgeschäft involviert waren und über eine größere Entscheidungskompetenz verfügten – Bürgermeister, Lehrer, Gemeindevertreter, Vereinsvorstände. Vollzogen sich in den Familien der größeren Höfe also besitzbasierte Freisetzungen von der Bindung an den heimischen

376 Vgl. GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 96-127; siehe auch Cole/Wolf 1995, S. 171-181. 377 Vgl. Dirk Strohmann: Der Liberalismus im nicht-urbanen Vorarlberg (1830-1914). Regensburg 2013, S. 121f.; GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band II, S. 339-342. 378 Dies trifft beispielsweise auch auf einen der Interviewpartner zu. Interview 1: St. Gerold, 02.07.2013.

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Grund, so kam es in den kleineren, ärmeren Höfen häufig zu armutsbedingten Entbindungen. Wenn die Kinder aufgrund eines zu kleinen Grundbesitzes nicht miternährt werden konnten, mussten sie sich in den Sommermonaten regelmäßig als Mägde, Stallknechte oder Senner im Dienste anderer Grundbesitzer verdingen. Den bisherigen Ausführungen zufolge benötigten die Blonser einen Großteil ihrer Zeit zur Sicherung des Lebenserhalts, also zur Investition ihrer Arbeitskraft in die bergbäuerliche Wirtschaftsordnung. Die Sonn- und Feiertage waren aber in der Regel arbeitsfrei und standen vornehmlich im Zeichen der Religion. Man praktizierte einen volkstümlichen Katholizismus, der sich etwa in einer Vielzahl liturgischer Riten, aber freilich auch in einer bildmächtigen Ausstattung der lokalen Kirche sowie in zahlreichen apotropäischen Wegkreuzen und Bildstöcken – einem „zeichenhaften Schutz gegen Gefahr und Not“379 – innerhalb des Gemeindegebiets materialisiert hatte.380 Dabei mag, wie Arnold Niederer ausführt, die greifbare Anschaulichkeit dieser Glaubensform dazu beigetragen haben, dass die Sphäre des Religiösen den Charakter eines alltagstranszendierenden, bannend-bindenden Kontrapunkts ihres Daseins annehmen konnte: „Auf dem Unterton eines kargen, gefährdeten Lebens werden das Gepränge der dörflichen Fronleichnamsprozession und anderer Prozessionen […], das reiche Kircheninnere und das prächtige Priesterkleid als Kontrast, Ergänzung und Erhebung empfunden.“381 Während man ehedem der acht Kilometer entfernten St. StephanusPfarrkirche in Thüringen zugeordnet gewesen war, ist in Blons 1689 – nach wiederholten Bittschreiben des lokalen Gemeindeausschusses an die „Geistlich Edlen hochgelehrten und vesten Herren Weingartischen Commissarien und Abgesandten“382 – eine eigene Pfarrei errichtet worden. Bereits 1684 hatten die Bewohner von Blons mit Zustimmung des damaligen Propstes P. Basilius Stricker

379 Hugger 1990, S. 31. 380 Zu den Wegkreuzen und Bildstöcken im Gemeindegebiet Blons vgl. Peer 2010, S. 173-175. 381 Arnold Niederer: Traditionelle Wirtschafts- und Kulturformen in den Alpen. In: Ders.: Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel. Ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1956 bis 1991. Bern u.a. 1993, S. 147-264, hier S. 255. 382 Aus einem Schreiben des Blonser Gemeindeausschusses vom 11.12.1618 an die geistlichen Landesherren in Weingarten. Zitiert in Ludwig Rapp/Andreas Ulmer/Johannes Schöch: Blons. In: Dies.: Topographisch-historische Beschreibung des Generalvikariates Vorarlberg. VI. Band: Dekanat Sonnenberg. Walgau – Blumenegg – Großwalsertal. II. Teil. Dornbirn 1965, S. 673-692, hier S. 676.

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eine Kapelle gebaut, die 1687 durch den Bludenzer Stadtpfarrer in bischöflichem Auftrag benediziert worden war. Nun, nachdem Bischof Ulrich VI. von Mont am 20. Februar 1689 die Separations- und Pfarrerrichtungsurkunde ausgestellt hatte, wurde die Blonser Kapelle „Mariä Unbefleckte Empfängnis“ in den Status einer Pfarrkirche erhoben. Infolge der damaligen Territorialherrschaft durch die Propstei St. Gerold lag das Patronatsrecht beim Stift Einsiedeln, das den Kirchenbau und die Pfarrgründung denn auch mit großem Engagement gefördert hatte.383 Von nun an wurden die Pfarrer von Blons also auf Grundlage der Weisungen des jeweiligen Abtes von Einsiedeln installiert, was zur Folge hatte, dass es sich bei den Seelsorgern der Pfarrei – abgesehen von einzelnen, während des 18. Jahrhunderts entsandten Weltpriestern – um Stiftskonventualen handelte.384 Unter den verschiedenen Pfarrern erfolgten seither zahlreiche Erweiterungen und Erneuerungen der Kirche und des Kircheninventars – so auch im Jahr 1953, als der damalige Seelsorger P. Wilfried Stillhart eine umfassende Innenrestaurierung verwirklichte, die von seinem Vorgänger P. Kuno Bugmann initiiert, vom Gemeinderat beschlossen und schließlich dank umfangreicher in- und externer Spenden ermöglicht worden war.385 Wechsberg beschrieb die Leute von Blons Mitte der 1950er Jahre als „fromme Katholiken und fleißige Kirchgänger.“ 386 Angesichts des fest institutionalisierten Glaubens hatten die Kirche und der lokale Seelsorger einen prägenden Einfluss auf das Gemeindeleben. Dies betraf zum einen freilich weitreichende chronikalische und semantische Strukturierungen durch die liturgische Begleitung des Jahres- und Lebenslaufs im Rahmen der Heiligen Messen, Andachten und Prozessionen; ferner kohäsionskonsolidierende Effekte infolge einer Stärkung der Gemeindeidentität im Allgemeinen sowie spezifischere Vergemeinschaftungsprozesse durch institutionsgebundene Gruppierungen wie den Kirchenrat, den Kirchenchor oder die Ministrantengruppe. Zum anderen war die Kirche nach wie vor in das schulische Bildungssystem integriert, was sich nicht nur im obligatorischen Religionsunterricht, sondern etwa auch darin äußerte, dass an den Winterwochenenden stets „sonntägliche Christenlehren“ stattgefunden haben, die für alle Kinder und Jugendliche ab dem vierten Schuljahr verpflichtend waren.387 Schließlich sind aber nicht zuletzt auch diverse kirchlich or-

383 Zur Errichtung der Pfarrei Blons vgl. ebd., S. 675-681. 384 Vgl. ebd., S. 682-684. 385 Vgl. PAB: Pfarrchronik Blons: Restaurierung der Pfarrkirche zu Blons 1953. Bilanzierender Bericht von P. Wilfried Stillhart. Blons, Juni 1954. 386 Wechsberg 1959, S. 49. 387 ADF, PA Blons Hs. 49: Verkündbuch 1952-1957. Eintrag vom 08.11.1953.

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ganisierte Zusammenkünfte von vergleichsweise weltlichem Charakter zu nennen. So geht aus dem damaligen Verkündbuch der Gemeinde hervor, dass regelmäßig Freizeit- und Informationsveranstaltungen organisiert wurden, die sehr verschiedene Formate wie etwa eine „Zusammenkunft der Jungmänner im Adler zur Besprechung einer Bergtour“388, eine „Tonfilmvorführung mit Heimatfilmen“389 oder einen „Farbenlichtbildervortrag über Last und Freude des Bauernstandes“390 umfassten. Neben Ökologie, Infrastruktur, Ökonomie, Familie und Religion war auch das Vereinswesen ein prägendes Element des lokalen Lebensvollzugs. Verstanden als „ein freiwilliger und dauerhafter Zusammenschluss von Personen mit gemeinsamen Bedürfnissen und Anliegen“ 391 trug jeder der örtlichen Vereine auf seine Weise zur Formierung der Alltagsordnung bei. Die Anfänge dieser Organisationsform liegen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts: Der Dorfchronik zufolge entstanden während der 1830er Jahre die ersten gemeinsam organisierten Kleinsennereien; zudem gründeten einige Bauern in jener Zeit einen Interessenverbund zur Errichtung eines lokalen Sägewerks. Es folgten die Herausbildung des „Sanitätssprengels Großes Walsertal“ (1837) zwecks Anstellung eines gemeinsamen Distriktarztes in Garsella, die Gründung des „Großwalsertaler Brandversicherungsvereins“ (1865) sowie der Zusammenschluss zum „Spar- und Darlehenskassenverein Großes Walsertal“ (1892) mit Sitz in Blons. Vor Ort entstanden ferner ein Konsumverein (1896), ein Viehzuchtverein (1927) und ein Obst- und Gartenbauverein (1936). Des Weiteren konstituierte sich 1933 eine Freiwillige Feuerwehr. Zwar gab es zudem auch den oben bereits genannten Kirchenchor, einen Standschützenverein sowie einen „Kameradschaftsbund“, der von den Heimkehrern des Ersten Weltkriegs 1918 gegründet wurde, doch formierte sich ein Großteil des lokalen Vereinswesens zunächst offenbar in enger Bindung an gemeinsame ökonomische und präventionsstrategische Interessen.392 Zu Beginn der 1950er Jahre waren die genannten Vereine nach wie vor aktiv. Neben der brauchregulierten Nachbarschaftshilfe – die sich vor allem auf die

388 ADF, PA Blons Hs. 49: Verkündbuch 1952-1957. Eintrag vom 30.08.1953. 389 ADF, PA Blons Hs. 49: Verkündbuch 1952-1957. Eintrag vom 08.11.1953. 390 ADF, PA Blons Hs. 49: Verkündbuch 1952-1957. Eintrag vom 29.11.1953. 391 Walther Müller-Jentsch: Der Verein – ein blinder Fleck der Organisationssoziologie. In: Berliner Journal für Soziologie 18 (2008), S. 476-502, hier S. 479. 392 Vgl. GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band II, S. 422-429. Die heute ebenfalls stark vertretenen Freizeitvereine entstanden vor Ort erst seit den späten 1950er Jahren.

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gemeinsame Verrichtung spezifischer landwirtschaftlicher Arbeiten und die wechselseitige Hilfe in Bedrohungssituationen bezog – sowie den Gesellungsoptionen im Rahmen der schulischen Bildung und der Religionsgemeinschaft verkörperten sie eine der zentralen suprafamiliären Assoziierungsformen des Gemeindelebens. Dabei dienten sie freilich vielfach der kooperativen Bewältigung von Problemen, die innerhalb der Familienverbände und auf der Basis tradierter Nachbarschaftshilfe nicht (mehr) hinreichend bewältigt werden konnten.393 Zudem eröffneten sie den Mitgliedern Chancen einer stärkeren demokratischen Partizipation an lebensweltlich relevanten Entscheidungsprozessen. Doch auch jenseits spezifischer Sachfragen boten die Mitgliederversammlungen, Jubiläumsfeste, Ausflüge und Unternehmungen vielfältige Möglichkeiten des intersubjektiven Austauschs. So waren die Vereine nicht zuletzt deshalb bedeutsam, weil sie als Institutionen des Zusammenschlusses zur Vergemeinschaftung der Individuen beitrugen. Unabhängig von ihren je konkreten Zielen dienten sie stets auch der Geselligkeit und strukturierten damit das Gepräge der lokalen Kommunikationsprozesse. Nach dieser schematischen Annäherung an die Blonser Lebensverhältnisse zu Beginn der 1950er Jahre zeichnen sich Umrisse eines Ordnungsgefüges ab, das bei allen autarken Tendenzen freilich doch auch in hohem Maße durch (über-)regionale, ja globale Einflüsse geprägt war – Einflüsse, die von politischstrategischen Entscheidungen, juristischen Verordnungen und kriegerischen Auseinandersetzungen über ökonomische und technische Entwicklungen bis zu alltagssprachlich vermittelten Semantiken reichten. Von zentraler Prägekraft waren daneben auch die – ihrerseits anthropogen beeinflussten – naturräumlichen Gegebenheiten wie Klima, Boden und Relief, die sich als Formierungsfaktoren spezifisch begrenzter Möglichkeitsräume etwa in der lokalen Siedlungsstruktur und Wirtschaftsordnung niedergeschlagen haben. Die Gemeinde Blons erwies sich als eine Streusiedlung mit zentripetalen infrastrukturellen Verdichtungstendenzen. Nahezu sämtliche Bewohner arbeiteten als Bergbauern in Vollerwerbsbetrieben und praktizierten hierbei eine alpine Vieh- und Weidewirtschaft, deren materielle Basis nur in Ansätzen mechanisiert war. Es dominierte somit ein arbeitsintensives Produktionssystem, das die vorherrschenden soziokulturellen Verhältnisse grundlegend strukturierte. Relevante lebensweltprägende Ordnungselemente waren daneben insbesondere die Religion – in Form eines volks-

393 Vgl. Arnold Niederer: Die alpine Alltagskultur zwischen Routine und der Adoption von Neuerungen. In: Ders.: Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel. Ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1956 bis 1991. Bern u.a. 1993, S. 116-138, hier S. 128.

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tümlichen Katholizismus – sowie das lokale Vereinswesen. Dienten die bisherigen Ausführungen einem ersten Überblick, so sollen einzelne Aspekte dieses Ordnungsgefüges im Folgenden etwas detaillierter fokussiert werden. Es gilt nach den Ursachen und Effekten der Lawinenabgänge vom Januar 1954 zu fragen.

2. KATASTROPHENGENESE Katastrophen haben Geschichte. Ihr ereignishafter Charakter darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie stets in vielfältigen historischen Zusammenhängen stehen – in historischen Zusammenhängen, aus denen heraus sie sich erst eigens formieren. Wenn nun die nachstehenden Ausführungen das Ziel einer kulturwissenschaftlichen Analyse der Blonser Lawinenkatastrophe vom 11. Januar 1954 verfolgen, so ist damit also insbesondere das Ansinnen verbunden, diesen Ereigniskomplex in seiner spezifischen Gewordenheit zu beleuchten. Unseren bisherigen Überlegungen gemäß soll diese genealogische Rekonstruktion zunächst den soziomateriellen Prozessen der Lawinengenese nachgehen und somit einzelne Ursachen der Abgänge zur Darstellung bringen, bevor sie sich in einem zweiten Schritt der Frage nach den Folgen zuwendet, um schließlich erörtern zu können, weshalb die betreffenden Lawinenabgänge zu einer Katastrophe wurden. 2.1 Rekonstruktion der Lawinenursachen Neben Kriegen, (Vieh-)Seuchen, Hochwasser, Schneedruck und Muren gehören Lawinen zu jenen Bedrohungen, denen in der Blonser Dorfchronik394 ein großer Stellenwert eingeräumt wurde. Da die Hänge oberhalb der besiedelten Gebiete eine starke Neigung aufweisen und das Tal in Richtung der stürmischen, schneeverfrachtenden Westwinde offen ist, war man bei entsprechender Witterung immer wieder mit entsprechenden Problemlagen konfrontiert. Über lange Zeiträume hinweg gehörten Schneedruck und kleinere Lawinenabgänge während der Wintermonate zum gewohnten Alltag. Schwerer wiegende Zerstörungen ereigneten sich zwar selten, aber – im historischen Rückblick betrachtet – doch mit einiger Regelmäßigkeit. So verzeichnet die Blonser Lawinenchronik neben vielen kleinen Abgängen auch acht Unglücke – in den Jahren 1497, 1680, 1689, 1717, 1853, 1896, 1946 und 1954 –, die mit größeren Schäden einhergingen und

394 GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I und Band II.

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zahlreiche Opfer forderten.395 In Form eines kursorischen Rückblicks sollen im Folgenden zunächst jene früheren Blonser Lawinenkatastrophen beleuchtet werden, die den Ereignissen von 1954 vorausgegangen waren. Die genannten naturräumlichen Bedingungen entfalteten ihr Bedrohungspotential auf der Grundlage vielfältiger anthropogener Einflüsse. Bedrohungspotenzierend wirkte sich hierbei insbesondere die zunehmende Auslichtung schützender Waldbestände infolge lokaler Bestrebungen zur Gewinnung neuer Weideflächen aus. So standen die genannten Lawinenabgänge ursprünglich also in einem engen Zusammenhang mit der expandierenden Urbarmachung des Gebiets durch die damaligen Einwanderer aus dem Wallis. Die älteste bekannte Aufzeichnung schildert den Abgang einer Lawine, die sich am 22. Februar 1497 von den oberen Flanken des Falvkopfes gelöst und in der Parzelle Valentschina sechs Wohnhäuser sowie 26 Ställe und Speicher zerstört hatte. Es starben zahlreiche Tiere und zwölf Menschen.396 Da diesem Ereignis weitere Abgänge folgten, begannen sich vor Ort erste Immunisierungsbemühungen zu objektivieren. Aus einer Urkunde vom 24. Juni 1526 geht hervor, dass die damaligen Territorialherren Graf Rudolf zu Sulz und Propst Diepold von Geroldsegg auf Bitten der Bevölkerung eine Kommission bestellt hatten, deren Aufgabe darin bestand, Empfehlungen zur Bannlegung der lokalen Waldbestände zu erarbeiten. Auf der Grundlage dieser Empfehlungen, denen offenbar eine Besichtigung des betreffenden Gebiets und eine Befragung einheimischer Gewährsleute vorausgegangen waren, wurden schließlich nachstehende Parzellen gesperrt: „In Blons die Waldungen ob und unter der Alpe Hüggen herwärts unter dem Weg bis hinab auf die Güter; ferner das Maiensäß unter dem Esch und der Scherm am selben Büchel einwärts, soweit der Scherm geht, und hinauf, soweit das Maiensäß reicht. Wer in diesem Revier einen Stamm fäll, zahlt, sooft das geschieht, ein Pfund Pfennig Strafe. Weiters werden ebenfalls in Blons gesperrt: der Wald auf Fagritsch, der hohle Wald, das Holz zwischen der Egg und dem Eschtobel bis hinab zu den Gütern, und zwar sowohl das Holz, das unter dem das Maiensäß durchziehenden Weg bis zu den Gütern, wie ob demselben bis zum Troyen steht. Zuwiderhandelnde zahlen für jeden Stamm ½ bis 1 Pfund Pfennig. Ob Valentschina der gesamte Waldstand den Pörtnern nach hinein und hinauf auf die eigenen Güter, soweit man hinauf mähen kann, ferner hinein bis an Paranzaun und den Pa-

395 Vgl. AWL: Oswald Wagner: Beitrag zur Geschichte der Lawinenkatastrophen in Vorarlberg. Unveröffentlichtes Manuskript. Nicht datiert. 396 Vgl. ebd., S. 7.

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ranzawner Rain unter und ob dem Wege, soweit Holz und Büschen stehen. Endlich alle Waldbestände innerhalb dem Zug unter der Alpe Kamm bis hinab zum Gute, das benannt wird ‚Zur Löwe‘. Frevler zahlen hier pro Stamm 1 Pfund Pfennig.“ 397

Abbildung 3: Bannlegungsurkunde vom 24.06.1526

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Da die geschilderten Sperrungen auf Ansuchen der einheimischen Bevölkerung erfolgt sind, ist davon auszugehen, dass bereits zu jener Zeit zentrale ursächliche Zusammenhänge der vorherrschenden Lawinenbedrohung vor Ort durchaus bekannt waren. Ferner wird deutlich, dass man den bisherigen bedrohungsrealisierenden Ereignissen nicht (nur) im Modus fatalistischer Hinnahme begegnen wollte. So entsprach die Bannlegung der genannten Waldgebiete dem Versuch einer aktiv-passiven Bannung problematischer Probleme. Sie war eine geplante, juristisch regulierte Maßnahme, die der zuvorkommenden Verhinderung weiterer Bedrohungsrealisierungen dienen sollte – eine präventionsvermittelte Form angstbefreiender Distanzierung,398 auf der Basis einer rational begründeten Strategie des Schonens. Wenngleich nun also einige der schützenden Waldgebiete in Bann gelegt worden waren, blieb die Lawinengefahr weiterhin bestehen, was – wie sich auch 397 VLA, St. Gerold, Kloster 4630. In: monasterium.net. URL: http://monasterium.net/ mom/AT-VLA/StGeroldKl/4630/charter (15.03.2018): Bannlegungsurkunde vom 24.06.1526. Die Textpassage ist zitiert nach Dobler 2008, S. 11. 398 Vgl. Böhme 2003, S. 37: „Wir begegnen hier erneut der schlichten Wahrheit, daß, wenn Angst ein ‚gehindertes Weg!‘ ist, Angstbefreiung in nichts anderem besteht als dem ‚Weg!‘, so roh wie sublim, so körperlich wie symbolisch.“

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in den folgenden Kontexten immer wieder zeigen wird – sowohl auf die Zerstörbarkeit als auch auf die Relativität des Schutzes solcher materiellen Sekurisationselemente zurückzuführen ist. Zum einen büßten – Ausdruck einer kontraintentionalen Dialektik des Schonens – einige der in Bann gelegten Baumbestände aufgrund überalterungsbedingter Zerbrechlichkeit mit der Zeit ihre sichernde Wirksamkeit ein. Zum anderen handelte es sich bei dieser Wirksamkeit, wie bei allen Effekten des Materiellen, um eine Kraft, die mit den Kontexten ihrer jeweiligen Realisierung qualitativ variierte. In Anlehnung an grundlegende Positionen aus den Science and Technology Studies verstehen wir die jeweiligen phänomenkonstituierenden Wirkungen der lawinenbezogenen Sekurisationselemente hier und im Folgenden somit „nicht als essentialistische Eigenschaften, sondern als Qualitäten, die in der Relation zu anderen Elementen herausgebildet werden.“399 Was einmal Sicherheit gewährte, gewährt diese – auch bei gegebener Konstanz seiner materiellen Verfasstheit – nicht notwendigerweise auch ein weiteres Mal. Trotz der beginnenden Immunisierungsbemühungen hatte die lokale Lawinengefahr also weiterhin Bestand. So wurde sie beispielsweise an durchaus prominenter Stelle in jenem – bereits oben erwähnten – Gesuchschreiben, das der Gemeindeausschuss am 11. Dezember 1618 an die geistlichen Landesherren in Weingarten sandte, als argumentative Untermauerung der dort skizzierten Notwendigkeit zur Gründung einer eigenen Pfarrei angeführt. Dieses Schreiben paraphrasierend heißt es in der topographisch-historischen Vikariatsbeschreibung: „Die am entferntesten Wohnenden hätten nach Thüringen an die 4 Stunden zu gehen. Bei Schnee und ‚Löwe‘ (Lawinengefahr) könnten sie ihre neugeborenen Kinder nicht herausbringen und seien bei Mannsgedenken etliche Male solche Kinder ohne Taufe verstorben; desgleichen hätten Sterbende ohne Sakramente abscheiden müssen.“400

Dass es sich bei diesem Argument nicht nur um strategische Rhetorik handelte, sondern ihm durchaus auch empirische Substanz zugrunde lag, bestätigte sich einige Jahre später erneut. Um 1680 löste sich unterhalb der westlichen Flanke des Falvkopfes die Walkenbachlawine und zerstörte unter anderem das in Herawies – der geographischen Dorfmitte – bereitgestellte Material für den 1677 be-

399 Julia Maintz: Relationalität und räumliche Dynamik von Risiken – ein bioterroristisches Szenario aus Perspektive der Actor Network Theory. In: Carsten Felgentreff/ Thomas Glade (Hg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen. Berlin/Heidelberg 2008, S. 411-419, hier S. 412. 400 Rapp/Ulmer/Schöch 1965, S. 676.

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schlossenen Kirchenbau. Die Kirche „Mariä Unbefleckte Empfängnis“ wurde infolgedessen an der als sicher geltenden Westgrenze des Dorfes – also im späteren Kirchdorf – errichtet und kann hinsichtlich ihrer Lage somit als ein materielles Zeugnis der lokalen Lawinenbedrohung verstanden werden.401 Diese Vorgeschichte mag mit dazu beigetragen haben, dass einer der Seitenaltäre des Gotteshauses schließlich dem Heiligen Nikolaus – Patron gegen Lawinengefahr und Schutzpatron der Walser – geweiht wurde.402 Im Winter 1688/1689 folgten indessen bereits die nächsten lawinenbedingten Ordnungsdeformationen. Den überlieferten Aufzeichnungen zufolge ereignete sich damals „die größte Lawinenkatastrophe, von der Vorarlberg je betroffen wurde.“403 Zu massiven Zerstörungen kam es vor allem in den Gebieten des Kleinen Walsertals und des Montafons. Ebenfalls betroffen war das Große Walsertal, wo neben Sonntag, Raggal und Thüringerberg auch Blons erneut zu den geschädigten Gemeinden gehörte. So seien dort, wie festgehalten wurde, am 2. Februar 1689 infolge eines Lawinenabgangs „viele Leute, Vieh und Gebäude zugrunde [gegangen]“404. Knapp dreißig Jahre später war Blons ein weiteres Mal betroffen. Am 9. Dezember 1717 löste sich eine Lawine von den Hängen des Mont Calvs – einer westlich des Falvkopfes, oberhalb der Siedlungsparzelle Oberblons gelegenen Bergkuppe, die zu dieser Zeit offenbar als Alpweide genutzt wurde und daher nur spärlich bewaldet war.405 Dem Lawinenabgang fielen sechs Menschen, zwanzig Tiere, drei Häuser, fünf Ställe und ein Speicher zum Opfer. Wohl nicht zuletzt aufgrund des plastischen Charakters dieser Bedrohungsrealisierung reagierte man vor Ort mit weiteren Immunisierungsbemühungen. Zum einen ist der betreffende Südhang des Mont Calvs nach 1717 schon bald wieder aufgeforstet worden. Zum anderen versuchten die Bewohner von Oberblons künftigen Bedrohungen aber auch insofern entgegenzuwirken als sie unter dem Eindruck dieses Ereignisses damit begannen, ihre Häuser vom östlichen Lucitöbele weiter nach Westen in eine weniger exponierte Lage zu verlegen.406 Am 17. April 1853 ereignete sich in Blons erneut ein Lawinenabgang mit gravierenden Folgen. Nachdem das Frühjahr bereits Einzug gehalten hatte, kam

401 Vgl. Rapp/Ulmer/Schöch 1965, S. 685; AWL: Wagner: Beitrag zur Geschichte der Lawinenkatastrophen, S. 10. 402 Vgl. Rapp/Ulmer/Schöch 1965, S. 687. 403 AWL: Wagner: Beitrag zur Geschichte der Lawinenkatastrophen, S. 10. 404 GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band I, S. 40. 405 Vgl. Dobler 2008, S. 18. 406 Vgl. ebd., S. 19.

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es zu einem plötzlichen Wetterumschwung, der Kälte und Schnee brachte. Als die Schneemassen nach mehrtägigen heftigen Niederschlägen keinen Halt mehr fanden, löste sich am Südosthang des Falvkopfes, oberhalb der Parzelle Valentschina, eine Staublawine, die sechs Wohnhäuser, zwanzig Ställe, fünf Alphütten und große Waldflächen zerstörte. Zwanzig Tiere kamen ums Leben; zahlreiche Menschen wurden verschüttet; ein zwölfjähriger Junge konnte nur noch tot geborgen werden.407 Da der Lawinenabgang im Frühjahr 1853 zu einer massiven Zerstörung des Bannwaldes führte, handelte es sich dabei einmal mehr um eine bedrohungsforcierende Form der Bedrohungsrealisierung – um ein Ereignis, das bei ausbleibenden Immunreaktionen gleichsam durch sich selbst die Bedingungen der Möglichkeit seiner Wiederholung begünstigte. Die dergestalt gesteigerte Katastrophenträchtigkeit des lokalen Ordnungsgefüges potenzierte sich abermals als rund 40 Jahre später an der gleichen Stelle eine weitere Lawine abging und erneut heftige Sachschäden verursachte: Die Falvkopf-Lawine vom 17. Januar 1896 zerstörte zwei Ställe, einen Heustock und große Gebiete der ohnehin bereits dezimierten Bannwaldbestände.408 Der zuletzt genannte Lawinenabgang kann nun in einiger Hinsicht als Ausgangspunkt der unmittelbaren Vorgeschichte des sich 1954 realisierenden Ereigniskomplexes verstanden werden. Vor diesem Hintergrund gilt es nun den kursorischen Modus der bisherigen Ausführungen zugunsten einer analytischen Verdichtung unseres Rekonstruktionsversuchs zu verlassen. Vermittels einer detaillierteren Fokussierung einzelner Begebenheiten soll dabei insbesondere danach gefragt werden, welche expliziten Immunisierungsstrategien fortan zum Tragen kamen und aus welchen Gründen die hieraus erwachsenen Bemühungen letztlich scheiterten. In Reaktion auf den Lawinenabgang vom Januar 1896 erschien am 11. Februar desselben Jahres im Vorarlberger Volksblatt der erste Abschnitt eines dreiteiligen Artikels über die „Walserthaler Leuesorg“. 409 Der Autor Josef Grabherr, ein Pfarrer und Lokalhistoriker, der einige Jahre in der Großwalsertaler Gemeinde Thüringerberg als Seelsorger gewirkt hatte, erinnert in diesem Artikel an

407 Vgl. Dobler 2008, S. 25-27; AWL: Wagner: Beitrag zur Geschichte der Lawinenkatastrophen, S. 26; Rapp/Ulmer/Schöch 1965, S. 674. 408 AWL: Wagner: Beitrag zur Geschichte der Lawinenkatastrophen, S. 37. 409 Josef Grabherr: Walserthaler „Leuesorg“. In: Vorarlberger Volksblatt, 11.02.1896; Ders.:

Walserthaler „Leuesorg“. Fortsetzung.

In:

Vorarlberger Volksblatt,

14.02.1896; Ders.: Walserthaler „Leuesorg“. Schluß. In: Vorarlberger Volksblatt, 18.02.1896.

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frühere Schutzmaßnahmen gegen Lawinen und gibt Empfehlungen für die Gegenwart. Dabei fällt auf, dass sich seine Ausführungen aus verschiedenen Wissensordnungen speisen. Wie die Betitelung mit dem lokalen Dialektbegriff für „Lawinensorge“ bereits andeutet, haben seine historischen Darstellungen einen volkskundlich-ethnographischen Charakter. Sie beziehen sich auf Wissen, das die Bevölkerung des Großen Walsertals im Umgang mit Lawinen ehedem erworben hatte, und bedienen sich hierbei in modernisierungskritischer Manier jener verbreiteten Argumentationsfigur, deren Leitdifferenz auf einer kontrastierenden Gegenüberstellung von „wissenden Alten“ und „unwissenden Gegenwärtigen“ basiert. Während die Vorfahren der Lawinengefahr durch „sorgfältige Beobachtung“, „weise Erfahrung“ und „eine gewisse List“ begegnet seien, herrschten heute vor allem „Unverstand“ und „Eigennutz“: „Wird so in Bezug auf die – fast möchte ich sagen – Hausbäume mit gänzlicher Verkennung ihres überaus nützlichen Zweckes in folgenschwerer Weise gesündigt und dasjenige leichtsinnig zerstört, was die Vorfahren zu ihrem und ihrer Nachkommen Schutz gepflanzt, so verdient noch gerechteren Tadel die geradezu unverantwortliche Art und Weise, mit der die Waldbäume, die von den Alten so sehr geschonten und gepflegten Waldbestände der absehbaren Vernichtung zugeführt werden.“410

Angesichts der von ihm diagnostizierten Nachlässigkeiten plädiert Grabherr also für die Besinnung auf lawinenbezogenes Bedrohungs- und Immunisierungswissen, dessen Überlieferung seiner Ansicht nach in bedrohlicher Weise zu versiegen drohe. Zugleich fließen in andere Passagen des Artikels aber durchaus auch gegenwärtige, technisch-analytische Wissensformen mit ein. Wenn etwa nach wenigen Zeilen formuliert wird, dass es „zu besserem Verständnisse, namentlich des Flachländers, angezeigt sein [dürfte], zuerst die Natur und Beschaffenheit der Lawinen in thunlichster Kürze festzustellen,“411 so folgen daraufhin Hinweise zu Entstehung, Zusammensetzung, Verlauf, Luftdruckentwicklung, Geschwindigkeit etc., die in ihrem Inhalt und Duktus davon zeugen, dass sich der Autor mit dem aktuellen Kenntnisstand der damaligen Lawinenkunde vertraut gemacht hat. Bei aller Bezogenheit auf die – vermeintlich mangelhafte – Tradierung lokaler Formen des Lawinenwissens ist Grabherrs Artikel somit nicht zuletzt auch durch den übergeordneten Kontext einer zunehmend naturwissenschaftlich geprägten Bearbeitung dieses Phänomenbereichs geprägt.

410 Grabherr 1896c. 411 Grabherr 1896a.

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In der Tat hatte sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine nachhaltige Dynamisierung der lawinenspezifischen Wissensproduktion unter technischwissenschaftlichen Vorzeichen vollzogen. So verdeutlicht etwa Bernhard Tschofen,412 dass in diesem Zusammenhang zwei relevante Entwicklungslinien unterschieden werden können, die sowohl inhaltlich als auch personell eng miteinander verknüpft waren: Zum einen begann sich seit den 1870er Jahren im Umkreis des modernen Alpinismus eine praktisch motivierte Gefahrenlehre zu etablieren. Zum anderen bildete sich zeitgleich aber auch in der Geologie ein zunehmendes Interesse an der Schnee-, Gletscher und Lawinenkunde aus. Die genannten Entwicklungen führten schon bald zu einer ausgeprägten Erweiterung der betreffenden Wissensbestände. „Sind frühe Schriften noch von einer gewissen Hilfslosigkeit in der Beschreibung der Schneearten und Lawinengefahren geprägt“, formuliert Tschofen, „so kennt die Literatur der Jahrhundertwende bereits mannigfaltige Differenzierungen. Sie kreiert neue Bezeichnungen und greift auf das kollektive Wissen der Alpenbewohner zurück, indem sie deren Terminologien und Erfahrungen wissenschaftlich belegt und in ein System des Nutzens […] und richtigen Verhaltens bringt.“413 Das dergestalt produzierte und rekonfigurierte Wissen beförderte die Herausbildung neuer Immunisierungstechniken. Auch auf diesem Feld forcierte die sich ausdifferenzierende naturwissenschaftlich-technische Beleuchtung ehedem unthematisch wirksamer Kausalitätszusammenhänge das Bestreben, „unerwünschte Effekte durch geeignete Modifikationen der Ursachen oder durch die Begrenzung und Milderung der Konsequenzen zu vermindern.“414 Zugleich führte das produzierte Wissen – gestützt durch die Rückwirkung seiner greifbaren Materialisierungen – freilich auch zu einer semantischen Transformation des Katastrophischen. „Schutzbauten, Bauverbotszonen und Versicherungen“, so Kurt Imhof zu diesen Entwicklungstendenzen des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen, „verwandeln Katastrophen in wahrscheinliche Risiken, und damit werden sie als ‚Elementarereignisse‘ bzw. ‚Elementarschäden‘ in eine Form rationaler Bere-

412 Vgl. u.a. Bernhard Tschofen: Natur. In: Jan Hinrichsen/Reinhard Johler/Sandro Ratt (Hg.): Katastrophen/Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt. Tübingen 2018, S. 109-121 (im Erscheinen). 413 Ebd., S. 117. 414 Manfred Jakubowski-Tiessen: Naturkatastrophen: Was wurde aus ihnen gelernt? In: Patrick Masius/Ole Sparenberger/Jana Sprenger (Hg.): Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin. Göttingen 2009, S. 173-186, hier S. 179.

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chenbarkeit überführt.“415 Indessen müsse, wie Imhof betont, hierbei auch berücksichtigt werden, dass sich diese naturwissenschaftlich rationalisierten Betrachtungsweisen in öffentlichen Diskursen nur langsam – und in langewährender Koexistenz zu anderen, durchaus widersprüchlichen Katastrophenbegriffen – etablierten. Die zunehmende Wissensproduktion auf dem Feld der Schnee- und Lawinenkunde ging mit entsprechenden Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprozessen einher. Neben der 1872 in Wien gegründeten „Hochschule für Bodenkultur“, wo seit 1879 einschlägige Vorlesungen gehalten wurden, ist in diesem Zusammenhang auch die 1884 am Wiener Ackerbauministerium eingerichtete „k.k. forsttechnische Abtheilung für Wildbachverbauung“ zu nennen – eine staatliche Institution, die das produzierte naturwissenschaftlich-technische Wissen festigte, konkretisierte und durch die umgesetzten Verbauungen in einem greifbar materiellen Sinne objektivierte. Vor dem Hintergrund neuer Kenntnisse und Fertigkeiten, nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der verheerenden Hochwasserkatastrophen des Sommers 1882 in die Wege geleitet, wurde diese Dienststelle nach französischem Vorbild dem Arbeitsgebiet der Forsttechniker – und nicht etwa jenem der Wasserbautechniker – übertragen.416 Zwar stand hierbei zunächst die Verbauung von Wildbächen im Vordergrund, doch gewann auch der Lawinenschutz mit der Zeit zunehmend an Relevanz. Auf der Ebene des Amtsnamens äußerte sich diese Entwicklung indessen erst nach dem sogenannten Anschluss an das Deutsche Reich, als die Forsttechnische Abteilung 1939 in das „Amt für Wildbach- und Lawinenverbauung“ umbenannt wurde. Da dies das Tätigkeitsprofil der Institution inzwischen besser repräsentierte, wurde der dergestalt erweiterte Namen auch nach 1945 beibehalten. Die frühen Lawinenverbauungen fielen allerdings nicht ausschließlich in den Kompetenzbereich des Ackerbauministeriums beziehungsweise des dort angegliederten Forsttechnischen Dienstes. Vielmehr waren auch die Straßenbauverwaltungen und die österreichische Bundesbahn in ihren je eigenen Wirkungsbereichen mit der Errichtung von Lawinenschutzbauten befasst. So musste etwa die Westrampe des Arlbergs im Zuge des Baus der Arlbergbahn von 1880 bis 1884 mit umfassenden Schutzmaßnahmen gesichert werden. Mangels entsprechender Vorbilder waren die Ingenieure der Bundesbahn dabei vor die Aufgabe gestellt, einen Großteil der angewandten Verbauungsmethoden selbst zu entwickeln. Die errichteten Sekurisierungselemente umfassten schließlich „hinterfüllte Mauerter-

415 Imhof 2008, S. 303. 416 Vgl. Herbert Aulitzky et al.: Hundert Jahre Wildbachverbauung in Österreich: 18841984. Wien 1984, S. 20.

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rassen, freistehende Mauern, Arlbergrechen, verschiedene Bautypen in Holz, verschiedene Rechen- und Brückentypen aus Altschienen, kombinierte Bautypen aus Mauerwerk und Stahl, Erdterrassen, Kolktafeln, Lawinendämme, Lawinenleitdämme, Lawinendächer usw.“417 – wobei mit dem genannten „Arlbergrechen“ ein Bautyp entworfen worden war, der in den folgenden Jahren österreichweit zur klassischen Form der präventiven Stützverbauung avancierte. Auch in Blons sollten bald Arlbergrechen zum Einsatz kommen. So wurden die oben erwähnten Lawinenabgänge vom 17. Januar 1896 vor Ort zum Anlass genommen, mit der „Forsttechnischen Abteilung“418 in Kontakt zu treten und entsprechende Verbauungsmaßnahmen zum Schutz der gefährdeten Gemeindegebiete zu beantragen. Bereits am 29. Januar erfolgte daraufhin eine kommissionelle Begehung, auf deren Grundlage die Verbauung der entsprechenden Abbruchgebiete befürwortet wurde. Nachdem die Gemeinde durch den Ankauf von Grund und Weiderechten – auf der Alpe Hüggen am Falvkopf sowie in der Zassenmahd am Mont Calv – die notwendigen Flächen für das Vorhaben erworben hatte, begann die Projektierung der Maßnahmen. Das 1901 von der Wildbachverbauungssektion Innsbruck ausgearbeitete Projekt „Lawinenverbauung bei Blons“ gelangte am 10. Juni 1904 zur kommissionellen Überprüfung. Aus einem Gesetz- und Verordnungsblatt vom 17. August 1905 geht schließlich hervor, dass die geplanten Schutzmaßnahmen in dieser Form vom zuständigen Ministerium genehmigt wurden: „Auf Grund des Erlasses des k.k. Ackerbau-Ministeriums vom 7. Oktober 1904 […] werden betreffend die Ausführung von Lawinenverbauungen auf der Alpe Hüggen in der Gemeinde Blons zwischen dem k.k. Ackerbau-Ministerium und dem Vorarlberger Landesausschusse vereinbart nachstehende Bestimmungen, mit welchen sich auch die Gemeinde Blons einverstanden erklärt hat: § 1. Die Ausführung der Lawinenverbauung auf der Alpe Hüggen im Gemeindegebiete von Blons wird als ein vom Lande Vorarlberg auszuführendes Unternehmen erklärt. § 2. Als technische Grundlage für diese Lawinenverbauung hat das von der k.k. forsttechnischen Abteilung für Wildbachverbauung, Sektion

417 Ebd., S. 231. 418 Die organisatorische Betreuung der Wildbach- und Lawinenverbauung in Vorarlberg lag zunächst bei der Sektion Villach, bevor sie 1897 der selbständigen Expositur Brixen unterstellt wurde. Bereits ab 1898 war man daraufhin der neugegründeten Sektion in Innsbruck angegliedert. Seit 1920 ist „Vorarlberg“ jedoch eine eigene Sektion.

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Innsbruck, ausgearbeitete und seitens der Überprüfungskommission im Protokolle vom 10. Juni 1904 begutachtete Projekt zu dienen.“ 419

Im Rahmen dieses Erlasses wurde zudem festgelegt, dass die mit 75.800 Kronen veranschlagten Baukosten zu 50% vom Staat sowie zu jeweils 25% vom Land und von der Gemeinde Blons zu tragen waren. Ferner heißt es unter Paragraph 17: „Mit dem Zeitpunkte der Schlußkollaudierung beginnt, insoweit sich hiebei kein als begründet anerkannter Anstand ergibt, die Pflicht der Gemeinde Blons zur Erhaltung der ausgeführten Bauten. [...] Die Gemeinde hat die ausgeführten Bauten sorgsam zu überwachen, dieselben alljährlich in der Regel mit Beginn des Sommers unter Beizug eines Sachverständigen einer genauen Besichtigung zu unterziehen, über das Ergebnis dieser Untersuchung dem Landesausschusse zu berichten und eingetretene Schäden an den Bauten stets ungesäumt zu beheben.“420

Die genehmigten Maßnahmen wurden im Laufe der folgenden Jahre sukzessive realisiert. In den Jahren 1906 und 1907 bestand die Hauptaufgabe in der Erstellung von 1327 m Arlbergrechen. 1908 und 1909 erstellte man weitere 85 m Arlbergrechen sowie 177 m Schneewege. Zudem wurden zahlreiche Zirben, Fichten und Lärchen aufgeforstet, die im Gesamten etwa 6 ha Schutzwald ergeben sollten. Parallel zu diesen Maßnahmen im Anbruchsgebiet der Falvkopf-Lawine wurde auch am Südhang des Mont Calvs eine circa 1 ha große Wiesenfläche verpfählt und aufgeforstet. Daneben galt es bis zum Jahr 1916 immer wieder eingetretene Schäden zu reparieren. Der Kostenaufwand dieser ersten Bauphase betrug insgesamt 71.907 Kronen.421

419 Kundmachung des k.k. Statthalters vom 27. Juli 1905, betreffend die Ausführung von Lawinenverbauungen auf der Alpe Hüggen in der Gemeinde Blons. In: Gesetzund Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg XXXII. Stück. Herausgegeben und versendet am 17.08.1905. URL: http://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex?aid=ltv&datum=19059004&seite=00000229 (15.03.2018). 420 Ebd. 421 Die Angaben beziehen sich auf die Kollaudierungsoperate der k.k. Forsttechnischen Abteilung für Wildbachverbauung. Vgl. AWL, Hüggen-Lawine Gem. Blons 1956: Technischer Bericht zum generellen Bauentwurf für die Verbauung der HüggenLawine in der Gemeinde Blons, Bezirk Bludenz, Vorarlberg. Bludenz, 08.03.1956; AWL, Genereller Bauentwurf Mt.-Calv-Lawine: Technischer Bericht zum generel-

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Abbildung 4: Arlbergrechen oberhalb von Blons, Mitte der 1920er Jahre

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Die dergestalt konfigurierten Immunisierungsbestrebungen schienen sich jedoch trotz wiederholter Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten nicht problemlos in eine persistente, langfristigen Schutz gewährende Gestalt überführen zu lassen. Zum einen zeichnete sich schon nach wenigen Jahren ab, dass die Gemeinde Blons den vereinbarten Erhaltungsverpflichtungen nicht in hinreichendem Maße nachkommen konnte. Jedenfalls schienen die tradierten lokalen Bewirtschaftungsformen Praktiken zu beinhalten, deren nichtintendierte – offenbar jedoch in Kauf genommene und tolerierte – Nebeneffekte die Schutzwirkung der erstellten Sekurisationselemente untergruben. So geht aus einem Erlass des Vorarlberger Landesausschusses hervor, dass die zur Erhaltung zentraler Schutzmaßnahmen notwendige Auflage einer strikten Trennung von Wald und Weide in den vergangenen Jahren immer wieder missachtet worden war. In dem betreffenden Schreiben, das der damalige Landeshauptmann Adolf Rhomberg am 2. März 1914 – mit Verweis auf die Ergebnisse des entsprechenden Jahresberichts der Forsttechnischen Abteilung – an den Blonser Gemeindevorstand schickte, ist zu lesen: „Es seien trotz des Weideverbotes neuerlich wieder Spuren von Viehauftrieb bemerkt worden, wodurch dreihundert Zirbenpflanzen vernichtet, die circa 7 ha große Fläche total len Bauentwurf für die Verbauung der Mont-Calv-Lawine in der Gemeinde Blons, Verwaltungsbezirk Bludenz. Bludenz, 07.08.1954.

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abgeweidet, wobei ungefähr 600 Stück 4-7 jährige Pflanzen sowie die 1 Jahr alte Saat ganz dem Verderben anheim fielen und die anderen Kulturen auf Jahre hinaus in ihrem Wachstum geschädigt seien. Der Vorarlberger Landesausschuß sieht sich sohin gemäß Beschluß vom heutigen Tage veranlaßt, die Gemeindevorstehung im Interesse der für die Gemeinde Blons wichtigen Verbauungen hievon in Kenntnis zu setzen mit dem strengen Auftrage, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln energisch dafür zu sorgen, daß diesem Umfange in Zukunft abgeholfen werde.“422

Neben den Destabilisierungseffekten lokaler Alltagspraktiken – hinsichtlich deren unmittelbaren Fortgangs uns keine Quellen vorliegen – trugen zum anderen aber auch Wildverbiss sowie zeit- und witterungsbedingte Faktoren zur Zersetzung der initiierten Immunisierungsmaßnahmen bei. So führte etwa der schneereiche Winter 1922 dazu, dass zahlreiche Arlbergrechen infolge heftigen Schneedrucks und des Abgangs einer Grundlawine ihre Schutzfunktion verloren. Infolge dieser witterungsbedingten Zerstörungen wurde am 26. September 1923 gemäß eines Erlasses des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft erneut eine Zustandserhebung der Blonser Lawinenverbauungen durchgeführt,423 auf deren Grundlage man 50.000 Kronen – von denen 70% der Staat, 15% das Land und 15% die Gemeinde zu tragen hatten – für die notwendigen Instandsetzungsarbeiten bewilligte. In den Jahren von 1924 bis 1927 wurden daraufhin umfassende Reparaturarbeiten durchgeführt, 1628 m Schneewege erstellt und zur künftigen Entlastung der reparierten Arlbergrechen 1291 m Erdterrassen angelegt. Zudem hat man in den Jahren 1928, 1929 und 1932 schließlich weitere 147 m Terrassen in Rasenziegelmauerwerk erbaut, 33 m Schneefangwände errichtet, einen Forstgarten von ca. 40 m² Größe angelegt sowie eine Fläche von ca. 1 ha Größe mit Fichten, Zirben, Bergkiefern und Lärchen aufgeforstet. Die Kosten dieser zweiten Bauphase – im Zeitraum zwischen 1924 und 1932 – beliefen sich zusammen schließlich auf 68.312 Schilling.424

422 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Adolf Rhomberg an die Gemeindevorstehung in Blons. Bregenz, 02.03.1914 (Hervorhebungen im Original). 423 Vgl. AWL, Lawinenverbauung bei Blons: Niederschrift, aufgenommen am 26. September 1923 in Bludenz. 424 Vgl. AWL, Hüggen-Lawine Gem. Blons 1956: Technischer Bericht zum generellen Bauentwurf für die Verbauung der Hüggen-Lawine in der Gemeinde Blons, Bezirk Bludenz, Vorarlberg. Bludenz, 08.03.1956; AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Details betreffend die Verbauung der Hüggen-Lawine. Nicht datiert.

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Nachdem die zweite Bauphase abgeschlossen war, wurden bis Mitte der 1950er Jahre keine weiteren Ergänzungs- oder Reparaturarbeiten mehr veranlasst. Indessen vollzogen sich mit der Zeit erneut anthropogen und witterungsbeziehungsweise zeitbedingte Beeinträchtigungs- und Verfallsprozesse. So wurde am 4. September 1942 im Rahmen einer Begehung des Verbauungsgebiets durch Vertreter des Amtes für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz festgestellt, dass die Arlbergrechen den großen Schneemassen der vergangenen Winter nicht standgehalten hätten, die Mauerterrassen teilweise einen stark verwitterten Eindruck machten, ein Teil der Schneefanggitter offenbar entwendet worden sei und die Aufforstungen nicht hinreichend gediehen. Hieraus ergebe sich, „dass die Lawinenverbauung am Hüggen bisher ihre Aufgabe erfüllt hat, dass aber für die Zukunft infolge der festgestellten Schäden an den Bauten keine Gewähr mehr geboten werden kann.“425 Angesichts dieses Umstands sei es dringend erforderlich, nach Kriegsende entsprechende Erneuerungen vorzunehmen. Wohl insbesondere aufgrund des Personalmangels der Nachkriegsjahre war es aber offenbar nicht möglich, die notwendigen Instandsetzungsarbeiten zeitnah zu realisieren. Wie einzelne Archivalien dokumentieren, erwachte Ende der 1940er Jahre daraufhin auch in Blons ein verstärktes Interesse, der Bedrohungslage entgegenzuwirken. So bemühte sich die Gemeinde beispielsweise darum, neue verbau- und aufforstbare Grundstücke zum Zwecke eines entsprechenden Ausbaus des Lawinenschutzes zu erwerben. 426 Auch geht aus einem Schreiben, vermittels dessen sich das Gemeindeamt Blons am 7. Januar 1950 an die Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz wandte, hervor, dass man die diesbezügliche Situation inzwischen als eine brisante, zum Handeln drängende Bedrohung wahrgenommen hat: „Die schon vor zirka 40 Jahren erstellte Lawinenverbauung auf dem Hüggnerfalv in Blons würde einer großen Ausbesserung, ja beinahe einer Neuerstellung bedürfen. Wird noch durch Jahre in dieser Hinsicht nichts unternommen, so wird eines schönen Tages die Lawine verheerendes Unheil anrichten, wie dies im Jahre 1853 auch der Fall war. Aus diesem Grunde sieht sich die Gemeinde genötigt, an Sie heran zu treten mit der Bitte, diese

425 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Lawinenverbauung HüggenBlons. Aktenvermerk über die Begehung vom 04.09.1942. Bregenz, 15.10.1942. 426 Vgl. AWL, 211, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben des Gemeindeamts Blons an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Betreff: Alpankauf zur Sicherung der Gemeinde Blons durch Lawinenschutz. Blons, 23.03.1949.

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Bergfestigung, bzw. Besitzfestigung des Bergbauern, unterstützen zu wollen, indem Sie die Sache der Marshallhilfe einbauen wollen.“427

Das ahnungsvolle Gesuch des Blonser Gemeindeamts zeugt davon, dass die aktuelle Lage auch vor dem Hintergrund früherer, historisch überlieferter Erfahrungen eingeschätzt wurde und vergangene Lawinenabgänge teils jahreszahlengenau bekannt waren. Es steht damit jedoch in einem gewissen Widerspruch zu den vorausgegangenen arglosen Versäumnissen im Rahmen der ehedem eingegangenen Betreuungs- und Fürsorgeverpflichtungen. So lässt ein Schreiben, das die Forsttechnische Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz am 22. Juni 1950 an die Bezirkshauptmannschaft Bludenz sandte, vermuten, dass die bereits früher festgestellten Nachlässigkeiten auf Seiten der Blonser Bevölkerung auch in den folgenden Jahren weiterhin praktiziert beziehungsweise toleriert worden waren. Im Einzelnen heißt es dort: „1. Nach wie vor werden, wie sich der Gefertigte persönlich überzeugen konnte, Schafe und Ziegen in die als Schonungsgebiet erklärten Aufforstungsflächen eingetrieben. Dies hat zur Folge, dass die gepflanzten Zirben und Fichten starke Verbissschäden aufweisen und in ihrem Fortkommen stark gehindert werden, ja vielfach eben wegen dieses Verbisses eingegangen sind. 2. Von vertrauenswürdigen Personen wurde dem Gefertigten berichtet, dass immer wieder die jungen Triebe der Zirben und Fichten von einheimischen Frauenspersonen gesammelt und zur Honigbereitung verwendet werden. Dass dadurch das Gedeihen der Pflanzen aufs Schwerste gehemmt wird, bedarf keiner näheren Erläuterung. 3. Es wurde vom Gefertigten in Gegenwart von Zeugen einwandfrei festgestellt, dass der von der Wildbach- und Lawinenverbauung unter grossen Kosten erstellte Schneegitterzaun auf dem Grate des hohen Falven von der einheimischen Bevölkerung auf das Schwerste beschädigt wurde. Einer der 12 cm starken Doppel-T-Träger wurde mit einer Eisensäge abgesägt, nur in 3 Gitterfeldern ist das grosse Drahtgeflecht von 40 mm Maschenweite samt Eisenrahmen noch vorhanden. Sämtliche engmaschigen Gitter von 10 mm Maschenweite fehlen. An noch vorhandenen Resten derselben konnte einwandfrei festgestellt werden, dass dieselben mit einem starken Messer oder einer Schere abgeschnitten wurden. 4. In die Schonungsfläche der Aufforstung werden nicht nur Schafe und Ziegen, sondern auch Weidevieh eingetrieben, ja es werden die aufkommenden Pflanzen sogar geschwendet.“428

427 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben des Gemeindeamts Blons an die Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz. Blons, 07.01.1950.

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Ob es hierbei nur um den Versuch ging, den festgestellten Missständen durch die Inkenntnissetzung zuständiger Disziplinarorgane entgegenzuwirken, oder auch präventive Exkulpationsstrategien eine Rolle spielten, lässt sich rückblickend nicht rekonstruieren. Dass die zur Sprache gebrachten Vorwürfe aber nicht substanzlos waren, bestätigte sich im Zuge einiger daraufhin veranlassten Erhebungen des örtlichen Gendarmeriepostens. Letztere ergaben, „dass die Eisengitter vorsätzlich und mutwillig abmontiert wurden und dass bei 2 Parteien in Blons aus dieser Verbauungsanlage stammende Doppel-T-Träger und Drahtgeflechte festgestellt werden konnten.“429 So spricht in der Tat manches dafür, dass der Alltagsvollzug einzelner Bewohner zeitweilig von einer bedrohlichen Bedrohungsvergessenheit begleitet war. „Katastrophen offenbaren“, formuliert Elke M. Geenen allgemein, „inwieweit in alltäglichem Handeln und Entscheiden Gefahren und Risiken systematisch ausgeblendet werden.“430 Die beobachtbare Bedrohungsvergessenheit unter der Blonser Bevölkerung lässt sich dabei jedoch weniger durch – in solchen Zusammenhängen häufig zurecht angeführte – Ursachen wie die Einführung von Elementarschadenversicherungen, die Verfügbarkeit neuer Technologien oder ein ausgeprägtes, auf ungebrochenem Fortschrittsglauben beruhendes Sicherheitsgefühl431 – und das damit verbundene Verblassen tradierter Katastrophenerinnerungen – erklären, sondern stand offenbar vielmehr in einem engen Zusammenhang mit konkreten Effekten des Nationalsozialismus. Wohl nicht zuletzt aufgrund kriegsbedingter Relevanzverlagerungen und zusätzlicher Einschränkungen der ökonomisch ohnehin sehr limitierten Daseinsgestaltungsoptionen während der Nachkriegsjahre, rückten potentielle Vorzeichen künftiger Probleme aus dem alltäglichen Wahrnehmungshorizont. Da es vielfältig herausfordernde Dringlichkeiten der unmittelbaren Gegenwart zu bewältigen galt, waren die Aufmerksamkeitsstrukturen offenbar vornehmlich durch aktuell drängende Probleme gebunden. Diese bedrohungsverbergende Gebundenheit durch Naheliegen-

428 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz an die Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Bregenz, 22.06.1950. 429 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Polizei, Sch. 71: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz an das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft Wien/das Präsidium und verschiedene Abteilungen des Amtes der Vorarlberger Landesregierung Bregenz/die Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz. Bregenz, 19.01.1954. 430 Geenen 2003, S. 12. 431 Vgl. Pfister 2009, S. 243.

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des führte gleichsam unter der Hand zur virulenten Aktualisierung jener Grundstruktur der Selbstgefährdung durch „kulturbedingte Einbrüche in natürliche Bedingungen humaner Kultur.“432 Als sich nun vor dem Hintergrund der diagnostizierten Katastrophenträchtigkeit zu Beginn der 1950er Jahre auch vor Ort eine Bedrohungskommunikation zu konstituieren begann, verobjektivierte sich diese schließlich in konkreten Immunisierungspraktiken. Im Frühjahr 1951 wurden seitens der Gemeinde eigenen Angaben zufolge 100 Lärchenpflanzen gesetzt und der Jungwuchs im Gebiet des Schutzwaldes durchgeforstet.433 Zudem hat der Gemeindevorstand strenge Verbote erlassen und hinsichtlich des Vieheintriebs in das Verbauungsgebiet sowie des Pflückens von Kiefer- und Fichtentrieben entsprechende Strafmaßnahmen angedroht.434 In der Tat konnte von einem Vertreter der Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz am 9. Oktober 1952 bei einer erneuten Begehung der Verbauungs- und Aufforstungsflächen festgestellt werden, dass „in diesem Jahr das erlassene Auftriebverbot für Vieh in das verbaute Gebiet erstmals lückenlos eingehalten worden ist.“435 Ferner zeugen die Gemeinderatsprotokolle der frühen 1950er Jahre von verschiedenen – teils auch zeitnah realisierten – Versuchen, weitere Grundstücke zum Ausbau des Lawinenschutzes zu erwerben. So wurde etwa am 18. Juni 1952 der Kauf eines Anwesens beschlossen, „um durch Tausch in den Besitz der Alpe Hüggen […] zu kommen. Es wird dringend erachtet, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, die eine unaufschiebbare Lawinenverbauung und Aufforstung zum Schutze der ganzen Gemeinde ermöglicht.“436 Im Zuge dieses Tausches konnten offenbar 18,5 Weiderechte auf der Alpe Hüggen erworben werden, wodurch nun 21 von den ca. 40 Weiderechten

432 Hermann Lübbe: Ökologische Probleme im kulturellen Wandel. Geschichte als Argument in der Umweltpolitik. In: Naturwissenschaften 79 (1992), S. 485-488, hier S. 486. 433 Vgl. AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben des Gemeindeamts Blons an die Forsttechnische Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz. Blons, 30.01.1952. 434 Vgl. ebd. 435 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Bericht über die Begehung der Lawinenverbauung Hüggen bei Blons am 09.10.1952. Bludenz, 11.10.1952. 436 GAB, Protokolle der Gemeindevertretung Blons. 1924 bis 1955: Niederschrift über die Sitzung vom 18.06.1952.

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dieser Alpe in Gemeindebesitz waren.437 Weitere Bemühungen folgten. Noch am 2. Januar 1954, also neun Tage vor den verheerenden Lawinenabgängen, notierte der Protokollant des Gemeinderats: „Es wird beschlossen, die 10,5 Weiderechte mit Alphütte und das dazugehörige Maisäß auf der Alpe Hüggen des J.B. […] käuflich zu erwerben, um die beabsichtigte, dringend notwendige Lawinenverbauung und Aufforstung zu ermöglichen.“438 Abbildung 5: Vernachlässigter Lawinenschutz, Anfang der 1950er Jahre

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Die lokalen Bemühungen reichten indessen nicht aus, um einen hinreichenden Schutz zu bewirken. Zu lange schon waren die Verbauungen der Verwitterung ausgesetzt, zu sehr hatten die Aufforstungen unter Wildverbiss und Beweidung gelitten. Zudem war es in den Jahren 1928, 1945, 1946, 1950 und 1951 wiederholt zu kleineren Lawinenabgängen gekommen, wobei insbesondere die Eschtobellawinen vom 21. Februar 1946 und vom 21. Januar 1951 erhebliche Teile 437 Vgl. AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Wildbachund Lawinenverbauung Bludenz an die Forsttechnische Abteilung für Wildbachund Lawinenverbauung Bregenz. Bludenz, 05.02.1953. 438 GAB, Protokolle der Gemeindevertretung Blons. 1924 bis 1955: Niederschrift über die Sitzung vom 02.01.1954.

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der aufkommenden Jungbaumbestände zerstört hatten. Nachdem der Wald und die Verbauungen also über lange Zeit vernachlässigt worden waren, hätte es zur Reimmunisierung der Lebensverhältnisse deutlich mehr Zeit oder einer erneuten Unterstützung durch die einschlägigen staatlichen Institutionen bedurft. In diesem Zusammenhang kamen nun weitere Faktoren zum Tragen, die einer rechtzeitigen Abwendung der diagnostizierten Bedrohung hemmend entgegenwirkten. So gilt es nun abschließend auch auf dieser Ebene zu rekonstruieren, welche Zusammenhänge dazu geführt haben, dass die wiedergekehrte Lawinenanfälligkeit des lokalen Ordnungsgefüges bis zum 11. Januar 1954 nicht aufgehoben werden konnte. Wie oben geschildert, waren die zuständigen Bediensteten der Wildbachund Lawinenverbauung Bludenz bereits vor jenem Blonser Gesuchschreiben vom 7. Januar 1950 über den schlechten Zustand der Verbauungen im Bilde. Das Schreiben der Gemeinde mag jedoch dazu beigetragen haben, dass die diesbezüglichen Ausbesserungspläne nun konkretere Konturen bekommen sollten. Gemäß einer entsprechenden Anweisung der Sektionsleitung Bregenz 439 antwortete die Bludenzer Behörde dem Blonser Gemeindeamt am 26. Januar 1950: „Der Zustand der Verbauungswerke auf Hüggen ist der Bauleitung wohl bekannt, mangels an Arbeitskräften war es bisher nicht möglich, Ausbesserungs- und Ergänzungsarbeiten vorzunehmen. Unter Umständen ist es heuer möglich für diese Arbeiten Mittel frei zu machen, doch ist hierzu eine ca. 15%ige Beitragsleistung der Gemeinde erforderlich. Wir halten eine mündliche Aussprache über die Angelegenheit für zweckdienlich und laden den Herrn Bürgermeister hierzu ein und bitten ihn gelegentlich eines Aufenthaltes in Bludenz in unserem Amt […] zuzukehren.“440

Zu einer entsprechenden mündlichen Aussprache scheint es jedoch nicht gekommen zu sein. Ein im November desselben Jahres versandtes Schreiben, in dem nochmals dezidiert danach gefragt wurde, „bis zu welcher Höhe die Gemeinde Blons in den Jahren 1952 u. 1953 Mittel zur Instandsetzung und Ergänzung der Lawinenverbauung Hüggen als 15%igen Interessentenbeitrag zu leisten

439 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz an die Wildbachund Lawinenverbauung Bludenz. Bregenz, 24.01.1950. 440 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz an das Gemeindeamt Blons. Bludenz, 26.01.1950.

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im Stande ist“441 blieb vorerst ebenfalls unbeantwortet. Aufgrund des zähen Kommunikationsflusses, aber wohl auch wegen des damaligen Geld- und Personalmangels auf Seiten der Wildbach- und Lawinenverbauung geriet der angestoßene Prozess ins Stocken.442 Nachdem die Gemeinde jedoch zwei Jahre darauf – durch den oben geschilderten Ankauf von Weiderechten im Sommer 1952 – ihr Interesse an einer Fortsetzung des Projekts erneut verdeutlicht hatte, wurde dies zum Anlass genommen, das Vorhaben wieder aufzugreifen. Bei der daraufhin initiierten Begehung des Gebiets am 9. Oktober 1952 stellte man fest, dass sich die Schutzelemente nach wie vor in einem schlechten Zustand befanden und somit „allen weiteren Lawinen freie Bahn geschaffen [worden sei]“443. Als nun ein konkreter Kostenvoranschlag für die notwendigen Maßnahmen erstellt war, fand eine Rücksprache mit dem Blonser Bürgermeister statt, bei der sich herausstellte, dass die Gemeinde aufgrund ihrer finanziellen Lage mit dem hierbei anfallenden Interessentenbeitrag stark überlastet gewesen wäre. So lagen die damals geschätzten Kosten bei 1.000.000 S, was im Rahmen des bisherigen Finanzierungsschlüssels – Bund 70%, Land 15%, Gemeinde 15% – zu einer Belastung von 150.000 S geführt hätte. Da das Gesamtjahresbudget der Gemeinde 1952 aber nur 82.000 S betrug, wäre es ihr nicht möglich gewesen, die in den vorgesehenen Verbauungsjahren 1954 bis 1956 dementsprechend anfallenden Kosten von jeweils 50.000 S zeitnah zu begleichen.444 Vor diesem Hintergrund heißt es in einem Schreiben, das die Forsttechnische Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz am 26. Februar 1953 an das Blonser Gemeindeamt sandte: „Es muss daher getrachtet werden, diesen Beitrag auf ein für die Gemeinde erschwingliches Maß herabzusetzen und dadurch die Durchführung dieser anerkannt nötigen Maß-

441 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz an das Gemeindeamt Blons. Bludenz, 24.11.1950. 442 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Polizei, Sch. 71: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz an das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft Wien/das Präsidium und verschiedene Abteilungen des Amtes der Vorarlberger Landesregierung Bregenz/die Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz. Bregenz, 19.01.1954. 443 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Bericht über die Begehung der Lawinenverbauung Hüggen bei Blons am 09.10.1952. Bludenz, 11.10.1952. 444 Vgl. AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz an das Gemeindeamt Blons. Bregenz, 26.02.1953.

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nahmen ermöglichen zu können. Dies kann angesichts der bedrängten Finanzlage des Bundes und der hiedurch bewirkten Aussichtslosigkeit einer Erhöhung des Bundesbeitrages nur in der Weise geschehen, daß die Gemeinde, unterstützt von der Sektion, an das Land mit der Bitte herantritt, den Landesbeitrag von 15 auf 25% zu erhöhen. […] Die Sektion hat einen Durchschlag dieses Briefes bereits übermittelt an: Bundesministerium für Land- u. Forstwirtschaft Abtg. 15, Amt der Vorarlberger Landesregierung Präsidium/Abtg. IIIa/Abtg. Vb, Gebietsbauleitung Bludenz und daher ihrerseits alles getan, was sie vorläufig zur Förderung dieser Angelegenheit tun kann.“445

Das Amt der Vorarlberger Landesregierung reagierte auf diese Bitte vorerst mit dem Hinweis, dass über eine entsprechende Erhöhung des Landesbeitrags erst nach der konkreten Projektierung und obligatorischen Überprüfung der vorgesehenen Maßnahmen entschieden werden könne.446 Eine solche Konkretisierung wurde nun insofern greifbarer als das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft in Reaktion auf das oben zitierte Schreiben die Forsttechnische Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz am 25. März 1953 dazu ermächtigt hatte, „ein generelles Projekt in Absicht auf die Verbauung der Lawine Hüggen, Gemeinde Blons, zu verfassen.“447 Im Frühjahr 1953 waren somit die formellen Bedingungen für eine Restabilisierung des beeinträchtigten Immunisierungsapparats geschaffen. Indessen konnten sich die dergestalt initiierten Präventionsprozesse nicht in ausreichender Geschwindigkeit materialisieren. Da im Januar 1954 zentrale Sekurisationselemente also noch immer in einem schlechten Zustand waren, wurden die damaligen Witterungsverhältnisse schließlich zu einer massiven Bedrohung. Nach einem ungewöhnlich warmen und trockenen Spätherbst war es zwischen dem 19. und 21. Dezember 1953 zu ersten Niederschlägen gekommen, die in den Höhenlagen ab etwa 1000 m als Schnee fielen. Aufgrund sehr tiefer Temperaturen zu Beginn des Jahres 1954 verzögerte sich die Verfestigung der entstandenen Schneedecke, so dass diese nur über ein äußerst schwaches Fundament verfügte. Nach einer längeren Unterbrechung begann es ab dem 8. Januar 1954 erneut zu schneien; insbesondere in den Tagen zwischen dem 9. und 11.

445 Ebd. 446 Vgl. AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung Bregenz an das Gemeindeamt Blons. Bregenz, 11.06.1953. 447 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft an die Forsttechnische Abteilung für Wildbachund Lawinenverbauung Bregenz. Wien, 25.03.1953.

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Januar erfolgten heftige Schneefälle. Hinzu kamen stürmische West- bis Nordwestwinde, die den kalten und infolgedessen überaus lockeren Neuschnee in den Mittel- und Hochlagen stark verfrachteten. Da die angehäuften Schneemassen auf dem schwachen Fundament der bisherigen Altschneedecke keinen Halt fanden, herrschte in Blons – wie in vielen anderen Berggebieten Vorarlbergs – schon bald große Gefahr durch den drohenden Abgang trockener Lockerschneelawinen.448 Das vorliegende Teilkapitel hatte zum Ziel, die Genese der Blonser Lawinenabgänge vom 11. Januar 1954 zu beleuchten. Nach einem kursorischen Rückblick auf den früheren Umgang mit Lawinen, stand hierbei insbesondere deren jüngere Vorgeschichte im Fokus. Die Frage nach den konkreten Ursachen der Ereignisse führte uns schließlich zur Rekonstruktion eines heterogenen Faktorenbündels. Zum einen ließen sich zahlreiche historische, von den damals vorherrschenden Wissens- und Machtverhältnissen strukturierte Faktoren ausmachen, die in ihrem Zusammenwirken Möglichkeitsräume einer fortschreitenden Zersetzung des zur Verhinderung von Lawinenabgängen installierten Immunisierungsapparats eröffneten und demzufolge schließlich einen hochgradig lawinenträchtigen Zustand hervorgerufen haben. Zum anderen zeigte sich, dass die gleichsam unmittelbar lawinenverursachenden Bedingungen vom Januar 1954 ihrerseits polyfaktoriell strukturiert waren. Die Intensität der Schneefälle, die Tiefe der Temperaturen, die Stärke der sturmbedingten Schneeverwehungen und die Instabilität der Altschneedecke verbanden sich vor dem Hintergrund der Blonser Geländeverhältnisse zu einer Gefahrenlage, deren Gefährdungspotential den geschwächten Immunisierungsapparat massiv überlastete. So erwies sich die Lawinengenese als ein historisch weit zurückreichender hybrider Prozess, dem eine Vielzahl sowohl soziokulturell als auch materiell verfasster Einflussfaktoren zugrunde lag. 2.2 Rekonstruktion der Lawineneffekte Während sich die bisherigen Ausführungen unseres katastrophologischen Rekonstruktionsversuchs auf die Ursachen der Lawinenabgänge bezogen, richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf deren Effekte. Hierbei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, weshalb die damaligen Lawinen zu einer Katastro-

448 Vgl. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Der Lawinenwinter 1953/54 in Vorarlberg, geschildert von Forstkommissär Dipl. Ing. W. Brandtner, Lawinenreferent in Bludenz, und Dozent Dr. L. Krasser, Leiter des Vorarlbg. Lawinenwarndienstes in Bregenz. Bludenz, Juli 1955, S. 22-26.

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phe wurden beziehungsweise dazu veranlassten, von den Betroffenen als Katastrophe gedeutet werden zu müssen. Im ersten Abschnitt des Teilkapitels geht es zunächst um eine Analyse jener ereignisformierenden Faktoren, die sich in der äußeren Gestalt der Ereignisrealisierung niedergeschlagen haben. Im zweiten Abschnitt soll hingegen danach gefragt werden, wie das dergestalt konfigurierte Ereignis erfahren wurde. Gilt das Interesse also vorerst den verursachten Zerstörungen auf der Ebene des Ordnungsgefüges, so richtet sich der analytische Fokus daraufhin auf die existentiellen Ordnungen der betroffenen Akteure, mithin auf jene zerstörungsbasierten Versehrungen, in denen sich der katastrophische Ereigniskomplex positionsrelational vervielfältigt realisierte. Im Rahmen der nun folgenden Ausführungen gilt es zu berücksichtigen, dass neben den Ursachen auch die Effekte der Lawinenabgänge zu großen Teilen in der soziokulturell strukturierten Gemeindegeschichte wurzelten. Schließlich ist „die spezifische Verwundbarkeit einer Gesellschaft“, wie Gerrit Jasper Schenk formuliert, „immer […] das Resultat komplexer historischer Prozesse.“ 449 Vulnerabilität basiert so gesehen stets auf einem katastrophenermöglichenden und -prägenden Faktorenkomplex, dessen jeweilige Gestalt sich in langen Zeiträumen herausbildet und dabei ihrerseits vielfältigen Prägekräften unterliegt, die in der Regel weit über den durch explizite Immunisierungsprozesse strategisch regulierten Bereich hinausreichen. Auch wenn sich der Abgang von Staublawinen bei bereits gegebener Lawinengefahr kaum noch verhindern lässt, muss das konkrete präkatastrophische Bedrohungswissen beziehungsweise wissensbasierte Bedrohungsbewusstsein als ein entscheidender ereignisformierender Faktor verstanden werden – eröffnet es doch zumindest die Möglichkeit, letzte Vorkehrungsmaßnahmen zu treffen oder bekannte Lawinenbahnen zu meiden. So bewährte sich in der verdichteten Gefahrenlage des betreffenden Januars denn auch vielerorts eine Institution, die den regionalen Immunisierungsapparat bereits seit einigen Monaten stützte. Vor dem Hintergrund des lawinenreichen Winters 1950/1951, unmittelbar ausgelöst jedoch durch einen Lawinenabgang, der am 22. Dezember 1952 bei Langen am Arlberg einen mit Wintersportgästen vollbesetzten Postbus von der Straße abbrachte und dabei 23 Personen das Leben nahm, hatte sich der Bregenzer Geologe Dr. Leo Krasser am 27. Dezember 1952 an das Amt der Vorarlberger Landesregierung gewandt und diesem die Einrichtung eines wissenschaftlich fundierten Lawinenwarndienstes nach dem Vorbild der Schweiz nahegelegt. Die Vorarlberger Landesregierung ließ sich hiervon überzeugen: Sie bestellte eine Kommission zur Erarbeitung entsprechender Richtlinien und ordnete in der Sitzung vom

449 Schenk 2009, S. 12.

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27. Januar 1953 schließlich an, auf der Grundlage dieser Richtlinien den „Lawinenwarndienst für Vorarlberg“ zu gründen.450 Beim Aufbau des Warndienstes orientierte man sich an den Erfahrungen des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung, das 1942 auf dem Weißfluhjoch bei Davos eingerichtet worden war. Auf der Basis dieses organisationsrelevanten Wissenstransfers wurden nun fünf Standorte bestimmt – Zürs, Brand, Riezlern, Fermunt und Faschinajoch –, an denen künftig fest regulierte Wetter- und Schneebeobachtungen durchzuführen waren. Während diese Beobachtungen an den drei zuerst genannten Orten von Beamten der lokalen Gendarmerieposten vorgenommen werden sollten, waren zur Betreuung der beiden zuletzt genannten Stationen ortsansässige Zivilpersonen vorgesehen. Zunächst erfolgte die Schulung des Personals durch Krasser. Nachdem daraufhin die benötigten Geräte bestellt und die geplanten Erhebungsstationen errichtet worden waren, nahm der Lawinenwarndienst am 1. Dezember 1953 seine Arbeit auf. Krassers Beschreibungen erhellen plastisch, auf welche Weise die Lawinenprognosen zustande gekommen sind – wie hier also im technisch-organisatorisch regulierten Zusammenwirken der involvierten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure handlungsanleitendes (Bedrohungs-)Wissen produziert wurde: „Die täglichen Beobachtungen werden auf allen Stationen um 7 h früh durchgeführt und erstrecken sich auf Wetter, Bewölkung, Windrichtung und Windstärke, Lufttemperatur, Neuschneemenge, Gesamtschneehöhe, Schneetemperatur, Form der Schneeoberfläche sowie Charakter und Festigkeit der Oberflächenschicht. Am 1. und 15. jeden Monats finden außerdem genaue Detailuntersuchungen der ganzen Schneedecke statt. Der Beobachter bestimmt Rammwiderstand, Feuchtigkeit und Härte jeder einzelnen Schicht sowie Kornform und Größe der sie zusammensetzenden Schneekristalle, mißt die Temperaturen innerhalb der Schneedecke und den Setzungsbetrag ihrer vierzehntägig markierten Oberfläche. Die Ergebnisse dieser Spezialuntersuchungen stellt der Beobachter in sogenannten Ramm- und Schichtprofilen dar, die er unverzüglich an die Zentrale des Lawinenwarndienstes in Bregenz einsendet. Die täglichen Frühbeobachtungen werden hingegen nach einer vom Schweizer Lawinenwarndienst übernommenen Dienstanweisung verschlüsselt und fernmündlich so zeitgerecht durchgegeben, daß sie in der Zentrale bis 7.30 h gesammelt vorliegen.“451

450 Vgl. Ulrich Nachbaur: Lawinenwarndienst für Vorarlberg. Eine Verwaltungsinnovation vor 60 Jahren. In: V-Dialog 4 (2013), S. 20; VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 8-10. 451 Ebd., S. 14.

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Die dergestalt vermittels verschiedenster Geräte wie Rammsonden, Markierstangen, Thermometer oder Schneeraster generierten, codierten und per Fernsprecher übermittelten Daten wurden in der Bregenzer Zentrale zunächst in eine Vorarlberger Übersichtskarte eingetragen. Krassers Aufgabe bestand nun insbesondere darin, diese topographisch visualisierten Informationen – Hervorbringungen einer rekonstruierbaren Kette zirkulierender Referenzen –452 nach Maßgabe seiner geologischen Kenntnisse auszuwerten und vor dem Hintergrund der jeweiligen meteorologischen Prognosen in einen entsprechenden Lagebericht über „die Tendenz zur Bildung der verschiedenen Lawinenarten, abgestuft nach Landesteilen, Höhenlage und Hangexposition“453 zu überführen. Bis 9 Uhr sollte dieser Bericht vorerst intern an die Gendarmerieposten der lawinenbedrohten Gebiete, an die Bezirkshauptmannschaften in Bludenz und Bregenz sowie an die Österreichische Bundesbahn, Streckenleitung Bludenz, übermittelt werden. Gegen 11 Uhr erfolgte daraufhin ein Daten- und Prognosenabgleich mit dem Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos, bevor der aktuelle Lagebericht gegebenenfalls nochmals redigiert und daraufhin zur Veröffentlichung freigegeben wurde. Während er in den Zeitungen freilich erst tags darauf erscheinen konnte, sendete ihn Radio Vorarlberg direkt im Anschluss an die Mittagsnachrichten – jeweils freitags für das bevorstehende Wochenende und bei gegebener Notwendigkeit auch an den übrigen Tagen. Im Januar 1954 waren diese Vorgänge bereits zu institutionalisierten Abläufen geronnen. Als es am 8. Januar zu schneien begann, wurde im Lagebericht des Lawinenwarndienstes auf das schwache Fundament und die lockeren oder windgepressten Oberflächenschichten der Altschneedecke hingewiesen. Am 10. Januar meldete er eine Zunahme der Lawinengefahr in den Gebieten westlich des Brandner Tals und nördlich des Großen Walsertals. Am 11. Januar endete der Lagebericht um 8.30 Uhr schließlich mit einer expliziten Warnung: „Die Lawinengefahr ist zur Zeit in allen Höhenlagen sehr groß.“ 454 Infolge dieser Meldungen konnten die gefährdeten öffentlichen Straßen von behördlicher Seite noch rechtzeitig gesperrt werden. Zudem hatte ein Teil der Bevölkerung – nachdem die Bedrohungshinweise auch per Rundfunk verbreitet worden waren – die Möglichkeit, verschiedene Vorsichtsmaßnahmen zu treffen und die betroffenen Gebiete zu verlassen. So schien sich der Lawinenwarndienst als ein der Bedrohungsdiagnose, -formierung und -vermittlung verpflichtetes und entsprechende Schutzreaktionen aktivierendes Immunisierungselement zu bewähren.

452 Zum Begriff der „zirkulierenden Referenz“ vgl. Latour 2002, S. 36-95. 453 VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 15. 454 Vgl. ebd., S. 18f.

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In Blons konnte der Lagebericht vom 11. Januar indessen nicht mehr empfangen werden. Am Samstag, den 9. Januar, hatten im Großen Walsertal zunehmend anwachsende Schneefälle und ein starker West/Nordwest-Wind eingesetzt, so dass sich auf der rund 50 cm dicken Altschneedecke bis Sonntagfrüh ca. 40 cm trockenen Neuschnees ansammelten. Da die Schneefälle anhielten und der Wind immer stürmischer wurde, kam es im gesamten Tal zu Schneeverwehungen, kleineren Schneerutschen und ersten Lawinenabgängen. Am Sonntagnachmittag wurde der Gendarmerieposten Blons darüber informiert, dass sich in Fontanella gegen 8.50 Uhr eine ca. 80 m breite Trockenschneelawine gelöst und zwei Personen mit sich gerissen hatte. Die Belegschaft machte sich daraufhin auf den Weg in den hinteren Bereich des Tales und wurde dort im Laufe der folgenden beiden Tage Zeuge zahlreicher weiterer Lawinenabgänge, die teils zu massiven materiellen Zerstörungen führten und letztlich 20 Personen – zehn in Fontanella und zehn in Sonntag – das Leben nahmen.455 Auch in Blons kam es am Sonntag, den 10. Januar, zu ersten Lawinenabgängen. Um 10 Uhr vormittags löste sich die Nova-Lawine und zerstörte einen Stall in Valentschina; zeitgleich gingen im sogenannten Guetschel zwei kleinere Lawinen ab, die drei weitere Ställe zertrümmerten.456 Doblers Darstellungen zufolge haben die meisten der Einwohner zwar noch den Morgengottesdienst besuchen können, doch seien einige von ihnen auf dem Heimweg bereits von kleineren Schneerutschen abgedrängt worden.457 Nachmittags um 14.45 Uhr folgte die Herawies-Lawine, durch die eine Seilbahnstation sowie ein Stall zerstört und die Straße in einer Länge von 300 m verschüttet wurde. Kurz darauf begann offenbar auch die Mitteilung vom morgendlichen Lawinenabgang in Fontanella zu

455 Vgl. APS: Lawinenkatastrophe im Großen Walsertal. Abschlussbericht des Gendarmeriepostenkommandos Blons. Blons, 28.01.1954. 456 Hier und bei den folgenden Angaben zu den Blonser Lawinenabgängen beziehe ich mich – sofern entsprechende Überschneidungen festgestellt wurden – auf: APS, Protokollbuch des Gendarmeriepostenkommandos Blons: Lawinenkatastrophe im Großen Walsertal. Blons, 1954; VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955; VLA, Miszellen, Sch. 221: Zum Gedenken der Lawinenopfer von Blons am 11. Jänner 1954. Informationsblatt aus Anlass der Einweihung einer Lawinenglocke. Nicht datiert; Dobler 2008; Herman Lederle/Elmar Mäser: Lawinenkatastrophe 1954 in Blons. Herausgegeben von der Gemeinde Blons. Blons 2010. 457 Vgl. Dobler 2008, S. 40. Auch einer der Interviewpartner schilderte diesen Heimweg sehr plastisch. Interview 5: Blons, 29.01.2014.

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kursieren: „Die Nachricht über den Unglücksfall wirkte geradezu lähmend auf die Bevölkerung. Die Leusorge wuchs mit dem Schnee.“458 Am Sonntagabend lagen im Bereich des Kirchdorfs etwa 120 cm Neuschnee. Im Laufe der Nacht nahmen die Intensität des Schneefalls und des Sturmes weiter zu. Durch fortwährende Verwehungen in den Höhenlagen wurde die Lage vor Ort immer gefährlicher. Die anwachsende Bedrohung angesichts des möglichen Abgangs weiterer Lawinen verschärfte sich dabei auch insofern als die Gemeinde infolge der vorherrschenden Witterungsbedingungen in eine zunehmende Abgeschiedenheit geriet. So fiel um 2 Uhr nachts der Strom aus. Auch das Telefonnetz war aufgrund zahlreicher witterungsbedingter Leitungsschäden nicht mehr nutzbar. Zudem schienen am nächsten Morgen schließlich sämtliche Straßenabschnitte unpassierbar zu sein. Eingeschneit und abgeschnitten war man in Blons nun vorerst auf sich allein gestellt. Dass der oben genannten Bedrohungskommunikation eine ausgeprägte Gefahrenlage zugrunde gelegen hatte, sollte sich im Laufe des nächsten Tages auf drastische Weise bestätigen. Um 5.00 Uhr459 vormittags löste sich zunächst im Kammerwald oberhalb des Ortsteils Valentschina die sogenannte Mura-Lawine, wodurch ein Haus samt Hausstall zerstört und acht Personen verschüttet wurden. Die Verschütteten blieben dabei jedoch unbeschadet und konnten sich schließlich aus eigener Kraft wieder befreien. Wenige Stunden später, um 9.30 Uhr, brach an einem Südosthang des Falvkopfs, ebenfalls oberhalb Valentschinas, eine weitere Lawine ab und zerstörte in der Parzelle Stutz zwei Wohnhäuser und sieben Ställe. Wie sich später herausstellen sollte, forderte dieser zweite Blonser Lawinenabgang des 11. Januars bereits das erste Todesopfer. Um 10.05 Uhr wurde durch den erneuten Abgang der Falvkopf-Lawine460 deutlich, dass die diesbezügliche Gefährdungslage in den Debatten der vorausgegangen Jahre richtig eingeschätzt worden war – die Verbauungen und Aufforstungen konnten den Schneemassen nicht mehr standhalten. Die Lawine löste sich unterhalb des Gipfels zwischen dem Südwest- und Südosthang des Falvkopfes, nahm ihren Lauf über die Hüggen-Alpe und stürzte im Ortsteil Walkenbach über die Parzellen Unterhüggen, Fahl, Oberherawies, Unterherawies, Zähen, Esch, Ackern, Mühle und Hinteregg bis in das Flussbett der Lutz. Späteren Be-

458 Dobler 2008, S. 41. 459 Die diesbezüglichen Angaben sind nicht einheitlich. In manchen Darstellungen wird als Zeitpunkt des Lawinenabgangs 5.00 Uhr, in anderen wiederum 6.00 Uhr genannt. 460 Die „Falvkopf-Lawine“ wird in den Quellen häufig auch als „Hüggen-Lawine“ bezeichnet.

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rechnungen zufolge entwickelten die Staubmassen im Verlauf ihres Niedergangs von 1800 auf 700 Höhenmeter eine Geschwindigkeit von rund 220 km/h.461 Infolge dieser Dynamiken wurden 17 Wohnhäuser, 26 Viehställe, zwei Heuställe, sechs Alp- und Maisäßhütten, drei Seilbahnstationen und etwa 80 fm Holz zerstört. Von den dabei verschütteten 82 Personen462 haben schließlich 34 ihr Leben verloren. Zudem starben durch diesen Lawinenabgang den Angaben Doblers zufolge 51 Kühe und Rinder sowie 102 Kälber, Schweine und Ziegen. Nachdem man im Kirchdorf erste Hilferufe beziehungsweise das daraufhin veranlasste Sturmläuten der Kirchenglocken vernommen hatte, versammelten sich einige Bewohner und bildeten eine Rettungsmannschaft. Die im Ortsteil Valentschina, nur wenige Gehminuten östlich des Lawinenabgangs wohnhaften Blonser hatten indessen nichts von den Geschehnissen vernommen. Offenbar konnten sie diese erst registrieren als sich am Dienstagmorgen der dichte Nebel zu lichten begann.463 Vorerst machten sich jedenfalls nur sieben Helfer aus dem Kirchdorf auf den Weg zur Unglücksstelle in der Parzelle Walkenbach. Dort wurden sie mit der Zeit durch weitere Kräfte unterstützt, so dass schließlich eine Gruppe von fünfzehn Personen im Rettungseinsatz war. Die versuchte Bergung der Opfer erwies sich jedoch als überaus schwierig. Erschwert wurde sie nicht nur durch den anhaltenden Schneesturm, die schlechten Sichtverhältnisse, die eingeschränkten Fortbewegungsmöglichkeiten, die weiterhin fortbestehende Lawinengefahr und die zerstörungsbedingten Orientierungsschwierigkeiten, sondern auch dadurch, dass man bei allen Vorahnungen vor Ort offenbar nicht mit der Möglichkeit einer Lawine solchen Ausmaßes gerechnet hatte. So machte sich nun ein bereits lange währender Mangel an lokalen Präventionsmaßnahmen bemerkbar. Es fehlte sowohl an erfahrungs- und übungsbasiertem Notfallwissen als auch an technischen Bergungs- und Rettungsmaterialien: „Ganz und gar ohne Erfahrung in solchen Situationen, ausgerüstet mit kläglichem Gerät, ohne Sonden, nur eine Tragbahre, kein Verbandszeug – so sollte das Rettungswerk für die vielen Verschütteten beginnen.“464 Wenn Katastrophen als „primarily material events“ verstanden werden, so beinhaltet dies also auch, dass sie „urgent materi-

461 Vgl. Adolf Voellmy: Über die Zerstörungskraft von Lawinen. In: Schweizerische Bauzeitung 73 (1955), Heft 19, S. 280-285, hier S. 281. 462 In einzelnen Berichten ist hingegen von 77 Verschütteten die Rede. 463 Vgl. Dobler 2008, S. 43. Identisch schilderte dies auch ein Interviewpartner, der damals in Valentschina wohnhaft war. Interview 2: Blons, 05.07.2013. 464 Dobler 2008, S. 42. Vgl. hierzu auch PAB: Pfarrchronik Blons: Die Schreckenswoche von Blons im Großen Walsertal. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert.

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al needs“ hervorrufen,465 ja sich aufgrund dieser dringenden Bedürftigkeit beziehungsweise aufgrund eines Mangels an Mitteln, sie in hinreichender Form zu stillen, erst eigens konstituieren. Manche der Verschütteten hatten sich bereits selbst befreien können, viele waren aber zwischen Häuserschutt eingeklemmt, unter tiefen Schneemassen begraben oder bedurften infolge erlittener Verletzungen der Hilfe ihrer Nachbarn. Unterstützt durch einzelne Unverwundete versuchte man nun also die versehrten Lawinenopfer zu finden. Zwar gelang es der Rettungsgruppe, ein größeres Gebiet zu durchsuchen und dabei auch zu den oberen Höfen beziehungsweise Hofruinen in der Parzelle Hüggen vorzudringen, doch konnte aufgrund der schlechten Bedingungen nur ein kleiner Teil der Verschütteten geborgen werden. Auch wenn sich also viele ihrer Angehörigen und Nachbarn noch unter dem Schnee befunden haben, mussten die Helfer ihre Suche bereits früh beenden. Da man keine Lichtquellen hatte, war man infolge der hereinbrechenden Dunkelheit schon bald nach 16 Uhr dazu gezwungen, die Rettungsversuche einzustellen. Gestützt oder auf Decken transportiert, wurden die geborgenen Verwundeten zunächst in die Gasthäuser „Krone“ und „Schwarzer Adler“, ins Gebäude des zu dieser Zeit unbesetzten Gendarmeriepostens oder ins westlich der Kirche liegende „Bickelhaus“ gebracht, zum Teil aber auch im sogenannten „Altlehrerhaus“ und in der Sennerei am östlichen – also dem Unglücksgebiet nahegelegenen – Rand des Kirchdorfes aufgenommen. Hier wie dort versuchte man die Verletzten zu versorgen; hier wie dort musste infolge der bereits skizzierten Präventionsversäumnisse aber mit einem grundlegenden Mangel an verfügbaren Hilfsmitteln umgegangen werden. So berichtete eine damalige Helferin wenige Tage nach den Lawinenabgängen in den „Vorarlberger Nachrichten“: „[M]ittlerweile brachte man […] lebend Ausgegrabene von der Vormittagslawine. Furchtbar zugerichtete Menschen, laut aufstöhnend vor Schmerz, bis man ihnen nur die nassen mit Blut verklebten Kleider vom Leibe schneiden und lösen konnte. Schrammen konnte man kaum auf den Grund kommen. Brandwunden, Erfrierungen und Knochenbrüche gingen nebenher. Dabei fehlte es an sanitären Hilfs- und Desinfektionsmitteln und ganz besonders an schmerzstillenden Arzneimitteln.“466

Eine adäquate schmerzlindernde Behandlung der Verwundeten war unter diesen Umständen nicht möglich. Als die Isolation der Gemeinde im Laufe des darauf-

465 Oliver-Smith 1996, S. 311. 466 Maria Schiebel: Erlebnisbericht von den Katastrophentagen. In: Vorarlberger Nachrichten, 13.02.1954.

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folgenden Tages überwunden werden konnte, trafen bald auch Ärzte mit entsprechender medizinischer Ausrüstung ein, vorerst blieb man jedoch auf sich allein gestellt. In Bezug auf die Frage, weshalb aus den Lawinenabgängen eine Katastrophe wurde, muss die Abgeschiedenheit der Gemeinde somit als ein mehrfach relevanter Faktor gewertet werden. Hinsichtlich des Realisierungspotentials eines katastrophischen Ereignisses ist, wie etwa auch Christian Rohr festhält, „in ganz besonderem Maße entscheidend, wie weit Hilfe von außen oder Selbsthilfe schon in der Akutphase, d.h. in den ersten sechs bis acht Stunden nach dem Ereignis, einsetzen kann.“467 Um 17 Uhr ging vom Südwesthang des Falvkopfes die sogenannte Eschtobel-Lawine ab. Sie zerstörte einen Stall und beschädigte die Lutzbrücke zwischen Blons und Raggal. Wie bereits geschildert, waren die ersten Bergungsbemühungen – in deren Verlauf das Eschtobel häufig überquert werden musste – inzwischen jedoch beendet worden, so dass hierbei keine weiteren Personen verschüttet wurden. Unterdessen entwickelte sich im Kirchdorf eine bedrohungsbedingte Umsiedelungsdynamik. Da man den Abgang weiterer Lawinen befürchtete, wurden vier Gebäude verlassen, die direkt unterhalb des steilen Hanges zwischen Kirchdorf und Oberblons lagen: drei Wohnhäuser und das Gasthaus Schwarzer Adler, in dem sich zu diesem Zeitpunkt 25 Personen befanden. Man suchte Schutz in den als sicher geltenden Gebäuden westlich der Kirche – dabei kamen die meisten Leute offenbar im geräumigen Haus der Familie Bickel unter, das im späten 17. Jahrhundert erbaut und seither noch nie von einer Lawine getroffen worden war.468 Neben solchen Umzügen – denen sich, wie später deutlich werden sollte, zu wenige Bewohner angeschlossen haben – blieben unter den vorherrschenden Bedingungen nur noch sehr wenige Schutzmaßnahmen, die man kurzfristig hätte realisieren können. Aufgrund der Abgeschiedenheit und des offensichtlichen Versagens der technischen Immunisierungssysteme schien man der Situation also weitestgehend widerstandslos ausgeliefert zu sein. In dieser Lage wandten

467 Christian Rohr: Der Umgang mit Naturkatastrophen im Mittelalter. 9. Interdisziplinäre Ringvorlesung „Krisen, Kriege, Katastrophen. Zum Umgang mit Angst und Bedrohung im Mittelalter“. Interdisziplinäres Zentrum für Mittelalterstudien an der Universität Salzburg. Wintersemester 2009/2010. URL: https://www.uni-salzburg.at/ fileadmin/oracle_file_imports/1141159.PDF (15.03.2018) 468 Das Alter des Bickel-Hauses war den Bewohnern nicht zuletzt deshalb bekannt, weil dort im Jahr 1748 Martin Lorenz geboren wurde – jener berühmte Gemeindesohn, der Blons verließ und in Wien schließlich Staatsrat und Adeliger geworden war. Vgl. GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band II, S. 330f.

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sich offenbar viele an Gott und versuchten, der empfundenen Bedrohung im Gebet entgegenzuwirken – wobei sich exemplarisch zeigt, dass eine zentrale Funktion der Religion darin besteht, „die Ängste, die die Technik real zu suspendieren verspricht, symbolisch stillzustellen“469. Um 18 Uhr fand in der Kirche ein Rosenkranz statt; auch im Lehrerhaus wurde den späteren Berichten zufolge gemeinsam gebetet. Gott, so die Hoffnung, möge den Verstorbenen gnädig sein, die Verschütteten behüten und die Verbliebenen vor weiterem Unheil bewahren.470 Nach Beendigung des Rosenkranzes, dem sich die meisten Blonser aus dem Kirchdorf angeschlossen hatten, wurden die Matrikelbücher der Gemeinde aus dem Pfarrhof geholt. Angesichts der Lawinengefahr brachte man die Aufzeichnungen vorsorglich in das als sicher geltende Kirchengebäude. Viele der Bewohner fanden sich daraufhin in der großen Wohnstube des Bickelhauses ein. Um die außergewöhnliche Lage etwas besser einordnen zu können, wohl auch um der empfundenen Hilflosigkeit und erzwungenen Passivität ein Stück weit entgegenzuwirken, begann man nun damit, die Vermissten zu zählen und aufzulisten. Gemeinsam wurde versucht, das Erfahrene zu ordnen und sich ein konkreteres Bild von den bisherigen Geschehnissen zu machen.471 Um 19 Uhr folgte jedoch bereits der nächste Niedergang. In einer ähnlichen Bahn wie am 9. Dezember 1717 ging die Mont-Calv-Lawine zu Tal. Die Lawine löste sich am sogenannten Calver Eck innerhalb des inzwischen bewaldeten Südhangs, zerstörte den darunter liegenden Zassen-Jungwald und nahm ihren Lauf durch den Ortsteil Oberblons und das Kirchdorf bis hinunter zum Flussbett der Lutz. Sie teilte sich am Pfarrhofhügel, so dass die unterhalb dieser Erhebung liegenden Gebäude, wie die Kirche, das Gasthaus „Krone“, der Gendarmerieposten oder das Bickelhaus, in der Tat verschont geblieben sind. Dennoch waren die hervorgerufenen Schäden erneut gravierend: Die Lawine zerstörte elf Wohnhäuser, 15 Ställe, drei Heuspeicher, eine Maisäßhütte, das Feuerwehrgerätehaus, den Schießstand, eine kleine Lourdeskapelle, drei Seilbahnstationen und 80 fm Wald. Unter den zerstörten Häusern befanden sich jene vier Gebäude, aus denen

469 Böhme 2003, S. 38. 470 Vgl. Dobler 2008, S. 43; Maria Schiebel: Erlebnisbericht von den Katastrophentagen. In: Vorarlberger Nachrichten, 13.02.1954; PAB: Pfarrchronik Blons: Die Schreckenswoche von Blons im Großen Walsertal. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert; PAB: Pfarrchronik Blons: Walserschicksale im mordenden Schnee. Aus der lawinenverschütteten Einsiedler Stiftspfarrei Blons. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert. 471 Vgl. Dobler 2008, S. 43.

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37 Personen bereits am Nachmittag ausgezogen waren; unter den zerstörten Häusern befanden sich aber auch die Sennerei und das Altlehrerhaus. Neben den Bewohnern wurden dort 15 Personen verschüttet, die bereits am Vormittag unter die Falvkopf-Lawine gekommen waren und hier vorübergehend Zuflucht gefunden hatten. Neun dieser zeitweilig Geretteten überlebten den zweiten Lawinenabgang nicht. Im Gesamten wurden durch die Mont-Calv-Lawine an diesem Tag 43 Menschen verschüttet. 22 Personen fanden den Tod. Zudem starben 28 Kühe und Rinder sowie 41 Kälber, Schweine und Ziegen. Abbildung 6: Postkarte mit eingezeichneten Lawinenzügen

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Von den materiellen Zerstörungen zeugen zahlreiche Fotografien, die in den Tagen nach den Lawinenabgängen durch verschiedene Helfer und Einheimische angefertigt wurden.472 So verdeutlichen die Aufnahmen etwa, dass von einem Großteil der Häuser nur noch das Betonfundament unversehrt geblieben ist. Je nach Lage wurden die in Blockbauweise errichteten Wände und Mauern entweder vollkommen zerstört oder radikal deformiert. In einem Gewirr aus zerbro-

472 Vgl. AWL, Gde. 3 Blons, Hüggen-Lawine 1951-1960: Fotografien; AWL, Gde. 3 Blons, Mont-Calv-Lawine 1950-1980: Fotografien; PAB: Bilder der Lawinenkatastrophe 1954; VLA, AVLreg Ia-12/1/1958: Bilder der Lawinenkatastrophe 1954; VLA, CD 36: Fotoalbum von J.J./Blons 1954 diverse.

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chenem Hausrat, Mobiliar, Stroh, Scherben, Brettern und Balken ragten ihre Überreste aus Schneefeldern, die sich viele Meter unterhalb ihres ursprünglichen Standorts befanden. Abbildung 7: Materielle Deformationen

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Neben den Fotografien zeugen auch die Ergebnisse einer im Februar und März 1954 von Adolf Voellmy – dem damaligen Züricher Sektionschefs der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Versuchsanstalt für Industrie, Bauwesen und Gewerbe – durchgeführten Untersuchung von den deformierenden Kräften der Lawinenabgänge. Am Beispiel der Ruine des „Mesnerhauses“, das sich am westlichen Rand der Mont-Calv-Lawine befunden hatte – und daher besser erhalten war als jene Gebäude, die zentral, mit voller Wucht getroffen wurden – versuchte dieser aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive die entstandenen Kräfte und zerstörerischen Effekte der dynamisierten Schneemassen zu rekonstruieren: „Das in Blockbauweise erstellte Haus wurde durch eine Lawine von seinem Fundament abgehoben, als Ganzes etwa 50 m fortgeschoben und blieb an einem seitlichen Hang schräg stehen. Als Sekundärwirkung ist durch die Schräglage der Dachstock mit dem Dach horizontal vom übrigen Gebäude abgeglitten. Die hintere Gebäudewand ist bis auf 2,5 m Höhe eingedrückt, während die höher gelegene Giebelwand, obschon durch Fensteröffnungen stark geschwächt auseinandergefallen ist, ohne dass dabei Balken gebrochen wären. Über die ursprüngliche Konstruktion des eingedrückten Wandteils bestehen keine

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exakten Anhaltspunkte mehr. […] Die Zerstörungen an der rückseitigen Giebelwand und an der Dachhaut deuten auf eine nach aufwärts wirkende Kraftkomponente hin. Mit dem Mobiliar und der Schneelast, jedoch ohne Fundament, dürfte das Gewicht des Hauses schätzungsweise zwischen 40 und 50 t liegen. Zum Kippen um die vordere Kante ist daher eine Vertikalkraft von etwa 20 bis 25 t nötig, was einem Druck auf die hintere Fassadenfläche von etwa 650 bis 750 kg/m² entsprechen würde.“ 473

Abbildung 8: Das zerstörte Mesnerhaus

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Wie die Falvkopf-Lawine am Vormittag hatte auch die Mont-Calv-Lawine eine Wucht entwickelt, der die materielle Resilienz der Gebäude nicht gewachsen war. Erneut kam es zu massiven Zerstörungen. Erneut wurden zahlreiche Dorfbewohner verschüttet, so dass es eines weiteren Rettungseinsatzes bedurfte. Unter der Leitung von Pfarrer und Lehrer begaben sich einige Blonser zur Sennerei sowie zum gegenüberliegenden Altlehrerhaus und suchten dort nach ihren Nachbarn und Angehörigen. Auch dieses Mal konnten sich manche der Verschütteten selbst befreien, die meisten waren aufgrund ihrer Lage aber auf Hilfe angewiesen. Die kleine Gruppe von ohnehin bereits erschöpften Helfern musste indessen nach wie vor ohne adäquates Bergungsgerät operieren. Noch immer herrschten heftiger Schneefall und Sturm, zudem waren die Möglichkeiten der Suche nun auch durch die Dunkelheit beschränkt: 473 Adolf Voellmy: Über die Zerstörungskraft von Lawinen. In: Schweizerische Bauzeitung 73 (1955), Heft 12, S. 159-165, hier S. 160.

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„Bar jeder Ausrüstung, vom beißenden Schneesturm gepeinigt, konnte sich die Hilfeleistung nur auf die Bergung der wenig Verschütteten beschränken, man mußte abbrechen – zurück blieben im Ungewissen Tote und Lebende. So hatte sich die Zahl wieder vermehrt; die Hilflosigkeit der wenigen Übriggebliebenen steigerte sich ins Unerträgliche.“474

Nachdem die Suche abgebrochen worden war, verteilten sich die Helfer und Geretteten auf die verbliebenen sechs Häuser des Kirchdorfs. Etwa 60 Personen wurden zu diesem Zeitpunkt noch vermisst. Am nächsten Tag machten sich einige Helfer mit Beginn der Morgendämmerung wieder auf den Weg, um nach weiteren Vermissten zu suchen. Doblers Ausführungen zufolge musste die Suche jedoch aufgrund erneuter Lawinengefahr schon bald wieder aufgegeben werden.475 Gegen 8 Uhr haben daraufhin drei junge Blonser den Versuch unternommen, die Abgeschiedenheit mittels Skier zu überwinden. In der Tat gelang es ihnen, bis 12 Uhr nach Thüringen zu kommen und den dortigen Gendarmerieposten über die Geschehnisse in Blons zu unterrichten. Zeitgleich hatte sich aber auch bereits ein junger Mann aus der gegenüberliegenden Gemeinde Raggal mit Skiern auf den Weg nach Ludesch gemacht und von dort aus die Bezirkshauptmannschaft Bludenz über die Lawinenabgänge in Kenntnis gesetzt. Gegen Mittag beruhigte sich das Wetter, so dass in Blons die Suche nach den verschütteten Lawinenopfern wieder aufgenommen werden konnte. Inzwischen kamen auch Helfer aus Oberblons, Valentschina, St. Gerold und Raggal ins Unglücksgebiet und beteiligten sich an der Rettung. Die meisten der geborgenen Verletzten wurden nun ins Gasthaus „Krone“ gebracht und dort im Rahmen der Möglichkeiten behandelt. Neben den Verletzten barg man jetzt auch immer mehr Verstorbene und brachte ihre Leichen in die Sennküche oder in den Kronenstall. Am Nachmittag gegen 16.30 Uhr trafen schließlich die ersten Hilfsmannschaften aus dem Tal ein, so dass nun eine medizinische Versorgung der Verwundeten sowie eine wissens- und gerätebasierte Professionalisierung der Suche erfolgen konnten. Schritt für Schritt vermochte man somit die ersten Etappen eines langwierigen Ordnungsrekonfigurationsprozesses zurückzulegen. Folgt man den bisherigen Darstellungen, so lässt sich die Entfaltung der damaligen Katastrophe als eine sukzessive Durchbrechung mehrerer daseinsumhegender Schutzelemente verstehen. Zunächst wurde durch die vorherrschenden

474 Dobler 2008, S. 44. Vgl. auch PAB: Pfarrchronik Blons: Die Schreckenswoche von Blons im Großen Walsertal. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert. 475 Dobler 2008, S. 45.

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Witterungsverhältnisse der technisch konfigurierte Immunisierungsapparat durchbrochen, dessen zentraler Zweck in der zuvorkommenden Verhinderung von Lawinenabgängen bestanden hatte. Unter dem Einfluss der lokalen morphologischen Prägekräfte entwickelten die dergestalt freigesetzten Schneemassen eine nicht mehr einzudämmende Dynamik mit zerstörerischen Effekten. Die Wucht der Lawinenabgänge überlastete die materielle Resilienz der getroffenen Gebäude und führte somit zu einer radikalen Dematerialisierung des präkatastrophischen Ordnungsgefüges. Zerstört wurden Häuser, Ställe und ein Großteil der alltagsrelevanten Artefakte des Gebrauchs – also jener spezifischen materiellen Figurationen aus Mobiliar, Kleidung, Werkzeug etc., die den Lebensvollzug der betroffenen Akteure ehedem maßgeblich mitgestaltet und stabilisiert hatten. Zuletzt, ein Aspekt den es noch näher zu berücksichtigen gilt, durchbrachen die lawinenevozierten Kräfte aber auch den basalen Schutzraum der physischen Immunität. Mit gewaltsamer Wucht überlasteten sie die Widerständigkeit der Leibkörper und zeitigten hierbei heftige, teils tödliche Verwundungen. Die Lawinenabgänge vom 11. Januar 1954 führten somit zu einem polydimensionalen Grenzverlust. Sie katapultierten die Betroffenen, wie man mit Christian Pfister formulieren kann, „aus ihrer alltäglichen Routine in eine unfassbare Situation.“476 Dabei wurden sie nicht zuletzt auch deshalb zu einer Katastrophe, weil die Bewohner der Gemeinde für eineinhalb Tage von der Außenwelt isoliert waren und nur über sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Selbsthilfe verfügten. Aufgrund vorgängiger Präventionsversäumnisse fehlte es an zahlreichen Materialien, deren Vorhandensein für eine schnelle Hilfe essentiell gewesen wäre. So zeigt sich schließlich, dass die damaligen Lawinen ihre katastrophische Spezifik unter dem Einfluss vielfältiger Faktoren entfalteten, die von den Witterungsbedingungen, der Beschaffenheit des Schnees, der Morphologie des Geländes und den zeitpunktentsprechenden Lichtverhältnissen über die Siedlungsstruktur, die materielle Verfasstheit der Häuser und die Konstitution der betroffenen Leibkörper bis zur Fragilität der lokalen Kommunikationsmittel, dem Fehlen eines orientierungsstiftenden Notfallplans oder dem Mangel an verfügbaren Bergungs- und Erste-Hilfe-Materialien reichten. Die Gestalt der katastrophischen Zerstörungen formierte sich somit nach Maßgabe vielfältiger Prägekräfte, deren formgebender Einfluss in den spezifischen Bedingungen des präkatastrophischen Ordnungsgefüges gründete. In der Tat: „Most natural disas-

476 Christian Pfister: Naturkatastrophen und Naturgefahren in geschichtlicher Perspektive. Ein Einstieg. In: Ders. (Hg.): Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500-2000. Bern 2002, S. 11-25, hier S. 13.

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ters, or most damages in them, are characteristic rather than accidental features of the places and societies where they occur.“477 Blieben die bisherigen Ausführungen weitestgehend einer Außenperspektive verhaftet, so soll nun abschließend auch in Ansätzen der Frage nachgegangen werden, wie diese Zerstörungen von den Betroffenen erfahren wurden. Unser Blick richtet sich demzufolge auf die existentielle Dimension des Ereigniskomplexes – auf seine akteursspezifisch gebrochene, positionsrelational vervielfältigte Realisierung in der Sphäre des faktischen Daseins. Auf der Grundlage unserer – diesbezüglich freilich sehr eingeschränkten – materialbasierten Zugangsoptionen gilt es die lawinenbedingten, radikalrapiden Transformationen des lokalen Ordnungsgefüges somit in ihrer unmittelbaren lebensweltlichen Relevanz zu beleuchten. Infolge ihrer divergierenden Positionalitäten variierte die Betroffenheit der Betroffenen in hohem Maße. 55 Personen wurden tot geborgen oder erlagen ihren Verletzungen, zwei Personen blieben bis zuletzt vermisst, so dass aufgrund der Lawinenabgänge im Gesamten wohl 57 Menschen ums Leben gekommen sind. Folgt man den postkatastrophischen Erhebungen, so wurden neben den Todesopfern weitere 62 Personen verschüttet. Von diesen überlebenden Verschütteten blieb ein Teil unversehrt und konnte sich letztlich aus eigener Kraft wieder befreien; viele mussten aber mit gravierenden Verletzungen in die Krankenhäuser der Umgebung gebracht werden. Die verbliebenen 248 Einwohner der Gemeinde sind zwar körperlich von den Lawinenabgängen verschont geblieben, verloren aber Angehörige, Nachbarn, Vieh und vielfach auch ihr Zuhause. Die Katastrophenerfahrung der Verstorbenen blieb dem kulturellen Gedächtnis entzogen. Indessen scheinen mehrere Fotografien, die kurz nach ihrer Bergung angefertigt wurden, von empfundenen Schmerzen, Agonie, Verzweiflung oder finaler Erlösung zu zeugen.478 Daneben gibt auch ein Bericht des Gerichtsmediziners Franz Holzer, in dem dieser die Ergebnisse einer fünf Tage nach den Lawinenabgängen durchgeführten Untersuchung der Leichname festgehalten hat, Einblicke in physisch materialisierte Spuren der letalen Widerfahrnisse – Spuren, die zugleich eine vorsichtige Annäherung an letzte leibgebundene Erfahrungsweisen ermöglichen: „Fast alle Leichen waren gewöhnlich bekleidet, nur wenige im Hemd. Einige Opfer wurden beim Schlafengehen oder im Schlaf von der Lawine überrascht. Einzelne Männer tru-

477 Hewitt 1983, S. 25 (Hervorhebung im Original). 478 PAB: Bilder der Lawinenkatastrophe 1954; VLA, CD 36: Fotoalbum von J.J.

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gen die Stallkleider, waren offenbar mitten in der Arbeit von der Lawine erfaßt und mitgerissen worden. Manche Leichen wiesen Verletzungen am Kopf, an den Gliedmaßen und Brustkorbquetschungen auf. Auch vollkommene Schädelzertrümmerungen hatten den Tod herbeigeführt. Fast die Hälfte der Opfer ist durch mechanische Einwirkung gröbster Gewalt an Verletzungen gestorben. Die Leichen erinnern an die in der Bombenzeit aus den Trümmern der Häuser geborgenen Opfer. Die großen Zertrümmerungen und Verletzungen der Schädel und zahlreichen Knochenbrüche sind vorwiegend beim Einsturz der Häuser und beim Übereinanderschieben der Trümmer des Gebälks und der Mauerreste entstanden. Auch von den Schneemassen mitgerissene Baumstämme und Äste dürften neben den Trümmern der Häuser und Ställe die Opfer verletzt haben. So erkannte man bei einem Mann noch genau wie ein runder Stamm schräg über dem Gesicht gelegen und den Kopf eingedrückt hatte. Bei einer Frau, die unter der Lawine an die noch heißen Reste ihres Herdes oder Ofens angedrückt oder eingeklemmt worden war, fanden sich oberflächliche Verbrennungen. Manche Leichen wiesen an Händen und Unterschenkeln Abschürfungen und Blutunterlaufungen auf. Örtliche Erfrierungen waren ebenfalls zu erkennen. Bei Leichen, an denen keine Verletzungen nachzuweisen waren, ist der Tod offenbar durch Erstickung oder Erfrierung eingetreten. Auch für einzelne Spättodesfälle noch lebend geborgener Verunglückter ist die Kälteschädigung als Ursache anzusehen. Bei manchen Lawinenopfern war der Tod durch die Verletzungen schon unmittelbar oder kurz nach dem Unglück eingetreten.“479

Der Bericht und die Fotografien veranschaulichen, dass die Wucht der Lawinenabgänge nicht nur die Resilienz eines kulturellen Immunisierungsapparats sondern auch basale physische Belastbarkeitsgrenzen mit heftiger Gewalt überschritten hat. Die Leibkörper der Opfer konnten die vorherrschenden Kräfte weder abwehren noch integrieren. Sie wurden von ihnen mitgerissen, durchdrungen, deformiert. Mit der Körpergebundenheit beziehungsweise Leibverfallenheit des menschlichen Daseins kam hierbei auf fatale Weise die Unaufhebbarkeit der somamateriellen Situationsverhaftetheit zum Tragen. Diese „unlösliche Verknüpfung zwischen den Elementen und den eigenleiblichen Empfindungen [löst]

479 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Untersuchung der 43 Lawinenleichen am 16.1.1954 in Blons. Angefertigt von Prof. Dr. Franz Josef Holzer. Nicht datiert. Vgl. auch Franz Josef Holzer: Zur Lawinenkatastrophe in Blons. Vortrag auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche und Soziale Medizin, 6. Oktober 1954, in Kiel. In: Deutsche Zeitschrift für gerichtliche Medizin 44 (1955), S. 415-417.

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bei Katastrophen die Panik aus“480. Während sie im Rahmen gewohnter Alltagsvollzüge von erfahrungsbasierten Korrespondenzen strukturiert war und vor diesem Hintergrund zur persistenten Resilienz der Lebenswelt beitrug, geriet sie infolge der Lawinenabgänge zu einem fluchtverhindernden katastrophischen Verhängnis. Da die Verwobenheit von Physis und materieller Umwelt nicht zu durchbrechen war und man den Leibkörper nur um den Preis des (vorübergehenden) Existenzverlustes – durch ein Versinken in Ohnmacht oder Tod – verlassen konnte, blieben den Verschütteten keine lebensweltlichen Entkommensoptionen, die sie eigenmächtig hätten realisieren können. In zunehmender Abgeschiedenheit von sämtlichen Ansätzen zu einer hinreichenden Situationssouveränität müssen die dergestalt Betroffenen ihr physisches Dasein letztlich als ein radikales Ausgeliefertsein erfahren haben. Von diesem Zustand des Ausgeliefertseins zeugen auch die Erinnerungen der lebend Geborgenen. Was soeben abstrakt zur Sprache kam, gewinnt in ihren Schilderungen eine konkrete erfahrungsfundierte Gestalt – wenngleich die Tatsache, dass man schließlich gerettet wurde, dem Erfahrenen im Rückblick eine veränderte Fassung geben mag und freilich auch im Allgemeinen von einer überaus transformationsmächtigen Biographie- und Kontextgebundenheit jeder Erinnerungskonstitution ausgegangen werden muss.481 Die Erinnerungen der interviewten Zeitzeugen482 und die Darstellungen in den Erlebnisberichten, die Eugen Dobler kurz nach den Lawinenabgängen gesammelt und einige Jahre später auch publiziert hat,483 beginnen zumeist mit der Beschreibung außergewöhnlicher auditiver Eindrücke – ein unheilvolles „Pfeifen“, „Heulen“ „Brausen“, „Tosen“, „Bersten“ „Krachen“ etc. – gefolgt von Dunkelheit und einem plötzlichen kinästhetischen Taumel. Schlagartig habe man den gewohnten Halt, die

480 Böhme 2003, S. 41. 481 Vgl. hierzu exemplarisch Harald Welzer: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 13 (2000), Heft 1, S. 51-63; vgl. zur Gegenwartsgebundenheit des Erinnerns generell auch Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007, hier etwa S. 36. 482 Drei der interviewten Personen wurden durch die Falvkopf-Lawine verschüttet (Interview 8: Blons, 03.02.2014; Interview 4: St. Gerold, 03.08.2013; Interview 3: Blons, 08.07.2013), eine weitere Interviewpartnerin kam unter die Mont-CalvLawine (Interview 7: Blons, 01.02.2014). Von diesen vier Verschütteten konnten sich zwei schon bald, und einer nach vielen Stunden aus eigener Kraft befreien; eine der interviewten Personen konnte nur durch die Hilfe Dritter geborgen werden. 483 Vgl. Dobler 2008, S. 50-109.

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vertraute Kontrolle über die eigene Raumposition verloren und sei mitgerissen worden. Im Niedergang des Lawinensturzes habe man sich dabei – so ein verbreiteter Topos – wie ein Fisch, inmitten übermächtiger Strömungen eines fließenden Elements wahrgenommen.484 Nach solchen Beschreibungen der erfahrenen Hilflosigkeit angesichts der plötzlich auftretenden, radikalen Dynamisierung ihrer materiellen Leibesumwelt folgen zumeist Erinnerungen an den Zustand des Verschüttetseins – eindringliche Berichte von der Kälte, Enge und Dunkelheit unter dem Schnee, von Orientierungslosigkeit, Zeitverlust, Atemnot, Schmerzen, Todesangst und Todeswünschen, von resonanzlos verhallenden Hilferufen, abschließenden Lebensbilanzierungen und letzten Gebeten, von einer tiefgreifenden Verzweiflung und der leisen Hoffnung, vielleicht doch noch gefunden, geborgen, gerettet zu werden. Einige der Verschütteten waren zwischen Balken und Brettern eingeklemmt, manche erlitten Verbrennungen durch die Trümmer der zerborstenen Kachelöfen. Zu diesen schmerz-, angst- und panikverursachenden Erfahrungen auf der unmittelbar leiblichen Empfindungsebene – die in der Durchbrechung körperlicher Innen/Außen-Abgrenzungen, in der kälte- und hitzebasierten Radikalüberreizung der Hautsensitivität, in der extremen Reduzierung der Bewegungsräume oder in der inneren Einengung durch den fortschreitenden Sauerstoffverlust gründeten und mit der Zeit häufig in einen ohnmächtigen Zustand „leiblichen Verdämmerns“ führten –485 kamen vielfach auch eine beklemmende Furcht vor dem scheinbar nahenden Ende des eigenen Lebens sowie die Sorge um das Leben der Angehörigen und die Trauer angesichts ihres miterlebten Todes hinzu. So habe eine junge Frau hilflos zuhören müssen wie ihre beiden drei- und vierjährigen Kinder immer wieder um Hilfe gerufen hätten und schließlich verstummt seien;486 andere Gerettete berichten, dass sie nach dem Lawinenabgang unmittelbar neben bereits verstorbenen Familienmitgliedern zu sich gekommen seien.487 Die meisten der Verschütteten wussten zunächst zwar nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen war, doch mussten sie in Anbetracht ihrer eigenen Lage Schlimmstes befürchten.

484 Vgl. Dobler 2008, S. 61 u. S. 76. 485 Vgl. Böhme 2008, S. 41. 486 Interview 3: Blons, 08.07.2013; vgl. auch Dobler 2008, S. 52f. 487 Vgl. PAB: Pfarrchronik Blons: Walserschicksale im mordenden Schnee. Bericht aus Blons. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert; PAB: Pfarrchronik Blons: Walserschicksale im mordenden Schnee. Aus der lawinenverschütteten Einsiedler Stiftspfarrei Blons. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert.

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Neben den Verstorbenen, Verletzten und Geretteten zählen aber auch jene Ortsansässigen, die nicht verschüttet wurden, zu den Opfern der Lawinenabgänge. Auch wenn sie keine körperlichen Versehrungen erleiden mussten, waren sie doch von existentiellen Verlusten, Verunsicherungen und Verwundungen betroffen, die frühere Selbstverständlichkeiten radikal relativierten. Mit den lawinenbedingten Zerstörungen brach eine abweisende Form des Fremden in die gewohnte Sphäre alltäglicher Vertrautheit. Fern jeder Möglichkeit, ihre kraftvolle Eigendynamik pragmatisch oder ästhetisch488 aufheben zu können, sah man sich mit der souveränen Gleichgültigkeit einer plötzlich übermächtigen, gleichsam beiläufig destruktiven Umwelt konfrontiert.489 Die ordnungsnegierenden Effekte dieser Konfrontation umfassten drastische Erfahrungen wie den Verlust von Angehörigen oder den Tod des sorgsam gehegten Viehs und führten dabei zu einer gesteigerten Sensibilität hinsichtlich der Endlichkeit des eigenen Lebens. Sie äußerten sich aber nicht zuletzt auch in der materiellen Zerstörung des eigenen Dorfes, des eigenen Hofes und des dazugehörigen Inventars – schließlich ist, wie Justin Wilford formuliert, „the loss of not just a house but also of a home […] one of the most emotionally devastating results of a natural disaster.“490 Die betroffenen Höfe waren zu einem großen Teil seit mehreren Generationen im Besitz der jeweiligen Familie und bildeten in ihrer spezifischen Architektur ein zentrales Bezugselement der lokalen Identitätsbildungsprozesse. Diesseits des Symbolischen rangen sie infolge materialbasierter Durchlässigkeitsbeschränkungen der Umwelt ehedem einen intimen Schutzund Wohnraum ab.491 Innerhalb dieser Umgrenzung hatten die vertrauten Dinge des Gebrauchs entscheidendes zur tagtäglichen Selbst- und Weltvergewisserung beigetragen: sie stützten Erinnerungen, festigten Bedeutungen und gewährten si-

488 Zu denken ist hierbei etwa an die Erfahrung des Erhabenen – eine Erfahrung, die im Rahmen der Kantʼschen Konzeption dieses Begriffs als ein ästhetisches Äquivalent technischer Formen der Naturaneignung gedeutet werden kann. Vgl. hierzu Hartmut Böhme: Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des „Menschenfremdesten“. In: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 119-141. 489 Dies in Anlehnung an Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin 1992, S. 199. 490 Justin Wilford: Out of rubble: natural disaster and the materiality of the house. In: Environment and Planning D: Society and Space 26 (2008), S. 647-662, hier S. 649. 491 In ähnlicher Weise betont etwa Bollnow den „semipermeablen“ Charakter von Haus- und Wohnungstüren. Vgl. Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum. Stuttgart 1963, S. 154.

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cherheitsgewährende Redundanz,492 da sie im Rahmen ihrer spezifischen Handhabbarkeit eine fraglose Reproduktion gewohnter Alltagspraktiken ermöglichten. Was dem präkatastrophischen Dasein dergestalt Entlastung und Halt vermittelt hatte, lag nun in unförmigen Trümmern. Die etablierten Gewohnheiten verloren gleichsam ihr materielles Fundament – „die Zerstörung des Raums setzt […] eingeübte Handlungsmuster außer Kraft.“493 Auch jenseits einer unmittelbar leiblichen Betroffenheit widerfuhren den Bewohnern also Erfahrungen, die ehedem geltende Gewissheiten grundlegend in Frage zu stellten vermochten. Wenngleich sie körperlich unverletzt geblieben waren, vollzog sich bei ihnen somit jene für katastrophische Krisen paradigmatische „Erschütterung des Vertrauens in die eigene Kultur, in die Beherrschbarkeit von Risiken, aber auch in die Zuverlässigkeit insbesondere planenden, also auch voraussehenden, Handelns“494. In den Zeitzeugenberichten ist mit Blick auf diese ersten Stunden nach den Lawinenabgängen denn auch immer wieder von einer lähmender Schockstarre495 und Apathie496, von einer umfassenden Hilflosigkeit497 oder dem Gefühl einer „grenzenlosen Verlassenheit“498 die Rede. Das Erfahrene überforderte. Es konnte nicht ohne weiteres integriert werden und untergrub jene zentralen Idealisierungen des „Und-so-weiter“ und des „Ich-kannimmer-wieder“, die vormals den tendenziell selbstverständlichen Charakter ihres präkatastrophischen Lebensvollzugs fundierten. Vor dem Hintergrund des entwickelten begrifflichen Analyseinstrumentariums galt es im Rahmen unserer genealogischen Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons sowohl die ursächlich relevante Vorgeschichte als auch die hervorgerufenen Effekte der damaligen Lawinenabgänge zu untersuchen. Zunächst zeigte sich hierbei, dass die Herausbildung dieser katastrophenevozierenden Ereignisse durch zahlreiche Faktoren geprägt beziehungsweise begünstigt wurde, die in den (lokal-)historischen Wissens- und Machtverhältnissen wurzelten. Bei den Lawinenabgängen handelte es sich demzufolge weniger um eine

492 Zum Motiv der wohnraumvermittelten Einbettung in Redundanz vgl. Vilém Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit. In: Ders.: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Bensheim/Düsseldorf 1992, S. 247-264, hier insbesondere S. 261f. 493 Antonietti 1993, S. 6. 494 Geenen 2003, S. 6. 495 Interview 2: Blons, 05.07.2013. 496 PAB: Pfarrchronik Blons: Die Schreckenswoche von Blons im Großen Walsertal. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert. 497 Vgl. Dobler 2008, S. 44. 498 Vgl. Dobler 2008, S. 151.

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quasinatürliche, weitgehend unverfügbare Wirkung materieller Eigendynamiken, sondern vielmehr um ein Geschehen, das sich in soziokulturell strukturierten Kontexten konstituierte und letztlich als Ausdruck eines polygen effizierten Scheiterns präventiver Immunisierungsbemühungen aufgefasst werden kann. Erwiesen sich die Lawinen also bereits hinsichtlich ihrer Ursachen als hybride Phänomene, so galt dies insbesondere auch für ihre katastrophische Realisierung. Es zeigte sich, dass die Lawinenabgänge deshalb zu einer Katastrophe wurden, weil sie auf einen historisch gewordenen, gemäß seiner soziomateriellen Konstitution verwundbaren Handlungsraum trafen, diesen radikal deformierten und hierbei Zerstörungen zeitigten, die im Rahmen der akteursspezifischen physiopsychischen Ordnungsdispositionen – und den damit verbundenen Handlungsoptionen – nicht hinreichend aufgehoben beziehungsweise bewältigt werden konnten. So lässt sich die Lawinenkatastrophe von Blons unseren bisherigen Ausführungen zufolge als ein prozesshafter, hybrider Ereigniskomplex verstehen, dessen Genese eng mit den präkatastrophischen Ordnungsverhältnissen verflochten war. Ihre historische Gestalt verdichtete sich indessen erst durch die diskursive Phänomenkonstitution im Zuge der postkatastrophischen Verarbeitungsbemühungen.

3. ORDNUNGSREKONFIGURATIONSPROZESSE Die Lawinenabgänge vom 11. Januar 1954 führten zu gravierenden Deformationen des Blonser Ordnungsgefüges. Ein Drittel der lokalen Gebäude wurde zerstört, ein Sechstel der menschlichen Einwohner starb. Hinzu kamen der Tod eines Großteils der Tiere, die Verwüstung tragender Elemente der landwirtschaftlich bearbeiteten Biosphäre sowie einschneidende materielle Verluste – Verluste an Hausrat, Mobiliar, Gerätschaften etc., die als sinnvermittelnde Objektivationen und wirkmächtige Prägekräfte des Agierens den bisherigen Alltag mitkonstituiert und stabilisiert hatten. Genannt werden müssen daneben auch zahlreiche, teils heftige körperliche Verwundungen, in deren Folge einige Blonser eines mehrmonatigen Krankenhausaufenthalts bedurften. Zudem zogen zwölf Familien mit insgesamt 46 Personen aus der Gemeinde weg, da sie vor Ort keine Perspektive mehr zu haben schienen, so dass im Gesamten schließlich etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung fehlte. Vor dem Hintergrund dieser Zerstörungen, Versehrungen und Verluste wendet sich das vorliegende Kapitel den postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozessen zu. Gemäß unseren katastrophologischen Vorüberlegungen gilt es nun im limitierenden und spezifizierenden Rahmen der erhobenen Materialien

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das heterogene Geflecht all jener somatischen, materiellen, sozialen und semantischen Vorgänge zu analysieren, in deren Vollzug sich die zentralen Prägekräfte des künftigen Alltagsbetriebs (re-)konstituierten. So geht es in diesem letzten Kapitel also nicht nur um die Beleuchtung der Katastrophenverarbeitung, vielmehr soll aus einer deutlich weiteren Perspektive auch nach lawinenbedingten Transformationen jenseits des unmittelbaren Bewältigungshandelns gefragt werden. Es gilt also möglichst umfassend zu rekonstruieren, welche „profound changes in the arrangements of life“499 dem katastrophischen Ereigniskomplex folgten. Aufgrund der Quellenlage richtet sich der zentrale Fokus unserer Rekonstruktionsbemühungen im Folgenden vorwiegend auf die Transformationen des Ordnungsgefüges, mithin auf die Prozesse seiner sukzessiven Entdynamisierung, Restabilisierung und Reimmunisierung; wo möglich soll aber auch die – in unterschiedlichen Maßen gelingende – Regenerierung der verwundeten existentiellen Ordnungen beziehungsweise katastrophisch entkoppelten Akteur/UmweltKorrespondenzen berücksichtigt werden. Während die damaligen Ordnungsrekonfigurationsprozesse aus dem erstgenannten Blickwinkel als eine katastrophisch katalysierte Neuanordnung des betroffenen soziomateriellen Gesamtzusammenhangs zu rekonstruieren sind, gilt es durch die zweitgenannte Anschauungsweise immer wieder auch auf die lebensweltliche Dimension dieser Vorgänge einzugehen und sie somit in ihrer akteursspezifischen, positionsrelationalprismatischen Gebrochenheit zu fokussieren. Wenn die dergestalt zu beleuchtenden Geschehnisse als postkatastrophische Prozesse bezeichnet werden, darf dies freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie den Gegenstand ihrer Veranlassung stets mitprägen beziehungsweise fortwährend weitergestalten. Dabei beeinflussen sie nicht nur das Ausmaß der konkreten ereignisbedingten Zerstörungen, sondern formieren schließlich insbesondere die Sinngehalte ihrer katastrophischen Bedeutung. Die den Lawinenabgängen folgenden Bewältigungsbemühungen ließen sich daher durchaus auch als Vorgänge verstehen, in deren Vollzug die Katastrophengenese – nun in einem weiteren Sinn als bisher gefasst – fortgeschrieben wird. Hinsichtlich ihres zeitlichen Verlaufs können postkatastrophische Ordnungsrekonfigurationsprozesse idealtypisch in eine – verhältnismäßig kurze – Phase der Reaktion und eine – lange währende – Phase der Rekreation unterteilt wer-

499 Martin Sökefeld: Exploring the Link between Natural Disasters and Politics: Case Studies of Pakistan and Peru. In: Scrutiny. A Journal of International and Pakistan Studies 5/6 (2012), S. 1-32, hier S. 13.

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den.500 Bei allen phasenübergreifenden Zusammenhängen bietet diese Trennung auch für die Rekonstruktion der in Blons beobachtbaren Entwicklungen ein hilfreiches Strukturierungsangebot. So wenden sich die folgenden Ausführungen zunächst den unmittelbaren, durch die priorisierte Intention der Lebenserhaltung geleiteten Maßnahmen zu, bevor in einem zweiten Schritt jene Prozesse nachgezeichnet werden sollen, die in verschiedener Hinsicht der Lebensgestaltung dienten. Zudem ist schließlich aber auch nach den vielfältigen weiterreichenden Folgen dieser Gestaltungen zu fragen. Kurzum: Vor dem Hintergrund der umrissenen analytischen Unterscheidungen gilt es zu rekonstruieren, inwiefern die involvierten Akteure das hervorgerufene Syndrom problematischer Probleme deutend und handelnd bewältigen konnten, durch welche materiellen, sozialen und kulturellen Faktorenkonstellationen diese Bewältigungsformen strukturiert wurden und in welchen kurz-, mittel- und langfristigen Transformationen sie sich schließlich auf verschiedenen Ordnungsebenen niedergeschlagen haben. 3.1 Rekonstruktion der postkatastrophischen Reaktion Die ersten Schritte der ereignisinduzierten Ordnungsrekonfigurationsprozesse standen vorrangig im Zeichen basaler lebenserhaltender Maßnahmen. Mit diesen Bemühungen begann für die Überlebenden jene langewährende Phase der Katastrophenbewältigung, deren zentrales Ziel in Anknüpfung an Dombrowsky als eine „Resurrektion gelingender Interaktion mit den äußeren Bedingungen“ 501 benannt werden kann. Zunächst galt die Aufmerksamkeit vor allem der Suche und Bergung von Verschütteten, der Behandlung und Evakuierung von Verletzten sowie der physischen Verpflegung von Einheimischen und Helfern. Die nachstehenden Ausführungen wenden sich nun insbesondere jenen Vorgängen zu, in deren Kontext man die daraus entstandenen Aufgaben zu bewältigen suchte, bevor es im nächsten Teilkapitel das breite Spektrum der weiteren Problembehandlungen zu thematisieren gilt.

500 Vgl. hierzu etwa Enrico L. Quarantelli: Auf Desaster bezogenes soziales Verhalten. Eine Zusammenfassung der Forschungsbefunde von fünfzig Jahren. In: Lars Clausen/Elke M. Geenen/Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen. Münster 2003, S. 25-33. Quarantelli nennt vier typische Zeitabschnitte von Desaster-Erscheinungen und unterscheidet hierbei die präkatastrophischen Phasen „Mitigation“ und „Preparedness“ sowie die postkatastrophischen Phasen „Response“ und „Recovery“. 501 Dombrowsky 2004, S. 183.

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Der Rettungseinsatz zur Bewältigung dieser ersten drängenden Aufgaben wurde durch den Bezirkshauptmann Dr. Julius Längle sowie durch dessen Stellvertreter, Polizeireferent Dr. Piccolruaz, geleitet, die ihrerseits wiederum den Weisungen der Vorarlberger Landesregierung unterstanden. Auf der nächsten Ebene dieser hierarchisch strukturierten Entscheidungsbefugnisse sind einzelne Referenten der Bezirkshauptmannschaft Bludenz zu nennen, die je für eines der folgenden Aufgabenfelder verantwortlich waren: ärztliche Versorgung; Unterbringung Evakuierter und Obdachloser; Material- und Lebensmittelbeschaffung; Sicherstellung von Rettungsmannschaften und sonstigen Personen sowie Sammlung und Weitergabe von Nachrichten; Sammlung, Verwaltung und Verteilung der Naturalspenden; Sammlung und Verwaltung von Geldspenden; Beerdigung und Überführung der Lawinenopfer; veterinärpolizeiliche Feststellungen und Maßnahmen; forstwirtschaftliche Feststellungen und Maßnahmen. Hinzu kamen der Leiter des Landesstraßenbauamtes Feldkirch, der für die Freimachung der Zufahrtsstraßen zu den Katastrophengebieten zuständig war, ein Gendarmeriekommandant, dem die Organisation des Ordnungs- und Absperrdienstes oblag, ein Gendarmerieoberleutnant, der die Herstellung von Nachrichtenverbindungen organisierte, sowie zwei Inspektoren, denen die Leitung der Feuerwehren zugetragen wurde. Daneben gab es schließlich je einen Zuständigen für die spezifische Koordination des „Katastropheneinsatzes“ in den Gebieten Montafon, Dalaas und Großes Walsertal.502 Formell wurde der „Katastropheneinsatz Großes Walsertal“ in tendenziell abnehmender Reichweite und zunehmender Konkretheit der Entscheidungsbefugnisse von Wien (Österreichische Bundesregierung), Bregenz (Vorarlberger Landesregierung), Bludenz (Bezirkshauptmannschaft) und Ludesch (improvisierte Zentrale der Einsatzleitung) aus kontrolliert. Stadtrat Hans Bürkle leitete die Katastropheneinsatzstelle in Ludesch; der ehemalige Kriegsflieger Gendarmerieoberleutnant Ahorner koordinierte den Einsatz verschiedener Fluggeräte. Im Rahmen der Regularien und Anweisungen oblag in den Gemeinden vor Ort dem Gendarmeriemajor Gerhard Kobbe das Kommando über den Rettungseinsatz.503 Wie – also durch welche Wissens- und Machteffekte und in welchen situativ changierenden soziomateriellen Konfigurationen – sich nun der faktische Verlauf dieses Einsatzes herauskristallisierte, soll im Folgenden anhand der uns verfügbaren Dokumente rekonstruiert werden.

502 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Organisation des Katastropheneinsatzes im Bezirk Bludenz. Bludenz, 19.01.1954. 503 Vgl. ebd.: Planskizze für den Katastropheneinsatz Großes Walsertal.

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Zunächst war die Blonser Bevölkerung in ihrer Reaktion auf sich allein gestellt. Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel deutlich wurde, konnte hierbei nur auf der Grundlage sehr beschränkter Möglichkeiten gehandelt werden – es herrschten äußerst schlechte Bergungsbedingungen und es Mangelte an einschlägigen Erfahrungen sowie an adäquatem Rettungsmaterial. Zwar hatte man sehr schnell mit der Suche nach Verschütteten begonnen, doch erwies sich deren Ortung, Bergung und Behandlung unter diesen Bedingungen als überaus schwierig. Da die Erstreaktion also durch mehrere Faktoren gehemmt war, eröffneten sich den ohnehin katastrophischen Effekten der Lawinenabgänge weitere Realisierungsräume. Erst als am darauffolgenden Tag eine Besserung der Witterungsverhältnisse eintrat und die Isolation der Gemeinde schließlich durchbrochen werden konnte, begann sich die Situation zu ändern. Bis zum Vormittag des 12. Januars wusste die Außenwelt nicht, dass Blons in eine katastrophische Lage geraten war. Allerdings hatte man, nicht zuletzt aufgrund der wiederholten Hinweise des Lawinenwarndienstes, seit dem 8. Januar durchaus mit entsprechenden Ereignissen gerechnet. In der Tat waren dann ab Sonntag, dem 10. Januar, zahlreiche Meldungen eingegangen, die von Lawinenabgängen im Arlberggebiet, im Montafon und im Großen Walsertal berichteten. Auch von jenem an früherer Stelle bereits erwähnten ersten Lawinenabgang in Fontanella hatte man noch am Sonntagnachmittag erfahren. Es wurde, wie der Sicherheitsdirektor Dr. Johann Sternbach in einem rückblickenden Bericht schreibt, „immer klarer, dass eine Katastrophenlage sondergleichen in Entwicklung begriffen war.“504 So hatte man am frühen Montagvormittag in allen höheren Tallagen Straßensperrungen veranlasst; zudem waren in den betroffenen Gebieten – sofern sie erreicht werden konnten – erste Rettungsmaßnahmen eingeleitet worden. In dieser bereits als katastrophisch wahrgenommenen Gesamtsituation erfuhr der Bezirkshauptmann schließlich auch von den Blonser Begebenheiten: „Am Dienstag, den 12. Jänner gegen 9.00 Uhr – es lag bereits die erste schlaflose Nacht hinter uns – wurde ich vom Gasthaus ‚Krone‘ in Ludesch aus vom Sohn des Rößlerwirtes Heim aus Raggal angerufen, daß sich am Vortag in Blons ein schweres Lawinenunglück ereignet habe. Es seien Hilferufe von der anderen Talseite vernommen worden. Von Raggal aus habe man vorübergehend bei Aufhellungen feststellen können, daß ein großer Teil

504 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Die Lawinenkatastrophe in Vorarlberg. Bewährung des Einsatzgeistes und der Einsatzmittel. Bericht des Sicherheitsdirektors Landesoberregierungsrat Dr. Johann Sternbach. 24.01.1954.

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der Häuser in Blons verschwunden sei. Etwas später trafen 3 Blonser Burschen auf Schiern beim Gend. Posten Thüringen ein, die die Meldung des Heim bestätigten.“ 505

Am späten Vormittag erging daraufhin auch eine Meldung an die Vorarlberger Landesregierung. In einer schriftlichen Mitteilung des damaligen Landesamtsdirektors findet sich der Vermerk: „Bezirkshauptmann Dr. Längle gab heute (12.01.1954) 11.40 Uhr folgendes durch: Im Gemeindegebiet Blons sind nach noch nicht ganz verlässlichen Angaben gestern (11.01.) 5-6 Häuser samt Vieh in die Lutz hinunter gerissen worden. Da keine Sicht vorhanden war, konnte das Ausmass der Katastrophe noch nicht festgestellt werden. Erkundigungen, die von Raggal aus angestellt wurden, lassen die Vermutung zu, dass es sich um mehr Häuser handelt. Möglicherweise dürften es sogar 15 Häuser mit etwa 50 Vermissten sein.“506

Die zunächst noch sehr diffusen Informationen über die aktuelle Lage im Großen Walsertal gewannen im Laufe des Tages eine immer konkretere Gestalt, so dass schon bald von Lawinenabgängen eines außerordentlichen Ausmaßes ausgegangen werden musste. Hierfür sprach nicht zuletzt auch eine telefonische Mitteilung des Ludescher Bürgermeisters: Die Lutz führe schon seit einigen Stunden kein Wasser mehr – offenbar war es im Inneren des Tales zu massiven Stauungen gekommen.507 Aufgrund der verschiedenen Meldungen initiierte die Bezirkshauptmannschaft Bludenz schon bald eine groß angelegte Rettungsaktion für Blons und die anderen betroffenen Gemeinden. Das Gasthaus „Krone“ in Ludesch, nahe dem westlichen Talzugang gelegen, wurde zur Leitungszentrale des Einsatzes. Von hier aus sollten die nun folgenden Such- und Bergungsbemühungen in ihren Grundzügen koordiniert werden. Zwar bildete die Landesgendarmerie, die schließlich sowohl mit ihren normalen Postenbesetzungen als auch mit zusätzlichen Kräften aus den Gendarmerieschulen Feldkirch und Bregenz im Einsatz war, hierbei die zentrale Exekutivkraft, doch wandte man sich auf der Suche nach Helfern auch dezidiert an die Öffentlichkeit. Nachdem die Bezirkshauptmannschaft Bludenz bereits am Dienstagvormittag einen entsprechenden Radio-

505 VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 62. 506 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Mitteilung des Landesamtsdirektors. Bregenz, 12.01.1954. 507 Vgl. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 63.

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aufruf verbreitet hatte, veranlasste sie nachmittags um 14.05 Uhr auf der Frequenz des Vorarlberger Landessenders folgende Meldung: „Für Bergungsaktion grossen Ausmasses im Grossen Walsertal werden dringend weitere gut ausgerüstete berg- und schikundige Kräfte benötigt. Einsatz nur mit Schiern möglich. Lawinensonden, Fackeln, Taschenlampen, Schneeschaufeln und Proviant nach Möglichkeit mitnehmen. Die Rettungsmannschaften wollen sich möglichst rasch beim Gasthaus ‚Krone‘ in Ludesch einfinden, wo Einsatzbefehle erfolgen.“508

Die noch mehrmals wiederholten Aufrufe stießen offenbar auf große Resonanz. So war in den folgenden Tagen neben der Gendarmerie eine Vielzahl weiterer Gruppierungen an der Rettungsaktion beteiligt. Zu nennen sind hierbei etwa 500 Helfer, die sich aus den Mitgliedern des Verbandes Vorarlberger Skiläufer und des Österreichischen Alpenvereins rekrutierten, ferner mehrere Mannschaften des Vorarlberger Bergrettungsdienstes, diverse Feuerwehren, eine Abteilung der Zollwache, Rettungsmannschaften des Roten Kreuzes sowie zahlreiche Privatpersonen aus Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und dem deutschen Bodenseegebiet. Dem Abschlussbericht des Bezirkshauptmanns zufolge wurden „während der kritischen Tage insgesamt über 2000 freiwillige Helfer des In- und Auslandes in Richtung Blons in Marsch gesetzt“ 509. An der Rettungsaktion waren zudem aber auch zwölf Lawinensuchhunde beteiligt, die überaus hilfreiche Dienste leisteten und somit zahlreichen Verschütteten das Leben retteten. 510 Aufgrund der Schneemassen konnte man vorerst nur auf Skiern zu den betroffenen Gemeinden durchdringen. Dabei erwiesen sich sowohl der südliche Weg über Raggal als auch der nördliche Weg über Thüringerberg und St. Gerold als ausgesprochen mühsam. Die ersten auswärtigen Helfer erreichten Blons daher erst am späten Dienstagnachmittag. Ausgerüstet mit Sonden, Schaufeln und Lichtquellen unterstützten sie die einheimische Bevölkerung bei ihrer Suche nach den Vermissten. Ein Arzt, ausgestattet mit dringend bedurften Medikamenten und Verbandszeug, begann damit, die geborgenen Verletzten medizinisch zu

508 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 12.01.1954, um 14.05 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. 509 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Organisation des Katastropheneinsatzes im Bezirk Bludenz. Bludenz, 19.01.1954. 510 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Antrag der Vorarlberger Landesregierung auf Kenntnisnahme des Berichtes über die Maßnahmen zur Behebung der Schäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 23.07.1957.

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versorgen. Auf der Grundlage entsprechenden Expertenwissens – in Sachen Einsatzkoordination, Such- und Bergungsmöglichkeiten, Behandlungsmethoden etc. – konnte im soziomateriellen Verbund mit den Hilfsmaterialien eine erste Linderung der Lage erzielt werden. Die Suche, Bergung und Versorgung der Verschütteten wurde während der Nacht fortgesetzt. Weitere Rettungsmannschaften folgten. Abbildung 9: Zivile Rettungskräfte

Quelle: Pfarrei Blons

Da es zunächst noch keine Kommunikationskanäle zwischen den betroffenen Talgemeinden und der Rettungszentrale in Ludesch gegeben hat, begann sich das Ausmaß der Zerstörungen für die dortige Einsatzleitung erst im Laufe des Dienstagabends deutlicher abzuzeichnen. Nachdem der Bezirkshauptmann bereits erste Schilderungen eines aus St. Gerold eingetroffenen Gemeindesekretärs erhalten hatte, erfuhr der aktuelle Kenntnisstand eine weitere Konkretisierung als zwei eigens zur Lageerkundung abgesandte Beamte der Bezirkshauptmannschaft Bludenz am fortgeschrittenen Abend aus Blons zurückkehrten und von ihren Beobachtungen vor Ort berichteten.511 Nach diesen Berichten, so der Bezirks-

511 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Maschinenschriftlicher Lagebericht. Nicht datiert; VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Mitteilung des Landesamtsdirektors. Bregenz, 13.01.1954.

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hauptmann, „war die Katastrophenlage im Walsertal soweit geklärt, daß eine in unserem Lande noch nie dagewesene Lawinenkatastrophe feststand.“512 Nicht zuletzt aufgrund des sich abzeichnenden Ausmaßes der Katastrophe veranlasste Dr. Längle für Mitternacht ein Krisentreffen, an dem die Referenten und Abteilungsleiter der Bezirkshauptmannschaft sowie die aus einem Rettungseinsatz im Montafon abberufenen und inzwischen in Bludenz eingetroffenen Gendarmerieoffiziere teilnehmen sollten, um gemeinsam das weitere Vorgehen zu besprechen.513 Noch vor diesem Treffen galt es jedoch ein grundlegendes Problem zu lösen. So hatte sich herausgestellt, dass ein hinreichend schneller und ungefährlicher Abtransport der Verletzten angesichts der vorherrschenden Schneeverhältnisse auf dem bisher eingeschlagenen Weg nicht möglich war. Landesamtsdirektor Dr. Fritz Schneider machte diesbezüglich auf die Möglichkeit aufmerksam, die schlechte Verkehrsverbindung eventuell durch den Einsatz amerikanischer Hubschrauber aus der Luft überbrücken zu können.514 Der Bezirkshauptmann griff den Vorschlag auf und wandte sich mit einer entsprechenden Bitte zum einen an Captain Kraut, Offizier der amerikanischen Besatzungsmacht in Salzburg, 515 und zum anderen an den französischen Generalkonsul König in Innsbruck, der sich in dieser Sache wiederum mit dem amerikanischen General Arnold in Verbindung setzte. Der Bitte wurde in der Tat rasch stattgegeben, so dass die Verantwortlichen schließlich den Einsatz von fünf in Fürstenfeldbruck stationierten Helikoptern veranlassten.516 Neben dieser Absprache ergab sich derweil noch eine weitere aviatische Option. In Reaktion auf die Radioappelle dieses Tages meldete sich Dr. Rudolf Bucher, seines Zeichens Präsident der Schweizerischen Lebensrettungsgesellschaft, bei Bezirkshauptmann Dr. Längle und bot diesem an, die Rettungsaktion durch den Einsatz von Hubschraubern der Schweizerischen Rettungsflugwacht (SRFW) zu unterstützen. Zudem vermittelte er einen Kontakt zu Oberst Gerber, dem Vizedirektor der schweizerischen Militärflugplätze, woraus sich schließlich die Möglichkeit des Einsatzes von Aufklärungsflugzeugen ergab. Noch in derselben Nacht stellte die SRFW Personal, Lawinenhunde und Gerätschaften –

512 VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 64. 513 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Mitteilung des Landesamtsdirektors. Bregenz, 13.01.1954; VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 64. 514 Ebd., S. 65. 515 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Organisation des Katastropheneinsatzes im Bezirk Bludenz. Bludenz, 19.01.1954. 516 Vgl. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 65.

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Lawinensonden, kanadische Rettungsschlitten, Blutplasma, Vollblutkonserven, Operationsausrüstungen, Decken etc. – bereit, organisierte einen „Hiller 360“Helikopter und brachte für dessen Einsatz im Katastrophengebiet einen BenzinTankwagen mit 800 Liter Brennstoff über die Grenze nach Ludesch.517 Nach diesen Absprachen veranlasste die Bezirkshauptmannschaft Bludenz um 22 Uhr eine weitere Radiomeldung. In der – offenbar berechtigten –518 Hoffnung, dass einzelne Talbewohner über batteriebetriebene Geräte verfügten und damit trotz des Stromausfalls erreichbar waren, ließ man folgende Mitteilung an die Betroffenen senden: „Achtung, Achtung, Bewohner des Großen Walsertals! Die zuständigen Behörden sind in großen Zügen über die furchtbaren Lawinenkatastrophen, die Euer Tal betroffen haben, informiert. Es sind alle Maßnahmen getroffen, um Euch möglichst rasch Hilfe und Rettung zu bringen. Über 300 Hilfsmannschaften sind bereits seit heute Mittag unterwegs ins Tal. Weitere Helfer werden folgen. Wenn es die Witterungsverhältnisse zulassen, werden morgen Flugzeuge zur Rettung und Versorgung eingesetzt. Wenn Flugzeuge in Sicht kommen und Hilfe nötig ist, gebt mit farbigen Tüchern Zeichen.“ 519

Da die Witterungsverhältnisse – eines jener Elemente, die für den Einsatz so unverfügbar wie prägend waren – zunächst stabil blieben, startete am frühen Mittwochmorgen ein Erkundungsflugzeug vom schweizerischen Militärflugplatz in Dübendorf. Aus technisch vermittelter Distanz konnte hierbei ein erstes schematisches Gesamtbild der Lawinenschäden gewonnen und fotografisch festgehalten werden. Im Zuge dieses Erkundungsfluges wurden an vier Orten – in Blons, Sonntag, Fontanella und Buchboden – neben Lebensmitteln und Medikamenten auch Verbindungscodes abgeworfen, die eine vorläufige Verständigung mit den dortigen Personen ermöglichten: „Die Leute“, berichtete der Pilot später, „haben auf die Verbindungscodes sofort reagiert, mit Ausnahme von Buchboden, das

517 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Ein Helikopter der SWO im Einsatz bei der Lawinenkatastrophe in Vorarlberg. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von Dr. Bucher, Zentralpräsident der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft. Nicht datiert. 518 So habe sich später herausgestellt, dass der Radioaufruf etwa in Buchboden empfangen wurde und hierbei eine gewisse Beruhigung vermitteln konnte. Vgl. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 67. 519 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 12.01.1954, um 22.00 Uhr. Bludenz, 20.02.1954.

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wegen Zeitmangel jedoch rasch überflogen werden musste. An den übrigen Orten wurden auf Grund der Verbindungscodes Zeichen ausgelegt und Lebensmittel sowie Medikamente verlangt und Verletzte gemeldet.“ 520 Die Meldungen und Beobachtungen konnten unmittelbar nach der Landung telefonisch an den Bezirkshauptmann weitergeleitet werden. Zusammen mit den ebenfalls sehr rasch übermittelten Luftaufnahmen trugen sie entscheidend zur besseren Einschätzung der aktuellen Katastrophenlage und zur Konkretisierung der Einsatzplanungen bei. Zunächst startete ein zweites Flugzeug, das in Reaktion auf die codevermittelten Anforderungen der Talgemeinden weitere Lebensmittel, Medikamente und Wolldecken abwerfen sollte. Um 11.30 Uhr landete auch der oben genannte Schweizer Helikopter zum ersten Mal in Ludesch.521 Auf der Basis entsprechender Instruktionen von Seiten der zuständigen Koordinatoren flog der Pilot im Laufe des Tages sieben Einsätze und brachte hierbei neun schwerverletzte Personen zum improvisierten Flughafen in Ludesch, von wo aus sie per Krankenwagen in die umliegenden Kliniken weitertransportiert werden konnten. Ab 16 Uhr nachmittags wurde er durch einen amerikanischen Helikopter aus Fürstenfeldbruck unterstützt, der drei Ärzte sowie zwei weitere Lawinenhunde mit Hundeführern in die abgeschlossenen Talregionen flog. Gegen 17 Uhr mussten die Einsätze jedoch aufgrund der einbrechenden Dunkelheit wieder abgebrochen werden. In den folgenden Tagen wurden die beiden Maschinen durch vier weitere amerikanische Helikopter ergänzt. Ein zweiter schweizerischer Helikopter, der am Donnerstag mit zusätzlichen Rettungsmaterialien in Ludesch eintraf, musste indessen nicht mehr eingesetzt werden. Die Piloten flogen im Gesamten etwa 60 Einsätze, die in erster Linie den improvisierten, auf dem Grundstück des zerstörten Gasthauses „Schwarzer Adler“ errichteten Start- und Landeplatz in Blons anvisierten, daneben aber immer wieder auch die hinteren Talgemeinden zum Ziel hatten. Sie versorgten die Einheimischen und die Helfer vor Ort mit Lebensmitteln, Medikamenten, Bekleidungsstücken, Decken, Petroleum, Kerzen, Lampen und Fackeln. Zudem war es möglich, auf diesem Wege 24 verletzte Personen zu evakuieren. So konnte Bezirkshauptmann Dr. Längle nach einem erneuten Erkundungsflug über die betroffenen Gebiete am Samstag, dem 16. Janu-

520 VLA, Landesregierung Abt. Präsidium, Sch. 78: Aktenvermerk. Bregenz, 13.01.1954. 521 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Einsatzprotokoll des Flugplatzkommandos. Ludesch, 13.01.1954.

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ar, schließlich erklären, dass man vorerst keiner weiteren Hilfe aus der Luft mehr bedürfe.522 Abbildung 10: Landung des ersten Helikopters in Blons

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

In der Geschichte des österreichischen Bergrettungswesens hatte es einen solchen Flugeinsatz bis dahin noch nicht gegeben.523 Vor diesem Hintergrund war es überaus hilfreich, auf die infrastrukturell und organisatorisch institutionalisierten Erfahrungen der Schweizerischen Rettungsflugwacht zurückgreifen zu können – zumal die Piloten der amerikanischen Helikopter offenbar allesamt aus Texas stammten und daher durch die spezifischen, ihren bisherigen Gewohnheiten entgegenstehenden Flugbedingungen des alpinen Raums in besonderer Wei-

522 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Organisation des Katastropheneinsatzes im Bezirk Bludenz. Bludenz, 19.01.1954; VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Die Lawinenkatastrophe in Vorarlberg. Bewährung des Einsatzgeistes und der Einsatzmittel. Bericht des Sicherheitsdirektors Landesoberregierungsrat Dr. Johann Sternbach. 24.01.1954. 523 Vgl. Andreas Pecl: 50 Jahre danach – Lawinenkatastrophe in Vorarlberg im Winter 1953/1954. In: Land Vorarlberg (Hg.): Schnee und Lawinen in Vorarlberg. Winterbericht des Lawinenwarndienstes, Saison 2003/2004. Bregenz 2004, S. 25-31, hier S. 26.

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se herausgefordert waren.524 Vermittelt durch die beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure realisierte sich in diesem Rettungseinsatz somit vorübergehend ein transnationaler Wissenstransfer, der überaus produktive Folgen zeitigte. Wie bereits deutlich wurde, vollzogen sich die lindernden Effekte der Flugeinsätze auf verschiedenen Ebenen. Sie trugen Entscheidendes zur Produktion und Vermittlung des je aktuellen Katastrophenwissens bei und eröffneten durch ihre konkreten Hilfeleistungen – wie die Zufuhr von Experten, Rettungsmaterialien und Nahrungsmitteln – gangbare Optionen zur Bearbeitung zahlreicher problematischer Probleme. Hinzu kam aber auch eine ausgeprägte symbolische Wirkung, die wohl insbesondere im neuartigen, außergewöhnlichen Charakter des Einsatzes und in der vorausgegangenen Isolationserfahrung der Betroffenen begründet lag: „Für die Bewohner der abgeschlossenen Orte“, so der Bezirkshauptmann, „hatte schon das Erscheinen der schweizerischen und amerikanischen Flugzeuge an sich, wie mir inzwischen wiederholt bestätigt wurde, nach den Tagen des Unglücks und der Verlassenheit eine große Aufmunterung gebracht.“525 Als die Flugzeuge am Mittwochvormittag erstmals im Tal erschienen, waren auch vor Ort bereits rege Rettungsbemühungen im Gange. Seit Dienstagnachmittag hatten sich immer mehr Helfer auf den Weg nach Blons gemacht, so dass die Suche nach Vermissten und die Versorgung der Verwundeten durch eine beständig wachsende Anzahl neuer Kräfte zunehmend forciert werden konnte. Die Rettungsaktion war mittels mitgebrachter Fackeln auch während der Nacht fortgesetzt worden und begann sich nun – insbesondere durch das Eintreffen des Einsatzleiters Gerhard Kobbe – weiter zu professionalisieren. Letzterer ließ nach seiner Ankunft, die offenbar noch einige Zeit vor der Landung des ersten Hubschraubers erfolgt sein muss, folgenden Lagebericht an die zuständigen Stellen in Bludenz und Bregenz überbringen: „Bin mit Spitze in Blons angekommen. Veranlasse: Keine Mannschaften ohne Schaufel oder sonstige Ausrüstung mehr hereinlassen. Strasse ist für Handschlitten bis Blons passierbar, auch für Fussgänger. Abtransport der Verletzten bewegt sich mit Schlitten, von den Schwerverletzten sind gestern ein Kind und eine Frau gestorben. Fast alle Geborgenen sind schwer verletzt. Einige halten den Schlittentransport nicht aus da sterbend. Hubschrauber unbedingt hereindirigieren. Landeplatz mit Landekreuz fertig. Eintreffende Gruppen werden sofort zu Grabarbeiten eingesetzt. […] Lage relativ sicher. Viele untätige

524 VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 68. 525 Ebd., S. 68f.

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Neugierige hier. Hatte eben Auftritt mit Schweizern. Bitte um Ermächtigung zum brutalen Einschreiten. Bitte auch um Sperre der Strasse für Reporter und solche, die nicht arbeiten wollen.“526

Da sich bis zum späten Mittwochvormittag bereits an die 2000 Personen auf den Weg ins Tal gemacht hatten, nahm die Bezirkshauptmannschaft Bludenz diese Meldung schließlich zum Anlass, in einem weiteren Radioaufruf zu verbreiten, dass für den Rettungseinsatz vorerst keine zusätzlichen Kräfte mehr benötigt werden.527 Abbildung 11: Abtransport verletzter Lawinenopfer

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Major Kobbe errichtete sein lokales Hauptquartier im unversehrt gebliebenen Gebäude des Gendarmeriepostens, das zu dieser Zeit noch immer unbesetzt war, weil die beiden Blonser Gendarmen sich nach wie vor im hinteren Teil des Tales

526 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Meldung aus Bludenz, 13.30 Uhr. Bregenz, 13.01.1954. 527 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 13.01.1954, um 11.40 Uhr. Bludenz, 20.02.1954.

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befanden. Auf dem Kirchturm wurden Blinklaternen und der Sender eines Sprechfunkgerätes installiert, so dass schließlich wieder eine zeitnahe Kommunikationsverbindung mit der Zentrale in Ludesch – sowie mit den Orten Sonntag, Fontanella und Buchboden – hergestellt werden konnte. Neben gendarmerieeigenen Materialien kamen hierbei auch acht Geräte zur Anwendung, die von der französischen Besatzungstruppe in Lindau bereitgestellt worden waren. Durch den hilfreichen Einsatz dieser Aktanten wurde der technisch fortschrittliche Charakter der Rettungsaktion offenbar noch weiter unterstrichen: „Hier reichten sich also zwei moderne Einsatzmittel – Flugzeug und Funk – in erfolgreicher Weise die Hand.“528 Mit dem Eintreffen der bereits rettungserfahrenen Gendarmeriebeamten änderte sich die lokale Organisationsstruktur des Einsatzes. Kobbe sandte seine Mitarbeiter in Gruppen zu einzelnen Grabungspunkten, wo sie die Suchmannschaften leiten und durch gezielte Beobachtung der jeweiligen Verhältnisse vor weiteren Lawinenabgängen sichern sollten. So koordinierte er fortan die Zusammenarbeit der verschiedenen Einsatzkräfte und erließ Anweisungen bezüglich einer einzuhaltenden Prioritätenfolge der zu ergreifenden Maßnahmen. Dabei waren manche seiner Entscheidungen unter der Blonser Bevölkerung und einzelnen Helfern offenbar durchaus umstritten – was sich unter anderem dann zeigte, als er auf Empfehlung des Vorarlberger Lawinenwarndienstes am späten Mittwochabend den Befehl gab, die Suche nach Vermissten aufgrund massiver, durch einen plötzlichen Wetterumschwung bedingter Lawinengefahr vorübergehend einzustellen.529 Zu den zentralen lebenserhaltenden Aufgaben dieser ersten Tage gehörte neben der Suche, Bergung und Behandlung von verschütteten Menschen auch die Versorgung des Viehs. Eine Gruppe von etwa 60 Personen wurde eigens mit der Aufgabe betraut, sich der Bergung verschütteter Tiere anzunehmen. Zudem ist in den frühen Morgenstunden des 13. Januars ein zehnköpfiges „Metzgerkommando“ nach Blons aufgebrochen, um bei der Bergung zu helfen und schwerverletzte Tiere notzuschlachten. Die veterinärmedizinische Versorgung oblag den Herren Dr. Hehle aus Thüringerberg, Dr. Nigsch aus Bludenz sowie Dr. Fürst aus der Schweiz. Geleitet wurde der Einsatz durch den Bludenzer Amtstierarzt Dr. Kessler. Von den zahlreichen verschütteten Tieren konnten etwa 40 Rinder sowie einige Schweine und Ziegen noch lebend geborgen und in leerstehenden

528 VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 68. 529 Vgl. Wechsberg 1959, S. 251f.; N.N.: Blons. Rettungsarbeiten eingestellt. Neue Lawinengefahr im Walsertal. In: Weltpresse, 15.01.1954; N.N.: Lawinengefahr behinderte Bergung in Blons. In: Vorarlberger Nachrichten, 16.01.1954.

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Nebenstallungen versorgt werden.530 Am Mittwochabend galt es indessen auch diese Suchbemühungen zeitweilig zu unterbrechen. Abbildung 12: Suche nach Verschütteten

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Als die Arbeiten zur Rettung der verschütteten Tiere und Menschen am Donnerstagmittag wieder aufgenommen werden konnten, schien sich vor Ort bereits eine Übergangsordnung des Ausnahmezustands etabliert zu haben. Diese Übergangsordnung konstituierte sich im Zusammenwirken der beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure, war also geprägt durch das einsatzrelevante Wissen der Entscheidungsträger, durch die Bedürfnisse und Kompetenzen der einzelnen Hilfskräfte und Lawinensuchhunde, durch die räumlich-materiellen Gegebenheiten, durch die (inzwischen) verfügbaren Geräte – wie Helikopter, Sonden, Tragbahren, Schlitten, Medikamente etc. – sowie freilich insbesondere durch die aktuellen Dringlichkeiten des lawinenbedingten Problemkomplexes. Dergestalt strukturiert fand sie etwa in der Routinisierung von Grabungs-, Bergungs- und Behandlungsabläufen sowie in der zeitweiligen Umbesetzung des Raumes beziehungsweise der Umnutzung einzelner Gebäude zu einer konkreten Gestalt. Das Grundstück, auf dem ehedem der „Schwarze Adler“ stand, war zum Landeplatz für die Hubschrauber geworden, das Gasthaus „Krone“ hatte man zur Krankenstation gemacht, im Vorraum des Gemeindehauses war eine provisori530 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über veterinärpolizeiliche Maßnahmen sowie Tierverluste. Bludenz, 19.01.1954.

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sche Gemeinschaftsküche eingerichtet worden, die Stuben der unversehrten Häuser dienten als improvisierte Nachtlager für die Rettungskräfte, das Klassenzimmer der Volksschule wurde nun als Versammlungs- und Besprechungsraum genutzt, die Sennküche, der Kroneschuppen und die Kirche waren zu Totenkammern geworden. Fernab vertrauter Alltagsverhältnisse kristallisierten sich durch die gemeinsame Wiederholung situationsadäquater Handlungsvollzüge schon bald neue Regeln und Regelmäßigkeiten heraus, die vorübergehend zu einer orientierungsstiftenden Situationsstabilisierung führten. Abbildung 13: Routinen im Ausnahmezustand

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Die sich dergestalt konstituierende Übergangsordnung integrierte neben den Einsatzkräften auch einzelne Personen aus der Blonser Bevölkerung. Letzteren war es möglich, sich handelnd an der aktuellen Bewältigung des katastrophischen Problemkomplexes zu beteiligen. Sie halfen bei den Bergungsarbeiten, betreuten die Verwundeten, sorgten für Verpflegung, trugen dazu bei, den Dingen und Räumen neue Funktionen zuzuschreiben – und gestalteten dergestalt das Ordnungsgefüge des Ausnahmezustands mit. Während die physiopsychischen Ordnungsdispositionen dieser Akteure für den Moment in hinreichendem Maße mit den situativ relevanten Wirkmächten korrespondierten und sich somit vorerst als anschlussfähig erwiesen, fanden andere Teile der Bevölkerung offenbar keine Möglichkeit, durch entsprechende Handlungen den katastrophisch-anomischen

Rekonstruktion der Lawinenkatastrophe von Blons | 223

Grundzug ihrer aktuellen Lage zu überwinden. Das Ausmaß und die Umstände dieses Entzugs der Praxisoptionen sind im Detail nicht mehr zu rekonstruieren. Festgestellt aber werden kann, dass sich vor dem Hintergrund der damaligen Ereignisse ein – schließlich auch medial verbreiteter – Diskurs zu formieren begann, der großen Teilen der Blonser Bevölkerung eine problematische Apathie und Tatenlosigkeit zur Last legte.531 Im Rahmen der skizzierten Übergangsordnung wurden die Such- und Rettungsbemühungen noch bis zum 19. Januar fortgesetzt. Die eingesetzten Gendarmeriekräfte zog man indessen bereits am Abend des 16. Januars wieder ab – lediglich ihre Funker blieben noch bis zum 19. Januar vor Ort, da erst dann durch Telefon- und Telegraphentrupps der Post die herkömmlichen Kommunikationsverbindungen ins Große Walsertal wieder hergestellt werden konnten.532 Bis zuletzt machten sich immer wieder neue Helfer auf den Weg in die Gemeinde.533 Die letzte Rettungsmannschaft, bestehend aus 18 Mitarbeitern einer Sowjetischen Mineralölgesellschaft mit Sitz in Wien, wurde am 18. Januar nach Blons entsendet, dort noch einen Tag lang für die Suche nach Vermissten eingesetzt und daraufhin zu anderen Arbeiten und Sicherungsmaßnahmen abberufen.534 Mit dem Abbruch der Vermisstensuche endete die Phase der postkatastrophischen Erstreaktion. Sie war geprägt durch die Beteiligung zahlreicher Privatpersonen, die sich zum ersten Mal mit einer solchen Lage konfrontiert sahen. Doch auch auf institutioneller Ebene konnten angesichts des Übermaßes an Zerstörung zunächst nur wenige Routinen reproduziert werden. Die Reaktion verlief also nicht in den Bahnen eingeübter Verfahren, deren Deeskalationsstrategie darin besteht, bedrohlichen Situationen im Modus der Normalität zu begegnen, „indem

531 Vgl. hierzu etwa Wechsberg 1959, S. 239f. sowie S. 247-250; VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Auszugsweise Abschrift eines Situationsberichts des Gendarmeriepostenkommandos Blons vom 21.02.1954. Nicht datiert. 532 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Vorarlberger Landes-Korrespondenz Nr. 12. Herausgegeben vom Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 20.01.1954. 533 Nachdem am Donnerstag, dem 16.01., noch weitere Überlebende geborgen werden konnten, wurden durch einen erneuten Radioaufruf nochmals zusätzliche Hilfskräfte mobilisiert. Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 14.01.1954, um 16.53 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. 534 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Präsidium, Sch. 78: Aktenvermerk des Landesamtsdirektors. Bregenz, 18.01.1954.

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die durch Wiederholung (des Erlernten, Trainierten) habitualisierte Sicherheit auch im Notfall wiederholt wird und ihn so durch sichere Routine respektive routinierte Sicherheit bewältigt.“535 Auch wenn es somit auf sämtlichen Ebenen des Einsatzes immer wieder zu improvisieren galt, gelang es letztlich aber doch, zeitnah mit den drängendsten Herausforderungen des problematischen Problemkomplexes umzugehen. Inklusive jenen Personen, die sich aus eigenen Kräften befreit haben, so die abschließende Bilanz der lebenserhaltenden Rettungsbemühungen, konnten von den 119 Verschütteten im Gesamten 117 Personen geborgen werden. 39 der Verschütteten blieben vollkommen unverletzt, sieben weitere trugen leichte Verletzungen davon. 25 Personen waren zum Zeitpunkt ihrer Bergung schwerverletzt, zehn von ihnen so schwer, dass sie ihren Verletzungen schließlich erlagen. 45 Lawinenopfer konnten nur noch tot geborgen werden, zwei Personen blieben bis zuletzt vermisst.536 Den Aufzeichnungen des damaligen Gemeindepfarrers zufolge fand man die letzte noch lebende Person am Donnerstag, den 14. Januar, – nach 62 Stunden unter dem Schnee.537 3.2 Rekonstruktion der postkatastrophischen Rekreation Nach den bisher rekonstruierten Prozessen der unmittelbaren Reaktion, also jener kurzfristigen Maßnahmen, die vorrangig der Lebenserhaltung dienten, gilt es nun den Komplex der langandauernden – ja in mancher Hinsicht unabschließbaren – postkatastrophischen Rekreation in den Blick zu nehmen. „Rekreation“ zielt dabei nicht in erster Linie auf Vorgänge existentieller Erholung, sondern meint zunächst vor allem die Wiedergestaltung zerstörter Elemente des lokalen Ordnungsgefüges. Entgegen dem aktiv-intentionalen Anklang der so gelesenen Vokabel, werden darunter neben geplanten oder bewusst regulierten Operationen freilich auch nichtintendierte sowie nichtintendiert intendierte beziehungsweise unbewusst strategische Gestaltungsvorgänge verstanden. Es geht um die Rekonstruktion grundlegender Rekonfigurationsprozesse, in deren Vollzug sich die – positionsspezifisch gebrochenen – Möglichkeitsräume der postkatastrophischen Lebenswelten herausbildeten. Die Gliederung des Teilkapitels folgt weiterhin

535 Wolf R. Dombrowsky: Der Mensch als Risiko – oder: Geht alle Gefahr vom Volke aus? In: Leon Hempel/Marie Bartels/Thomas Markwart (Hg.): Aufbruch ins Unversicherbare. Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart. Bielefeld 2013, S. 29-52, hier S. 31. 536 Vgl. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 81. 537 PAB: Pfarrchronik Blons: Die Lawinenkatastrophe vom 11. Januar 1954. Auflistung der Lawinenopfer und -schäden. Nicht datiert.

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den begrifflich-analytischen Unterscheidungen unseres oben entwickelten katastrophologischen Operationalisierungsvorschlags, so dass bei allen faktischen Interdependenzen die materiellen, sozialen und semantischen Aspekte dieser Prozesse in gesonderten Abschnitten beleuchtet werden. Aus je eigener Perspektive gilt es die Phase der postkatastrophischen Rekreation im Folgenden also drei Mal zu durchschreiten. 3.2.1 Materielle Aspekte Im ersten Durchgang verfolgen wir das Ziel, die Rematerialisierung des Blonser Ordnungsgefüges zu rekonstruieren.538 Der Weg aus der katastrophischen Situationsgebundenheit in neue, postkatastrophische Alltagsformationen soll hierbei vermittels einer Fokussierung der lebensweltrelevanten Dinge und Sachen nachvollzogen werden. Soweit es die Quellenlage erlaubt, wenden wir uns zunächst den initiierten Räumungsarbeiten zu, beleuchten dann die Rematerialisierung des privaten Raums – von den Wohnhäusern bis zu den Alltagsdingen – und thematisieren daraufhin die Rematerialisierung des öffentlichen Raums. Die immunologischen und memorialkulturellen Zusammenhänge dieser Prozesse sind dabei in einem je eigenen Abschnitt zu behandeln. Wenn im Folgenden somit der Frage nachgegangen wird, wie sich die materielle Umwelt der betroffenen Akteure im Zuge des Verarbeitungsprozesses sukzessive verändert hat, soll dabei nach Möglichkeit immer wieder auch auf die spezifischen Bedingungen und Effekte dieser Veränderungen eingegangen werden: Welche praxisvermittelten Wissensund Machtkonstellationen schlugen sich in ihnen nieder? Welche Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsräume wurden durch sie eröffnet und stabilisiert? Waren die Rettungsbemühungen der Erstreaktion vornehmlich durch den somatischen Aspekt der Lebenserhaltung strukturiert, so rückten nach deren Beendigung zahlreiche weitere Herausforderungen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Zu diesen Herausforderungen gehörte etwa die Frage, wie sich die notwendige Räumung des verwüsteten Gemeindegebiets organisieren ließe. Aufgrund

538 Vgl. hierzu auch Sandro Ratt: Blons 1954. Überlegungen zu einem soziomateriellen Extremereignis. In: Karl Braun/Claus-Marco Dieterich/Angela Treiber (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse, Dinge, Praktiken. Würzburg 2015, S. 452-458. Zum Verhältnis Katastrophe/Materialität vgl. auch Jan Hinrichsen: Evidenz und Unsicherheit. Zur materiellen Kultur der Katastrophe. In: Karl Braun/Claus-Marco Dieterich/Angela Treiber (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse, Dinge, Praktiken. Würzburg 2015, S. 444-451; Günther Prechter: Materialität. In: Jan Hinrichsen/Reinhard Johler/Sandro Ratt (Hg.): Katastrophen/Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt. Tübingen 2018, S. 91-103 (im Erscheinen).

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der lawinenbedingten Zerstörungen glich dieses in großen Teilen einem Trümmerfeld aus entwurzelten Bäumen, geborstenen Brettern, Hausrat, landwirtschaftlichem Gerät, Heu und Tierkadavern. Von den zahlreichen nichtmenschlichen Akteuren, mit denen man hier ehedem in differenzierten Wechselbezügen koexistierte, zeugten vielfach nur noch deformierte Relikte. Abbildung 14: Die zerstörte Sennerei

Quelle: Pfarrei Blons

Insbesondere die Frage nach dem Umgang mit den verendeten Tieren stellte ein drängendes Problem dar. Aufgrund der Schneeverhältnisse konnten sie nicht ohne weiteres geborgen und abtransportiert werden, zugleich stieg aber mit fortschreitender Verwesung die Seuchengefahr. Zuerst versuchte man daher, die Kadaver mittels phosphorbetriebener Flammenwerfer zu verbrennen – ein Verfahren, das bereits einige Jahre zuvor bei Hochwasserkatastrophen in Oberitalien angewendet worden war.539 Da sich diese Methode unter den gegebenen Bedingungen jedoch nicht bewährte, musste ein anderer Weg gefunden werden. Schließlich erklärte sich eine Tierkörperverwertungsanstalt aus dem oberschwäbischen Allgäu dazu bereit, die verbliebenen Kadaver abzutransportieren.540 „So 539 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk des Landesamtsdirektors. Bregenz, 16.01.1954. 540 Vgl. N.N.: Tierkadaver werden ins Allgäu geschafft. In: Vorarlberger Nachrichten, 29.01.1954.

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fanden“, wie Dobler formuliert, „Fleiß und Freude des Walserbauern im ‚Fleischmehl‘ ein jähes Ende.“541 Auch bezüglich der zerstörten Häuser und Dinge erwies sich die Räumung des Gemeindegebiets als eine überaus herausfordernde Aufgabe. Zunächst wurde indessen davon ausgegangen, dass die damit verbundenen Arbeiten von der Blonser Bevölkerung selbst bewerkstelligt werden könnten. Dies jedenfalls lässt eine Verlautbarung vermuten, die auf Weisung des Bezirkshauptmanns am Sonntag, dem 17. Januar, im Anschluss an den Hauptgottesdienstes auf dem Blonser Kirchplatz vorgelesen wurde. So hieß es dort in leise ermahnendem Tonfall: „Die Bergungsarbeiten, die bisher von den vielen auswärtigen Helfern, insbesondere von der Gendarmerie mit wenigen Einheimischen geleistet wurden, werden voraussichtlich am Dienstag soweit die auswärtigen Helfer in Frage kommen, abgeschlossen werden. Das bedeutet, dass die viele Arbeit, die noch zu leisten ist, von den Einheimischen selbst gemeinsam getan werden muss.“542

Es folgten detaillierte Instruktionen bezüglich des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Geräten, die Verkündung der Aussetzung einer Prämie von 20 Schillingen für jeden freigelegten Tierkadaver sowie ein Gewissensappell hinsichtlich der rechtmäßigen Rückgabe von gefundenem Bergungsgut. Laut eines „Situationsberichts“ des Gendarmeriepostenkommandos Blons hatte sich die Lage bis Ende Februar jedoch kaum verändert: „Mit den Aufräumungsarbeiten wurde bisher nicht begonnen. Einige der Betroffenen haben in der letzten Zeit angefangen, nach verlorenen Sachen zu suchen, der Grossteil scheint jedoch abzuwarten, bis freiwillige Helfer eintreffen.“543 Offenbar waren für viele der Betroffenen, sofern sie überhaupt vor Ort bleiben konnten, vorerst andere Dinge relevant. Da sich also zeigte, dass die Beseitigung der Schuttmassen von den Einheimischen alleine nicht bewältigt wurde – und wohl auch nicht hätte bewältigt werden können –, organisierte die Agrarbezirksbehörde schließlich eine groß angelegte Räumungsaktion, die trotz reger Beteiligung verschiedenster Einsatzkräfte einen Zeitraum von mehreren Monaten in Anspruch nehmen sollte.

541 Dobler 2008, S. 192. 542 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Verlautbarung des Bezirkshauptmanns. Blons, 17.01.1954. 543 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Auszugsweise Abschrift eines Situationsberichts des Gendarmeriepostenkommandos Blons vom 21.02.1954. Nicht datiert, S. 1.

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Die Räumung des verschütteten Flussbetts der Lutz erfolgte vor allem durch Mitarbeiter der Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz. Zur Räumung des Blonser Gemeindegebiets entsandte die Agrarbezirksbehörde zunächst ebenfalls bezahlte Bergungs- und Aufräumkolonnen. Letztere wurden mit der Zeit jedoch durch zahlreiche unbezahlte Kräfte verschiedenster Herkunft ergänzt. Im Einsatz waren dabei Helfer der Freiwilligen Feuerwehren, des Bergrettungsdienstes, der Bregenzer Gendarmerieschule, der Österreichischen Pfadfinder, der Katholischen Arbeiterjugend, des Jugendrotkreuzes Österreichs und Dänemarks sowie des Internationalen Zivildienstes; ferner eine Gruppe Studierender der Universität Leipzig, Schüler mehrerer Vorarlberger Schulen, Mitarbeiter verschiedener regionaler Firmen und einige Privatpersonen – freiwillige Helfer, die in Blons und Sonntag 1954 zusammen 28.306 Arbeitsstunden geleistet haben.544 Um die vielen Helfer unterbringen und verpflegen zu können, wurde von der Agrarbezirksbehörde die Errichtung eines lokalen Einsatzlagers auf den Weg gebracht. Das Einsatzlager bestand aus einer Küchen- und einer Wohnbaracke, die man im Areal unterhalb der Blonser Kirche aufbaute. Ab dem 1. April 1954 konnten die zügig erstellten Baracken bereits genutzt und bezogen werden. Sie wurden bis zum 14. Dezember 1955 geführt, beherbergten dabei aber nicht nur freiwillige Helfer, sondern – nach Abschluss der Räumungsarbeiten – zeitweilig auch einheimische Totalgeschädigte, und standen in den letzten Monaten schließlich vor allem den zahlreichen in Blons beschäftigten Bauarbeitern zur Verfügung. Vom konkreten Ablauf der einzelnen Aufräumarbeiten zeugt ein Bericht der Leiterin des Zivildiensteinsatzes, Dr. Edith Pribik, die im Frühjahr 1954, kurz nach der Eröffnung des Einsatzlagers, drei Wochen lang vor Ort war: „Die Arbeit ist nicht leicht: die Hänge sind übersät mit Bäumen, Balken und Brettern, Häusertrümmern und zerbrochenem Hausrat. Das nasse Wetter erschwert die Arbeit. Die steilen Wiesen werden glatt und rutschig. Zuerst wird alles zusammengetragen und dann mit Schlitten und Seilwinden zur Strasse transportiert. Zerstörte Häuser werden aufgeräumt. […] Das Holz wird aussortiert und aufgeschichtet. Bettzeug, Matratzen und Wollsachen werden mit Heugabeln zusammengetragen und verbrannt. Die Mädchen – wir sind im Ganzen vier – arbeiten im Haushalt, am Gemeindeamt und gehen ‚Glaspflücken‘ […],

544 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Förderungsmaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957. Eine nur auf Blons bezogene Angabe liegt uns nicht vor.

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man nimmt einen Kübel, begibt sich auf den nächsten Hang und beginnt, ihn systematisch nach Glasscherben und Nägeln abzusuchen“.545

Aus einem zweiten Bericht Pribiks, der sich auf einen weiteren Einsatz des Internationalen Zivildienstes vom 3. Juli bis zum 11. September 1954 bezieht, geht hervor, dass die Tätigkeiten der Helfer inzwischen um weitere Aufgaben ergänzt worden waren. Konstant blieb dabei indessen die geschlechtsspezifische Differenzierung der Arbeit: „Noch immer gab es Trümmer zu räumen, Ruinen abzubrechen. Notscheunen für das Heu wurden errichtet, Wege wiederinstandgesetzt oder verbessert. Am Berghang wurden Schneedruckgräben angelegt, die – aufgeforstet – das Gleiten der Schneemassen verhindern sollen. Durch den grossen Ausfall an Arbeitskräften war die Mithilfe beim Heuen eine willkommene Entlastung für die Bauern. Weitere Arbeiten waren: Materialtransport, Erdarbeiten an der Seilbahn, Hilfe beim Hausbau, Zuschütten von Entwässerungsgräben, Bachregulierung. Den Frauen oblag die Reinigung der Schlafräume und Essbaracke, die Wäsche der IZDGruppe und die Mitarbeit in der Küche. Entgegen dem Frühjahrseinsatz arbeiteten die weiblichen Freiwilligen auch jederzeit am Projekt selbst mit. An Regentagen wurden Strümpfe für kinderreiche Familien gestrickt und Socken gestopft. Mithilfe in einigen bäuerlichen Haushalten. Eine Freiwillige arbeitete zeitweise in der Gemeindekanzlei.“546

Folgt man den Darstellungen dieses Berichtes, so konnte bis zum Juli 1954 ein Großteil der Räumungsarbeiten abgeschlossen und mit dem Wiederaufbau der Gemeinde begonnen werden. Wenn wir den Rekonstruktionsprozess im Folgenden näher in den Blick nehmen, so stellt sich dabei die Frage, welche Faktorenkonstellationen hierbei prägend waren und sich auf diesem Wege in der materiellen Gestalt des postkatastrophischen Ordnungsgefüges objektivierten. Auch in diesem Zusammenhang liegt der Fokus also nicht nur auf den konkreten Vorgängen vor Ort. Vielmehr gilt es insbesondere jene überregionalen Schaltstellen mit ins Bild zu nehmen, die den lokalen Rematerialisierungsprozess kraft ihrer institutionalisierten Entscheidungs- und Wirkungsbefugnisse gouvernemental regulierten. „Disasters“, so Martin Sökefeld, „often provide situations in which the expansion of govern-

545 VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Drei Wochen im Lawineneinsatz. Wien, Juni 1954. 546 VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Schlussbericht des Lagers in Blons. Wien, 30.11.1954.

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mentality accelerates and the state advances into areas of life which before had not been under its purview and control.“547 Inwiefern sich eine solche Expansion auch in Blons vollzogen hat, ist in den nachstehenden Abschnitten zu rekonstruieren. Geleitet werden die Ausführungen dabei von den oben formulierten Überlegungen zur handlungsbedingten und -bedingenden, raumkonstituierenden Wirkung des Materiellen. Die Räumlichkeit des postkatastrophischen Lebensvollzugs ist somit „als kulturell gestaltete Materialität zu verstehen, die zugleich bestimmte Praktiken ermöglicht und andere ausschließt.“548 Nach Beendigung der ersten Rettungsmaßnahmen übertrug die Vorarlberger Landesregierung der Agrarbezirksbehörde die Aufgabe der Vorbereitung, Organisation und Überwachung des Wiederaufbaus.549 In ihrer Sitzung vom 26. Januar 1954 hat sie zudem beschlossen, ein „Wiederaufbaukomitee“ unter dem Vorsitz von Landesrat Adolf Vögele zu bestellen.550 Außer dem Vorsitzenden wurden durch diesen Beschluss der Leiter der Agrarbezirksbehörde, der bautechnische Sachbearbeiter der Landwirtschaftskammer, ein Vertreter des Hochbauamts sowie die Bürgermeister der betroffenen Gemeinden als ständige Mitglieder des Wiederaufbaukomitees ernannt.551 Zudem sollten im Rahmen der einzelnen Sitzungen je nach fallspezifischem Expertenbedarf aber auch entsprechende Akteure anderer relevanter Dienststellen zu Rate gezogen werden.552 So nahmen an den Zusammenkünften neben den soeben genannten festen Mitgliedern schließlich auch Vertreter der Wildbach- und Lawinenverbauung, der technischen Ab-

547 Sökefeld 2012, S. 7. 548 Andreas Reckwitz: Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien. In: Ders.: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2006, S. 705-728, hier S. 716. 549 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Förderungsmaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957. 550 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Schreiben des Amtes der Vorarlberger Landesregierung an alle Gruppen, Abteilungen und angeschlossenen Dienststellen im Hause. Betrifft: Bestellung eines Wiederaufbaukomitees für die lawinengeschädigten Gemeinden. Bregenz, 26.01.1954. 551 Vgl. ebd. 552 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk über die konstituierende Sitzung des Wiederaufbaukomitees. Bregenz, 29.01.1954.

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teilungen des Amtes der Landesregierung sowie der Bezirkshauptmannschaft Bludenz teil.553 Die zentrale Aufgabe des Komitees bestand darin, die verschiedenen Prozesse des Wiederaufbaus zielführend zu koordinieren. Es hatte dabei indessen keine exekutiven Befugnisse, sondern nur beratende Funktionen. In drei Sitzungen besprach man die allgemeinen Richtlinien des Wiederaufbaus und legte der Vorarlberger Landesregierung einzelne Maßnahmenoptionen zur endgültigen Beschlussfassung vor. Der diffuse katastrophische Problemkomplex wurde im Zuge dieser Besprechungen auf eine spezifische Weise expliziert, dabei gleichsam geordnet und in ein übersichtliches Tableau konkreter Aufgaben überführt: Räumung, Schadenserhebung, Regelung der pekuniären Unterstützung, Erstellung einer Sicherheitstopologie, strukturelle Planung, architektonische Gestaltung der neuen Gebäude etc. Neben dieser diskursiven Aufgabenerschließung, die das Erschlossene im Lichte seiner technischen Bearbeitbarkeit zum Vorschein brachte, resultierte aus den Debatten eine spezifizierende Klärung von Zuständigkeitsbereichen. Es wurde besprochen, welche Dienststellen die umrissenen Aufgaben zu bewältigen und zu verwalten hatten. Ferner einigte man sich aber auch auf grundsätzliche Leitlinien – „Hilfe zur Selbsthilfe“, „der Abwanderung keinen Vorschub leisten“ –, die als präfigurierende Grundsätze das Feld der jeweiligen Einzelentscheidungen strukturierten und somit den Gesamtcharakter der Wiederaufbauorganisation nachhaltig beeinflussten.554 Geprägt waren die Planungsarbeiten – und damit letztlich auch die Gestalt des Wiederaufbaus – freilich insbesondere durch finanziell begründete Möglichkeiten und Grenzen des Agierens. Nachdem der Nationalrat bereits im Februar beschlossen hatte, dass zur Behebung der lawinenbedingten Gebäudeschäden aus Bundesmitteln ein Zuschuss im Höchstmaß der vom Land Vorarlberg aufgewendeten Beträge zu gewähren sei,555 legte die Vorarlberger Landesregierung in ihrer Sitzung vom 23. März 1954 die – zuvor vom Wiederaufbaukomitee disku-

553 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Förderungsmaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957. 554 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk über die konstituierende Sitzung des Wiederaufbaukomitees. Bregenz, 29.01.1954. 555 Vgl. Bundesgesetz vom 10.02.1954, betreffend die Gewährung eines Bundeszuschusses zur Förderung der Behebung von Lawinenschäden. In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1954, 10. Stück, ausgegeben am 12.03.1954, S. 346. URL: http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1954_42_0/1954_42_ 0.pdf (15.03.2018).

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tierten –556 Richtsätze zur Berechnung der Aufbaubeihilfen fest. Diesen Beschlüssen zufolge sollte den betroffenen Personen zur Erhaltung ihrer Existenzgrundlage eine umfassende Unterstützung aus Bundes- und Landesmitteln zukommen, so dass der Wiederaufbau zerstörter Gebäude im Rahmen nachstehender Prozentsätze gefördert werden konnte: Wohn- und Wirtschaftsgebäude zu 70-90%, Maisäße und Berggüter zu 60-90%, gewerbliche Betriebsobjekte, sofern sie die alleinige Existenzgrundlage bilden, zu 70-90%, Alpgebäude zu 4070%, genossenschaftliche Betriebsobjekte zu 70-90%, sonstige landwirtschaftliche Objekte zu 0-40%. Den je konkreten Prozentsatz innerhalb dieser Spielräume habe man in Abhängigkeit der vorherrschenden Familien-, Vermögens- und Wirtschaftsverhältnisse festzusetzen.557 Die genannten prozentualen Beitragsanteile bezogen sich freilich nicht auf vollkommen frei zu wählende Formen der Gebäudegestaltung. Vielmehr legten die Richtlinien neben den Prozentsätzen auch Kostenvorgaben fest, die der jeweiligen Beitragsbemessung zugrundezulegen waren: „a) Bei Wohnhäusern die Kosten für den Wiederaufbau im Ausmass und im Ausbau des zerstörten Objektes. Lassen sich hieraus die Baukosten nicht mehr bestimmen, werden für ein Wohnhaus mindestens die folgenden Bauaufwände anerkannt: Verbaute Fläche bis zu 90 m²; 2 Kellerräume mit 30-40 m²; im Erdgeschoss eine Wohnküche von 15-20 m²; eine Stube von 18-20 m²; ein Schlafzimmer von 16 m²; Vorraum mit Stiegenhaus, Trockenabort mit darunter liegender Abortgrube; im Obergeschoss 2 Zimmer von je 15-20 m² ausgebaut; der Dachboden nicht ausgebaut. b) Bei Wirtschaftsgebäuden die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Wirtschaftserfordernis des zum Gebäude gehörenden Grundbesitzes (Betriebsgröße). […] c) Bei Gebäuden, die nach dem Gutachten des zuständigen Organes der Wildbach- und Lawinenverbauung eines örtlichen Lawinenschutzes bedürfen, werden die Kosten hierfür der Bemessungsgrundlage zugerechnet, höchstens aber die Kosten der vom Wiederaufbaukomitee befürworteten und vorgeschlagenen Bautype für Lawinenschutz.“ 558

556 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk über die am 15.03.1954 stattgefundene zweite Sitzung des Wiederaufbaukomitees. Bregenz, 18.03.1954. 557 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Richtlinien für die Gewährung von Beihilfen aus Bundes- und Landesmitteln zur Behebung der durch Lawinen im Jänner 1954 entstandenen Gebäudeschäden. Beschluss der Vorarlberger Landesregierung vom 23. März 1954. Bregenz, 25.03.1954. 558 Ebd., S. 3.

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Außer diesen konkreten Prozentsätzen und Bemessungsgrundlagen wurden im Rahmen der Richtlinien aber auch einige allgemeine Bedingungen der Gewährung einer Wiederaufbaubeihilfe festgelegt. So musste man sich im Falle der Inanspruchnahme einer solchen finanziellen Unterstützung dazu verpflichten, das entsprechende Gebäude selbst zu bewirtschaften. Zudem war das jeweilige Objekt nach der Rohbauerstellung unverzüglich gegen Brandschaden zu versichern. Ferner hätte man den erhaltenen Betrag ganz oder teilweise zurückerstatten müssen, sofern das Gebäude innerhalb von zehn Jahren nach der Wiedererrichtung verkauft worden wäre. Es folgten weitere Vorgaben in Sachen Antragsformalitäten sowie detaillierte technische Bestimmungen und Empfehlungen. Letztere umfassten Auflagen bezüglich der zu verwendenden Baustoffe und des zu investierenden Bauaufwands, baukonstruktive Vorgaben – vor allem hinsichtlich der architektonischen Prävention künftiger Lawinenschäden – und schließlich verschiedene organisatorische Hinweise, aus denen hervorging, in welcher Form die einzelnen Bauaufträge vom jeweiligen Bauherrn vergeben werden sollten.559 Mit den „Richtlinien für die Gewährung von Beihilfen aus Bundes- und Landesmitteln zur Behebung der durch Lawinen im Jänner 1954 entstandenen Gebäudeschäden“ wurde somit ein Schlüsseldokument des postkatastrophischen Wiederaufbaus verfasst. Das achtseitige Papier liest sich wie eine Partitur der zukünftigen Raumverhältnisse, ein Skript voller Vorgaben und Empfehlungen, die aufgrund juristischer Bindungen, monetärer Anreize und moralischer Verpflichtungen hohe Realisierungspotentiale aufwiesen. Was als Expertenwissen in diese Richtlinien eingegangen war, tendierte durch die dergestalt aufgeladene Wirkmacht zu einer – mehrfach vermittelten – materiellen Kristallisation in den betroffenen Gemeindegebieten. War das Bauen vor Ort bei allen baupolizeilichen Bestimmungen bisher vornehmlich durch traditionale Gepflogenheiten strukturiert, so erfolgten nun massive Zugriffe der Moderne. Nach dem Erlass dieser Richtlinien galt es die Geschädigten über die festgelegten Bedingungen und Möglichkeiten der Wiederaufbauförderung zu unterrichten. Im Rahmen mehrerer Amtstage, die von der Agrarbezirksbehörde in den jeweiligen Gemeinden vor Ort abgehalten wurden, konnten die Betroffenen ihre Vorstellungen zum Ausdruck bringen und sich über die Details der Förderoptionen informieren. Zugleich erfolgten durch beauftragte Sachverständige erste Schadenserhebungen, deren Ergebnisse den künftigen Beitragsbemessungen als Grundlage dienen sollten.560 Wer nun einen Antrag auf Gewährung einer Wie-

559 Ebd., S. 4-8. 560 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Lawinenschadenserhebungen der Agrarbezirksbehörde. Bregenz, 26.04.1954.

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deraufbauhilfe stellen wollte, musste diesen unter Verwendung eines entsprechenden Formblatts samt Baubescheid, Bauausführungsplänen und Kostenvoranschlägen bis zum 30. September 1954 bei der Agrarbezirksbehörde einreichen. Die von der Agrarbezirksbehörde geprüften und entscheidungsreif fertiggestellten Ansuchen waren daraufhin an die Vorarlberger Landesregierung weiterzuleiten, wo über ihren Erfolg entschieden und die jeweilige Bemessungsgrundlage, der Beitragsprozentsatz sowie die Höchstsumme des Zuschusses festgelegt wurden. Im Gesamten sind schließlich 727 Anträge bei der Agrarbezirksbehörde eingegangen. Nach deren Prüfung wurde 602 Geschädigten – für 639 Gebäudeschäden – eine Beihilfe zum Wiederaufbau, zur Reparatur und/oder zur Beschaffung von Ersatzobjekten bewilligt. Die dergestalt genehmigten Beihilfen beliefen sich zusammen auf 35.251.669 S und wurden in etwa zu je einem Drittel durch Bundesgelder, durch Landesgelder sowie durch Spenden gedeckt.561 Zwar oblagen die konkrete Planung und Durchführung des geförderten Wiederaufbaus den einzelnen Bauherren, doch waren diese, wie bereits festgestellt, in ihren Entscheidungen letztlich an zahlreiche Regularien gebunden: „Werden für ein Vorhaben Beihilfen in Anspruch genommen und gewährt, so müssen sich in allen in Durchführung des Vorhabens zwischen Bauherrn, Zivilingenieuren, Architekten und Unternehmen abzuschliessenden Verträgen die Vertragsteile verpflichten, die Beachtung dieser Richtlinien als wesentlichen Vertragsbestandteil anzuerkennen.“562 Vor diesem Hintergrund war es offenbar für viele Bauherren naheliegend, das Angebot entsprechender Musterlösungen anzunehmen. Zum einen wurden von der Bauabteilung der Landwirtschaftskammer im Auftrag des Wiederaufbaukomitees detaillierte „Typenpläne“ ausgearbeitet, die in ihrer Gestaltung bereits an den beschlossenen Richtlinien orientiert waren. Zum anderen war die Vorarlberger Architektenvereinigung dazu bereit, die Aufgaben der Bauplanung, Bauleitung und Bauausführung in Form eines Pauschalangebots zu übernehmen. Da sich die beauftragten Architekten dabei „im wesentlichen

561 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Förderungsmaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957, S. 10-12. 562 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Richtlinien für die Gewährung von Beihilfen aus Bundes- und Landesmitteln zur Behebung der durch Lawinen im Jänner 1954 entstandenen Gebäudeschäden. Beschluss der Vorarlberger Landesregierung vom 23. März 1954. Bregenz, 25.03.1954, S. 5f.

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ziemlich streng an die […] erstellten Typen gehalten [haben]“563, verlief der Wiederaufbau zerstörter Gebäude trotz aller zugestandenen Freiheiten vielerorts in weitgehend präformierten Bahnen. Abbildung 15: Wiederaufbau

Quelle: Pfarrei Blons

Wenngleich man sich auch in Blons an diesen Vorgaben zu orientieren hatte, konnten die Bauherren bei deren Umsetzung aber offenbar doch auch manche Modifikationen erwirken. Den Ausführungen Doblers zufolge hatten sich diese Abweichungen insbesondere deshalb ergeben, weil die Wohnraumvorgaben der Typenpläne für größere Familien nicht ausgereicht hätten. Ferner sei auch die vorgesehene Größe der Vorratsräume für Heu und Streu zu knapp bemessen gewesen, um den Ausfall der Nebenställe und die Vergrößerung der Nutzflächen in hinreichendem Maße auffangen zu können. Da in einigen Fällen also größer gebaut werden musste als in den Planungen vorgesehen war, haben sich Differenzen zwischen dem bewilligten Förderbetrag und den tatsächlichen Baukosten ergeben, die zum Teil durch Nachgenehmigungen der Agrarbezirksbehörde wieder

563 Ulrich Fehle: Ein Jahr nach der Lawinenkatastrophe und der Wiederaufbau im Großen Walsertal. In: Mitteilungen der Landwirtschaftskammer für Vorarlberg 21 (1955), Heft 2, S. 56-60, hier S. 59.

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ausgeglichen wurden, zum Teil aber auch vom jeweiligen Bauherrn selbst getragen werden mussten.564 Die gouvernementale Organisation des Wiederaufbaus umfasste neben finanziellen und bautechnischen Aspekten auch grundstücksbezogene Regulierungen. Da die ökonomische Rentabilität der wieder zu errichtenden Höfe eng an die verfügbare Betriebsfläche gekoppelt war, versuchte die Agrarbezirksbehörde eine Neueinteilung der Besitzverhältnisse zu organisieren. Während in den Gemeinden Sonntag, Fontanella, St. Gerold, Thüringerberg, Raggal und Bartholomäberg dabei lediglich kleinere Flurbereinigungen durchgeführt wurden, leitete man in Blons ein umfassendes Zusammenlegungsverfahren ein. Zunächst galt es hierbei in Zusammenarbeit mit den Bezirksgerichten die Verlassenschaftsabhandlungen zu organisieren, bevor in einem zweiten Schritt durch freie Vereinbarungen der betroffenen Parteien Arrondierungen und Besitzaufstockungen durchgeführt wurden. Da die Lawinenabgänge in Blons dazu geführt hatten, dass vier Familien vollständig ausgestorben und zwölf Familien zwecks Erwerbs eines Ersatzobjektes weggezogen waren, sind im dortigen Gemeindegebiet größere Grundparzellen frei geworden. Den Bleibenden bot sich demzufolge Gelegenheit zur rentabilitätssteigernden Vergrößerung ihrer Höfe. Um den betreffenden, nun mehr denn je bedürftigen Akteuren den Erwerb solcher Grundstücksflächen zu ermöglichen, hatte die Agrarbezirksbehörde erwirkt, dass beim Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft günstige Kredite aufgenommen werden konnten. Die Darlehen hatten eine Laufzeit von 15 Jahren und waren mit 2% p.a. zu verzinsen, wobei ab dem Tage der Darlehensauszahlung zwei Freijahre gewährt wurden, so dass in der ersten Phase des Wiederaufbaus keine Amortisation erfolgen musste. Im Zuge der dergestalt geförderten Agrarverfahren konnten schließlich 15 Betriebe in Blons ihren bisherigen Besitz deutlich vergrößern. Hatten deren Hofgrundstücke vor den Lawinenabgängen eine durchschnittliche Größe von 5 ha 87 a 46 m² so lag diese nach den Arrondierungen und Aufstockungen bei 9 ha 24 a 76 m².565 Neben dem Wiederaufbau der Gebäude und der Bereinigung beziehungsweise Vergrößerung des Grundbesitzes umfasste der postkatastrophische Rematerialisierungsprozess in der Regel auch eine Neuausstattung mit Dingen des alltäglichen Gebrauchs. Schließlich hatten die Blonser Lawinenabgänge eine solche Wucht entwickelt, dass die getroffenen Wohn- und Wirtschaftsgebäude vielfach

564 Vgl. Dobler 2008, S. 207f. 565 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Förderungsmaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957, S. 8f.

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samt großen Teilen des Inventars zerstört worden waren. So ließ die Vorarlberger Landesregierung denn auch gleich zu Beginn der Rettungsaktion, am Morgen des 13. Januars, einen Radioaufruf verbreiten, in dem die Bevölkerung um Kleiderspenden gebeten wurde.566 Bereits 24 Stunden später hieß es in einem erneuten Aufruf: „Spendenaktion für die Lawinenverunglückten! Der Aufruf an die Bevölkerung zur Hilfeleistung durch Sachspenden für die Lawinenverunglückten hat einen alle Erwartungen übersteigenden Erfolg gezeitigt. Durch die gespendeten Kleidungsstücke können die dringendsten Bedürfnisse gedeckt werden. Es wäre nur noch wünschenswert, wenn nebst Geldspenden vor allem Haushaltsgeräte, darunter Geschirr, Küchengeräte und Betten gespendet würden. Die Spenden wollen einstweilen von den Gemeinden gesammelt und bis auf Abruf verwahrt werden.“567

Was sich in diesen ersten Stunden der Rettungsaktion bereits abzeichnete, sollte im Fortgang der Ordnungsrekonfigurationsprozesse weitere Bestätigung finden: Die postkatastrophische Rematerialisierung der lokalen Lebenswelten wurde zu erheblichen Teilen durch die enorme Spendenbereitschaft der einheimischen und ausländischen Bevölkerung getragen. In ihrer Sitzung vom 19. Januar 1954 hat die Vorarlberger Landesregierung beschlossen, die Verwaltung der eingehenden Geld- und Sachspenden einem hierfür eigens einzurichtenden „Hilfskomitee“ zu übertragen. Wie im Beschluss der Landesregierung vorgesehen, setzte sich dieses aus den folgenden Personen zusammen: Landesgerichtspräsident a.D. Dr. Franz Erne – als Vorsitzender –, Landeshauptmann Ulrich Ilg und Bezirkshauptmann Dr. Julius Längle, Caritasdirektor Dr. Johann Sähly, die Bürgermeister der Gemeinden Bartholomäberg, Blons und Mellau sowie je ein Vertreter der Arbeiterkammer, der Kammer der gewerblichen Wirtschaft und der Landwirtschaftskammer. Als Geschäftsstelle

566 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 13.01.1954, um 07.40 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. 567 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 14.01.1954, um 07.10 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. Diese Bitte wurde auch durch entsprechende Zeitungsmeldungen verbreitet. Vgl. N.N.: Bitte keine Sachspenden mehr für die Lawinenopfer abzuliefern. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954.

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des Komitees diente die Abteilung Ia – Polizei – des Amtes der Vorarlberger Landesregierung.568 Zwischen dem 21. Januar 1954 und dem 1. September 1956 hat das Hilfskomitee zehn Sitzungen abgehalten, in denen die materielle Neuausstattung jener 334 Haushalte beziehungsweise 1596 Personen reguliert wurde, die in Vorarlberg aufgrund der Lawinenabgänge als total- oder teilgeschädigte Akteure zu betreuen waren. Im Rahmen der einzelnen Sitzungen wurden zum einen grundsätzliche Richtlinien beschlossen, um die Verwendung der Geld- und Sachspenden zielführend organisieren zu können. So legte man etwa fest, auf welche Weise die eingehenden Sachspenden zunächst durch die Gemeindeämter und dann durch die bei den Bezirkshauptmannschaften in Bregenz und Bludenz eingerichteten Ausgabestellen zu sammeln, zu lagern und zu verteilen waren. Wie detailliert die Spendenausgabe hierbei geregelt wurde, veranschaulicht eine vom Hilfskomitee erstellte – und dabei auch hinsichtlich der damaligen Kleider-, Alters- und Geschlechterordnung aufschlussreiche – Liste, die jeder totalgeschädigten Person die folgende fest definierte Textilienausstattung zuteilte: „I. Bekleidung: 1.) Herrenbekleidung: 1 Sonntagsmantel, 1 Werktagsmantel, 1 Pelerine oder 1 Gummimantel, 1 Überrock, 2 bessere Anzüge, 1 weiterer Anzug je nach Beruf, 2 Röcke, 1 Windjacke, 1 Arbeitsbluse, 3 Arbeitshosen, 1 Schihose, 2 Paar Arbeitsschuhe, 2 Paar leichtere Schuhe, 1 Paar Gummistiefel, 1 Paar Hausschuhe, 2 Pullover, 1 Weste, 6 Herrenhemden, 6 Unterhemden, 6 Paar Unterhosen lang oder kurz, 2 Nachthemden, 6 Paar Socken, 3 Paar Kniestrümpfe, 1 Hut oder Mütze, 1 Paar Handschuhe, 2 Krawatten, 1 Paar Hosenträger, 1 Paar Gamaschen, 1 Dutzend Taschentücher. 2.) Frauenbekleidung: 3 Mäntel, 3 Jacken, 3 Röcke, 2 Kostüme, 4 Kleider, 2 Pullover, 2 Westen, 4 Blusen, 1 Schihose, 4 Schürzen, 6 Hosen, 6 Hemden, 6 Unterleibchen, 6 Unterröcke, 6 Nachthemden, 6 Bettjäckchen, 1 Strumpfgürtel, 1 Büstenhalter, 6 Paar Strümpfe, 4 Paar Schuhe, 1 Paar Gummistiefel oder Schneeschuhe oder Galoschen, 1 Paar Hausschuhe, 1 Paar Fingerhandschuhe, 1 Paar Fäustlinge, 1 Hut, 2 Mützen, 2 Schals, 1 Dutzend Taschentücher. 3.) Knabenbekleidung: 2 Mäntel, 1 Pelerine, 1 Anzug, 2 Röcke, 2 Hosen, 2 Janker, 1 Windjacke soweit vorhanden, 1 Trainingsanzug, 1 Trainingsbluse, 1 Trainingshose, 3 Pullover, 6 Hemden, 6 Unterhosen, 1 Unterleibchen soweit vorhanden, 1 Pyjama, 6 Paar Strümpfe, 4 Paar Schuhe, 1 Paar Gummistiefel, 1 Dutzend Taschentücher.

568 Vgl. VLA, Landesregierung Abt Ia, Sch. 70: Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 21.01.1954 bis 01.12.1956. Betrifft: Lawinenkatastrophe 1954, Verwendung der Bar- und Sachspenden. Bregenz, 20.12.1956, S. 1.

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4.) Mädchenbekleidung: 2 Mäntel, 4 Kleider, 2 Röcke, 1 Bluse, 1 Schürze, 3 Pullover, 6 Hemden, 6 Unterhosen, 1 Unterrock, 2 Nachthemden, 6 Paar Strümpfe, 1 Mütze, 4 Paar Schuhe, 1 Paar Gummistiefel, 1 Dutzend Taschentücher. 5.) Kinderbekleidung (unter 6 Jahren): 3 Mäntel, 2 Jäckchen, 1 Schihose, 4 Kleider, 2 Röcke, 1 Bluse, 4 Schürzen, 3 Pullover, 2 Westen, 6 Unterhosen, 6 Hemden, 2 Nachthemden, 2 Garnituren, 2 Strumpfhosen, 1 Pyjama, 6 Paar Strümpfe, 6 Paar Kniestrümpfe, 6 Paar Socken, 2 Paar Handschuhe, 2 Mützen, 4 Paar Schuhe, 1 Paar Gummistiefel, 1 Dutzend Taschentücher. 6.) Babywäsche: Ausgabe nach Bedarf II. Sonstiges: 3 Wolldecken (1 neue, 2 gebrauchte), 6 Leintücher (davon 4 Flanell), 2 Bettbezüge, 4 Oberleintücher, 2 Kopfkissen. Weiters für jeden Haushalt: 6 Handtücher, 2 Tischtücher, 6 Geschirrtücher.“569

Die durch umfassende Spenden ermöglichte Neuausstattung mit Textilien beschränkte sich offenbar nicht auf das Maß bloßer Notwendigkeiten. Jedenfalls erinnerte sich eine Blonser Zeitzeugin im Interview, dass die damals erhaltenen Kleidungsstücke das ehedem Gewohnte sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich übertroffen hätten: „Das waren unglaublich viele Sachen, schöne Sachen, gute Sachen!“570 Neben der Textilienausgabe regulierte das Hilfskomitee auch die Verteilung der gespendeten Lebensmittel.571 Des Weiteren wurden Beträge festgelegt, die den Totalgeschädigten in Form verwendungsgebundener Gutscheine zur Anschaffung eines Wohnzimmers, eines Schlafzimmers einer Kücheneinrichtung und eines Polstermöbelstücks auszugeben waren. Den Teilgeschädigten, so der Beschluss weiter, sollte hingegen lediglich der für die Wiederbeschaffung zerstörten Mobiliars tatsächlich benötigte Aufwand nach Einreichung entsprechender Rechnungen erstattet werden. Ferner umfassten die Bestimmungen des Hilfskomitees Vorgaben hinsichtlich der Wiederbeschaffung von „Hausrat“ und „Fahrnis aller Art“. Hierbei sollte die Ausgabe nicht nach Maßgabe der erlittenen Verluste, sondern nach dem aktuellen Bedarf der Lawinengeschädigten erfolgen, wobei diesen, sofern die jeweils erforderlichen Güter in den Spendendepots nicht vorhanden waren, auch entsprechende Gutscheine ausgehändigt wer-

569 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Zuteilung für Totalgeschädigte je Person. Niederschrift über die 1. Sitzung des Hilfskomitees, Anlage. Bregenz, 21.01.1954. 570 Interview 7: Blons, 01.02.2014. 571 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die zweite Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 13.02.1954, S. 2.

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den konnten. Zudem entschied das Komitee, welche Fixbeträge die geschädigten Personen zur Wiederanschaffung von Zuchtkühen, Nutzkühen und Schweinen sowie zur Beschaffung von Viehfutter erhalten sollten.572 Des Weiteren wurde schließlich festgesetzt, in welcher Höhe den Geschädigten für die Dauer ihrer Erwerbsunfähigkeit monatliche Unterhaltshilfen zu gewähren seien573 – eine Förderung, die zu Beginn des Februars 1954 im Bezirk Bludenz 70 Personen in Anspruch genommen haben, von denen 30 aus Blons stammten.574 Außer diesen generellen Richtlinien wurden durch das Komitee zum anderen auch die konkreten Formen der fallspezifischen Einzelförderungen festgelegt. So entschied man in den Sitzungen darüber, welche der möglichen Förderungsoptionen den jeweiligen Akteuren im Einzelnen zugutekommen sollten. Zudem befasste man sich mit zahlreichen individuellen Anträgen, in denen das Hilfskomitee um die Gewährung spezifischer Sonderbeihilfen ersucht wurde. Letztere umfassten vor allem ausgefallene oder teurerer Gegenstände, die in den Pauschalpaketen nicht vorgesehen waren. So galt die Regel, dass Dinge, deren Preis die Grenze von 4000 S überschreiten würde, nur dann ausgehändigt beziehungsweise finanziert werden durften, wenn das Hilfskomitee dieser Anschaffung explizit zugestimmt hatte.575 Die auf diesem Wege von den Blonser Gemeindemitgliedern (wieder-)erworbenen Objekte umfassten ein breites Spektrum alltagsrelevanter Gegenstände, das von Musikinstrumenten,576 Skiern577 und Fahrrädern578 über Bienenhäuser und Bienenstöcke579 bis zu zahlreichen landwirtschaftlich

572 Zu den Richtlinien in Sachen Mobiliar, Hausrat, Fahrnis und Vieh vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die dritte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 27.03.1954, S. 2f. 573 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die erste Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 21.01.1954, S. 3. 574 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Aus dem Lawinenfond unterstützte Personen im Bezirk Bludenz. Beilage zur Niederschrift über die zweite Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 13.02.1954. 575 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die dritte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 27.03.1954, S. 2. 576 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die vierte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 14.05.1954, S. 5. 577 Vgl. ebd. 578 Vgl. ebd., S. 6. 579 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die sechste Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 18.09.1954, S. 4.

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nutzbaren Geräten wie Sägen,580 Motoren,581 Mähmaschinen, Jauchepumpen und Elektrozäunen582 reichte. Die gouvernementale Einflusssphäre erstreckte sich also bis weit in den Bereich der alltäglich genutzten Gebrauchsdinge. Wie an einzelnen Stellen bereits deutlich wurde, gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass die je konkrete Realisierung des dergestalt strukturierten Rematerialisierungsprozesses freilich auch von zahlreichen weiteren Einflussfaktoren geprägt war. Zu nennen sind hierbei etwa die Auswahlkriterien der einzelnen Spender, der zum gegebenen Zeitpunkt bekannte Stand der Spendeneingänge oder die Haltung, Kompetenz und Tagesform des involvierten entscheidungsmächtigen Personals. Zudem war, wie im nächsten Kapitel noch eingehender zu behandeln sein wird, das faktische Ausmaß der jeweiligen Förderung nicht zuletzt auch von den positionsspezifischen Einwirkungsdispositionen der einzelnen lokalen Akteure abhängig – also vom Umfang ihres sozialen und kulturellen Kapitals, von ihrer Vernetzung mit Entscheidungsträgern, ihrem Zugang zu relevanten Informationen, ihrer Fähigkeit, legitime Ideen und Pläne zu entwickeln, sowie ihren kommunikativen Möglichkeiten, diese Entwürfe in überzeugender Weise darlegen zu können. Die genannten Faktoren wirkten zumeist als Formierungskräfte innerhalb der gouvernemental regulierten Rahmenbedingungen, entschieden also darüber, auf welche Weise und mit welchem Erfolg die Spielräume des staatlich organisierten Regelsystems (strategisch) genutzt werden konnten. In einigen Fällen entfalteten sie aber offenbar durchaus auch subversive Wirkungen, äußerten sich also in Praktiken, die den Rahmen dieser Spielräume durchbrachen. Bereits in den ersten Wochen nach den Lawinenabgängen seien einzelne Personen dadurch aufgefallen, dass sie „die Lage bewusst auszunützen versuchten“583. Andere haben im Zuge des Wiederaufbaus – wie in einem Fall auch zur Anzeige gebracht wurde – falsche Angaben gemacht oder sich durch Anträge, deren quantitativer Umfang als ungebührlich wahrgenommen wurde, den Ruf der „unbescheidensten aller Lawinengeschädigten“584 eingehandelt. Zudem tendierten verschiedene Bauher-

580 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die vierte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 14.05.1954, S. 5. 581 Vgl. ebd. 582 Vgl. ebd., S. 6. 583 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Bludenz an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bludenz, 22.02.1954. 584 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Kammer der Gewerblichen Wirtschaft für Vorarlberg. Vorlagebericht für die Sitzung des erweiterten Kammerpräsidiums am 05.07.1956. Feldkirch, 29.06.1956.

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ren und Bauunternehmer in der Umsetzung ihrer Planungen dazu, die behördlichen Vorgaben nicht hinreichend zu berücksichtigen, so dass, wie ein Vertreter der Forsttechnische Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung bemängelte, bei einigen der „im Jahre 1954 neuerstellten Objekte, deren Sicherung leider nicht in jener Art und Sorgfalt erfolgte, die nach h.a. Ansicht angezeigt gewesen wäre“585. Durch solche Formen des eigensinnigen, widerständigen und kreativen Umgangs mit auferlegten Regularien wurde in praxi ausgehandelt, wo die Grenzen des Staates beziehungsweise der staatlichen Einflusssphäre de facto verliefen. Ähnlich wie dies etwa auch von Pascale Schild im Rahmen ihrer Untersuchungen der Wiederaufbaumaßnahmen nach dem Erdbeben in Muzaffarabad beobachtet wurde, handelte es sich dabei um „situational practice responding to everyday constraints faced by people which flexibly adapts to the state’s blurred boundaries, uneven existence and contradictory nature.“586 So können wir festhalten, dass sich die in Expertenausschüssen entworfene und bürokratisch verwaltete Rematerialisierungspartitur trotz aller Umsetzungsanreize nicht eins zu eins realisierte, sondern dabei durch eigenmächtig handelnde Akteure immer wieder modifiziert und missachtet wurde. In den bisherigen Ausführungen, deren Fokus vorwiegend auf der Rematerialisierung des privaten Raumes lag, zeigte sich, dass die postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse vor Ort einen einschneidenden Modernisierungsschub evozierten. Dies galt freilich auch für den Wiederaufbau der lokalen Infrastruktur beziehungsweise für jene Vorgänge, die man als eine Rematerialisierung des öffentlichen Raumes bezeichnen kann. Hierbei stand zunächst die Reaktivierung der Kommunikationsmittel und Energieversorgung im Vordergrund. Während das Telefonnetz im Großen Walsertal durch die entsendeten Einsatzkräfte der Post bereits am 19. Januar wieder instandgesetzt werden konnte, sollte sich die Reparatur des Stromnetzes jedoch als eine zeitintensivere Aufgabe herausstellen. Da neben der Transformatorstation in Blons etwa drei Kilometer der Hauptleitung zerstört waren und die erforderlichen Instandsetzungsarbeiten der Vorarlberger Kraftwerke durch die winterlichen Witterungsbedingungen erschwert wurden, konnte das Tal erst ab dem 3. Februar wieder hinreichend

585 VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung an die Agrarbezirksbehörde Bregenz. Bregenz, 14.01.1955. 586 Pascale Schild: Struggling for Reconstruction: Houses, Homes and „the State“ after the Earthquake in Muzaffarabad, Azad Kashmir. In Scrutiny 5/6 (2012), S. 33-50, hier S. 49.

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mit Strom – und Licht – versorgt werden.587 Unterdessen hatten Mitarbeiter des Landesstraßenbauamts damit begonnen, die Walserstraße zu räumen, so dass Ende Januar sämtliche Talgemeinden wieder an das Verkehrsnetz angeschlossen waren und schließlich am 15. Februar auch der Postautoverkehr wieder in vollem Umfang aufgenommen werden konnte.588 Nach diesen ersten Instandsetzungsmaßnahmen erfolgten im Zuge der postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse schließlich aber auch infrastrukturelle Transformationen, durch die sich das Leben vor Ort nachhaltig veränderte. Hierzu zählte etwa die durch Spendengelder unterstützte Errichtung einer „modernen Dorfsennerei“589 oder der ebenfalls durch Spenden mitfinanzierte Bau eines neuen Schul- und Gemeindehauses sowie dessen Ausstattung mit neuen Lernmaterialien.590 Außer einer Modernisierung der lokalen Arbeits- und Lernbedingungen eröffneten diese Neubauten auch neue freizeithafte Gesellungsoptionen. Insbesondere das Gemeindehaus bot nun genügend Raum für große Veranstaltungen und habe, wie mir in einem Interview erzählt wurde, denn auch nicht zuletzt durch die Möglichkeit, dort regelmäßig Tanzbälle ausrichten zu können, dazu beigetragen, dass Blons in den folgenden Jahren zu einem „kulturellen Zentrum“ des Tales geworden sei.591 Für die weitere Entwicklung der Gemeinde war daneben auch die nun erfolgende Errichtung eines Güterwegenetzes von großer Bedeutung. Im Rahmen der Erstellung neuer Lawinenschutzwerke begann man mit dem Bau asphaltierter Wege, die zum einen die Zulieferung von Verbauungselementen ermöglichten, zum anderen – im Fortgang ihrer weiteren Ausgestaltung – aber auch dazu führten, dass jetzt sämtliche Höfe sowie ein Großteil der dazugehörigen Wiesen und Weiden mit Fahrzeugen und modernen Maschinen erreichbar wurden. Sie eröffneten damit die Option, zur Bewältigung der Landwirtschaft nun auch motorisierte Fortbewegungs- und Arbeitsgeräte einzusetzen, was angesichts der aufgestockten Betriebsgrößen und des Verlustes familieneigener Arbeitskräfte in vie-

587 Vgl. Dobler 2008, S. 189-191. 588 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Auszugsweise Abschrift eines Situationsberichts des Gendarmeriepostenkommandos Blons vom 21.02.1954. Nicht datiert, S. 2. 589 Wechsberg 1959, S. 287. 590 Nach einer intensiven Planungs- und Verhandlungsphase (Grundstückserwerb, Ausschreibung, Klärung der Finanzierung etc.) konnte im Mai 1957 mit dem Bau begonnen werden. Im Januar 1959 zog die Hauswirtschaftsschule ein; im April 1961 folgte die Volksschule. Vgl. GAB: Dobler: Chronik der Gemeinde Blons. Band II. Nicht datiert, S. 370f. 591 Interview 5: Blons, 29.01.2014.

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len Fällen unabdingbar geworden zu sein schien. Zudem ermöglichten sie es jenen Personen, die sich nach den Lawinenabgängen von der Landwirtschaft abwenden mussten oder wollten, mit überschaubarem Aufwand zu den Industriebetrieben des Walgaus pendeln zu können. So wurde durch die neu errichteten Verbindungs- und Zufahrtswege schließlich nicht nur die Isolation der abgelegenen Höfe in den Außenbezirken des Gemeindegebiets aufgehoben, sondern darüber hinaus auch eine zentrale Bedingung der Möglichkeit ökonomischer Modernisierungsprozesse erfüllt. Die skizzierte Rematerialisierung des privaten und öffentlichen Raumes lässt sich als Prozess einer grundlegenden lebensweltlichen Reimmunisierung verstehen: „Social, political, and economic power relations“, so Oliver-Smith, „are inscribed through material practise (construction, urban planning, transportation) in the modified and built environments, and one of the many ways they are refracted back into daily living is in the form of conditions of vulnerability.“592 Bevor im folgenden Kapitel danach zu fragen ist, ob auch der Blonser Wiederaufbau soziale Ungleichheiten reproduzierte, die in ressourcenspezifischen Formen der Verwundbarkeit zum Ausdruck kamen, soll an dieser Stelle indessen zunächst der generelle Zusammenhang zwischen Rematerialisierung und Reimmunisierung beleuchtet werden. Der Rematerialisierungsprozess beinhaltete für die Betroffenen zum einen insofern eine Reimmunisierung als er ihnen wieder zu gewohnheitsstabilisierenden Wohnverhältnissen verhalf. Nach den zerstörungsbedingten Verunmöglichungen und Verunsicherungen konstituierte sich erneut ein Habitat, das der Habitualisierung von Handlungsabläufen förderlich war, da sich in seinem Rahmen wieder verlässliche Akteur/Umwelt-Korrespondenzen etablieren konnten. Neben diesen allgemeinen gewohnheitssichernden Effekten entwuchsen den rematerialisierten Meso- und Mikroräumen aber auch spezifische Schutzwirkungen. Diesen lagen explizite Immunisierungsstrategien zugrunde, von denen aus aktuellem Anlass freilich viele der Prävention künftiger Lawinenkatastrophen dienen sollten. Vor dem Hintergrund der erlittenen Erfahrungen galt es die drohenden materiellen Eigendynamiken umfassender als bisher in die regulierten Bereiche des lokalen Ordnungsgefüges zu integrieren. So hatten die Lawinenabgänge – wie nach katastrophischen Ereignissen ja stets zu beobachten ist – „einen auf Adaption und Prävention gerichteten Handlungsdruck“593 erzeugt, der die postkatastrophischen Diskurse prägte und sich, gouvernemental reguliert, vor Ort in konkreten Transformationen zur Steigerung der lokalen Resilienz materialisierte.

592 Oliver-Smith 2002, S. 36. 593 Pfister 2009, S. 240.

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Abbildung 16: Rohbau mit Ebenhöh

Quelle: Vorarlberger Landesarchiv

Zu denken ist hierbei etwa an entsprechende Vorschriften innerhalb der oben erwähnten Bauauflagen sowie an die Gutachtertätigkeit der Wildbach- und Lawinenverbauung, die schließlich in der Lage, Beschaffenheit und Gestalt der wiedererrichteten Höfe sichtbar wurden. So hat man die Gebäude teils an anderer Stelle aufgebaut als zuvor und ist vom Holz- zum Massivbau übergegangen. Ferner wurden innerhalb der Häuser verstärkende Zusatzwände sowie lawinensichere Schutzräume errichtet.594 Schließlich veränderten sich aber auch die Hofformen: In vielen Fällen schloss man nun, anders als bei der bisher üblichen Paarhofbauweise, den Stall bergseitig an das Wohngebäude an und verstärkte die dadurch erzielte Schutzwirkung zudem durch die Errichtung eines sogenannten Ebenhöhs, vermittels dessen der Hof besser in das umliegende Gelände integriert war. Während die bisher genannten Immunisierungsschritte der Sicherheit beziehungsweise Resilienz einzelner Gebäude dienten und somit darauf abzielten, künftige Lawineneffekte einzudämmen, setzten andere Maßnahmen – freilich ih-

594 Solche Maßnahmen zur Prävention von Lawinenschäden wurden in sämtliche erteilten Baubescheide als einzuhaltende Bedingungen mit aufgenommen. Vgl. AWL, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Baubescheide des Gemeindeamts. Blons, Juni bis September 1954.

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rerseits nach Maßgabe der damaligen Kenntnisse, Möglichkeiten und Entscheidungsbefugnisse – bei den Lawinenursachen an, erfolgten also mit der Intention, gleichsam in früherer Zukunft, bereits deren Entstehung zu unterbinden. Auch in diesem Kontext lag die Zuständigkeit bei der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung. Nach einer ersten Bestandsaufnahme, in deren Rahmen sich die hiermit betrauten Ingenieure und der verantwortliche Abteilungsleiter des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft über die Grundlinien der künftigen Maßnahmen verständigt hatten,595 erfolgte durch das Ministerium im April 1954 die Genehmigung zur Erstellung der Verbauungsprojekte „Hüggen-Lawine“ und „Mont-Calv-Lawine“.596 Das Projekt zur Verbauung der Mont-Calv-Lawine wurde am 2. Oktober 1954 durch einen entsprechenden Erlass bewilligt. Im Zuge der daraufhin erfolgten Projektrealisierung wurden bis zum Jahre 1962 etwa 33.200 Bäume – zum größten Teil Fichten – gepflanzt sowie 128 lfm Erdterrassen, 267 lfm temporärer Stützverbau, 46 Schneestützböcke in Holz und 700 lfm Bauweg errichtet. Die dabei angefallenen Kosten von 535.363 S trugen zu 75% der Bund, zu 20% das Land und zu 5% die Gemeinde.597 Parallel zu diesen Maßnahmen im nordwestlichen Gemeindegebiet begann im Nordosten die am 15. Juni 1956 genehmigte Verbauung der FalvkopfLawine. Hierbei wurden bis 1962 rund 187.000 Bäume gepflanzt sowie 6144 lfm Aufschließungsweg, 1700 lfm Schneedruckgräben, Erdhöcker und Erdterrassen, 38 Kolktafeln, 186 lfm Verwehungszaun und 1375 lfm Stützwerke erstellt. Bei der Finanzierung des dabei entstandenen Kostenbetrags von 5.058.699 S änderte sich der bisherige Aufteilungsschlüssel mit Zustimmung aller beteiligten Entscheidungsträger jedoch dergestalt, dass hiervon schließlich 75% zu Lasten des

595 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Gedächtnisprotokoll, aufgenommen in der Kanzlei der Sektion Bregenz im Anschluss an die Bereisung der Lawinenkatastrophengebiete. Bregenz, 04.04.1954. 596 AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Schreiben des Leiters der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung, Sektion Bregenz, an die Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz. Bregenz, 03.05.1954; AWL, 711, Blons 7, Mont-Calv-Lawine: Schreiben des Leiters der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung, Sektion Bregenz, an die Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz. Bregenz, 04.05.1954. 597 Vgl. AWL, 71, Blons 7, Mont-Calv-Lawine: Niederschrift betreffend die zweite Kollaudierung der in der Mont-Calv-Lawine durchgeführten Verbauungsmaßnahmen. Faschina, 27.06.1963.

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Bundes, 23% zu Lasten des Landes und nur noch 2% zu Lasten der Gemeinde gingen.598 Abbildung 17: Montage einer Stahl-Holz-Schneebrücke

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Die skizzierten Maßnahmen unterschieden sich von früheren Verbauungen bereits durch ihren bloßen Umfang. Hinzu kam, dass die Konstruktion der genannten Stützwerke nun auch in Gestalt neuer Bautypen erfolgte. Nach schweizerischem Vorbild hatte man im Zuge des damaligen Rematerialisierungsprozesses – in Blons wie auch andernorts – damit begonnen, diese zentralen Aktanten der systematischen Lawinenanbruchsverbauung unter Verwendung einheitlich vorgefertigter Eisenelemente anzufertigen. Die hieraus resultierenden Vorläufer der daraufhin schon bald ubiquitär verbreiteten Stahlschneebrücken markieren in den österreichischen Alpen den Beginn einer neuen Ära des technischen Lawinenschutzes.599

598 Vgl. AWL, 711, Blons 5, Hüggen-Lawine bis 31.12.1970: Niederschrift betreffend die sechste Kollaudierung der in der Hüggen-Lawine durchgeführten Verbauungsmaßnahmen. Faschina, 27.06.1963. 599 Vgl. Aulitzky et al. 1984, S. 232f.; Lederle/Mäser 2010, S. 54; Siegfried Sauermoser/Markus Stoffel/Stefan Margreth: Entwicklung der Lawinen und des Lawinenschutzes: Historischer Überblick. In: Florian Rudolf-Miklau/Siegfried Sauermoser (Hg.): Handbuch Technischer Lawinenschutz. Berlin 2011, S. 13-20, hier S. 19f.

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Die bisherigen Ausführungen veranschaulichten, dass es infolge der damaligen Lawinenabgänge zu gravierenden materiellen Transformationen innerhalb des Blonser Ordnungsgefüges kam. Den Zerstörungen und der Räumung folgte ein Rematerialisierungsprozess, der sich auf allen Ebenen der lokalen Raumverhältnisse niedergeschlagen hat. So reichten seine Effekte von aufforstungs- und verbauungsbedingten Veränderungen der Landschaft über infrastrukturelle und architektonische Modifikationen bis zur – teils nahezu vollkommenen – Neuausstattung mit alltäglichen Dingen des Gebrauchs. Noch heute sind viele dieser Veränderungen sichtbar und zeugen still, da hierzu unbeauftragt, von den damaligen Ereignissen. Daneben finden sich innerhalb des Gemeindegebiets aber auch beredte Objektivationen einer intendierten Memorialkultur. Auf dem Friedhof erinnern das Massengrab, ein geschmiedetes Kreuz und ein BronzeHalbrelief, den „weißen Tod“ darstellend, an die Opfer der Lawinenabgänge. Im Kirchturm klingt eine Lawinenglocke, in die neben den Namen der Opfer die folgenden Worte eingraviert wurden: „Am 11. Jänner, an einem Tag, / riß fünfzig und mehr, des führ ich klag, / der weiße Tod von Ofen und Herd, / er bettet sie all in kalter Erd. / St. Niklaus, heiliger Schutzpatron, / steh ein für sie an Gottes Thron, / verbirg ihre Seelen in Gottes Arm, / behüt die Lebenden sicher und warm.“600 Zudem errichtete man im Dorfzentrum gegenüber dem heutigen Gemeindehaus ein großes hölzernes „Lawinenkreuz“ und versah dieses mit einem denkwürdigen Zitat aus dem Brief des Paulus an die Römer: „Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten gereicht! [Röm. 8, 28] Wiederaufbaueinsatz 1954“. Die genannten Memorialien stammen allesamt aus den ersten Jahren nach den Lawinenabgängen. Ihre explizite Semantik korrespondierte mit einer Gestaltung, die den synästhetischen Veranschaulichungsgepflogenheiten des volkstümlichen Katholizismus entsprach. Daneben finden sich im Gemeindegebiet aber auch Erinnerungsstätten jüngeren Datums. Hierbei ist etwa ein „Lawinendokumentationsraum“ innerhalb des heutigen Gemeindehauses zu nennen. Das im Jahre 2004, also 50 Jahre nach den Lawinenabgängen eröffnete Haus selbst wurde zu einem großen Teil aus Holzmaterialen gebaut, die man im Rahmen der Waldpflege aus dem Blonser Schutzwald gewonnen hatte, und kann somit, wie David Ganahl ausführt, als „ein starkes Zeichen für die Bewältigung der Kata-

600 VLA, Miszellen, Sch. 221: Zum Gedenken der Lawinenopfer von Blons am 11. Jänner 1954. Informationsblatt aus Anlass der Einweihung einer Lawinenglocke. Nicht datiert.

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strophe“601 verstanden werden. Im gleichen Jahr wurden anlässlich des 50. Jahrestages zudem auch drei mit Informationstafeln ausgestattete und durch zusätzliches Prospektmaterial differenziert erschließbare „Erinnerungswege“ eingerichtet: „Leusorg-, Schutzwald- und Verbauungsweg sollen dazu beitragen, dass die Schrecken, die die Berge verbreiten können, nicht verharmlost und vergessen werden.“602 Die Erinnerungswege ermöglichen denn auch eine Vergegenwärtigung der damaligen Ereignisse an den jeweiligen Orten ihres Geschehens. Sie veranschaulichen den Verlauf der Lawinenabgänge, führen dabei an verschiedenen Grundstücken vorbei, deren Bebauungen zerstört wurden, und informieren – zusammen mit der „Lawinendokumentation“ im Gemeindehaus – über zentrale Schritte der postkatastrophischen Präventionsmaßnahmen. 3.2.2 Soziale Aspekte Stand in den bisherigen Analysen des Teilkapitels die Welt der Dinge und Sachen im Vordergrund, so gilt die Aufmerksamkeit nun den dabei noch weitgehend unberücksichtigt gebliebenen sozialen Aspekten des Ordnungsrekonfigurationsprozesses. Erneut soll die Zeitspanne zwischen katastrophischer Situationsgebundenheit und postkatastrophischem Alltag in Augenschein genommen werden, nun aber mit Blick auf die interexistentiellen Figurationen der hierbei direkt oder indirekt involvierten menschlichen Akteure. Es gilt der Frage nachzugehen, ob und inwiefern sich das Zusammenleben der betroffenen Personen durch den Einfluss der damaligen Lawinenabgänge verändert hat. Zur besseren Einordnung der nachstehenden Ausführungen sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Lawinenabgänge durchaus widersprüchliche Entwicklungstendenzen zeitigten, die im Verlauf der postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse in phasen- und kontextspezifisch variierender Dominanz prägend wurden. Schematisch lassen sich die hervorgerufenen beziehungsweise begünstigten sozialen Entwicklungen in konservierende und transformierende Lawineneffekte unterscheiden. Unter Konservierungseffekten werden Wirkungen verstanden, die in einer Reproduktion und Verfestigung bisheriger Herrschafts- und Ordnungsverhältnisse zum Ausdruck kamen; unter Transformationseffekten hingegen Wirkungen, die sich in einem (vorübergehenden) Wandel der sozialen Relationen niederschlugen – wobei letztere, wie im Einzelnen noch zu zeigen ist, sowohl differenzierende als auch homogenisierende Prozesse umfassten.

601 David Ganahl: 60 Jahre Lawinenkatastrophe im Großen Walsertal. In: Walserheimat 94 (2014), S. 272-276, hier S. 276. 602 Lederle/Mäser 2010, S. 17.

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Die postkatastrophischen Entwicklungstendenzen der sozialen Relationen innerhalb und zwischen den verschiedenen Gruppierungen des damaligen Ordnungsgefüges sollen nun in schrittweiser Verengung des primärräumlichen Untersuchungshorizonts sichtbar gemacht werden. Gemäß den oben formulierten Leitfragen wenden wir uns im Folgenden also zuerst einzelnen Prozessen zu, die sich auf der transnationalen und überregionalen Ebene vollzogen haben, bevor in einem zweiten Schritt der Frage nachgegangen wird, inwiefern sich durch die damaligen Ereignisse das Zusammenleben in der Gemeinde Blons verändert hat. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Lawinenabgänge – als radikale Zerstörungsereignisse, die im Gegensatz zu Revolte, Krieg oder Terror, „von keinem je so gewollt“603 wurden – altruistische Solidarisierungsimpulse mit teils nachhaltig homogenisierender Wirkung evozierten. Auf internationaler Ebene äußerte sich dieser Impetus zur Solidarität vorübergehend in einer sprunghaften Intensivierung der Kontakte. Wie oben bereits geschildert, waren gleich in den ersten Tagen der Rettung neben Österreichern auch Helfer aus Liechtenstein, der Schweiz, Deutschland und den USA vor Ort. Im Zuge der Räumungsarbeiten wurden diese Ersthelfer durch Vertreter zahlreicher weiterer Nationen ergänzt. Von einem regelrechten „Weltinteresse für die Lawinenopfer“604 schien daneben auch die große Menge an Beileidsbekundungen und Spenden aus dem Ausland zu zeugen. Letztere umfassten Hilfsgelder, die von unterschiedlichsten Institutionen und Gruppierungen wie etwa dem „Türkischen Halbmond“, dem „Weltgewerkschaftsbund“, der „Sowjetischen Hochkommission“, Lesern des „Münchner Merkurs“, diversen „Schweizer Studenten“ oder nicht näher spezifizierbaren Privatbürgern aus Jugoslawien, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, den Niederlanden, Australien, den USA und anderen Ländern gesammelt wurden. Auch innerhalb Österreichs wurden weitreichende Solidarisierungsimpulse geweckt. Während jedoch die internationalen Hilfeleistungen vor allem – aber freilich nicht nur – durch wert- und zweckrationale Interessen motiviert waren, was etwa in den häufigen Verweisen auf den hier handlungsleitenden Grundsatz der wechselseitigen Unterstützung in Notsituationen zum Ausdruck kam, stand die innernationale Solidarität deutlich stärker in affektuell geprägten Zusammenhängen, oder wurde zumindest medial so gedeutet, und kann daher zu guten Teilen als ein katastrophenevozierter Vergemeinschaftungseffekt verstanden werden.605 Sie entwuchs einer ehedem latenten, potentiellen Zusammengehörig-

603 Geenen 2003, S. 3. 604 N.N.: Weltinteresse für die Lawinenopfer. In: Vorarlberger Nachrichten, 18.02. 1954. 605 Vgl. Weber 1984, S. 69.

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keit und verlieh dieser zeitweilig einen expliziten – aktuell empfundenen – Charakter. „Wenn es eine Zeit gab, in der die vom Nationalsozialismus verursachte tiefe Spaltung der Gesellschaft zumindest vorübergehend verschwand,“ so diagnostiziert etwa Barney, „dann war es sicher der Katastrophen-Jänner 1954, aus dem Monate größter Hilfsbereitschaft wurden.“606 Die Lawinenabgänge mobilisierten breite Teile der österreichischen Bevölkerung und führten wohl nicht zuletzt auch aufgrund des Ortes ihres Geschehens zur Stärkung eines heimatlich grundierten Gemeinschaftsempfindens – schließlich „suchte und fand man Identität (leitmotivisch) in den Alpen.“607 Die erste Phase dieses homogenisierenden, kohäsionskonsolidierenden Prozesses bestand in einer medial vermittelten Ausbreitung der katastrophischen Betroffenheit. Neben vereinzelten Fernseh- und Rundfunkbeiträgen haben insbesondere die regionalen und überregionalen Zeitungen durch ihre außerordentlich umfangreichen, teils plastisch bebilderten Artikel vorübergehend eine synchronisierende Bündelung der Aufmerksamkeitsstrukturen hervorgerufen. Die Katastrophenkommunikation expandierte, löste sich vom Ort der Ereignisse beziehungsweise vom Kreis der unmittelbar betroffenen Kommunikanten, und gewann zunehmend an Dichte, da sie durch die hohe Frequenz neuer Meldungen beständig dynamisiert wurde. So verbreitete sich in den heterogenen Gruppierungen des Landes schon bald eine Form des „distanzierten Mitleidens“608, durch das zahlreiche, auch räumlich ferne Akteure emotional in die Geschehnisse involviert waren. Als nun von politischen und geistlichen Repräsentanten – wie dem Bundeskanzler, dem Landeshauptmann, dem Bezirkshauptmann oder verschiedenen Bischöfen und Pfarrern – mehrere Rettungs-, Sammlungs- und Spendenaufrufe erfolgten, in denen vielfach explizit von einer gemeinsamen Not die Rede war und an gemeinsame Werte appelliert wurde, stießen diese in der Bevölkerung auf ei-

606 Barney 2014, S. 90. 607 Reinhard Johler/Bernhard Tschofen: „Gelernte Österreicher“. Ethnographisches zum Umgang mit nationalen Symbolen. In: Beate Binder/Wolfgang Kaschuba/Peter Niedermüller (Hg.): Inszenierung des Nationalen. Geschichte, Kultur und die Politik der Identitäten am Ende des 20. Jahrhunderts. Köln u.a. 2001, S. 186-208, hier S. 198f. – Die Autoren plädieren indessen für eine Differenzierung dieses allgemeinen Erzählmusters und zeigen, dass die identitätsstiftende Kraft des „Alpinen“ – verstanden als „ein offenes Mythologem mit einem festen Kern“ (S. 202) – vor allem in alltagskulturellen Kontexten relevant war und ist. Vgl. hierzu auch Bernhard Tschofen: Berg Kultur Moderne. Volkskundliches aus den Alpen. Wien 1999. 608 Vgl. Keller 2003.

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ne große Resonanz: Wie oben bereits dargelegt, fanden sich in den Katastrophengebieten schon bald mehr Helfer ein als vor Ort benötigt worden wären. Vor den Abgabestellen für Sachspenden, die man in Bregenz und Bludenz eingerichtet hatte, bildeten sich lange Schlangen spendenwilliger Bürger,609 so dass die Aktion zur Sammlung von Kleidung, Hausrat und Lebensmitteln binnen kürzester Zeit wieder beendet beziehungsweise auf wenige spezifische Güter beschränkt werden konnte.610 Auch die Geldspenden summierten sich schnell und ergaben schließlich – zusammen mit den Spenden aus dem Ausland – einen Gesamtbetrag von 13.919.275 Schilling.611 Diese konkreten Praktiken des Mithelfens konstituierten die zweite Phase der postkatstrophischen Kohäsionskonsolidierung. Im Vollzug des Rettens und Spendens erfuhr man sich als Teil einer Gemeinschaft, die kraft gemeinsamer Praxis dazu in der Lage zu sein schien, gravierende Nöte zu lindern. Die skizzierte Resonanz der medialen Berichterstattung fand – was als dritte Phase des Prozesses gelesen werden kann – wiederum ihrerseits eine breite Resonanz. Schon nach wenigen Tagen begann sich ein Diskurs zu formieren, in dessen Rahmen die ausgeweitete Betroffenheit und die Praktiken der Hilfeleistung als Ausdruck engster Verbundenheit dargestellt wurden. In nahezu sämtlichen öffentlichen Reden und behördlichen Berichten sowie in zahlreichen Zeitungsartikeln findet sich der Topos vom „postkatastrophischen Zusammenstehen“. So heißt es etwa in einem hierfür repräsentativen Artikel der „Vorarlberger Nachrichten“, der anlässlich eines von der steirischen Gemeinde Gröbming gespendeten Wohnhauses veröffentlicht wurde: „Es ist erhebend, wie in Zeiten der Not ganz Österreich einmütig zusammensteht. Nicht nur die Opferbereitschaft der Gröbminger Bevölkerung hat dies bewiesen, sondern auch die unzähligen Beweise tatkräftiger Hilfe aus allen Teilen Österreichs lassen uns durch das Bewußtsein, eine große Volksfamilie zu sein, die in Freud und Leid zusammensteht, die harte Zeit leichter überstehen.“612

609 Vgl. N.N.: Vor einer Sammelstelle. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. 610 Vgl. N.N.: Bitte keine Sachspenden mehr für die Lawinenopfer abzuliefern. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. 611 Vgl. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Brandtner/Krasser 1955, S. 76. Aktuell würde dies etwa einem Geldwert von 6.402.900 Euro entsprechen. 612 N.N.: Gröbminger Bevölkerung spendet ein Haus für Blons. In: Vorarlberger Nachrichten, 27.01.1954.

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Betont wurde in solchen Artikeln häufig, dass sich dieses „Zusammenstehen“ beziehungsweise „Zusammenrücken“ in mehreren Dimensionen vollzogen habe: Die Helfer seien von nah und fern gekommen, hätten Junge und Alte, Männer und Frauen, Arme und Reiche, Arbeitslose und Akademiker – zu jener Zeit offenbar noch ein inkompatibler Gegensatz – umfasst. So erfuhr die postkatastrophische Solidarisierung im Zuge medialer Aufbereitungen eine weitere Steigerung ihrer integrativen Wirkmacht und kann daher als „ein sich selbst verstärkender Effekt“613 verstanden werden, der die Kohäsion des damaligen Gesellschaftsgefüges zu konsolidieren vermochte. Neben dieser Kohäsionskonsolidierung durch die homogenisierende Ausblendung sozialer Unterschiede im Vollzug der Solidarisierung resultierten aus den Lawinenabgängen aber auch differenzkonservierende beziehungsweise herrschaftszementierende Wirkungen. Die Ereignisse eröffneten, wie man in Bourdieuʼscher Manier formulieren könnte, ein Praxisfeld, das den konkurrierenden Akteuren Möglichkeiten bot, ihre ökonomischen und politischen Ressourcen qua (strategischer) Investitionen in symbolisches Kapital zu transformieren.614 Attraktiv war eine solche Option wohl nicht zuletzt deshalb, weil die mediale Begleitung – ja Mitkonstituierung – der postkatastrophischen Prozesse auch diesbezüglich zu einer beträchtlichen Erweiterung des gesellschaftlichen Resonanzraums führte, so dass die errungenen Profite in der begehrten Währung sozialer Anerkennung oftmals eine zusätzliche Potenzierung erfuhren. Als erste Gruppe der symbolischen Profiteure – deren je konkretes Handeln, wie an dieser Stelle vielleicht nochmals explizit betont werden sollte, deshalb freilich nicht zwangsläufig auch bewusst profitorientiert gewesen sein muss – können jene Akteure gelten, die sich in herausragender Weise an den Spendenaktionen zu beteiligen vermochten. Die Namen der entsprechenden Nationen, Organisationen, Unternehmen und vermögenden Privatleute wurden in den Zeitungen wiederholt veröffentlicht und gingen zudem auch in behördliche Berichte und historische Rückblicke ein: „Ich erachte es als Pflicht der Dankbarkeit“, heißt es etwa bei Dobler, „zumindest die Spender von 10.000 Schilling aufwärts anzuführen, möchte aber ausdrücklich vermerken, daß kleinere Spenden von der Gebefreudigkeit, vom Verzicht und der Opferbereitschaft her gesehen, ebenso

613 Vgl. Christian Pfister: Naturkatastrophen als nationale Mobilisierungsereignisse in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. In: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hg.): Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Tübingen 2003, S. 283-297, hier S. 295. 614 Vgl. hierzu etwa Bourdieu 1983.

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hoch gewertet sind.“615 Während damit aber die Ersteren namentlich überliefert werden, finden die Letzteren hier nur eine anonyme Berücksichtigung. Eine zweite Gruppe von Profiteuren bilden jene politischen Eliten, die ihre Machtposition im Zuge der Katastrophenbewältigung zu legitimieren wussten. Zunächst kam diesen Akteuren zugute, dass sich im Rahmen der Katastrophendeutung – wie an späterer Stelle noch detaillierter zu rekonstruieren ist –616 ein zunehmend hegemonialer „Beschwichtigungsdiskurs“617 konstituierte, der zu einer weitreichenden Externalisierung der zentralen Ursachen dieses problematischen Ereigniskomplexes führte. Die Lawinenkatastrophe wurde hierbei im Sinne eines extremen Naturereignisses repräsentiert, das sich der Sphäre des Regierbaren aufgrund seiner vermeintlich unverfügbaren Ursachen und unergründbaren Gründe zum damaligen Zeitpunkt weitestgehend entzogen habe. Infolge einer breiten Anerkennung dieser Lesart führten die Ereignisse trotz ihrer katastrophischen Folgen nicht zu einer Statusdelegitimierung der etablierten Entscheidungsträger. Dass die zuständigen Politiker indessen nicht nur nicht geschwächt wurden, sondern vielfach auch eine nachhaltige Stärkung ihrer Herrschaftspositionen erwirkten, hing nun insbesondere mit ihren konkreten Beiträgen zur ökonomischtechnischen Katastrophenbewältigung zusammen. Akteuren wie dem Landeshauptmann Ilg und dem Bezirkshauptmann Dr. Längle gelang es dabei offenbar, die für katastrophische Situationen charakteristische „sprunghaft anwachsende Nachfrage nach Charisma“618 in hinreichendem Maße zu befriedigen. Sie reagierten schnell und entschieden, setzten der anomischen Unübersichtlichkeit konkrete Maßnahmen entgegen und fanden sich dabei wiederholt auch selbst im Katastrophengebiet ein, um ein besseres Bild der Lage zu bekommen, bei Besprechungen präsent zu sein, den Einheimischen Mut zu machen oder – so jeden-

615 Dobler 2008, S. 183. 616 Vgl. hierzu die entsprechenden Ausführungen in Kapitel III.3.2.3 „Semantische Aspekte“. 617 Dies in Anlehnung an den von Reiner Keller skizzierten Idealtypus des postkatastrophischen „Kontrolldiskurses“. Vgl. Keller 2011b, S. 310f. 618 Lars Clausen: Reale Gefahren und katastrophensoziologische Theorie. Soziologischer Rat bei FAKKEL-Licht. In: Ders./Elke M. Geenen/Elísio Macamo (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen. Münster 2003, S. 51-76, hier S. 73.

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falls Ilg und dessen Söhne –619 für einen Tag bei den Räumungsarbeiten zu helfen. Ihr Auftreten vermittelte die „zupackende Entschlossenheit“ beherzter Katastrophenmanager,620 was, medial verbreitet, denn auch durch entsprechende symbolische Profite honoriert wurde. Abbildung 18: Landeshauptmann Ilg (l.) und Bezirkshauptmann Dr. Längle

Quelle: Wildbach- und Lawinenverbauung, Gebietsbauleitung Bludenz

Neben vermögenden Spendern und politischen Entscheidungsträgern profitierten als dritte Gruppe schließlich auch die Vertreter der einschlägigen wissenschaftlich-technischen Institutionen von den Lawinenabgängen. Da plausibel gemacht werden konnte, dass die aktuellen Ereignisse im Rahmen ihrer bisherigen monetären, personellen und technischen Möglichkeiten kaum hätten verhindert werden können, erlitt das Vertrauen in die zuständigen Präventionsinstitutionen keine merklichen Einbußen. Die Katastrophe wurde nicht als Ausdruck institutionellen Versagens oder im Sinne einer Realfalsifikation der Expertise einzelner Akteure gedeutet. Vielmehr setzte sich die Auffassung durch, dass zur Vermeidung künftiger Lawinenkatastrophen die Arbeit dieser Institutionen in ihrer bisherigen Form, also mit gleichem Führungspersonal sowie mit gleichem Zu619 Vgl. N.N.: Landeshauptmann Ulrich Ilg im Arbeiterkleid beim Einsatz. In: Vorarlberger Nachrichten, 09.04.1954; N.N.: Landeshauptmann Ilg hilft selbst in Blons mit. In: Vorarlberger Volksblatt, 10.04.1954. 620 Vgl. Dombrowsky 2013, S. 32.

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schnitt der Analyse- und Zugriffstechnologien, fortgesetzt werden müsse, dabei aber einer besseren Ausstattung bedürfe. Es sollten, mit einem Wort, weniger qualitative, sondern vornehmlich quantitative Modifizierungen erfolgen. So kam der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung und dem – ja eben erst eingerichteten – Lawinenwarndienst Vorarlberg in den folgenden Jahren sowohl ein größeres Budget als auch eine größere gesellschaftliche Reputation zu. Nach diesem Blick auf das überregionale Gesellschaftsgefüge, soll nun wieder die Gemeinde Blons näher in den Fokus gerückt werden. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen gilt es im Folgenden also zu rekonstruieren, welche sozialen Effekte die damaligen Lawinenabgänge auf der lokalen Ebene hervorgerufen haben: Wie wirkten sich der plötzliche Einbruch von Tod, Zerstörung und Verlust sowie die vielfältigen externen Einflüsse im Rahmen der Hilfsaktionen und des Wiederaufbaus auf das Zusammenleben der Blonser Bevölkerung aus? Auch auf dieser Ebene waren die beobachtbaren Folgen im Verlauf der postkatastrophischen Entwicklungen von widersprüchlichen Tendenzen geprägt. Auch hier wurde in mancher Hinsicht soziale Ungleichheit reproduziert, da insbesondere Akteure der präkatastrophischen Dorfelite dazu in der Lage waren, die katastrophisch eröffneten Handlungsoptionen profitbringend zu nutzen. Dennoch dominierten letztlich die homogenisierenden und differenzierenden Transformationseffekte. Homogenisierend wirkte vor allem die gemeinsame Betroffenheit. Zum einen erforderte sie kooperative Formen des Bewältigungshandelns, zum anderen wurde sie zu einem zentralen intersubjektiv geteilten Bezugspunkt künftiger Identitätsbildungsprozesse. Differenzrelativierende Wirkungen hatten daneben aber auch die wiederholte Teilnahme an kollektiven Verarbeitungsritualen sowie die Herausbildung gemeinsamer Interessen, zumal dann, wenn diese gegen empfundene Zumutungen von „außen“ zu verteidigen waren. Differenzierend wirkten hingegen etwa die räumliche Zerstreuung der Akteure, die Produktion neuer Formen sozialer Ungleichheit durch empfangene Hilfsgüter oder die Pluralisierung der naheliegenden Lebensgestaltungsoptionen. In chronologischer Folge gilt es diesen Zusammenhängen nun etwas detaillierter nachzugehen. Hinsichtlich jener Stunden, die den Lawinenabgängen unmittelbar folgten, wäre zunächst von einer Dominanz homogenisierender, kohäsionskonsolidierender Effekte auszugehen. Schließlich wurde in zahlreichen anderen Katastrophenfällen beobachtet, dass die jeweils involvierten Akteure vor Ort während dieser ersten Reaktionsversuche eine eng verbundene Gemeinschaft jenseits bisheriger Differenzen bildeten. „Communitas“, formuliert Turner, „dringt in der Liminali-

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tät durch die Lücken der Struktur“621 – auch die postkatastrophische Situation hat zumeist den Charakter eines Schwellenzustands, einer liminalen Zwischenzeit, in der präkatastrophische Unterscheidungsmerkmale temporär an Prägekraft verlieren. So handle es sich hierbei, wie etwa Sökefeld festhält, in der Regel um eine Phase, „where re-existing social structure almost ceases to exist, where affected and notaffected people of all strata and communities cooperate in a highly altruistic manner to save as many lives as possible.“622 Da zu der vorübergehenden Relativierung sozialer Ungleichheit und zeitweiligen Synchronisierung zentraler handlungsleitender Interessen – Phänomene, die ja ihrerseits schon überaus euphorisierende Wirkungen haben können – oftmals auch eine befreiende Relativierung bisheriger Alltagssorgen sowie ein Eigenwertzugewinn der reinen Faktizität des Existierens vor dem Hintergrund momentan empfundenen Überlebensglücks hinzukommen, ist mit Blick auf diese frühe Phase der Rettungsbemühungen trotz allen Leides zuweilen gar von einer „Traumzeit“623, von einer „post-disaster utopia“624 oder von einem „paradise built in hell“625 die Rede. In der Tat hat sich auch in Blons Vergleichbares ereignet. So kam es auch hier während der ersten Stunden nach den Lawinenabgängen zur Herausbildung einer Kooperations- und Solidargemeinschaft. Abgeschieden von der Außenwelt rückte man näher zusammen und half sich gegenseitig beim Versuch der Bewältigung drängender Probleme. Angesichts ihrer katastrophischen Lage schienen sich die individuellen Interessen der betroffenen Akteure vorübergehend gleichsam zu einem einheitlichen Kollektivinteresse zu fügen.626 Im Vollzug des Suchens, Bergens und Verpflegens, in der Bedrohungskommunikation zur erörternden Klärung der Lage, in der Organisation von Nahrung, Wärme und Unter-

621 Victor W. Turner: Liminalität und Communitas. In: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Wiesbaden 2013, S. 247-257, hier S. 256. 622 Sökefeld 2012, S. 13. 623 Simon 2007, S. 69. 624 Der vielzitierte Terminus findet sich ursprünglich in Martha Wolfenstein: Disaster. A Psychological Study. Glencoe 1957, S. 189. 625 Vgl. Rebecca Solnit: A Paradise Built in Hell: The Extraordinary Communities that Arise in Disaster. New York 2009. 626 Ähnliches beobachtete etwa auch Oliver-Smith nach der Erdbebenkatastrophe von Yungay: „The individual faced problems which could not be solved by the individual alone. In fact, since virtually all individuals faced the problems of shelter, warmth, clothing and food, they became community wide problems with solutions backed by community consensus and effort.“ Oliver-Smith 1979, S. 45.

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kunft sowie im gemeinsamen Bangen, Beten und Hoffen wurden frühere Differenzen zwischen den Dorfbewohnern weitestgehend suspendiert. Zwar kam es nach den Lawinenabgängen also auch hier zeitweilig zu einer Bündelung der akteursspezifischen Relevanzstrukturen, doch muss man die räumliche, soziale und zeitliche Reichweite der dabei sich konstituierenden NotGemeinschaft relativieren. Erstens integrierte sie nur einen Teil der Bevölkerung, da Einzelne in ihren Häusern blieben und insbesondere die Bewohner der östlichen Parzelle Valentschina fehlten – aufgrund mangelnder Kommunikationsmittel und schlechter Sichtverhältnisse haben Letztere ja erst am Tag nach den Lawinenabgängen von den Ereignissen im Kirchdorf und auf dem Walkenbach erfahren. Zweitens handelte es sich dabei nicht um eine vollkommen egalitäre Gemeinschaft, vielmehr wurden die prägenden organisatorischen Entscheidungen von jenen Akteuren getroffen, die auch bisher das Sagen hatten. Zwar konnte der Bürgermeister nicht vor Ort sein, da er in Valentschina wohnte, der Schulleiter und der Pfarrer waren indessen zugegen, initiierten die Rettungsversuche, strukturierten deren Ablauf und erstellten Listen, auf denen sie die Vermissten und Verstorbenen verzeichneten. Drittens begannen offenbar einige Dorfbewohner damit, sich aus den Such- und Rettungsbemühungen zurückzuziehen, als am Mittwochnachmittag die ersten externen Helfer im Blonser Gemeindegebiet angekommen waren. Die gemeinsame Kooperation der ersten Stunden kam somit schon bald zu einem Ende. Nach dem Eintreffen der Helfer begann für die Bewohner von Blons eine Phase der räumlichen Zerstreuung. Die behandlungsbedürftig Verwundeten wurden abtransportiert und – zum Teil für mehrere Monate – in die Krankenhäuser nach Rankweil oder Bregenz gebracht. Zudem mussten auch viele der nun obdachlosen Dorfbewohner evakuiert werden; teils weil sie vor Ort zunächst nicht unterkommen konnten, teils weil sie, wie im Falle der Kinder, von den postkatastrophischen Turbulenzen verschont werden sollten. 43 Personen wohnten somit vorübergehend in Notunterkünften oder bei Verwandten und Freunden in der näheren und ferneren Umgebung – genauer: in St. Gerold, Thüringerberg, Ludesch, Nüziders, Bludenz, Sateins, Rüthis, Dafins und Bregenz.627 Zwar konnten einige der Evakuierten schon nach wenigen Tagen zurückkehren und nun, nachdem die zahlreichen externen Ersthelfer Blons wieder verlassen hatten, in den Häusern ihrer Angehörigen sowie – etwas später – in den provisorisch erstellten Wohnbaracken unterhalb der Kirche unterkommen. Anderen war das

627 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Kurzbericht über die Evakuierungsmaßnahmen aus dem Katastrophengebiet in der Zeit vom 14.-17.01.54. Bludenz, 19.01.1954.

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Wohnen vor Ort aber erst dann wieder möglich, als der Wiederaufbau ihrer Häuser eine bezugsfertige Form abgenommen hatte – was aufgrund verschiedener Schwierigkeiten bei der Bauplanung, einem Mangel an Baumaterialien und Baufacharbeitern, arbeitshemmenden Witterungsbedingungen sowie diversen Transportproblemen infolge der Abgeschiedenheit mancher Bauplätze, zum Teil erst im Herbst 1957 der Fall war.628 Mit Beginn des Räumungs- und Rematerialisierungsprozesses setzte nach dem ersten Zusammenrücken und der daran sich anschließenden Zerstreuung die langewährende Phase der sukzessiven Rekonstitution des postkatastrophischen Sozialgefüges ein. Diese dritte Phase, in deren Verlauf sich die sozialen Relationen zwischen den Akteuren wieder zunehmend stabilisierten, dauert in mancher Hinsicht bis heute an. Im Folgenden sollen drei zentrale Aspekte dieser Vorgänge näher beleuchtet werden. Zuerst gilt es die gewandelte personelle Zusammensetzung der lokalen Figurationen zu thematisieren, dann wenden sich die Ausführungen den sozialen Effekten des Rematerialisierungsprozesses zu, bevor schließlich in einem dritten Schritt der Frage nachgegangen wird, ob und inwiefern es durch die Lawinenabgänge in Blons zu einer ereignisbezogenen Stärkung der kollektiven Identität gekommen ist. Geprägt war die Rekonstitution des lokalen Sozialgefüges zunächst insbesondere durch den problematischen Umstand, dass ein erheblicher Teil der ursprünglichen Bevölkerung fehlte: 57 Personen waren umgekommen, einige Bewohner konnten noch nicht zurückkehren. Hinzu kam, dass sich in den folgenden Monaten zahlreiche Blonser dazu entschieden hatten, die Gemeinde endgültig zu verlassen. Ein Großteil dieser zwölf Familien hätte die anfallenden Arbeiten der Bergbauernwirtschaft nach dem Verlust ihrer Angehörigen nicht mehr im Rahmen der tradierten, innerfamiliär strukturierten Organisationsform bewältigen können. Statt ihren Hof wieder aufzubauen und ihre verendeten Tiere durch neue zu ersetzen, ließen sie das Bisherige hinter sich und suchten Arbeit in den prosperierenden Industriebetrieben des Walgaus und Rheintals. Insgesamt wanderten aus diesen Gründen 46 Personen ab, so dass die ursprüngliche Blonser Bevölkerung – auch nach Rückkehr der oben genannten „Wartenden“ – schließlich um 103 Bewohner, also um rund 28 Prozent, verringert war. Die Dezimierung und räumliche Fragmentierung der Bevölkerung führten freilich nicht nur zu Problemen bei der bergbäuerlichen Arbeitsbewältigung, sondern hinterließen Lücken in sämtlichen Institutionen des lokalen Zusammen-

628 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Fördermaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957.

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lebens – von der Schule über die Vereine bis zur Gemeindeverwaltung. Hinzu kam, dass sie bei den Hinterbliebenen existentielle Empfindungen der Trauer und Verlassenheit nach sich zogen, die angesichts der Ödnis des zerstörten Dorfes – Sinnbild vieler materiell negierter Zukunftsentwürfe – noch weiter verstärkt wurden. Die Verluste und Zerstörungen hemmten, verunsicherten und entmutigten. Sie erschwerten den Prozess der (Re-)Etablierung beziehungsweise (Re-)Stabilisierung sozialer Alltagsinteraktionen demzufolge sowohl auf praktisch-organisatorischer als auch auf emotionaler Ebene: „Die Stimmung im Dorf war gedrückt. Die Menschen trugen Trauerkleidung, selbst die, die niemanden verloren hatten; es gab keine Jaß-Partien, keine Versammlungen nach der Kirche, und ein Jahr lang sollte es keinen Tanz in der Krone geben, keine Zusammenkünfte der Trachtengruppe.“629

Die Kirche wurde von den sozialen Lähmungen des postkatastrophischen Gemeindelebens am wenigsten betroffen. Gebäude und Personal waren unversehrt geblieben; die religiöse Nachfrage angesichts aktuell gesteigerter Sinnbedürftigkeit gestiegen. In nahezu lückenloser Kontinuität konnten vor Ort weiterhin regelmäßige Messen, Rosenkränze und Gottesdienste stattfinden.630 Auch die zentralen administrativen Institutionen nahmen schon recht bald wieder ihren Betrieb auf. Ab dem 22. Januar fand die Gemeindevertretung wieder regelmäßig zu ihren Sitzungen zusammen,631 nun aber in veränderter Zusammensetzung: Zwei der Gemeinderäte waren durch die Lawinen ums Leben gekommen und hatten Lücken hinterlassen, die durch Neubesetzungen kompensiert werden mussten;632 zudem fungierte, infolge einer entsprechenden Anfrage des Bürgermeisters, zwischen dem 22. Januar und dem 31. Oktober 1954 Erwin Maccani, ein Beamter der Stadt Dornbirn, als Blonser Gemeindesekretär und half in dieser Position, die katastrophenbedingt expandierenden Aufgaben der Gemeindeorganisation zu bewältigen.633 Parallel zur Rekonstitution der Gemeindeverwaltung wurde am 8. Februar schließlich auch der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Von den ur-

629 Wechsberg 1959, S. 268. 630 Vgl. ADF, PA Blons Hs. 49: Verkündbuch 1952-1957. Eintrag vom 17.01.1954. 631 Vgl. GAB, Protokolle der Gemeindevertretung Blons. 1924 bis 1955: Niederschrift über die Sitzung vom 22.01.1954. 632 Vgl. GAB, Protokolle der Gemeindevertretung Blons. 1924 bis 1955: Niederschrift über die Sitzung vom 17.02.1954. 633 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Schreiben der Abteilung Ia an die Abteilung IIIa. Bregenz, 03.11.1954.

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sprünglich 33 Schülern und Schülerinnen konnten zunächst aber nur elf am Unterricht teilnehmen – vier von ihnen waren nicht mehr am Leben, die anderen befanden sich noch in ihren verstreuten Übergangsunterkünften außerhalb der Gemeinde.634 Während also der Kirchbetrieb strukturell weitgehend unverändert weiterlief und auch die lokalen Institutionen der Politik und Bildung – wenngleich mit veränderter beziehungsweise noch stark reduzierter Besetzung – wenige Wochen nach den Lawinenabgängen wieder zu einem festen Bestandteil des lokalen Alltags wurden, hatten freizeithafte Gesellungsformen offenbar nachhaltig an Bedeutung verloren. Zwar gab es sicher auch in Blons ein ausgeprägtes „Bedürfnis nach dem Vertrauten“635, nach der geborgenheitsvermittelnden Routine des bisherigen Alltags, doch schien die katastrophische Betroffenheit eine solche Rückkehr gerade auch auf emotionaler Ebene vorerst nicht zuzulassen. Wohl insbesondere aufgrund tiefgreifender ereignisbedingter Relevanzrelativierungen – „weil die starken Gefühle, die davon ausgelöst wurden, die Prioritäten neu ordneten“636 – dauerte es lange, bis die bisherigen Institutionen gemeinsamer Freizeitinteraktionen wieder zu einem festen Bestandteil des Gemeindelebens werden konnten. Den Verlusten auf Seiten der einheimischen Bevölkerung stand vorübergehend ein expansiver Zuwachs an externen Akteuren gegenüber. Auch nachdem die Helfer der ersten Tage das Dorf wieder verlassen hatten, hielt der Zustrom von Fremden weiterhin an. Neben den zuständigen Sachverständigen, die in verschiedener Hinsicht mit der Erhebung von Schäden und der Planung des Wiederaufbaus befasst waren, sind hierbei Politiker, Journalisten, Neugierige, Räumungs-, Wiederaufbau- und Erntehelfer sowie die teils über mehrere Monate hinweg vor Ort beschäftigten Arbeiter der mit dem lokalen Straßen-, Wege-, Häuser- und Lawinenschutzbau beauftragten Unternehmen zu nennen. Die Gruppe dieser zeitweiligen Besucher war durch eine starke Heterogenität geprägt. Schon allein die freiwilligen Helfer kamen aus 16 verschiedenen Nationen, waren verschiedenen Alters, verschiedenen Geschlechts und umfassten ein breites Spektrum verschiedener Berufe. Den Aufzählungen zufolge fanden sich unter ihnen Büroangestellte, Gartenarchitekten, Hausfrauen, Ingenieure, Kindergärtnerinnen, Lehrerinnen, Pastoren, Priester, Professoren, Rechtsanwälte, Sozi-

634 Vgl. Dobler 2008, S. 167. 635 Monique Scheer: Affekt. In: Jan Hinrichsen/Reinhard Johler/Sandro Ratt (Hg.): Katastrophen/Kultur. Beiträge zu einer interdisziplinären Begriffswerkstatt. Tübingen 2018, S. 45-60 (im Erscheinen), hier S. 60. 636 Ebd., S. 59.

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alarbeiter, Studenten, Tischler, Zeichner, etc.637 So wurde die ehedem tendenziell abgeschiedene Gemeinde für einige Jahre zu einem bewegten Ort reger Fluktuation, an dem in wechselnder Zusammensetzung phasenweise mehr als 120 auswärtige Personen präsent waren.638 Im Zuge dieser fortwährenden Präsenz verschiedenster Akteure vollzog sich eine Dynamisierung der lokalen Interaktionsformen und Kommunikationsflüsse. Einheimische und Auswärtige kooperierten bei der Arbeit und begegneten sich im Gasthaus „Krone“ oder im „Mont-Calv-Keller“, einer provisorischen Schankstube, die vom damaligen Schulleiter auf den Grundmauern seines zerstörten Hauses errichtet worden war und dort „den vielen Bauarbeitern bis Ende Oktober 1955 zum Besuch offenstand.“639 Weitere Interaktionsoptionen ergaben sich, als der Internationale Zivildienst für einige Wochen vor Ort war. So wurde währenddessen beispielsweise eine Vortragsreihe initiiert, in deren Rahmen Einheimische wie Auswärtige zu einem breiten Themenspektrum referierten: Der Pfarrer hielt einen „Lichtbildervortrag über die Lawinenkatastrophe“, der Schulleiter informierte über „Die geographische und historische Entwicklung des Walsertals“ und einzelne Helfer sprachen zu Themen wie „Die Wirtschaft in Ostdeutschland“, „Politische Probleme in Italien“ oder „Das moderne Ägypten“.640 Daneben fanden wiederholt auch organisierte „Bunte Abende – mit JRK und Dorfgemeinschaft“641 statt oder es kam zu spontanen Zusammenkünften, die zuweilen offenbar einen durchaus ausgelassenen Charakter hatten: „Ohne jede Vorbereitung ist auf einmal ein ‚Heiterer Abend‘ da. Und alle tun mit, auch der Pfarrer und der Bürgermeister sind bei jedem Scherz dabei.“642 Ob die ungewohnte Dauerpräsenz so zahlreicher Besucher mitunter auch als Ausdruck eines problematischen Grenz- und Souveränitätsverlustes, als invasiver,643 unkontrollierbarer Einbruch fremder Lebensrealisierungen empfunden

637 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Schlussbericht des Lagers in Blons. Wien, 30.11.1954. 638 Vgl. ebd. 639 Dobler 2008, S. 208. Vgl. auch VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Blons, 05.08.1954. 640 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Schlussbericht des Lagers in Blons. Wien, 30.11.1954. 641 Vgl. ebd. 642 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Drei Wochen im Lawineneinsatz. Wien, Juni 1954. 643 Clausen bezeichnet die „Invasion“ von äußeren Mächten wie Hilfsorganisationen als ein typisches Muster postkatastrophischer Prozesse. Vgl. Clausen 2003, S. 73.

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wurde und vor diesem Hintergrund zu xenophoben Tendenzen einer traditionalwertrationalen Gegenkollektivierung geführt hat, ist nicht bekannt. Im Abschlussbericht des zweiten Zivildiensteinsatzes findet sich lediglich der Hinweis, dass während des ersten Aufenthalts seitens der Bevölkerung ein „anfängliches Misstrauen“ spürbar gewesen sei. Letzteres habe sich im Laufe der Zeit jedoch gänzlich gelegt.644 Scheinbar überwog letztlich der Eindruck, dass es sich beim Einsatz der fremden Helfer um eine hilfreiche Unterstützung handelte, die pragmatische Erleichterungen brachte und dabei eher „Solidarität“ als „Invasion“ verkörperte. Von einer positiven Wahrnehmung der entstandenen Kontakte zeugt denn auch, dass aus den Interaktionen offenbar zahlreiche Brieffreundschaften entstanden645 und es in einem Fall gar zur Eheschließung zwischen einer Einheimischen und einem auswärtigen Helfer gekommen ist.646 Neben diesen Veränderungen in der personellen Zusammensetzung hatte insbesondere auch der Rematerialisierungsprozess Einfluss auf die postkatastrophischen Entwicklungen des Blonser Sozialgefüges. Die Räumung, der Wiederaufbau und die materielle Wiederausstattung ermöglichten – und prägten – die Rückkehr zu geregelten Alltagsinteraktionen, waren dabei aber freilich stets auch ihrerseits von sozialen Relationen geprägt. 647 Sie eröffneten den Akteuren neue Handlungsoptionen und führten – da dies in je unterschiedlichen Maßen geschah – schließlich auch zu Veränderungen der lokalen Machtverhältnisse. Einige dieser Effekte sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Dass mit den Rematerialisierungsprozessen auch eine Transformation der lokalen Handlungsräume einherging, hatte das vorausgegangene Kapitel bereits gezeigt. Im Rahmen des hier interessierenden Zusammenhangs muss dabei jedoch zum einen ergänzt werden, dass sich vermittels dieser Möglichkeiten mit der Zeit auch die sozialen Verkehrskreise der Akteure erweitert haben. Zu einer Interaktionsdynamisierung kam es also nicht nur durch den angestoßenen Zustrom auswärtiger Akteure sowie den Zuwachs an erforderlichen Kontakten mit Repräsentanten der verschiedenen in den Rematerialisierungsprozess involvier-

644 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Drei Wochen im Lawineneinsatz. Wien, Juni 1954. 645 Vgl. ebd. 646 Vgl. Wechsberg 1959, S. 268. 647 Zur Dialektik zwischen materieller Rekonstruktion und sozialer Rekonstitution in postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozessen siehe auch Anthony Oliver-Smith: Communities after Catastrophe. Reconstructing the Material, Reconstituting the Social. In: Stanley E. Hyland (Hg.): Community Building in the TwentyFirst Century. Santa Fe 2005, S. 45-70, hier S. 51-57.

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ten Ämter, Behörden und Unternehmen, sondern auch infolge architektonischer und infrastruktureller Veränderungen, die aus dem Wiederaufbau der Gemeinde hervorgegangen waren. Eine erste sozialrelevante materielle Transformation bestand in der komfortableren Gestaltung der neuerrichteten Gebäude. Schließlich konnte auf dieser Basis nun auch dem Tourismus vor Ort eine etwas größere Bedeutung zukommen. Die neuen Häuser wurden vielfach mit Balkonen und Badezimmern ausgestattet und boten den Einheimischen damit bessere Möglichkeiten der Zimmervermietung. Auch der an anderer Stelle wieder aufgebaute Gasthof „Adler“ schien den Ansprüchen potentieller Gäste nun eher gerecht werden zu können als dies zuvor der Fall war. So begann in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine Phase, in der die touristisch geprägten Kontakte mit Akteuren verschiedenster Provenienz deutlich zugenommen haben. Neben dem Häuser- begünstigte aber auch der Straßenbau eine Ausweitung der sozialen Verkehrskreise. Durch den Ausbau der Walserstraße und die Erweiterung des lokalen Güterwegenetzes rückte man den Orten und Möglichkeiten außerhalb des Tales deutlich näher. So begannen nun einige Blonser damit, täglich zu einer Arbeitsstätte in den umliegenden Industriebetrieben zu pendeln, was mit der Zeit zu neuen kollegialen und freundschaftlichen Beziehungen führte. Den Angaben Doblers zufolge konnte bereits im Jahr 1955 von den verbliebenen 31 landwirtschaftlichen Betrieben vor Ort nur noch etwa die Hälfte als Vollerwerbsbetriebe bezeichnet werden – die anderen versuchten ihr Einkommen zumeist durch die Vermietung von Ferienwohnungen oder durch eine Nebenbeschäftigung außerhalb der Gemeinde zu ergänzen. 648 Führte der postkatastrophische Rematerialisierungsprozess zum einen also zu Erweiterungen der Interaktionsradien, so hatte er zum anderen auch Auswirkungen auf die ressourcenstrukturierten Machtverhältnisse. Neben generellen Veränderungen in den Relationen zwischen den Gemeinden des Tales – wo Blons infolge des dynamisierten Strukturwandels nun eine stärkere Position als bisher innehatte –649 sind hierbei auch Transformationen der Machtverhältnisse innerhalb des Gemeindegefüges zu nennen. Auch auf dieser Ebene sollte sich herausstellen, dass die Betroffenheit in materieller Hinsicht oftmals zu einer Erweiterung der eigenen Möglichkeiten geführt hat. Zumeist profitieren von Katastrophen eher jene, deren Besitz, im Gegensatz zu dem ihrer Mitbürger, nicht zerstört wurde – „da nicht alle gleichermaßen betroffen werden, ergeben sich relative Katastrophengewinnler, z.B. ‚Verschon-

648 Vgl. Dobler 2008, S. 210. 649 Interview 6: Sonntag, 31.01.2014.

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te‘“650. In Blons ist mit dem katastrophisch herbeigeführten Unterschied zwischen „materiell Getroffenen“ und „materiell Verschonten“ zumindest vorübergehend ebenfalls ein neues Kriterium sozialer Ungleichheit aufgekommen. Da aber der präkatastrophische Lebensstandard hier im Allgemeinen sehr niedrig war und die postkatastrophischen Hilfeleistungen verhältnismäßig umfangreiche Rematerialisierungsoptionen boten, schienen hinsichtlich der relationalen Ressourcenausstattung in diesem Fall eher die „Getroffenen“ zu profitieren. Wechsbergs damaligen Beobachtungen zufolge sei „nach den Lawinen […] an Stelle der alten Fehden die Spaltung zwischen ‚Alt-Armen‘ und ‚Neureichen‘ getreten.“651 So verbreitete sich im Dorf offenbar schon bald „allerlei mürrisches Gerede über den ‚Lawinen-Adel‘ […], der ‚mit anderer Leute Geld‘ gebaut habe“652 – Hinweise auf postkatastrophische Klagen und Neidimpulse seitens der „Verschonten“, wie sie sich auch in einzelnen behördlichen Berichten und Zeitungsartikeln finden, die während der Zeit des Wiederaufbaus verfasst wurden.653 In der Tat hoben sich die neuerbauten Häuser und Ställe von den stehengebliebenen alten Gebäuden deutlich ab. Auch mit Gebrauchsgegenständen – von elektrischen Steilhangrasenmähern über Waschmaschinen und Bügeleisen bis zu Fahrrädern –654 waren die materiell Getroffenen nun in der Regel besser, oder zumindest moderner, ausgestattet als ihre Nachbarn aus den verschont gebliebenen Höfen. Zwar mussten sie in einigen Fällen lastbringende Kredite aufnehmen, um entstandene Differenzen zwischen der bewilligten Beihilfesumme und den faktischen Kosten des Wiederaufbaus begleichen zu können, doch fand der relativierende Umstand dieser Hypothekenbelastetheit vieler neuentstandener Unterschiede angesichts der materiellen Greifbarkeit und Sichtbarkeit solch äußerer Distinktionsmerkmale in den Wahrnehmungen und Beurteilungen der lokalen Akteure zunächst offenbar keine Berücksichtigung. Wurde die präkatastrophische Sozialstruktur im Zuge der Rematerialisierungsprozesse also durch die nun relevante Differenz zwischen „Getroffenen“ und „Verschonten“ durchbrochen, so wirkte sie diesseits und jenseits dieser Bruchlinie aber weiterhin fort. Auf der einen Seite war dies insofern der Fall als die Ressourcen der „Verschonten“ freilich auch in ihren relationalen Unterschie-

650 Clausen 2003, S. 71 (Hervorhebung im Original). 651 Wechsberg 1959, S. 281. 652 Ebd., S. 278. 653 Vgl. etwa VLA, Landesregierung Abt. Präsidium, Sch. 78: Bericht der Agrarbezirksbehörde über den derzeitigen Stand der Förderungsmaßnahmen. Bregenz, 28.10.1954, S. 7; Fehle 1955, S. 60. 654 Vgl. Wechsberg 1959, S. 282.

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den verschont geblieben sind, auf der anderen Seite deshalb, weil die postkatastrophischen Rematerialisierungsoptionen der „Getroffenen“ nicht zuletzt von ihrer präkatastrophischen Position beziehungsweise ihren positionsspezifischen Handlungsdispositionen abhängig blieben. Trotz gleicher Situation befanden sie sich gleichsam in unterschiedlichen Lagen, da neben etwaigem Besitz auf Bankkonten oder ähnlichen ortsentbundenen Gütern auch die je spezifisch konfigurierte Ausstattung mit sozialem und inkorporiertem kulturellen Kapital von den materiellen Zerstörungen nicht betroffen worden war. Wie in der postkatastrophischen Phase gesteigerter Hilfsbedürftigkeit etwa die in verschiedener Weise aktivierbaren Energien des Sozialkapitals wirksam werden konnten, verdeutlicht ein Schreiben des Bludenzer Bezirkshauptmanns, in dem dieser den damaligen Leiter des Landesstraßenbauamtes darum bittet, ein ihm bekanntes Blonser Gemeindemitglied nun als Magazineur zu beschäftigen: „Ich kenne D. seit vielen Jahren und zweifle nicht daran, dass er in der Lage wäre, einen derartigen Posten zur Zufriedenheit auszuführen.“655 Soziales Kapital, insbesondere in Form solcher Bekanntschaften mit Entscheidungsbefugten, und kulturelles Kapital, wie etwa die Fähigkeit, gewinnbringende Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, oder kaufmännische, rechnerische und rhetorische Mittel, diese Möglichkeiten zu nutzen, schienen indessen gerade auch jenen zugutezukommen, die damals vor Ort geblieben sind. So waren es vor allem Angehörige der präkatastrophischen Gemeindeelite, die nach den Lawinenabgängen Zugang zu den Planungsausschüssen656 fanden und in regelmäßigem Austausch mit den verschiedenen vor Ort agierenden Akteuren – von den Politikern und Amtsvorstehern über die Arbeiter bis zu den Medienvertretern – standen. Sie vermochten demzufolge einflussreiche Sprecherpositionen in den lokalen Deutungsdebatten einzunehmen und profitierten daneben auch durch einen Zugewinn an mobilisierbaren Kontakten und sozialem Renommee. In materieller Hinsicht war dabei insbesondere relevant, ob und inwiefern man auf die Verteilung der Hilfsgüter Einfluss nehmen konnte – ob und inwiefern man also über Beziehungen und/oder Kompetenzen verfügte, die sich nun gleichsam in handfeste Gebäude und Dinge transformieren ließen. So hatte etwa

655 VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Schreiben des Bezirkshauptmanns an den Leiter des Landesstraßenbauamts Feldkirch. Bludenz, 04.03.1954. 656 An den Sitzungen des Hilfs- und Wiederaufbaukomitees konnte lediglich der Bürgermeister teilnehmen. Der Lehrer fungierte als Vorsitzender des „Aufbauausschusses Blons“, in dessen Rahmen auch dem Pfarrer eine wichtige Funktion zukam. Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Erster Bericht des Aufbauausschusses Blons zu den Sitzungen am 4. und 7. Februar 1954. Blons, 08.02.1954.

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der damalige Schulleiter nicht nur überdurchschnittlich viele Erstattungsanträge beim Wiederaufbaukomitee eingereicht, sondern wusste diese oftmals auch durch findige Argumentationsstrategien zu plausibilisieren. Als Beispiel hierfür mag ein Ansuchen um Gewährung einer Beihilfe zur Wiederbeschaffung verlorengegangener Trachten dienen, das dieser in seiner Funktion als Leiter der „Trachtengruppe Blons“ gestellt hat. Der Antrag ist formell korrekt gestaltet, in Schreibmaschinenschrift verfasst und beinhaltet Passagen, in denen der oben erwähnte postkatastrophische Diskurs über Trägheits- und moralische Regressionstendenzen dazu genutzt wird, den eigenen Anliegen eine größere Relevanz zu verleihen: „Ich bin der Meinung, daß es gerade für Blons wichtig ist, die Normalisierung und das Rückfinden in die alten Gewohnheiten zu fördern, und dazu gehört auch die Trachten- und Volkstumspflege in Gesang und Tanz. Viele Vorwürfe und Entgleisungen, die speziell der Jugend von Blons vorgeworfen werden, haben nicht zuletzt ihre Ursache darin, daß die Freizeit, insbes. der Sonn- und Feiertag, nicht im Rahmen vernünftiger Vereinspflege ablaufen kann. Jeder ist sich selbst überlassen und nicht wenige finden ihre Lösung darin, regelmäßig die Gasthäuser inner- und außerhalb der Gemeinde abzustreifen.“657

Wenngleich trotz solcher Plausibilisierungsstrategien nicht alle Anträge des Schulleiters bewilligt wurden und ein Teil der beantragten Güter ja auch vor allem den von ihm repräsentierten Institutionen zugutekam, zeichnet sich hier letztlich doch eine Tendenz zur Reproduktion sozialer Ungleichheit ab. Ein letzter sozialer Aspekt, den es im Rahmen dieses Kapitels zu beleuchten gilt, betrifft die postkatastrophische „Gemeindeidentität“. Nun handelt es sich beim Begriff der Identität, zumal in seinen auf Kollektive bezogenen Fassungen, um eine alltags- wie wissenschaftssprachlich weit verbreitete Formel, in deren Verwendung zumeist die „Bestimmtheit des Ausdrucks […] die Vagheit des Inhalts [übertönt]“658. Auch wenn der Gedanke einer kollektiven Gemeindeidentität also zunächst nur auf sehr diffuse Bedeutungsgehalte verweist und überdies häufig mit problematischen Essentialisierungen und Subjektivierungen verbunden ist, sollte er freilich dennoch ernst genommen werden. Schließlich ändern alle analytischen Dekonstruktionsmöglichkeiten, die sich diesbezüglich bieten mögen, erst einmal nichts daran, „daß aus der Perspektive der Lebenswelt regio-

657 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Schreiben des Leiters der „Trachtengruppe Blons“ an das Hilfskomitee für Lawinengeschädigte. Blons, 29.07.1954. 658 Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 625.

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nale Differenzen ein relevantes Instrument zur Ordnung von Erfahrungen und zur Abgrenzung des je Eigenen bilden.“659 Im Folgenden soll unter „Gemeindeidentität“ also eine topologisch geprägte Partialkonvergenz innerhalb der – sich fortwährend im Fluss befindlichen – erfahrungssynthetisierenden Selbstbildkonstitution koexistierender menschlicher Akteure verstanden werden. Vor diesem Hintergrund entspricht die Bezugsgröße „Gemeinde“ einer räumlich verankerten symbolischen Form, deren Gestalt einerseits in intersubjektiven Aushandlungsprozessen hervorgebracht, gefestigt, reproduziert und transformiert wird, sich andererseits aber auch strukturierend in den inneren Ichauslegungsdebatten der verschiedenen Akteure niederschlägt, die sich jeweils als Teil der betreffenden Gemeindefiguration empfinden. Da das hierbei gestaltgebende Merkmalsgefüge – es ist bereits angeklungen – in seiner Hervorhebung stets auch eine Spezifizierung durch Abgrenzung impliziert, basieren die uns im Folgenden interessierenden Partialkonvergenzen, wie sich in Anlehnung an den Forschungsansatz des SFB 541 660 formulieren lässt, auf einem jener „wirkmächtige[n] Konstrukte, mit denen die Zugehörigkeit zu einem ‚Wir‘ erreicht werden kann, indem zugleich ein Bezug zur Alterität eines ‚Ihr‘ bzw. ‚Sie‘ bedeutsam gemacht wird.“661 Das Ausmaß der konkreten lebensweltlichen Relevanz einer „Gemeindezugehörigkeit“ ist davon abhängig, welchen Stellenwert sie im Verhältnis zu anderen Gruppenzugehörigkeiten einnimmt – welche Bedeutung ihr also innerhalb des je spezifisch konfigurierten „Integral[s] der Identifikationen“662 zukommt, das als changierendes Kompositum die individuelle Identität der einzelnen Akteure konstituiert. Freilich ordneten sich die Gemeindemitglieder bereits vor den Lawinenabgängen nicht nur überregionalen Gruppierungen zu, sondern komponierten ihre Identität insbesondere vor dem Hintergrund lokaler, nahräumlicher Bezüge und Beziehungen. Sie mögen sich in verschiedenen Kontexten zuerst als

659 Kaspar Maase: Nahwelten zwischen „Heimat“ und „Kulisse“. Anmerkungen zur volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Regionalitätsforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 94 (1998), S. 53-70, hier S. 69. 660 Hierbei handelt es sich um den von 1997 bis 2003 geförderten Freiburger Sonderforschungsbereich 541 „Identitäten und Alteritäten. Die Funktion von Alterität für die Konstitution und Konstruktion von Identität“. 661 Wolfgang Eßbach: Vorwort. In: Ders. (Hg.): wir / ihr / sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg 2000, S. 9-18, hier S. 9. 662 Hermann Bausinger: Identität. In: Ders./Utz Jeggle/Gottfried Korff/Martin Scharfe: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978b, S. 204-263, hier S. 205.

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„Alpenbewohner“,663 „Österreicher“, „Vorarlberger“, „Walser“, „Bergbauern“, „Katholiken“, „Frauen“, „Männer“ etc. empfunden und verstanden haben, betrachteten sich dabei im Grunde aber stets auch als „Blonser“. Dieses gemeindebezogene „Wir“-Bewusstsein – gegründet auf charakteristische beziehungsweise für charakteristisch gehaltene Normen, Werte, Bräuche und weltanschauliche Orientierungen sowie auf Erfahrungen, Interessen, lokalgeschichtliche Narrative, Handlungsmuster, Kooperationsformen, sprachliche Eigenheiten, Gebäude, Artefakte, Landschaftselemente etc. – erfuhr infolge der Lawinenabgänge eine nachhaltige Konsolidierung und Spezifizierung. Der zentrale Ausgangs- und Bezugspunkt dieser „Transformationen des WirGefühls“664 war hierbei eine gemeinsame katastrophische Betroffenheit, die auch dann empfunden wurde, wenn man von den Ereignissen nur indirekt berührt war. Trotz breiter Divergenzen innerhalb der Betroffenheit, trotz eines raschen Zerfalls der anfänglichen Solidargemeinschaft und trotz sozialer Differenzierungstendenzen im Zuge der Rematerialisierungsprozesse hatten die Lawinenabgänge doch auch vereinigende Wirkungen, da sie den geteilten nahweltlichen Erfahrungsraum trafen, sämtliche Überlebenden zu Hinterbliebenen machten und massive Zerstörungen zeitigten, die das intersubjektiv relevante Orts- und Landschaftsbild nachhaltig veränderten. Blons war von den Lawinen also nicht nur auf der Ebene einzelner Bewohner getroffen, sondern auch als Gemeindegesamtheit. Die Getroffenheit der Gemeinde wurde für das „Wir“-Bewusstsein ihrer Bewohner unter anderem deshalb zu einem nachhaltig relevanten Spezifikum, weil sie durch den Rückbezug auf frühere Lawinenabgänge historisiert und somit in kontinuitätsstiftende Narrative eingebettet werden konnte – schon immer, hieß es nun, sei man in Blons mit Lawinengefahren konfrontiert gewesen.665 Hinzu kam aber insbesondere auch der spezifitätsverleihende Umstand, dass es trotz des grenzüberschreitenden Radius der damaligen Katastrophenlage keine andere Gemeinde gab, die in einem vergleichbaren Maße katastrophisch gezeichnet worden wäre. Nirgendwo sonst hatten die Lawinenabgänge dieses Ausnahmewinters solch umfassende Zerstörungen und Versehrungen nach sich gezogen, nirgends waren ihr mehr Menschen zum Opfer gefallen.

663 Vgl. hierzu als Überblick Reinhard Johler: Is there an Alpine Identity? Some Ethnological Observations. In: Bojan Baskar/Irena Weber (Hg.): MESS. Mediterranean Ethnological Summer School, Vol. 4. Ljubljana 2002, S. 101-113. 664 Vgl. Niethammer 2000, S. 629. 665 Vgl. Dobler 2008, S. 9.

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Untermauert wurde der genannte Aspekt dadurch, dass Blons im Rahmen der medialen Berichterstattung eine besondere Aufmerksamkeit zugekommen ist. In Rundfunk und Fernsehen, vor allem aber in den (über-)regionalen Zeitungen wurde plötzlich viel über die kleine Gemeinde berichtet. „Blons“ schien zunehmend zu einem Sinnbild für die katastrophischen Ereignisse dieser Januartage stilisiert zu werden. Einige Fotografien, auf denen etwa zerstörte Häuser, die Hubschrauber im Landeanflug, ankommende Rettungskolonnen oder einzelne Bewohner zu sehen sind, fanden denn auch eine weite Verbreitung und gewannen schließlich den Charakter katastrophischer Ikonen. Vorübergehend war das vormals weitgehend unbekannte Dorf also in aller Munde: „Der ‚Weiße Tod‘ hat einmal gründlichen Geographieunterricht gehalten. […] Die Zeitungsspalten und -bilder der vergangenen Wochen brachten, was auch einzusehen ist, meist Berichte aus dem Hauptkatastrophengebiet Blons.“666 – Für den hier interessierenden Aspekt entscheidend war aber nicht nur die erfahrene Aufmerksamkeit als solche, sondern auch, dass die öffentliche Repräsentation des Ortes dabei so eng mit der aktuellen „Katastrophe“ konnotiert wurde. Indem sie Blons vornehmlich als „schwer heimgesuchte“667, „schwerstbetroffene“668 Lawinengemeinde darstellte, trug die mediale Berichterstattung in besonderer Weise dazu bei, dass der katastrophische Ereigniskomplex zu einem signifikanten Merkmal des lokalen „Wir“-Bewusstseins wurde. Neben dem exzeptionellen Charakter des Ereignisses sowie entsprechenden Zuschreibungsstabilisierungen im Rahmen der öffentlichen Diskurse beförderten auch die postkatastrophischen Rituale vor Ort eine gemeinschaftskonsolidierende Identifizierung mit der Lawinenkatastrophe. Am 24. Januar wurden die Verstorbenen in einem Massengrab auf dem Blonser Friedhof beigesetzt – begleitet durch hochgradig symbolträchtige zeremonielle Praktiken, wie etwa die Einsegnung der Lawinenopfer, einen Trauergottesdienst durch den Abt des Stiftes Einsiedeln, mehrere Trauerreden der politischen Prominenz sowie Kranzniederlegungen und Trauerchoräle, samt Erstaufführung einer eigens verfassten „Lawinenhymne“ durch die Kirchenchöre Thüringen und Thüringerberg.669

666 N.N.: Das bekannteste Tal. In: Vorarlberger Nachrichten, 06.02.1954. 667 N.N.: Gröbminger Bevölkerung spendet ein Haus für Blons. Vorarlberger Nachrichten, 27.01.1954. 668 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Schreiben der Agrarbezirksbehörde Bregenz an das Gemeindeamt Blons. Bregenz, 15.05.1956. 669 Vgl. N.N.: Die Trauerfeier in Blons. In: Vorarlberger Nachrichten, 25.01.1954; N.N.: Die Einsegnung der Lawinenopfer in Blons. In: Vorarlberger Volksblatt, 25.01.1954.

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Abbildung 19: Beisetzung der Lawinenopfer

Quelle: Pfarrei Blons

Am 29. August wurde in vergleichbar feierlicher Rahmung, ebenfalls durch den Abt aus Einsiedeln, eine Lawinenglocke eingeweiht. Sie sollte der Erinnerung und dem künftigen Schutz dienen, trug die Namen der Opfer und wurde St. Nikolaus, dem Schneepatron, gewidmet: „Abends, etwa um 7 Uhr, schallten ihre mächtigen Klänge über das Massengrab und die Ruinenstätten des vergangenen Winters talein, talaus […]. In Friede und Freude erklinge nun die Lawinenglocke von Blons und künde in kommenden Tagen zum Gedenken an die Zeit, die erfüllt war von Jammer, Elend und Not und die dem Tal und Dorf den Namen eintrug ‚Tal des Todes‘ und ‚Dorf des Todes‘, wie in den großen Schlagzeilen im Jänner dieses Jahres in den Zeitungen zu lesen war. Kommende Geschlechter werden durch die Glocke erinnert, was an einem Tag an Unheil und Verderben über dieses Gebirgsdorf in friedlichem Tale hereingebrochen ist. St Nikolaus beschirme aber Dorf und Tal!“ 670

Galt das Ritual der Beerdigung nicht zuletzt dem innerlichen Abschied von den Opfern, mit deren Beisetzung gleichsam auch die unmittelbare Aktualität der 670 N.N. Die Lawinenglocke von Blons. In: Vorarlberger Volksblatt, 04.09.1954. Vgl. auch VLA, Miszellen, Sch. 221: Zum Gedenken der Lawinenopfer von Blons am 11. Jänner 1954. Informationsblatt aus Anlass der Einweihung einer Lawinenglocke. Nicht datiert.

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Katastrophe beendet und der Wiederaufbau eröffnet werden sollte, so wurde durch die Einweihung der Lawinenglocke einige Monate später die Phase der Katastrophenerinnerung eingeläutet. Die beiden Feierlichkeiten gehörten damit zu jenem „Komplex von Riten, Kulten, religiösen Praktiken, den die Menschen mit der Funktion betrauen, die Risse und Wunden wiedergutzumachen, die von Ereignissen geschlagen wurden, deren man im Laufe der Erfahrung anders nicht Herr werden kann.“671 Sie waren „Übergangsstützen“,672 die dabei halfen, den diffusen Zustand der Liminalität zu überwinden.673 Hier wie dort wurde im Vollzug der Praxis aber auch die lawinenbezogene Gemeinschaftskonsolidierung performativ reproduziert und gefestigt. Abbildung 20: Einweihung der Lawinenglocke

Quelle: Pfarrei Blons

Eine ritualisierte Form der Gemeinschaftskonsolidierung ließ sich schließlich auch an den Jahrestagen der Lawinenabgänge beobachten. So fand zu diesem Anlass anfangs jährlich – mit der Zeit aber nur noch zu den runden Ereignisjährungen – ein gemeinsam begangener Gedenkgottesdienst statt, geleitet vom 671 Esposito 2004, S. 150f. 672 Vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin 1985, S. 126f. 673 Vgl. Turner 2013, S. 249f.

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„Lawinenpfarrer“, der bereits im September 1954 in die Gemeindepfarrei Eschenz abberufen worden war.674 Auch Wechsberg geht am Ende seines Buches auf diese Zusammenkünfte ein: „Alljährlich am 11. Januar, dem Jahrestag der Katastrophe von 1954, versammeln sich alle Blonser – die im Dorf leben ebenso wie die aus der Fremde – zum Requiem für die Lawinenopfer in der Dorfkirche am Fuß des steilen Montcalv-Hanges. Pater Wilfried Stillhart kehrt für diesen Tag nach Blons zurück, um die Messe zu zelebrieren, Eugen Dobler spielt die Orgel, und der Kirchenchor singt die Lawinenhymne ‚Kalt weht der Tod übers friedliche Land‘. Nachher besuchen alle das Massengrab am Südende des Friedhofs. Und einige Minuten lang sind dort alle Blonser in stillem Gebet vereinigt, die Auswanderer und die Eingesessenen, die ‚Alt-Armen‘ und die ‚Neureichen‘, die Toten und die Lebenden.“675

Gestützt wurde die sich dergestalt reproduzierende Betroffenen- beziehungsweise Erinnerungsgemeinschaft auch durch die oben beleuchteten symbolträchtigen materiellen Transformationen. Die neuen Gebäude, die veränderte Landschaft und die Schutzverbauungen waren Spuren eines Ereigniskomplexes, der sich auf diesem Wege in die Gestalt der Gemeinde eingeschrieben hatte. Hinzu kamen mit der Zeit aber auch mehr und mehr intendierte Objektivationen der lokalen Memorialkultur.676 Als sichtbare Zeichen festigten sie das kulturelle Gedächtnis der Dorfgemeinschaft und trugen somit dazu bei, dass in Blons weiterhin – wie in einem öffentlichen Dankesschreiben der damaligen Gemeindemitglieder – von „unserer Katastrophe“677 gesprochen wurde. Dass dieses Zuordnungsprinzip für das lokale „Wir“-Bewusstsein von nachhaltiger Relevanz war, wurde etwa anlässlich einer Wappendebatte deutlich, die sich in den späten 1960er Jahren zugetragen hat. Nachdem der Landtag die Landesregierung im Rahmen der Gemeinderechtsreform 1965 dazu verpflichtet hatte, sämtlichen Vorarlberger Gemeinden binnen fünf Jahren ein Wappen zu verleihen, forderte der damalige Landesamtsdirektor 1968 die bis dahin noch säu-

674 Vgl. N.N.: Der „Lawinenpfarrer“ nimmt Abschied. In: Vorarlberger Volksblatt, 06.09.1954. 675 Wechsberg 1959, S. 292. 676 Gemeint sind hier neben dem Massengrab und der Erinnerungsglocke die oben ebenfalls bereits erwähnten weiteren Gedenkobjekte wie das Bronzerelief, das Lawinenkreuz oder die Erinnerungswege. 677 N.N. („Die Überlebenden“): Öffentlicher Dank! In: Vorarlberger Volksblatt, 13.02.1954 (Hervorhebung S.R.).

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migen Gemeinden zur Einreichung entsprechender Entwürfe auf.678 „Für die Entscheidungsträger in den Gemeinden stellten sich die Fragen: Wie sehen wir uns? Wie wollen wir gesehen werden? Die ‚Wappenzensoren‘ in Bregenz befanden über die heraldische Richtigkeit und die historische Legitimität.“679 In Blons hatte sich die Gemeindevertretung mit ihren Vorstellungen an den akademischen Maler Albert Rauch gewandt, der daraufhin einen bedeutungsbeladenen Wappenvorschlag entwarf. Den Vordergrund dominierte ein Abbild des „Lawinengrabkreuzes“, das den Wappenschild in vier Flächen unterteilte, von denen drei mit weiteren Symbolen gefüllt wurden: Rechts oben ein Unglücksstern, links oben ein technisches Lawinenschutzwerk, links unten eine Tanne, den Schutzwald repräsentierend. Im Dezember 1968 übermittelte das Gemeindeamt Blons den Entwurf schließlich an die Vorarlberger Landesregierung und erläuterte: „Nachdem von Blons keine Unterlagen für ein Wappen aus der Entwicklung zur Verfügung stehen, wünschen wir das große Lawinenunglück 1954 im Wappen zu vermerken. Die Bevölkerung von Blons steht heute noch unter dem Eindruck des Lawinengrabkreuzes und die Hauptaufgabe der Gemeinde ist die Sicherung durch Lawinenwerke und Wald.“ 680

Indessen erhob der zuständige heraldische Gutachter Dr. Benedikt Bilgeri einige Einwände. Es sei „doch schwer verständlich, dass eine Gemeinde für die ganze lange Zukunft ihr Leben gleichsam unter dem Grabdenkmal des Unheils zubringen will.“681 Viel besser wäre es demzufolge, „das Kreuz und das Lawinenwerk wegzulassen, den heraldisch wirksamen Stern (der Auswanderer aus dem Wallis, nicht den Unglücksstern) zu belassen und ihm eine heraldisch geformte Tanne gegenüberzustellen.“682 So sollte es denn auch geschehen.683 Wenngleich sich

678 Vgl. Ulrich Nachbaur: Steinbock und Sterne. Walsertum und Gemeindewappen. In: Montfort. Zeitschrift für Geschichte Vorarlbergs 65 (2013), Band 1, S. 29-66, hier S. 32. 679 Ebd., S. 33. 680 VLA, Landesregierung Ib-213-9/1980: Schreiben des Blonser Bürgermeisters an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Blons, 03.12.1968. 681 VLA, Landesregierung Ib-213-9/1980: Gutachterliches Schreiben von Dr. Benedikt Bilgeri an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 12.12.1968. 682 Ebd. 683 In der verliehenen Wappenurkunde wurde folgende Beschreibung festgehalten: „Im schräg-rechts geteilten Schild im oberen blauen Feld ein fünfzackiger silberner Walliserstern, im unteren silbernen Feld eine grüne Tanne in der Form der alten Holz-

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letztlich also eine deutlich schlichtere Wappenfassung durchgesetzt hat, verdeutlicht deren Vorgeschichte, welch identitätsprägende Kraft die Lawinenabgänge von 1954 auch fünfzehn Jahre später noch zu entfalten vermochten. Bis heute sind die damaligen Ereignisse ein fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Blonser Bevölkerung und damit auch ein konstitutives Bezugselement des lokalen „Wir“-Bewusstseins. Hierfür sprechen nicht nur entsprechende Bekundungen in den Zeitzeugeninterviews, sondern auch einschlägige Schulprojekte, Pfarrblattartikel oder die sich regelmäßig wiederholenden weltlichen und religiösen Gedenkveranstaltungen. Am 11. Januar 2014 fand anlässlich des sechzigsten Jahrestages im Blonser Gemeindesaal ein Diavortrag über die Lawinenkatastrophe statt, der bei den Gemeindemitgliedern auf große Resonanz gestoßen ist. In den Gesprächen war auch unter jüngeren Bewohnern noch immer von „unserer“ beziehungsweise der „Blonser Lawinenkatastrophe“ die Rede. So scheinen die Lawinenabgänge im Zuge ihrer erinnerungskulturellen Verankerung schließlich auch für das Selbstverständnis nachgeborener Gemeindegenerationen zu einem signifikanten Unterscheidungsmerkmal geworden zu sein. 3.2.3 Semantische Aspekte Die bisher beleuchteten materiellen und sozialen Effekte der Lawinenabgänge konstituierten sich in komplexen semantischen Kontexten. Als Elemente weit verzweigter Verweisungszusammenhänge leiteten die je relevanten Bedeutungsaspekte das sinnhafte Handeln der einzelnen Akteure und gewannen auf diesem Wege eine greifbare Gestalt in der postkatastrophischen (Gemeinde-)Wirklichkeit. Im Folgenden gilt es nun die – freilich ihrerseits nicht unabhängige, sondern soziomateriell tiefgreifend strukturierte – semantische Seite des Ordnungsrekonfigurationsprozesses eigens zu thematisieren. Mit Blick auf die ereignisinduzierten Debatten und Diskurse soll dabei zum einen rekonstruiert werden, wie die – in divergierenden Maßen involvierten – Akteure das Erfahrene einzuordnen versuchten und welche kurz-, mittel- und langfristigen Effekte diese Einordnungsbemühungen hatten. Während der analytische Schwerpunkt im Folgenden somit auf der Katastrophendeutung liegt, gilt es zum anderen aber ebenfalls zu prüfen, ob durch diese Erfahrung auch generelle Ordnungsbefragungen und Existenzexegesen angestoßen wurden, die über eine Deutung ihres Anlasses hinausführten.

marke.“ VLA, Landesregierung Ib-213-9/1980: Wappenurkunde. Bregenz, 14.10. 1969.

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Katastrophische Widerfahrnisse – so die grundlegende und nicht allzu gewagte These – bergen nachhaltige semantische Herausforderungen. Als Ereigniskomplexe, die bisherigen Erfahrungen in fataler Weise widersprechen, entziehen sie sich den Routinen gewohnter Deutungsvollzüge. Da ihr Sinn also zunächst verborgen zu sein scheint, können sie nicht ohne weiteres in die Sphäre lebensweltlicher Vertrautheit integriert werden. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die hervorgerufenen Zerstörungen und das unerwartete Leid sowohl unter den unmittelbar betroffenen als auch unter den indirekt involvierten Akteuren zu einem massiven Deutungsdruck führen, den sie in kommunikativ vermittelten Auslegungs- und Aushandlungsprozessen aufzuheben suchen: Es gilt die „Katastrophe“ zu verstehen, sie in kausale Zusammenhänge einzubetten, um aktuelles Leid besser tragen und künftiges Leid effektiver verhindern zu können. So wird nach solchen ordnungsdeformierenden Ereignissen nicht nur durch technisch-pragmatisches Bewältigungshandeln, sondern, wie Marie Bartels ausführt, „auch auf diskursiver Ebene mit Einführung einer nachvollziehbaren […] Erklärung der Eindruck des Chaotischen durch den des Bekannten und Geregelten ersetzt.“684 Im Rahmen dieser Einordnungsbemühungen treten die involvierten Akteure häufig in konfliktträchtige Konkurrenzkämpfe um die diskursspezifische Deutungshoheit. Schließlich entscheidet die sich durchsetzende Phänomengestalt darüber, ob und inwiefern den tragenden Strukturen der bisherigen Ordnungsverhältnisse eine katastrophische Mitverantwortung zugesprochen werden kann – ob und inwiefern also zur Verhinderung künftiger Katastrophen entsprechende Transformationen des Bisherigen notwendig sind. Vor dem Hintergrund der hierdurch bedingten Interessenvariabilität werden in der Regel sehr verschieden perspektivierte Fassungen der jeweiligen Katastrophenerzählung prozessiert. „Very often“, so Anthony Oliver-Smith und Susanna M. Hoffman, „various interpretations of events are produced, bringing up control of definition and ‚story‘, along with tales of praise and vilification.“685 Auch nach den Lawinenabgängen von 1954 entfaltete sich ein „postkatastrophischer Deutungswirbel“686, auch hier wurde fieberhaft um eine schlüssige Einordnung der Ereignisse gerungen. Mit Blick auf Blons lässt sich dabei zunächst feststellen, dass das lawineninduzierte Syndrom problematischer Probleme wie

684 Bartels 2013, S. 197. 685 Anthony Oliver-Smith/Susanna M. Hoffman: Introduction. Why Anthropologists Should Study Disasters. In: Dies. (Hg.): Catastrophe and Culture. The Anthropology of Disaster. Santa Fe 2002, S. 3-22, hier S. 11. 686 Böhme 2003, S. 40.

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selbstverständlich unter dem Begriff der „Katastrophe“ rubriziert wurde – unseren Erhebungen nach finden sich jedenfalls keine Quellen, die dafür sprächen, dass diese Kategorisierung je in Frage gestellt worden wäre. Vermittels welcher Erzählungen und Erklärungen der so kategorisierte Ereigniskomplex aber näher bestimmt werden könnte, mit welchen ordnungsstiftenden Bedeutungen er letztlich also zu versehen sei, war hinsichtlich mancher Aspekte hingegen durchaus umstritten. Im Folgenden wenden wir uns verschiedenen Facetten der diskursiven Phänomenkonstitution nun etwas detaillierter zu. Wie im vorausgegangenen Teilkapitel gilt die Aufmerksamkeit hierbei erst den überregionalen, öffentlichen Debatten, bevor daraufhin wieder die lokale Ebene in den Blick genommen wird. Nachdem die zuständigen Behörden von den Lawinenabgängen in den Vorarlberger Hochtälern erfahren hatten, wurde durch eine schnell einsetzende mediale Berichterstattung auch die Öffentlichkeit schon bald von den Ereignissen unterrichtet.687 Diese ersten Meldungen waren zumeist nur sehr kurz und handelten vorwiegend von den bekannt gewordenen Schäden, Vermissten und Opfern, vom Eintreffen der Helfer sowie von den Entwicklungen der aktuellen Verkehrslage. Als sich indessen das Ausmaß der „Katastrophe“ deutlicher abzuzeichnen begann, weiteten sich die Menge, der Umfang und das Themenspektrum der Berichte zunehmend aus. Neben den faktographisch informierenden Elementen beinhalteten die dergestalt erweiterten Katastrophenberichte auch einige wiederkehrende Topoi und Narrative, die sich mit der Zeit als semantische Verdichtungen vom übrigen Informationsfluss abhoben. Diese quantitativen Auffälligkeiten innerhalb der medial vermittelten öffentlichen Deutungsdebatten lassen sich als „Bausteine der Phänomenstruktur“688 verstehen, die den diskursiv repräsentierten Ereigniskomplex in divergierenden Maßen gestalteten beziehungsweise mitkonstituierten. Im Folgenden sollen nun einige dieser semantischen Bausteine zunächst überblickhaft zur Darstellung gebracht werden, bevor sich die Ausführungen daraufhin den zentralen Akteuren und Strategien der Deutungsbemühungen zuwenden.

687 Vgl. N.N.: Arlbergstrecke verschüttet. In: Vorarlberger Nachrichten, 12.01.1954; N.N.: 40 Lawinen auf die Arlbergbahn. In: Vorarlberger Volksblatt, 12.01.1954; N.N.: Schreckensbotschaft vom Großen Walsertal. In: Vorarlberger Nachrichten, 13.01.1954; N.N.: Aus allen Teilen des Landes trafen im Laufe des Dienstag Hiobsbotschaften ein. In: Vorarlberger Volksblatt, 13.01.1954; N.N.: Die ersten Bilder aus dem Katastrophengebiet Großwalsertal. In: Vorarlberger Nachrichten, 14.01.1954; N.N.: Erste Meldungen aus dem Großen Walsertal. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. 688 Keller 2011b, S. 99.

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Eine erste Auffälligkeit ist der häufige Gebrauch sprachlich veranschaulichender Personifizierungen. Ubiquitär verwendet wurde etwa das an die verbreitete Bezeichnung der europäischen Pestpandemie angelehnte Sprachbild des „Weißen Todes“: „Der Weiße Tod ist über unsere Berge gegangen“689, berichtete nicht nur das „Vorarlberger Volksblatt“, – er habe die Menschen „heimgesucht“690, „gründlichen Geographieunterricht“691 erteilt und reiche „Ernte“692 gehalten. In vergleichbarer Weise war an anderen Stellen aber auch vom „mordenden Schnee“693 oder vom „Vernichtungswerk“694 der Lawinen die Rede. Indem man die katastrophischen Ordnungsdeformationen – die verwundenden, leidverursachenden Zerstörungen – durch solche Wendungen also vielfach als Wirkresultat nichtmenschlicher Täter repräsentierte, gewann das ursächliche Faktorengefüge auf sprachlicher Ebene die Gestalt eines greifbaren Akteurs. Hierbei ist zudem auffallend, dass im Rahmen dieser Deutungsbemühungen zumeist von der Vorstellung einer überaus machtvollen, potentiell höchst gewalttätigen „Natur“ ausgegangen wurde. „Die Natur übte ihre Brachialgewalt“695, war in den „Vorarlberger Nachrichten“ zu lesen; häufig schrieb man auch vom „Toben der Naturkräfte“696 oder vom „Toben der Naturgewalten“ 697. In dieser vitalen Rohheit erschien „Natur“ als eine bedrohliche Antithese zur vermeintlich geordneten „Zivilisation“. Sie wurde – ähnlich wie dies Jens Ivo Engels zufolge etwa auch für die Deutung einer Hochwasserkatastrophe charakteristisch war, die sich ebenfalls 1954 in Bayern zugetragen hatte – als eine „fremde Gegnerin“698 des Menschen dargestellt. Ein weiteres Merkmal der postkatastrophischen Einordnungsbemühungen bestand in der gleichzeitigen Verwendung von naturwissenschaftlichen und reli-

689 N.N.: Der Weiße Tod über Vorarlberg. In: Vorarlberger Volksblatt, 19.01.1954. 690 Ebd. 691 N.N.: Das bekannte Tal. In: Vorarlberger Nachrichten, 06.02.1954. 692 Volkmar von Zühlsdorff: Der weiße Tod im Walsertal. Die Leu mordet – Größte Katastrophe in der Geschichte Vorarlbergs – Die Opfer von Blons. In: Die Zeit, 21.01.1954. 693 PAB: Pfarrchronik Blons: Walserschicksale im mordenden Schnee. Aus der lawinenverschütteten Einsiedler Stiftspfarrei Blons. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von P. Wilfried Stillhart. Nicht datiert. 694 N.N.: Das bekannte Tal. In: Vorarlberger Nachrichten, 06.02.1954. 695 N.N.: Die Lawinenwoche. In: Vorarlberger Nachrichten, 16.01.1954. 696 N.N.: Auferstehendes Großwalsertal. In: Vorarlberger Volksblatt, 17.04.1954. 697 N.N.: In Memoriam. In: Vorarlberger Volksblatt, 23.01.1954. 698 Engels 2003, S. 141.

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giösen Interpretamenten – einer Gleichzeitigkeit, die sowohl auf der Ebene des Gesamtdiskurses als auch innerhalb einzelner Dokumente feststellbar ist. Insbesondere zur Klärung des Katastrophengrundes wurde neben säkularen Ursachen – wie dem Zustand des Waldes, der Wetterlage, der Schneekonsistenz etc. – häufig auch das Walten transzendenter Kräfte ins Feld geführt. 699 Nicht nur geistliche Repräsentanten erklärten, dass „durch die Stimme der Lawinen […] eine höhere Macht zu uns gesprochen [hat].“700 Vielmehr fanden die verschiedenen Varianten dieses Deutungsmusters in den Berichten der – vornehmlich christlichkonservativ ausgerichteten – Medien auch ohne zitierende Bezugnahme auf kirchliche Akteure eine breite Verwendung. Die Katastrophe, war beispielsweise in einem Artikel der „Vorarlberger Nachrichten“ zu lesen, „offenbarte das große Schicksal, unter dem alle irdischen Geschöpfe stehen, ausgeliefert der Prüfung durch den Allgewaltigen.“701 Vergleichbares wurde schließlich aber auch in politischen Kontexten zur Sprache gebracht: „Wir wollen uns demütig beugen, mit gläubigem Herzen, daß es der Wille des Herrgotts war, der in seiner Weisheit wußte, was er vollzog“702, hieß es etwa in einer Trauerkundgebung der Vorarlberger Landwirtschaftskammer. „Möge der Herrgott uns […] vor weiteren Katastrophen bewahren“703, beendete Landtagspräsident Dr. Feuerstein seine Rede im Rahmen der Trauersitzung des Vorarlberger Landtags. – Offenbar hatte die Verwendung religiöser Motive nach den Lawinenabgängen von 1954 doch auch dort noch einen legitimen Ort, wo man dem etablierten Selbstverständnis nach eigentlich vorrangig der Aufklärung und dem rationalen Handeln verpflichtet war. Neben den bereits genannten Auffälligkeiten muss auch die Glorifizierung der Opfer als ein weit verbreitetes Element der postkatastrophischen Debatten genannt werden. Oftmals vermittels impliziter und expliziter Anknüpfungen an tradierte Walsermythen wurden die Betroffenen hierbei als ursprünglich-

699 Vgl. etwa VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Vorarlberger LandesKorrespondenz Nr. 12. Herausgegeben vom Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 20.01.1954. 700 N.N.: Ein bischöflicher Ruf in ernster Stunde. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. 701 N.N.: Die Lawinenwoche. In: Vorarlberger Nachrichten, 16.01.1954. 702 N.N.: Trauerkundgebung der Landwirtschaftskammer. In: Vorarlberger Volksblatt, 23.01.1954. 703 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Vorarlberger Landes-Korrespondenz Nr. 12. Herausgegeben vom Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 20.01.1954.

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authentische, hart arbeitende Bergbauern stilisiert, deren robuster Habitus mit den rauen Bedingungen des heimischen Hochgebirges korrespondiere. Exemplarisch formulierte etwa Landeshauptmann Ilg im Rahmen einer Grabesrede, die er am 24. Januar 1954 anlässlich der Bestattungszeremonie auf dem Blonser Friedhof gehalten hat: „Vor wenigen Tagen waren sie noch kerngesunde Berglergestalten. Wettertannen gleich, aus der Elite unseres Vorarlberger Volkes, und heute liegen sie, vom gewaltigen Sturm gebrochen, vor uns. […] Man kann es aber fühlen, mit welcher Teilnahme und Achtung alle Menschen aufblicken zum heimatverbundenen und unverdorbenen Bewohner dieser hochgelegenen Gemeinden. Liebe Walser, seid trotz dieses Unglückes stolz darauf, ein Hort des Edlen und Guten zu sein, Bergführer zur Gottesnähe.“ 704

Mit vergleichbarem Pathos wurden die Opfer und ihre Hinterbliebenen auch in den Trauerkundgebungen des Landtags705 und der Landwirtschaftskammer706 sowie in den betreffenden Nationalratssitzungen707 gewürdigt. Im Subtext dieser Würdigungen erscheinen die Lawinen als gesteigerter Ausdruck jener Unbilden und Gefahren, denen die Betroffenen den spezifischen – sie vermeintlich auszeichnenden – Charakter ihrer Daseinsweise gleichsam mitverdankt hätten. Unser bisheriger Überblick verdeutlicht, dass sich – wohl insbesondere aufgrund der Hybridität des katastrophischen Ereigniskomplexes – verschiedene ursächliche Zurechnungsoptionen boten: vor allem „Natur“, „(versagende) Technik“, „Gott“ und „Bergbauerntum“ waren in diesem Zusammenhang verbreitet. Innerhalb des öffentlichen postkatastrophischen Einordnungsdiskurses lassen sich nun zwei konfligierende Subdiskurse ausmachen, in deren Rahmen die genannten Elemente in unterschiedlichen Konfigurationen beziehungsweise mit unterschiedlichen thematischen Zuspitzungen zum Tragen kamen. Vor dem Hintergrund verschiedener Interessenlagen wurde aus divergierenden Perspektiven

704 N.N.: Die Einsegnung der Lawinenopfer in Blons. In: Vorarlberger Volksblatt, 25.01.1954. 705 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Vorarlberger Landes-Korrespondenz Nr. 12. Herausgegeben vom Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 20.01.1954. 706 Vgl. N.N.: Trauerkundgebung der Landwirtschaftskammer. In: Vorarlberger Volksblatt, 23.01.1954. 707 Vgl. Stenographisches Protokoll der 32. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. VII. Gesetzgebungsperiode. 10.02.1954. URL: https://www.parlament.gv.at /PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00032/imfname_158432.pdf (15.03.2018).

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um die legitime Schließung der ereignisspezifischen Bedeutungsoffenheit – und daran sich anschließende Kapitalzuwächse – gerungen. Zum einen konstituierte sich ein „kritischer Problematisierungsdiskurs“.708 Dieser wurde vor allem von Vertretern der sozialistischen und kommunistischen Parteien (SPÖ, KPÖ) und parteinahen Zeitungen wie dem „Vorarlberger Volkswillen“ oder der „Weltpresse“ getragen; daneben aber auch von einzelnen Privatpersonen, die sich durch Leserbriefe in die Debatten einschalteten, sowie von Mitgliedern der „Grüne[n] Front“ – einer der ersten österreichischen Ökologiebewegungen, die 1949 durch Viktor Schauberger und dessen Sohn Walter Schauberger ins Leben gerufen worden war. Die genannte Diskurskoalition führte den auszudeutenden katastrophischen Ereigniskomplex vor allem auf systembedingte, anthropogene Ursachen zurück: profitorientierte Ausbeutungen der Waldsubstanz,709 organisatorische Missstände des Forstwirtschaftssektors,710 staatliche Kürzungen der für den Lawinenschutz zur Verfügung gestellten Mittel.711 In einer Rede, die der KPÖ-Abgeordnete Ernst Fischer im Rahmen der Nationalratssitzung vom 10. Februar 1954 hielt, kamen einige Grundzüge dieses diskursiven Aussagengefüges plastisch zur Sprache: „Immer wieder erhebt sich die Natur gegen den Menschen, und immer wieder hört man dann das Wort von der ‚Ohnmacht des Menschen‘. Als sei es unser Los, das Haupt vor dunklen Mächten zu beugen. Ich glaube im Gegenteil, daß wir gerade dann von der Macht und Größe des Menschen sprechen sollen, wenn er entfesselten Naturgewalten gegenübersteht. Wir sind nicht mehr die dumpfen Wesen der Urzeit, die sich mit unbekannten, unerforschten, über Menschenmaß hinausragenden Naturgöttern herumschlagen. Wir haben im Laufe der Jahrtausende gelernt, mit wachem Bewußtsein der Natur entgegenzutreten, sie zu bändigen, sie mehr und mehr unserem Willen, unseren Plänen zu unterwerfen. […] Freilich, wenn wir die Natur mißbrauchen, nur um Profit aus ihr herauszuschlagen, dann wird sich die Natur immer wieder an uns rächen. Wenn wir aber die Natur mit menschlicher Vernunft, mit wirtschaftlicher Voraussicht lenken, wenn wir sie gleichsam durch ihre eigenen Kräfte besänftigen und wenn wir in Zukunft die Lawinen durch den Wald ab-

708 Vgl. hierzu auch Kellers idealtypische Unterscheidung zwischen postkatastrophischen „Gefahren-“ und „Kontrolldiskursen“. Keller 2011b, S. 309-313. 709 Vgl. N.N.: Wenn der Wald stirbt, sterben auch die Bauern! In: Vorarlberger Volkswille, 21.01.1954. 710 Vgl. N.N.: Die „Grüne Front“ zu den Überschlägerungen. In: Vorarlberger Nachrichten, 26.01.1954. 711 Vgl. N.N.: Die Todesopfer der Lawinen könnten heute noch leben! Profitgier und falsche Sparsamkeit mitschuldig an den Katastrophen. In: Weltpresse, 15.01.1954.

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dämmen, dann werden wir in Zukunft Schritt für Schritt stärker werden als diese entfesselten Naturdämonen. Es ist ja nicht wahr, wie das Wort Schillers sagt, daß ‚die Elemente das Gebildʼ von Menschenhand hassen‘, die Elemente revoltieren nur gegen die Trägheit und gegen die Habgier einer unvernünftigen Gesellschaft, sie sind aber bereit, der Vernunft des Menschen zu dienen und sich einer Gesellschaft menschlicher Solidarität zu unterwerfen.“712

Der postkatastrophische „Problematisierungsdiskurs“ konstituierte sich im Rahmen einer antifatalistischen, humanistisch-aufklärerischen, kapitalismuskritischen Argumentationsstruktur mit technokratischen Tendenzen. „Natur“ wurde dabei als eine fremde Eigenmacht repräsentiert, deren Wirkungspotentiale zwar gewaltig, letztlich aber doch beherrschbar seien. Indessen könne sie längerfristig nur dann produktiv regiert und genutzt werden, wenn man sie in ihren Gesetzen erkenne und sie gemäß diesen Gesetzen behandle. Zur Verhinderung künftiger Katastrophen sei es demzufolge notwendig, ein differenzierteres Wissen zu generieren, entsprechende Sicherheitstechnologien zu entwickeln und rationale Mensch-Umwelt-Bezüge zu etablieren, die sich nicht durch kapitalistische Interessen korrumpieren ließen. Als „Rächerin der Unvernunft“ codiert, wurde „Natur“ hier zur naturalisierend-legitimierenden Verbündeten im Kampf für eine vernunftgeleitete, solidarische Gesellschaft. So deutete man die „Katastrophe“ als einen symptomatischen Ausdruck grundlegender gesellschaftlicher Missstände, die es durch tiefgreifende Ordnungstransformationen zu beheben gelte. Neben dem „Problematisierungsdiskurs“ formierte sich im Rahmen der öffentlichen postkatastrophischen Einordnungsbemühungen zum anderen aber auch ein „Beschwichtigungsdiskurs“, dessen Strategien darauf abzielten, die präkatastrophischen Ordnungsverhältnisse zu bewahren. Getragen wurde dieser von einer christlich-konservativen Diskurskoalition, die sich vor allem aus Vertretern der Forstwirtschaft, aus etablierten, für die Lawinensicherheit im Lande mitverantwortlichen Experten, aus Politikern und Anhängern der ÖVP – teils auch der WdU – sowie aus parteinahen Medienmachern zusammensetzte. Innerhalb des Aussagengefüges, das diese Akteure hervorbrachten und reproduzierten, finden sich immer wieder Einlassungen, vermittels derer die Positionen der ordnungskritischen Problematisierungskräfte delegitimiert werden sollten. So „gab“ etwa das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft „bekannt“, dass die erhobenen Vorwürfe, wie jener der übermäßigen Abholzung schützen-

712 Stenographisches Protokoll der 32. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. VII. Gesetzgebungsperiode. 10.02.1954. URL: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00032/imfname_158432.pdf (15.03.2018).

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der Waldbestände, „ohne nötige Sachkenntnis, ja sogar zum Teil unwahr vorgetragen worden sind.“713 In ordnungs- beziehungsweise herrschaftslegitimierender Absicht wiesen die Akteure der Beschwichtigung ferner darauf hin, dass man bereits durchaus Beachtliches zur Verhinderung von Lawinenkatastrophen geleistet habe: „Es dürfte“, so die Behauptung, „nur wenige Sparten des öffentlichen Lebens geben, auf welchen in den letzten Jahren so viel und unter Einsatz von so modernen Hilfsmitteln gearbeitet und geforscht wurde wie auf dem Gebiete der Lawinenbekämpfung.“714 Des Weiteren finden sich schließlich aber immer wieder auch Äußerungen, die das Funktionierende betonen: Die zuständigen Behörden hätten in vorbildlicher Weise reagiert und die Lage nach den Lawinenabgängen schon bald wieder unter Kontrolle bringen können. Hinsichtlich der genealogischen Erklärung des aktuellen katastrophischen Problemkomplexes war das Aussagengefüge des Beschwichtigungsdiskurses schließlich in erster Linie von naturalisierenden und externalisierenden Exkulpationsstrategien strukturiert. Die Ursachen wurden somit überwiegend in einer unverfügbaren Sphäre jenseits des Regierbaren verortet. Beispielsweise stellte der – bereits wenige Stunden nach Bekanntwerden des Ereignisses ins Katastrophengebiet abgesandte – Staatssekretär Dr. Fritz Bock fest, „dass es sich bei den Lawinenstürzen um ausgesprochene Elementarkatastrophen handelte, deren Eintreten nicht vorauszusehen war.“715 In vergleichbarer Weise vertrat Landtagspräsident Josef Feuerstein auf der oben erwähnten Trauerkundgebung die Ansicht, dass „ein kaum in Jahrhunderten vorkommendes Zusammentreffen unglücklicher Umstände […] die Katastrophe verursacht [hat]. Niemand konnte das vo-

713 N.N.: Lawinenkatastrophen und Holzschlägerungen. Wiener Zeitung, 20.01.1954. 714 N.N.: Lawinennot so alt wie die Berge selbst. Was hat die Regierung zur Lösung des Lawinen-Problems in den österreichischen Alpen getan? – Eine hochinteressante Darstellung des Ministerialrates Dipl.-Ing. Weber im Bundesministerium für Landund Forstwirtschaft. In: Wiener Zeitung, 17.01.1954. Verwiesen wird hierbei auf verschiedene Verbauungsprojekte sowie auf aktuelle naturwissenschaftliche Untersuchungen, die durch das Landwirtschaftsministerium initiiert und gefördert wurden – etwa in der modern ausgestatteten „Lawinenversuchsstation“ auf der Wattener Lizum oder, hinsichtlich forstwissenschaftlicher Aspekte, auf einer „biologischen Station“ in Obergurgl. 715 N.N.: Lawinenursachen müssen untersucht werden. Staatssekretär Dr. Bock über den Wiederaufbau der betroffenen Höfe. In: Vorarlberger Volksblatt, 19.01.1954.

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raussehen und niemand konnte es verhindern.“716 Auf ähnliche Art betonte auch der Nationalratsabgeordnete Herbert Lins, um eine dritte Stimme zu zitieren, „daß an der Naturkatastrophe menschliches Verschulden ausscheide.“ 717 Die Argumentationsfiguren wurden dabei in der Regel durch verschiedene Verweise auf legitime Experten untermauert und daneben auch häufig mit dem Hinweis verknüpft, dass der Sinn göttlicher Vorsehung dem menschlichen Verstehen oftmals nicht zugänglich sei. In der Tat deckte sich die prozessierte Perspektive dieser politischen Akteure mit einigen zentralen Aussagen verantwortlicher Experten – die freilich ihrerseits an statuserhaltenden Deutungsoptionen interessiert waren. So wird in einem Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung, Sektion Bregenz, an das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft darauf hingewiesen, „dass es sich bei weitaus der Mehrzahl der abgegangenen Lawinen um solche handelt, von denen überhaupt nicht bekannt ist, dass sie je abgegangen sind oder deren letzter Abgang vor 265 Jahren erfolgte.“ 718 Bei der Lawinenkatastrophe habe es sich somit um ein „Säcularereignis“719 gehandelt, ungerecht seien viele der verbreiteten Vorwürfe. „Denn selbst wenn die Sektion Geld und Personal in Hülle und Fülle gehabt hätte, wäre es niemandem im Traum eingefallen, auch nur eine der Lawinen dieser Mehrzahl zu verbauen“, weil, wie es weiter heißt, „niemand voraussehen konnte, dass Lawinen in solcher Zahl an Örtlichkeiten abgehen, die entweder überhaupt oder wenigstens seit Jahrhunderten von der ganzen Bevölkerung als vollkommen lawinensicher betrachtet wurden.“720 Am Rande wurde im vorliegenden Schreiben auch auf problematische Nachlässigkeiten seitens der lokalen Instanzen hingewiesen: „Die Gemeinden des Grossen Walsertales wussten schon seit längerem, wie sie mit

716 VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Vorarlberger Landes-Korrespondenz Nr. 12. Herausgegeben vom Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 20.01.1954. 717 N.N.: Die Bundesbeihilfe für die Lawinenopfer. In: Vorarlberger Nachrichten, 29.01.1954. Ausführlicher zitiert in N.N.: Letztes Wort über Bundeshilfe noch nicht gesprochen. Der Finanzausschuß billigt das Gesetzt zur Behebung der Lawinenschäden. In: Vorarlberger Volksblatt, 29.01.1954. 718 VLA, Landesregierung Abt. Präsidium, Sch. 78: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung, Sektion Bregenz, an das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. Bregenz, 01.02.1954 (Hervorhebung im Original). 719 Ebd. (Hervorhebung im Original). 720 Ebd. (Hervorhebung im Original).

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ihrem Wald daran sind, haben aber aus Gedankenträgheit, mangelnder Initiative oder aus finanzieller Schwachheit nichts Wesentliches unternommen.“ 721 In der damaligen medialen Berichterstattung fand der zuletzt genannte Aspekt indessen nur wenig Berücksichtigung. Zur weiteren Veranschaulichung der diskursiv prozessierten Katastrophendeutung des Beschwichtigungslagers soll an dieser Stelle nochmals das Protokoll der Nationalratssitzung vom 10. Februar 1954 hinzugezogen werden, nun aber mit Blick auf eine Rede des ÖVP-Abgeordneten Franz Grubhofer. In Opposition zu seinem oben zitierten Vorredner heißt es dort: „‚Mit des Geschickes Mächten ist kein ew´ger Bund zu flechten.‘ […] Man wird, wie ich schon ausgeführt habe, neue Wege beschreiten müssen. Man wird aber auch die alten Erfahrungen nicht übersehen dürfen. Man wird sich den Gegebenheiten der Täler anpassen müssen. Mögen auch Sachverständigengutachten von Lawinenverbauern, vom Lawinenwarndienst, von Wildbachverbauern da sein – all das ist Menschenwerk. Ich möchte es trotzdem mit dem Dichter halten und, was ich bereits ausgeführt habe, sagen: ‚Tand ist das Gebilde von Menschenhand.‘ Wenn Sturm und Schnee sich vereinen, dann können wir aufbauen, was wir wollen; es wird kaum standhalten. Wir können dazu beitragen, daß mehr Sicherungen gegeben sind, wir können, so wie man sich im Kriege in Kellern geschützt hat, auch dort gemauerte Keller bauen, wir können hinter den Häusern Betonkeile anfertigen, die die Lawinen trennen, damit dann, wenn Lawinengefahr ist, die Bewohner in den Keller ziehen können, und die Ställe aus tüchtigem Mauerwerk aufrichten. Das alles kann nicht Lawinen verhindern; das können hunderte und tausende Gutachten nicht. Wenn die Natur diese Umstände zusammenführt, dann wird sie stärker sein als Menschen, solange Menschen sein werden. […] Das Volk hat den Fingerzeig Gottes verstanden und hat zusammengehalten in dieser schweren Stunde.“722

Im Rahmen des postkatastrophischen „Beschwichtigungsdiskurses“ aktualisierte man also die Vorstellung einer starken, letztlich übermächtigen „Natur“, in der sich Gottes Wille offenbare. Hiermit war nicht zuletzt deshalb eine Externalisierung der Katastrophenschuld verknüpft, weil die Wirkung dieser transzendenten Mächte als höchst unwahrscheinliche Zusammenführung verschiedenster katastrophenbegünstigender Faktoren spezifiziert werden konnte. Die Ursachen der Lawinenkatastrophe, so das implizite Doppelargument, seien außerhalb der ge-

721 Ebd. 722 Stenographisches Protokoll der 32. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. VII. Gesetzgebungsperiode. 10.02.1954. URL: https://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00032/imfname_158432.pdf (15.03.2018).

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sellschaftlichen Ordnungsverhältnisse veranlasst und überdies nicht vorhersehbar gewesen. In Demut müsse man bei allen naturwissenschaftlich-technisch eröffneten Erweiterungsoptionen menschlicher Wirkkraft letztlich also doch auch deren unaufhebbare Begrenztheit akzeptieren. Zwar gelte es nun, aus den Ereignissen zu lernen und die bereits ergriffenen Sicherungsmaßnahmen weiter voranzutreiben, Anlass zu grundlegenden Ordnungstransformationen sei angesichts des Ausnahmecharakters dieser „Naturkatastrophe“ indessen nicht gegeben. Im Fortgang der medial vermittelten Auseinandersetzung dieser konfligierenden Akteurskonstellationen rückte der „Beschwichtigungsdiskurs“ schon bald in eine hegemoniale Position. So verdichtete sich die zunächst fluide Repräsentation des katastrophischen Ereigniskomplexes schließlich zu einer Gestalt, die in der damaligen Öffentlichkeit keine „generalisierte risikogesellschaftliche Erfahrung“723 nach sich zog. Letztlich wurden weder die institutionellen Strukturen und die damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse noch der vorherrschende Bezug zur „Natur“ oder die Ausrichtung der diesbezüglichen Sicherheitsdispositive ernsthaft in Frage gestellt. Innerhalb des persistenten Rahmens der etablierten Macht- und Wissensverhältnisse sollten indessen durchaus neue Wege des Lawinenschutzes beschritten werden. Die Lawinenabgänge führten nicht nur zu einem weiteren Ausbau des österreichischen Lawinenwarndienstes und der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung, sondern dynamisierten auch die Produktion lawinenspezifischen Wissens. So entwickelte etwa der Schweizer Bauingenieur Dr. Adolf Voellmy vor dem Hintergrund einer detaillierten Analyse der Blonser Schäden ein allgemeines Modell der Lawinendynamik – das sogenannte „Voellmy-Modell“ –, das die Bewegung von Lawinen als „Mischung aus festem und flüssigem Fließen“724 verständlich macht und dabei eine bis heute gültige Grundlage zur Vorhersage lawinenspezifischer Zerstörungspotentiale bietet. Ferner wurden die katastrophischen Ereignisse – wie oben bereits erwähnt – zum Anlass für die Entwicklung neuer Verbauungstechniken und beförderten eine stärkere und differenziertere Fokussierung auf forsttechnische Präventionsmaßnahmen.725 Die forcierten Immunisierungsbemühungen materialisierten sich

723 Keller 2011b, S. 311f. 724 WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung: Lawinendynamikforschung URL: https://www.slf.ch/de/ueber-das-slf/portrait/geschichte/lawinendynamikforschung. html (16.03.2018). 725 Vgl. hierzu auch Oswald Wagner: Die Lehren der Lawinenkatastrophe vom 11. Jänner. Von Hofrat Dipl.-Ing. Oswald Wagner, Leiter der Wildbach- und Lawinenverbauungssektion Bregenz. In: Vorarlberger Nachrichten, 20.01.1954.

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schließlich in massiven Verbauungen, großräumigen Aufforstungen, Schutzwaldsanierungen, Druckgräben, Schirmmauern und einer veränderten Bauweise. Hinzu kamen aber auch rigidere Regularien hinsichtlich der Genehmigung von Bauvorhaben, die ab 1975, durch die Einführung von Gefahrenzonenplänen, schließlich noch weiter standardisiert und professionalisiert werden konnten. Im Schatten dieses öffentlichen Deutungswirbels und seiner sich sukzessive festigenden Objektivationen wurde auch innerhalb der betroffenen Gemeinden um eine sinnhafte Einordnung des katastrophischen Ereigniskomplexes gerungen. Hier freilich war man stärker, tiefgreifender und unmittelbarer von den Lawinenabgängen betroffen. Es galt mit drastischen Erfahrungen umzugehen, die von der Zerstörung des vertrauten Zuhauses über elementare Ängste und körperliche Schmerzen bis zum Verlust engster Angehöriger reichten. Ging es – bei aller verantwortungsbasierten Involviertheit – in den überregionalen Debatten letztlich doch vornehmlich um Bemühungen zur semantischen Integration eines gleichsam abstrakten Irritationsereignisses, so vollzog sich die lokale Deutung vor dem Hintergrund existentieller Notwendigkeiten. Nomische Wissensbestände drohten ins Wanken zu geraten, massive Relevanzrelativierungen mussten in intersubjektiv akzeptierter Weise gelindert werden. Um wieder zu einem tendenziell selbstverständlichen Alltagsvollzug zurückfinden zu können, bedurfte es neben dem materiellen Wiederaufbau also auch der kommunikativen Rekonstruktion eines gemeinsamen Fundaments verlässlicher Gewissheiten. Von den frühen postkatastrophischen Kommunikationsprozessen in der Gemeinde Blons zeugen nur wenige Materialien. Die spärlichen Quellen veranschaulichen jedoch, dass der soziale Raum, in dessen Rahmen sich die lokalen Einordnungsbemühungen vollzogen haben, von signifikanten Machtstrukturen geprägt war. Hierbei fallen vor allem zwei Akteure ins Auge, die bereits vor den Lawinenabgängen ein hohes Ansehen hatten und sich auch jetzt durch eine ausgeprägte Deutungshoheit von der Gruppe der übrigen Diskursteilnehmer abhoben. Zum einen ist der damalige Pfarrer zu nennen, dem nun insbesondere aufgrund einer starken Nachfrage nach religiösen Interpretamenten zur besseren Bewältigung des Erfahrenen zentrale Aufgaben zukamen. So war er auch außerhalb der Kirche für viele ein wichtiger Gesprächspartner und kompensierte – wie eine Zeitzeugin im Interview ausführte – das Fehlen professioneller Psychotherapeuten.726 Er hörte zu, gab Ratschläge oder verlieh Bücher,727 deren Inhalte den

726 Interview 3: Blons, 08.07.2013. 727 Vgl. N.N.: Blons, 19. Februar. Verschiedenes. In: Vorarlberger Volksblatt, 20.02.1954.

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heutigen Erinnerungen zufolge teils als sehr hilfreich empfunden wurden.728 Zudem war er, etwa als beratendes Mitglied des lokalen Wiederaufbauausschusses,729 immer wieder auch in organisatorische Aufgaben involviert. Ferner hat er sich durch Zeitungsartikel an den öffentlichen Debatten beteiligt, vermittels diverser Kontakte eine erfolgreiche Spendenaktion organisiert und die Anschaffung der Blonser Lawinenglocke auf den Weg gebracht. Dass der Ordenspriester im damaligen Sozialgefüge bedeutende Funktionen innehatte, zeigte sich schließlich auch nachdem er im September 1954 aus dem Großen Walsertal abberufen worden war. Er ging als „Lawinenpfarrer“730 in die Lokalgeschichte ein und leitete noch mehrmals den Erinnerungsgottesdienst, der regelmäßig an den Jahrestagen der Katastrophe in der Blonser Gemeindekirche abgehalten wurde. Zum anderen waren die lokalen Deutungsprozesse – nicht weniger erwartbar – vom damaligen Schulleiter geprägt. Wie der Pfarrer genoss auch dieser bereits vor den Lawinenabgängen eine hohe Reputation und konnte nun eine legitime Sprecherposition einnehmen – auch seine deutungsrelevanten Äußerungen standen somit von vornherein unter einem verhältnismäßig geringen Beweiszwang. Als Mitglied des regionalen731 und Vorsitzender des lokalen732 Wiederaufbauausschusses vermochte er seine präkatastrophische Position innerhalb der Übergangsordnung des Ausnahmezustands zu reproduzieren. Zudem galt er als Dorfchronist, dokumentierte in dieser Funktion zahlreiche Erfahrungsberichte und publizierte die Texte in einem „Lawinenbuch“.733 Als Volksschuldirektor hatte er, forciert durch die Machtstrukturen der Unterrichtssituation, schließlich aber auch großen Einfluss auf die intergenerationale Tradierung der Katastrophenerfahrung. Ferner gehörte er zusammen mit dem Pfarrer und dem Bürgermeister zu jenem engen Personenkreis, der die lokale Katastrophendeutung nach außen trug – in den Ausschusssitzungen, in informellen Gesprächen mit Politikern, in den

728 Interview 3: Blons, 08.07.2013. 729 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Erster Bericht des Aufbauausschusses Blons zu den Sitzungen am 4. und 7. Februar 1954. Blons, 08.02.1954. 730 Vgl. N.N.: Der „Lawinenpfarrer“ nimmt Abschied. In: Vorarlberger Volksblatt, 06.09.1954. 731 Vgl. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Niederschrift über die Sitzung des Wiederaufbauausschusses des Großen Walsertales am 2. Februar 1954. Blons, 02.02.1954. 732 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Erster Bericht des Aufbauausschusses Blons zu den Sitzungen am 4. und 7. Februar 1954. Blons, 08.02.1954. 733 Dobler 2008.

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Vorträgen für die Hilfsmannschaften sowie durch Rundfunkinterviews oder eigene Zeitungsbeiträge. Unter dem Einfluss dieser Akteure entwickelten sich nun verschiedene Deutungsstränge. Den verfügbaren Quellenmaterialien zufolge wurde der katastrophische Ereigniskomplex einerseits im Rahmen naturwissenschaftlicher Begriffe ausgelegt. Zu einer Katastrophe kam es in dieser Lesart aufgrund des Zusammenwirkens von extremen Witterungsbedingungen und katastrophenbegünstigenden Faktoren innerhalb des lokalen Ordnungsgefüges: Hangneigung, Siedlungsstruktur, fehlende Sicherungsvorkehrungen. Von einer etwaigen Mitverantwortung der Dorfbewohner selbst war dabei vorerst nicht die Rede. In einem Radiointerview, das am Abend des 13. Januars aus Blons gesendet wurde, wies der damalige Bürgermeister jedoch darauf hin, dass die betroffene Parzelle Walkenbach durch ihre Lage schon sehr lange gefährdet gewesen sei, und verdeutlichte implizit, dass man sich dieser Gefahr – zumindest innerhalb der Gemeindeverwaltung – durchaus auch bewusst war: „Die Gemeinde Blons hatte schon immer das Bestreben, diese Parzelle durch eine Lawinenverbauung besser zu sichern. […] In der letzten Zeit war man ständig daran, durch weitere Aufforstungen besseren Schutz vor Lawinen zu finden. Leider gehört die Gemeinde Blons zu den finanzschwächsten im Lande. Für die Aufforstungen wären beträchtliche Mittel erforderlich, die der Gemeinde fehlen, vor allem für den hierzu nötigen Ankauf des in Frage kommenden Alpgrundes.“734

Das Interview des Bürgermeisters war freilich von Strategien geprägt, die der Externalisierung von Schuld und der Internalisierung von Fördermitteln dienen sollten, es verdeutlicht aber auch, dass durch die Lawinenabgänge eine generelle Thematisierung der vorherrschenden Ordnungsstrukturen angestoßen wurde. Auch die Protokolle der regionalen und lokalen Wiederaufbauausschüsse zeugen von einer solchen postkatastrophischen Selbstsondierung zum Zwecke resilienzsteigernder Transformationen. Da die Lawinenkatastrophe in diesem Zusammenhang als ein Ereignis gedeutet wurde, das durch ordnungsinterne Faktoren mitbedingt war, forderte man etwa die Verlegung verschiedener privater und öffentlicher Gebäude, plädierte ferner dafür, in den gefährdeten Gebieten jeweils zwei Höfe zu einer einzelnen Sicherungseinheit – mit gemeinsamer Schirmmauer und

734 N.N.: In Blons kommen und gehen die Rettungsmannschaften. In: Vorarlberger Nachrichten, 14.01.1954. Auf gleiche Weise antwortete der Bürgermeister auch in anderen Interviews. Vgl. N.N.: Blons – die Gemeinde ohne Zukunft? In: Neue Tageszeitung, 22.01.1954.

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der Option zu schneller Nachbarschaftshilfe – zusammenzuschließen, und erwog mit Blick auf die besonders gefährdete Parzelle Walkenbach sogar, „ob nicht doch von der Streusiedlung abgegangen und die gesamten Wohnungen auf der lawinensicheren Blonserebene errichtet werden sollen.“735 Den Dorfbewohnern stellten sich, so der Schulleiter in einem erläuternden Zeitungsartikel, „Probleme verschiedenster Art, wie Lawinenschutz, Grundstückzusammenlegungen, Aufforstungen, Erb- und Kaufverhandlungen“, aber auch „weitere Fragenkomplexe allgemeiner Natur“.736 Die Frage nach den Lawinenursachen und nach den daraus zu ziehenden Konsequenzen veranlasste offenbar zu einer kritischen Explikation der ökologischen und ökonomischen Bedingungen des bisherigen Alltagslebens. Den Beobachtungen Ernst Neefs737 zufolge sei hierbei neben der Katastrophenanfälligkeit auch eine generelle Vulnerabilität und Zukunftsschwäche der früheren Lebensweise in den Blick geraten: „Was bisher verdeckt durch das bestehende Wirtschaftsgefüge und den ererbten und nur langsam vermehrenden materiellen Besitz nach außen unsichtbar, ja z.T. auch den Einwohnern des Ortes selbst unbewußt geblieben war, trat nun offen und unverhüllt zutage.“738 Die Dorfbewohner seien mit ihrem grundlegenden Mangel an Kapital konfrontiert worden – und mit der prekären Tatsache, dass dieser im Rahmen des vorherrschenden Wirtschaftsgefüges trotz einer umfassenden Investition eigener Arbeitskraft nicht zu überwinden war. Infolge der Lawinenabgänge habe sich „die latente Existenzkrise des Bergbauerndorfes Blons in eine akute [verwandelt].“739 Die postkatastrophischen Einordnungsbemühungen der Dorfbewohner waren also einerseits von naturwissenschaftlich ausgerichteten Deutungen und daran sich anschließenden Analysen der soziomateriellen Verfasstheit ihres bisherigen Lebensvollzugs gekennzeichnet, sie wiesen andererseits aber auch zahlreiche religiös geprägte Motive auf. So kristallisierten sich beispielsweise mehrere Er-

735 VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Erster Bericht des Aufbauausschusses Blons zu den Sitzungen am 4. und 7. Februar 1954. Blons, 08.02.1954. 736 VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: „Aller Anfang ist schwer!“ Ausgeschnittener Zeitungsartikel von Eugen Dobler. Nicht datiert. 737 Hierbei handelt es sich um jenen Leipziger Geographieprofessor, der nach den Lawinenabgängen für einige Wochen in Blons war, um geoökologische Analysen durchzuführen, und sich in diesem Zusammenhang mit einer Gruppe Studierender auch an den Räumungsarbeiten beteiligte. 738 Ernst Neef: Blons im Großen Walsertal. In: Mitteilungen der geographischen Gesellschaft 97 (1955), S. 97-110, hier S. 107. 739 Ebd.

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zählmuster heraus, die durch den Hinweis auf präkatastrophische Divinationen oder Divinationsoptionen dabei halfen, zum Glauben zurückzufinden. Der ungewöhnlich warme Herbst des Vorjahrs hatte sich bis weit in den Dezember gezogen und wurde nun im Rückblick häufig als ein Menetekel gedeutet: „[M]anchem schien das außergewöhnliche Sonnenwetter eigenartig, und nicht selten hörte man die Meinung, ob wir die schönen Tage nicht noch büßen müssen. Und sie behielten recht!“740 Auch die Figur des „Engels von Blons“ fand in den postkatastrophischen Erzählungen weite Verbreitung: Ein junger Blonser habe nach dem Abgang der Falvkopf-Lawine am Montagvormittag weiteres Unheil geahnt, sei daraufhin von Haus zu Haus gegangen und habe durch diese Warnungen zahlreichen Bewohnern das Leben gerettet. 741 – Die beiden Erzählungen mögen nicht zuletzt deshalb so häufig wiederholt worden sein, da sie dem katastrophisch vermittelten Eindruck, ein gefährdetes Leben in unbehüteter Offenheit zu führen, entgegenzuwirken vermochten. Gott, so eine mögliche Lesart, habe die Blonser nicht allein gelassen, ihnen vielmehr durch verschiedene Vorzeichen die bevorstehende Katastrophe angekündigt. Die Erzählungen entsprechen damit jenen verbreiteten postkatastrophischen Berichten über präkatastrophische Merkwürdigkeiten, die „deutlich machen [sollen], dass Gott nicht willkürlich vorgeht, sondern die Menschen vor drohenden Gefahren warnt: Wer sehen will, kann sehen und geeignete Maßnahmen ergreifen.“ 742 Weshalb es schließlich gerade auch angesichts des erfahrenen Leids hilfreich sein konnte, am bisherigen Glauben festzuhalten, verdeutlicht etwa eine Predigt, die der Gemeindepfarrer im Rahmen des ersten Sonntagsgottesdienstes nach den Lawinenabgängen verkündete: „In Christo geliebte Überlebende unserer Lawinenkatastrophe! Die eindrucksvollste Predigt, die je an uns ergangen ist, war die Heimsuchung Gottes der letzten Tage. Heute müssten meine schwachen menschlichen Predigtworte auf taube Ohren fallen, wollte ich versuchen, die Stimme des Dreifaltigen Gottes vom letzten Montag zu übertönen oder

740 Dobler 2008, S. 40. 741 Vgl. Dobler 2008, S. 94; Jytte Dünser: Das weiße Inferno. Die Geschichte vom Blonser Engel. In: Kulturjournal plus. Informationen für Liechtenstein, Vorarlberg, Ostschweiz und den Bodenseeraum 1 (1994), S. 2-7; Wechsberg 1959, S. 227f. 742 Bernd Rieken: Wütendes Wasser, bedrohliche Berge. Naturkatastrophen in der populären Überlieferung am Beispiel südliche Nordseeküste und Hochalpen. In: Roland Psenner/Reinhard Lackner/Maria Walcher (Hg.): Ist es der Sindtfluss? Kulturelle Strategien und Reflexionen zur Prävention und Bewältigung von Naturgefahren. Innsbruck 2008, S. 97-117, hier S. 100.

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auszudeuten. Wir alle sind dazu nicht imstande. Denn wir trauern. Wir haben viel verloren. Es liegt so viel kostbares Leben da draußen auf dem Friedhof. Vom materiellen Schaden wollen wir im Hause Gottes schweigen. Wir hätten dieses Leben noch so notwendig brauchen können. Was sollen die Kinder anfangen ohne ihre Mutter? Was soll die Mutter mit ihrer Kinderschar ohne den Vater? Alles ist furchtbar hart, und darum dürfen wir trauern. Das verbietet uns kein Mensch. Nur eines untersagt uns der Völkerapostel: ‚Ihr sollt nicht trauern wie die andern, die keine Hoffnung haben!‘ Ich finde die Worte nicht, um Euch heute zu trösten. ‚Weine nicht!‘ sagt Christus voll Zärtlichkeit zur Witwe von Naim und wirkte das Wunder der Wiedererweckung. Weine nicht! Mit derselben Zärtlichkeit sagt Er es Deiner Seele. Denn wir haben eine Hoffnung. Unsere Toten leben und bleiben in Gott. Derselbe Gott schenkt aber uns Überlebenden wieder die Kraft und den Mut, eine neue Heimstätte aufzubauen. Diesem dreifaltigen Gott haben wir mit großen Opfern sein Heiligtum erneuert, Er möge nun uns, wir bitten Ihn, zum Aufbau helfen!“743

In zweifacher Hinsicht vermochte die Religion also zu einer „Versöhnung mit dem Schicksal“744 beizutragen. Zum einen bot sie den trostspendenden Gedanken, dass die verstorbenen Angehörigen weiterlebten. Sie waren nicht endgültig verloren, sondern lediglich vorausgegangen. Zum anderen eröffnete sie die Möglichkeit, hinter der Katastrophe einen Sinn zu vermuten. Die Vorstellung einer doppelten Offenbarung Gottes – in der Heiligen Schrift und in der Natur – legte den Gedanken nahe, dass es sich bei dem Widerfahrnis gleichsam auch um einen kommunikativen Akt handelte, dessen Botschaft etwa als Strafe, Mahnung oder Prüfung gedeutet werden könne. So ermöglichte der Glaube eine „religiöse Sinngebung des offensichtlich Sinnlosen“745. Er integrierte die „Katastrophe“ in ein transzendentes Symbolsystem und vermittelte ihren physikalischen Ursachen damit einen tragenden Grund. Dabei mag diese Deutungsfigur auch dann hilfreich gewesen sein, wenn die konkrete Gestalt dieses Grundes im Dunkeln bleiben musste. Schließlich bot an ihr bereits der Gedanke des bloßen Faktums göttlicher Einflussnahme ein Mittel kognitiver Besänftigung. Möglichkeiten zur religiösen Akzeptanz des hervorgerufenen Leides vermochten solchen Falls indessen nur aus einem fatalistischen „Sich-Fügen in Gottes unerforschlichen Ratschluß“746 hervorzugehen.

743 ADF, PA Blons Hs. 49: Verkündbuch 1952-1957. Eintrag vom 17.01.1954. 744 Vgl. Plessner 1928, S. 342. 745 Jakubowski-Tiessen/Lehmann 2003, S. 7. 746 Lübbe 1993, S. 27.

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Im Rahmen der postkatastrophischen Deutungsbemühungen kristallisierten sich also verschiedene kurative Wissensformen heraus, die den Betroffenen halfen, das Erfahrene einzuordnen. Der katastrophische Ereigniskomplex wurde dabei einerseits als Effekt einer naturwissenschaftlich rekonstruierbaren Faktorenkonstellation, andererseits aber auch als eine religiös zu lesende Botschaft Gottes verstanden.747 Es ist davon auszugehen, dass diese Deutungsmuster neben den oben geschilderten Ritualen und Rematerialisierungsprozessen maßgeblich dazu beigetragen haben, den katastrophischen Zustand zu überwinden. Schließlich gehörte ein erstes sinnhaftes Verstehen des Ereigniskomplexes zu den zentralen Bedingungen der Möglichkeit, die „Katastrophe“ gleichsam abschließen – und damit in einen Gegenstand der Vergangenheit überführen – zu können. In den gegenwärtigen Gesprächen und Interviews vermittelte sich jedoch zuweilen der Eindruck, dass ein solcher Abschluss nicht in einem vollumfänglichen Sinne bewirkt werden konnte. Statt überwunden, scheint vieles vor allem verdrängt worden zu sein. So löste die Erinnerung an damalige Erfahrungen bei einzelnen Gesprächspartnern teils heftige emotionale Reaktionen aus. Bernd Rieken und Michael Simon sind diesbezüglich der Ansicht, dass einige der von ihnen interviewten Zeitzeugen in ihrem Bezug zu den katastrophischen Ereignissen noch immer mit unbewältigten Schuldgefühlen und Traumata belastet seien: „Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden, wie uns eine fragliche Volksweisheit gerne einreden möchte. Dieser Eindruck war wahrscheinlich der nachdrücklichste, der sich bei unseren Besuchen in Blons gewinnen ließ.“ 748 Mit dem Hinweis auf Unbewältigtes mag einer der Faktoren benannt worden sein, die dazu führten, dass die Lawinendeutung vor Ort bis heute in Bewegung ist. Daneben muss in diesem Zusammenhang aber freilich insbesondere auch der allgemeine Aspekt einer generellen Kontextgebundenheit des Erinnerns berücksichtigt werden – also die Dynamisierung des Vergangenheitsbezugs durch den beständigen Wandel der Gegenwart. So wurden für die Entwicklung der lokalen Deutungsprozesse immer wieder auch Neuimpulse von außen relevant. Zu nennen sind hierbei etwa behördlich verbreitete Sicherheitsauflagen, die auf neuen Wissensformen und technischen Möglichkeiten basierten und sich vor Ort vermittels verbindlicher Gefahrenzonenpläne materialisierten. Zu nennen ist aber freilich auch die umfangreiche mediale Verarbeitung des Ereignisses im Rahmen

747 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die verfügbaren Quellen zu einem großen Teil der damaligen Dorfelite entstammen. In welchem Maße und in welcher Form die genannten Deutungsmuster tatsächlich Eingang in das damalige Denken der einzelnen Dorfbewohner gefunden haben, lässt sich auf dieser Basis nicht rekonstruieren. 748 Simon/Rieken 2016, S. 269.

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von Zeitungsberichten, Radiosendungen, Internetpublikationen, Büchern und Filmen – wie beispielsweise jüngst durch die ORF-Dokumentation „Tod im Schnee“749 oder die Romanverfilmung „Der Atem des Himmels“750. Gerade der zuletzt genannte Film, in dem verschiedene Aspekte des historischen Ereignisses aufgegriffen und mit fiktiven sowie biographischen Elementen aus der Familiengeschichte des Autors verknüpft wurden, löste vor Ort lebhafte Debatten aus. In den Gesprächen und Interviews war diesbezüglich insbesondere seitens der älteren Zeitzeugen ein ausgeprägtes Richtigstellungsbedürfnis vernehmbar. So führten die Impulse von außen zwar einerseits zu einer Rezeption externen Expertenwissens, auf deren Basis sich das Bild der damaligen Geschehnisse veränderte, doch evozierten sie andererseits immer wieder auch innere Abgrenzungsreaktionen, die eine Festigung lokaler Perspektiven zur Folge hatten. Im Rekurs auf die Interviewtranskripte sollen nun abschließend einige zentrale Aspekte der aktuellen Katastrophendeutung zusammengefasst werden. Hinsichtlich der Frage nach den damaligen Lawinenursachen gingen die Gesprächspartner in der Regel zunächst auf die ungewöhnlichen Witterungsbedingungen der Katastrophentage ein. Vor allem die außerordentliche Menge und die eigenartige Beschaffenheit des damaligen Schnees fanden in diesem Zusammenhang überaus häufig Erwähnung: „Das ist ein ganz verrückter Schnee gewesen […] ein Flaum, unvorstellbar“751, „den kann man vergleichen mit Daunenfedern in der Bettdecke“752, „da sind mer durch zwei Meter durchgelaufen“753, „man ist bis zum Boden eingesunken, aber der Schnee ist vor einem geflohen und hinter einem wieder zusammen.“754 Ferner wurden aber auch verschiedene anthropogene Ursachen angeführt. Zum einen betonten einzelne Gesprächspartner, dass damals eine generelle Unwissenheit in Sachen Lawinengefahr verbreitet gewesen sei: „Wir haben schon von Lawinen geredet, aber was eine Lawine eigentlich ist … Da ist man noch jung gewesen, da hat man noch anders gedacht, hat noch andere Interessen gehabt.“755 Zum anderen wurden häufig aber auch konkrete Fehler und Missstände genannt, die den Abgang der Lawinen schließlich mitverursacht hätten. Auffal-

749 Tod im Schnee. Die größte Lawinenkatastrophe der Welt. Menschen und Mächte, Folge 37. (AT 2010, R: Gerhard Jelinek/Sabine Zink) 750 Der Atem des Himmels (AT 2010, R: Reinhold Bilgeri) 751 Interview 7: Blons, 01.02.2014. 752 Interview 4: St. Gerold, 03.08.2013. 753 Interview 2: Blons, 05.07.2013. 754 Interview 5: Blons, 29.01.2014. 755 Interview 7: Blons, 01.02.2014.

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lend ist in diesem Zusammenhang, dass die Schilderungen in der Regel einem positiv konnotierten Fortschrittsnarrativ folgten: Damals habe man von nichts gewusst, die Gefahr unterschätzt, den Schutzwald zu alt werden lassen, nur über unzulängliche Verbauungstechniken verfügt, Materialien aus den Schutzvorrichtungen entnommen und keine Rettungspläne für den Katastrophenfall gehabt. Inzwischen habe man jedoch dazugelernt – die Verbauungen seien räumlich ausgedehnter und technisch ausgefeilter, zudem sei der Wald in einem guten Zustand und der Lawinenwarndienst besser organisiert, so dass man sich heute sicher fühlen könne: „Also bei uns sagt mer, ‚nach menschlichem Ermessen passiert nichts mehr.‘“756 Des Weiteres kam zudem aber auch der Religion noch immer ein großer Stellenwert zu. So wurde in nahezu allen Gesprächen neben witterungsspezifischen und anthropogenen Ursachen auch der Gedanke einer göttlichen Vorsehung angeführt. „Das war Schicksal, das war Fügung Gottes“, sagte eine der Gesprächspartnerinnen, und ergänzte, „wenn das wieder mit der Lawine sein muss, wenn es sein müsste, dann muss es sein.“757 In vergleichbarer Weise hieß es in einem anderen Interview, „das hat halt sein sollen […] es hat halt alles so sein sollen. Die wo es halt treffen hätt sollen, die hatʼs halt getroffen.“758 Mit Blick auf das eigene Überleben, formulierte ein anderer Interviewpartner diesen Gedanken positiv: „Für mich ist des alles ein Rätsel … und ich sage Ihnen, wenn die Stunde nicht da ist, dann kann man machen, was man will, und kommt immer davon.“759 Im Anschluss an solche Hinweise auf die Unumgänglichkeit göttlicher Vorsehung wurde vereinzelt die Vermutung geäußert, dass es sich hierbei nicht um eine Strafe gehandelt haben konnte: „Na na, das ganze Jahr schaffen, und nichts haben, und für das sollen wir bestraft werden? […] Na, das war keine Strafe Gottes, also von mir aus nicht.“760 In das Bild eines gnädigen, nicht strafenden Gottes fügten sich schließlich auch verschiedene Äußerungen hinsicht-

756 Interview 2: Blons, 05.07.2013. Das Sicherheitsgefühl wurde im Grunde von allen Gesprächspartnern geteilt. Die meisten relativierten es im Verlauf des Gespräches jedoch auch wieder – etwa durch die Betonung der Allmacht Gottes oder der Übermacht des Zufalls sowie durch den Hinweis, dass es zur Aufrechterhaltung der Sicherheit notwendig sei, sich eine hinreichende Bedrohungssensibilität zu bewahren. Diesbezüglich gab es mit Blick auf die Lawinengeschichte des Tals insbesondere auf Seiten der älteren Interviewpartner doch auch einige Bedenken. 757 Interview 7: Blons, 01.02.2014. 758 Interview 3: Blons, 08.07.2013. 759 Interview 4: St. Gerold, 03.08.2013. 760 Interview 7: Blons, 01.02.2014.

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lich des postmortalen Weiterlebens der Lawinenopfer. Gott habe jene zu sich berufen, „die er nötig gebraucht hat“.761 Manche von ihnen seien gar zu einem „Schutzengel“ ihrer Hinterbliebenen geworden.762 Die Beispiele veranschaulichen, dass die gegenwärtige Katastrophendeutung nach wie vor von einer Gleichzeitigkeit des vermeintlich Ungleichzeitigen geprägt ist. So verwendet ein Großteil der interviewten Betroffenen in ihren Erfahrungsberichten sowohl naturwissenschaftliche als auch religiöse Interpretamente zur Einordnung des Geschehenen. Die naturwissenschaftlich geprägten Aussagen weisen dabei teils ein hohes Maß an – auch selbstkritischer – Informiertheit über die postkatastrophischen Analysen der Lawinenursachen auf. Im religiösen Kontext scheinen einige der Betroffenen schließlich insbesondere an jenen fatalistischen Deutungsmustern festzuhalten, die es ihnen bereits damals erleichtert hatten, das Geschehene zu akzeptieren. Letztlich ereigne sich eben alles so, wie es sich ereignen müsse. Im Rahmen unserer Rekonstruktion der postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse wurde deutlich, dass sich die Lawinenabgänge von Blons als Katalysatoren eines mehrdimensionalen Wandels verstehen lassen. So ist es im Zuge der – translokal strukturierten – Verarbeitungsbemühungen zu tiefgreifenden materiellen, sozialen und semantischen Transformationen gekommen, die den lokalen Existenzbedingungen eine nachhaltig veränderte Gestalt verliehen. Zwar muss mit Blick auf die Entwicklungen in anderen Alpendörfern davon ausgegangen werden, dass einige der herausgearbeiteten Veränderungen im Laufe der Zeit wohl ohnehin Einzug gehalten hätten,763 doch führte die Katastrophe zu einer massiven Verdichtung dieser Vorgänge. Da die Lawinenabgänge bestehende Strukturen zerstört und umfassende Hilfeleistungen mobilisiert hatten, vollzog sich der Modernisierungsprozess vor Ort in gesteigerter Rapidität und Radikalität. Während die verfügbaren Quellen also Zugänge zur Rekonstruktion eines spezifisch dynamisierten Strukturwandels eröffneten, musste die existentielle Dimension dieser Veränderungen weitestgehend im Dunkeln bleiben. Nur wenige der uns zugänglichen Materialien ließen belastbare Aussagen darüber zu, wie die postkatastrophischen Transformationen des Ordnungsgefüges von den einzelnen Akteuren in ihrem faktischen Lebensvollzug erfahren wurden. Die positi-

761 Ebd. 762 Interview 8: Blons, 03.02.2014. 763 Vgl. hierzu etwa Werner Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. München 2015, S. 131-246.

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onsspezifischen Relevanzen der Ordnungsrekonfigurationsprozesse waren somit vielfach nur in Ansätzen zu erörtern. Indessen spricht manches dafür, dass neben der Verarbeitung des Verlustes auch der Umgang mit den neuen Möglichkeiten zuweilen als eine nicht unmittelbar zu bewältigende Herausforderung empfunden wurde. Wenn in einzelnen Zeitungsartikeln und Berichten von Helfern teils Monate nach den Lawinenabgängen noch von einem „eigensinnigen Beharren am Alten“764 sowie vom Anschein eines Mangels an Entscheidungskraft und Eigeninitiative765 die Rede war oder schließlich beobachtet wurde, dass sich manche Blonser in ihren neuen Häusern zunächst nicht recht zu Hause fühlten,766 so könnten dies jedenfalls Indizien für einen postkatastrophisch wirksamen Hysteresiseffekt767 sein. Offenbar kam es bei einigen Gemeindemitgliedern zu anfänglichen Einfindungsschwierigkeiten, da die veränderten Existenzverhältnisse nicht ohne weiteres integriert werden konnten. In der Tat waren die physiopsychischen Ordnungsdispositionen der Akteure ja unter Bedingungen entstanden, die sich von den Optionen und Notwendigkeiten der nun gewandelten Verhältnisse signifikant unterschieden. Ihre habitualisierten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsgewohnheiten mussten den rapiden Transformationen des Ordnungsgefüges also erst angepasst werden, bevor sich auf der Basis adäquat rekonfigurierter Akteur/UmweltKorrespondenzen schließlich wieder ein tendenziell selbstverständlicher Alltagsvollzug entwickeln konnte.

764 Neef 1955, S. 107. 765 Vgl. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: „Aller Anfang ist schwer!“ Ausgeschnittener Zeitungsartikel von Eugen Dobler. Nicht datiert. 766 Vgl. Wechsberg 1959, S. 276. 767 Vgl. hierzu etwa Bourdieu 2009, S. 183.

IV. Resümee

Der vorliegenden Arbeit lag eine doppelte Zielsetzung zugrunde: Zum einen war sie von der Intention geleitet, ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das die komplexen Bezüge zwischen „Ordnung“ und „Katastrophe“ näher zu analysieren erlaubt. Zum anderen verfolgte sie die Absicht, auf der Grundlage dieser analytischen Sehinstrumente die Lawinenkatastrophe von Blons zu rekonstruieren, also im Einzelnen zu untersuchen, weshalb die damaligen Lawinenabgänge möglich wurden, auf welche Weise sie sich realisierten und welche – kurz-, mittel- und langfristigen – Veränderungen aus ihnen resultierten. Im Folgenden sollen nun die zentralen Ergebnisse der Arbeit nochmals zusammengefasst werden.

1. THEORETISCHE GRUNDLAGEN Vor dem Hintergrund der umrissenen Leitintentionen galt es im ersten Hauptteil die theoretischen Vorannahmen der Arbeit zu explizieren und ein adäquates begriffliches Analyseinstrumentarium zu entwickeln. Von zentraler Bedeutung war hierbei, in hinreichendem Maße zu klären, was im Rahmen dieses Vorhabens unter „Ordnung“ zu verstehen ist. Im ersten Kapitel befassten wir uns daher zunächst in einem schematischen Überblick mit dem historischen Wandel des volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Ordnungsverständnisses und gewannen auf diesem Wege den Ausgangspunkt unseres Ansatzes: Es galt ein Ordnungskonzept zu entwickeln, das sich auf die verwundbare Geordnetheit des alltäglichen In-der-Welt-seins bezieht. Bevor diese – freilich stets soziokulturell konstituierte – Geordnetheit differenzierter in den Blick genommen wurde, wandte sich das zweite Kapitel aber vorerst der Ontogenese des Einzeldaseins zu. Im Rekurs auf zentrale Überlegungen aus dem Feld der Philosophischen Anthropologie wurde hierbei insbesondere jener existentielle Grundzug näher beleuchtet,

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den wir in Anlehnung an Portmann als extrauterinen Ordnungsbedarf bezeichneten. Hierunter verstanden wir ein grundlegendes Sinn- und Orientierungsbedürfnis, das im Zuge der Primärsozialisation zwar nachhaltig gestillt wird, angesichts der unaufhebbaren Kontingenz und Widerständigkeit des Realen sowie eines unüberwindbaren Mangels an Letztbegründungsoptionen aber doch lebenslang relevant bleibt beziehungsweise immer wieder in problematischer Weise thematisch werden kann. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ging es im dritten Kapitel um die eigentliche Konzeptualisierung des Ordnungsbegriffs. Hierbei unterschieden wir analytisch zwischen der Dimension des Ordnungsgefüges und der Dimension existentieller Ordnung. Im Rahmen dieser Unterscheidung bezeichnet der Begriff des Ordnungsgefüges jenen figurationsspezifischen Gesamtlebenszusammenhang, in den die einzelnen Akteure durch ihre Geburt entlassen werden. Er umfasst damit sämtliche zeit/raum-spezifischen materiellen, sozialen und kulturellen Elemente, denen aufgrund ihrer intersubjektiv vernehmbaren Wirkung der Status geltender „Tatsachen“ zukommt. Mit dem Begriff der existentiellen Ordnung bezogen wir uns hingegen auf den je konkreten Lebensvollzug der einzelnen – in Ordnungsgefügen existierenden – Akteure. Da existentielle Ordnungen unserer Auffassung nach jedoch weder als bloße Struktureffekte noch als reine Bewusstseinsleistungen verstanden werden können, bedurfte es hierbei einer begrifflichen Konzeptualisierung, die beide Analyseebenen zu berücksichtigen erlaubt: Ordnung, so die daraus resultierende Definition, konstituiert sich in dem Maße, wie die physiopsychischen Ordnungsdispositionen der Akteure mit der positionsspezifischen Gegebenheitsweise des jeweiligen Ordnungsgefüges korrespondieren. Ordnung herrscht demzufolge dann, wenn ein Akteur die potentielle Widerständigkeit des Begegnenden auf der Grundlage seiner Wissensmuster und Handlungskompetenzen in situationsadäquater Weise vor jedem probleminduzierten Reflexions- und Adaptionsbedarf aufzuheben vermag. Nachdem bis dahin also näher bestimmt worden war, welches Ordnungskonzept unserer Frage nach der Ordnungsverwobenheit katastrophischer Ereigniskomplexe zugrunde liegt, wandte sich die Arbeit im vierten Kapitel dem Phänomen der Bedrohung zu. Bedrohungen fassten wir im Folgenden als problematische Verweise auf die Möglichkeit zukünftiger Probleme. Probleme verstanden wir dabei wiederum als mehr oder weniger gravierende Durchbrechungen der ordnungsgenerierenden Akteur/Umwelt-Korrespondenzen – Durchbrechungen, die sich immer dann ereignen, wenn eine auftretende Begebenheit im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht ohne weiteres in den gewohnten Alltagsvollzug integriert werden kann, obwohl eine, wie auch immer motivierte, Notwendigkeit zu deren Integration besteht. Vermittels des

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Schützʼschen Relevanzkonzepts konnte dieser Bestimmung daraufhin ein differenziertes theoretisches Fundament unterlegt werden. Sodann wurde in Anlehnung an Berger und Luckmann zwischen unproblematischen Problemen und problematischen Problemen unterschieden: Während erstere sich durch Bewältigungsprozesse im Rahmen bestehender Deutungs- und Handlungsmuster aufheben lassen und somit lediglich eine kurzfristige Stockung der lebensweltkonstituierenden Ideierungen nach sich ziehen, entsprechen letztere einer tiefgreifenden Verwundung der physiopsychischen Existenzmatrix, verhindern folglich eine rasche Rückkehr in den vertrauten Modus des alltäglichen Lebensvollzugs und führen – sofern sie überhaupt bewältigt werden können – zu nachhaltigen Veränderungen der existentiellen Ordnungsverhältnisse. Ob und in welchem Maße außerordentliche Widerfahrnisse den Akteuren als Begebenheiten erscheinen, die problematische Probleme zeitigen könnten, so hielten wir abschließend fest, ist die zentrale Beurteilungsgrundlage ihres ordnungsrelationalen Bedrohungspotentials. Die Aufmerksamkeit des fünften Kapitels galt daraufhin jenen grundlegenden Komplementärprozessen, die der Bedrohlichkeit des Bedrohlichen auf verschiedenen Ebenen entgegenwirken. Im Rekurs auf jüngere kulturtheoretische Ansätze, wie sie etwa von Derrida oder Esposito entwickelt wurden, fassten wir diese Vorgänge unter dem Begriff der Immunisierung und unterschieden hierbei zwischen existentiellen und sozialen Immunisierungen. Unter existentiellen Immunisierungen verstanden wir resilienzsteigernde physiopsychische Sekurisierungsvorgänge, die es den einzelnen Akteuren ermöglichen, mit dem Begegnenden auf unproblematische Weise umgehen zu können. Es handelt sich dabei also um vielfältige Lern- und Adaptionsprozesse, die jene basalen – sowohl körperlich als auch kognitiv verfassten – Integrations- und Reaktionspotentiale erweitern, deren zentrale Wirkung in einer lebensweltstabilisierenden Transformation potentiell bedrohlicher Umweltreize besteht. Mit den Konzepten der tautologischen, pragmatischen, expliziten und transzendierenden Immunisierung wurden daraufhin sekundäre Stabilisierungsformen umrissen, die den primär immunisierenden Wahrnehmungs-, Wissens- und Handlungsmustern in Stufen zunehmender Integrationskraft eine sichernde Verankerung bieten. Unter dem Begriff der sozialen Immunisierung fassten wir sodann sämtliche intersubjektiven Sekurisierungsprozesse, die der Protektion des Lebenszusammenhangs einer gegebenen Gruppierung dienen. Neben impliziten, gleichsam vorthematisch stabilisierenden Mechanismen wurden hierbei insbesondere auch explizite Sicherungsformen analysierbar gemacht. Unter letzteren verstanden wir fortan all jene Prozesse, denen bewusste Intentionen zugrunde liegen, da sie sich gegen problematisch thematisch gewordene Bedrohungen richten. Explizite so-

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ziale Immunisierungen konstituieren sich so gesehen stets auf der Grundlage spezifischer – phänomenkonstituierender – Kommunikationsprozesse: Bedrohungskommunikationen bringen die Gegenstände, von denen sie handeln, erst eigens hervor, werden dabei von den vorherrschenden Wissens- und Machtverhältnissen strukturiert und materialisieren sich in Form konkreter Immunisierungsapparate, die der präventiven Regierung des Zukünftigen – im Sinne einer zuvorkommenden Verhinderung oder Linderung bedrohungsrealisierender Ereignisse – dienen. Am Ende des Kapitels wurde schließlich darauf hingewiesen, dass die skizzierten existentiellen und sozialen Formen der Immunisierung freilich stets eng miteinander verwoben sind. Im Rahmen intersubjektiv stabilisierter Räume vermögen die einzelnen Akteure resiliente lebensweltliche Ordnungen zu etablieren, die in positionsspezifischem Maße vor bedrohlichen Einbrüchen des Außerordentlichen geschützt sind. Auf der Grundlage dieser theoretischen Vorüberlegungen konnten im sechsten Kapitel die Ausgangsfragen der Arbeit weiter ausdifferenziert und analytisch geschärft werden. So fungierten die gewonnenen Begriffe nun als Bausteine eines katastrophologischen Analyserasters, das hier – in Anknüpfung an aktuelle Entwicklungen des interdisziplinär bearbeiteten Forschungsfeldes – zunächst allgemein skizziert wurde und unserem empirischen Rekonstruktionsversuch schließlich ein untersuchungsleitendes Navigationsinstrument bieten sollte. Katastrophen fassten wir dabei im Kern als bedrohungsrealisierende Ereigniskomplexe auf, deren katastrophischer Charakter darin besteht, dass sie die Ordnungsdispositionen der betroffenen Akteure massiv überlasten und daher zu einer fatalen Aussetzung oder Stillstellung ihres bisherigen Alltagsvollzugs führen. Der diesbezügliche Fragenkatalog umfasste zwei Teile: Im ersten Teil richtete sich der Fokus auf die Genese katastrophischer Ordnungsdeformationen. Es galt also zunächst einen Zugang zum historischanalytischen Nachvollzug der Ursachen und Effekte katastrophenevozierender Ereignisse zu entwickeln. Die formulierten Fragen betrafen daher zum einen die jeweiligen – stets ordnungsverwobenen – soziomateriellen Prozesse, in deren Vollzug sich die Geschehensmöglichkeit des zu untersuchenden Ereignisses konstituiert beziehungsweise zugespitzt hat. Sie bezogen sich also auf Faktoren, die der Ereignisträchtigkeit des jeweiligen Ordnungsgefüges ursächlich zugrunde lagen, fokussierten dabei insbesondere die Prozesse der diesbezüglichen Bedrohungsdiagnose und -kommunikation, wandten sich der darauf basierenden Herausbildung entsprechender Immunisierungsapparate zu und gingen möglichen Gründen ihres Scheiterns nach. Neben den Ursachen stand zum anderen die – nicht weniger ordnungsverwobene – Ereignisrealisierung im Fokus dieses ersten Teils. So galt es schließlich Fragen zu entwickeln, vermittels derer jene unmit-

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telbaren materiellen und soziokulturellen Effekte in den Blick geraten, durch die das betreffende Ereignis erst zu einer Katastrophe wurde beziehungsweise dazu veranlasste, als Katastrophe verstanden zu werden. Diese betrafen nun sämtliche Faktoren des präkatastrophischen Alltags, die sich in der jeweiligen Ereignisformierung niedergeschlagen haben, und bezogen sich folglich sowohl auf die Konstitution des betroffenen Ordnungsgefüges als auch auf die positionsspezifisch belastbaren Ordnungsdispositionen der betroffenen Akteure. Im zweiten Teil des Kapitels galt die Aufmerksamkeit daraufhin den Ordnungsrekonfigurationsprozessen und somit dem heterogenen Bündel all jener Vorgänge, die der postkatastrophischen Wiedergewinnung von Ordnung dienen. Im je konkreten Fall muss hierbei unseres Erachtens vor allem geklärt werden, ob und inwiefern die involvierten Akteure das hervorgerufene Syndrom problematischer Probleme deutend und handelnd bewältigen konnten, durch welche Faktoren die Bewältigung strukturiert war und in welchen konkreten Ordnungstransformationen sie sich schließlich niederschlugen. Die betreffenden Prozesse lassen sich dabei einerseits als eine sukzessive Entdynamisierung, Restabilisierung und Reimmunisierung des jeweiligen Ordnungsgefüges beschreiben, können andererseits aber auch im Sinne einer Regenerierung der verwundeten existentiellen Ordnungen konkreter historischer Akteure verstanden werden. Erneut galt es jedoch Fragen zu entwickeln, die beide Analyseebenen in ihrer spezifischen dialektischen Verschränkung zu berücksichtigen erlauben. Im Einzelnen unterschieden wir dabei zwischen den somatischen, materiellen, sozialen und semantischen Aspekten solcher Vorgänge, verstanden diese Aspektbereiche jedoch nicht als wesenhaft voneinander getrennte Seinssphären, sondern als – analytisch hervorgehobene – Felder eines polydimensionalen Geschehens: Bei den hier zu untersuchenden Begebenheiten handelt es sich so gesehen also um relational verfasste Elemente, die stets in konstitutiven Wechselbezügen stehen und erst auf der Grundlage dieser Wechselbezüge jene Prozesse generieren, in deren Vollzug sich die jeweiligen Ordnungsverhältnisse des postkatastrophischen Alltags herausbilden.

2. EMPIRISCHE ERGEBNISSE Auf der Basis des entwickelten Analyseinstrumentariums konnte im zweiten Hauptteil der Versuch unternommen werden, die Lawinenkatastrophe von Blons zu rekonstruieren. Anhand der uns zugänglichen Auswertungsmaterialien galt es nun also zu untersuchen, wie es zu den Lawinenabgängen kam, weshalb sie zu einer Katastrophe wurden und auf welche Weise sie die lokalen Ordnungsver-

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hältnisse veränderten. Der erarbeitete Fragenkatalog diente dabei als forschungsleitendes Strukturierungsraster. Im ersten Kapitel befassten wir uns zunächst mit den Ordnungsverhältnissen des präkatastrophischen Alltags. Hierbei zeichneten sich die Umrisse eines Ordnungsgefüges ab, das bei allen autarken Tendenzen des lokalen Lebensvollzugs freilich doch auch in hohem Maße durch überregionale Einflüsse geprägt war, die von technischen Entwicklungen über juristische Verordnungen bis zu alltagssprachlichen Semantiken reichten. Von erheblicher Bedeutung waren daneben die – ihrerseits anthropogen beeinflussten – naturräumlichen Gegebenheiten wie Klima, Boden und Relief, die sich als zentrale Prägekräfte der vor Ort realisierbaren Handlungsoptionen etwa in der lokalen Siedlungsstruktur und Wirtschaftsweise niedergeschlagen haben. Die Gemeinde Blons erwies sich als eine Streusiedlung mit zentripetalen Verdichtungstendenzen. Nahezu alle Bewohner arbeiteten als Bergbauern in Vollerwerbsbetrieben und praktizierten eine alpine Vieh- und Weidewirtschaft, deren materielle Basis nur in Ansätzen mechanisiert war. Auch aufgrund unzureichender Grundstücksgrößen wirtschaftete dabei ein Großteil der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums. Es dominierte somit ein überaus arbeitsintensives Produktionssystem, das eng an die naturräumlichen Bedingungen angepasst war und die vorherrschenden soziokulturellen Verhältnisse grundlegend strukturierte. Daneben erwiesen sich schließlich aber nicht zuletzt auch die Religion – in Gestalt eines volkstümlichen Katholizismus – und das Vereinswesen als zentrale Elemente jener Ordnungskräfte, die den lokalen Lebensvollzug zu Beginn der 1950er Jahre prägten. Im Anschluss an diese erste Skizzierung des damaligen Ordnungsgefüges wandte sich das zweite Kapitel der Katastrophengenese zu. Den oben formulierten Überlegungen folgend, diente der erste Teil des Kapitels dem Versuch einer Rekonstruktion der Lawinenursachen. Nachdem in einem kursorischen Rückblick verdeutlicht werden konnte, dass der lokale Umgang mit Lawinen in spezifischen Traditionszusammenhängen stand, ging es daraufhin insbesondere um die jüngere Vorgeschichte der Geschehnisse von 1954. Hierbei hielten wir zunächst fest, dass die bisherigen Immunisierungsstrategien seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durch gouvernemental regulierte, naturwissenschaftlichtechnisch konfigurierte Maßnahmen ergänzt worden waren. Es ließen sich zugleich aber verschiedene Faktoren ausmachen, die – im Zusammenwirken mit witterungsbedingten Zersetzungseffekten – zu einer fortschreitenden Schwächung dieses technisch erweiterten Immunisierungsapparats geführt haben. Hierzu zählten etwa ein phasenweiser Geld- und Personalmangel auf Seiten der zuständigen Behörden, wiederholte Unterbrechungen der entscheidungsrelevanten Kommunikationsflüsse, fehlende finanzielle Ressourcen der Blonser Gemeinde-

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verwaltung und eine zeitweilige Bedrohungsvergessenheit – sowie entsprechend fahrlässige Alltagspraktiken – unter der einheimischen Bevölkerung. Trotz wiederholter Reimmunisierungsbemühungen entstand vor diesem Hintergrund ein zunehmend lawinenträchtiger Zustand. Als es nun in den betreffenden Januartagen zu extremen Witterungsverhältnissen kam, verbanden sich die intensiven Schneefälle, die niedrigen Temperaturen, die sturmbedingten Schneeverwehungen und die Instabilität der Altschneedecke zu einer Gefahrenlage, deren Gefährdungspotential den geschwächten Immunisierungsapparat massiv überlastete. So erwies sich die Lawinengenese schließlich als ein historisch weit zurückreichender Prozess, der durch eine Vielzahl sowohl soziokulturell als auch materiell verfasster Faktoren geprägt war. Während es im ersten Teil des Kapitels also um eine Rekonstruktion der Lawinenursachen ging, sollte im zweiten Teil die Rekonstruktion der Lawineneffekte erfolgen. Es galt der Frage nachzugehen, weshalb die dergestalt bedingten Lawinenabgänge zu einer Katastrophe wurden. In einem ersten Schritt befassten wir uns zunächst mit jenen Faktoren, die den Verlauf – und die Gestalt – der „äußeren“ Ereignisrealisierung prägten. Hierbei standen zum einen die Ursachen für die ausgeprägte Vulnerabilität der Gebäude im Fokus – waren diese doch dafür verantwortlich, dass die Lawinenabgänge zu einem polyvalenten Grenzverlust führten und eine weitreichende Dematerialisierung des lokalen Ordnungsgefüges nach sich gezogen haben. Zum anderen galt die Aufmerksamkeit dem Umstand, dass es damals nicht zuletzt deshalb zu einer Katastrophe kam, weil die Bewohner der Gemeinde für eineinhalb Tage von der Außenwelt abgeschnitten waren und währenddessen nur über sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Selbsthilfe verfügten. Die Lawinenabgänge, so wurde schließlich deutlich, entwickelten ihre katastrophische Spezifik auf der Grundlage eines heterogenen Bündels verschiedener Prägekräfte, zu denen etwa die lokale Siedlungsstruktur, die Architektur der Gebäude und die verwendeten Baumaterialien, aber auch die Fragilität der vorhandenen Kommunikationsmittel, das Fehlen situationsadäquaten Erfahrungswissens oder der Mangel an erforderlichen Bergungs- und ErsteHilfe-Materialien zählten. In einem zweiten Schritt sollte daraufhin der Frage nachgegangen werden, wie die zerstörerischen Lawineneffekte von den Betroffenen erfahren wurden. Unser Blick richtete sich nun also auf die existentielle Dimension des Ereigniskomplexes – auf seine positionsrelational strukturierten lebensweltlichen Primäreffekte. Da die diesbezüglich analysierbaren Materialien nicht sehr umfangreich waren, konnten wir hierbei lediglich schematisch zwischen Verstorbenen, Versehrten, unversehrt Verschütteten und Unverschütteten unterscheiden. Es zeigte sich jedoch, dass es in sämtlichen dieser Gruppierungen zu einer gravie-

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renden Überlastung der physiopsychischen Verarbeitungskapazitäten kam. Die Quellen zeugten von schmerz-, angst- und panikverursachenden somatischen Erfahrungen, von beengenden Empfindungen eines radikalen Ausgeliefertseins, von der Trauer um nahe Angehörige und das sorgsam gehegte Vieh oder von einer lähmenden Hilflosigkeit angesichts der materiellen Zerstörungen und des damit verbundenen Heimatverlusts. So realisierten sich die Lawinenabgänge schließlich in einem – vielfach tödlichen – Syndrom problematischer Probleme. Sie führten zu katastrophischen Erfahrungen, die im Rahmen der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen nicht integriert werden konnten und den bisherigen Lebensvollzug bis auf weiteres zum Erliegen brachten. Nach den präkatastrophischen Ordnungsverhältnissen und der Katastrophengenese sollten im dritten Kapitel die postkatastrophischen Ordnungsrekonfigurationsprozesse beleuchtet werden. Aufgrund der Quellenlage befassten sich die Ausführungen hierbei vor allem mit den Transformationen des deformierten Ordnungsgefüges – lediglich an einzelnen Stellen konnte auch auf die Regenerierung der verwundeten existentiellen Ordnungen eingegangen und die katastrophisch katalysierte Rekonfiguration der lokalen Lebensverhältnisse somit in ihrer akteursspezifischen, positionsrelationalen Gebrochenheit fokussiert werden. Hinsichtlich der äußeren Struktur ergab sich auch in diesem Kapitel schließlich eine Gliederung in zwei zentrale Abschnitte. Im ersten Teil ging es um eine Rekonstruktion der postkatastrophischen Reaktion, worunter wir jene verhältnismäßig kurze Anfangsphase verstanden, in der die Ordnungsrekonfigurationsprozesse vorrangig von Bergungs-, Rettungsund Versorgungsmaßnahmen geprägt wurden. Da die Selbsthilfemöglichkeiten vor Ort beschränkt waren, erfolgte eine spürbare Linderung der katastrophischen Situation erst, als die Isolation der Gemeinde am Dienstagnachmittag durchbrochen werden konnte. Zwar fehlte es, wie die Erhebungen zeigten, auch auf regionaler Verwaltungsebene an einschlägigen Erfahrungen, zwar hatte man auch hier, in den zuständigen Ämtern und Behörden, für den Umgang mit lawinenbedingten Zerstörungen solchen Ausmaßes also keine hinreichenden Routinen oder feststehenden Notfallpläne entwickelt – doch gelang es dennoch, zügig eine adäquate, zielsicher organisierte Hilfsaktion in Gang zu bringen. Der Mangel an ausgebildetem Bereitschaftspersonal konnte – vermittels mehrfach wiederholter Radioaufrufe – durch eine heterogene Gruppe zahlreicher freiwilliger Helfer ausgeglichen werden. Das Fehlen eines ausreichenden Fundus an Rettungsgeräten wurde durch die Hilfe ausländischer Institutionen – wie die Schweizerische Rettungsflugwacht oder die amerikanische und französische Besatzungsmacht – kompensiert. Es zeigte sich also, dass auf der Grundlage einer ausgeprägten grenzüberschreitenden Unterstützung durch Hilfskräfte und Rettungsmaterialien

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in Blons – sowie in den anderen betroffenen Gemeinden – binnen wenigen Tagen ein Großteil der Verschütteten geborgen werden konnte. Vor dem Hintergrund der aktuellen Dringlichkeiten des lawinenbedingten Problemkomplexes etablierte sich im Zusammenwirken der beteiligten menschlichen und nichtmenschlichen Akteure – geprägt durch das einsatzrelevante Wissen der Entscheidungsträger, durch die Bedürfnisse und Kompetenzen der einzelnen Hilfskräfte, durch die räumlich-materiellen Gegebenheiten sowie durch die Wirkmacht der inzwischen verfügbaren Geräte – schon bald eine Übergangsordnung des Ausnahmezustands, in deren Rahmen man die Rettungsaktion schließlich mit einigen Erfolgen zum Abschluss bringen konnte. Nach den Prozessen der unmittelbaren Reaktion galt es daraufhin den Komplex der langandauernden Rekreation in den Blick zu nehmen. Hierunter verstanden wir die sukzessive Rekonfiguration und Restabilisierung des katastrophisch deformierten Ordnungsgefüges, in deren Vollzug sich die Möglichkeitsräume der postkatastrophischen Lebenswelten herausbildeten. Die Gliederung des Teilkapitels folgte dabei erneut den begrifflich-analytischen Unterscheidungen unseres katastrophologischen Operationalisierungsvorschlags, so dass bei allen konstitutiven Interdependenzen die materiellen, sozialen und semantischen Aspekte dieser Vorgänge zunächst in einem je eigenen Abschnitt beleuchtet wurden. Im ersten Abschnitt konnte veranschaulicht werden, dass es infolge der Lawinenabgänge zu gravierenden materiellen Transformationen innerhalb des Blonser Ordnungsgefüges kam. Den Zerstörungen und der Räumung folgte ein – durch die vorherrschenden Wissens- und Machtverhältnisse strukturierter – Rematerialisierungsprozess, der sich auf allen Ebenen der lokalen Raumverhältnisse niedergeschlagen hat. Die Rematerialisierung des privaten Raums umfasste sowohl den Wiederaufbau der Wohn- und Wirtschaftsgebäude als auch die Wiederausstattung mit Mobiliar und alltäglichen Dingen des Gebrauchs. Sie unterlag tiefgreifenden gouvernementalen Regulierungen, realisierte sich aber freilich stets auch in Abhängigkeit davon, wie die einzelnen Akteure mit diesen Vorgaben de facto umgegangen sind. Folglich reichten die hierbei relevanten Prägefaktoren vom Umfang der Spenden und der zur Verfügung gestellten öffentlichen Gelder über die festgelegten Richtlinien für die Wiederaufbauförderung und Spendenverteilung bis zur jeweiligen Haltung, Kompetenz und Tagesform des entscheidungsmächtigen Personals und den positionsspezifischen Einflussdispositionen der betroffenen Akteure. Erfolgte bereits auf dieser Ebene ein umfassender Modernisierungsschub, so setzte sich diese Tendenz im Rahmen der Rematerialisierung des öffentlichen Raums fort. Es zeigte sich etwa, dass insbesondere die Neuerrichtung der Sennerei, der Schule, und des Gemeindehauses sowie

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der Aufbau eines Güterwegenetzes zahlreiche neue Praxisoptionen eröffneten – von der Mechanisierung des Landwirtschaftsbetriebs über die Durchführung großer Veranstaltungen bis zum Pendeln zu gemeindefernen Arbeitsplätzen –, die den Alltag vor Ort nachhaltig veränderten. Im Anschluss an diese Ausführungen legten wir dar, dass sich die beschriebene Rematerialisierung des privaten und öffentlichen Raums in einiger Hinsicht auch als ein Reimmunisierungsprozess lesen lässt, gingen in diesem Zusammenhang aber insbesondere auch auf die postkatastrophischen Verbauungsprojekte ein und zeigten, dass die damaligen Lawinenabgänge diesbezüglich überregional relevante Innovationen befördert haben. Am Ende des Kapitels wiesen wir darauf hin, dass heute noch viele dieser materiellen Veränderungen vor Ort sichtbar sind – und gingen schließlich auch explizit auf jene Zeugnisse ein, bei denen es sich um intendiert installierte Objektivationen einer ereignisspezifischen Memorialkultur handelt. Stand vorerst also die lokale Rematerialisierung im Vordergrund, so galt die Aufmerksamkeit im zweiten Abschnitt den sozialen Aspekten des Ordnungsrekonfigurationsprozesses. Erneut wurde die Zeitspanne zwischen katastrophischer Situationsgebundenheit und postkatastrophischem Alltag in Augenschein genommen, nun aber mit Blick auf die interexistentiellen Figurationen der involvierten menschlichen Akteure. Nachdem hierbei zuerst die Entstehung internationaler und innernationaler Solidarisierungseffekte sowie diverse – sich auf regionaler Ebene abzeichnende – Machtreproduktionstendenzen rekonstruiert werden konnten, rückten erneut vor allem die lokalen Entwicklungen in den Fokus. Aufgrund der gemeinsamen Betroffenheit und der damit verbundenen Synchronisierung drängender Interessen konstituierte sich unter den Dorfbewohnern zunächst eine Kooperations- und Solidargemeinschaft. Diesem ersten Zusammenrücken folgte jedoch schon bald eine Phase räumlicher Zerstreuung: die Verwundeten wurden in Krankenhäuser gebracht, viele der nun Obdachlosen wohnten vorübergehend außerhalb der Gemeinde, rund ein Sechstel der Bewohner verließ Blons für immer. Mit Beginn des Räumungs- und Rematerialisierungsprozesses setzte schließlich die langewährende dritte Phase der sukzessiven Rekonstitution des Blonser Sozialgefüges ein. Diese war zum einen geprägt durch eine gewandelte personelle Zusammensetzung der lokalen Gruppierungen – wobei den, sowohl pragmatisch als auch emotional hemmenden Verlusten auf Seiten der Einheimischen vorübergehend ein interaktionsdynamisierender Zuwachs an externen Akteuren gegenüberstand, deren Präsenz weniger als bedrohliche Invasion, denn als bereichernde Hilfe aufgefasst wurde und vereinzelt auch zu längerfristig relevanten neuen Beziehungen führte. Zum anderen war die Rekonstitution des Sozialgefüges geprägt von verschiedenen Effekten des Rematerialisierungsprozesses. So begünstigten etwa die komfortableren, besser vermietba-

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ren Neubauten und der Ausbau des Straßennetzes eine beschleunigte Ausweitung der alltäglichen Interaktionsradien. Ferner zeitigte der Rematerialisierungsprozess aber auch einen soziostrukturellen Wandel infolge unterstützungsbedingter Relationsverschiebungen innerhalb der lokalen Ressourcenverteilung – wobei die hierdurch neu entstandene Ungleichheit zwischen „Verschonten“ und „Getroffenen“ durch frühere Strukturen überformt wurde, da die jeweiligen Rematerialisierungsoptionen der Akteure nicht zuletzt auch von ihrer präkatastrophischen Position beziehungsweise ihren positionsspezifischen Handlungsdispositionen abhängig blieben. Schließlich ließ sich – als dritter Aspekt – aber auch eine Festigung der Gemeindeidentität feststellen. Neben dem exzeptionellen Charakter des Ereignisses sowie entsprechenden Zuschreibungsstabilisierungen im Rahmen der öffentlichen Diskurse beförderten insbesondere auch die gemeinsam vollzogenen Verarbeitungsrituale vor Ort eine kohäsionskonsolidierende Identifizierung mit den Lawinenabgängen. Bis heute, so unsere Beobachtung, ist dieses intersubjektiv geteilte Zuordnungsprinzip für das lokale „Wir“-Bewusstsein von großer Relevanz. Neben der materiellen und sozialen Seite galt es in einem dritten Schritt schließlich auch die semantischen Aspekte der postkatastrophischen Ordnungsrekonfiguration eigens zu beleuchten. Mit Blick auf die ereignisinduzierten Kommunikationsprozesse befassten wir uns hierbei vor allem mit der Katastrophendeutung, also damit, wie man das herausfordernde Syndrom problematischer Probleme sinnhaft einzuordnen versuchte, berücksichtigten aber zudem, dass die damaligen Erfahrungen vereinzelt auch zu grundlegenden Ordnungsthematisierungen geführt haben, die über rein ereignisbezogene Einordnungsbemühungen hinausgingen. Zuerst wandten wir uns der diskursiven Phänomenkonstitution in den öffentlichen Deutungsdebatten zu und konnten hierbei zwei opponierende Subdiskurse unterscheiden: Zum einen konstituierte sich ein „kritischer Problematisierungsdiskurs“, in dessen Rahmen der auszudeutende katastrophische Ereigniskomplex vor allem auf ordnungsimmanente, anthropogene Ursachen zurückgeführt wurde, zum anderen kristallisierte sich ein „Beschwichtigungsdiskurs“ heraus, der demgegenüber auf eine – von ordnungsbewahrenden Intentionen motivierte – Externalisierung der Katastrophenursachen abzielte. Im Fortgang der medial vermittelten Auseinandersetzung dieser konfligierenden Akteurskonstellationen rückte der „Beschwichtigungsdiskurs“ schon bald in eine hegemoniale Position, so dass die diskursive Repräsentation des katastrophischen Ereigniskomplexes schließlich eine Form annahm, die nur noch wenig Anlass zu generellen – ordnungsproblematisierenden – Unsicherheitserfahrungen bot. Letztlich wurden weder die institutionellen Strukturen und die damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse noch der vorherrschende Bezug zur „Natur“

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oder die Ausrichtung der diesbezüglichen Sicherheitsdispositive grundlegenderen Veränderungen unterzogen. Innerhalb des fortbestehenden Rahmens der etablierten Macht- und Wissensverhältnisse sollten schließlich aber durchaus neue Wege des Lawinenschutzes beschritten werden. Nach diesem Blick auf die öffentlichen Kommunikationsprozesse – die sich freilich nicht zuletzt auch auf lokaler Ebene objektivierten – ging es im zweiten Teil der Ausführungen um die Frage, vermittels welcher Interpretamente man das Erfahrene vor Ort semantisch zu integrieren versuchte. Es zeigte sich, dass die Deutungsbemühungen in hohem Maße von präkatastrophischen Machtstrukturen dominiert waren und dabei sowohl naturwissenschaftlich geprägte als auch religiös konnotierte Motive beinhalteten. Zum einen verstand man die Katastrophe als Resultat eines verheerenden Zusammenwirkens von extremen Witterungsverhältnissen und katastrophenbegünstigenden Faktoren innerhalb des lokalen Ordnungsgefüges – woran sich vereinzelt auch kritische Selbstsondierungen zum Zwecke resilienzsteigernder Ordnungstransformationen anschlossen. Zum anderen wurde das Widerfahrnis aber auch als eine Heimsuchung Gottes gedeutet, der man einen – wenn auch uneindeutigen – übergeordneten Sinn abgewinnen könne. Ferner kristallisierten sich mehrere Erzählmuster heraus, die durch den Hinweis auf präkatastrophische Divinationen oder Divinationsmöglichkeiten dabei halfen, zum Glauben zurückzufinden. Bis heute, so zeigte sich schließlich, ist die Deutung der damaligen Ereignisse in Bewegung. Nach wie vor ist sie dabei von einer Gleichzeitigkeit des vermeintlich Ungleichzeitigen geprägt. Infolge der Indigenisierung externen Expertenwissens weisen die Deutungen teils ein hohes Maß an naturwissenschaftlicher Informiertheit auf und prozessieren in der Regel ein Fortschrittsnarrativ, das den gegenwärtigen Zustand als – weitestgehend – sicher auffasst. Zugleich finden sich aber auch zahlreiche religiöse Narrative, in deren Rahmen das Geschehene als eine Prüfung gedeutet wird und die erreichten Sicherheiten durch fatalistische Hinweise auf die Unabänderlichkeit göttlicher Vorsehung relativiert werden. Mit den skizzierten materiellen, sozialen und semantischen Verarbeitungsund Transformationsprozessen wurden Entwicklungen beschrieben, die freilich nicht getrennt voneinander verliefen, sondern durch eine enge wechselseitige Verflochtenheit geprägt waren, auf deren Grundlage sie sich erst eigens konstituierten. Sie können als – analytisch hervorgehobene – Aspekte eines komplexen, durch heterogene Faktoren strukturierten Ordnungsrekonfigurationsprozesses verstanden werden, in dessen Verlauf sich die strukturellen Grundlagen des postkatastrophischen Alltags herausbildeten. Dieser Alltag vollzog sich somit schließlich in einem stark veränderten Gemeinde- und Landschaftsbild. Er war geprägt durch eine rasch modernisierte Infrastruktur, basierte – im Falle der „Ge-

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troffenen“ – auf umfassend gewandelten Wohnverhältnissen sowie auf einem weitreichend erneuerten Arsenal an Gebrauchsdingen und wies markante Veränderungen in der lokalen Sozialstruktur auf. Neben der immer wieder neu entfachenden Herausforderung, das Erfahrene sinnhaft einzuordnen und die Verluste zu verarbeiten, stellte sich den einzelnen Akteuren demnach schließlich auch die Aufgabe, einen adäquaten Umgang mit den neu entstandenen Zwängen und Möglichkeiten zu etablieren. Auf der Grundlage des entwickelten Analyseinstrumentariums erwies sich die „Lawinenkatastrophe von Blons“ als sprachliche Repräsentation eines Ereigniskomplexes, dessen Herausbildung in erheblichen Maßen durch jene Ordnungsverhältnisse geprägt war, die schließlich von ihm durchbrochen und verändert wurden. Vollzog sich bereits die Entstehung der Lawinenabgänge unter dem prägenden Einfluss des präkatastrophischen Alltags, so galt dies insbesondere auch für deren katastrophische Realisierung. Aufgrund historisch gewachsener Verwundbarkeiten führte die Wucht der freigesetzten Schneemassen zu gravierenden Deformationen des lokalen Ordnungsgefüges und zeitigte somit Zerstörungen, denen die physiopsychischen Ordnungsleistungskapazitäten der Akteure nicht gewachsen waren. Aus der Reaktion auf das hierdurch entstandene Syndrom problematischer Probleme entwickelten sich daraufhin langfristige Ordnungsrekonfigurationsprozesse, die den zentralen Prägekräften des lokalen Alltags eine veränderte Gestalt verliehen. Da sich das postkatastrophische Ordnungsgefüge von seiner präkatastrophischen Konstitution also deutlich unterschied, bedurfte es zur Reetablierung existentieller Ordnungen schließlich auch einer Modifikation der akteursspezifischen Ordnungsdispositionen. Erst als die Betroffenen den einschneidenden Wandel ihrer Existenzbedingungen durch neue Wissens- und Handlungsmuster aufzuheben vermochten, war es ihnen möglich, bis auf weiteres wieder in einen tendenziell geordneten Lebensvollzug zurückzufinden. Vermittels eines ordnungstheoretisch ausgerichteten kulturwissenschaftlichen Forschungsansatzes, so können wir am Ende festhalten, lassen sich katastrophische Phänomene in ihren vielschichtigen Bezügen zum Alltäglichen analysieren. Hierbei geraten sowohl die – immunisierungsgebundene – Vulnerabilität und Resilienz der betroffenen Figurationen als auch die damit verknüpfte Hybridität und Prozessualität der betreffenden Ereigniskomplexe in den Blick. Zudem vermag aus einer solchen Perspektive neben der Ordnungsverflochtenheit des Katastrophischen auch die Katastrophenverflochtenheit der Ordnung deutlich zu werden, wirken die hervorgerufenen Deformationen doch häufig als katalysatorisch wirksame Antriebskräfte eines tiefgreifenden Wandels der all-

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tagsprägenden Strukturen. Ob und wann die postkatastrophische Ordnung schließlich wieder katastrophenträchtig wird, ist freilich nicht zuletzt davon abhängig, in welchem Maße der angestoßene Rekonfigurationsprozess adäquate Adaptionen beinhaltet, um die riskanten Verwicklungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren in verlässliche Formen einer synergetischen Kooperation zu überführen.

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344 | Deformationen der Ordnung

VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 12.01.1954, um 22.00 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 13.01.1954, um 07.40 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 13.01.1954, um 11.40 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 14.01.1954, um 07.10 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Lawinenkatastrophe 1954, Radioaufrufe. Aufruf am 14.01.1954, um 16.53 Uhr. Bludenz, 20.02.1954. VLA, Landesregierung Abt Ia, Sch. 70: Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Bludenz an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bludenz, 22.02.1954. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Schreiben des Bezirkshauptmanns von Bludenz an den Leiter des Landesstraßenbauamts Feldkirch. Bludenz, 04.03.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Aktenvermerk über die am 15.03.1954 stattgefundene zweite Sitzung des Wiederaufbaukomitees. Bregenz, 18.03.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Richtlinien für die Gewährung von Beihilfen aus Bundes- und Landesmitteln zur Behebung der durch Lawinen im Jänner 1954 entstandenen Gebäudeschäden. Beschluss der Vorarlberger Landesregierung vom 23. März 1954. Bregenz, 25.03.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die dritte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 27.03.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Lawinenschadenserhebungen der Agrarbezirksbehörde. Bregenz, 26.04.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die vierte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 14.05.1954. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Drei Wochen im Lawineneinsatz. Wien, Juni 1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die fünfte Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 02.07.1954.

Quellen | 345

VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Schreiben des Leiters der „Trachtengruppe Blons“ an das Hilfskomitee für Lawinengeschädigte. Blons, 29.07.1954. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Aktenvermerk der Bezirkshauptmannschaft Bludenz. Blons, 05.08.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 71: Niederschrift über die sechste Sitzung des Hilfskomitees. Bregenz, 18.09.1954. VLA, Landesregierung Abt. Präsidium, Sch. 78: Bericht der Agrarbezirksbehörde über den derzeitigen Stand der Förderungsmaßnahmen. Bregenz, 28.10.1954. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Schreiben der Abteilung Ia an die Abteilung IIIa. Bregenz, 03.11.1954. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Internationaler Zivildienst. Schlussbericht des Lagers in Blons. Wien, 30.11.1954. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 209: Schreiben der Forsttechnischen Abteilung für Wildbach- und Lawinenverbauung an die Agrarbezirksbehörde Bregenz. Bregenz, 14.01.1955. VLA, AVLreg. Ia-12/1: Der Lawinenwinter 1953/54 in Vorarlberg, geschildert von Forstkommissär Dipl. Ing. W. Brandtner, Lawinenreferent in Bludenz, und Dozent Dr. L. Krasser, Leiter des Vorarlbg. Lawinenwarndienstes in Bregenz. Bludenz, Juli 1955. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Schreiben der Agrarbezirksbehörde Bregenz an das Gemeindeamt Blons. Bregenz, 15.05.1956. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Kammer der Gewerblichen Wirtschaft für Vorarlberg. Vorlagebericht für die Sitzung des erweiterten Kammerpräsidiums am 05.07.1956. Feldkirch, 29.06.1956. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Tätigkeitsbericht für die Zeit vom 21.01.1954 bis 01.12.1956. Betrifft: Lawinenkatastrophe 1954, Verwendung der Bar- und Sachspenden. Bregenz, 20.12.1956. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: Bericht über die Fördermaßnahmen zur Behebung der Gebäudeschäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 01.07.1957. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Antrag der Vorarlberger Landesregierung auf Kenntnisnahme des Berichtes über die Maßnahmen zur Behebung der Schäden aus der Lawinenkatastrophe vom Jänner 1954. Bregenz, 23.07.1957. VLA, Landesregierung Ib-213-9/1980: Schreiben des Blonser Bürgermeisters an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Blons, 03.12.1968.

346 | Deformationen der Ordnung

VLA, Landesregierung Ib-213-9/1980: Gutachterliches Schreiben von Dr. Benedikt Bilgeri an das Amt der Vorarlberger Landesregierung. Bregenz, 12.12.1968. VLA, Landesregierung Ib-213-9/1980: Wappenurkunde. Bregenz, 14.10.1969. VLA, Miszellen, Sch. 221: Zum Gedenken der Lawinenopfer von Blons am 11. Jänner 1954. Informationsblatt aus Anlass der Einweihung einer Lawinenglocke. Nicht datiert. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Untersuchung der 43 Lawinenleichen am 16.1.1954 in Blons. Angefertigt von Prof. Dr. Franz Josef Holzer. Nicht datiert. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Bericht über die Organisation des Katastropheneinsatzes im Bezirk Bludenz. Nicht datiert. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Maschinenschriftlicher Lagebericht. Nicht datiert. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Ein Helikopter der SWO im Einsatz bei der Lawinenkatastrophe in Vorarlberg. Ausgeschnittener Zeitungsartikel von Dr. Bucher, Zentralpräsident der Schweizerischen LebensrettungsGesellschaft. Nicht datiert. VLA, Landesregierung Abt. Ia, Sch. 70: Auszugsweise Abschrift eines Situationsberichts des Gendarmeriepostenkomandos Blons vom 21.02.1954. Nicht datiert. VLA, Agrarbezirksbehörde Bregenz, Sch. 210: „Aller Anfang ist schwer!“ Ausgeschnittener Zeitungsartikel von Eugen Dobler. Nicht datiert. VLA, AVLreg Ia-12/1/1958: Bilder der Lawinenkatastrophe 1954. VLA, CD 36: Fotoalbum von J.J./Blons 1954 diverse. Filme/Dokumentationen Der Atem des Himmels (AT 2010, R: Reinhold Bilgeri) Tod im Schnee. Die größte Lawinenkatastrophe der Welt. Menschen und Mächte, Folge 37. (AT 2010, R: Gerhard Jelinek/Sabine Zink) Internetquellen Bannlegungsurkunde vom 24.06.1526. VLA, St. Gerold, Kloster 4630. In: monasterium.net. URL: http://monasterium.net/mom/AT-VLA/StGeroldKl/4630 /charter (15.03.2018). Kundmachung des k.k. Statthalters vom 27. Juli 1905, betreffend die Ausführung von Lawinenverbauungen auf der Alpe Hüggen in der Gemeinde Blons.

Quellen | 347

In: Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg XXXII. Stück. Herausgegeben und versendet am 17.08.1905. URL: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=ltv&datum=190 59004&seite=00000229 (15.03.2018). Stenographisches Protokoll der 32. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich. VII. Gesetzgebungsperiode. 10.02.1954. URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00032/imfname_158432.pdf (15.03.2018). Bundesgesetz vom 10.02.1954, betreffend die Gewährung eines Bundeszuschusses zur Förderung der Behebung von Lawinenschäden. In: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich. Jahrgang 1954, 10. Stück, ausgegeben am 12.03.1954. URL: http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1954_42_0/1954_42_0.pdf (15.03.2018). WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung: Lawinendynamikforschung. URL:https://www.slf.ch/de/ueber-das-slf/portrait/geschichte/lawinendynamikforschung.html (16.03.2018). Forschungsprofil des SFB 923. URL: http://www.uni-tuebingen.de/forschung/ forschungsschwerpunkte/sonderforschungsbereiche/sfb-923/forschungsprofil.html (13.03.2018). Interviews Interview 1: St. Gerold, 02.07.2013. Interview 2: Blons, 05.07.2013. Interview 3: Blons, 08.07.2013. Interview 4: St. Gerold, 03.08.2013. Interview 5: Blons, 29.01.2014. Interview 6: Sonntag, 31.01.2014. Interview 7: Blons, 01.02.2014. Interview 8: Blons, 03.02.2014. Romane Bilgeri, Reinhold: Der Atem des Himmels. Wien 2005. Wechsberg, Joseph: Blons. Geschichte einer Katastrophe. Hamburg 1959.

348 | Deformationen der Ordnung

Zeitungsartikel Gesichtet und ausgewertet wurde ein Konvolut von etwa 600 Artikeln, die den nachstehenden Zeitungen entstammen: Die Zeit, Neue Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten, Vorarlberger Volksblatt, Vorarlberger Volkswille, Weltpresse, Wiener Zeitung. Im Folgenden sind jedoch nur jene Artikel genannt, auf die im Textverlauf explizit Bezug genommen wird. Josef Grabherr: Walserthaler „Leuesorg“. In: Vorarlberger Volksblatt, 11.02.1896a. Josef Grabherr: Walserthaler „Leuesorg“. Fortsetzung. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.02.1896b. Josef Grabherr: Walserthaler „Leuesorg“. Schluß. In: Vorarlberger Volksblatt, 18.02.1896c. N.N.: Arlbergstrecke verschüttet. In: Vorarlberger Nachrichten, 12.01.1954. N.N.: 40 Lawinen auf die Arlbergbahn. In: Vorarlberger Volksblatt, 12.01.1954. N.N.: Aus allen Teilen des Landes trafen im Laufe des Dienstag Hiobsbotschaften ein. In: Vorarlberger Volksblatt, 13.01.1954. N.N.: Schreckensbotschaft vom Großen Walsertal. In: Vorarlberger Nachrichten, 13.01.1954. N.N.: Bitte keine Sachspenden mehr für die Lawinenopfer abzuliefern. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. N.N.: Die ersten Bilder aus dem Katastrophengebiet Großwalsertal. In: Vorarlberger Nachrichten, 14.01.1954. N.N.: Ein bischöflicher Ruf in ernster Stunde. In: Vorarlberger Volkblatt, 14.01.1954. N.N.: Erste Meldungen aus dem Großen Walsertal. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. N.N.: In Blons kommen und gehen die Rettungsmannschaften. In: Vorarlberger Nachrichten, 14.01.1954. N.N.: Vor einer Sammelstelle. In: Vorarlberger Volksblatt, 14.01.1954. N.N.: Blons. Rettungsarbeiten eingestellt. Neue Lawinengefahr im Walsertal. In: Weltpresse, 15.01.1954. N.N.: Die Todesopfer der Lawinen könnten heute noch leben! Profitgier und falsche Sparsamkeit mitschuldig an den Katastrophen. In: Weltpresse, 15.01.1954. N.N.: Die Lawinenwoche. In: Vorarlberger Nachrichten, 16.01.1954. N.N.: Lawinengefahr behinderte Bergung in Blons. In: Vorarlberger Nachrichten, 16.01.1954.

Quellen | 349

N.N.: Lawinennot so alt wie die Berge selbst. Was hat die Regierung zur Lösung des Lawinen-Problems in den österreichischen Alpen getan? – Eine hochinteressante Darstellung des Ministerialrates Dipl.-Ing. Weber im Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft. In: Wiener Zeitung, 17.01.1954. N.N.: Der Weiße Tod über Vorarlberg. In: Vorarlberger Volksblatt, 19.01.1954. N.N.: Lawinenursachen müssen untersucht werden. Staatssekretär Dr. Bock über den Wiederaufbau der betroffenen Höfe. In: Vorarlberger Volksblatt, 19.01.1954. N.N.: Lawinenkatastrophen und Holzschlägerungen. Wiener Zeitung, 20.01.1954. Oswald Wagner: Die Lehren der Lawinenkatastrophe vom 11. Jänner. Von Hofrat Dipl.-Ing. Oswald Wagner, Leiter der Wildbach- und Lawinenverbauungssektion Bregenz. In: Vorarlberger Nachrichten, 20.01.1954. Volkmar von Zühlsdorff: Der weiße Tod im Walsertal. Die Leu mordet – Größte Katastrophe in der Geschichte Vorarlbergs – Die Opfer von Blons. In: Die Zeit, 21.01.1954. N.N.: Wenn der Wald stirbt, sterben auch die Bauern! In: Vorarlberger Volkswille, 21.01.1954. N.N.: Blons – die Gemeinde ohne Zukunft? In: Neue Tageszeitung, 22.01.1954. N.N.: In Memoriam. In: Vorarlberger Volksblatt, 23.01.1954. N.N.: Trauerkundgebung der Landwirtschaftskammer. In: Vorarlberger Volksblatt, 23.01.1954. N.N.: Die Einsegnung der Lawinenopfer in Blons. In: Vorarlberger Volksblatt, 25.01.1954. N.N.: Die Trauerfeier in Blons. In: Vorarlberger Nachrichten, 25.01.1954. N.N.: Die „Grüne Front“ zu den Überschlägerungen. In: Vorarlberger Nachrichten, 26.01.1954. N.N.: Gröbminger Bevölkerung spendet ein Haus für Blons. In: Vorarlberger Nachrichten, 27.01.1954. N.N.: Die Bundesbeihilfe für die Lawinenopfer. In: Vorarlberger Nachrichten, 29.01.1954. N.N.: Letztes Wort über Bundeshilfe noch nicht gesprochen. Der Finanzausschuß billigt das Gesetzt zur Behebung der Lawinenschäden. In: Vorarlberger Volksblatt, 29.01.1954. N.N.: Tierkadaver werden ins Allgäu geschafft. In: Vorarlberger Nachrichten, 29.01.1954. N.N.: Das bekannte Tal. In: Vorarlberger Nachrichten, 06.02.1954. Maria Schiebel: Erlebnisbericht von den Katastrophentagen. In: Vorarlberger Nachrichten, 13.02.1954.

350 | Deformationen der Ordnung

N.N. („Die Überlebenden“): Öffentlicher Dank! In: Vorarlberger Volksblatt, 13.02.1954. N.N.: Weltinteresse für die Lawinenopfer. In: Vorarlberger Nachrichten, 18.02.1954. N.N.: Blons, 19. Februar. Verschiedenes. In: Vorarlberger Volksblatt, 20.02.1954. N.N.: Landeshauptmann Ulrich Ilg im Arbeiterkleid beim Einsatz. In: Vorarlberger Nachrichten, 09.04.1954. N.N.: Landeshauptmann Ilg hilft selbst in Blons mit. In: Vorarlberger Volksblatt, 10.04.1954. N.N.: Auferstehendes Großwalsertal. In: Vorarlberger Volksblatt, 17.04.1954. N.N. Die Lawinenglocke von Blons. In: Vorarlberger Volksblatt, 04.09.1954. N.N.: Der „Lawinenpfarrer“ nimmt Abschied. In: Vorarlberger Volksblatt, 06.09.1954.

Danksagung

Die Geschichte eines wissenschaftlichen Textes beginnt stets lange vor dem eigentlichen Schreibprozess. Bis zuletzt wird sie dabei von zahlreichen Menschen – und nichtmenschlichen Akteuren – auf verschiedensten Wegen mitgestaltet. Wollte man am Ende versuchen, diese vielfältigen Einflüsse im Einzelnen zu rekonstruieren, so entspräche das einem herausfordernden neuen Forschungsprojekt. Da auch die vorliegende Arbeit freilich nicht nur ein Produkt ihres Autors ist, sollen nun zumindest einige jener Personen benannt werden, die ihre Entstehung auf je eigene Weise gefördert haben. Sehr herzlich bedanken möchte ich mich bei Prof. Dr. Reinhard Johler für meine Aufnahme in das Lawinenprojekt und die hervorragende Betreuung der Arbeit sowie bei Prof. Dr. Hubert Knoblauch für überaus inspirierende Diskussionen und das Erstellen des Zweitgutachtens. Des Weiteren danke ich dem Tübinger SFB „Bedrohte Ordnungen“, der dieser Arbeit ein anregendes Umfeld bot und die Veröffentlichung finanziell unterstützt hat. Den einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des SFB danke ich für zahlreiche Gespräche und Debatten in den weiten Räumen des Ordnungsthemas. Insbesondere bei meinem Projektkollegen Dr. Jan Hinrichsen möchte ich mich für die fruchtbare Zusammenarbeit und gute gemeinsame Zeit bedanken. Dank gebührt aber auch unseren wissenschaftlichen Hilfskräften Jan Lange, Luisa Mell, Alexandra Mende, Florian Mittelhammer, Kirsten Pick und Miriam Schartner, die den Forschungsprozess des Lawinenprojekts begleitet und unterstützt haben. Prof. Dr. Kaspar Maase danke ich herzlich für sein motivierendes Interesse, die aufmerksame Lektüre des Textes und nachhaltig bereichernde Diskussionen. Zudem möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Hermann Bausinger, Prof. Dr. Gottfried Korff, Prof. Dr. Monique Scheer, Prof. Dr. Bernhard Tschofen und Prof. Dr. Bernd Jürgen Warneken für interessierte Fragen und hilfreiche Hinweise bedanken.

352 | Deformationen der Ordnung

Großer Dank gebührt des Weiteren den Gesprächs- und Interviewpartnern im Großen Walsertal: Stefan Bachmann, Josef Bickel, Elisabeth Burtscher, Kurt Dobler, Helga Domig, David Ganahl, Gernot Ganahl, Maria Ganahl, Otmar Ganahl, Gustav Jenny, P. Christoph Müller, Eugen Müller, Manuela Müller, Gertrud Pöhl, Cornelia Studer, Erwin Summer, Anton Türtscher und Bernadette Türtscher. Zudem danke ich Cornelia Bickel und Otmar Jenny für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial. Bedanken möchte ich mich überdies bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Archivs der Diözese Feldkirch, der Polizeiinspektion Sonntag, des Vorarlberger Landesarchivs, der Vorarlberger Landesbibliothek sowie der Wildbach- und Lawinenverbauung Bludenz. Für konstruktive Überlegungen und Hinweise danke ich insbesondere Florian Dietrich, Dr. Alfons Dür, Michael Fliri, Dr. Ulrich Nachbaur und Prof. Dr. Alois Niederstätter. Herzlich bedankt seien außerdem Steffen Biller, Corinna Cox, Dr. Sophie Müller und Alexander Nehmer, die mich bei der Manuskriptkorrektur unterstützt haben. Zudem danke ich dem transcript Verlag, namentlich Maria Arndt, Roswitha Gost und Julia Wieczorek, für die gute Zusammenarbeit bei der Fertigstellung des Buches. In besonderer Weise möchte ich mich schließlich bei meinen Freunden, meiner Familie, meinen Eltern und meinen Großeltern bedanken. Mein innigster Dank gilt Marion, Paula und Lotte. München, im März 2018

Ethnologie und Kulturanthropologie Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.)

Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« 2017, 352 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3350-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3350-8

Daniel Kofahl, Sebastian Schellhaas (Hg.)

Kulinarische Ethnologie Beiträge zur Wissenschaft von eigenen, fremden und globalisierten Ernährungskulturen Januar 2018, 320 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3539-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3539-7

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Ethnologie und Kulturanthropologie Maria Grewe

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Francis Müller

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Tanger Der Hafen, die Geister, die Lust. Eine Ethnographie 2016, 356 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3338-2 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3338-6

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