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German Pages 478 Year 1997
Betriebswirtschaftliche Forschungsergebnisse
Band 106
Bausteine einer Theorie der strategischen Steuerung von Unternehmen Von
Steffen Scheurer
Duncker & Humblot · Berlin
STEFFEN SeHEURER
Bausteine einer Theorie der strategischen Steuerung von Unternehmen
Betriebswirtschaftliehe Forschungsergebnisse Begründet von Prof. Dr. Dres. h. Co Erich Kosiol t Fortgeführt von Prof. Dr. Dr. h. c. Kout Bleicher, Prof. Dr. Klaus Chmielewicz, Prof. Dr. Günter D1ugos, Prof. Dr. Dres. h. Co Erwin Grochla, Prof. Dr. Heinrich K1oidt, Prof. Dr. Heinz Langen, Prof. Dr. Siegfried Menrad, Prof. Dr. UIrlch Pleiß, Prof. Dr. Ralf-Bodo Scbmidt, Prof. Dr. Wemer VoUrodt, Prof. Dr. Dres. h.c. Eberhard Witte Herausgegeben von Prof. Dr. MarceU Schweitzer Eberbard-Karls-Unlvenltit Tübh'llen
in Gemeinschaft mit
Prof. Dr. Franz Xaver Bea
Eberbard-Karls-Unlvenltit Tübh'llen
Prof. Dr. Erich Frese Unlversltit zu Köln
Prof. Dr. Oskar Grün Wlrtscbaftsunlvenltlt Wien
Prof. Dr. Dr. h. c. Jürgen Hauschildt Cbrlstlan-A1bRCbts-Unlvenltlt Klei
Prof. Dr. Wilfried Krüger Jutus-Lleblg-Unlversltit Gießen
Prof. Dr. Hans-Ulrich Küpper
Ludwlll'Mulmillans-Universltit MÜDeben
Prof. Dr. Dieter Pobmer
Eberbard-Karls-Unlvenltit Tüblngen
Prof. Dr. Henner Schierenbeck Unlversltit Buel
Prof. Dr. Dr. h. c. Norbert Szyperski Unlversltit zu Köln
Prof. Dr. Ernst Troßmann Unlvenltit Hobenbelm
Prof. Dr. Dr. b. c. Rütger Wossidlo Unlversliät Bayreutb
Band 106
Bausteine einer Theorie der strategischen Steuerung von Unternehmen Von
StelTen Scheurer
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Scheurer, Steffen:
Bausteine einer Theorie der strategischen Steuerung von Unternehmen / von Steffen Scheurer. - Berlin: Duncker und Humblot, 1997 (Betriebswirtschaftliche Forschungsergebnisse ; Bd. 106) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08938-3 brosch.
Alle Rechte vorbehalten
© 1997 Duncker& Humblot GmbH, Berlin
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0523-1027 ISBN 3-428-08938-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 E>
Geleitwort Das Konzept der strategischen Planung hat seine Wurzeln vornehmlich in der Praxis, speziell in jener der Unternehmensberatung. Die Wissenschaft hat sich diesem Thema nur zögerlich und wenn überhaupt nur punktuell zugewandt. An dem Mißverhältnis von praktischer Anwendung und theoretischer Fundierung hat das Fach "Strategische Planung" noch heute zu leiden. Nur so ist es zu erklären, daß Managementliteratur für den Alltagsgebrauch, also ohne theoretischen Anspruch, aber mit einer Vielzahl von Rezepten, den Literaturmarkt überschwemmt. In den letzten Jahren haben sich einige Wissenschaftler die Aufgabe gestellt, den theoretischen Unterbau der strategischen Planung bereitzustellen. Im deutschsprachigen Raum sind zu nennen: Probst, Malik, Kirsch, von Knyphausen, Scherer. Alle diese Autoren richten sich an einem gemeinsamen "Paradigma" aus: Abkehr von der plandeterminierten rationalen Unternehmensführung und Hinwendung zu einer wie auch immer gearteten evolutionären strategischen Steuerung über die Schaffung von Rahmenbedingungen. Es werden dabei auch Verbindungen hergestellt zum Selbstorganisationskonzept und zum Konzept der lernenden Organisation im Rahmen der Organisationstheorie. Herr Scheurer hat sich nicht nur die Aufgabe gestellt, das derzeit akzeptierte Paradigma der strategischen Planung zu hinterfragen, sondern auch neuere Ansätze zu einem Paradigmawechsel kritisch zu überprüfen. Insofern wagt Herr Scheurer einen radikalen Neuanfang: Er möchte letztlich die Grundlagen für eine Theorie der strategischen Planung von Unternehmen legen, die wieder in der Lage ist, jenen Ansprüchen zu genügen, denen eine Theorie entsprechen sollte, nämlich Anhaltspunkte für praktisches Handeln zur Verfügung zu steIlen. Ich wünsche diesem innovativen anregenden Buch eine aufmerksame Leserschaft.
Tübingen, im November 1996
Prof. Dr. F.X. Bea
Vorwort Eine solche Untersuchung entsteht in der Regel über den Zeitraum einiger Jahre. Damit wird schnell klar, daß der Verfasser auf die Hilfe vieler "wohlgesonnener Begleiter" angewiesen ist. Nicht allen kann an dieser Stelle in der gebührenden Art und Weise gedankt werden. Diejenigen, denen ich in besonderem Maße Dank schulde, möchte ich jedoch an dieser Stelle hervorheben. Zunächst gilt dieser Dank meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. F. X. Bea, der während der Entstehung dieser Untersuchung seine stetige Diskussionsbereitschaft nie verlor, selbst dann nicht, als diese Untersuchung begann, sich "selbstorganisierend" in eine neue, ursprünglich so nicht geplante Richtung zu entwickeln. Seiner Offenheit gegenüber diesem Richtungswechsel ist somit ganz wesentlich die Entstehung dieser Untersuchung zu verdanken. Darüber hinaus verdanke ich ihm wichtige Hinweise zur Präzisierung dieser Untersuchung. Herrn Prof. Dr. Schweitzer danke ich filr die Übernahme des Korreferates. Da dieser Richtungswechsel mit einer starken Theorieorientierung einherging, waren mir die vielen Gespräche mit Herrn Berthold Meyer von der VDO AG sehr wertvoll. Er gab mir an vielen Stellen die Gelegenheit, meine Gedanken nochmals im Spiegel der Praxis zu sehen. In diesem Zusammenhang ist vor allem auch Kai Uwe Brings zu nennen. Er mußte auf langen nächtlichen Spaziergängen weite Teile dieser Untersuchung "über sich ergehen lassen", lange bevor sie vollständig durchdacht und damit "spruchreif' waren. Genau hier liegt jedoch sein besonderer Verdienst: Er zwang mich in unzähligen Diskussionen immer wieder dazu, meine Vorstellungen zu präzisieren. Damit hat er wesentlichen Anteil am Wachstum dieser Untersuchung. Meinem Vater danke ich rur die erste kritische Durchsicht dieser Untersuchung. Auch meine Schwiegereltern haben einen Anteil am Entstehen dieser Untersuchung. Sie haben mir durch vielfache praktische Hilfestellungen stets "den Rücken am Schreibtisch freigehalten". Ganz besonders bedanke ich mich bei meiner Frau Dorothee, die mir eine große Hilfe bei der Schlußdurchsicht dieser Untersuchung war. Vor allem dan-
8
Vorwort
ke ich ihr aber für ihre Geduld, mit der sie zusammen mit mir alle Höhen und Tiefen, die mit einer solchen Untersuchung verbunden sind, gemeistert hat. Die Untersuchung widme ich in Dankbarkeit meinen Eltern. Sie haben mir letztlich alle Voraussetzungen rur das Studium und diese Promotion geschaffen.
Pfullingen, 1997
Steffen Scheurer
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung ...................................................................................................... ....
21
Problemstellung der Untersuchung ..............................................................
21
11. Zielsetzung der Untersuchung......................................................................
29
111. Gang der Untersuchung........ ...... ...... ...... .................. ......... .............. ... ...... ....
30
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen.................................................................
34
Überblick......................................................................................................
34
11. Die Entwicklung des Wissens zur strategischen Steuerung von Unternehmen...............................................................................................................
35
I. Der Strategiebegriff und seine Übertragung auf die Unternehmensführung........................................................................................................
35
2. Langfristplanung und Soll-1st-Kontrolle................................................
37
3. Strategische Planung und Kontrolle strategischer Pläne ........................
38
4. Strategisches Management.....................................................................
42
III. Charakterisierung der wesentlichen Merkmale des Problems der strategischen Steuerung von Unternehmen ..............................................................
50
I. Klassifikation von Problemen anhand ihrer Merkmale..........................
50
2. Die Einordnung des strategischen Steuerungsproblems.........................
53
IV. Die wesentlichen Merkmale des strategischen Steuerungsproblems als Ausganspunkt der theoretischen Fundierung ...............................................
57
I. Prüfung der theoretischen Fundierung des strategischen Steuerungsproblems anhand seiner Merkmale.........................................................
57
2. Ableitung von Kernfragen als Ausgangspunkt für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung ...................... ................ .........
61
C. Wissenschafts methodischer Bezugsrahmen einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen ....................................
63
I.
I.
I.
Überblick......................................................................................................
63
\0
Inhaltsverzeichnis 11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen ..................................................
64
I. Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Untersuchung ....................
64
2. Die Naturwissenschaften als interdisziplinärer Anknüpfungspunkt.......
68
3. Prüfung der grundsätzlichen Möglichkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise .....................................................................................
72
a) Snows Thesen zur Unvereinbarkeit von Natur- und Geisteswissenschaften.......................................................................................
72
b) Widerlegung der Thesen von Snow .................................................
74
III. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts der strategischen Steuerung von Unternehmen ..................................................
82
I. Der Paradigmawechsel Kuhns.. ............................. ...... ....... ........... .........
82
a) Begriff und Bedeutung des Paradigmas nach Kuhn................ .........
83
b) Normalwissenschaftliche und außergewöhnliche Forschung nach Kuhn ................................................................................................
83
2. Der Kritische Rationalismus Poppers. ................. ........ ....... ......... ...... .....
86
3. Kritische Abwägung der beiden Ansätze ...............................................
88
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung von Unternehmen in der deutschsprachigen Literatur.................................................................
92
Überblick......................................................................................................
92
11. Darstellung verschiedener Ansätze...............................................................
94
I. "Strategie des Managements komplexer Systeme" von Malik.......... .....
96
2. "Selbst-Organisation" von Probst...........................................................
\06
3. Die "evolutionäre Führungskonzeption" von Kirsch .............................
1\0
a) Das Unternehmen als fortschrittsfähige Organisation......................
113
b) Die evolutionäre Führungsphilosophie als Grundlage des strategischen Managements.........................................................................
117
c) Die evolutionäre Rationalität als Vorbedingung einer Fortschrittsfähigkeit des Unternehmens.............................................................
119
III. Gegenüberstellung der Ansätze und Zusammenfassung ..............................
124
E. Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen ........................
132
Überblick......................................................................................................
132
I.
I.
Inhaltsverzeichnis
II
11. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse.............................
134
1. Klassische Physik................................................... ............. ..... ............. .
134
2. Relativitätstheorie und Quantenmechanik............... ....... ........... ....... ......
137
3. Thermodynamik.....................................................................................
141
a) Gleichgewichtsthermodynamik geschlossener Systeme ..................
141
b) Nichtgleichgewichtsthermodynamik offener Systeme.....................
142
aa) Dissipative Systeme...................................................................
143
bb) Deterministisches Chaos............................................................
145
cc) Ordnung durch Fluktuation .......................................................
149
dd) Dissipative Systeme zwischen Ordnung und Chaos ...... ......... ...
151
111. Der Zusammenhang zwischen der Physik und den Kernfragen der strategischen Steuerung .................... .................... ............... .............. ...................
153
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen.
156
Überblick ................................................................................................... '"
156
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse ... ......... ...
158
1. Der Evolutionsprozeß ............................................................................
158
a) Die Erklärung der Evolutionsmechanismen als Ausgangspunkt des Evolutionsprozesses...................................................................
158
aa) Die Erklärung von Lamarck, Darwin und des Neodarwinismus ............................................................................................
160
bb) Die Erklärung nach der Synthetischen Theorie der Evolution...
162
cc) Die Erklärung nach der Systemtheorie der Evolution ...............
164
b) Das organismische System als Grundlage und Produkt des Evolutionsprozesses ..................................................................................
169
aa) Die Konzeption des organismischen Systems nach der Biologie der Kognition ...... ...... ...... ........... .......... ............. ............. ... ...
172
bb) Die Konzeption des organismischen Systems nach der Systemtheorie der Evolution..........................................................
174
c) Die Charakterisierung des Evolutionsprozesses...............................
177
aa) Die grundlegende Methodik des Evolutionsprozesses......... ......
178
bb) Der Evolutionsprozeß zwischen Zufall und NotwendigkeiL....
181
cc) Das Ziel des Evolutionsprozesses..............................................
183
I.
12
Inhaltsverzeichnis 2. Evolution und Erkenntnis ....... ............ ......... ................ ............ ..............
184
a) Die Evolutionäre Erkenntnistheorie.................................................
185
aal Die Grundlegung der Evolutionären Erkenntnistheorie durch
Lorenz........................................................................................
187
bb) Die inhaltliche Ausweitung der Evolutionären Erkenntnistheorie durch Riedl und Vollmer...... ................. ......... .......... ....
190
cc) Zusammenfassung der inhaltlichen Grundaussagen der Evolutionären Erkenntnistheorie......................................................
201
b) Die evolutionäre Erkenntnismethodik ..... ...... ........... ..... .... ..... ........
203
aal Der Kritische Rationalismus nach Popper als evolutionäre Er-
kenntnismethodik............... ...... ... ...... .......... .... ......... ........ .... ......
203
bb) Die evolutionäre Erkenntnismethodik nach Riedl und Oeser....
205
III. Der Zusammenhang zwischen der Evolutionsbiologie und den Kernfragen der strategischen Steuerung...... ............. ...... ............. ........ ......... ....... ....... .....
211
G. Zusammenführung von Physik und Evolutionsbiologie zu einem gemeinsamen Ausgangspunkt einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen ...........................................................................
214
Überblick......................................................................................................
214
11. Dissipative Systeme als Grundlage für die Beschreibung des Systems "Unternehmen" ..............................................................................................
215
III. Selbstorganisation als ein Bestandteil des strategischen Steuerungsprozesses.................................................................................................................
217
IV. Das veränderte Weltbild als erkenntnistheoretischer Rahmen der strategischen Steuerung........ ................. ....... ........ ............... .... .................... ..... ........
221
V. Schwierigkeiten bei der Erkenntnis der strategischen Steuerungsprobleme.
224
H. Wissenschaftstheoretischer Übertragungsrahmen ........................................
226
Überblick......................................................................................................
226
11. Grundlagen der Übertragung........................................................................
228
III. Die Entwicklung eines wissenschaftstheoretischen Rahmens zur interdisziplinären Übertragung von Erkenntnissen ..................................................
230
I. Die Strukturwissenschaften als Mittler zwischen Natur- und Geisteswissenschaft ....... ........... ............. ............... ........ ............... .......... ....... .....
23 I
a) Prüfung von Systemtheorie und Kybernetik auf ihre Eignung als metatheoretische Strukturwissenschaft ............................................
233
I.
I.
Inhaltsverzeichnis
13
aa) Die Entwicklung der Systemtheorie und ihre wesentlichen Merkmale...................................................................................
234
bb) Die Entwicklung der Kybernetik und ihre wesentlichen Merkmale...................................................................................
238
cc) Der wissenschaftstheoretische Charakter der kybernetischen Systemtheorie ............. ....... .... ......... ..... ....... ............. ....... ...........
240
b) Bewertung der kybernetischen Systemtheorie hinsichtlich ihrer Eignung als metatheoretische Strukturwissenschaft ........... ........ .....
242
2. Klassifikation und wissenschaftstheoretische Einordnung möglicher Formen der Erkenntnisübertragung........................................................
244
3. Das Phasenschema der Erkenntnisübertragung......................................
252
4. Zusammenfassung..................................................................................
256
J. Die Übertragung der physikalischen und evolutionsbiologischen Erkenntnisse auf die strategische Steuerung von Unternehmen.......................
258·
Überblick......................................................................................................
258
11. Das neue Weltbild als Grundlage einer veränderten Sichtweise der strategischen Steuerung von Unternehmen .......... ... ...... ..... ....... ........... ............ .....
260
I. Der Paradigmawechsel vom alten zum neuen Weltbild .........................
261
2. Die Konsequenzen des Paradigmawechsels für die strategische Steuerung von Unternehmen...........................................................................
265
III. Naturwissenschaftliche System konzeptionen als Grundlage für die Beschreibung des Unternehmens .....................................................................
269
I. Prüfung naturwissenschaftlicher Systemkonzeptionen auf ihre Eignung zur Beschreibu~g des sozialen Systems "Unternehmen" ..............
271
a) Das soziale System als spontane Ordnung ..... ....... ..... ....... ....... ........
272
b) Das soziale System als autopoietisches System ...............................
276
aa) Die ursprüngliche autopoietische Systemkonzeption von Maturana.........................................................................................
276
bb) Die Präzisierung der ursprünglichen autopoietischen Systemkonzeption durch Roth und Hejl................................................
279
cc) Die erweiterte autopoietische Systemkonzeption von Luhmann ..........................................................................................
283
2. Kritische Würdigung der bisherigen Verwendung naturwissenschaftlicher Systemkonzeptionen in der interdisziplinären deutschsprachigen Managementliteratur.. .. ........ ........ .............. ............ ........ ......... .........
293
a) Die Unternehmenskonzeption von Malik ........................................
294
I.
14
Inhaltsverzeichnis b) Die Unternehmenskonzeption von Probst........................................
295
c) Die Unternehmenskonzeption von Kirsch .......................................
295
d) Ausblick auf eine neue Systemkonzeption zur Beschreibung des sozialen Systems "Unternehmen" ....................................................
299
3. Übertragung der dissipativen Systemkonzeption zur Beschreibung sozialer Systeme .. .... .... ......................... ...... ......... ........ ............. ................
30 I
a) Die Festlegung des Übertragungszieles ...........................................
302
b) Die Definition des Untersuchungsphänomens .................................
302
c) Die Suche nach geeigneten Übertragungsformen ............................
308
d) Die Bewertung der Übertragungsformen .........................................
308
e) Die Entscheidung für die geeignete Übertragungsform ...................
310
4. Konzipierung des Unternehmens als soziales dissipatives System ........
312
a) Das Unternehmen als soziales dissipatives System nahe dem Gleichgewicht ..................................................................................
317
b) Das Unternehmen als soziales dissipatives System fern dem Gleichgewicht ........ .... ..................... ........... .......................... ............
320
c) Die neuen Unternehmenskonzeptionen und ihre Konsequenzen für die strategische Steuerung von Unternehmen .................... ........
323
IV. Der Evolutionsprozeß als Grundlage für die strategische Steuerung von Unternehmen ................................................................................................
330
I. Anknüpfungspunkte für eine veränderte Sicht der strategischen Steuerung von Unternehmen...........................................................................
331
a) Der Evolutionsprozeß als Anknüpfungspunkt fllr eine veränderte Sicht der strategischen Steuerung von Unternehmen.......................
331
b) Die vier Strategietypen Mintzbergs als Anknüpfungspunkt für eine veränderte Sicht der strategischen Steuerung...............................
333
c) Die Zielausrichtung des Unternehmens als Anknüpfungspunkt für eine veränderte Sicht der strategischen Steuerung ...........................
336
2. Strategische Steuerungsmöglichkeiten nahe dem Gleichgewicht ..........
341
a) Grundlagen der strategischen Steuerungsmöglichkeiten nahe dem Gleichgewicht ..................................................................................
341
b) Umsetzung der Steuerungsmöglichkeiten in Form der strategischen Planung ............................................................................ ......
344
c) Umsetzung der Steuerungsmöglichkeiten in Form der strategischen Kontrolle ...............................................................................
350
Inhaltsverzeichnis
15
d) Gefahren einer rein gleichgewichtsnah ausgerichteten strategischen Steuerung ..............................................................................
356
3. Strategische Steuerungsmöglichkeiten fern dem Gleichgewicht............
358
a) Grundlagen der strategischen Steuerungsmöglichkeiten fern dem Gleichgewicht ..................................................................................
358
aa) Spontane Musterbildung als Ausgangspunkt der strategischen Steuerungsmöglichkeiten von Unternehmen ............ .................
361
bb) Strategische Steuerung von Unternehmen als abstrakte Regelsetzung .......................................................................................
369
b) Umsetzung der Steuerungsmöglichkeiten in Form einer strukturellen Steuerung ...............................................................................
373
c) Umsetzung der Steuerungsmöglichkeiten in Form einer strategischen Prozeß- und Strukturkontrolle ...............................................
380
d) Vergleich der strategischen Steuerung fern vom Gleichgewicht mit verwandten Steuerungskonzeptionen ........................................
386
aa) Vergleich der strategischen Steuerung fern vom Gleichgewicht mit den Steuerungskonzeptionen der interdisziplinären Managementansätze...................................................................
387
bb) Vergleich der strategischen Steuerung fern vom Gleichgewicht mit dem Konzept der schwachen Signale von Ansoff .....
392
4. Zusammenfassung der strategischen Steuerungsmöglichkeiten nahe und fern dem Gleichgewicht zu einer ganzheitlichen strategischen Steuerung von Unternehmen..................................................................
395
5. Der evolutionäre Charakter der ganzheitlichen strategischen Steuerung von Unternehmen...........................................................................
403
a) Strategische Steuerung als Versuchs-Irrtums-Prozeß ......................
403
b) Strategische Steuerung als Lernprozeß ............................................
405
V. Menschliche Erkenntnis und strategische Steuerung von Unternehmen......
408
1. Einseitig analytisch-rationale strategische Steuerung von Unternehmen.........................................................................................................
410
a) Evolutionär und kulturell entstandene Erkenntnismechanismen als Ursache einer einseitig analytisch-rationalen strategischen Steuerung von Unternehmen ................ .......... ........ ..................................
410
b) Mintzbergs Kritik als Anknüpfungspunkt zur Überwindung der einseitig analytisch-rationalen strategischen Steuerung von Unternehmen.............................................................................................
415
2. Ganzheitliche strategische Steuerung von Unternehmen .......................
418
Inhaltsverzeichnis
16
a) Intuitive Erkenntnismechanismen als zusätzliche Grundlage einer ganzheitlichen strategischen Steuerung von Unternehmen..............
418
b) Die Verbindung von analytisch-rationalen und intuitiven Erkenntnismechanismen zu einer ganzheitlichen strategischen Steuerung von Unternehmen ....................................................................
422
VI. Erkenntnismethodik und strategische Steuerung von Unternehmen ............
429
1. Vergleich der Erkenntnismethodik von Kuhn mit den Vorschlägen zu einer evolutionären Erkenntnismethodik ..............................................
430
2. Die Erkenntnismethodik Riedls als Grundlage zur wissenschaftlichen Transzendierung der praktischen strategischen Steuerung.....................
432
K. Zusammenfassende Schlußbetrachtungen .....................................................
438
I.
Überblick......................................................................................................
438
11. Zusammenfassung der Aussagen dieser Untersuchung zu einem theoretischen Bausteinkasten der strategischen Steuerung von Unternehmen .........
438
III. Der Fortschrittsgehalt des theoretischen Bausteinkastens der strategischen Steuerung von Unternehmen ........................................................................
444
Literaturverzeichnis ...............................................................................................
449
Sachregister .............................................................................................................
474
Tabellenverzeichnis Tabelle I:
Abgrenzung von strategischer Planung und strategischem Management..............................................................................................
44
Tabelle 2:
Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften ............
74
Tabelle 3:
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der interdisziplinären Ansätze hinsichtlich der strategischen Steuerung von Unternehmen ..... ...
128
Tabelle 4:
Der Zusammenhang zwischen Physik und strategischer Steuerung
ISS
Tabelle 5:
Die Entwicklung der Evolutionsfaktoren.........................................
169
Tabelle 6:
Der Zusammenhang zwischen Evolutionsbiologie und strategischer Steuerung................................................................................
212
Tabelle 7:
Vergleich zwischen spontaner Ordnungsbildung und Evolutionsdynamik ...........................................................................................
218
Tabelle 8:
. Übereinstimmungen zwischen spontaner Ordnungsbildung und Evolutionsdynamik .. ........ ........ ......... ........... ....... ........... ..... ........ .....
220
Tabelle 9:
Vergleich von klassischem und modernem Weltbild.......................
222
Tabelle 10:
Wissenschaftstheoretische Konsequenzen verschiedener Übertragungsformen .............. .............. ...... ..... ......... ......... ....... ..... ...............
250
Tabelle 11:
Zusammenfassender Vergleich von klassischem und modernem Weltbild ...........................................................................................
261
Tabelle 12:
Übersicht über Systemklassifikationen in der Literatur ...................
303
Tabelle 13:
Merkmale mechanistischer, organismischer und sozialer Systeme im Überblick .. ...... ...... ............ ........... ..... .... ..... ....... ......... ........ .........
306
Tabelle 14:
Unternehmen betrachtet als mechanistisches System, als dissipatives System nahe dem Gleichgewicht und als dissipatives System fern dem Gleichgewicht...................................................................
327
Tabelle 15:
Vergleich der strategischen Erfolgsfaktoren nach Bea, Haas...........
366
Tabelle 16:
Die Steuerungskonzeptionen von Probst und Malik im Vergleich..
387
Tabelle 17:
Vorbewußte Verarbeitungsmechanismen und strategische Steuerung..................................................................................................
410
Tabelle 18:
Kulturell entstandene Verarbeitungsmechanismen und strategische Steuerung.................................................................................
414
2 Scheurer
18
Tabellenverzeichnis
Tabelle 19:
Evolutionärer Theoriebaustein I .......... ..... ..................... ..................
440
Tabelle 20:
Evolutionärer Theoriebaustein 2.. ....... ................. ....... ............... ... ...
440
Tabelle 21:
Evolutionärer Theoriebaustein 3 .......................... ..... ........ .......... .....
441
Tabelle 22:
Evolutionärer Theoriebaustein 4 ........... .......................... ,. ....... ........
443
Tabelle 23:
Evolutionärer Theoriebaustein 5 ......................................................
444
Abbildungsverzeichnis Abb.1:
Gang der Untersuchung ...................................................................
32
Abb.2:
Überblick über das Kapitel B...........................................................
34
Abb.3:
Die Dimensionen des strategischen Problems nach Ansoff und Hayes ...............................................................................................
43
Abb.4:
Strategisches Management nach Hahn....................... ......................
47
Abb.5:
Strategisches Management nach Hax und Majluf.............. .......... ....
48
Abb.6:
Klassifikation von Problemen nach Wagner....................................
53
Abb.7:
Die Einordnung der strategischen Steuerungsprobleme ..................
55
Abb.8:
Die Entwicklung der Planungs- und Kontrollfunktion ......... ... .... ....
56
Abb.9:
Übersicht über das Kapitel C .. ........................ ............ ........ ..... ........
63
Abb.10:
Interdisziplinärer Ansatz zur Erklärung des Phänomens der strategischen Steuerung............................................................................
68
Abb. 11:
Überwindung des kognitiven Dualismus ........ ............ ............ .... .....
81
Abb.12:
Der systemisch-evolutionäre Managementansatz nach Malik .........
97
Abb.13:
Die kybernetische Konzeption des strategischen Managements nach Malik ................................ ........... ........ .... ......... ......................
98
Abb. 14:
Allgemeine Lenkungszusammenhänge des lebensfähigen Systems nach Malik. ......................................................................................
101
Abb.15:
Die lenkungsorientierte Systemmethodik nach Malik. .......... ..........
103
Abb. 16:
Eine Lehre für die Führung auf der Basis einer Lehre von der Führung nach Kirsch.. ................................ ... ....... ............. ... ......... ...
111
Abb.17:
Der organisationstheoretische Bezugsrahmen nach Kirsch.. ............
115
Abb. 18:
Die Konzeption der geplanten Evolution nach Kirsch. ....................
118
Abb.19:
Der Zusammenhang zwischen fortschrittsfähiger Organisation und erweiterter Rationalitätsvorstellung nach Kirsch ... .............. ............
121
Abb.20:
Weg eines dissipativen Systems ins deterministische Chaos ...........
147
Abb. 21:
Dissipative Systeme zwischen Ordnung und Chaos..... ........... ........
153
Abb.22:
Überblick über das Kapitel F ...........................................................
157
2'
20
Abbildungsverzeichnis
Abb.23:
Evolutionsmechanismen nach der Synthetischen Theorie der Evolution................................................................................................
162
Abb.24:
Der Zusammenhang der vier Ordnungsmuster nach Riedi..............
166
Abb.25:
Evolutionäre Begründung von Lösungs-Strategien aus den ratiomorphen Anleitungen nach Riedi....... ...... ... .......... .................... ......
195
Abb.26:
Überblick über die Erkenntnisse aus der Evolutionären Erkenntnistheorie..... ................ ....... ........ ....... ........ ............... ....... ........ ..... ....
202
Abb.27:
Kreislauf des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns nach Ried\....
207
Abb.28:
Die Verstehens-Operationen in der Schicht-Hierarchie nach Riedl.
209
Abb.29:
Zusammen führung physikalischer und evolutionsbiologischer Erkenntnisse zu einheitlichen Beschreibungsgrundlagen ....... ............
215
Abb.30:
Überblick über das Kapitel H...........................................................
227
Abb.31:
Grundlagen der wissenschaftstheoretischen Erkenntnisübertragung.................................................................................................
229
Abb.32:
Übertragungsportfolio......................................................................
251
Abb.33:
Das Phasen schema der Erkenntnisübertragung................................
255
Abb.34:
Überblick über das Kapitel J .... ... .......... ............... ................ ........ ....
260
Abb.35:
Überblick über den Abschnitt J.III. ..................................................
270
Abb.36:
Ähnlichkeitenprofil..........................................................................
309
Abb.37:
Systemkonzeptionen des Unternehmens und deren Eignung für die strategische Steuerung. ............ ........... ............. ................... ..... ...
329
Abb.38:
Überblick über den Abschnitt J.IV. .................................................
331
Abb.39:
Der Evolutionsprozeß nahe und fern dem Gleichgewicht................
332
Abb.40:
Forms of Strategy nach Mintzberg...................................................
335
Abb. 41:
Strategische Planung und strategische Kontrolle nach Schreyögg und Steinmann .................................................................................
352
Abb.42:
Strategische Kontrolle als "Auffangkontrolle" nach Schreyögg, Steinmann ........................................................................................
354
Abb.43:
Das strategische Steuerungskontinuum. .. ............. ................. ...........
398
Abb.44:
Steuerungsmatrix .............................................................................
402
Abb.45:
Die zwei Himhemisphären nach Eccles..... .... .......... ........ ................
424
Abb.46:
Die Parallelität der Hemisphären- und Erkenntnis-Funktionen des menschlichen Gehirns nach Riedi....................................................
433
A. Einleitung I. Problemstellung der Untersuchung Zu Beginn einer Untersuchung im Bereich der strategischen Unternehmensführung stellt sich die Frage, was eigentlich noch einer Analyse würdig ist. Diese Skepsis ist vor allem deswegen angebracht, weil man als Verfasser aufgerufen ist, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Vor der Flut der Veröffentlichungen kann jedoch der Eindruck entstehen, daß alle Fragen der strategischen Unternehmensführung weitgehend beantwortet sind. Verwirrend wird die Lage erst recht, wenn man dann noch versucht, einen Überblick über diese Veröffentlichungsflut zu erlangen. Zwei Erkenntnisse reifen hierbei jedoch schnell: Einen wirklichen Überblick zu bekommen, ist vor dem Hintergrund dieser Informationsüberflutung nur noch schwerlich möglich. Und: Das Wort "strategisch" ist in Mode. Offensichtlich ist Alles und Jedes "strategisch". Dies stellten Kirsch, Roventa, Trux bereits im Jahre 1983 fest. I Seither scheint sich diese Tendenz allerdings noch verstärkt zu haben. Darüber hinaus fällt auf, daß nahezu von allen Autoren, die sich mit Fragen der strategischen Unternehmensführung beschäftigen, hervorgehoben wird, daß es sich bei der von ihnen vorgelegten Konzeption um eine angewandte, eine anwendungsorientierte, eine handlungs- oder eine praxisorientierte Führungskonzeption handelt. Oftmals werden diese unterschiedlichen Begriffe auch synonym gebraucht. Eine Gemeinsamkeit verbindet diese Begriffe: Mit ihrer Verwendung bekennen sich all diese Autoren als Vertreter eines pragmatisch ausgerichteten Wissenschaftsverständnisses. Damit weisen sie der Betriebswirtschaftslehre vor allem deskriptive und gestaltende Aufgaben zu.2
I Vgl. Kirsch, Roventa, Trux, 1983, S. 13. 2 Vgl. zur Abgrenzung der wissenschaftlichen Zielsetzungen Bea, Dichtl, Schweitzer, 1988, S. 49 ff./ Beyer, 1970, S. 121 ff./ Chmielewicz, 1970/ Kieser, Kubicek, 1983, S. 58/ Kosiol, 1968, S. 16/ Schanz, 1988, S. 86 ff./ Schweitzer, Küpper, 1986, S. 74 f./ Stählin, 1973, S. 10/ Wöhe, 1986, S. 34.
22
A. Einleitung
Dieses pragmatische Wissenschaftsverständnis wird in der modernen Betriebswirtschaftslehre vor allem von den Autoren der system- und entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre vertreten.3 Ulrich, der Begründer der systemorientierten Betriebswirtschaftslehre im deutschen Sprachraum, betont vor allem die Gestaltungsaufgabe der Betriebswirtschaftslehre: "Wir fassen die Betriebswirtschaftslehre auf als eine notwendige Vorstufe zu einem sinnvollen praktischen Handeln der sogenannten Führungskräfte in zweckorientierten sozialen Systemen, insbesondere in Unternehmungen.".4 Ulrich bezeichnet die system orientierte Betriebswirtschaftslehre auch als problemorientierte Betriebswirtschaftslehre. 5 Der Begründer der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre im deutschsprachigen Raum, Edmund Heinen, liefert eine Matrix, anhand deren er die oben genannten Begriffe einordnet und unterscheidet. 6 Heinen bezeichnet seinen entscheidungstheoretischen Ansatz als angewandte Betriebswirtschaftslehre und verbindet mit dem Begriff "angewandt" folgende Merkmale: 7 •
Eine angewandte Betriebswirtschaftslehre muß Gestaltungsvorschläge fur betriebswirtschaftliche Problemstellungen der Praxis liefern.
•
Die betriebswirtschaftliche Forschung muß sich unter anderem an tatsächlich existierenden Praxisproblemen ausrichten.
•
Die wissenschaftlichen Gestaltungsvorschläge müssen in der Praxis auch tatsächlich verwendbar sein.
Wenn diese Merkmale einer angewandten Betriebswirtschaftslehre zugrunde gelegt werden und zugleich davon ausgegangen wird, daß sich die überwiegende Anzahl der in der Literatur zu findenden Vorschläge zur strategischen Unternehmensflihrung selbst als angewandte Führungskonzeptionen verstehen, sollte eigentlich damit gerechnet werden, daß diese wissenschaftlichen Vorschläge eine weite Verbreitung in der Praxis gefunden haben. Genau dies ist jedoch nicht der Fall, wie einige empirische Untersuchungen aus der jüngeren Zeit zeigen.
3 Vgl. zu den Vertretern der systemorientierten Betriebswirtschaftslehre Forrester, 1972/ Franken, Fuchs 1974/ Grochla, 1974/ Hub, 1988/ Ulrich, 1971/ Vester 1978/ Vester, 1985/ Vester, 1987/ Vgl. zu den Vertretern der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre Bidlingmaier, 1964/ Bidlingmaier 1968/ Heinen, 1980, S. 29/ Heinen, 1982/ Heinen, 1984/ Heinen, 1985, S. 5 ff./ Kirsch, 1977. 4 Ulrich, 1971, S. 44. 5 Vgl. Ulrich, 1970, S. 19. 6 Vgl. zu dieser Klassifikation Heinen, 1985, S. 6. 7 Vgl. Heinen, 1985, S. 7.
I. Problemstellung der Untersuchung
23
Die Studie von Hahn, Oppenländer, Scholz aus dem Jahre 1990 betrachtet die Verbreitung und den Entwicklungsstand von strategischen Managementsystemen in der deutschen Industrie. Dabei wird von diesen Autoren der strategischen Planung und der zugehörigen strategischen Kontrolle eine zentrale Rolle im Rahmen eines strategischen Managementsystems beigemessen. 8 Hahn, Oppenländer, Scholz kommen zu einer Reihe von wichtigen Ergebnissen, die hier allerdings nur stichwortartig und aggregiert für den Durchschnitt der Unternehmen aller Größen skizziert werden: 9 •
Eine Organisation in strategischen Geschäftsbereichen findet sich bei ca. 21 % aller Unternehmen.
•
In ca. 50 % aller Unternehmen existiert ein schriftlich fixiertes Untern ehmensleitbild.
•
In 59,2 % der Unternehmen wird regelmäßig ein Gesamtplan erstellt.
•
In den Unternehmen, in denen keine regelmäßige Gesamtplanung durchgeführt wird, erstellen 73,6 % mindestens Einzelpläne.
•
Ca. 50 % aller Unternehmen erstellen gesonderte strategische Pläne. In 23,5 % aller Unternehmen erfolgt dies regelmäßig, in 26,3 % aller Unternehmen fallweise.
•
Die Häufigkeit der Planung sinkt mit zunehmendem Zeithorizont. Planungen mit einem Zeithorizont von mindestens einem Jahr werden für folgende Kennzahlen oder Bereiche am häufigsten erstellt:
•
-
Umsatz (78,3 %)
-
AbsatzlVertrieb (76,5 %)
-
Investition (76,1 %)
-
Betriebsergebnis (74,9 %)
-
Produktion (71,3 %)
-
Finanzierung (70,0 %)
-
Bilanzergebnis ( 68,5 %)
Pläne mit einer Reichweite von bis zu fünf Jahren sind nur noch bei weniger als 20 % der Unternehmen anzutreffen. Überwiegend handelt es sich hierbei um geschäftsfeld- und funktionsbereichsbezogene Pläne sowie um
8 Vgl. Hahn, Oppenländer, Scholz, 1990, S. 973. 9 Vgl. bei weiterem Interesse die ausführliche Studie von Hahn, Oppenländer, Scholz, 1990, S. 971 ff.
24
A. Einleitung
Ergebnis- und Finanzpläne. Andere strategisch wichtige Erfolgsfaktoren wie zum Beispiel eine langfristige Führungskräfteplanung bis zu fünf Jahren spielen mit 9,5 % aller Unternehmen nur eine untergeordnete Rolle. •
Bei der Verwendung von Kennzahlen in der betrieblichen Praxis kommen folgenden Kennzahlen, absteigend geordnet nach der Häufigkeit der Verwendung, besondere Bedeutung zu: Betriebsergebnis (74,3 %), Beschäftigte (73,3 %), Bilanzergebnis (70,3 %), Liquidität (64,9 %), Auftragseingang (59,3 %), Cash-flow (56,8 %) Deckungsbeitrag (56,0 %).
•
Bei einem Vergleich mit einer ähnlichen Untersuchung aus dem Jahre 1965 zeigte sich, daß es in den Jahren von 1965 bis 1989 zu einer Intensivierung der langfristig orientierten Planung kam.
Generell kann jedoch nach dieser empirischen Untersuchung davon ausgegangen werden, daß sich sowohl die Planungstätigkeit mit einem langfristigen Planungshorizont als auch die Verwendung von Kennzahlen in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße stark ändert. Während eine langfristige Planung und die Verwendung von Kennzahlen in kleineren und mittleren Unternehmen eher unterdurchschnittlich sind, liegen die entsprechenden Ergebnisse für Unternehmen über 1000 Mitarbeitern in der Regel über den hier dargestellten Durchschnittswerten. \0 Auch die Studie von Coenenberg, Günther, die nicht auf die Betrachtung von Industriebetrieben eingeschränkt ist, sondern den Stand des strategischen Controlling über Branchengrenzen hinweg untersucht, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Da Coenenberg, Günther strategische Planung und strategische Kontrolle als die wesentlichen Bausteine des strategischen Controlling auffassen, können die Ergebnisse ihrer Untersuchung in eine Reihe mit der Studie von Hahn, Oppenländer, Scholz gestellt werden. Es werden im Grunde die gleichen strategischen Steuerungsfunktionen lediglich unter einem anderen Oberbegriff untersucht. Im Rahmen dieser Studie ergaben sich zusätzlich zur Studie von Hahn, Oppenländer, Scholz folgende Erkenntnisse: 11 •
Obwohl deutsche Unternehmen bereits in den 60er Jahren mit der Implementierung der strategischen Planung begannen, gaben 40 % der Unternehmen an, erst in den 80er Jahren strategisches Gedankengut in das Unternehmen eingeführt zu haben.
•
Abweichend zum Ergebnis der oben präsentierten Studie von Hahn, Oppenländer und Scholz, gaben hier 82 % der Unternehmen an, ein schriftlich fixiertes Unternehmens leitbild zu besitzen.
10 Vgl. Hahn, Oppenländer, Scholz, 1990, S. 990 und 997. 11 Vgl. Coenenberg, Günther, 1990, S. 459 ff.
I. Problemstellung der Untersuchung
25
•
Zusätzlich zu den in der Studie von Hahn, Oppenländer und Scholz genannten Kennzahlen werden hier noch die Marktanteile (61,5 %), die Renditen (59 %), der Umsatz (54,9 %) sowie die Kapitalstruktur (33,6 %) als Kennzahlen genannt, die häufig in der Praxis Verwendung finden. Die wichtigste Kennzahl bleibt aber auch in dieser Untersuchung das Betriebsergebnis mit 68,9 % von Nennungen.
•
Die in der Literatur vorgeschlagenen Konzepte der strategischen Planung kommen nur sehr bedingt in der Praxis zum Einsatz. Nur 26 % der Unternehmen führen quantitative Analysen zu Produktlebenszyklen durch, 24 % der Unternehmen halten den Produktlebenszyklus für irrelevant. Als Ergänzung zur Erfahrungskurve errechnen nur 21 % der Unternehmen ihre langfristige Kostenposition, 16 % verlassen sich auf grobe Abschätzungen und 22 % der Unternehmen stützen sich lediglich auf die qualitativen Aspekte der Erfahrungskurve. Die PIMS-Datenbank wird in Deutschland nur von 6 der 122 strategisch planenden Unternehmen genutzt (4,9 %). Selbst die in der strategischen Literatur so populäre Portfoliotechnik spielt mit Ausnahme des Boston-I-Portfolios und des McKinsey-Portfolios in der Praxis offensichtlich eine untergeordnete Rolle.
•
Strategische Kontrollen werden von 55 % der Unternehmen regelmäßig im Rahmen ihres Berichtswesens durchgeführt, 21 % führen eine aperiodische Kontrolle durch und 23 % der Unternehmen kontrollieren "außerhalb ihres Berichtswesens". Im Vordergrund der Kontrollaktivitäten stehen die Kontrolle der Planprämissen (65,8 %) sowie die Endergebniskontrolle (60 %). Die feed-forward Kontrolle zur Handhabung von Diskontinuitäten spielt mit 48,3 % eine kleinere Rolle. Eine Planfortschrittskontrolle existiert bei 28 % der befragten Unternehmen.
•
Die strategische Kontrolle wird überwiegend in Jahresintervallen durchgeführt.
Die bislang dargestellten Studien brachten primär Aussagen zur Planungsfunktion im Rahmen des strategischen Managements; die Funktion der strategischen Kontrolle wurde eher am Rande beleuchtet. Um das Bild abzurunden und damit die Grundlage für eine realistische Bewertung der praktischen Relevanz des strategischen Wissens zu schaffen, wird in einem letzten Schritt noch eine empirische Untersuchung zur Praxis der strategischen Kontrolle von Schreyögg, Steinmann dargestellt. 12 Diese Untersuchung unterscheidet sich in der Methodik von den beiden bereits dargestellten Studien. Im Gegensatz zu deren Vorgehensweisen wurden hier keine größeren Grundgesamtheiten untersucht, sondern es wurden explorative Interviews mit kompetenten Gesprächs-
12 V gl. Schreyögg, Steinmann, 1986, S. 40 ff.
26
A. Einleitung
partnern von neun Unternehmen gefllhrt. Deshalb liegen in dieser Studie keine quantitativen Ergebnisse vor. Aus diesem Grund beschränkt sich die Darstellung auf eine kurze Zusammenfassung der vorliegenden verbalen Ergebnisse: 13 •
Die in der Praxis vorgefundenen Kontrollrnaßnahmen sind im Kontext der strategischen Planung verstreut und werden nur selten explizit als Kontrollmaßnahmen aufgefaßt. Somit konnte in der Praxis keine, der strategischen Planung gleichgestellte und eigenständige Steuerungsfunktion der strategischen Kontrolle gefunden werden.
•
Ein formal geregeltes System zur strategischen Kontrolle ist in keinem der untersuchten Unternehmen vorhanden. Strategische Kontrolle wird vor allem informell durch die strategische Wachsamkeit der Organisationsmitglieder betrieben.
•
Ein wesentlicher Teil der in der Praxis vorgefundenen strategischen Kontrolltätigkeit, insbesondere die Kontrolle der Planprämissen, wird dort mit der periodischen Neuplanung vermischt. Eine eigenständige, systematische Planprämissenkontrolle ist nicht existent.
•
Eine systematische strategische Kontrolle der Plandurchfllhrung existiert praktisch nicht. Wenn überhaupt eine Kontrolle von strategischen Meilensteinen vorgenommen wird, dann meist anhand operativ orientierter Kennzahlen aus dem Berichtswesen.
•
Eine ungerichtete strategische Überwachung stützte sich "... fast ausschließlich auf die intuitive Wachsamkeit und die strategische Sensibilität des Managements." .14 Auch diese Aktivität wird in der Praxis tendenziell der Neuplanung zugeordnet.
Wenn nun im folgenden eine Zusammenfassung und Wertung dieser empirischen Ergebnisse vorgenommen wird, zeigt sich, daß die explosionsartige Vermehrung strategischer Konzeptionen offensichtlich weitgehend an der Praxis vorbeigegangen ist. Zwar weist die Studie von Hahn, Oppenländer, Scholz eine Intensivierung der langfristig orientierten Planung seit dem Jahr 1965 aus, dies kann jedoch bei genauerer Betrachtung keinesfalls befriedigen, da es sich bei dieser langfristigen Planung nur schwerlich um eine strategische Planung im Sinne der Unternehmensfllhrungsliteratur handeln dürfte. Für diese Bewertung sprechen gleich mehrere Fakten, die sich ebenfalls aus der Studie von Hahn, Oppenländer, Scholz ergeben. Zunächst ist nur bei ca. 21 %, also gerade bei einem Fünftel der Unternehmen, überhaupt eine strate13 Vgl. Schreyögg, Steinmann, 1986, S. 41 ff. 14 Schreyögg, Steinmann, 1986, S. 46.
I. Problemstellung der Untersuchung
27
gisch orientierte Organisationsform in Form von strategischen Geschäftseinheiten zu erkennen. Zudem wird angegeben, daß weniger als ein Viertel der Unternehmen regelmäßige strategische Pläne erstellt. Wenn zusätzlich die Planungsinhalte in Verbindung mit den hauptsächlich von den Unternehmen verwendeten Kennzahlen betrachtet werden, ist festzustellen, daß die rechnungswesenorientierten Zahlen mit einer periodischen Laufzeit von einem Abrechnungszeitraum, mithin also einem Jahr, stark dominieren. Kennzahlen, die langfristig orientiert sind oder sich auf strategisch wichtige Erfolgsfaktoren beziehen, werden entweder von ihrer Bedeutung her von den Unternehmen eher am Schluß eingeordnet oder fehlen vollständig, wie zum Beispiel der RoI, eine für die strategische Unternehmensflihrung zentral wichtige Kennzahl. Das Ergebnis der Studie von Coenenberg, Günther fallt etwas schmeichelhafter aus. Bestätigt wird jedoch auch hier die starke Rechnungswesenorientierung und der eher kurzfristige Charakter der Planung. Auffallig ist in diesem Zusammenhang die primäre Orientierung am Betriebsergebnis, die sich übereinstimmend aus bei den Studien ergab. Zusätzlich tant aber besonders auf, daß die in der Literatur stark hervorgehobenen Instrumente der strategischen Planung wie der Produktlebenszyklus, die Erfahrungskurve oder die PIMSReports maximal von einem Viertel, zum Teil jedoch auch von einem weit darunter liegenden Teil der befragten Unternehmen eingesetzt werden. Selbst die Portfoliotechnik hat bis auf die zwei "klassischen Portfolios" der Boston Consulting Group und von McKinsey keine weite Verbreitung gefunden. Noch weniger haben allerdings die weiteren Elemente des strategischen Managements wie Anreizsysteme, strategische Kontrolle oder auch Frühautklärungssysteme ihren Weg in die praktische Umsetzung gefunden. 15 Für den Bereich der strategischen Kontrolle wird das Ergebnis der Studie von Coenenberg, Günther durch die Untersuchung von Schreyögg, Steinmann nachhaltig gestützt. Von einer strategischen Kontrolle als eigenständige und der strategischen Planung gleichgestellte Steuerungsfunktion ist in der Praxis weit und breit nichts zu finden. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des strategischen Wissens im Bereich der Unternehmensflihrung, wie sie in der Literatur dargestellt wird, scheint die Entwicklung in der Praxis eher in einer rechnungswesen orientierten "Langfristplanung" der 60er Jahre stecken geblieben zu sein, als sich mit großen Schritten den angebotenen Konzepten der strategischen Unternehmensführung anzunähern. Zu einer ähnlichen Wertung kommen auch Coenenberg, Günther in ihrer Studie: "Die Forderung nach einem strategischen Management... ist in den Unternehmen noch nicht weit fortgeschritten." .16 15 Vgl. Coenenberg, Günther, 1990, S. 468. 16 Coenenberg, Günther, 1990, S. 463.
28
A. Einleitung
Diese Ergebnisse müssen zu dem Schluß führen, daß zwischen dem nahezu einheitlich vorgetragenen Anspruch, eine angewandte strategische Unternehmensflihrungslehre zu betreiben, und der Umsetzung dieser angewandten Führungskonzeptionen in der Praxis eine große Lücke klafft. Damit stellt sich natürlich die Frage, wieso es zu einer solchen Lücke kommt. Aus der empirischen Untersuchung von Coenenberg, Günther ergab sich, daß Unternehmen in der Praxis, wenn überhaupt, dann vor allem die einfachen und leicht überschaubaren Modelle aus der Literatur übernehmen. Dies führt zu einer ersten möglichen Antwort. Denkbar wäre, daß die Mehrzahl der in der Literatur angebotenen Instrumente und Modelle für die Praktiker zu allgemein formuliert oder zu komplex sind. 17 Kreikebaum vermutet dagegen aufgrund der Erkenntnisse aus einer eigenen empirischen Untersuchung, daß die geringe Anwendungsrelevanz der wissenschaftlichen Führungskonzeptionen auf Schwierigkeiten bei der Umsetzung des strategischen Wissens in der Praxis zurückzuführen ist. Diese Schwierigkeiten resultieren aus seiner Sicht hauptsächlich aus Akzeptanzproblemen. 18 Eine weitere mögliche Antwort auf diese Frage sehen Coenenberg, Günther in der ungesicherten theoretischen Basis vieler Instrumente und Handlungsempfehlungen. 19 Genau an diesem Argument setzen die weiteren Überlegungen in dieser Untersuchung an. Während die von Coenenberg, Günther vorgebrachte Kritik wohl eher als direkte Detailkritik an einzelnen Instrumenten und Handlungsempfehlungen gedacht ist, geht die Kritik in dieser Untersuchung im Sinne einer Fundamentalkritik über einen solchen Standpunkt hinaus. Es wird hier davon ausgegangen, daß eine Unternehmensführungslehre, die sich selbst als angewandte Unternehmensflihrungslehre versteht, ihren theoretischen Gehalt auch in Form der praktischen Umsetzbarkeit und der tatsächlich vollzogenen Umsetzung nachweisen muß. Gelingt dies nicht, kann u. E. mit Recht an eben diesem theoretischen Gehalt gezweifelt werden. Diese Zweifel betreffen nun jedoch weniger den theoretischen Gehalt einzelner Instrumente oder Handlungsempfehlungen als vielmehr die Art von Gestaltungsvorschlägen, die gemacht werden sowie deren tatsächliche praktische Verwendbarkeit. Es wird also bezweifelt, daß sich weite Teile der Unternehmensflihrungsliteratur an den in der Praxis wirklich existierenden Problemen orientieren. Das Problem, das dieser Untersuchung somit zugrunde liegt, ist die Feststellung eines unzureichenden theoretischen Fundaments der strategischen Unternehmensführung. Die Konsequenz dieser mangelnden theoretischen Fundie17 Vgl. Coenenberg, Günther, 1990, S. 465. 18 Vgl. Kreikebaum, 1983, S. 103 ff. 19 Vgl. Coenenberg, Günther, 1990, S. 464.
11. Zielsetzung der Untersuchung
29
rung kommt in einer mangelnden Anwendbarkeit der Gestaltungsempfehlungen der strategischen Unternehmensführungslehre in der Praxis zum Ausdruck.
11. Zielsetzung der Untersuchung Die Zielsetzung dieser Untersuchung kann aufgrund des festgestellten mangelnden theoretischen Fundaments der strategischen Unternehmensführung offensichtlich nicht darin liegen, der Mode zu folgen und einfach eine weitere "strategische Facette" zur Flut der Veröffentlichungen beizutragen. Vielmehr muß offensichtlich der Versuch unternommen werden, über die bislang gängigen Vorstellungen von strategischer Untemehmensführung hinauszuschauen, wenn möglich sogar die Grundlage zu skizzieren, auf deren Basis eine gewisse Ordnung in die "strategische Mode" gebracht werden kann. Dies scheint allerdings nur mittels theoretischer Überlegungen möglich zu sein. Genau diese sind in der anschwellenden Literatur jedoch stark in der Minderzahl. Ein Indiz dafür, daß theoretische Überlegungen nicht im wissenschaftlichen "mainstream" des Themas liegen.2 0 Eigentlich Grund genug die Finger davon zu lassen, wäre da nicht die aufgezeigte Lücke zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch einer angewandten strategischen Unternehmensführungslehre auf der einen Seite und der mäßigen Übernahme der wissenschaftlichen Gestaltungsempfehlungen in der Praxis auf der anderen Seite. Ziel dieser Untersuchung ist deshalb die Entwicklung einer Reihe von grundlegenden theoretischen "Bausteinen", die einerseits zu einer besseren Einordnung der bestehenden strategischen Steuerungsempfehlungen dienen können, die sich andererseits in einem weiteren, allerdings über diese Untersuchung hinausgehenden Schritt, zur Ableitung theoretisch fundierter und praxisbezogener Steuerungsaussagen eignen. Damit wird schon an dieser Stelle deutlich, daß der Leser dieser Untersuchung nicht mit unmittelbar praktisch anwendbaren Handlungsempfehlungen rechnen kann. Vielmehr soll ein theoretischer Rahmen für eine angewandte strategische Steuerung entwickelt werden. Nicht die Ergänzung der vorhandenen Denkstrukturen zur strategischen Steuerung, sondern die Erschütterung dieser eingefahrenen Denkstrukturen anhand eines erneuerten theoretisch fundierten Beschreibungsrahmens der strategischen Steuerung ist somit das Ziel dieser Untersuchung. Insofern kann diese Untersuchung unter dem Begriff der Grundlagenforschung eingeordnet werden.
20 Vgl. hierzu auch schon Scholz, 1986, S. 635.
30
A. Einleitung
III. Gang der Untersuchung Nachdem die Problemstellung und die Zielsetzung dieser Untersuchung bereits herausgearbeitet wurden, beschäftigt sich das Kapitel B mit dem inhaltlichen Bezugsrahmen einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen. Es wird zunächst die Entwicklung des strategischen Wissens dargestellt. Anschließend wird untersucht, durch welche wesentlichen Merkmale sich strategische Steuerungsprobleme charakterisieren lassen. Aus der Gegenüberstellung dieser Merkmale einerseits und der Entwicklung des strategischen Wissens in weiten Teilen der Literatur andererseits, wird aufgezeigt, wieso von einer ungenügenden theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung ausgegangen werden muß. Diese inhaltliche Konkretisierung der Lücke zwischen angewandter Unternehmensfllhrungslehre und praktischen Problemen führt schließlich zur Ableitung von Kernfragen, die sich bei dem Versuch einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung stellen. Kapitel C liefert den wissenschaftsmethodischen Bezugsrahmen dieser Untersuchung. Hierbei wird das Augenmerk auf zwei Themen gerichtet: Zum einen wird die Bedeutung und die Möglichkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise als Grundlage der theoretischen Fundierung geklärt, zum anderen wird nach einem geeigneten wissenschaftsmethodischen Rahmen Ausschau gehalten. Während sich eine interdisziplinäre Vorgehensweise, insbesondere eine naturwissenschaftlich orientierte als vielversprechend herauskristallisiert, kommt es in diesem Kapitel nur zu einer vorläufigen Festlegung auf einen wissenschaftsmethodischen Rahmen. In Kapitel D geht es um die Betrachtung einiger deutschsprachiger Führungskonzeptionen. Dabei handelt es sich um strategische Führungskonzeptionen, die inhaltlich nicht in Bereichen anzusiedeln sind, in denen sich der breite Strom der Literatur bewegt. Dafur handelt es sich jedoch um Ansätze, die den bis dahin erarbeiteten Kriterien für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung genügen: Es handelt sich um interdisziplinäre, überwiegend an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte Ansätze. Zudem stellen sie die aus Sicht dieser Untersuchung wesentlichen Merkmale strategischer Steuerungsprobleme in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Damit bieten diese Ansätze sowohl einen sinnvollen Ausgangspunkt für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung als auch einen "Nullpunkt" fur die spätere Einordnung der theoretischen Fundierungsvorschläge dieser Untersuchung. Die Betrachtung der verschiedenen Führungskonzeptionen in Kapitel 0 zeigt zwar die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse fur eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung. Sie zeigt aber auch, daß es in diesen Führungskonzeptionen offensichtlich unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung der verschiedenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gibt. Au-
III. Gang der Untersuchung
31
ßerdem werden dieselben naturwissenschaftlichen Inhalte von verschiedenen Autoren unterschiedlich interpretiert und damit auch unterschiedlich auf die Fragen der strategischen Unternehmensführung übertragen. Deshalb erscheint es wesentlich eine ausführliche Untersuchung der naturwissenschaftlichen Inhalte vorzunehmen, von denen aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu Steuerungsoder Entwicklungsfragestellungen erwartet werden kann, daß sie auch Erkenntnisse fur die Entwicklung eines theoretischen Rahmens der strategischen Steuerung liefern können. Diese Untersuchung wird in den Kapiteln E und F vorgenommen. Kapitel E dient der umfassenden Untersuchung und Darstellung der physikalischen Erkenntnisse. In Kapitel F erfolgt die Untersuchung und Darstellung der evolutionsbiologischen Erkenntnisse. Die Ergebnisse aus diesen beiden Kapiteln werden in Kapitel G zusammengefaßt und auf die Kernfragen der strategischen Steuerung bezogen. In diesen drei Kapiteln wird somit die umfassende theoretische Fundierung gelegt, auf der die spätere Entwicklung des theoretischen Steuerungsrahmens aufbaut. Da jedoch nicht von vornherein davon auszugehen ist, daß die physikalischen und evolutionsbiologischen Erkenntnisse ohne weiteres auf die strategische Steuerungsproblematik übertragen werden können, müssen vorschnelle und damit aus wissenschaftlicher Sicht bedenkliche Erkenntnisübertragungen ausgeschlossen werden. Zu diesem Zweck wird in Kapitel Hein Übertragungsrahmen entwickelt, der eine wissenschaftstheoretisch korrekte Übertragungsform der Erkenntnisse ermöglichen soll. In Kapitel 1 wird dann auf der Basis dieses Übertragungsrahmens die konkrete Übertragung der physikalischen und evolutionsbiologischen Erkenntnisse auf die Kernfragen der strategischen Steuerung vorgenommen. In Abschnitt 1.11. werden als erkenntnistheoretische Grundlage zunächst das neue Weltbild und seine Konsequenzen für die strategische Steuerung dargestellt. Abschnitt 1.111. prüft kritisch und umfassend die Übertragungsmöglichkeiten der naturwissenschaftlichen Systemkonzeptionen zur Beschreibung des Unternehmens. Auf der Basis dieser Überprüfung wird eine neue Systemkonzeption vorgeschlagen. An diese Systemkonzeption knüpft der Abschnitt l.IV. mit einer vollkommen neuen Sichtweise der strategischen Steuerung an. Unmittelbar mit der neuen System konzeption und der veränderten Sichtweise der strategischen Steuerung sind besondere Erkenntnisschwierigkeiten verbunden, die im Abschnitt J.V. hinsichtlich ihrer Wirkung auf die strategische Steuerung untersucht werden. Zugleich werden Vorschläge zur Überwindung dieser Erkenntnisschwierigkeiten angeboten. Der Abschnitt J.VI. befaßt sich mit einer doppelten Problemstellung. Zum einen wird nochmals der in Kapitel C vorläufig festgelegte wissenschaftsmethodische Rahmen der Untersuchung aufgegriffen und vor dem Hintergrund der im Laufe der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse erneuert. In diesem Zusammenhang wird eine Erkenntnismethodik
32
A. Einleitung
vorgeschlagen, die sowohl für die weitere Entwicklung des wissenschaftlichen Fortschrittes als auch für die wissenschaftliche Transzendierung praktischer strategischer Steuerungsentscheidungen geeignet erscheint.
Einleitung
DIe ÜbertragulQ der physiloJlschen und lIIIo1u11onsbiolOgischen EfItemtnIsse ouf die s1IotegIsche S1euerung
von unternehmen
Abbildung 1: Gang der Untersuchung
Kapitel K faßt die Ergebnisse der Erkenntnisübertragung in einem theoretischen "Bausteinkasten" der strategischen Steuerung zusammen und klärt den
IJI. Gang der Untersuchung
33
Anwendungsbezug dieser theoretischen Konzeption. Darüber hinaus wird ein Ausblick auf weitere Forschungsnotwendigkeiten gegeben. Der soeben geschilderte Ablauf dieser Untersuchung wird in Abbildung I nochmals graphisch, und damit in seinen Zusammenhängen auf einen Blick erfaßbar, dargestellt.
3 Schcurer
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen I. Überblick In diesem Kapitel wird der inhaltliche Bezugsrahmen für die theoretische Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen gelegt. Hierzu werden zunächst die Entwicklung und der aktuelle Stand des strategischen Wissens untersucht. Diese Darstellung orientiert sich an der Sicht des überwiegenden Teils der Literatur, so daß damit zugleich der zur Zeit am weitesten verbreitete inhaltliche Rahmen der strategischen Untemehmensflihrung skizziert ist.
Inhaltlicher Bezugsrahmen einer theoretischen Fundlerung der strategischen Steuerung van Untemehmen
/'
~
Die Entwicklung des Wissens zur strategischen Steuerung von Untemehmen
Charakterisierung der wesentlichen Merkmale des Problems der strategischen Steuerung von Untemehmen
Die wesentlichen Merkmale des strategischen Steuerungsproblems als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung Abbildung 2: Überblick über das Kapitel B
In einem weiteren Schritt wird untersucht, welche charakteristischen Merkmale eigentlich hinter dem strategischen Steuerungsproblem stecken. Diese Merkmale werden anschließend dem bereits dargestellten inhaltlichen Rahmen
II. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung
35
der strategischen Steuerung gegenübergestellt, um auf diesem Wege näher zu klären, wieso von einer bereits in Kapitel A festgestellten mangelnden theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung auszugehen ist. Am Ende des Kapitels werden einige Fragen aufgeworfen, anhand derer im weiteren Verlauf der Untersuchung die Bausteine für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen erarbeitet werden. Damit stellen diese "Kernfragen" zugleich den inhaltlichen Bezugsrahmen für diese Untersuchung dar. Diese Vorgehensweise wird durch Abbildung 2 veranschaulicht.
11. Die Entwicklung des Wissens zur strategischen Steuerung von Unternehmen 1. Der Strategiebegriff und seine Übertragung auf die Unternehmensführung Zunächst ist zu klären, was sich hinter dem Modewort "strategisch" eigentlich verbirgt. Hierzu kann auf eine neuere Arbeit Wüthrichs zurückgegriffen werden.) Wüthrich stellt hier eine sehr umfassende und gründliche Untersuchung des Strategiebegriffes vor, so daß darauf verzichtet werden kann, diese Arbeit nochmals zu leisten. Deshalb werden im folgenden einige Ergebnisse Wüthrichs übernommen, soweit sie für diese Untersuchung von Interesse sind. Ausgangspunkt ist die etymologische Betrachtung des griechischen Strategiebegriffes. Diese Betrachtung liefert folgende charakteristischen Merkmale des Strategiebegriffes: 2 •
Strategie bezeichnet etwas Umfassendes, andere Bereiche Überlagerndes.
•
Bei strategischen Phänomenen handelt es sich um Phänomene von hoher, von übergeordneter Bedeutung.
•
Das griechische Wort beinhaltet außerdem die Verben "tun" oder "handeln".
Gälweiler faßt diese Merkmale in folgender Definition zusammen: "Kennzeichen des strategischen Denkansatzes ist die alles einbeziehende und zeitlich weit in die Zukunft hineinreichende Gesamthaftigkeit und die daraus
I Vgl. Wüthrich, 1991. 2 Vgl. Wüthrich, 1991, S. 15. 3*
36
B. InhaltlicherBezugsrahmen
resultierende, auf den gesamten Wirkungshorizont bezogene kohärente Handlungsfolge." .3 Wüthrich lokalisiert den Ursprung des Strategiebegriffes im militärischen Bereich, schreibt aber auch der Spieltheorie und der Managementlehre eine hohe Bedeutung bei der Entwicklung des strategischen Denkens zu. 4 Wichtig ist die Feststellung Wüthrichs, daß es das " ... allgemein anerkannte und klar definierte strategische Gedankengut ... "5 nicht gibt. Vielmehr entwickelt sich das strategische Wissen im Zeitablauf und in Abhängigkeit von den einzelnen Anwendungsgebieten unterschiedlich weiter. Außerdem stellt Wüthrich fest, daß es kein eigenständiges" ... streng wissenschaftlich-theoretisch abgesichertes Fundament ... " der Strategielehre gibt: "Je nach Anwendungsgebiet und historischer Situation dienen empirisch gesicherte Erkenntnisse als theoretische Basis.".6 Diese Untersuchung beschäftigt sich mit dem strategischen Denken im konkreten Anwendungsgebiet der Unternehmensflihrung. Deshalb wird die Betrachtung auf die Entwicklung des strategischen Wissens in diesem Gebiet eingeschränkt. Strategisches Wissen entwickelt sich immer in Abhängigkeit vom Kontext des Anwendungsgebietes. Um zu einem Überblick und zu einem Verständnis des aktuellen strategischen Wissens im Bereich der Unternehmensfllhrung zu kommen, muß deshalb im folgenden die Entwicklung dieses Wissens im Kontext der jeweiligen Probleme und damit auch der jeweiligen AufgabensteIlungen der Unternehmensflihrung dargestellt werden. Als Kernfunktionen der Strategischen Unternehmensfllhrung werden in der neueren Literatur vor allem zwei Funktionen gesehen: die Planung und komplementär oder kompensierend zur Planung die Kontrolle.7 Planung und Kontrolle werden als die primären Steuerungsfunktionen der strategischen Unternehmensflihrung betrachtet.8 Um diese zwei Kernfunktionen der Strategischen Unternehmensflihrung kurz darzustellen, wird im folgenden ein Abriß der Entwicklung von der Langfristplanung über die strategische Planung bis hin
3 Gälweiler, 1987, S. 70. 4 Vgl. Wüthrich, 1991, S. 17 ff. 5 Wüthrich, 1991, S. 20. 6 Beide Zitate Wüthrich, 1991, S. 20. 7 Vgl. das Vorwort zur fünften Auflage von Hahn, Taylor, 1990/ Hahn, 1990, S. 36/ Kuhn, 1990, S. 4/ Steinmann, Schreyögg, 1990, S. 120. 8 Vgl. Hasselberg, 1989, S. 319/ Steinmann, Walter, 1990, S. 340/ der gleichen Meinung sind im Grunde auch Coenenberg, Baum, 1987, S. 11, wenn sie auch strategische Planung und Kontrolle begrifflich abweichend unter strategischem Controlling zusammenfassen.
11. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung
37
zum strategischen Management gegeben. 9 Parallel zum jeweiligen Entwicklungsstand der Planung wird die zugehörige Kontrollfunktion mitbeschrieben. 2. Langfristplanung und Soll-1st-Kontrolle
Als Ausgangspunkt des strategischen Wissens in der Unternehmensführung kann die Langfristplanung betrachtet werden. Diese brachte zu Beginn der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts durch eine erstmalige Verknüpfung von Kosten- und Leistungsdenken die Möglichkeit für das Unternehmen, sich langfristig in die Zukunft auszurichten. Die Langfristplanung zeichnete sich jedoch durch eine reine Extrapolation von Vergangenheitswerten in die Zukunft aus und war auf das operative Management beschränkt. I 0 Vor dem Hintergrund der AufgabensteIlung in den 50er Jahren, die aufgrund der im zweiten Weltkrieg vorangegangenen Gütervernichtung praktisch ausschließlich in der Gewährleistung einer möglichst hohen und reibungsfreien Produktion und der anschließend problemlosen Verteilung der Erzeugnisse bestand, war eine rein vergangenheitsorientierte Extrapolation zur Lösung der Unternehmensfuhrungsprobleme durchaus adäquat. Parallel zur Langfristplanung wurde eine reine Soll-1st-Kontrolle durchgeführt. Dieser werden in der Literatur folgende Merkmale zugeschrieben. I I •
Bei dieser Form der Kontrolle handelt es sich um einen reinen Soll-IstVergleich und, in einer erweiterten Sichtweise, um eine zusätzliche Analyse der Abweichungsursachen.
•
Die Soll-1st-Kontrolle ist ausschließlich unternehmensintern orientiert.
•
Die Soll-1st-Kontrolle kümmert sich nur um quantifizierbare Größen und ist damit operativorientiert.
•
Bei der Soll-1st-Kontrolle handelt es sich um eine reine Feed-backKontrolle. Die aus der Planung vorgegebenen Soll-Werte werden nur in der letzten Phase des Führungsprozesses mit den tatsächlich erzielten Ergebnissen verglichen.
9 Vgl. Ansoff, 1981, S. 62 ff./ Hammer, 1991, S. 111 ff./ Timmermann, 1988, S. 87 ff./ Wüthrich, 1990, S. 178. 10 Vgl. Ansoff, 1981, S. 65/ Ansoff, Mc Donnell, 1990, S. 13/ eine andere Auffassung vertritt hier Schreyögg, 1984, S. 78, Fn 4. 11 Vgl. Coenenberg, Baum, 1987, S. 113/ Drucker, 1981, S. 373 ff./ Hahn, 1990, S. 651/ Hasselberg, 1989, S. 14 f./ Maune, 1980, S. 35/ Pfohl, 1988, S. 804/ Schreyögg, Steinmann, 1985, S. 392.
38
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
Diese Feed-back-Ausrichtung der reinen Soll-Ist-Kontrolle in Verbindung mit der Orientierung dieser Kontrolle an rein quantifizierbaren Soli-Größen zeigt, daß es sich bei dieser Kontrolle im Grunde um eine operative Endergebniskontrolle handelt. Eine solche Form der Kontrolle entsprach auch weitgehend den Erfordernissen, die sich aus einer Überwachung der Langfristplanung ergaben.
3. Strategische Planung und Kontrolle strategischer Pläne Mit dem Erreichen einer zunehmenden Marktsättigung wandelte sich in den 60er Jahren der Verkäufermarkt in einen Käufermarkt. Damit änderten sich auch die dringendsten Probleme der Unternehmensflihrung. Nicht mehr die Gewährleistung einer möglichst hohen und reibungs freien Produktion, sondern die Sicherung des Absatzes der produzierten Erzeugnisse rückte in den Vordergrund. Damit wurde ein neues Instrumentarium benötigt, mit dem die Unternehmung in die Lage versetzt wird, alternative strategische Möglichkeiten zu finden und zukünftige Erfolgspotentiale zu sichern. "Die Extrapolation von der Gegenwart in die Zukunft wich zunehmend einer Interpolation von der Zukunft in die Gegenwart". 12 Dieses neue Instrumentarium war die strategische Planung. In der Literatur zur strategischen Planung wurden insbesondere in den siebziger Jahren neue Prognose-, Analyse- und Strategieformulierungstechniken entwickelt. Eine große Rolle spielte in diesem Zusammenhang vor allem die Entwicklung der Portfoliotechnik. 13 Bevor im folgenden eine inhaltliche Charakterisierung der strategischen Planung vorgenommen wird, muß darauf hingewiesen werden, daß in der Literatur eine einheitliche Begriffsabgrenzung zwischen strategischer Planung und strategischem Management nicht vorhanden ist. 14 Die Trennung von strategischer Planung und strategischem Management im Rahmen dieser Untersuchung folgt hauptsächlich den Vorstellungen Ansoffs, obwohl auch diese in der Literatur nicht unumstritten sind. 15 Vor allem bei Autoren mit einem weit verstandenen
12 Zettelmeyer, 1984, S. 24, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 13 Vgl. Dunst, 1979/ Lange, 1981/ eine Übersicht über die Techniken und Instrumente findet sich bei Wild, 1982, S. 148 ff., Wüthrich, 1991, S. 45. 14 Vgl. Lehnert, 1983, S. 27 ff.! Rabl, 1990, S. 9 ff. und insbesondere die Übersicht aufS. 12 ff. 15 Vgl. hierzu Kreikebaum, 1989, S. 27.
11. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung
39
strategischen Planungsbegriff verschwimmen oftmals die Grenzen zwischen strategischer Planung und strategischem Management. Um sich trotzdem einer Definition des strategischen Planungsbegriffes anzunähern, soll versucht werden, Merkmale der strategischen Planung zu suchen, über die weitgehende Einigkeit in der Literatur herrscht. Folgende Merkmale sind hierbei zu finden: 16 •
Es handelt sich um einen systematischen und formalisierten Planungsprozeß.
•
Ihr liegt eine das gesamte Unternehmen umfassende Betrachtung zugrunde.
•
Es handelt sich um eine wenig differenzierende Planung, die langfristig wirksam und von hoher Bedeutung für das Unternehmen ist.
•
Sie ist auf der Ebene der obersten Unternehmensführung angesiedelt.
•
Sie weist eine starke Umwelt- und Wettbewerbsbezogenheit auf.
•
Ihre Aufgabe besteht in der Sicherung des Bestandes der Unternehmung und in der Sicherung der Unternehmenseffektivität.
•
Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit steht die Suche nach geeigneten ProduktMarkt-Kombinationen, um zukünftige Erfolgspotentiale zu sichern.
•
Ihre Steuerungsgrößen sind damit die Erfolgspotentiale.
Aus diesen Merkmalen läßt sich stellvertretend für andere ähnliche Definitionen folgende Definition der strategischen Planung ableiten: "Unter strategischer Unternehmensplanung versteht man das systematische Herausfinden und Entscheiden über die Arbeitsgebiete (Produkte, Leistungen und Märkte) und über die Marktpositionen, die die besten Voraussetzungen für eine langfristige Sicherung der Überlebensfähigkeit des Unternehmens bieten.".17 Strategisches Arbeiten wird somit als bewußter Einsatz von vorhandenen oder potentiellen Stärken zum Aufbau oder zur Sicherung von zukünftigen Erfolgspotentialen verstanden. 18 Betont wird somit vor allem die Sicherung der
16 Vgl. Arbeitskreis "Langfristige Unternehmensplanung" der SchmalenbachGesellschaft, 1981, S. 23/ Gälweiler, 1981, S. 84/ Gälweiler, 1990, S. 209 f./ Hammer, 1991, S. 115/ Kirsch, 1990, S. 276/ Lange, 1981, S. 12/ Steinmann, Schreyögg, 1990, S. 129 f./ Schreyögg, 1984, S. 84/ Winterhalter, 1981, S. 43 ff./ Zahn, 1989, Sp. 1907 ff. 17 Gälweiler, 1981, S. 84. 18 Vgl. Arbeitskreis "Langfristige Unternehmensplanung" der Schmalenbach-Gesellschaft, 1977, S. 23/ Gälweiler, 1987, S. 73/ Kreikebaum, 1989, S. 25/ Porter, 1987/ Porter, 1989/ Pümpin, 1986, S. 31/ Zahn, 1981, S. 145.
40
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
Überlebensfiihigkeit der Unternehmung durch die Gestaltung der ökonomischen Beziehungen zwischen Unternehmung und Umwelt. 19 Eine so verstandene Sicht der strategischen Planung hat in der Literatur zu Kritik geführt. Folgende Argumente werden vorgebracht: 20 •
Es werden nur die ökonomischen und technischen Variablen des strategischen Problems berücksichtigt.
•
Der Aufbau einer internen strategischen Leistungsfiihigkeit wird vernachlässigt.
•
Die Zusammenhänge zwischen Strategie und Struktur bleiben unberücksichtigt.
•
Der Umsetzung und Kontrolle der formulierten Strategien werden zu wenig Beachtung geschenkt.
Aus dieser Kritik wurden von den einzelnen Autoren unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Ein Teil der Autoren erweiterte den Begriff der strategischen Planung durch die Zuschreibung zusätzlicher Inhalte als weitere Aufgabengebiete der strategischen Planung.2 1 So sprechen zum Beispiel Kirsch, Esser, Gabele von drei Generationen der strategischen Planung, wobei die Unterschiede zwischen der strategischen Planung der dritten Generation und dem strategischen Management fließend werden. 22 Andere Autoren schlugen vor, die "erweiterte Form" der strategischen Planung als strategisches Management zu bezeichnen.2 3 In dieser Untersuchung wird diesem Vorschlag gefolgt. Weitere Unterschiede im Verständnis der strategischen Planung werden auch deutlich, wenn die unterschiedlichen Vorschläge zur Einbeziehung unterschiedlicher Phasen in den strategischen Planungsprozeß betrachtet werden. Folgende "Kernphasen" der strategischen Planung werden in der Literatur genannt: 24 •
Strategische Analyse Im Rahmen der strategischen Analyse erfolgt eine Umwelt-und eine Unternehmensanalyse zur Ermittlung von Chancen und Risiken bzw. Stärken und Schwächen des Unternehmens. 19 Vgl. 20 Vgl. 21 Vgl. 22 Vgl. 23 Vgl. 24 Vgl.
Ansoff, Declerck, Hayes, 1986, S. 725. Ansoff, Declerck, Hayes, 1986/ Kirsch. Esser. Gabele, 1979, S. 352 f. Hahn, 1990, S. 5/ Kreikebaum, 1989, S. 27. Kirsch, Esser, Gabele, 1979. S. 343 ff. vor allem den bahnbrechenden Aufsatz von Ansoff, Declerck, Hayes, 1986. Steinmann, Schreyögg, 1990, S. 133.
11. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung •
41
Strategische Wahl Die Informationen aus der strategischen Analyse ruh ren zu verschiedenen denkbaren strategischen Optionen. Im Rahmen der strategischen Wahl kommt es zu einer Formulierung konkreter Strategien und zu einer Bewertung und Auswahl von Strategien rur das Unternehmen.
•
Strategische Programme Auf der Basis der ausgewählten Strategien werden strategische Programme als Orientierungspunkte fur den operativen Planungsbereich formuliert.
Wie aus der Aufzählung dieser Phasen deutlich wird, handelt es sich hierbei nur um Tätigkeiten, die dem Bereich der Strategieformulierung zuzurechnen sind. Es gibt jedoch auch Autoren, die eine weitere Auffassung der strategischen Planung vertreten und deshalb zusätzlich zu den Phasen der Strategieformulierung die vorgelagerten Zielbildungsprozesse und die nachgelagerten Phasen der Implementation und Kontrolle auch als Bestandteile der strategischen Planung sehen.25 Parallel zur Planungsfunktion, die vor dem Hintergrund von sich im Zeitablauf wandelnden AufgabensteIlungen der Untemehmensfuhrung sukzessive eine Entwicklung von der Langfristplanung zur strategischen Planung vollzogen hat, können auch die Veränderungen der Kontrollfunktion gesehen werden. Dies wird unmittelbar aus der engen Verknüpfung von Planung und Kontrolle verständlich, die so prägnant von Wild folgendermaßen zum Ausdruck gebracht wird: "Planung ohne Kontrolle ist ... sinnlos, Kontrolle ohne Planung unmöglich".26 Aus diesem Zitat wird deutlich, daß sich Planung und Kontrolle gegenseitig bedingen. Beide Führungsfunktionen entfalten ihre gemeinsame Steuerungswirkung nur in einer sinnvollen Ergänzung zueinander. Diese komplementäre Ergänzung ist aber nur dann gegeben, wenn sich die Kontrollfunktion analog zur Planungsfunktion weiterentwickelt. Als Beleg hierfür kann die Kritik gewertet werden, die an der reinen Soll-IstKontrolle in der Literatur aufkam, als sich die Planung von der Langfristplanung zur strategischen Planung weiterentwickelt hatte. Die Folge dieser Fortschritte der Planungsfunktion war, daß die bisherige Kontrolle nicht mehr zur Wahrung einer wirksamen Überwachung der strategischen Pläne in der Lage war. Deshalb wurde von einer Reihe von Autoren eine adäquate Weiterentwicklung der Kontrolle gefordert. Die veränderten Merkmale dieser weiterent-
25 Vgl. Hammer, 1991, S. 164 ff./ Schreyögg, 1984, S. 85/ Kirsch, 1990, S. 276. 26 Wild, 1982, S. 44, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen.
42
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
wickelten Kontrolle sollen hier unter dem Begriff der "Kontrolle strategischer Pläne" wiederum stichwortartig aufgezeigt werden:27 •
Die Kontrolle strategischer Pläne muß sowohl die internen als auch die externen Erfolgsfaktoren der Unternehmung überwachen.
•
Die Kontrolle strategischer Pläne muß neben quantifizierbaren Größen auch qualitative Größen überwachen.
•
Die Kontrolle strategischer Pläne muß ihre reine Feed-back-Ausrichtung zugunsten einer Feed-forward-Ausrichtung aufgeben.
•
Der Kontrollbereich der Kontrolle strategischer Pläne muß von der reinen Ergebniskontrolle wegkommen und zusätzlich eine Kontrolle der PIanprämissen sowie eine Planfortschrittskontrolle vornehmen.
•
Die Kontrolle strategischer Pläne stellt nicht mehr nur die letzte Phase im Führungsprozeß dar, sondern sie muß im Rahmen eines rekursiven Prozesses auch Einfluß auf die Änderung der zugrundeliegenden Planung nehmen können.
Anhand der Beschreibung dieser Merkmale wird deutlich, daß sich der Charakter der Kontrolle strategischer Pläne stark von einer eher operativ und reaktiv ausgerichteten Endergebniskontrolle hin zu einer Feed-forward-Kontrolle und damit zu einem "... handlungs- bzw. eingriffsorientierten Führungsinstrument ... "28 entwickelt hat. 29
4. Strategisches Management Wie bereits aus den Ausflihrungen zur Begriffsabgrenzung der strategischen Planung deutlich wird, gibt es bei einem Teil der Autoren beinahe fließende Übergänge zwischen strategischer Planung und strategischem Management. Hinzu kommt, daß in der deutschsprachigen Literatur dieselben Inhalte unter unterschiedlichen Begriffen diskutiert werden. Es finden die Begriffe strategische Unternehmensflihrung30 , Unternehmenspolitik 31 , strategische Unternehmensplanung 32 und strategisches Management33 Verwendung. Noch schwieri27 Vgl. hierzu Gälweiler, 1981a, S. 385 ff./ Horovitz, 1979, S. 5 ff./ Köhler, 1976, S. 310/ Munari, Naumann, 1984, S. 377. 28 Siegwart, Menzl, 1978, S.114. 29 Vgl. auch die Kontrollauffassung von Winterhalter, 1981, S. 8. 30 VgI. Hahn, 1990, S. 31 ff./ Hinterhuber, 1990, S. 66 ff. 31 Vgl. Kirsch, 1990/ Ulrich, 1978. 32 Vgl. Kreikebaum, 1990, S. 26. 33 Vgl. Kirsch, 1990, S. 249 ff.
11. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung
43
ger wird eine saubere Begriffsabgrenzung dadurch, daß ein Teil der oben genannten Autoren die Begriffe synomym verwendet. Bei der Suche nach einer möglichen Abgrenzung des strategischen Managementbegriffes kann am besten an der bereits vorgetragenen Kritik der strategischen Planung angeknüpft werden.
Abbildung 3: Die Dimensionen des strategischen Problems nach Ansoff und Hayes
Diese Kritik ist vor allem vor dem Hintergrund zu sehen, daß sich fur die Unternehmen ganz neue und bislang unbekannte Anforderungen aus der Umwelt ergaben. Auslöser fur diese neuen Anforderungen war der gesellschaftliche Wertewandel, der sich Ende der 60er Jahre vollzog, sowie die politischen und die damit verbundenen wirtschaftlichen Diskontinuitäten, die von der Ölkrise der frühen 70er Jahre verursacht wurden. Zusätzlich ergaben Untersuchungen, daß Zusammenhänge zwischen der Strategie und Struktur bzw. zwischen Strategie, Struktur und anderen Variablen wie Kultur oder Verhalten der Organisationsmitglieder existent sind. 34
34 VgI. die Untersuchungen von Chandler, 1962 und Rumelt, 1974 sowie folgende Quellen: Bea, Dichtl, Schweitzer, 1991, S. 169 ff./ Kieser, Kubicek, 1983, S. 363 ff.
44
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
Mit der Einbeziehung dieser neu erkannten Problemfelder in die Betrachtung und mit der stärkeren Ausrichtung des Managementinstrumentariums an den zunehmend auftretenden Umweltdiskontinuitäten schlugen Ansoff, Declerck, Hayes 1976 vor, vom Begriff der strategischen Planung zum Begriff des strategischen Managements überzugehen.3 5 Damit stellt das strategische Management eine Weiterentwicklung der strategischen Planung dar, indem es zusätzliche, von der strategischen Planung vernachlässigte Dimensionen des strategischen Problems betrachtet. Die Dimensionen des strategischen Problems sind in Abbildung 3 zu sehen.36 Die grundlegende Abgrenzung in der folgenden Tabelle stammt auch hier von Ansoff und Hayes: 37 Tabelle I
Abgrenzung von strategischer Planung und strategischem Management Strategische Planung
Strategisches Management
Es werden die externen Beziehungen des Unternehmens betont.
Neben den externen Beziehungen spielen auch der Aufbau von internen Leistungspotentialen und die Gestaltung und Änderung der Organisation eine wichtige Rolle.
Die Strategieformulierung steht im Mittelpunkt.
Neben der Strategieformulierung werden zusätzlich die Implementation und die Kontrolle der Strategie mit in die Betrachtung einbezogen.
Es finden vor allem die technologischen, ökonomischen und informatorischen Aspekte des Problems Berücksichtigung.
Zusätzlich zu den technologischen, ökonomischen und informatorischen Fakten werden auch die sozialen und politischen Faktoren berücksichtigt.
Der Planungsablauf ist oftmals an einen starren und zyklischen Planungskalender gebunden.
Es handelt sich eher um einen dauerhaften Prozeß des "planned-Iearning".
Es werden eher harte, quantitative Informationen verarbeitet.
Es werden neben harten Informationen auch schwache Signale und qualitative Informationen verarbeitet. Dies dient vor allem der Antizipation von Diskontinuitäten.
35 Vgl. Ansoff, Declerck, Hayes, 1986, S. 719 ff. 36 Ansoff, Hayes, 1976, S. 2. 37 Vgl. Ansoff, Hayes, 1976, S. 2/ Ansotf, Declerck, Hayes, 1986/ Ansoff, 1981a, S. 260 ff.
11. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung
45
Diese erste Abgrenzung von Ansoff und Hayes zeigt das strategische Management als eine gegenüber der strategischen Planung deutlich erweiterte Betrachtungsweise des strategischen Problems. "... we recognized that, within strategie management the rational process of planning is only a component of a much more complex socio-dynamic process which brings about strategie change.")8 Strategisches Management wird somit von Ansoff und Hayes durch die zusätzliche Einbeziehung von gesellschaftlichen, politischen und sozialen Fragestellungen multidisziplinär definiert. Es soll durch eine strategische Ausrichtung des gesamten Unternehmens die Flexibilität erhöhen, um auch strategische Diskontinuitäten handhaben zu können. Es wird aber auch deutlich, daß die strategische Planung zwar nur noch als ein Teil des strategischen Managements gesehen wird, ihr aber trotzdem im Rahmen des strategischen Managements eine zentrale Bedeutung zukommt. 39 Mit der Entwicklung von der strategischen Planung zum strategischen Management und dem damit verbundenen wachsenden Bewußtsein wechselseitiger Verknüpfung der unterschiedlichen Führungsfunktionen kommt auch der Kontrolle, jetzt als "strategische Kontrolle" bezeichnet, eine neue Rolle im Managementprozeß zu. Verstärkt wird diese Sichtweise zusätzlich durch eine neue Betrachtungsweise der strategischen Planung im Rahmen des strategischen Managements. Die ältere Managementlehre ging noch davon aus, daß die zentrale Führungsfunktion die Planung ist, die alle wesentlichen Probleme der betrieblichen Steuerung vorausschauend erfassen und im Sinne einer stimmigen Gesamtordnung lösen kann. Damit wird die Planung zum Ausgangspunkt der Unternehmensftihrung. Alle anderen Führungsfunktionen bekommen einen gegenüber der Planung nachrangigen Charakter und sind nur auf die Planerflillung ausgerichtet. 40 Diese zentrale Funktion der Planung läßt sich aber nur dann aufrechterhalten, wenn eine gute Prognostizierbarkeit der internen und externen Umweltentwicklungen vorliegt oder wenn' diese Umweltentwicklungen von der Unternehmung beherrscht werden können und wenn nur eine geringe Komplexität des Entscheidungsfeldes vorliegt. 41 Gerade im Rahmen der strategischen Planung steht der Entscheider jedoch vor sehr komplexen, weit in die Zukunft reichenden und mit hoher Prognoseunsicherheit belasteten Entscheidungssituationen. Dadurch wird Planung zu
38 Ansoff, Declerck, Hayes, 1986, S. 755. 39 Vgl. zu dieser Auffassung auch Kirsch, Trux, 1989, S. 1926/ Zahn, 1989, Sp. 1905. 40 Vgl. Walter, 1989, S. 8. 41 Vgl. Schreyögg, Steinmann, 1985, S. 394.
46
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
einem selektiven Akt zur Schaffung handhabbarer Entscheidungsfelder durch eine künstliche Vernichtung von Umweltambiguität. 42 Durch diese veränderte Sichtweise der Planung kommt auch der strategischen Kontrolle eine neue, eigenständige Rolle im Rahmen eines strategischen Managements zu. "Während die Planung die Ambiguität durch Selektion auf ein bearbeitbares Maß reduziert, wird das damit verbundene Selektionsrisiko durch Kontrolle kompensiert.".43 Erst im Rahmen des strategischen Managements kommt der strategischen Kontrolle durch diese Kompensationsfunktion eine, neben der strategischen Planung gleichberechtigt stehende, Steuerungsfunktion zu. 44 Bereits anhand dieser kurzen Darstellung der Entwicklung der Kontrollfunktion ist klar geworden, daß über die Abgrenzung von Ansoff und Hayes hinaus andere Autoren dem strategischen Management noch umfassendere Aufgaben zuschreiben. 45 Als Beispiel für ein sehr umfassendes Verständnis von strategischem Management kann die Konzeption von Hahn angeftihrt werden. Hahn sieht neben der strategischen Planung folgende Aufgabenkomplexe eines strategischen Managements: 46 •
Festlegung der Unternehmensphilosophie
•
Durchführung der generellen Zielplanung
•
Planung von Organisations-, Rechtsform- und Rechtsstruktur
•
Planung des Führungssystems
•
Implementation und Kontrolle der Strategie
•
Gestaltung der Unternehmenskultur
Diese Aufgabenkomplexe des strategischen Managements faßt Hahn in der Abbildung auf der folgenden Seite zusammen: 47
42 Vgl. Schreyögg, Steinmann, 1985,394 ff. 43 Hasselberg, 1989, S. 47/ die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 44 Vgl. die ausführliche Diskussion dieser strategischen Kontrollkonzeption in Abschnitt J.IV.2.c) 45 Vgl. Bea, Haas, 1995, Einführung, S. VIII/ Herrhausen, 1988, S. 65 ff./ Hinterhuber, 1989, Vorwort! Scholz, 1987, S. 6 f./ Steinmann, Schreyögg, 1990, S. 133 ff./ Tichy, Fombrun, Devanna, 1982, S. 48. 46 Vgl. Hahn, 1990, S. 36 ff. 47 Hahn, Taylor, 1990, Vorwort.
II. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung Unternehmung
Umwelt
,
,
I
:
Analysen-Prognosen Frühwaminfonnationen
I:,
Szenarien
,
I
Unternehmrgskulrur
Stärkenl Schwlichen
Chancen! Risiken
Unternehmungs-
------------- r-- philosophie
I:
,:
'-------------1::-------------.)
, (Koordination, ,,/ Integration) .-------
!
,/
\
\\\
I
I
Implementierung
-+
\ Kontrolle
1 . .",. ." 1.
Willens- ---- Wenhaltungen---' Willensbildungsbildungszentren
zentren
(z.B. Auf-
Träger
(z.B. Vorstand)
---
Vision
Unternehmungspolitische Zielel Generelle Unternehmungsziele
SteuerunW.
~------------
-----------
-
I
::~~:idunw
Strategis~he Führung {------
sichtsrat, Hauptversammlung)
47
Leitbild
Geschlftsfeldstrategie Funktionsbe-
reichsstr8tegie
1-.
Regionalstrategie
Führungssystem
rnüFo=~~=stem ~
Anreizsystcm
.. U-n-~;;e~~--" mungsund Führungsgrundsätze
Organisation RechtsformI Rechtsstrukrur
'--_ _ _ _ _ Führungsverhllten _ _ _ _....J
Prozeß
Gegenstände
Abbildung 4: Strategisches Management nach Hahn
Typisch flir viele modeme Ansätze des strategischen Managements ist die verstärkte Betonung eines "strategie fit". Dahinter steckt der Gedanke, im Rahmen des strategischen Managements müsse ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen, auf das Unternehmen wirkenden Eintlußfaktoren geschaffen werden. Stellvertretend für diese "Fit-Konzeptionen" stehen die Vorstellungen von Hax, Majluf. Nach Hax, Majluf hat das strategische Management die Aufgabe, die Administrationssysteme, Struktur und Kultur in einem strategischen und operationalen Modus zu integrieren. 48 Unter den Administrationssystemen wird das Planungssystem, das Führungskontrollsystem, das Motivations- und Belohnungssystem .und das Kommunikations- und Informationssystem verstanden. Die Integration soll so erfolgen, daß ein "strategischer Fit" zwischen diesen Schlüsseldimensionen'der Führung entsteht. Diese Vorstellung kommt in der nächsten Abbildung zum Ausdruck: 49 48 Vgl. Hax, Majluf, 1988, S. 94. 49 Hax, Majluf, 1988, S. 94.
48
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
Führungskontrollsystem
Planungssystem
~
/'
/'
~
I Organisations-I struktur
Kommunikationsund Informationssystem
Strategische und operationale Modi
Motivationsund Belohnungssystem
Schaffung eines günstigen Klimas ftIr: - die Erreichung der Unternehmensziele; - die Befriedigung der individuellen
i_ss~e
r -___________ Be_d_rum __
/
Die menschliche Seite - Individuen - Gruppen Die Unternehmenskultur
Abbildung 5: Strategisches Management nach Hax und Majluf
Auch der bekannte 7-S-Ansatz von McKinsey ist unter diese "FitKonzeptionen" einzuordnen. Nach dieser Vorstellung sind die sieben wichtigsten Führungsvariablen Struktur, Strategie, Systeme, Spezialkenntnisse, Stammpersonal, Stil und Selbstverständnis von der Untemehmensflihrung so aufeinander abzustimmen, daß ein strategischer Fit entsteht. 50 Vor allem in der neueren Literatur wird verstärkt die eng verzahnte Rolle von strategischer Planung und strategischer Kontrolle im Rahmen eines strategischen Managements diskutiert. Dies spiegelt sich auch in dem bereits in Zusammenhang mit der strategischen Kontrolle kurz skizzierten Ansatz des strategischen Managements wider, der von Steinmann zusammen mit einer Reihe von anderen Autoren vertreten wird. Bei Steinmann, Schreyögg umfaßt das 50 Eine ausführlichere Darstellung des 7-S-Ansatzes findet sich in Hax, Majlut~ 1988, S. 119 ff.! eine konkrete Anwendung des 7-S-Ansatzes bietet Rall, 1989, S. 166 ff.
II. Entwicklung des Wissens zur strategischen Unternehmenssteuerung
49
strategische Management außer den Phasen des strategischen Planungsprozesses die Phasen der Realisation und der strategischen Kontrolle. Im Rahmen der Realisation diskutieren die Autoren sehr umfassend Fragen der Implementation der strategischen Planung. 51 Die Ausfuhrungen zur strategischen Kontrolle nehmen einen besonderen Raum in dieser strategischen Managementkonzeption ein. Strategischer Planung und strategischer Kontrolle werden eine gleichrangige Bedeutung bei der Steuerung des Unternehmens zugeschrieben. 52 Bereits anhand dieser skizzenhaften Schilderung einiger Konzepte des strategischen Managements wird nochmals deutlich, daß eine einheitliche und eindeutige Definition dieses Begriffes nicht möglich ist. Es kann jetzt zwar ein Definitionsversuch fur den Begriff des strategischen Managements gemacht werden: "Das Strategische Management strebt eine integrierte Gesamtsicht der Unternehmensentwicklung an, wobei es sich nicht nur auf die eigentlichen Entwurfsaktivitäten beschränkt, sondern auch Aspekte der Kontrolle sowohl als Instrument der Durchsetzung als auch als Instrument des Lernens einbezieht".53 Dieser Versuch bleibt, wie jeder andere auch, angesichts der Vielfalt der in der Literatur vorgestellten Konzepte immer nur Stückwerk. Wichtig ist weniger eine eindeutige Begriffsdefinition des strategischen Managements, sondern die "Signalfunktion", die von diesem Begriff ausgeht. Die Verwendung des Begriffes "strategisches Management" signalisiert eine gegenüber der strategischen Planung erweiterte Denkhaltung: •
Es werden nicht nur die technischen und ökonomischen, sondern auch gesellschaftliche, politische und soziale Aspekte des strategischen Problems betrachtet.
•
Die Betrachtung des strategischen Problems beschränkt sich nicht nur auf den Bereich der Strategieformulierung. Darüber hinaus werden auch die Bereiche der generellen Zielplanung sowie der Strategieimplementation und Strategiekontrolle berücksichtigt.
•
Die gegenseitige Abstimmung und Integration der strategischen Dimensionen zu einem "strategischen Fit" wird als eine wesentliche Aufgabe eines strategischen Managements betrachtet.
Trotz dieser Ausweitung der Sichtweise, die mit dem Begriff des strategischen Managements verbunden ist, werden die strategische Planung und die strategische Kontrolle weiter als die fur die Steuerung des Unternehmens wesentlichsten Funktionen des strategischen Managements angesehen. Der An-
51 Vgl. Steinmann, Schreyögg, 1990, S. 132 ff. 52 Vgl. Steinmann, Walter, 1990, S. 340. 53 Kirsch, 1990, S. 256. 4 Scheurer
50
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
sicht Kreikebaums, der aus Gründen der unscharfen Begriffsabgrenzung den Begriff des strategischen Managements komplett ablehnt, kann hier aufgrund der angesprochenen Signalwirkung nicht gefolgt werden. 54 Mit diesen Ausfuhrungen ist der aktuelle Stand des strategischen Wissens zwar keinesfalls vollständig, aber fur ein Verständnis des strategischen Denkens im Bereich der Unternehmensfuhrung zunächst ausreichend skizziert. Außerdem orientieren sich diese Ausfuhrungen an dem zur Zeit am weitesten verbreiteten inhaltlichen Rahmen der strategischen Unternehmensfuhrung.
III. Charakterisierung der wesentlichen Merkmale des Problems der strategischen Steuerung von Unternehmen Die Gegenüberstellung des schnell wachsenden Angebotes an strategischem Wissen und der geringen Nachfrage, die von seiten der Unternehmensfuhrungspraxis vorhanden ist, läßt eine gewisse Ernüchterung aufkommen. Möglicherweise scheint es eine Divergenz zwischen den in der Literatur behandelten strategischen Aufgaben und den in der Praxis tatsächlich vorhandenen strategischen Problemstellungen zu geben. Um die Gründe fur diese Divergenz näher zu beleuchten, muß hinterfragt werden, welche tieferen Ursachen eigentlich hinter der Entwicklung der strategischen Unternehmensflihrungslehre in der Literatur stecken. Als Ausgangspunkt flir diese Entwicklung wurden in Abschnitt B.II.l die sich ändernden AufgabensteIlungen in der Praxis genannt, mit denen sich die Unternehmensflihrung jeweils auseinanderzusetzen hat. Wenn diese AufgabensteIlungen im folgenden nochmals kurz Revue passieren, wird schnell deutlich, daß sich hinter der sukzessiven Änderung der konkreten Aufgaben zwei fundamentale Ursachen verbergen, mit denen sich die Unternehmensfuhrungslehre auseinanderzusetzen hat. Mit der Identifizierung dieser Ursachen sind dann zugleich die zwei wesentlichen Merkmale des strategischen Steuerungsproblems beschrieben. 1. Klassifikation von Problemen anhand ihrer Merkmale Am Anfang war fur die praktische Unternehmensfuhrung eine reine Produktionsaufgabe in einem Verkäufermarkt zu lösen. Mit dem Wechsel zu einem Käufermarkt kam zur Produktionsaufgabe zusätzlich die Notwendigkeit hinzu, sich langfristig erfolgversprechend im Wettbewerb zu positionieren. Mit dem
54 Vgl. Kreikebaum, 1989, S. 27.
III. Charakterisierung der wesentlichen Merkmale des Problems
51
Auftauchen von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Diskontinuitäten ergab sich zusätzlich die Aufgabe, eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Faktoren, die allesamt die Unternehmensführung beeinflussen, zu berücksichtigen und möglichst ideal flir das Unternehmen aufeinander abzustimmen. Um genauer zu beleuchten, welche Entwicklungen sich hinter diesen sich ständig wandelnden praktischen Steuerungsproblemen der strategischen Unternehmensflihrung verstecken, werden im folgenden unterschiedliche Problemtypen anhand ihrer verschiedenen Eigenschaften untersucht. Dies dient als Voraussetzung für die Ableitung einer Klassifikation von Problemen, mittels derer dann die strategischen Steuerungsprobleme näher charakterisiert werden können. Zur Unterteilung in Problemtypen werden in der Literatur unterschiedliche Kriterien angeführt: •
Strukturqualität eines Problems Hinsichtlich der Strukturqualität eines Problems wird nach seiner Abbildbarkeit in einem geschlossenen Entscheidungsmodell in "wohl-strukturiert" und "schlecht-strukturiert" unterschieden. Ein wohl-strukturiertes Problem muß eindeutig formulierte Ziele, einen klar abgegrenzten Alternativenraum und eindeutig zuordenbare Handlungskonsequenzen aufweisen. 55 Dies bedingt die Existenz einer operationalen Problemdefinition ohne offene Beschränkungen, die Existenz eines Algorithmus zur Problemlösung sowie eine Zuordnung der Entscheidungssituation zu einem eindeutigen Kontext durch den Problemlöser. 56
•
Komplexität eines Problems Die Komplexität eines Problems wird durch folgende Merkmale beschrieben: 57 -
Gesamtzahl der Einflußfaktoren
-
Grad der Unterschiedlichkeit der Einflußfaktoren
-
Anzahl unterschiedlicher Einflußfaktoren
-
Wechselseitige Verflechtung und Vermaschung der Einflußfaktoren
-
Dynamik der Veränderlichkeiten der Einflußfaktoren und die dabei zu Tage tretende Problemvarietät
55 Vgl. Pfohl, 1977, S.197 ff. / ähnlich Abel, 1977, S.97 ff. 56 Vgl. Kirsch, 1978, S. 36 f. 57 Vgl. Kirsch, 1978, S. 142/ Malik, 1989/ Ulrich, Probst, 1988, S.l 06 ff. 4·
52
•
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
Detenninationsgrad des Problems Der Detenninationsgrad eines Problems ist durch die bei der Problem lösung herangezogenen Informationen bestimmt. Liegen alle rur eine Problemlösung benötigten Informationen vor, handelt es sich um ein deterministisches Entscheidungsproblem. Mit zunehmender Komplexität und Unstrukturiertheit des Problems sinkt der Detenninationsgrad des Problems.
Ein Überblick über weitere Klassifikationsmöglichkeiten von Problemen geben Brander, Kompa und Peltzer. 58 Anhand der Problemeigenschaften "Strukturqualität" und "Komplexität" läßt sich eine Klassifikation der Probleme in vier Problemtypen vornehmen: 59 •
wohl-strukturierte Probleme von geringer Komplexität Diese Probleme können als voll detenninistisch angesehen werden. Hier findet kein echter Entscheidungsprozeß statt, da diese Probleme entweder mit bereits erfolgreich erprobtem Routineverhalten gelöst werden oder die Entscheidung aufgrund der vollständigen Infonnationslage zur Rechenaufgabe wird. 60
•
wohl-strukturierte Probleme von hoher Komplexität Die Lösung dieser Probleme erfolgt vennehrt durch den Einsatz mathematischer Methoden unter Anwendung von Computern, um die begrenzten menschlichen Infonnationsverarbeitungskapazitäten zu umgehen. 61
•
schlecht-strukturierte Probleme von geringer Komplexität Aufgrund der Unstrukturiertheit der Probleme können diese nicht mehr im Rahmen eines geschlossenen Entscheidungsmodells gelöst werden. Vielmehr sind hier kreative, schöpferische und gestaltende Leistungen erforderlich, um überhaupt zu einer operationalen Problemdefinition zu kommen, die die Suche und Bewertung von Handlungsalternativen zur Lösung des Problems erlaubt. 62
•
schlecht-strukturierte Probleme von hoher Komplexität Für diese Probleme gilt das gleiche wie rur schlecht-strukturierte Probleme von geringer Komplexität. Zusätzlich ist die Problemstruktur aufgrund der hohen Komplexität schwer zu überschauen. Deshalb spricht Kirsch in die58 Vgl. 59 Vgl. 60 Vgl. 61 Vgl. 62 Vgl.
Brander, Kompa, Peltzer, 1985, S. 125. Wagner, 1982, S. 38. Brauchlin, 1978, S. 25/ Reber, 1973, S. 300. Wagner, 1982, S. 37. Kirsch, 1971,201 f.
111. Charakterisierung der wesentlichen Merkmale des Problems
53
sem Zusammenhang nicht mehr von einer Problem lösung, sondern von einer IProblemhandhabung". 63 Die folgende Abbildung 6 zeigt nochmals diese Problemklassifikation nach Wagner: 64
hohe Komplexität undeterminiert
wohl strukturiert schlecht strukturiert
voll determiniert
geringe Komplexität Abbildung 6: Klassifikation von Problemen nach Wagner
2. Die Einordnung des strategischen Steuerungsproblems
Auf der Basis der erarbeiteten Problemklassifikationen können nun die die zwei wesentlichen Steuerungsfunktionen des strategischen Managements, also die strategische Planungs- und Kontrollfunktion, eingeordnet werden. Hierzu sind die Strukturqualität und die Komplexität der praktischen strategischen Steuerungsaufgaben zu untersuchen:
63 Kirsch, 1978, S. 9 f. 64 Vgl. Wagner, 1982, S. 38.
B. InhaltlicherBezugsrahmen
54
•
Strukturqualität Mit der sukzessiven Wandlung der praktischen AufgabensteIlung der strategischen Steuerung ergab sich auch eine sukzessive Veränderung der Strukturiertheit der strategischen Probleme. Es kann davon ausgegangen werden, daß mit dem Auftauchen zusätzlicher unternehmerischer Schwierigkeiten in einem Käufermarkt, aber vor allem durch zunehmende Diskontinuitäten aufgrund der immer vielfliltiger werdenden Einflußfaktoren zugleich die Strukturiertheit der praktischen strategischen Probleme immer mehr abnahm. Strategische Probleme lassen sich mittlerweile nicht mehr durch geschlossene Entscheidungsmodelle lösen, falls dies überhaupt je möglich war. Neben eindeutig formulierbaren Zielen fehlt in der Regel ein Maßstab zur objektiven Messung des Zielerreichungsgrades. Weiterhin läßt sich weder eine eindeutige Abgrenzung des Alternativenraumes vornehmen, noch kann ein genereller Problemlösungsalgorithmus angegeben werden, der mit Sicherheit zu einer Lösung des strategischen Steuerungsproblems fuhrt. Somit können strategische Steuerungsprobleme als schlecht-strukturierte Probleme typisiert werden. 65
•
Komplexität In dem Maße, in dem die Strukturiertheit der strategischen Problemstellungen im Zeitablauf abgenommen hat, ist gleichzeitig die Komplexität ständig gestiegen. Während es sich vor dem Hintergrund eines Verkäufermarktes noch um ein vergleichbar wenig komplexes Steuerungsproblem gehandelt hat, änderte sich dies bereits deutlich mit der Notwendigkeit, sich langfristige Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz im Markt zu verschaffen. Seit die Unternehmung aber immer stärker in ein Netz vielfliltiger, wechselseitig verknüpfter Einflußfaktoren eingebunden wird, ist der Komplexitätsgrad der strategischen Steuerungsprobleme nochmals entscheidend gestiegen. Hierzu trägt vor allem auch die wachsende Dynamik der voneinander abhängigen Einflußfaktoren bei, die mitunter in sprunghaften Veränderungen zum Ausdruck kommt. Damit handelt es sich bei praktischen strategischen Steuerungsproblemen unzweifelhaft um Aufgaben, die alle Merkmale eines komplexen Problems aufweisen.
Damit ergibt sich die in der Abbildung 7 dargestellte Einordnung der praktischen strategischen Steuerungsprobleme in das Klassifikationsschema von Wagner.
65 Vgl. Krieg, 1985, S. 268/ Zahn, 1981, S. 177.
III. Charakterisierung der wesentlichen Merkmale des Problems
55
Mit dieser Zuordnung ist klar geworden, daß hinter den beschriebenen Steuerungsproblemen zwei Entwicklungen mit entscheidender Bedeutung für die Unternehmensführungslehre stehen: •
Die praktischen Steuerungsprobleme der Unternehmensführung werden immer komplexer. Die Anerkennung dieser Komplexität bedeutet die Anerkennung einer Vielzahl unterschiedlicher Einflußfaktoren, die in dynamischen Beziehungen zueinander stehen und somit nur noch eine begrenzte Vorhersagbarkeit des sich ständig wandelnden Systems "Unternehmen" erlauben. Unternehmensführung ist dann jedoch nichts anderes mehr als Komplexitätsbewältigung.
•
Die Unsicherheit, in der die praktische strategische Steuerung stattfindet, wächst ständig. Wenn Komplexität eine nur noch begrenzte Vorhersehbarkeit der Systemwandlungen bedeutet, ist mit der Anerkennung von wachsender Komplexität zugleich die Anerkennung von steigendem Indeterminismus verbunden.
hohe Komplexitllt undeterminiert
Strategische Steuerungsprobleme
wohl strukturiert schlecht strukturiert
voll determiniert
geringe Komplexität
Abbildung 7: Die Einordnung der strategischen Steuerungsprobleme
56
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
Somit ist letztlich auch die Entwicklung der strategischen Untemehmensflihrungslehre in der Literatur vor dem Hintergrund dieser zwei zentralen Eintlußfaktoren zu sehen. Dies wird nochmals in der Abbildung 8 dargestellt:
Entwicklung der strategischen Unternehmensführung
Strategisches
Komplexität Abbildung 8: Die Entwicklung der Planungs- und Kontrollfunktion
Analog zu den gestiegenen Anforderungen aus der ständig zunehmenden Komplexität und Unsicherheit und den damit jeweils neu aufkommenden Steuerungsproblemen wurden auch die Untemehmensflihrungsinstrumente zur Lösung dieser Probleme kontinuierlich weiterentwickelt. Hierbei wurde jeweils von der Kritik an den alten Instrumenten ausgegangen, so daß das strategische Management zugleich einen Teil aller vorherigen Managementinstrumente beinhaltet.
IV. Wesentliche Merkmale als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
57
IV. Die wesentlichen Merkmale des strategischen Steuerungsproblems als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung 1. Prüfung der theoretischen Fundierung des strategischen Steuerungsproblems an hand seiner Merkmale Nachdem geklärt ist, daß die grundlegende Problemstellung der praktischen strategischen Unternehmensführung in der Steuerung des Unternehmens vor dem Hintergrund wachsender Komplexität und Unsicherheit zu sehen ist, kann nun genauer untersucht werden, welche theoretisch fundierten Angebote die strategische Unternehmensführungslehre den Praktikern zur Lösung ihrer Steuerungsprobleme macht. Neben der theoretischen Stichhaltigkeit der Konzepte ist auch deren Anwendungsrelevanz aus Sicht der Praktiker zu hinterfragen. In bezug auf die theoretische Fundierung der angebotenen Konzepte kann auf die Ergebnisse der Untersuchung von Wüthrich zurückgegriffen werden. Wüthrich stellt fest, daß die wissenschaftliche Forschung und die Beratungspraxis die Hauptquellen theoretischer Erkenntnisse bilden. Die gewonnenen theoretischen Erkenntnisse beziehen sich vor allem auf das Gebiet der strategischen Praxis, für die eine Vielzahl von Phasenmodellen entworfen wurde, und auf die Ausgestaltung dieser Phasen mit strategischen Techniken. 66 Diese Entwicklungen entbehren jedoch in vielen Fällen einer theoretisch haltbaren Basis; dies gilt insbesondere für die vielen Modelle, die von Unternehmensberatungsgesellschaften nicht zuletzt unter Verkaufsgesichtspunkten entwickelt wurden. Die gleiche Feststellung gilt ebenso für eine Vielzahl von Techniken, die zur Ergänzung dieser Modelle entworfen wurden. Wissenschaftstheoretisch gesehen kommt diesen Entwicklungen höchstens der Rang von Heuristiken zu. Wüthrich zitiert in diesem Zusammenhang Schreyögg, der den vorliegenden Sachverhalt u. E. nach sehr gut erfaßt. Schreyögg spricht von einer "... Art Erörterungslehre, die die Formulierung von Strategien aus dem Bereich des Willkürlichen herausholen soll.".67 Das Problem des mangelnden theoretischen Fundaments wurde von der Wissenschaft erkannt. Da auf keine eigenständige Theorie der strategischen Planung zurückgegriffen werden kann, wurde versucht, das theoretische Fundament durch empirische Untersuchungen zu schaffen. Hierzu wurden in ver-
66 Vgl. Wüthrich, 1991, S. 66. 67 Schreyögg, 1984, S. 281.
58
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
schiedenen Studien einzelne strategische Erfolgsfaktoren aus der Vielzahl der Einflußfaktoren isoliert, um deren spezifischen Einfluß auf den Erfolg herauszufinden. Beispiele für eine solche Vorgehensweise sind die Untersuchungen zum Produktlebenszykluskonzept, zum Erfahrungskurvenkonzept und allen voran die PIMS-Studie. 68 Zwar scheinen zunächst solche empirischen Untersuchungen der einzige Weg zu einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung zu sein, sie sind jedoch u. E. aus mehreren Gründen kritisch zu sehen. Sie setzen unmittelbar an den bereits erwähnten Praxismodellen zur Strategieformulierung an, damit orientieren sie sich jedoch bereits an den nicht selten unter Verkaufsgesichtspunkten gemachten Vorgaben der Unternehmensberatungsgesellschaften. Natürlich könnte jetzt so argumentiert werden, daß eine angewandte Unternehmensfuhrungslehre sich doch gerade an den aus der Praxis resultierenden Problemen orientieren muß und daß diese Vorgehensweise somit sogar wünschenswert ist. Dabei wird u. E. jedoch übersehen, daß die eigentlichen Probleme der praktischen Unternehmensführung in der Bewältigung von Steuerungskomplexität und Steuerungsunsicherheit bestehen. Natürlich kann auch hier das Argument nicht übergangen werden, die Aufgabe der strategischen Steuerung bestehe in der Schaffung und Sicherung zukünftiger Erfolgspotentiale. Es wird jedoch davon ausgegangen, daß genau dies in der Führungspraxis nur dann gelingen kann, wenn theoretisch fundierte Aussagen zu dem Thema Steuerung unter Komplexität und Unsicherheit vorliegen. Erst wenn diese theoretischen Grundlagen vorhanden sind, kann in einem weiteren Schritt auf die Ebene der strategischen Phasenmodelle, der strategischen Techniken und Instrumente eingegangen werden. Erst auf einer solchen Basis wird dann auch eine sinnvolle theoretische Einordnung von Fragen nach Produkt-MarktKombinationen oder nach Strategieformulierung und Strategieimplementierung möglich. Möglicherweise ergeben sich aus den theoretischen Überlegungen zu einer strategischen Steuerung unter Komplexität und Unsicherheit sogar Erkenntnisse, die die grundsätzliche Anwendbarkeit der strategischen Phasenmodelle samt der zugehörigen Techniken und Instrumente in Frage stellen oder relativieren. Diese Hypothese scheint gerade auch vor dem Hintergrund der mangelnden Anwendung der bisherigen wissenschaftlichen Vorschläge in der Praxis nicht abwegig zu sein. So gesehen handelt es sich bei theoretischen Vorschlägen zur strategischen Steuerung, die sich an Komplexität und Unsicherheit ausrichten, viel eher um eine an gewandte Wissenschaft als bei strategischen Handlungsempfehlungen, die sich unmittelbar an den konkreten Phasenmodellen und den 68 Vgl. Anderson, Paine, 19781 Buzell, Gale, 19891 Henderson, 1984, S. 15 ff.1 Hofer, Schendel, 1978, S. 1081 Lange, 1982, S. 31 ff./ Neubauer, 1986, S. 178 ff./ Nieschlag, DichtI, Hörschgen, 1988, S. 1701 Wohlgemuth, 1990, S. 43 ff.
IV. Wesentliche Merkmale als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
59
zugehörigen Instrumenten und Techniken ausrichten. Hierbei besteht eben die Gefahr, daß bestehende Konzeptionen immer stärker verfeinert werden, obwohl sie zur Erfassung und Handhabung der praktischen Steuerungskomplexität und Steuerungsunsicherheit nur eingeschränkt in der Lage sind. Eng in Verbindung mit der bislang vorgebrachten Argumentation ist ein weiterer Kritikpunkt an der Vorgehensweise der bislang durchgeführten empirischen Untersuchungen zu sehen. Diese empirischen Untersuchungen basieren auf der Zertrennung eines wechselseitig verknüpften Netzes von Einflußfaktoren, um so die Wirkung einzeln isolierter Einflußfaktoren messen zu können. Gerade durch dieses Herauslösen der Einflußfaktoren aus ihrem Wechselwirkungsnetz ergeben sich jedoch vollständig andere Wirkungen auf den Erfolg als innerhalb einer ganzheitlichen Betrachtung dieses Wirkungsnetzes. 69 Dies wird um so deutlicher, wenn bedacht wird, daß gerade mit dieser Isolierung von Einflußfaktoren die Komplexität des Steuerungsproblems zerstört wird, über die mittels der Messung eine empirisch und damit theoretisch fundierte Aussage gemacht werden soll. Vor dem Hintergrund dieser Fundamentalkritik können die so gewonnenen Ergebnisse nur eingeschränkt als theoretische Fundierung der Untemehmensflihrung betrachtet werden. Hinzu kommt noch die Detailkritik, die vor allem an der Datenbasis der PIMS-Studie geübt wird.?O Aber auch die Gültigkeit des Produktlebenszyklus ist in der Literatur umstritten.?1 Zusammenfassend reduziert diese Kritik u. E. auch diese Untersuchungen weitgehend auf den Stand einer Heuristik. Damit soll keinesfalls eine Wertlosigkeit dieser Studien zum Ausdruck gebracht werden. Im Gegenteil, Heuristiken nehmen u. E. einen zentralen Stellenwert im Rahmen der strategischen Steuerung ein. Diese Wertung wird unter anderem von folgendem Zitat gestützt, das aus einem Artikel entnommen wurde, der sich mit dem Einsatz der PIMS-Studie in der Praxis beschäftigt: "Für Hoesch spielte bei der Einführung von PIMS das Problem der wissenschaftlichen Belegbarkeit von kausalen Marktzusammenhängen in der Verbindung mit den Unternehmensstrategien nur in zweiter Linie eine Rolle. Weitaus wichtiger war, Information, Erfahrung, Kreativität und Motivation der eigenen Führungskräfte zu aktivieren ... Die PIMS-Aussagen werden weitgehend aus jeglicher 'Unfehlbarkeitsdiskussion' herausgehalten und fallen dafür eher in die Kategorie 'plausible Vorschläge mit hoher Richtigkeitswahrscheinlichkeit'.
69 Vgl. Wohlgemuth, 1990, S. 47. 70 Vgl. Lange, 1982, S. 34 ff./ Neubauer, 1986, S. 202. 71 Vgl. Dhalla, Yuspeh, 1976.
60
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
PIMS wird so als praktische Hilfe verstanden und nicht als eine Spielart akadem ischer Besserwisserei abgelehnt.". 72 Dieses Beispiel zeigt, daß sowohl die empirischen Studien als auch die mit diesen Studien zusammenhängenden strategischen Steuerungskonzeptionen in der Steuerungspraxis durchaus eine Wirkung erzielen können, wenn auch nicht unbedingt die von der Wissenschaft vorgesehene Wirkung. Insgesamt betrachtet sind u. E jedoch die zahlreichen, vor allem in der Beratungspraxis entstandenen Konzepte viel zu stark an konkreten und jeweils isoliert betrachteten strategischen Problemen orientiert. Dies ist zwar aufgrund der Erfordernis einer möglichst unmittelbaren Einsetzbarkeit dieser Konzepte auf der einen Seite verständlich, auf der anderen Seite verstellt eine solche Vorgehensweise aber den Blick auf die Entwicklungen der wachsenden Komplexität und des wachsenden Indeterminismus, die hinter den strategischen Steuerungsproblemen stehen. Gerade diese Entwicklungen sind u. E. jedoch die eigentlichen Kernprobleme einer praktischen strategischen UnternehmensfUhrung. Die Vielfalt der wechselseitig verknüpften Beziehungen zwischen Unternehmen und Umfeld sowie die Dynamik, in der sich sowohl Unternehmen als auch Umfeld befinden, steigern Komplexität und Indeterminismus. Somit geht es eben im Rahmen der strategischen Steuerung letztlich um die Steuerung komplexer und dynamischer Systeme. Gerade zu diesem Kernproblem müßten strategische Konzepte u. E. eine Antwort liefern, da sonst die Gefahr besteht, mit den entwickelten Konzeptionen immer nur an den Symptomen von Komplexität und Indeterminismus herumzukurieren, die wirklichen Ursachen aber nicht anzupacken. Komplexität und Unsicherheit der Steuerung stellen im deutschsprachigen Raum jedoch lediglich zwei Managementschulen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung.?3 Somit muß die Mutmaßung vorgebracht werden, daß die eigentlichen Kernprobleme der strategischen Steuerung im überwiegenden Teil der Literatur nicht richtig erkannt wurden oder wenn doch, mit den falschen Mitteln angegangen werden, so daß die eigentlichen Probleme in der Praxis von den vorgebrachten Lösungsvorschlägen weitgehend unberührt bleiben. Daß mit dieser Wertung nicht einmal Neuland betreten wird, beweist auch das folgende Zitat von Mintzberg: "In general, the contemporary prescriptions and normative techniques of analysis and planning -and the debate that accompanies themseem unable to adress the complex reality of strategy formation.". 74 Ein Anpacken des eigentlichen Kernproblems ist allerdings nur auf einer abstrakten Ebene möglich, liefert der Praxis letztlich aber fundiertere Antworten 72 Hildebrandt, Strasser, 1990, S. 132. 73 Vgl. die Darstellung einzelner Ansätze dieser Schulen in Kapitel D. 74 Mintzberg, 1978, S. 948.
IV. Wesentliche Merkmale als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
61
auf ihre strategischen Steuerungsprobleme. Gefordert ist keine Anreicherung der von der Praxis u. E. berechtigt nur zögernd übernommenen Konzepte und Instrumente, vielmehr muß Grundlagenforschung geleistet werden, um so zu möglichst theoretisch fundierten Aussagen zur Steuerung des komplexen Systems "Unternehmen" zu kommen. Allerdings ist es aufgrund der Vielschichtigkeit und der nicht eindeutigen Abgrenzbarkeit des Themas unmöglich, sich mit allen Facetten des strategischen Managements im Rahmen einer solch grundlegenden Untersuchung auseinanderzusetzen. Deshalb beschränkt sie sich im folgenden auf die Betrachtung der strategischen Kernfunktionen, also auf strategische Planung und Kontrolle, sowie auf Fragen, die eng mit diesen Kernfunktionen verknüpft sind. 2. Ableitung von Kernfragen als Ausgangspunkt für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung Um nicht ebenso, wie die bisherigen Ansätze der strategischen Steuerung dem unmittelbaren Problemdruck der Praxis zu stark ausgeliefert zu sein, werden als Ausgangspunkt für eine umfassende theoretische Grundlagenforschung abstrahierte Fragestellungen formuliert, die den Kernbereich der strategischen Steuerung möglichst abdecken sollen. Für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung ist u. E. die Betrachtung von zwei unterschiedlichen Ebenen notwendig. Zunächst handelt es sich um die inhaltliche Ebene der Unternehmenssteuerung. Die Fragestellungen auf dieser Ebene müssen sich mit der strategischen Steuerung vor dem Hintergrund von Komplexität und Indeterminismus befassen. Theoretische Aussagen zur strategischen Steuerung müssen auf dieser Ebene Antworten zu folgenden Fragestellungen bieten: •
Wie soll das komplexe System "Unternehmen" vor dem Hintergrund seiner Einbindung in eine dynamische Umwelt sinnvoll beschrieben werden?
•
Wie soll ausgehend von diesem Systemverständnis die Steuerung des Unternehmens erfolgen?
Da in dieser Untersuchung die Mutmaßung aufgestellt wurde, daß der Kern des strategischen Steuerungsproblems bislang nicht umfassend erkannt wurde, erscheint es sinnvoll, in eine theoretische Fundierung auch die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der strategischen Steuerung miteinzubeziehen. Hiermit ist zugleich die zweite Betrachtungsebene genannt. Es wird unterstellt, daß eine theoretisch sinnvolle Beschreibung des Unternehmens und seiner Steuerungsmöglichkeiten eng damit zusammenhängt, wie das gesamte Umfeld des Unternehmens gesehen werden muß, oder mit anderen Worten, welches Weltbild einer solchen Beschreibung zugrunde liegt. Damit stellt sich für diese Untersuchung eine weitere Frage:
62
•
B. Inhaltlicher Bezugsrahmen
WeIches Weltbild bietet einen sinnvollen Rahmen fur die Einordnung der strategischen Steuerungsprobleme?
Aus der Beantwortung dieser Frage können möglicherweise konkretere Aussagen dazu gemacht werden, wieso angenommen werden muß, daß dieses Weltbild und mit ihm verknüpft, die Fragen der strategischen Steuerung nicht umfassend erkannt werden. Die nächste Frage ist also: •
WeIche Erkenntnisschwierigkeiten können sich fur die richtige Sicht der Welt und eng damit verknüpft fur die richtige Sicht der strategischen Steuerung ergeben?
Ausgehend von der Beantwortung dieser Frage stellt sich dann natürlich sofort die weitergehende Frage nach der Möglichkeit einer Überwindung dieser Erkenntnisschwierigkeiten. Somit muß also schlußendlich folgende Frage beantwortet werden: •
WeIche Erkenntnismethodik soll angewandt werden, um Erkenntnisschwierigkeiten, die mit der strategischen Steuerung verbunden sind, zu überwinden?
Mit der Beantwortung dieser Kernfragen könnte u. E. ein Rahmen fur eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung aufgespannt werden. Damit muß sich die weitere Untersuchung daran ausrichten, geeignete theoretisch fundierte Antworten auf diese Fragestellungen zu finden.
C. Wissenschafts methodischer Bezugsrahmen einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen I. Überblick In diesem Kapitel geht es um die Klärung des wissenschaftsmethodischen Rahmens dieser Untersuchung. Hierzu wird in einem ersten Schritt geprüft, wie erfolgversprechend ein interdisziplinärer Ansatz zur Klärung der im Kapitel B herausgearbeiteten Fragen erscheint. Besonderes Augenmerk wird auf die Betrachtung einer naturwissenschaftlich orientierten Ausrichtung der Untersuchung gelegt. Hier gilt es zu klären, ob es Argumente gibt, die dafür sprechen, daß naturwissenschaftliche Inhalte zu einem Fortschritt der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung beitragen können. Darüber hinaus muß der Frage nachgegangen werden, ob überhaupt eine grundsätzliche Möglichkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise zwischen Natur- und Geisteswissenschaften besteht.
WissenschaftsmethodIscher Bezugsrahmen einer theoretlschen Fundlerung der strategischen Steuerung von Untemehmen
/' Interdlszlpllnarität als Ausgangspunkt der theoretlschen Fundlerung der strategischen Steuerung von Untemehmen
~ WIssenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts der strateglschen Steuerung von Untemehmen
Abbildung 9: Überblick über das Kapitel C
64
C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
Neben der Prüfung der Interdisziplinarität als Ausgangspunkt für diese Untersuchung geht es in diesem Kapitel auch um eine grundsätzliche Betrachtung des wissenschaftlichen Fortschritts. In diesem Zusammenhang wird zunächst dargestelIt, wie Kuhn bzw. Popper die Entwicklung der Wissenschaft beschreiben. Anschließend werden beide Ansätze kritisch gegeneinander abgewogen, um so möglicherweise zu einer wissenschaftsmethodischen Grundlage für diese Untersuchung zu kommen. Einen Überblick gibt nochmals Abbildung 9.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen
1. Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Untersuchung Bereits bei der Schilderung der ProblemstelIung dieser Untersuchung ist klar geworden, daß mit dem Thema der strategischen Steuerung ein Beobachtungsphänomen von außerordentlich hoher Komplexität vorliegt. Im Aufriß der ProblemstelIung wurde versucht, diese komplexe AufgabenstelIung auf fünf KernfragestelIungen einzugrenzen, um über die Beantwortung dieser Fragestellungen möglicherweise zu einer umfassenderen theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung zu gelangen. Nun stellt sich die Frage, wie dies sinnvollerweise angepackt werden soll. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, in die Tiefe der fraglichen Fachdisziplin zu gehen, um dort nach den theoretischen Fundamenten zu suchen. Andererseits kann aber auch der Versuch gemacht werden, über die Grenzen der eigenen Fachwissenschaft hinauszuschauen, um vielIeicht dort auf grundlegende Prinzipien oder Mechanismen zu stoßen, die auch im Bereich der Unternehmensführung Geltung besitzen. Natürlich läuft der Verfasser einer solchen Studie Gefahr, von angesehenen Vertretern der eigenen Disziplin den Vorwurf zu bekommen, einen "... Fluchtversuch vor der Wirtschaftstheorie ... " zu unternehmen, wie dies Dieter Schneider bereits den Vertretern einer verhaltens- und sozialwissenschaftlich orientierten Betriebswirtschaftslehre vorgehalten hat. 1 Zudem begibt sich der Verfasser auch noch auf das "Minenfeld" anderer Fachdisziplinen, die er naturgemäß nicht so beherrschen kann, wie die Vertreter dieser Wissenschaftsbereiche. Damit besteht leicht die Gefahr, sich auch von dieser Seite dem Vorwurf der Inkompetenz auszusetzen. Mit anderen Worten: Der Verfas1 Schneider, 1987, S. 192.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
65
ser einer solchen Studie setzt sich mit seiner Dissertationsstrategie genau zwischen die Stühle, was einem gerade in der Unternehmensführung etwas belesenen Verfasser eigentlich nie passieren dürfte.2 Trotzdem stellt sich die Frage, ob es nicht doch sinnvoll sein könnte, auch bei Kenntnis dieser Gefahren, einen interdisziplinären Weg einzuschlagen. Ohne zunächst auf eine genaue Bedeutung des Begriffes der Interdisziplinarität einzugehen, können bereits vorab gute Gründe für eine solche Vorgehensweise angeführt werden:3 . •
Eine ausgeprägte Spezialisierung bringt zwar wichtige Detailinformationen, es besteht jedoch die Gefahr, daß der notwendige Überblick verlorengeht.
•
Oftmals ergeben sich wesentliche wissenschaftliche Fortschritte durch den Austausch zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen.
•
Die aus der Praxis resultierenden und zu untersuchenden Problemstellungen lassen sich oftmals überhaupt nicht mehr eindeutig einer Wissenschaftsdisziplin zuordnen, so daß die Vertreter einer Fachwissenschaft mit der Lösung der gestellten Fragen überfordert sind.
Diese Argumente sprechen eindeutig für die Wahl eines interdisziplinären Ansatzes. Insbesondere das letzte Argument trifft auf die Fragen der strategischen Steuerung zu. Nicht zuletzt deshalb werden in Zusammenhang mit dem Thema der strategischen Steuerung oftmals auch fachübergreifende Fragestellungen in der Literatur diskutiert. Genügend Beispiele lassen sich im Bereich der menschlichen Entscheidungsfindung sowie in der Organisationspsychologie finden. Genau an diesem letzten Argument setzt auch das Interdisziplinaritätsverständnis von Hübenthai an. Die Notwendigkeit für eine interdisziplinäre Vorgehensweise liegt in der Komplexität eines betrachteten Phänomens und in dem Versuch, möglichst eine ganzheitliche Erklärung dieses Phänomens zu geben. 4 Damit knüpft dieses Interdisziplinaritätsverständnis genau an dem Problem der Praxis an, daß die vielschichtig miteinander vernetzten Fragen, die hier auftauchen, nur noch sehr eingeschränkt von einer Fachdisziplin beantwortet werden können. Eine so verstandene interdisziplinäre Vorgehensweise stellt den einzelnen Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt und versucht, durch eine Überwindung der Fachdisziplinen eine möglichst umfassende Erklärung zu leisten. Dieses Interdisziplinaritätsverständnis unterscheidet sich gründlich von einer Vereinheitlichung der Wissenschaften aufgrund des ein-
2 Vgl. Porters Ansicht zu diesem Thema, 1989, S. 38. 3 Vgl. Heisenberg, 1971, S. 3121 Lenk, 1978, S. 2541 Luyten, 1974, S. 139 fl Morgan, 1974, S. 2641 Mittelstraß. 1991, S. 171 Schwarz, 1974, S. 36. 4 Vgl. HübenthaI. 1991. S. 8. S Scheurer
66
C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
heitlichen Betrachtungsgegenstandes unserer Welt und ihrer Phänomene oder von einer ebenso zu kurz greifenden Vereinheitlichung der wissenschaftlichen Methoden. So gesehen bleibt auch im Rahmen der interdisziplinären Forschung die Entwicklung von Spezialwissen von grundlegender Bedeutung. Am sinnvollsten kommt dieses Spezialwissen jedoch dann zur Geltung, wenn sich die jeweiligen Fachdisziplinen zusätzlich ein interdisziplinäres Denken bewahren. Interdisziplinäres Denken in diesem Sinne heißt, sein eigenes Wissen über einen Untersuchungsgegenstand als Puzzleteil zu sehen und dieses immer wieder mit den Wissensteilen der anderen Fachdisziplinen abzustimmen. und zu vergleichen, um so zu einem erklärbaren Gesamtbild des Wissens zu kommen. Hier ergibt sich ein Anknüpfungspunkt für die Philosophie. Die Philosophie wird als die Wissenschaft betrachtet, die sich um das Gesamtbild des Wissens annimmt und ihren Blick auf die "ewige Wahrheit"5 richtet. Die Philosophie hat nach HübenthaI im wesentlichen zwei Aufgaben. Sie stellt die Frage nach dem "... Sinnzusammenhang der Gesamtwirklichkeit ... "6 und untersucht die methodischen Vorgehensweisen der Wissenschaft. Damit übernimmt sie metatheoretische Funktionen für die einzelnen Fachdisziplinen und schafft einen Rahmen, in den die fachspezifisch eingegrenzten· Wissensteile der EinzeIwissenschaften eingebracht werden können) So bildet gerade die Philosophie eine gemeinsame Grundlage für alle Wissenschaften und damit natürlich auch für die interdisziplinäre Forschung.8 Wichtig in diesem Zusammenhang ist allerdings die Tatsache, daß kein einseitiges Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen der Philosophie und den Fachwissenschaften besteht, sondern daß auch die Fachwissenschaften immer wieder "philosophieren".9 Dies ist immer dann der Fall, wenn sich im Rahmen der einzelwissenschaftlichen empirischen Forschung Erkenntnisse ergeben, die entweder das existierende philosophische Gesamtbild ins Wanken bringen, oder die bislang gültige methodologische Grundlage der Wissenschaft erschüttern. 10 Vor diesem Hintergrund wird noch einmal die Vorgehensweise bei der Formulierung der Kernfragen zur strategischen Steuerung klar. Der erkenntnistheoretische Rahmen, der dort zur Einordnung der konkreten strategischen Steuerungsfragen gefordert wurde, erweist sich als nichts anderes als der "philosophische Rahmen" der strategischen Steuerung. Die gerade aufgezeigte 5 v. Weizsäcker, 1992, S. 523. 6 Hübenthai, 1991, S. 23. 7 Vgl. Bunge, 1983, S. 20 f. 8 Vgl. Hübenthai, 1991, S. 24 f. 9 Vgl. den Aufbau von Bunges Buch: Epistemologie, 1983. 10 Vgl. Hübenthai, 1991, S. 25/ Luyten, 1974, S. 146 f./ Schwemmer, 1990, S. 41 ff.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
67
Wechselwirkung zwischen der Philosophie und den Fachwissenschaften zeigt, daß bei der Beantwortung der in der Einleitung formulierten Fragestellungen der strategischen Steuerung neben den inhaltlichen Erkenntnissen anderer Fachdisziplinen auch deren erkenntnistheoretische oder methodische Konsequenzen im Rahmen einer interdisziplinären Untersuchung Beachtung finden müssen. Ausgangspunkt einer so verstandenen Form von Interdisziplinarität bleibt aber immer der Untersuchungsgegenstand. "Der Gedanke, vom Gegenstand in seiner Gesamtheit her - d. h. als komplexe Ganzheit - zu einem Verständnis der ihn ausmachenden Einzelphänomenen zu gelangen, die Untersuchungsgegenstand verschiedener Fachwissenschaften sein können, ist, wie gesagt, der Leitfaden für alle interdisziplinären Bemühungen". 11 Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise steigt also mit der Komplexität des Betrachtungsgegenstandes. 12 Wie bereits bei der Kategorisierung des strategischen Steuerungsproblems gezeigt wurde, handelt es sich hierbei um ein weitgehend unstrukturiertes Problem von hoher Komplexität. Insofern bietet es sich gerade in diesem Falle an, die unterschiedlichen Einzelphänomene, die mit der strategischen Steuerung eines Unternehmens verbunden sind, im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes zu untersuchen. So kann in einer netzartigen Verflechtung von Einzelwissenschaften versucht werden, dem Gesamtphänomen der strategischen Steuerung auf die Spur zu kommen. Diese Vorgehensweise erscheint vor allem auch deshalb sinnvoll, weil es keine eigenständige Theorie der strategischen Steuerung gibt, noch in der Betriebswirtschaftslehre tiefgreifende theoretische Überlegungen zur Steuerung komplexer Systeme unter Unsicherheit zu finden sind. Damit bietet sich ein interdisziplinärer Ansatz geradezu an, um so durch die Übernahme von gesicherten theoretischen Erkenntnissen aus anderen Wissenschaften einzelne Bausteine zu einem theoretischen Fundament der strategischen Unternehmensführungslehre zusammenzutragen. Wie ein solch interdisziplinärer Ansatz zu verstehen ist, verdeutlicht nochmals die Abbildung 10. Dieses Votum fur einen interdisziplinären Ansatz soll keineswegs die Bedeutung einer Spezialisierung innerhalb eines wissenschaftlichen Fachgebietes in Frage stellen. Vielmehr wird hier fur eine wissenschaftliche Vorgehensweise plädiert, die sowohl in der Tiefe eines Faches forscht als auch versucht, die dabei zu Tage getretenen Erkenntnisse in die großen, übergreifenden Zusammenhänge einzuordnen. Möglicherweise besteht zwischen den beiden beleuchteten Vorgehensweisen ohnehin nur eine scheinbare Divergenz, denn 11 Hübenthai, 1991, S. 11. 12 Vgl. hierzu Schäfer, 1990, S. 70 am Beispiel der Umweltproblematik.
68
c. WissenschaftsmethQdischer Bezugsrahmen
"... je tiefer man eindringt in die Fundamente eines Fachgebietes, desto eher verläßt man das Fach, sprengt man seine Wände, erreicht die anderen Fächer und Problemgebiete ... ". 13
Abbildung 10: Interdisziplinärer Ansatz zur Erklärung des Phänomens der strategischen Steuerung
2. Die Naturwissenschaften als interdisziplinärer Anknüpfungspunkt Wenn nun schon die Notwendigkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise feststeht, stellt sich natürlich die Frage, welche fremden Fachdisziplinen etwas zur Beantwortung der Kernfragen der strategischen Steuerung beitragen können. Hier wird die These aufgestellt, daß sich als Ausgangspunkt der weiteren Untersuchung vor allem die Naturwissenschaften eignen. Folgende Gründe sprechen für diese Behauptung:
13 Schwarz, 1974, S. 36.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
•
69
Die Naturwissenschaften schaffen Handlungswissen. Die Naturwissenschaften dominieren als handlungs- und technikorientierte Wissenschaften unser ganzes modernes Leben. 14 Außerdem gelten ihre methodischen Vorgehensweisen als das Vorbild für alle anderen Wissenschaften. 15 Allein diese Tatsachen könnten ein starkes Indiz dafür sein, die Naturwissenschaft zum Ausgangspunkt der weiteren Betrachtung zu machen. Vor allem auch vor dem Hintergrund des pragmatischen Wissenschaftsverständnisses, das dieser Untersuchung zugrunde liegt. Um eine bessere Abschätzung dieser Argumentation zu ermöglichen, soll zunächst am Beispiel Aulins, der mit seiner Meinung auch stellvertretend für andere Autoren steht l6 , kurz dargestellt werden, welche Rolle er den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zubilligt. Aulin unterscheidet zwei Ansätze von Wissenschaft: "... the linguistic and the dynamic or, what is the same, the 'soft' or commenting science and the 'hard' or creative science." .17 Charakteristisch für ein weit verbreitetes Wissenschaftsbild ist die Zuschreibung der Aufgabenverteilung, die Aulin vornimmt: "... the creative or 'hard' sciences, which create human capital, and the commenting sciences, which comment the world including the knowledge of the world obtained by the hard sciences but without adding to human capital." Trotz der offensichtlich sehr ungleichen Vorstellung von der Leistung der verschiedenen Wissenschaftsbereiche bemerkt Aulin immerhin noch: "The man seems to have a need for both of these categories of intellectual activities" .18 Dabei steht für ihn jedoch die Dominanz der Naturwissenschaft an vorderster Stelle. Er befürchtet sogar einen Einbruch der "soft sciences" und fordert deshalb: "... a radical change toward 'hard' scientific education ... ".19 Natürlich gehören für ihn auch die Sozialwissenschaften, im weiteren Sinne somit auch die Wissenschaft von der Unternehmensführung, zu den weichen Wissenschaften. Bunge bezeichnet die Sozialwissenschaft sogar als "unterentwickelte Wissenschaft"20, die auf den Weg der Naturwissenschaft gebracht werden muß. Aufgrund eines solchen Wissenschaftsbildes wäre es nach Aulin und Bunge sogar sehr ratsam in den Naturwissenschaften nach theoretischen Erkenntnissen und vor allem nach
14 Vgl. Aulin, 1992, S. 358/ Cahn, 1991, S. 182. 15 V gl. Bühl, 1974, S. 90/ Bunge, 1983, S. 125/ Scholtz, 1991, S. 36. 16 Vgl. Bunge, 1983, S. 125. 17 Aulin, 1992, S. 49. 18 Beide Zitate: Aulin, 1992, S. 49 f. 19 Aulin, 1992, S. 358. 20 Bunge, 1983, S. 125.
c. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
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methodischen Vorgehensweisen zu suchen, die auch die Wissenschaft von der Unternehmensfllhrung weiterbringen könnten. Der Standpunkt Aulins scheint jedoch etwas radikal ausgefallen zu sein, zumal verschiedene Autoren auch von einer Krise der modemen Naturwissenschaften sprechen.2 1 Was jedoch unbestritten bleibt, ist die faktische Dominanz der Naturwissenschaften in handlungsorientierten Bereichen. Da mit der strategischen Steuerung ein solcher vorliegt, scheint eine Beschäftigung mit den Naturwissenschaften tatsächlich sinnvoll. •
Zwischen den Fragen der strategischen Steuerung und naturwissenschaftlichen Fragestellungen bestehen Ähnlichkeiten. Ein wirklich stichhaltiger Grund fur eine eingehendere Beschäftigung mit den Naturwissenschaften ergibt sich dadurch, daß sich offensichtlich gerade zwischen den Fragen der strategischen Steuerung, bei denen es um die Strukturierung komplexer Systeme und deren Lenkung im Rahmen dynamischer Entwicklungsprozesse geht, und den Fragestellungen von Physik und Biologie große Ähnlichkeiten abzeichnen. Auch hier stehen die Fragen der Strukturbildung und der dynamischen Entwicklung von komplexen Systemen im Mittelpunkt der Betrachtung. Von manchen Autoren wird angesichts der ungelösten Strukturierungs- und Steuerungsprobleme von Großsystemen vorgeschlagen, Strategien zur Bewältigung dieser Probleme bei der Natur abzuschauen, da ja gerade die Natur genau dieselben Fragestellungen seit Jahrmillionen erfolgreich löst. Gedacht wird an die Übernahme von "Evolutionstechniken" oder "Biostrategien" zur Lösung der angesprochenen Fragestellungen. 22 Zwischen Biologie und Ökonomik werden sogar so tiefgreifende Ähnlichkeiten vermutet, daß in jüngerer Zeit an der Universität Bochum ein interdisziplinäres Ausbildungskonzept zwischen den beiden Fächern geschaffen wurde. 23 Dem Verfasser ist in diesem Zusammenhang der höchst schwammige Charakter des umgangssprachlichen Ähnlichkeitenbegriffes klar. Trotzdem kann der Begriff an dieser Stelle dazu dienen, ein weiteres, starkes Indiz dafur zu liefern, daß es fIlr die Unternehmensführungslehre wirklich interessant erscheint, auch in naturwissenschaftlichen Wissenschaftsdisziplinen nach relevanten Erkenntnissen für den eigenen Fachbereich zu suchen. Keinesfalls ist hiermit jedoch die Vorstellung verbunden, daß aufgrund oberflächlich erkannter Ähnlichkeiten beliebig fachspezifische Erkenntnisse
21 Vgl. die kontroverse Debatte bei Kreuzer, 1987, S. 12 ff. und bei Scholtz, 1991,
S.7.
22 Vgl. Nachtigall, 1983, S. 8 ff. 23 Vgl. Mohr, 1992, S. 66.
H. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
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zwischen den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen einfach "hin und her geschoben" werden können oder daß nur durch eine einfache NebeneinandersteIlung verschiedener Fachgebiete neue Erkenntnisse für die strategische Steuerung gewonnen werden können. Ganz im Gegenteil: Sollte sich zeigen, daß in anderen Fachbereichen wirklich Erkenntnisse gefunden werden, die auch für die strategische Steuerung von Bedeutung sind, muß an späterer Stelle genau geprüft werden, ob und gegebenenfalls wie sich diese Erkenntnisse wissenschaftstheoretisch korrekt auf die Unternehmensführungslehre übertragen lassen. •
Die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften machen schon immer Anleihen bei den Naturwissenschaften. Bei einer interdisziplinären Vorgehensweise unter Einbeziehung der Naturwissenschaften handelt es sich um keinen gänzlich neuen Ansatz für die Sozialwissenschaften, da gerade die Sozialwissenschaften, mithin also auch die Wirtschaftswissenschaften, schon immer explizit, mindestens aber implizit, Anleihen bei naturwissenschaftlichen Modellen gemacht haben.2 4 Jedoch auch dieses Argument reicht für sich genommen nicht aus. Einfach weiterhin Anleihen bei den Naturwissenschaften zu machen, nur weil dies schon immer so gemacht wird, ist wiederum für sich genommen kein triftiger Grund. Allenfalls ergibt diese Vorgehensweise der Wirtschaftswissenschaften ein weiteres Indiz dafür, daß sich eine Beschäftigung mit den Naturwissenschaften vielleicht lohnen könnte.
•
Neue Sichtweisen in den Naturwissenschaften deuten auf zunehmende Ähnlichkeiten hin. Die Hoffnung, durch eine nähere Untersuchung naturwissenschaftlicher Beobachtungsphänomene neue Erkenntnisse für die strategische Steuerung zu gewinnen, wird zusätzlich durch die Tatsache gestützt, daß in der naturwissenschaftlichen Literatur immer wieder von einem Paradigmawechsel die Rede ist. Es ist somit zu überprüfen, ob dieser Paradigmawechsel mit der in der strategischen Unternehmensführungslehre feststellbaren Entwicklung zu höherer Komplexität und Unsicherheit in Verbindung zu bringen ist. Ist dies der Fall, könnten sich möglicherweise gerade durch die veränderte Sichtweise in den Naturwissenschaften und den daraus resultierenden inhaltlichen und erkenntnistheoretischen Konsequenzen neue Erkenntnisse ergeben, die auch für die Kernfragen der strategischen Steuerung fruchtbar gemacht werden können. Möglicherweise können aber auch naturwissenschaftliche Modelle, die bereits in der strategischen Steuerung zur
24 Vgl. Bühl, 1974, S. 321 Capra, 1983, S. 2031 Malik, 1989, S. 80 ff.
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C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
Anwendung gelangen, ausgeschieden werden, da sie vor dem Hintergrund der neu gewonnenen Erkenntnisse keinen Bestand mehr haben. Zusammenfassend zeigt sich, daß durchaus eine Vielzahl von Argumenten für eine interdisziplinäre Betrachtung, gerade auch für eine interdisziplinäre Betrachtung unter Einbeziehung der Naturwissenschaften, spricht. Vor allem der Umstand, daß sich strategische Steuerungsprobleme zwischen den Polen steigender Undeterminiertheit und wachsender Komplexität abspielen und daß sich gleichzeitig die neueren Entwicklungen in Physik und Biologie mit sehr ähnlichen Fragen rund um das Thema der komplexen Systeme und deren Entwicklungsmechanismen auseinandersetzen, legt nahe, diese neuen Erkenntnisse auf ihre Relevanz für die strategische Steuerung zu überprüfen. Zudem wird in jüngerer Zeit von einigen Vertretern aus Physik und Biologie darauf hingewiesen, daß mit dem Paradigmawechsel ihrer Fachdisziplinen wieder eine stärkere Annäherung an geistes- oder sozialwissenschaftliche Vorstellungen denkbar werden. Damit scheint sich bereits eine mögliche Relevanz dieser Erkenntnisse auch für den Bereich der strategischen Steuerung abzuzeichnen.
3. Prüfung der grundsätzlichen Möglichkeit einer interdisziplinären Vorgehensweise
a) Snows Thesen zur Unvereinbarkeit von Natur- und Geisteswissenschaften Wenn nun schon von einer Relevanz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für die theoretische Fundierung der strategischen Steuerung auszugehen ist, muß natürlich noch geklärt werden, ob diese Erkenntnisse überhaupt von den Naturwissenschaften in den Bereich der strategischen Steuerung übernommen werden können. Wenn im folgenden die Möglichkeit eines solchen Brückenschlages zwischen den Naturwissenschaften und der Unternehmensführung untersucht wird, kommt man nicht an der Diskussion vorbei, die C. P. Snow im Jahre 1959 an läßlich eines Vortrages mit dem Titel "The Two Cultures and the Scientific Revolution" ausgelöst hat. 25 Snow betrachtet die modeme Industriegesellschaft und stellt dabei fest, daß sich zwei Kulturen nahezu unversöhnlich und ohne eine Möglichkeit der gegenseitigen Verständigung gegenüberstehen. 26 Snow spricht von einer literarisch-geisteswissenschaftlichen und von einer naturwissenschaftlich-techni-
25 Vgl. Snow, 1987, S. 19 ff. 26 Vgl. Snow, 1987, S. 20 f.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
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schen Kultur. Er räumt diesen bei den Kulturen sehr unterschiedliche Kompetenzen bei der Bewältigung der zukünftigen Probleme der Menschheit ein. Während die naturwissenschaftlich-technische Kultur daran arbeitet, die Natur zu verstehen und somit letztlich auch zu beherrschen, sieht er die Rolle der literarisch-geisteswissenschaftlichen Kultur in einer Verhinderung des durch die Naturwissenschaften angestrebten Fortschrittes. Während also "... die Naturwissenschaftler die Zukunft im Blut haben ... "27, zeichnen sich die Geisteswissenschaftier durch ein Unverständnis dieser naturwissenschaftlichen Fortschritte aus; es geht sogar so weit, daß sie die Zukunft negieren. 28 Die Folge dieser Kulturaufspaltung ist nach Snow "... ein reiner Verlust für uns alle.". 29 Eigentlich sieht die Einteilung von Snow in eine literarisch-geisteswissenschaftliche Kultur und eine naturwissenschaftlich-technische Kultur nicht danach aus, als wäre hierbei die Fragestellung angeschnitten, die im Rahmen dieser Untersuchung interessant erscheint. Hier geht es ja primär nicht um den literarisch-geisteswissenschaftlichen Bereich, sondern um den sozialwissenschaftlich-ökonomischen Bereich, in den Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften übertragen werden sollen. Auf einen zweiten Blick zeigt sich jedoch, daß die durch Snow initiierte Diskussion keineswegs auf den literarischgeisteswissenschaftlichen Bereich beschränkt bleibt. Vielmehr wird diese Diskussion von einer ganzen Reihe von Autoren auf den Bereich der Sozialwissenschaften ausgeweitet. 30 Auch das Argument, die Zustandsbeschreibung von Snow liege nunmehr 35 Jahre zurück und sei deshalb nicht mehr aktuell, wird durch eine große Anzahl von Veröffentlichungen zu diesem Thema in jüngerer Zeit widerlegt. Einige Autoren glauben sogar, daß sich die von Snow angesprochene Problematik in jüngerer Zeit eher noch verschärft hat. 31 Insofern muß sich diese Untersuchung mit der Aussage Snows, eine Verständigung zwischen den zwei Kulturen sei nicht möglich, beschäftigen. Um diese Behauptung besser überprüfen zu können, wird in Tabelle 2 dargestellt, wie die zwei Kulturen in der Literatur einander gegenübergestellt werden:3 2
27 Snow, 1987, S. 27. 28 Vgl. Snow, 1987, S. 27. 29 Snow, 1987, S. 27. 30 Vgl. Markl, 1989, S. 1191 Prinz, 1990, S. 107. 31 Vgl. stellvertretend Fischer, 1991a, S. 48. 32 Vgl. Fiedler, 1990, S. 801 Laskowski, 1970, S. 1621 Mittelstraß, 1989, S. 19 ff.1 Prigogine, Stengers, 1981, S. 201 Sachsse, 1974, S. 2211 Schnädelbach, 1990, S. 57.
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C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
Tabelle 2
Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften Naturwissenschaften (NW)
Geisteswissenschaften (GW)
Die NW beschäftigen sich mit der experimentellen Analyse von Beziehungen und Strukturen einzelner Bestandteile der belebten und unbelebten Welt, also letztlich mit der Materie.
Die GW beschäftigen sich mit der Deutung des Menschen und seiner kulturellen Produkte, also letztlich mit dem Geist.
Die NW ist eine exakte Wissenschaft, deren Ziel die Erklärung von ahistorisch wiederholbaren, allgemeinen Gesetzmäßigkeiten ist.
Die GW ist eine nichtexakte Wissenschaft, deren Ziel das Verstehen des Sinnes von individuellen, historischen, nicht wiederholbaren Phänomenen ist.
Die NW liefern Objektwissen zur Steuerung und Beherrschung der Welt.
Die GW liefern Orientierungswissen und Wertmaßstäbe.
Die Forschungsmethoden der NW sind empirisch und hypothetisch-deduktiv.
Die Forschungsmethoden der GW sind hermeneutisch.
b) Widerlegung der Thesen von Snow
Wenn die Thesen von Snow tatsächlich Bestand haben sollten, wäre damit die interdisziplinär angelegte Vorgehensweise in dieser Untersuchung in schwerer Bedrängnis. Es wäre sogar müßig, überhaupt den Versuch zu unternehmen, naturwissenschaftliche Inhalte daraufhin zu überprüfen, weIche Erkenntnisse sie zu einer Steuerung komplexer Systeme unter Unsicherheit beitragen können, falls diese Erkenntnisse dann nicht auf die Sozialwissenschaften und damit natürlich auch nicht auf die Untemehmensfuhrungslehre übertragbar wären. Als nächstes muß deshalb geklärt werden, ob sich aus der Gegenüberstellung der zwei wissenschaftlichen Bereiche, wie sie in der Tabelle des letzten Abschnitts aufgezeigt wurden, tatsächlich unüberbrückbare Gegensätze ergeben, oder ob sich die von Snow vorgetragenen Thesen widerlegen lassen. Zu diesem Zwecke werden im folgenden die einzelnen Punkte der Tabelle nochmals etwas genauer beleuchtet: •
Geist versus Materie Die Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften basiert letztlich auf der uralten Trennung zwischen Materie und Geist. Während
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
75
sich die Naturwissenschaften mit der Funktion und der Struktur von belebter und unbelebter Materie beschäftigen, befindet sich der Beobachtungsgegenstand der Geisteswissenschaften im Bereich der menschlichen Kultur. Untersucht werden also alle Phänomene, die sich als Produkt des menschlichen Geistes erweisen. Es stellt sich somit die Frage, ob die zwei Wissenschaftsbereiche vollkommen voneinander getrennte Beobachtungsbereiche haben. Diese Frage läßt sich leicht anhand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Materie und Geist beantworten. Geist wird von einer Reihe Autoren als eine emergente Eigenschaft von Materie gesehen, die sich ab einem gewissen Entwicklungsniveau einstellt. So gesehen gibt es überhaupt keine scharfe Trennung zwischen Materie und Geist, damit untersuchen auch die zwei Wissenschaftsbereiche Beobachtungsphänomene, die sich auf einem Kontinuum zwischen Materie und Geist befinden. Auch Markl bezeichnet die Spaltung in Materie und Geist als reinen " ... Ordnungsversuch unseres begrifflichen Denkens ... ")3 Markl führt weiter aus: "Diese Spaltung ist also vom Ansatz her theoretisch verursacht, stammt aus Erklärung von Erfahrung, nicht aus Erfahrung selbst, denn abgesehen von seltenen pathologischen Ausnahmezuständen oder von dem Ergebnis allzu gründlicher akademischer Ausbildung erlebt sich der Mensch als körperlich-seelisch ungeteilt und faktisch-fiktiv bestens integriert." )4 •
Ziele von Natur- und Geisteswissenschaften Hier liegt die Vorstellung von den nomothetischen Naturwissenschaften und den idiographischen Geisteswissenschaften zugrunde. Das Ziel der Naturwissenschaften liege demnach in der Erklärung von ahistorischen, allgemeinen und unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten, während sich die Geisteswissenschaften mit historischen, veränderlichen, kontingenten und individuellen Phänomenen beschäftigen würden)5 Diesen Vorstellungen kann leicht anhand der jüngeren Entwicklungen in beiden Wissenschaftsbereichen widersprochen werden. In den Geisteswissenschaften und hier vor allem in den anwendungsorientierten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften wird bereits seit geraumer Zeit versucht, allgemein gültige Verhaltensgesetzmäßigkeiten abzuleiten, um so Prognose-, Planungs- und Steuerungsmöglichkeiten zu erhalten. Dagegen zeigen gerade die bislang besprochenen neueren naturwissenschaftlichen Entwicklungen, daß in den Naturwis-
33 Markl, 1989, S. 122. 34 Markl, 1989, S. 122. 35 Vgl. MiUelstraß, 1989, S. 28.
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C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
senschaften nicht mehr ohne weiteres von ahistorischen, allgemein gültigen und unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten ausgegangen werden kann, sondern daß auch hier historische, veränderliche, kontingente und individuelle Beobachtungsphänomene immer stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. So gesehen kann die Vorstellung von den nomothetischen Naturwissenschaften und den idiographischen Geisteswissenschaften offensichtlich nicht mehr aufrechterhalten werden. Im Gegenteil, beide Wissenschaftsbereiche bewegen sich aufgrund der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse eher aufeinander zu. •
Objektwissen versus Orientierungswissen Die Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichem Objektwissen zu geisteswissenschaftlichem Orientierungswissen knüpft an die These von Snow an, daß allein die Naturwissenschaften den gesellschaftlichen Fortschritt bringen können. Den Geisteswissenschaften bleibt dann höchstens die Kompensation der Modernisierungsschäden, die der Gesellschaft durch den naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt entstehen.J6 Mit dieser ausschließlich konservativen, die Naturwissenschaften "nachbetreuenden" Funktion ist die Rolle der Geisteswissenschaften jedoch viel zu eng beschrieben. Mittelstraß betont die besondere Bedeutung der Geisteswissenschaften beim Aufbau einer zukunftsweisenden Rationalität. "Wir leben in einer Kultur, deren historische und literarische Wahmehmungs- und Erfahrungsfiihigkeiten sicher noch mancher Entwicklung, auch durch die Geisteswissenschaften bedürfen, die jedoch in ihrer Rationalitätsstruktur ... in erster Linie auf die argumentative und konstruktive Kraft des Denkens angewiesen ist.".J7 Damit kommt der Geisteswissenschaft eine ebenso bedeutende Rolle für die Gestaltung des Fortschrittes zu wie den Naturwissenschaften. Die Unterscheidung in Objektwissen und Orientierungswissen läßt sich also in der oben angesprochenen Form nicht aufrecht erhalten. Orientierungswissen ja, wenn damit ein Wissen um " ... Ziele und Maximen ... "38 gemeint ist, das erst die Voraussetzung für einen sinnvollen Einsatz des technisch-orientierten Objektwissens schafft.
•
Methodischer Dualismus Angesprochen ist hier ein erkenntnistheoretischer Dualismus, der unterstellt, daß sich die beiden Wissenschaftsbereiche unterschiedlicher, nicht miteinander vereinbarer Methoden des Erkenntniserwerbs bedienen. Die
36 Vgl. Mittelstraß, 1989, S. 11. 37 Mittelstraß, 1989, S. 14, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 38 Mittelstraß, 1989, S. 19.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
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Naturwissenschaften arbeiten mit empirischen, hypothetisch-deduktiven Methoden.39 Ein Beobachtungsphänomen kann aus Sicht der Naturwissenschaften somit erklärt werden, wenn die einzelnen Bestandteile eines Beobachtungsphänomens und die Funktionsweisen dieser Bestandteile erklärt werden können. Dagegen steht die hermeneutische Methode der Geisteswissenschaften, die davon ausgeht, daß ein Beobachtungsphänomen erst dann richtig verstanden wird, wenn die Zusammensetzung der einzelnen Bestandteile untersucht wird und zugleich der Sinn dieser Bestandteile aus der Sicht des gesamten Beobachtungsphänomens interpretiert wird. Dilthey hat ftir diesen Methodendualismus das Gegensatzpaar von "erklärender" Methode der Naturwissenschaften zu "verstehender" Methode der Geisteswissenschaften geprägt. 40 Die Zuschreibung der Methoden steht in enger Verbindung mit den Rollen Objektwissen versus Orientierungswissen - sowie den unterschiedlichen Zielsetzungen, die den zwei Wissenschaftsbereichen zugeschrieben wurden. Zur Gewinnung von Objektwissen sei eben eine empirisch geprägte, hypothetisch-deduktive, erklärende Vorgehensweise die geeignete. Während zur Vermittlung von Orientierungswissen eine interpretativ, verstehende Vorgehensweise notwendig sei. Genauso wenig, wie sich die ungleiche Rollenverteilung und die unterschiedlichen Zielsetzungen zwischen den Wissenschaftsbereichen halten ließen, läßt sich nun der Methodendualismus begründen. Die Geisteswissenschaften spielen ebenso wie die Naturwissenschaften eine konstruktive, fortschrittsorientierte Rolle, deshalb sind sie genauso auf eine erklärende Methodik angewiesen. Dies zeigt sich bei besonders anwendungsorientierten Geisteswissenschaften wie der Soziologie oder der Wirtschaftswissenschaft deutlich. Andererseits bringen auch die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse die Notwendigkeit zum Überdenken der dort bislang bevorzugten Forschungsmethoden. Wie noch in Abschnitt F.l1.2.b).bb) aufgezeigt wird, schlägt Riedl - selbst ein Naturwissenschaftler - eine neue Form der Forschungsmethodik vor, die sich eng an die Vorstellungen der Hermeneutik anlehnt. Zudem scheint der strenge Gegensatz zwischen der hypothetisch-deduktiven Methode und der Hermeneutik ohnehin nur ein Konstrukt zu sein. Dies zeigt der Naturwissenschaftler Sachsse anhand von Aussagen zweier bekannter Geisteswissenschaftier, Heidegger und Gadamer. 41
39 Vgl. Sachsse, 1974, S. 208. 40 Vgl. Dilthey, 1922. 41 Vgl. Sachsse, 1974, S. 215.
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C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
Die oben geführte Diskussion zeigt, daß sich die streng dualistische Einteilung von Natur- und Geisteswissenschaften nur schwer aufrechterhalten läßt, insbesondere dann, wenn damit die Vorstellung verbunden ist, alle wissenschaftlichen Disziplinen erfassen und sinnvoll getrennt einordnen zu können. 42 Eine ganze Reihe von Disziplinen, die sich auf der Grenze zwischen den beiden Bereichen befinden, lassen sich ohnehin kaum sinnvoll einordnen. In der Literatur werden hier eine ganze Reihe von Beispielen genannt. 43 Gerade die Soziologie und mit ihr natürlich auch die Wirtschaftswissenschaften geraten hier zwischen die Stühle. Einerseits beschäftigen sie sich mit der menschlichen Gesellschaft, so gesehen also mit einem Produkt des Geistes, andererseits versuchen sie aber die Erscheinungsformen gesellschaftlichen Verhaltens mit empirischen und quantitativen Methoden, also scheinbar naturwissenschaftlichen Methoden zu erfassen. 44 Hierbei wird jedoch die naturwissenschaftliche Methode der Datenerhebung und Faktensicherung immer mit der geisteswissenschaftlichen Interpretation zur Klärung von Sinn und Bedeutung der Fakten verbunden. 45 "Man kann daher sicher mit Fug sagen, daß die Soziologie als moderne Sozialwissenschaft in ihrer gegenwärtigen Situation sowohl individualisierende, verstehend-beschreibende und deutende als auch generalisierende, erklärend-gesetzessuchende Aspekte hat und ihre theoretischen Modelle aus beiden Orientierungen bezieht. ".46 Nach der bislang weitgehend philosophisch erfolgten Diskussion und Widerlegung der Thesen Snows kann diese Widerlegung zusätzlich noch von einer ganz anderen Warte, nämlich von der des Biologen aus, begründet werden. Riedl erklärt die "Spaltung des Weltbildes" in seinem gleichnamigen Buch durch die biologische Ausstattung des Menschen. 47 Insbesondere spielt die vorbewußte Erkenntnis- und Entscheidungshilfe des ratiomorphen Apparats eine wesentliche Rolle. Wie an späterer Stelle in einem umfassenderen Zusammenhang noch ausführlich dargestellt wird, besteht dieser ratiomorphe Apparat aus vier empirisch ermittelten Erkenntnismechanismen, die als Voraus-Urteil des rationalen Denkens aufzufassen sind. 48 Vor allem zwei dieser vorbewußten Erkenntnismechanismen sind für die Spaltung des Weltbildes von Bedeutung. Es handelt sich um die Hypothese von der Ur-Sache und die Hypothese vom Zweckvollen, die zu zwei verschiedenen Weltanschauungen führen. "Die eine, die meint, alle Dinge, alle Ereignisse auf dieser Welt, auf letzte 42 Vgl. Gabriel, 1991, S. 75. 43 Vgl. Gabriel, 1991, S. 75/ Hübenthai, 1991, S. f34 ff.! Mittelstraß, 1989, S. 26. 44 Vgl. Markl, 1989, S. 120/ Riedl, 1987b, S. 61. 45 Vgl. Markl, 1989, S. 122. 46 Reimann, 1975, S. 74, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 47 Vgl. Riedl, 1985. 48 Vgl. die ausführliche Darstellung in Abschnitt F.II.2.a).bb).
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
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Ursachen zurückfuhren zu können. Eine andere Sicht, die versucht, alle Dinge in dieser Welt aus letzten Zwecken zu begründen. Wir haben in unserer Geistesgeschichte damit die Natur- und Geisteswissenschaften getrennt.". 49 Riedl geht davon aus, daß es zur Spaltung des Weltbildes nur aufgrund einer Schwäche der Vernunft kommt. Während beide Hypothesen im ratiomorphen Apparat vollkommen gleichgewichtig zur Verrechnung der Informationen eingesetzt werden, spiegelt die Vernunft eine sich widersprechende Entscheidungsalternative zwischen den zwei Hypothesen vor. Damit erfolgt erst im rationalen Bereich mit der Entscheidung fur die eine oder die andere Alternative die Spaltung der Welt in zwei verschiedene Weltanschauungen. Mit diesen unterschiedlichen Weltanschauungen werden natürlich auch unterschiedliche wissenschaftliche Methoden eingefuhrt. Die naturwissenschaftliche Methode, die ein Phänomen über die materialistische Betrachtung seiner einzelnen Bestandteile zu erklären versucht und die geisteswissenschaftliche Methode, die versucht, das Phänomen aus seiner sinn- oder zweckhaften Einordnung im Rahmen des Gesamtphänomens zu verstehen. Beide Vorgehensweisen fuhren jedoch fur sich allein betrachtet zu einer vereinfachten Erfassung der Welt und zugleich erst recht zu einer Spaltung der Erkenntnis. Die empirische naturwissenschaftliche Forschung hat jedoch eine Welt ans Tageslicht gebracht, die durch einen wechselseitig miteinander verknüpften Schichtenbau charakterisiert ist. Diese aus der Erfahrung gewonnene Erkenntnis stimmt jedoch nicht mit unserer, durch den Dualismus zwischen Ursache und Zweck geprägten Anschauung von der Welt überein. 50 Insofern handelt es sich bei dieser Spaltung der Welt in zwei Kulturen um keine wirkliche, durch empirische Erfahrung nachvollziehbare Spaltung sondern um einen reinen kognitiven Dualismus. "So, wie sich die Dinge aus dieser Ansicht entwickelten, erweist sich die Spaltung unserer Kultur in eine natur- und geisteswissenschaftlich-literarische als ein Artefakt, als ein Kunstprodukt doppelten Sinns: als von uns gemacht ... Diese Spaltung entspricht nicht der Struktur der Welt, vielmehr dem Dilemma der menschlichen Seele.".51 Sowohl die philosophisch, als auch die biologisch geflihrte Argumentation zeigt somit bei näherer Betrachtung, daß ein Teil der formulierten Gegensätze zwischen Natur- und Geisteswissenschaften weniger kraß ausflillt, als auf den ersten Blick angenommen oder sich sogar als nicht existent herausgestellt hat. 52 Zusammenfassend wird deutlich, daß eine wie auch immer geartete Ein49 Riedl, 1987b, S. 63. SO Vgl. Riedl, 1985, S. 95. 5 I Riedl, 1985, S. 287. 52 Vgl. hierzu auch Prigogine, Stengers, 1981, Teil III des Buches, insbesondere S.290.
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C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
teilung der Wissenschaften in unterschiedliche Bereiche nur begrenzt sinnvoll erscheint. Rein als Ordnungsversuch und zum Zwecke begrifflicher Klärungen können solche Einteilungen als heuristische Hilfestellungen akzeptiert werden. Dies ist jedoch dann nicht mehr der Fall, wenn mit der Einteilung zugleich die Behauptung verbunden wird, die so unterteilten Wissenschaftsbereiche seien aufgrund von unüberwindbaren Verständigungsschwierigkeiten zu einem Dialog nicht mehr in der Lage. Spätestens wenn die gesamte Welt als komplexes Beobachtungsphänomen verstanden wird, muß klar werden, daß hier keine miteinander unvereinbaren Erkenntnisbereiche vorliegen, sondern letztlich nur ein Kontinuum an unterschiedlichen Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung, die allesamt ihren Teil zu einem ganzheitlichen Bild der Wirklichkeit beitragen. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich in einem weiteren Schritt natürlich die Notwendigkeit, den kognitiven Dualismus zu überwinden. Diese Forderung versucht die Abbildung II auszudrücken. Es geht also darum, über die Zusammenfügung der spezifischen Unterschiede auf dem Kontinuum der Erkenntnis zu einer gesamthaften Erkenntnis der betrachteten Phänomene zu kommen. 53 Dies ist aber nichts anderes als die Forderung nach einer interdisziplinären Zusammenarbeit der zwei Wissenschaftsbereiche wie sie schon anhand des Interdisziplinaritätsverständnisses von Hübenthai abgeleitet wurde. Somit schließt sich hier der Kreis: Gerade aus der Diskussion der scheinbaren Unverträglichkeit von Natur- und Geisteswissenschaften erwächst schlußendlich wieder die Erkenntnis, daß beide Wissenschaftsbereiche miteinander verbunden werden müssen, um zu einer ganzheitlichen Erklärung der betrachteten Phänomene zu kommen. In bezug auf die Thesen von Snow kann mit Fiedler gesagt werden: Es handelt sich wohl nicht um zwei Kulturen, sondern um zwei Formen einer Kultur. 54 Der Verfasser dieser Untersuchung schließt sich somit den Autoren an, die die Thesen von Snow für falsch oder bestenfalls für einen Mythos 55 halten, der es bequem und sicher macht, von zwei Kulturen auszugehen, um sich so seiner gewohnten Spezialisierung zu widmen. 56 Genau dieser Bequemlichkeit und Sicherheit soll jedoch in dieser Untersuchung nicht nachgegeben werden. Um so weniger, weil sich gerade die Sozialwissenschaften und damit auch die Wirtschaftswissenschaften auf der Nahtstelle zwischen Natur- und Geisteswissenschaften befinden. Damit besteht offensichtlich gerade auch im Bereich der Wirtschaftswissenschaften eine ernstzunehmende Chance oder wie der Verfasser nach der bisherigen Untersu-
53 54 55 56
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Gabriel, 1991, S. 79. Fiedler, 1990, S. 75. Mittelstraß, 1989, S. 10. Gaier, 1991, S. 105.
11. Interdisziplinarität als Ausgangspunkt der theoretischen Fundierung
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chung der neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse meint, geradezu eine Notwendigkeit, durch eine interdisziplinäre Vorgehensweise bei der Erklärung wirtschaftswissenschaftlicher Untersuchungsphänomene, den kognitiven Dualismus zu überwinden.
Hypothese vom Zweckvollen Verstehen aus Sicht des übergeordneten Sinnes
Erklären aus Sicht der untergeordneten Materie und der Kräfte
Hypothese von der Ur-Sache Abbildung I I: Überwindung des kognitiven Dualismus
6 Scheurer
82
c. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen 111. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts der strategischen Steuerung von Unternehmen
Der Anspruch dieser Untersuchung liegt in der Weiterentwicklung der theoretischen Grundlagen der strategischen Steuerung. Wie bereits aufgezeigt wurde, bietet es sich hierbei offensichtlich an, im Rahmen einer interdisziplinären Vorgehensweise auf neuere physikalische und evolutions biologische Erkenntnisse zurückzugreifen. In Zusammenhang mit diesen Erkenntnissen wird in der naturwissenschaftlichen Fachliteratur immer wieder auf eine wissenschaftliche Weiterentwicklung dieser Fachgebiete durch einen Paradigmawechsel hingewiesen. Damit ist von diesen Autoren Kuhns Vorschlag zur Weiterentwicklung der Wissenschaften angesprochen, den er in einem stark beachteten Essay mit dem Titel: "Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" vorgelegt hat. 57 Neben diesem Vorschlag Kuhns zur Weiterentwicklung der Wissenschaft findet in der Literatur vor allem Poppers Konzeption des "Kritischen Rationalismus" breite Beachtung. Diese beiden Konzeptionen werden im folgenden kurz skizziert und auf ihre Eignung als wissenschaftsmethodische Grundlage für eine Weiterentwicklung der theoretischen Grundlagen der strategischen Steuerung untersucht.
1. Der Paradigmawechsel Kuhns Da die Grundidee dieser Untersuchung darin besteht, zu prüfen, ob neue Erkenntnisse für eine theoretische Fundierung der strategischen Steuerung durch eine Übertragung von naturwissenschaftlichen Inhalten gewonnen werden können, bei diesen jedoch ein Paradigmawechsel konstatiert wird, stellt sich mit einem solchen Übertragungsversuch natürlich auch für den Bereich der strategischen Steuerung die Frage nach einem Paradigmawechsel. Zunächst muß jedoch eine grundlegende Vorstellung darüber gewonnen werden, wie sich nach der Vorstellung Kuhns die Weiterentwicklung der Wissenschaft über einen Paradigmawechsel überhaupt vollzieht. Hierzu wird Kuhns Paradigmabegriff im nächsten Abschnitt näher beleuchtet. Aufbauend auf diese Begriffsklärung wird dann der gesamte Ansatz von Kuhn vorgestellt. Dies soll vor allem zur Ableitung von Kriterien dienen anhand derer festgestellt werden kann, ob in bezug auf die neuen Erkenntnisse in Physik und Biologie berechtigt von einem Paradigmawechsel gesprochen werden kann. Mittelbar dienen diese Kriterien dann natürlich auch zur Überprüfung eines möglichen
57 Vgl. Kuhn, 1988.
III. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts
83
Paradigmawechsels in der strategischen Unternehmenssteuerung, sofern sich die physikalischen und biologischen Erkenntnisse als übertragbar erweisen. a) Begriff und Bedeutung des Paradigmas nach Kuhn Kuhn versteht unter einem Paradigma: "". allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die fur eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen liefern.".58 Aufgrund der in der Sekundärliteratur aufgetretenen mißverständlichen Interpretation dieses Paradigmabegriffes präzisiert Kuhn den Begriff in einer späteren Abhandlung. Hiernach enthält sein Paradigmabegriff die bevorzugten Analogien bzw. eine Ontologie fur eine Gruppe von Wissenschaftlern, metaphysische Festlegungen sowie konkrete Problem lösungen, die von der Gruppe als paradigmatische Standard- oder Musterbeispiele anerkannt sind. 59 Paradigmen zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: Es handelt sich um neuartige Problemstellungen, die eine ganze Reihe von Wissenschaftlern dazu anregen, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. Zugleich sind die angesprochenen Themen noch offen genug, um Platz fur neue Problemlösungen zu bieten. 60 Paradigmen spielen fur die Wissenschaft eine doppelte Rolle. Zum einen geben sie der wissenschaftlichen Forschung einen Rahmen. Paradigmen bezeichnen quasi die "Autobahnen" und lassen dem Forscher Platz zur Untersuchung der "feinen Verästelungen des gesamten Straßennetzes". Zum anderen legen sie auch eine ganz bestimmte Perspektive des Forscher fest, indem sie definieren, welche Problemstellungen als wissenschaftlich anzusehen sind und welche grundsätzlichen Lösungsmöglichkeiten fur diese Probleme existieren. 61 Selbst Messungen von realen Erfahrungswerten sind nicht objektiv sondern paradigmabedingt. 62 b) Normalwissenschaftliche und außergewöhnliche Forschung nach Kuhn Kuhn unterscheidet bei der Entwicklung der Wissenschaften zwei zueinander komplementäre Entwicklungspfade, die sogenannte "normale Wissen-
58 Kuhn, 1988, S. 10. 59 Vgl. Kuhn, I 988a, S. 393. 60 Vgl. Kuhn, 1988, S. 25. 61 Vgl. Kuhn, 1988, S. 122. 62 Vgl. Kuhn, 1988, S. 138 ff. 6*
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C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
schaft" und die "außerordentliche Wissenschaft", die in wissenschaftlichen Revolutionen zum Ausdruck kommt. 63 Im folgenden soll anhand der Charakteristika dieser bei den Entwicklungspfade untersucht werden, was Kuhn unter den jeweiligen Begriffen versteht. Kuhn beschreibt die "normale Wissenschaft" durch folgende Kriterien: 64 •
Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat feste und verbindliche Annahmen über die Beschaffenheit der Welt, die auf wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruhen.
•
Die normale Wissenschaft ist stark in der Tradition bereits gültiger Theorien verwurzelt.
•
Die wissenschaftliche Gemeinschaft anerkennt diese Theorien als Grundlage ihrer Arbeit.
•
Dieses anerkannte Theoriengebäude findet sich in Lehrbüchern wieder.
Im Prinzip versucht die normale Wissenschaft, die Natur in das relativ starre Korsett des Paradigmas zu pressen. Damit bleiben den Wissenschaftlern, die normale Wissenschaft betreiben, nur "wissenschaftliche Aufräumarbeiten" übrig, die dazu dienen, das vorhandene Paradigma weiter zu stärken. Diese wissenschaftlichen Aufräumarbeiten beziehen sich auf die möglichst exakte Bestimmung von Fakten, die für das zugrundeliegende Paradigma von Bedeutung sind, auf den experimentellen Nachweis der Übereinstimmung von Natur und Theorie, auf die verfeinerte Artikulation des Paradigmas und damit verbunden auf die Ausräumung von Unklarheiten, die noch mit dem bestehenden Paradigma verbunden sind. 65 Der Versuch, neue Theorien zu finden, wird nicht gemacht, neue Thesen werden sogar unterdrückt, wenn sie die grundlegenden Annahmen des vorhandenen Paradigmas erschüttern. 66 Trotzdem entdeckt die normale wissenschaftliche Forschung gerade im Rahmen der wissenschaftlichen Aufräumarbeiten immer wieder Phänomene, die Anomalien im Sinne des vorhandenen Paradigmas darstellen. Trotz des ursprünglichen Widerstandes der Forschergemeinschaft beginnt sich mit dem Auftauchen zunehmender Anomalien oder der zunehmenden empirischen und theoretischen Bestätigung der Anomalien langsam das bestehende Paradigma zu verändern. 67
63 Vgl. Kuhn, 1988, S. 138 ff.! Vgl. Kuhn, 1988, S. 20 ff. 64 Vgl. Kuhn, 1988, S. 20 und S. 25. 65 Vgl. Kuhn, 1988, S. 39 ff. 66 Vgl. Kuhn, 1988, S. 38. 67 Vgl. Kuhn, 1988, S. 75.
III. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts
85
Diese Veränderungen führen solange zu einer Ausweitung oder Präzisierung des bestehenden Paradigmas bis die auftauchenden Anomalien so zahlreich und tiefgreifend werden, daß sie sich auf dem Wege der normalen Wissenschaft nicht mehr erklären lassen und dadurch das bestehende Paradigma in eine Krise gerät. Diese Krise zeichnet sich dadurch aus, daß flir die aufgetretenen Anomalien immer mehr Ad-hoc-Anpassungen des Paradigmas vorgenommen werden bis schlußendlich sogar Unsicherheit über die eigentliche Bedeutung des Paradigmas aufkommt. Diese so offensichtlich gewordene Krise bereitet den Bruch des bestehenden Paradigmas vor. 68 Zum tatsächlichen Bruch des alten Paradigmas kommt es nach Kuhn jedoch nicht allein durch die (nfragestellung des Paradigmas mittels der aufgetretenen Anomalien, sondern erst dann, wenn an die Stelle des alten Paradigmas ein neues Paradigma gesetzt werden kann, das besser dazu in der Lage ist, die Anomalien, die sich aus der Gegenüberstellung von altem Paradigma und realen Phänomenen ergeben haben, zu erklären. Mit anderen Worten erfolgt damit ein Vergleich der Theorien in bezug auf deren bessere Übereinstimmung mit den beobachteten Fakten. 69 Wird durch den eben angesprochenen Theorienvergleich ein altes durch ein neues Paradigma ersetzt, so handelt es sich nach Kuhn um eine wissenschaftliche Revolution. Kuhn versteht unter einer wissenschaftlichen Revolution " ... jene nicht kumulativen Entwicklungsepisoden .. , in denen ein älteres Paradigma ganz oder teilweise durch ein nicht mit ihm vereinbares neues ersetzt wird.".70 Kuhn beschreibt "wissenschaftliche Revolutionen" durch folgende Kriterien: 71 •
Durch eine wissenschaftliche Revolution kommt es zur Zurückweisung einer von der wissenschaftlichen Gemeinschaft bislang als gültig angesehenen Theorie.
•
Eine wissenschaftliche Revolution bringt eine Verschiebung der bisherigen wissenschaftlichen Problemstellungen und Maßstäbe mit sich.
•
Es kommt zu einer fundamentalen Umgestaltung wissenschaftlicher Denkweisen. Auch bisherige Theorien müssen umgearbeitet und neu gewertet werden. Die Welt des Wissenschaftlers " ... wird durch grundlegende Neuerungen - auf dem Gebiet der Theorie oder der Tatsachen - ebenso qualitativ umgewandelt wie quantitativ bereichert.". 72 68 Vgl. Kuhn, 1988, S. 96 ff. 69 Vgl. Kuhn, 1988, S. 92 und S. 158. 70 Kuhn, 1988, S. 104. 71 Vgl. Kuhn, 1988, S. 21 und S. 104 ff. 72 Kuhn, 1988, S. 22.
C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
86
Kuhn schließt aus diesen Erkenntnissen, daß es einen kumulativen Fortschritt der Wissenschaft, wie er in den meisten Lehrbüchern dargestellt wird, nicht gibt. 73 Vielmehr ergibt sich wissenschaftlicher Fortschritt abrupt durch neue Theorien im Rahmen einer wissenschaftlichen Revolution, die dazu in der Lage ist, die Anomalien, die sich aus dem Vergleich zwischen altem Paradigma und den realen Phänomenen ergeben, aufzulösen. Wissenschaftlicher Fortschritt so gesehen, ist mit einem stetigen Prozeß vergleichbar, in dem die normale Wissenschaft durch ihre Aufräumarbeiten wissenschaftliche Revolutionen vorbereitet. 74 Wissenschaftliche Entwicklung ist somit als eine Folge traditionsgebundener Perioden zu sehen, zwischen denen nicht-kumulative Umbrüche liegen. 75 In diesen wissenschaftlichen Revolutionen nimmt die wissenschaftliche Gemeinschaft eine Selektion des besten Weges vor, auf dem künftig Wissenschaft zu betreiben ist.
2. Der Kritische Rationalismus Poppers Popper geht bekanntlich davon aus, daß eine Weiterentwicklung der Wissenschaft nicht durch ein induktives Vorgehen nach den Gesetzen der Logik möglich ist. Deshalb löst Popper das logische Induktionsproblem im Rahmen des von ihm entwickelten "Kritischen Rationalismus" mit folgenden Grundaussagen: 76 •
Grundsätzlich ist die Verifikation von Theorien auf der Basis der Induktion unmöglich. Damit bleiben alle Theorien stets Hypothesen.
•
Die Verifikation einer Theorie ist zwar nicht möglich, allerdings können jedoch die deduktiv aus dieser Theorie abgeleiteten Prognosen und damit auch die Theorie selbst mittels empirischer Fakten falsifiziert werden.
•
Damit gibt es immer nur vorläufig gültige Theorien, die durch erfolgreiche Falsifikationen von neuen Theorien abgelöst werden, die diesen Falsifikationsversuchen Stand halten. Gibt es mehrere nicht falsifizierte Theorien, sind jene vorzuziehen, die den höheren empirischen Gehalt besitzen.
•
Popper geht davon aus, daß die "Wahrheit an sich" zwar nicht erkannt werden kann, mit dieser Methode jedoch eine ständige Annäherung an die Wahrheit stattfindet. Jedes Wissen ist jedoch nur Vermutungswissen und stets von hypothetischer Natur.
73 74 75 76
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Kuhn, 1988, S. 108 und S. 150 ff. Kuhn, 1988, S. 184. Kuhn, 1988, S. 220. Popper, Kreuzer, 1992, S. 22 und S. 29.
111. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts
87
Mit anderen Worten sind also zunächst probeweise Hypothesen über zu erklärende Sachverhalte zu formulieren. Diese Hypothesen können zwar nie verifiziert werden, wohl aber können sie sich in der kritischen Diskussion behaupten, solange sie einer empirischen Überprüfung standhalten. Scheitern die Hypothesen allerdings an der empirischen Erfahrung, gelten sie als falsifiziert. 77 Die zentrale Stellung in diesem Ansatz nimmt somit die Falsifikation der Hypothesen ein. Über die Falsifikation der alten Hypothese und die Entwicklung von neuen, scheinbar besseren Hypothesen, die dann wiederum der empirischen Überprüfung ausgesetzt werden, verläuft der wissenschaftliche Fortschritt. Für eine geeignete empirische Überprüfung ergibt sich jedoch die zwingende Voraussetzung, daß es eine sichere und objektive empirische Basis gibt, die als Vergleichsmaßstab an die Hypothesen angelegt werden kann. Mit anderen Worten: Es müßte eine theorieneutrale empirische Basis geben. Genau dies zweifelt aber Kuhn an.78 Popper anerkennt zwar grundsätzlich, daß eine sichere empirische Basis nicht existent ist. 79 Dies behandelt Popper in seinem Werk "Logik der Forschung" als Basisproblem des Kritischen Rationalismus.80 Er versucht das Problem über die Einführung von empirischen Prüf- oder mit Poppers Worten "Basissätzen" zu lösen, die selber wiederum " ... durch 'Beobachtung' intersubjektiv nachprüfbar ... " sein müssen. 81 Diese Basissätze unterliegen also selber einer kritizistischen Diskussion. So können nach und nach unproblematische Prüf- oder Basissätze gefunden werden, die dann als "anerkannt"82 gelten. Popper weist selbst darauf hin, daß mit dieser durch Konvention anerkannten Festlegung im Grunde eine Dogmatisierung der Basissätze verbunden sei. Allerdings würde es sich um eine harmlose Art der Dogmatisierung handeln, da bei Bedarf die Basissätze jederzeit weiter überprüft werden könnten. 83
77 Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung vor allem die Werke Poppers, 1973, sowie Popper, 1976/ einen Überblick geben Abel, 1983, S. 4 ff.! Albert, 1976, Sp. 4676 ff./ Döring, S. 173 f.! Kretschmann, 1990, S. 9 ff.! Meyer, 1979, S. 29 ff./ Raffee, Abel, 1979, S. 3 ff.! Schanz, 1988a, S. 3 ff. 78 Vgl. Kuhn, 1974, S. 14. 79 Vgl. Popper, 1976, S. 65. 80 Vgl. Popper, 1976, Zweiter Teil, Kapitel V. 81 Popper, 1976, S. 68. 82 Popper, 1976, S. 69. 83 Vgl. Popper, 1976, S. 70.
88
C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
3. Kritische Abwägung der beiden Ansätze Mit den Ansätzen von Kuhn und Popper wurden zwei Konzeptionen dargestellt, die beide den Anspruch erheben, die Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Fortschritts adäquat zu beschreiben. Damit wird eine kritische Abwägung der beiden Ansätze notwendig, um so möglicherweise zu einer Entscheidung zu gelangen, welcher der beiden Ansätze als wissenschaftsmethodische Grundlage für diese Untersuchung besser geeignet ist. In Kuhns Ansatz, die Entwicklung der Wissenschaften anhand eines Paradigmawechsels zu beschreiben, stecken zwei wesentliche Elemente, die in diesem Abschnitt näher betrachtet werden sollen. Das erste wesentliche Element, aus dem der Kuhnsche Ansatz heraus verstanden werden muß, ist der wissenschaftshistorische Hintergrund, den Kuhn wählt. Kuhn betrachtet wissenschaftliche Erkenntnis im Kontext ihrer jeweiligen Entstehungszeit. Insofern enthält Wissenschaft nach Kuhn immer auch Glaubenselemente der betrachteten Zeit. "Ein offenbar willkürliches Element, das sich aus zufälligen persönlichen und historischen Umständen zusammensetzt, ist immer ein formgebender Bestandteil der Überzeugungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer bestimmten Zeit angenommen werden".84 Damit wird von Kuhn grundsätzlich die Theorieunabhängigkeit der Erfahrung in Frage gestellt. Diese Feststellung steht in enger Verbindung mit dem zweiten wesentlichen Punkt in Kuhns Ansatz. Dies ist die Kritik an Poppers Falsifikationslösung. Insbesondere die kritizistische Lösung des Basisproblems wird von Kuhn nicht anerkannt. Wenn auch die Prüfsätze theorienabhängig sind, kann es auch keine sichere Widerlegung von Hypothesen geben.8 5 Dies zeigt sich nach Kuhn vor allem anhand wissenschaftlicher Revolutionen. Durch eine wissenschaftliche Revolution ändern sich die wissenschaftlichen Denkweisen so stark, daß sich auch die zur empirischen Prüfung herangezogenen Basissätze - die anerkannterweise selbst theorieabhängig sind - in einem Maße ändern, daß überhaupt keine gemeinsame empirische Basis zur Überprüfung der verschiedenen wissenschaftlichen Denkweisen mehr vorhanden ist.86 Kuhn spricht von einem "... Übergang zwischen inkommensurablen Dingen ... ".87 So gesehen beschreibt Kuhn den wissenschaftlichen Fortschritt eben nicht als ein Ergebnis des Falsifikationismus, er geht vielmehr davon aus, daß wissenschaftliche Revolutionen sich ähnlich wie politische Revolutionen vollziehen. Er behauptet, daß sich aufgrund einer Krise das gesamte gesellschaftliche 84 Kuhn, 1988, S. 19. 85 Vgl. Kuhn, 1974, S. 16. 86 Vgl. Kuhn, 1988, S. 159. 87 Kuhn, 1988, S. 161.
III. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts
89
Umfeld wandelt, und daß hiermit fundamentale Neueinsichten verbunden sind. Wissenschaftlicher Fortschritt ist also eng an den gesellschaftlichen Wandel gebunden.8 8 Deshalb sprechen Kritiker von Kuhn, genannt sei hier insbesondere Lakatos, in Zusammenhang mit Kuhns Ansatz von "Wissenschaftspsychologie" .89 Anstelle des sozialpsychologischen Ansatzes von Kuhn 90 nimmt Lakatos den Grundansatz des Falsifikationismus von Popper wieder auf und entwickelt auf dieser Basis einen "raffinierten methodologischen Falsifikationismus".91 Diesen raffinierten methodologischen Falsifikationismus bettet Lakatos in einen neuen Rahmen, seine Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, ein. Ein Forschungsprogramm besteht aus einem harten Kern, das die zentralen Hypothesen sowie einen Ring von Hilfshypothesen beinhaltet, die dazu dienen, den Kern des Forschungsprogrammes zu schützen. Stark verkürzt schlägt Lakatos vor, ein wissenschaftliches Forschungsprogramm nicht bei der ersten Falsifikation aufzugeben, insbesondere dann nicht, wenn es sich um Falsifikationen der Hilfshypothesen handelt. Erst wenn fortlaufend Anomalien auftauchen und diese nicht mehr durch die Bildung neuer' Hilfshypothesen erklärt werden können, wird deutlich, daß das Forschungsprogramm nichts mehr zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen kann und daß damit auch der Kern des Forschungsprogrammes falsifizierbar geworden ist. In diesem Fall spricht Lakatos von einem degenerativen Forschungsprogramm, das durch ein neues Forschungsprogramm mit "... höherem bewährten Gehalt ... " ersetzt werden kann. 92 Damit ist nach Lakatos keineswegs zwingend ein revolutionärer Umsturz der wissenschaftlichen Denkweisen vonnöten. Vielmehr gibt es nach Lakatos verschiedene Möglichkeiten, eine neue Theorie zu formulieren. Dies kann vorsichtig konservativ oder in einem umfassenden revolutionären Akt geschehen. Insofern interpretiert Lakatos die "normale Wissenschaft" nach Kuhn nicht als den Versuch des zwanghaften Festhaltens an einem alten Dogma, sondern als Ausdruck einer sich vorsichtig vorantastenden Forschungsstrategie. Gerade das Beharren Kuhns auf der Notwendigkeit eines revolutionären Wandels und seine
88 VgL Kuhn, 1988, S. 105 ff. 89 Lakatos, 1982, S. 90. 90 VgL Kuhn, 1974, S. 21. 91 VgL Lakatos, 1982, S. 3 I ff. 92 Lakatos, 1982, S. 33/ VgL die ausführliche Darstellung bei Lakatos, 1982/ ein zusammenfassender Überblick wird durch Giesen, Schmid, 1976, S. 110 ff.! Petri, 1976, S. 288 ff.! Schanz, I 988a, S. 22 ff.! und Wiswede, 1985, S. 41 gegeben.
90
C. Wissenschaftsmethodischer Bezugsrahmen
Vorstellung, daß dieser wissenschaftliche Wandel von einer "plötzlichen Erleuchtung der wissenschaftlichen Gemeinde" begleitet ist, veranlassen Lakatos dazu, den Ansatz Kuhns in die Nähe einer irrationalen Metaphysik zu rükken. 93 Festzuhalten bleibt, daß sich offensichtlich zwei grundsätzliche Ansichten über den wissenschaftlichen Fortschritt gegenüberstehen, die sich widersprechen. Einerseits Popper und Lakatos, die den wissenschaftlichen Fortschritt durch schrittweises Vorangehen in einem Versuchs-Irrtums-Prozeß gesichert sehen. Andererseits Kuhn, für den sich wissenschaftlicher Fortschritt in Brüchen der wissenschaftlichen Tradition, verbunden mit der Erreichung eines qualitativ ganz neuen Bildes von der zukünftigen Wissenschaft, ergibt. Aus der momentanen Sicht können die bei den gegensätzlichen Ansätze nicht endgültig gewertet werden. Im Verlauf der Untersuchung werden jedoch ohnehin noch weitere erkenntnistheoretische Inhalte zu betrachten sein, so daß die begründete Hoffnung besteht, daß auf der Basis dieser zusätzlichen Informationen auch eine Wertung dieser beiden Ansätze möglich wird. An späterer Stelle muß somit nochmals auf die hier vorgestellten Aussagen zurückgegriffen werden. Deutlich wurde jedoch schon an dieser Stelle, daß sich sowohl der Ansatz von Kuhn als auch der Poppersche Ansatz berechtigt kritisieren lassen. 94 Für die Verwendung des Ansatzes von Kuhn sprechen im Moment jedoch vor allem zwei Gründe: Zum einen kann anhand der Kriterien von Kuhn gut geprüft werden, ob die in der Literatur in Zusammenhang mit der Untersuchung komplexer Systeme und ihrer Verhaltensweisen immer wieder auftauchenden Behauptungen eines Paradigmawechsels wirklich stichhaltig sind. Zum anderen scheint die Charakterisierung der normalen Wissenschaft nach Kuhn gut auf den momentanen Zustand der Unternehmensführungslehre zu passen. Im wesentlichen scheint die hier tätige wissenschaftliche Fachwelt zur Zeit wirklich damit beschäftigt zu sein, das vorhandene Wissen detaillierter auszubauen und in Lehrbüchern zu fassen. Dies wird auch dadurch deutlich, daß im deutschsprachigen Bereich in den letzten Jahren die Herausgabe von Lehrbüchern zum Thema der strategischen Unternehmensführung deutlich zugenommen hat. 95 Gerade durch die fortschreitende Verfeinerung und Festlegung des vorhandenen Wissens wird möglicherweise der Blick für neue theoretische Sichtweisen verstellt. Vor dem Hintergrund der mangelnden praktischen Relevanz dieses Wissens scheint eine 93 Vgl. Kuhn, 1974, S. 319 ff. 94 Vgl. zu weiterer Kritik am Ansatz Poppers: Wild, 1976, Sp. 3895/ weitere Kritik am Ansatz Kuhns bei Aulin, 1992, S. 27 ff./ Lakatos, 1982, S. 89 ff. 95 Vgl. stellvertretend Hammer, 1991/ Hinterhuber, 1989/ Macharzina, 1993/ Schertier, 1988/ Steinmann, Schreyögg, 1990.
III. Wissenschaftsmethodische Grundlage des theoretischen Fortschritts
91
wissenschaftliche Revolution im Sinne Kuhns eigentlich geboten, um der Praxis durch eine sinnvolle Verschiebung der wissenschaftlichen Perspektiven im Bereich der strategischen Steuerung eine neue Handlungsorientierung geben zu können. Der Ansatz von Kuhn stellt auf jeden Fall eine gute Heuristik dar, mit der im weiteren Verlauf der Untersuchung einerseits die Fragestellung nach einer wissenschaftlichen Revolution geprüft, andererseits aber über die Verschiebung der wissenschaftlichen Perspektiven im Bereich der strategischen Steuerung möglicherweise ein Paradigmawechsel mit eingeläutet werden kann.
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung von Unternehmen in der deutschsprachigen Literatur I. Überblick Wenn an dieser Stelle ein kurzes Resümee über die bisherigen Untersuchungsergebnisse gezogen wird, kommt man zu folgenden Grundaussagen: •
Die Zielsetzung dieser Untersuchung ist die Weiterentwicklung der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung.
•
Als Grundproblematik der praktischen strategischen Steuerung wurden wachsende Komplexität und Unsicherheit identifiziert.
•
Jeder Versuch einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung muß sich mit diesen zwei wesentlichen Charakterzügen des strategischen Steuerungsproblems auseinandersetzen, um überhaupt zu anwendungsbezogenen Steuerungsaussagen zu kommen.
•
Der Versuch einer stärkeren theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung sollte im Rahmen einer interdisziplinären Vorgehensweise vorgenommen werden. Besonders vielversprechend erscheint dabei eine Orientierung an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.
Bereits in Abschnitt B.lV.I. wurde jedoch bemängelt, daß weite Teile der Literatur zur strategischen Steuerung darauf verzichten, Konzeptionen zu liefern, die sich vor allem mit den Fragen von Komplexität und Unsicherheit auseinandersetzen. Stattdessen werden oftmals die Entwicklung und Verfeinerung von strategischen Steuerungstechniken in den Vordergrund gestellt. Eine Ausnahme in der deutschsprachigen Literatur zur strategischen Steuerung bilden jedoch, wie ebenfalls schon erwähnt, zwei Managementschulen: Hierbei handelt es sich um die von Ulrich begründete, St. Galler Schule sowie eine Reihe von Forschern um Werner Kirsch. 1 Beide Schulen stellen nicht nur die Fragestellung der Komplexität in den Vordergrund der Betrachtung, sie fühlen
1 Vgl. stellvertretend Knyphausen, 1987/ Mayer, 1988/ Strasser, 1991.
I. Überblick
93
sich zudem einem interdisziplinären bzw. einem multidisziplinären 2 Forschungsansatz verpflichtet. Außerdem legen sie großes Gewicht auf die Anwendungsorientierung ihrer Managementansätze. Mit diesen Merkmalen unterscheiden sich diese beiden Schulen einerseits vom überwiegenden Teil der Literatur zur strategischen Steuerung, andererseits entsprechen sie damit genau den oben angeführten Grundaussagen dieser Untersuchung. Wenn somit auf der Basis derselben Merkmale versucht werden soll, einen Fortschritt bei der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung zu erzielen, ist es zunächst einmal sinnvoll, mit einer Betrachtung der bereits vorhandenen Ansätze zu beginnen. Zum einen bringt dies Hinweise darauf, bei welchen naturwissenschaftlichen Theorien diese beiden Schulen Potential für die theoretische Fundierung strategischer Steuerungsfragen vermuten,. zum anderen ergibt sich durch diese Betrachtung auch ein gewisser "Nullpunkt" für den weiteren Ablauf dieser Untersuchung. Von diesem Nullpunkt aus können anhand der festgestellten Gemeinsamkeiten und/oder der Unterschiede zwischen diesen Schulen die Forschungsschwerpunkte dieser Untersuchung ausgerichtet werden. Zugleich steht damit ein Referenzpunkt im Raum, von dem aus eine spätere Einordnung unserer Konzeption möglich wird. Allerdings kann es hier nicht darum gehen, den gesamten Umfang der jeweiligen Lehrmeinungen darzustellen. Dies würde einerseits den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, andererseits wurde eine umfassende Untersuchung beider Schulen bereits vorgenommen) Als Anknüpfungspunkt für die Darstellung von verschiedenen Ansätzen aus den beiden Schulen wird deshalb deren interdisziplinäre, insbesondere natürlich deren naturwissenschaftliche, Ausrichtung gewählt. Es geht somit im folgenden in dieser Untersuchung vor allem um die Skizzierung von Inhalten aus diesen zwei Managementschulen, die einen Bezug zu naturwissenschaftlichen Theorien erkennen lassen. Hierbei wird jedoch darauf verzichtet, die naturwissenschaftlichen Elemente der beiden Schulen inhaltlich ausführlich darzustellen, da sich diese Untersuchung an späterer Stelle noch umfassend und in einem übersichtlichen Gesamtzusammenhang genau damit beschäftigen wird. Die Darstellung der Ansätze erfolgt aufgrund ihrer teilweise hohen Eigenkomplexität und wegen der besseren Übersichtlichkeit zumeist kommentarlos. Im Anschluß an die Darstellung der verschiedenen Ansätze werden ihre wesentlichen Aussagen jedoch nochmals zusammengefaßt und einander gegenübergestellt. Aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die als Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung thematisiert werden. 2 V gl. Kirsch, 1992, S. 8. 3 Vgl. Ring1stetter, 1987.
94
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
11. Darstellung verschiedener Ansätze Vor der gesonderten Betrachtung der einzelnen Ansätze sind in diesem Abschnitt noch ein paar Vorbemerkungen zu machen. Im Falle der St. Galler Schule werden kurz die gemeinsamen Grundlagen skizziert, auf die sich alle Autoren der St. Galler Schule berufen. Damit soll eine doppelte Darstellung dieser Grundlagen an späterer Stelle vermieden werden. Im Falle der Münchner Schule ist kurz auf die Probleme einzugehen, die mit der Schilderung dieses Ansatzes verbunden sind. Zunächst wird jedoch im folgenden die gemeinsame Basis aller St. Galler Ansätze dargestellt. Der St. Galler Managementansatz geht von einer rein anwendungsorientierten, nach Ulrich von einer "problemorientierten", Sichtweise der Wissenschaft aus. 4 Demnach hat sich die Managementlehre unmittelbar an den aus der Praxis kommenden Problemstellungen zu orientieren. Ulrich sieht die Betriebswirtschaftslehre als "... eine notwendige Vorstufe zu einem sinnvollen praktischen Handeln der sogenannten Führungskräfte in zweckorientierten sozialen Systemen, insbesondere Unternehmungen.".5 Ziel der Managementlehre muß es also sein, Modelle zu schaffen, die im Rahmen einer praktischen Umsetzung eine möglichst hohe Problemlösungskraft entwickeln. Da es sich in der Praxis jedoch offensichtlich um Probleme handelt, die durch ihre wechselseitige Vernetzung, ihre Dynamik und ihre inhaltliche Vielschichtigkeit gekennzeichnet sind, wird als Grundlage einer ganzheitlichen Erfassung und Handhabung dieser Probleme eine systemtheoretisch kybernetische Betrachtungsperspektive gewählt. Mittels der systemtheoretischen Betrachtungsweise gelingt es aus Sicht der St. Galler Schule sowohl die wechselseitigen Verknüpfungen der Unternehmensbestandteile darzustellen als auch deren Einbettung in übergeordneten Systemen. Eng mit den wechselseitigen Verknüpfungen der Systemelemente ist auch deren inhaltliche Vielschichtigkeit verbunden. Damit macht eine gestaltungsorientierte Betrachtung der verschiedenen Systemelemente und ihrer wechselseitigen Verknüpfungen aus Sicht von Ulrich eine interdisziplinäre Ausrichtung der Managementlehre notwendig. 6 Ulrich betont vor allem die Bedeutung des volkswirtschaftlichen, technologischen, soziologischen und psychologischen Wissens für eine sinnvolle praktische Gestaltung von Unternehmen.7
4Ulrich, 1984,S. 32. 5 Ulrich, 1984, S. 32. 6 Vgl. Ulrich, 1984, S. 35. 7 Vgl. Ulrich, 1984, S. 35.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
95
Die Gestaltungs- und Lenkungsproblematik komplexer sozialer Systeme wird von der St. Galler Schule im Rahmen kybernetischer Strukturmodelle behandelt.8 Insbesondere ist hier eine starke Orientierung an der Biokybernetik festzustellen. Ausgehend von den Lenkungsproblemen in biologischen Systemen und deren Lösung in der Natur, wird versucht, diese Lösungsvarianten auch flir die Unternehmensflihrung fruchtbar zu machen. 9 Mit dieser unmittelbaren Anknüpfung der St. Galler Schule an biologischen Lenkungsmodellen wird auch die Verbindung zu dieser Untersuchung deutlich. Im folgenden sollen zwei eigenständige Ansätze aus der St. Galler Schule vorgestellt werden, die auf biokybernetischer Grundlage Möglichkeiten der praktischen Handhabung von komplexen Führungsproblemen aufzeigen. Angesprochen sind die Konzeptionen von Malik und Probst, die diese unter dem Titel: "Strategie des Managements komplexer Systeme"10 bzw. "SelbstOrganisation"ll vorgelegt haben. Die Konzeption von Malik ist hier von besonderem Interesse, weil sich Malik sehr ausfuhrlich mit der Problematik der Komplexität auseinandersetzt und zu deren Handhabung analogisch eine "biologische Systemstruktur" vorschlägt. Die Konzeption von Probst knüpft an die in der soziologischen Literatur gefuhrte Diskussion über die Beschreibung sozialer Systeme als autopoietische Systeme an. Dabei handelt es sich um einen System begriff, der dort in Anlehnung an die neuere biologische Literatur verwendet wird. Mit diesen bei den Ansätzen sind u. E. zugleich zwei Ansätze aus der St. Galler Schule herausgegriffen, die stellvertretend flir die Entwicklung dieser Managementschule in den letzten Jahren stehen. Auf diese Entwicklung wird allerdings erst nach der Schilderung der Ansätze eingegangen. Im Falle der Münchner Schule um Werner Kirsch wird der gemeinsame Kontext aller Autoren durch die von Kirsch vorgelegte Konzeption der "evolutionären Führungslehre" gebildet. Ausgehend von diesem gemeinsamen Kontext werden von verschiedenen Autoren immer wieder einzelne Bestandteile zum Zwecke der vertieften theoretischen Fundierung aus diesem Kontext herausgelöst und diskutiert; es existieren jedoch keine umfassenden eigenständigen Ansätze, die wesentlich von Kirschs Grundkonzeption abweichen. Deshalb genügt es flir diese Untersuchung Kirschs Konzeption der evolutionären Führungslehre nachzuzeichnen. Hier wurde bewußt von einem Versuch gesprochen, da ein solches Unterfangen aus zweierlei Gründen erschwert wird. Der erste Grund liegt in der Forschungskonzeption Kirschs. Kirsch sieht die Problemstellung der strategischen Steuerung als Multikontextproblem, was 8 Vgl. Ulrich, 1984, S. 41 ff. 9 V gl. Ulrich, 1984, S. 162 ff. . 10 Malik, 1989. 11 Probst, 1987.
96
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
konsequenterweise zur Folge hat, daß er das strategische Steuerungsproblem aus den verschiedensten Kontexten heraus beschreibt. In dieser Untersuchung ist es nicht möglich, alle diese Beschreibungen darzustellen. Es muß deshalb eine Eingrenzung auf die zentralen Bestandteile der Konzeption Kirschs vorgenommen werden. Der zweite Grund, wieso von einem Versuch gesprochen wird, ergibt sich aus der Tatsache, daß Kirsch selbst seine Konzeption als "Work in progress bezeichnet, was zur Folge hat, daß etliche Bestandteile der Konzeption selbst von Kirsch noch als präzisions- und systematisierungsbedürftig beschrieben werden. 12 11
Die evolutionäre Führungslehre von Kirsch knüpft zwar meist nicht unmittelbar an naturwissenschaftlichen Theorien an. Trotzdem ergibt sich ein starker naturwissenschaftlicher Bezug indirekt über die sozialwissenschaftlichen Grundlagen dieses Ansatzes. In jüngster Zeit wird zudem mit der Diskussion der autopoietischen Systemkonzeption auch von Kirsch direkt an biologischen Theorien angeknüpft. Insgesamt gesehen liegen somit auch dieser Konzeption unmittelbar oder mittelbar naturwissenschaftlich geprägte Vorstellungen zugrunde, so daß sie aus dem Blickwinkel dieser Untersuchung von Interesse ist. Im folgenden werden nun mit dem Ansatz von Malik und Probst zunächst zwei Vertreter der St. Galler Schule dargestellt. Im Anschluß daran erfolgt die Betrachtung der Konzeption von Kirsch.
1. "Strategie des Managements komplexer Systeme" von Malik Ausgangspunkt des Ansatzes von Malik ist das von Ulrich übernommene Verständnis von Management als das " ... Gestalten und Lenken von soziotechnischen Systemen ... " und die mit dieser Definition verbundene Sichtweise des Grundproblems des Managements als "... Beherrschung von Komplexität ... ". \3 Malik plädiert dafür, das Problem der Komplexitätsbeherrschung mittels eines systemisch-evolutionären Managementansatzes zu lösen, der sich an der Vorstellung einer spontanen, sich selbst organisierenden Ordnung ausrichtet, wie sie bei lebenden Organismen zu finden ist. 14 Dahinter steht die Vorstellung, daß eine Komplexitätsbeherrschung im Rahmen eines rein rational planenden menschlichen HandeIns nicht möglich ist. Zwar entstehen durch ein solches Handeln auch Ordnungen, in der Regel jedoch nicht die eigentlich beabsichtigten Ordnungen, sondern es entstehen auch in sozialen Systemen spontane Ordnungen. 12 Vgl. Kirsch, 1992, S. 28 ff.
\3 Beide Zitate Malik, 1989, S. 37, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 14 Vgl. Malik, 1989, S. 38 f.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
97
Die folgende Abbildung zeigt Maliks Verständnis des systemischevolutionären Ansatzes in einer Gegenüberstellung mit dem von ihm als vorherrschend bezeichneten konstruktivistisch-technomorphen Managementansatz, der fUr das rein rational planende Management steht: 15 Konstruktivistisch-technomorph (K)
Systemisch-evolutionär (S)
Management ...
Management ...
I .... ist Menschenfllhrung
... ist Gestaltung und Lenkung ganzer Institutionen in ihrer Umwelt
2 .... ist Führung Weniger
... ist Führung Vieler
3 .... ist Aufgabe Weniger
... ist Aufgabe Vieler
4 .... ist direktes Einwirken
... ist indirektes Einwirken
5 .... ist auf Optimierung ausgerichtet
... ist auf Steuerbarkeit ausgerichtet
6 .... hat im grossen und ganzen ausreichende Information
... hat nie ausreichende Information
7 .... hat das Ziel der Gewinnmaximierung
... hat das Ziel der Maximierung der Lebensfähigkeit
Abbildung 12: Der systemisch-evolutionäre Managementansatz nach Malik
Anhand dieser systemisch-evolutionären Sichtweise wird deutlich, daß das Ziel des Managements in der Überlebenssicherung des Unternehmens gesehen wird. Hierzu muß die Gestaltung und Lenkung des Unternehmens so vorgenommen werden, daß es zu einer Komplexitätsbeherrschung bzw. zu einem Ausgleich zwischen Untemehmens- und Umweltkomplexität kommt. 16 Malik legt nun im Rahmen seiner Konzeption des Managements komplexer Systeme in Anlehnung an Beer mit der "Struktur des lebensfähigen Systems" ein kybernetisches Gestaltungsmodell vor, das aus seiner Sicht die "... optimalen Voraussetzungen für die Lösung des Problems der Komplexitätsbewältigung ... " schafft und zugleich Strukturen aufweist, "... die fUr die Lebensfähigkeit eines jeden Systems notwendig und hinreichend sind." .17 Neben diesen strukturellen Voraussetzungen der Komplexitätsbewältigung thematisiert Malik als zweiten Baustein seiner strategischen Managementkon-
15 Malik, 1989, S. 49. 16 Vgl. Malik, 1989, S. 172. 17 Beide Zitate, Malik, 1989, S. 175. 7 Scheurer
98
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
zeption die Lenkungsprozesse, die auf der Basis des kybernetischen Gestaltungsmodelles möglich werden und die ebenfalls zur Komplexitätsbewältigung beitragen sollen. Diese Lenkungsprozesse werden jedoch nicht als spezielle, an den Inhalten des strategischen Managements ausgerichtete Prozesse beschrieben, sondern in Form genereller komplexitätsbewältigender Problem lösungsprozesse, der sogenannten Systemmethodik.1 8 Diese zwei Bestandteile der strategischen Managementkonzeption zeigt folgende Abbildung: 19
Komplexitätsbeherrschung
durch Problemlösen (Lenkung)
durch System-Strukturen (Ordnung)
~
y
spontan
taxisch
konstruktivistisch
Struktur des lebensflIhigen Systems
evolutionär
Systemmethodik
strategisches Management
Abbildung 13: Die kybernetische Konzeption des strategischen Managements nach Malik
Im folgenden werden zunächst die Struktur des lebensfahigen Systems, dann die Systemmethodik näher betrachtet. Die Kybernetik geht davon aus, daß alle komplexen Systeme mit denselben strukturellen Lenkungsmechanismen ausgestattet sind, wenn sie überlebensfahig sein sollen. Diese auch als Invarianztheorem bezeichnete Aussage erlaubt nach Malik folglich auch die Übertragung dieser strukturellen Lenkungsme18 Vgl. Malik, 1989, S. 175. 19 Malik, 1989, S. 175.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
99
chan ismen des "lebensfähigen Systems" auf soziale Systeme. 20 Um sofort möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, erscheint es uns wichtig an dieser SteHe besonders darauf hinzuweisen, daß Malik unter der Lebensfähigkeit keinesfaHs nur eine biologische Lebensfahigkeit versteht, sondern daß dieser Begriff von Malik sehr umfassend definiert wird. Er faßt unter dem Begriff der Lebensfähigkeit folgende Systemeigenschaften zusammen: 21 •
Fähigkeit zur Identitätswahrung
•
Anpassungsfähigkeit
•
Lernfahigkeit
•
Entwicklungsfähigkeit.
Als Ausgangspunkt für die kybernetische Untersuchung eines komplexen Lenkungssystems wurde der menschliche Organismus herangezogen. Ziel ist die Klärung der Frage, welche Lenkungsstrukturen ein soziales System aufweisen muß, um sich ebenso wie ein biologisches System erhalten zu können und zudem unter wechselnden Umweltbedingungen anpassungsfahig, lernfahig und entwicklungsfahig zu sein. Durch eine Abstrahierung der al1gemeinen Lenkungszusammenhänge konnten insbesondere in Anlehnung an das menschliche Zentralnervensystem fünf verschiedene Strukturelemente gefunden werden, die ein lebensfahiges System konstituieren. 22 Diese fünf Strukturelemente, von Malik auch als Subsysteme bezeichnet, und ihre Ableitung vom menschlichen Zentralnervensystem sind in Abbildung 14 des lebensfahigen Systems zu sehen. 23 Die fünf Subsysteme werden im folgenden in Anlehnung an Malik kurz skizziert:24 •
System Eins - Die Divisionsleitung Die in der Abbildung mit Abis D bezeichneten Kreise sind die Basiseinheiten des Unternehmens, die in unmittelbarem Kontakt mit ihrem spezifischen Umfeld stehen. Es handelt sich praktisch um autonome Divisionen. Das System Eins bezeichnet die Divisionsleitung.
20 Vgl. Malik, 1989, S. 77 f. 21 Vgl. Malik, 1989, S. 80. 22 Vgl. Malik, 1989, S. 84 f. 23 Malik, 1989, S. 84. 24 Vgl. ausführlich Malik, 1989, S. 86 ff., zur Erleichterung der analogischen Übertragung auf die Fragen der strategischen Steuerung wurden für den Leser neben der Systembezeichnung von Malik zusätzlich die Systembezeichnung von Schwaninger, 1990, S. 43 ff. verwendet. 7"
IOD
•
D. Interdisziplinäre Ansätze. zur strategischen Steuerung System Zwei - Die Koordinationsfunktion Das System Zwei hat die Aufgabe einer "... Abstimmung und Harmonisierung der Verhaltensweisen aller Systeme Eins im Rahmen der Verhaltensrestriktionen, die vom Gesamtsystem ausgehen ... ".25 Das System Zwei koordiniert somit die Verhaltensweisen der unmittelbar am Markt orientierten Systeme Eins im Sinne übergeordneter Synergieeffekte.
•
System Drei - Die Unternehmensleitung Das System Drei erarbeitet die zentralen Verhaltensrichtlinien, die das Gesamtsystem im operativen Bereich betreffen. Es hat somit vor allem die Aufgabe der Allokationsoptimierung von Ressourcen, deren Verteilung an die Systeme Eins sowie die Aufgabe der Überwachung des Ressourceneinsatzes.
•
System Vier - Das strategische ManagementDas System vier dient der Aufnahme, der Verarbeitung und der Weiterleitung aller Umweltinformationen, die das Gesamtsystem als Ganzes betreffen. Diese Informationen dienen sowohl der Transzendierung der spezifischen Umweltinformationen, die von den Systemen Eins geliefert werden sowie als Grundlage für die Ressourcenallokation des Systems Drei.
•
System Fünf - Das normative Management "Dieses System repräsentiert die oberste Entscheidungsinstanz des Gesamtsystems im Hinblick auf die grundlegenden Normen und Regeln, in deren Rahmen sich alle anderen Systeme bewegen und mit Bezug auf die Erarbeitung und Auswahl der generellen Verhaltensalternativen im Sinne einer aktiven Gestaltung der Zukunft des Gesamtsystems.".26 Malik spricht in diesem Zusammenhang auch von der Gestaltung der Unternehmenspolitik.
Dieses Gestaltungsmodell eines lebensfähigen Systems kann nur dann im Sinne einer Komplexitätsbeherrschung funktionieren, wenn alle Subsysteme vorhanden und entsprechend ausgeprägt sind. Zudem muß das Zusammenspiel zwischen den Subsystemen funktionieren. Malik nimmt nun eine normative Setzung vor, indem er dieses Gestaltungsmodell des lebensfähigen Systems "... als das grundlegende Paradigma jeglicher organisatorischen Gestaltung ... " bezeichnet .27 Strategisches Management in diesem Sinne besteht somit nicht in der Lösung konkreter strategischer Steuerungsprobleme, sondern vielmehr in einer bewußten und zweckorientier25 Malik, 1989, S. 87. 26 MaIik, 1989, S. 91. 27 Malik, 1989, S. 175.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
101
ten Gestaltung einer Systemstruktur, die genügend Raum fur den Ablauf spontaner Ordnungsprozesse läßt.
Abbildung 14: Allgemeine Lenkungszusammenhänge des lebensfähigen Systems nach Malik
Ein Großteil dieser Untersuchung wird sich noch mit spontanen Ordnungsprozessen beschäftigen deshalb wird an dieser Stelle darauf verzichtet, näher zu erläutern, was Malik unter spontanen Ordnungsprozessen versteht. Nur so viel sei an dieser Stelle gesagt: Malik lehnt sich stark an die Vorstellungen von Hayek an. 28 Strategisches Management findet fur Malik somit nicht auf der Objektebene, sondern auf einer Metaebene statt. Dahinter steckt die Vorstellung, daß nur über spontane Ordnungsprozesse die außerordentlich hohe Komplexität auf der Ebene der konkreten Lenkung sozialer Systeme beherrscht werden kann. Malik spricht in diesem Zusammenhang von der Objektebene ,29
28 Der Leser, der sich bereits im Vorfeld über spontane Ordnungen im Sinne von Hayek kundig machen möchte, findet diese Darstellung in Abschnitt J.III.I.a) 29 Vgl. Malik, 1989, S. 350.
102
D. Interdisziplinäre Ansätze. zur strategischen Steuerung
Eng verknüpft mit dem GestaltungsmodelJ des lebensfahigen Systems ist auch die Schaffung einer Systemmethodik als generelle Vorgehensweise für den Umgang mit komplexen Systemen.3 0 Die Systemmethodik ist ebenfalls nicht für die Lösung von Problemen auf der Objektebene gedacht, vielmehr stellt sie eine Vorgehensweise dar, die auf die Installation der Lenkungsmechanismen ausgerichtet ist. Diese Lenkungsmechanismen dienen dazu, die Probleme auf der Objektebene zu lösen.3 1 Damit geht es letztlich um die Gestaltung und Kultivierung der Strukturen des lebensfahigen Systems mittels systemmethodischer Prinzipien. Da sich jedoch Struktur und Prozesse gegenseitig bedingen, ist davon auszugehen, daß die systemmethodischen Prinzipien wiederum selbst nur im Kontext des lebensfahigen Systems wirksam angewendet werden können.3 2 Die Abbildung 15 zeigt ein kommentiertes Phasen schema der lenkungsorientierten Systemmethodik. 33 Entscheidend ist aus der Sicht von Malik der kybernetische Charakter dieser Systemmethodik, der darin zum Ausdruck kommt, daß die einzelnen Prozeßphasen dieser zunächst konstruktivistisch angelegten Methodik als zirkulär miteinander verknüpft gedacht werden müssen. Zudem muß jede der einzelnen Prozeßphasen als Versuchs-lrrtums-Prozeß verstanden werden.3 4 Wie bereits in der Abbildung 13 deutlich wurde, vereint nach Malik eine kybernetische Konzeption des strategischen Managements beide Elemente: die Systemmethodik und die Struktur des lebensfiihigen Systems. Nach der Charakterisierung dieser beiden Elemente wird deutlich, daß strategisches Management im Sinne Maliks weniger eine Lenkung auf der Objektebene, sondern vielmehr eine Lenkung auf einer Metaebene ist. "Die Fragestellung ist also weniger auf eine konkrete Strategie als Output eines bestimmten Systems gerichtet, sondern vielmehr auf das strategieproduzierende System selbst, und das Problem besteht nicht primär in der Entwicklung einer speziellen Strategie, sondern in der Gestaltung eines Systems, das Strategien produzieren kann.".35 Es sollen im Grunde also nur noch von einer höheren Ebene die Prinzipien gestaltet werden, in deren Rahmen sich die komplexen Probleme der Objektebene durch spontane, selbstorganisierende Prozesse ihre eigene Ordnung geben.3 6 30 Vgl. Malik, 1989a, S. 135. 31 Vgl. Malik, 1989, S. 349. 32 Vgl. Malik, 1989, S. 350. 33 Malik, 1989, S. 365. 34 Vgl. Malik, 1989, S. 369. 35 Malik, 1989, S. 180, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 36 Vgl. Malik, 1989, S. 454.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
I I.
Ermittlung des Problems
r l 2 . Auswahl des Lcnkungsmodells
rl3.
H
!
Bestimmung des problemrelevanten Systems
~
4. Ermittlung des Verhaltensmusters des Systems 5. Spezifizierung der Struktur des Systems
!
y
- Feststellung von Symptomen - Fonnulierung des Problems
I
1
I
- Kategorisierung des Problems - Zuordnung des Lcnkungsmodells
I- Bestimmung des Systemzwecks
1
- Ermittlung der System variablen
I
- Estellen eines Protokolls des Systemverhaltens - Feststellung von Mustern
1
I
1
- Analyse der Verhaltensmuster
I
- Schwachstellen-Analyse anhand des gewahlten Lcnkungsmodells - Prazisierung der Schwachstellen
7. Ermittlung von Einflussmöglichkeiten
I
- Bestimmung der Systemziele - Bestimmung von ParameterInderungen als Constraints - Simulation der Wirkung von Parameterlnderungen
18. Systems Design und
I
- Institutional isierung von Einflussmögl ichkeiten - Implementierung der Problemlösung
19. Konzipierung der
I
- Spezifizierung von Warnsignalen -Institutionalisierung und Implementierung von Warnsignalen
Überwachung
1
I
I
I
I
1- Ermittlung der Struktur
6. Feststellung möglicher Schwachstellen
Implementierung
103
Abbildung 15: Die lenkungsorientierte Systemmethodik nach Malik
In dieser Konzeption der "Metalenkung" kommt der Systemmethodik die Aufgabe zu, den Problemlöser dazu anzuhalten, " ... die von ihm wahrgenommenen Symptome lenkungsbezogen zu interpretieren, dementsprechend die Lenkungscharakteristika der die Probleme produzierenden Systeme herauszufiltern und auf dieser Grundlage systembeeinflussende Massnahmen zu entwikkein und zu überwachen ... ",37 Das Gestaltungsmodell des lebensfahigen Systems kann als " ... fundamentales Analyse- und Gestaltungsraster in die entsprechenden Phasen der Systemmethodik eingebaut werden, so dass die len37 Malik, 1989, S. 454.
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
104
kungsbezogenen Überlegungen des Problemlösers gewissermassen entlang des Modells und vor allem in Ausdrücken des Modells verlaufen können.".3 8 Neben der Beschreibung des strategieproduzierenden Systems in Form von Systemmethodik und der Struktur des lebensfähigen Systems, beschreibt Malik noch eine Art strategisches Kalkül in Form einer Reihe von heuristischen Prinzipien, die in komplexen Lenkungssituationen dazu dienen sollen, "... die Komplexität der jeweiligen Situation zu den eigenen Gunsten auszunützen.".39 Es handelt sich also auch hier nicht um die Ableitung von konkreten strategischen Empfehlungen, sondern um metastrategische Grundsätze allgemeiner Art. 40 Malik weist diesen Grundsätzen drei Funktionen zu: 41 •
Sie dienen planungs- und handlungsleitend, dadurch daß sie Anhaltspunkte für eine sinnvolle Auswahl konkreter Strategiealternativen bieten.
•
Sie erfüllen eine Verbotsfunktion, indem sie Grenzen aufzeigen, die nicht leichtfertig überschritten werden sollten.
•
Sie haben einen varietätsreduzierenden Charakter und führen so zu einer Entlastung der Entscheidungskapazitäten.
Malik führt eine Reihe von strategischen Grundsätzen an, die im folgenden aufgeführt, aber nicht kommentiert werden. Es soll nur darum gehen, einen Eindruck vom metasystemischen Charakter dieser Grundsätze und damit vom metasystemischen Charakter der gesamten Konzeption zu vermitteln. Diese strategischen Grundsätze wurden wörtlich aus einer Abbildung übernommen, nur die formale Darstellung wurde verändert: 42 •
Grundsätze für die Lagebeurteilung: -
Grundsatz der metasystemischen Lagebeurteilung
-
Grundsatz der Vollständigkeit der Lagebeurteilung
-
Grundsatz des offenen Systems
-
Stärke - gegen - Schwäche-Gesetz
-
Grundsatz der mehrdeutigen Zielwahl
-
Grundsatz der Vermeidung von Informationslage-Beeintlussungen
38 Malik, 1989, S. 454 f. 39 Malik, 1989, S. 425. 40 Vgl. Malik, 1989, S. 427. 41 Vgl. Malik, 1989, S. 428. 42 Vgl. Malik, 1989, S. 429, die ausführliche Kommentierung liefert Malik auf S. 430 ff..
II. Darstellung verschiedener Ansätze
•
•
•
105
Grundsätze für die Beeinflussungs-(Sanktions-)kapazität und das Kopplungsverhältnis: -
Grundsatz der Flexibilität
-
Grundsatz der Zukunfts vorsorge
-
Grundsatz der Reversibilität
-
Grundsatz der kleinen Schritte
-
Grundsatz der Initiative
-
Grundsatz der zu besetzenden Sanktionszentren
-
Grundsatz der Belohnungsmotivation
-
Grundsatz der Alternativenkontrolle
-
Grundsatz der goldenen Brücke
Grundsätze für die Beeinflussung der Informationslage: -
Grundsatz der Informationsnähe
-
Grundsatz der zu besetzenden Informationsschnittpunkte
-
Grundsatz der Verhaltenserklärung
-
Grundsatz der Tarnung
-
Grundsatz der Kontrolle
Grundsätze für die Überzeugungsfahigkeit: -
Grundsatz der Zuverlässigkeit
-
Grundsatz der Festigkeit
-
Grundsatz der seltenen Bluffs
-
Grundsatz der versteckten Rückzugsmöglichkeiten
Diesen strategischen Grundsätzen fügt Malik 21 strategische Verhaltensweisen hinzu, die in enger Beziehung zu diesen strategischen Grundsätzen stehen. Malik macht geltend, daß es sich dabei sogar teilweise um historische Muster strategischer Verhaltensweisen handle, die sich somit offensichtlich als zeitlos entpuppt haben. Diese strategischen Verhaltensweisen stellen somit ebenfalls wichtige metastrategische Prinzipien dar, die bei der Lenkung auf der Objektebene Bedeutung erlangen sollten. 43 Auf eine Darstellung dieser strategischen Verhaltensweisen wird verzichtet. 44
43 Vgl. Malik, 1989, S. 444. 44 Der interessierte Leser findet diese bei Malik, 1989, S. 444 ff.
\06
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
2. "Selbst-Organisation" von Probst Der Ansatz von Probst basiert ebenso wie der Ansatz von Malik auf den bereits kurz dargestellten systemisch-kybernetischen Grundlagen der st. Galler Schule. Dem zur Folge versteht auch Probst das Problem der Gestaltung und Lenkung komplexer sozialer Systeme als Problem der Komplexitätsbeherrschung. Diese mit der Gestaltung und Lenkung sozialer Systeme verbundene Komplexität ist auch aus seiner Sicht nicht durch rational geplante Ordnungskonzepte zu beherrschen. 45 Vielmehr geht er ebenso wie Malik davon aus, daß menschliche Handlungen zwar mit zu der letztendlich resultierenden Ordnung beitragen, daß diese aber vor allem auch eine spontan entstehende Ordnung, oder mit anderen Worten, eine Selbst-Organisation ist. Management besteht dann nicht mehr nur darin, für ein Unternehmen eine zweckorientierte Ordnung zu schaffen, sondern mit dem " ... Organisieren oder Führen eines selbstorganisierenden Systems ... " stellt sich zugleich die Frage "... wie gestaltende Prozesse Selbstorganisation fördern oder zu Selbstorganisation werden.".46 Der Ansatz von Probst befaßt sich mit der Managementproblematik vor allem aus der organisations-theoretischen Richtung. Probst versucht ein erweitertes Organisationsverständnis zu schaffen. Hierbei sieht er Selbst-Organisation als "... ein Meta-Konzept für das Verstehen der Entstehung, Aufrechterhaltung und Entwicklung von Ordnungsmustern.".47 Ebenso wie Malik knüpft auch Probst an kybernetischen Lenkungs- oder eher in seinem Sinne formuliert, an kybernetischen Organisationsmodellen zur Komplexitätsbeherrschung an. Während im Ansatz von Malik mit der "Struktur des lebensfähigen Systems" das Augenmerk vor allem auf der Fragestellung des Überlebens im Sinne der Aufrechterhaltung des Systems lag, betont Probst mit der Thematisierung der Selbstorganisationsprozesse insbesondere die Entwicklung des Systems. Dieser Gesichtspunkt der kybernetischen Systementwicklung ist zwar bereits bei Malik ansatzweise durch die weite Fassung des Überlebensbegriffs berücksichtigt, nicht jedoch als der zentrale Punkt seiner systemisch-evolutionären Managementkonzeption. Probst beschreibt soziale Systeme von vornherein als selbstorganisierende Systeme und ordnet diesen Systemen die folgenden grundlegenden Merkmale zu: 48
45 Vgl. Probst, 1987, S. 13. 46 Beide Zitate Probst, 1987, S. 12. 47 Probst, 1987, S. 14, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 48 Vgl. Probst, 1987, S. 76 ff.
11. Darstellung verschiedener Ansätze •
107
Komplexität Zur Beschreibung der Komplexität bezieht sich Probst auf eine Unterscheidung zwischen "trivialen" und "nicht trivialen" Maschinen von Heinz von Foerster. 49 Soziale selbstorganisierende Systeme werden von Probst in diesem Sinne als "nicht triviale" Systeme verstanden.
•
Selbstreferenz Probst bezieht sich hier vor allem auf die Vorstellungen von Luhmann, der selbstorganisierende soziale Systeme als operational geschlossen sieht. Operationelle Geschlossenheit in diesem Sinne bedeutet, daß ein soziales System jene Elemente, die es als soziales System konstituieren mit Hilfe der Elemente produziert, aus denen es besteht. 50 Ein solches System besitzt dann als Ausdruck seiner inneren Kohärenzen ein Eigenverhalten, es ist selbstreferentiell. 51
•
Redundanz Es gibt in selbstorganisierenden Systemen keine Trennung zwischen "... dem organisierenden, gestaltenden oder lenkenden Teil und dem organisierten, gestalteten oder gelenkten.".52 Solche Systeme sind nicht mehr hierarchisch im alten Sinne, sondern heterarchisch aufgebaut. Die Konsequenz besteht darin, daß dann Gestaltung und Lenkung des gesamten Systems über das System verteilt sind. 53
•
Autonomie Aus dem Merkmal der Selbstreferenz ergibt sich zugleich die Autonomie dieser Systeme. Autonomie in diesem Sinne bedeutet keine vollständige Unabhängigkeit dieses Systems von seiner Umwelt. Im Vordergrund steht jedoch die Selbstgestaltung, die Selbstlenkung und die Selbstregulierung des Systems. Umwelteinflüsse spielen keine direkte Rolle im Sinne eines Input-Output-Modelles, sondern höchstens über ihre indirekte Berücksichtigung im Rahmen der operational geschlossenen Produktion neuer Systemelemente. 54
49 Vgl. diese Unterscheidung in Abschnitt J.III.3.b) 50 Vgl. Probst, 1987, S. 79. 51 Vgl. zu diesem Punkt die Diskussion autopoietischer System vorstellungen in Abschnitt J.II1.I.b) sowie konkret die Konzeption Luhmanns in Abschnitt J.III.I.b)cc) 52 Probst, 1987, S. 81. 53 Vgl. Probst, 1987, S. 81. 54 Vgl. zu diesem Punkt die ausflihrlichen Betrachtungen beginnend von Abschnitt J.II1.l.b) bis Abschnitt J.III.l.b)cc)
\08
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
Zusätzlich betont Probst die Zweckorientierung sozialer Systeme. Er geht davon aus, daß sowohl soziale Systeme als Gesamtheit gesehen, als auch ihre Subsysteme, eigenständige Zwecke verfolgen. Darüber hinaus sind sowohl das Gesamtsystem als auch seine Subsysteme in übergeordnete Zweckbeziehungen eingeordnet. 55 Es ist davon auszugehen, daß soziale Systeme aktiv gestaltend im Sinne ihrer Zweckverfolgung in die System umwelt eingreifen. Diese Gestaltungshandlungen erfolgen auf der Basis der Wahrnehmungen und Werthaltungen der Systemmitglieder einerseits und auf der Basis der gemeinsamen Systemkultur andererseits. 56 In Anlehnung an Luhmann geht Probst deshalb davon aus, daß soziale Systeme zu Sinnsystemen werden, "... die durch sinnhafte Handlungen, durch Kognitionen, Werte und Normen zusammengehalten werden.". 57 Führung kann deshalb " ... nicht nur Gestalten und Lenken von substantiellen Gegebenheiten im Lichte der Lebensfähigkeit ... " bedeuten, "... sondern auch ein bewußtes Wählen und Fördern oder Gestalten und Lenken von symbolischen Phänomenen.". 58 Probst geht also davon aus, daß gestaltende Eingriffe in ein zweckorientiertes soziales System auf zwei Ebenen erfolgen müssen: Es muß sowohl eine substantielle Ordnung als auch eine geistig sinnhafte Ordnung geschaffen werden. 59 Damit legt Probst die Grundlage für ein zweidimensionales Organisationskonzept, das im folgenden kurz anhand seiner zwei Gestaltungsdimensionen sozialer Systeme skizziert werden soll:60 •
Substantielles Organisieren Mittels der substantiellen Organisation soll ein "... strukturelles Gerüst die Tätigkeiten in einem System auf die anzustrebenden Ergebnisse, die Erfüllung des Zwecks eines Systems, ausrichten, Fehlleistungen verhindern, Doppelspurigkeiten und unwirtschaftliche Verhaltensweisen ausschließen.". 61 Es handelt sich hier offensichtlich um all die Tätigkeiten, die gewöhnlich in der Literatur unter den Begriffen Autbau- und Ablauforganisation zu finden sind.
•
Symbolisches Organisieren "Symbolische Gestaltung dient der Vermittlung oder Erfassung von Sinn, der Stützung und Legitimierung von Handlungen, der Mobilisierung von 55 Vgl. Probst, 1987, S. 50. 56 Vgl. Probst, 1987, S. 50. 57 Probst, 1987, S. 50. 58 Beide Zitate Probst, 1987, S. 51. 59 Vgl. Probst, 1987, S. 91. 60 Vgl. Probst, 1987, S. 91 ff. 61 Probst, 1987, S. 91.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
109
Mitarbeiterpotentialen, der Herstellung und dem Verständnis einer konsequenten Zielorientierung und der Implementierung von Neuerungen und Veränderungen.".62 Nach Probst geht es nicht um die Schaffung, sondern um die Unterstützung der Entstehung einer Kultur im Sinne eines strukturellen Kontextes, "... der sinngebende und sinnmachende Prozesse auslöst.".63 Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, daß Sinn nicht geschaffen werden kann, er muß sich im Rahmen der Selbstorganisationsprozesse des Systems selbst entwickeln. 64 Probst geht davon aus, daß sich substantielles und symbolisches Organisieren gegenseitig bedingen und sich gleichzeitig gegenseitig stützen. 65 Damit wird noch einmal Probsts Vorstellung von Ordnung deutlich: "Ordnung in komplexen Systemen ist das Resultat vernetzter interaktiver Prozesse eines selbstreferentiell geschlossenen Netzwerkes. Dabei wird hier nicht 'spontane' Ordnung einer 'geplanten' oder gemachten entgegengesetzt. Organisieren ist Teil dieser Prozesse, wenn auch Ordnung nicht darauf reduzierbar.".66 So gesehen ist natürlich auch die spontane Entstehung vollkommen neuer Ordnungen denkbar, in denen sich letztlich die Entwicklungsmöglichkeiten des Systems widerspiegeln. Nach Probst sind im Konzept der Selbst-Organisation keine einfachen kausalen Schrittfolgen des Organisierens angebbar. 67 Er sieht die Meta-Funktion des Organisierens in der " ... Ermöglichung, Aufrechterhaltung, Bereicherung und Verstärkung potentieller Varietät.".68 Zur Umsetzung dieser MetaFunktion gibt er eine Reihe von Empfehlungen für gestaltende Interventionen, die an dieser Stelle nur genannt, nicht aber ausführlich dargestellt werden: 69 •
Behandle das System mit Respekt.
•
Lerne mit Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Unsicherheit umzugehen.
•
Erhalte und schaffe Möglichkeiten.
•
Erhöhe Autonomie und Integration.
62 Probst, 1987, S. 92. 63 Probst, 1987, S. 92. 64 Vgl. Probst, 1987, S. I 10. 65 Vgl. Probst, 1987, S. 92. 66 Probst, 1987, S. 85. 67 Vgl. Probst, 1987, S. 113. 68 Probst, 1987, S. 113. 69 Vgl. eine umfassende Darstellung dieser Empfehlungen bei Probst, 1987, S. 114 ff., die Empfehlungen sind wörtlich zitiert nach Probst, 1987, S. 114, formal aber anders dargestellt.
1\0
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
•
Nutze und fördere das Potential des Systems.
•
Definiere und löse Probleme auf.
•
Beachte die Ebenen und Dimensionen der Gestaltung und Lenkung.
•
Erhalte und fördere Flexibilität und Eigenschaften der Anpassung und Evolution.
•
Strebe vom Überleben zu Lebensfähigkeit und letztlich nach Entwicklung.
•
Synchronisiere Entscheidungen und Handlungen mit zeitgerechtem Systemgeschehen.
•
Halte die Prozesse im Gang - es gibt keine endgültigen Lösungen.
•
Balanciere die Extreme.
3. Die "evolutionäre Führungskonzeption" von Kirsch Ausgangspunkt der Konzeption von Kirsch ist sein Verständnis der Betriebswirtschaftslehre als" ... problemorientierte, multidisziplinäre Lehre für die Führung auf der Grundlage einer Lehre von der Führung ... ",70 Grundlage einer angewandten Führungslehre sind somit die Probleme der Führungspraxis, die es zu lösen gilt. 71 Bei dem Versuch der Problemlösung wird ein ganz bestimmter Problemraum konstituiert, in dem der Problemlöser das Problem aus einem ganz spezifischen Kontext heraus betrachtet. Solche Kontexte sind in wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Traditionen verankert. und liefern damit bereits ein Vorverständnis für die Problemlösung. n Die Handhabung von Problemen ist mit einer Paraphrasierung des Problems im gleichen Kontext und/oder mit einer Übersetzung des Problems in einen anderen Kontext verbunden. Damit verändert jede Auseinandersetzung mit dem Problem den Problemkontext. "Eine Lehre für die Führung impliziert in diesem Sinne Übersetzungen/Fortentwicklungen einer ganzen Reihe von Forschungstraditionen.".73 Die Lehre von der Führung liefert über die Analyse der praktischen Führungsprobleme quasi einen Scheinwerfer, mit dem die ftir die Lösung des praktischen Führungsproblems relevant erscheinenden Forschungstraditionen angestrahlt werden. Dies bringt Kirsch mit Abbildung 16 zum Ausdruck: 74 70 Kirsch, 1990, S. 5, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 71 Vgl. Kirsch, 1990, S. 5. n Vgl. Kirsch, 1990, S. 5 f. 73 Kirsch, 1990, S. 6, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 74 Vgl. die leicht abgeänderte Abbildung aus Kirsch, 1992, S. 5.
111
11. Darstellung verschiedener Ansätze
mikrOOko- p.ychol. Steuernf.lmiachc:: Motiv.tion!!- rechtsTheorie
Lehre von der Führung: Analyse der Führungspraxis
Theorie
dugmatik
D.tenhankdelign
philusophisehe Ethik
Probleme der Praxis
Abbildung 16: Eine Lehre für die Führung auf der Basis einer Lehre von der Führung nach Kirsch
Allerdings ist davon auszugehen, daß es ausgesprochen schwer fällt, Übersetzungen zwischen verschiedenen Forschungstraditionen vorzunehmen, Kirsch spricht in diesem Zusammenhang von inkommensurablen Forschungstraditionen.7 5 Dem steht allerdings nicht entgegen, daß Vertreter der Führungslehre versuchen sollten, Führungsprobleme zwar aus der einheitlichen Erkenntnisperspektive der praktischen Problemlösung, aber zugleich aus verschiedenen Kontexten heraus anzugehen. Kirsch spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer Multi-Paradigma-Forschung. 76 Aus dieser Notwendigkeit zur Multi-Paradigma-Forschung ergibt sich zugleich die Komplexität der betrachteten Führungsprobleme: "Die Relevanz mehrerer inkommensurabler Traditionen als Problemkontexte mit jeweils begrenzter Reichweite und Reichhaltigkeit ermöglicht mehrere partielle, ebenfalls inkommensurable Definitionen. Ich spreche hier von Multi-Kontext-Problemen. Und hierin sehe ich das Merkmal komplexer Probleme.".77 "Ich betrachte nun die Handhabung komplexer Probleme als die 'eigentliche' Funktion der Führung und sehe in der Untersuchung dieser Führungsfunktion einen zentralen Gegenstand der Lehre von der Führung.". 78 75 Vgl. Kirsch, 1990, S. 8 f. 76 Vgl. Kirsch, 1992, S. \0. 77 Kirsch, 1990, S. 12, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 78 Kirsch, 1992, S. 11.
112
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
Dabei stellt sich nach Kirsch jedoch nicht nur die Frage nach der Handhabung dieser Probleme, sondern vor allem die Frage, unter welchen Bedingungen der Problemhandhabung ein "Fortschritt" zu erzielen ist. 79 In Anknüpfung an die organisationstheoretische Forschungstradition der angelsächsischen Managementlehre, die Kirsch für besonders geeignet für die Betrachtung des Führungsphänomens hält, kommt er zu dem Schluß, daß die Funktion der Führung in der "... Schaffung und Sicherung eines fortschrittsfllhigen Systems als 'Arena' der Handhabung komplexer Probleme ... " liegt. 80 Die Schaffung eines solchen fortschrittsfllhigen Systems erfolgt über einen geplanten Wandel der Organisation. Das Konzept des geplanten Wandels der Organisation wird von Kirsch zur Konzeption der geplanten Evolution weiterentwickelt.81 Die Konzeption der geplanten Evolution sieht er wiederum als einen wesentlichen Bestandteil einer evolutionären Führungsphilosophie des strategischen Managements 82 , welche nach Kirsch eine wesentliche Voraussetzung zur Schaffung einer fortschrittsfllhigen Organisation ist. Eine weitere Voraussetzung sieht Kirsch in der Ausweitung des rein kognitiv-instrumentellen Rationalitätsbegriffes zu einer evolutionären Rationalität.83 Damit sind alle drei wesentlichen Grundelemente der "evolutionären Führungskonzeption" Kirschs angesprochen: 84 •
Das Unternehmen als fortschrittsfllhige Organisation.
•
Die evolutionäre Führungsphilosophie als Grundlage des strategischen Managements.
•
Die evolutionäre Rationalität als Vorbedingung einer Fortschrittsfähigkeit des Unternehmens.
Kirsch liefert auf der Basis dieser drei Grundelemente folgende vorläufige Definition seiner evolutionären Führungskonzeption: "Sie ist eine Führungskonzeption, die das zu fllhrende System als evolvierendes und gleichzeitig entwicklungsfähiges System konstituiert und die Möglichkeiten und Grenzen eines Fortschritts dieses Systems in den Mittelpunkt rückt. Dieses Sinnmodell bringt ein Rationalisierungsniveau der organisatorischen Lebenswelt bzw. der Führungspraxis zum Ausdruck, das ein der Evolution unterworfenes Rationalitätsverständnis impliziert und sich unter anderem darin äußert, daß sich die Führung der Handhabung ihrer Probleme von der Idee einer Komplexitätsbeja79 80 81 82 83 84
Vgl. Kirsch, 1992, S. Kirsch, 1992, S. 11. Vgl. Kirsch, 1990, S. Vgl. Kirsch, 1990, S. Vgl. Kirsch, 1990, S. Vgl. Kirsch, 1992, S.
11. 257 ff. 318. 492 ff. sowie S. 521. 354.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
113
hung leiten läßt und sich dabei einer Vorgehensweise befleißigt, die sich der evolutionsgerechten Erkenntnispraxis einer pluralistischen FUhrungslehre als Modell bedient. ".85 Damit sind die Grundlinien der evolutionären Führungskonzeption von Kirsch umrissen. Daß eine AnknUpfung an naturwissenschaftlichen Vorstellungen vorliegt, wird schon allein durch die verwendeten Begrifflichkeiten deutlich. Um weIche Anknüpfungspunkte es sich jedoch ganz konkret handelt, zeigt sich erst mit der näheren Betrachtung der drei Grundelemente der Konzeption. Deshalb wird im folgenden dargestellt, weIche Inhalte sich hinter diesen drei Grundelementen der evolutionären Führungskonzeption von Kirsch verbergen. 86 a) Das Unternehmen als fortschrittsfähige Organisation Der beste Anknüpfungspunkt zur näheren Beschreibung dieses Bausteines der evolutionären FUhrungskonzeption ist Kirschs organisationstheoretischer Bezugsrahmen, der in Abbildung 17 dargestellt ist.87 Kirsch betrachtet Unternehmen als sich evolvierende und entwicklungsfähige Systeme, die in eine grundsätzlich offene Zukunft hinein evolvieren. Dabei ist zu unterstellen, daß diese Evolution nicht vollständig kontrollierbar und steuerbar ist. 88 Dies bedeutet jedoch keinen vollständigen Verzicht auf die Beeinflußung des Systems. Vielmehr kann versucht werden, die Entwicklung des Systems zu beeinflussen. Die Entwicklung des Systems verläuft über die Entfaltung von drei Systemfähigkeiten: 89 •
Handlungsfähigkeit Handlungsfähigkeit ist dann gegeben, wenn ausreichend Ressourcen vorhanden sind, um den laufenden Betrieb der Organisation zu gewährleisten. Zudem muß die Organisation dazu in der Lage sein, ihre Identität aufrecht zu erhalten. Handlungsfähigkeit kann jedoch auch bedeuten, daß eine gewachsene Identität aus eigenem Antrieb verändert werden kann.
85 86 87 88 89
Kirsch, 1992, S. 354. Vgl. alle folgenden Aussagen bei Kirsch, 1990 und Kirsch 1992. Kirsch, 1992, S. 13. Vgl. Kirsch, 1992, S. 12. Vgl. Kirsch, 1992, S. 12.
8 Scheurer
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
114
•
Responsiveness Hier geht es Kirsch um die Entfaltung bzw. Steigerung der Responsiveness der Organisation gegenüber den Bedürfnissen und Interessen von Betroffenen. Hierunter versteht er die passive Sensibilisierung der Organisation gegenüber den Bedürfnissen und Interessen von Betroffenen, in einer aktiven Form sogar die Partizipation der Betroffenen an den relevanten Entscheidungssystemen der Organisation.
•
Lernfahigkeit Die Lernfahigkeit nimmt nach Kirsch eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des Systems ein. 90 Bei der Betrachtung des organisatorischen Lernens knüpft Kirsch zunächst an der Lernflihigkeit der individuellen Aktoren an. Organisatorische Lernflihigkeit bedeutet neben der Förderung der individuellen Lernflihigkeit den Abbau von lernbehindernden Informations- und Kommunikationsbarrieren. Dies bedingt jedoch ein Lernen bezüglich der Existenz solcher Barrieren und eine entsprechende Handlungsflihigkeit; insofern muß die Lernflihigkeit einer Organisation selbstreferentiell betrachtet werden. 91 Selbstreferentiell in dem Sinne, daß die Organisation lernt, daß sich die verschiedenen Systemflihigkeiten gegenseitig fördern oder auch behindern können. Das Unternehmen lernt somit zu lernen. 92
Kirsch geht davon aus, daß "... eine 'zirkuläre Verflechtung' der Systemflihigkeiten im Sinne eines Ausbaus wechselseitiger Steigerungs- und eines Abbaus von kontraproduktiven Konkurrenzbeziehungen eng mit der Rationalisierung der derivaten Lebenswelt zusammenhängt.".93 Unter der derivaten Lebenswelt versteht Kirsch die aus originären Lebens- und Sprach formen hervorgegangenen organisationsbezogenen Lebens- und Sprachformen. 94 Eine Rationalisierung der derivativen Lebenswelt findet statt, wenn es zu einem Übergang von diffus vorhandenem Wissen zu kritikflihiger Erkenntnis kommt. 95 Eben diese Rationalisierung der Führungspraxis ist aus seiner Sicht eine wesentliche Voraussetzung jeglicher praktischen Führung. Nach Kirsch verläuft die Entwicklung einer Organisation im Rahmen einer Entwicklungslogik, die zugleich die strukturell unterschiedlichen Stufen der Wissensorganisation eines Unternehmens kennzeichnet. 96 90 91 92 93 94 95 96
Vgl. Kirsch, 1990, S. 498. Vgl. Kirsch, 1990, S. 506. Vgl. Kirsch, 1990, S. 509. Kirsch, 1990, S. 510. Vgl. Kirsch, 1990, S. 24. Vgl. Kirsch, 1990, S. 510. Vgl. Kirsch, 1990, S. 519.
115
11. Darstellung verschiedener Ansätze
Strategisches Management
soll als Ausdruck einer evolutionären Führungskozeption Unternehmen in ihrer Höherentwicklung vorantreiben
~
Ideal der voll entfalteten fortschrittstlhigen Organisation als regulative Idee
i
Fortschrittsfähige Organisation
als Ausdruck des höchsten gegenwärtig vorstellbaren Entwicklungsniveaus einer Organisation
i
Entfaltung von Handlungsflthigkeit Responsiveness und Lernflthigkeit
i
Fortschrittsmodell
+ + Überlebensmodell + Koalitionsmodell + Zielmodell Institutionsmodell
i
Entfaltung der Rational ität der organisatorischen Lebenswelt
i
Organisationen als
evolvierende, entwicklungsfähige Systeme Höherentwicklung durch Wandel der Sinnmodelle
Abbildung 17: Der organisationstheoretische Bezugsrahmen nach Kirsch
Zugleich bringen die einzelnen Organisationsmodelle dieser Entwicklungslogik jeweils zum Ausdruck, was als Sinn und Zweck der Organisation angesehen wird, es handelt sich also im Grunde um Sinnmodelle, die zugleich die Unternehmenskultur bestimmen. 97 Kirsch unterscheidet das Zielmodell, das Bestandsmodell, das Fortschrittsmodell sowie mit dem Koalitions- und dem Institutionsmodell zwei Übergangsmodelle, die nicht weiter thematisiert werden sollen. Näher betrachtet werden im folgenden jedoch die drei erstgenannten Sinnmodelle: 98 •
Zielmodell Organisationen werden als Instrument zur Erfllllung von vorgegebenen Zielen angesehen. Insofern sind auch die organisationalen Lernprozesse in-
97 Vgl. Kirsch, 1992, S. 13. 98 Vgl. Kirsch, 1990, S. 519 tl und Kirsch, 1992, S. 14 f. S·
116
D. Interdisziplinäre Ansätze. zur strategischen Steuerung
strumentalisiert. Handlungsfiihigkeit, Responsiveness und Lernfiihigkeit werden nur zweckrational zur Zielerreichung entwickelt. Im Zielmodell ist zudem eine Dominanz der kognitiv-instrumentellen Rationalisierung der derivaten Lebenswelt festzustellen. •
Bestandsmodell Im Rahmen dieses Sinnmodells wird die Bestandssicherung, also der Überlebenszweck des Systems, in den Vordergrund gerückt. Handlungsfähigkeit, Responsiveness und Lernfähigkeit werden nicht mehr rein zweckbezogen, sondern für die Steigerung der Überlebensfiihigkeit der Organisation eingesetzt. Es findet jedoch noch keine bewußte Reflexion über den Selbstzweck des Überlebens statt. Auch im Bestandsmodell ist eine Dominanz der kognitiv-instrumentellen Rationalisierung der derivaten Lebenswelt festzustellen.
•
Fortschrittsmodell "1m Vordergrund steht hier für die Unternehmung das Bemühen, einen Fortschritt in der Befriedigung der Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln der Organisation direkt oder indirekt Betroffenen zu erzielen.". 99 Diese Fortschrittserzielung kann konkret im Hinblick auf die verschiedenen Bedürfnisse sehr unterschiedlich ausfallen. Gerade die Ausarbeitung der für die Fortschrittserzielung notwendigen Handlungen und damit letztlich die Fähigkeit zur Selbstreflexion sieht Kirsch jedoch als das besondere Anzeichen dieser Entwicklungsstufe. \00 Allerdings setzt er hierbei zusätzlich voraus, daß neben einer kognitiv-instrumentellen Rationalität auch eine moralisch-praktische und eine ästhetisch-expressive Rationalität in die Überlegungen einbezogen werden, um so zu einer umfassenderen Rationalisierung der Führungspraxis zu kommen. I 0 I
Kirsch geht also von der Grundidee eines evolvierenden und entwicklungsfiihigen Unternehmens aus, das sich im Rahmen einer stetigen Höherentwicklung von Sinnmodellen schließlich bis zu einer fortschrittsfähigen Unternehmung entwickeln kann. Ein fortschrittsfähiges Unternehmen "... ist ein evolutionsfiihiges System, das sich auf dem höchsten gegenwärtig vorstellbaren Entwicklungsniveau bewegt." und bei dem das "... 'Fortschrittsmodell' in der Kultur voll verankert ... " ist. I 02 Eine voll entfaltete Fortschrittsfähigkeit eines Unternehmens kommt dadurch zum Ausdruck, daß "... alle möglichen negativen Invarianzen zwischen den verschiedenen Bedingungen eines Fortschritts 99 Kirsch, 1992, S. 14. \00 Vgl. Kirsch, 1990, S. 521. \01 Vgl. Kirsch, 1990, S. 521. 102 Beide Zitate Kirsch, 1992, S. 15.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
117
'gebrochen' sind, daß also etwa die Handlungsfähigkeit nicht gefährdet ist, wenn die Responsiveness und/oder die Lernfähigkeit des Systems gesteigert werden.". 103 Allerdings ist Kirsch nicht der Ansicht, daß es eine fortschrittsfähige Unternehmung in dem vorgestellten Sinne in der Realität bereits gibt. Für vorherrschend hält er in der Realität immer noch das Bestandsmodell. Allenfalls in Subkulturen des Bestandsmodells sei die Kultur eines fortschrittsfähigen Unternehmens zu finden. Deshalb spricht Kirsch im Hinblick auf das Sinnmodell des fortschrittsfähigen Unternehmens von einem "kontrafaktischen Modell". 104 Mit der Höherentwicklung der Sinnmodelle ist zugleich eine Entfaltung der Rationalität der organisatorischen Lebenswelt verbunden. Dieser Punkt wird im Rahmen der Darstellung der Entwicklung einer evolutionären Rationalität an späterer Stelle näher betrachtet. b) Die evolutionäre Führungsphilosophie als Grundlage des strategischen Managements Kirsch stellt den Begriff des strategischen Managements in den Mittelpunkt seiner Betrachtung der evolutionären Führung. Er sieht strategisches Management im Sinne einer Führungsphilosophie, die es in der Kultur des Unternehmens zu verankern gilt: "Mit dem Ausdruck 'Strategisches Management' bezeichnen wir eine spezifische Führungsphilosophie, deren Verankerung in der Lebenswelt eines Unternehmens zu einer 'Rationalisierung' der allgegenwärtigen strategischen Unternehmensführung beitragen soll.".1 05 Die Verankerung einer solchen Führungsphilosophie ist zugleich die wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Verankerung von strategischen Managementsystemen. 106 Grundlage einer evolutionären Führungsphilosophie ist nach Kirsch die Haltung des gemäßigten Voluntarismus. Diese Haltung des gemäßigten Voluntarismus geht zwar davon aus, daß soziale Organisationen durch Willensakte veränderbar sind, zugleich wird jedoch bezweifelt, daß jeder willentliche Änderungswunsch automatisch gelingt. 107 "Der gemäßigte Voluntarist bleibt bezüglich der Möglichkeiten des bewußt gesteuerten organisatorischen Wandels skeptisch. Er verkennt nicht, daß sich in einer Organisation vieles verän-
103 Kirsch, 1990, S. 476. 104 Kirsch, 1992, S. 15. 105 Kirsch, 1992, S. 350. 106 Vgl. Kirsch, 1990, S. 318. 107 Vgl. Kirsch, 1990, S. 273.
118
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
dert, ohne daß dahinter bewußt planender Wille steht.".108 Kirsch geht jedoch davon aus, daß sich solchermaßen ungeplanter Wandel immer wieder auch durch "Episoden eines geplanten Wandels" überlagern läßt. 109 Kirsch schlägt nun in Anlehnung an Rosove vor, die geplante Systementwicklung in Form einer geplanten Evolution durchzuführen. I I 0 Diese Konzeption der geplanten Evolution soll als Kern der Philosophie des strategischen Managements die Entwicklung des Unternehmens auf das Niveau einer fortschrittsfahigen Unternehmung vorantreiben. 111 Insofern übernimmt die Konzeption einer fortschrittsfiihigen Unternehmung die Funktion einer regulativen Leitidee für die geplante Evolution eines Unternehmens. I 12 Die Konzeption der geplanten Evolution kann am besten anhand Abbildung 18 erläutert werden: 113 ~---------------------------, Neue Ideen
Abbildung 18: Die Konzeption der geplanten Evolution nach Kirsch Die Entwicklung eines Unternehmens verläuft nach dieser Konzeption als Folge überschaubarer Schritte. Jeder dieser Schritte wird durch Störungen, die aus der Umwelt oder aus bereits früher gemachten Schritten resultieren, beeinflußt oder sogar ausgelöst. Zudem werden die jeweiligen Schritte durch die 108 Kirsch, 1990, S. 274. 109 Kirsch, 1990, S. 274. 110 Vgl. Kirsch, 1990, S. 330. 111 Vgl. Kirsch, 1990, S. 475. 112 Vgl. Kirsch, 1990, S. 475 f. 113 Kirsch, 1990, S. 332.
II. Darstellung verschiedener Ansätze
119
" ... konzeptionelle Gesamtsicht der Entwicklung des Systems gesteuert." .114 In diese konzeptionelle Gesamtsicht gehen sowohl die Erfahrungen der bislang gemachten Schritte als auch gänzlich neue Ideen in Form von neuen Werten oder Visionen ein. Damit bleibt auch die konzeptionelle Gesamtsicht der Unternehmenspolitik immer einer kritischen Überprüfung und einer Fortentwicklung unterworfen. I 15 Folgendes Zitat faßt Kirschs Überlegungen zum strategischen Management nochmals gut zusammen: "Strategisches Management ist damit auch der Versuch, ohne unrealistische Illusionen der Machbarkeit die langfristige KoEvolution von Unternehmung und sozio-ökonomischem Feld zu steuern. Dies erfolgt über eine konzeptionelle Gesamtsicht der Unternehmenspolitik, die selbst einer ständigen kritischen Überprüfung und der Fortentwicklung unterworfen bleibt. Überprüfung und Fortentwicklung der konzeptionellen Gesamtsicht sind schließlich durch die regulative Idee geprägt, einen Fortschritt in der Befriedigung der direkt oder indirekt Betroffenen zu verwirklichen. Dies verbindet die Vorstellung eines Strategischen Managements mit der Konzeption einer fortschrittsfahigen Organisation." .116
c) Die evolutionäre Rationalität als Vorbedingung einer Fortschrittsfähigkeit des Unternehmens Anknüpfungspunkt für die gesamte Rationalitätsdiskussion ist Kirschs Definition der angewandten Führungslehre "... als eine an Problemen der Führungspraxis orientierte und auf die Rationalisierung dieser Führungspraxis gerichtete Lehre für die Führung auf der Grundlage einer Lehre von der Führung ... ".117 Um eine wirkliche Rationalisierung der Führungspraxis zu erreichen, müssen nach Kirsch die klassisch synoptischen Rationalitätsannahmen der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftslehre überwunden werden. 118 Die begrenzten Informationsverabeitungsmöglichkeiten und das begrenzte Wissen eines Entscheiders bei seinem Problemlösungsverhalten müssen berücksichtigt werden. I 19 Zudem muß die rein instrumentell ausgerichtete Rationalitätsdis-
114 Kirsch, 1992, S. 351. 115 Die Beschreibung der Konzeption orientierte sich an Kirsch, 1990, S. 330 ff. und Ki~ch, 199~S.351.
116 Kirsch, 1992, S. 351. 117 Kirsch, 1990, S. 543, die Hervorhebungen wurden vom Verfasser übernommen. 118 Vgl. hierzu ausfuhrlich Kirsch, 1992, S. 361 ff. 119 Vgl. Kirsch, 1992, S. 366.
120
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
kussion erweitert werden. Eine solchermaßen erweiterte Rationalitätsdiskussion wird von Kirsch als erster Baustein einer evolutionären Rationalität formuliert. Einen geeigneten Anknüpfungspunkt fllr eine erweiterte Rationalitätsdefinition sieht Kirsch in der kommunikativen Rationalität, die Habermas im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen HandeIns entwickelt hat. 120 Nach Habermas hat Rationalität mit der Begründung rur die Verwendung des Wissens durch einzelne Aktoren zu tun. Sprachliche oder teleologische Handlungen sind dann rational, wenn sie mit gut begründbaren GeltungsansprUchen versehen sind. Dabei geht Habermas von kognitiv-instrumentellen, moralischpraktischen und ästhetisch-expressiven GeltungsansprUchen aus. Diese Geltungsansprüche beziehen sich in der gleichen Reihenfolge auf die Wahrheit bzw. Wirksamkeit der Handlung, auf deren normative Richtigkeit sowie auf deren Wahrhaftigkeit. Im Rahmen der kritischen Prüfung dieser GeltungsansprUche wird mit der Argumentation eine besonders rationale Form der Kommunikation notwendig, die das Lernen aus expliziten Fehlern ermöglicht. Genau diese hypothesengesteuerten und argumentativ gefilterten Lernprozesse tragen nach Kirsch zu einer Rationalisierung der Führungspraxis beLI21 Kirsch knüpft an die erweiterte Rationalitätsvorstellung von Habermas an, indem er analog zu dessen Geltungsansprüchen folgende Fähigkeiten von einer Unternehmung als Vorbedingung einer Entwicklung fordert: 122 •
Kognitiv-instrumentelle Fähigkeiten Hierbei handelt es sich um die Fähigkeit, gültiges Wissen über die Welt zu erwerben, auf dessen Basis wirksam in die Welt eingegriffen werden kann.
•
Moralisch-praktische Fähigkeiten Moralisch-praktische Fähigkeiten weist ein Unternehmen dann auf, wenn es seine Verantwortlichkeiten so definiert, daß es festlegt, gegenüber wem und hinsichtlich welcher Folgen es sich verantwortlich ruhlt. Zudem muß es vor dem Hintergrund eines sich allgemein ändernden Moralbewußtseins dazu in der Lage sein, diese Verantwortlichkeiten im Rahmen eines Lernprozesses immer wieder neu zu definieren.
•
Ästhetische Fähigkeiten "Eine Unternehmung hat eine ästhetische Fähigkeit, wenn eine Art Systemklima existiert, das für die Kreation 'schöner' Dinge ... gUnstig ist, die ihrer-
120 Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Kirsch, 1992, S. 372. 121 Vgl. Kirsch, 1990, S. 511. 122 Vgl. Kirsch, 1990, S. 492 ff., eine ausführliche Diskussion findet sich bei Kirsch, 1992, S. 379 ff.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
121
seits die Bedürfnisse der jeweils Betroffenen in nicht-manipulativer Weise widerspiegeln oder gar fortentwickeln.". 123 Diese erweiterte Rationalitätskonzeption verknüpft Kirsch wie bereits angedeutet mit seiner Konzeption der Unternehmensentwicklung im Rahmen der Entwicklung von Sinnmodellen. Hierbei geht er davon aus, daß erst im Falle eines fortschrittsfahigen Unternehmens die Rationalitätsdimensionen soweit funktional entbunden sind, daß man neben einer kognitiv-instrumentellen auch von einer moralisch-praktischen und einer ästhetischen Fähigkeit sprechen kann. 124
Lemfähigkeit Responsiveness
+
Handlungsfähigkelt
Fortschrittsfähige Organisation
ÜberlebensmodelI der Organisation
Zielmodell der Organisation RefleXivität und Autonomie der Lemprozesse
En1wlcklungsniveaus von SInnmodellen
Abbildung 19: Der Zusammenhang zwischen fortschrittsfähiger Organisation und erweiterter Rationalitätsvorstellung nach Kirsch 123 Kirsch, 1990, S. 493. 124 Vgl. Kirsch, 1990. S. 497.
122
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
Damit ist erst im Falle einer fortschrittsfähigen Unternehmung von einer ausreichend umfassenden Rationalität im Sinne einer notwendigen Vorbedingung für die Förderung des Fortschritts der Unternehmung auszugehen. Diese Verbindung zwischen fortschrittsfähiger Unternehmung und erweiterter Rationalitätsvorstellung zeigt die Abbildung 19. 125 Die Rationalitätskonzeption von Habermas knüpft vor allem an der Art an, wie von den Aktoren bereits vorhandenes Wissen verwendet wird. Gerade im Rahmen von Führungsentscheidungen geht es jedoch offensichtlich um die Verwendung von Wissen, das zunächst noch erworben werden muß. Dieses innovative Element ist geradezu charakteristisch für Führungsentscheidungen und muß deshalb durch eine Erweiterung der bisherigen Definition von Rationalität berücksichtigt werden. 126 Kirsch schlägt deshalb vor, die prinzipielle Rationalität im Sinne von Habermas durch eine okkasionelle Rationalität zu ergänzen. Dies insbesondere auch vor dem Hintergrund der Frage, wie ein argumentativer Wechsel zwischen den drei prinzipiellen Rationalitätsdimensionen rational begründbar ist, werden doch solche Wechsel immer situativ oder okkasionell vorgenommen. 127 Kirsch faßt die nochmals erweiterte Rationalitätskonzeption folgendermaßen zusammen: "Rationalität hat, so können wir zusammenfassen, einerseits etwas mit intersubjektiver Verständigung zu tun; in diesem Fall geht es darum, ein Handeln an Gesetzmäßigkeiten oder Normen zu messen, deren Gültigkeit über die konkrete Situation hinausgeht und insofern prinzipieller Natur ist. Andererseits ist Rationalität aber ohne eine subjektive, nur auf einzelne Situationen bezogene, okkasionelle Komponente nicht zu denken; nur sie ermöglicht es, dem Rationalitätskonzept jene Sterilität und Rigidität zu nehmen, die der alltäglichen Arbeit an den Traditionen und an der Entstehung des Neuen keinen Raum mehr läßt." .128 Okkasionelle Rationalität wird jedoch nicht als "Ausweg" für die Legitimation spontanen begründungsfreien HandeIns verstanden, vielmehr müssen solch spontane Handlungen durch ihre Wahrhaftigkeit und ästhetischen Stimmigkeit plausibel gemacht werden können.129 Mit der Einführung einer zur prinzipiellen Rationalität komplementären okkasionellen Rationalität erweitert Kirsch den bisherigen Rationalitätsbegriff ein zweites Mal in Richtung einer evolutionären Rationalität, indem er die Grenzen
125 Kirsch, 1990, S. 496. 126 Vgl. Kirsch, 1992, S. 373. 127 Vgl. Kirsch, 1992, S. 373 f. 128 Kirsch, 1992, S. 390. 129 Vgl. die Diskussion hierzu bei Kirsch, 1992, S. 391 f.
11. Darstellung verschiedener Ansätze
123
aufzeigt, in denen sich eine rein an Regeln und Prinzipien orientierte Vernunft verfangen muß. 130 Darüber hinaus formuliert Kirsch folgende weitere Merkmale einer evolutionären Rationalität: 131 •
Rationalität des HandeIns garantiert nicht den Handlungserfolg Erfolg läßt sich nicht durch reine Zweckrationalität erzwingen. Vielmehr müssen mehrere Rationalitätsdimensionen im Rahmen der Handlungen bedacht werden. Zudem ist mit einer gewissen Gelassenheit der richtige Handlungszeitpunkt abzuwarten und dann das richtige Handlungsmaß zu finden. Beides kann als Ausdruck einer okkasionellen Rationalität gesehen werden. Statt der Grundhaltung der Weltbeherrschung kann die aktive KoEvolution mit der Welt als ein wesentliches Merkmal einer evolutionären Rationalität verstanden werden. 132
•
Neben der Handlungsrationalität ist auch die Systemrationalität zu berücksichtigen Der bisherige Rationalitätsbegriff war rein handlungsorientiert; die Frage war also immer die nach der Rationalität des handelnden Aktors. Einer solchen Sichtweise liegen die Vorstellungen des methodologischen Individualismus zugrunde. Hinzu kommt jedoch die Frage, wann eine Organisation als ganzes rational ist, also die Frage nach einer Reflexion der System probleme in der Praxis.
•
Bescheidenheit des evolutionären Rationalitätsverständnisses "Eine evolutionär-rationale Führungspraxis macht ihre eigene Rationalität vor dem Hintergrund der Thematisierung des Fortschritts als Systemproblem zum Gegenstand rationaler Lernprozesse und reflektiert insoweit auch die Geschichtlichkeit ihres eigenen Rationalitätsverständnisses. ".133 Damit wird es im Rahmen rationaler Lernprozesse möglich, auch die Gefahren einer überspannten Rationalität zu thematisieren.
•
Komplexitätsbejahung und pluralistische Erkenntnispraxis Komplexitätsbejahung und pluralistische Erkenntnispraxis sind Ausdruck einer evolutionären Führungslehre, zugleich jedoch Bestandteile einer evolutionären Rationalität. Damit besteht eine Beschreibung der evolutionären
130 VgI. Kirsch, 1992, S. 387. 131 VgI. Kirsch, 1992, S. 483 ff. 132 Vgl. Kirsch, 1992, S. 484. 133 Kirsch, 1992, S. 485.
124
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
Rationalität in einer Rekonstruktion der Erkenntnispraxis einer selbstbezüglichen Führungspraxis. 134 Insgesamt gesehen geht Kirsch davon aus, daß eine Rationalisierung der Führungspraxis anzustreben ist. Er plädiert für eine evolutionäre Rationalisierung der Führungspraxis, die darauf abzielt, den Fortschritt zu fördern, aber nicht dazu in der Lage ist, den Fortschritt zu garantieren. 135 Es besteht zudem eine wechselseitige Verknüpfung zwischen der Entfaltung der evolutionären Rationalität einerseits und der Entwicklung der Organisation hin zu einer fortschrittsflihigen Unternehmung andererseits. Die Entfaltung einer evolutionären Rationalität ist die notwendige Voraussetzung für die Entwicklung einer fortschrittsflihigen Organisation, zugleich ist eine evolutionäre Rationalität nur im Rahmen einer fortschrittsflihigen Organisation voll entfaltet.
111. Gegenüberstellung der Ansätze und Zusammenfassung Nach der bislang weitgehend unkommentierten Darstellung der verschiedenen Ansätze der St. Galler Schule und des Ansatzes von Kirsch, werden im folgenden die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede der verschiedenen Ansätze zusammengefaßt. Wenn zunächst die zwei Ansätze von Malik und Probst miteinander verglichen werden, sind dort zwar breite Gemeinsamkeiten im Bereich der systemtheoretischen und kybernetischen Grundlegung bei der Ansätze festzustellen. Dies gilt auch für das vor allem von Ulrich geprägte Verständnis von strategischem Management als Problem der Komplexitätsbewältigung. Auch die grundlegende Sichtweise sozialer Systeme als Systeme, die zwar planbar sind und in die auch planend eingegriffen werden kann, deren Ordnung jedoch mindestens teilweise spontan entsteht, erscheint weitgehend identisch. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß den beiden Ansätzen eine unterschiedliche Konzeption des sozialen Systems "Unternehmen" zugrundeliegt. Folglich ergeben sich bei Malik und Probst auch unterschiedliche Zielsetzungen für die Lenkung und unterschiedliche Lenkungskonzepte. Malik beschreibt soziale Systeme als Systeme im Sinne von Hayek. Im Vordergrund steht bei dieser Betrachtung die Bildung spontaner Ordnungen. Aufgrund dieser spontanen Ordnungsbildung geht Malik nicht von einer direkten, sondern von einer metastrategischen Steuerungskonzeption aus, die gar nicht
134 Vgl. Kirsch, 1992, S. 487 und die ausführliche Diskussion auf den folgenden Seiten. 135 Vgl. Kirsch, 1992, S. 486.
III. Gegenüberstellung der Ansätze und Zusammenfassung
125
erst den wenig sinnvollen Versuch macht, direkt in den viel zu komplexen Objektbereich konkreter strategischer Lenkungsfragestellungen einzugreifen. Deshalb schlägt er auch die Schaffung eines strategischen Steuerungssystems vor, das letztlich in Form der Systemmethodik, der Struktur des lebensfähigen Systems und durch die Anwendung der verschiedenen strategischen Grundsätze und Verhaltensweisen nur noch einen Rahmen liefert, in dem sich dann die spontanen Ordnungsvorgänge vollziehen sollen. Gleichzeitig wirkt dieser Rahmen im Sinne einer negativen Abgrenzung bestimmter Handlungsmöglichkeiten kanalisierend auf die Richtung der spontanen Ordnungsvorgänge. Diese Kanalisierung kann jedoch geplant über die bewußte und konstruktive Gestaltung des strategischen Steuerungssystems auf der Metaebene beeinflußt werden. Die Komponenten seines strategischen Steuerungssystems sind stark von biologischen Vorstellungen geprägt. Im Gestaltungsmodell des lebensfahigen Systems wird die abstrahierte Steuerungsstruktur eines lebendigen Organismus zugrunde gelegt und auf die Steuerungsstruktur eines Unternehmens projiziert. Dies wird mit dem Hinweis auf das Invarianztheorem und die Kybernetik so gerechtfertigt, daß alle komplexen Systeme diese Steuerungsstruktur aufweisen müssen, um überlebensfähig zu sein. Es scheint beinahe so, als würde Malik damit versuchen, den biologischen Bezug dieses Gestaltungsmodelles wieder zu relativieren. Dem widerspricht jedoch die starke Betonung des Überlebenszieles im Ansatz von Malik. Diese Zielsetzung des Über lebens weist ebenso wie die Vorstellung Maliks hinsichtlich der Komplexitätsbeherrschung auf das Grundmodell eines offenen organismischen Systems hin, wie es von Bertalanffy vorgestellt wurde. 136 Malik sieht die Möglichkeit einer Komplexitätsbeherrschung in Anlehnung an Ashby wenn zwischen der Umweltkomplexität und der Binnenkomplexität so etwas wie ein Fließgleichgewicht hergestellt werden kann. 137 Auch dies deutet letztlich auf die System vorstellung von Bertalanffy hin. Zudem wird im Rahmen der Systemmethodik vor allem deren evolutionäre Prozeßlogik betont, die im grundlegenden Versuchs-IrrtumsCharakter der Systemmethodik zum Tragen kommt. Zusammenfassend bleibt somit zum Ansatz von Malik festzuhalten, daß soziale Systeme auf der Basis der Konzeption von Hayek als spontane Ordnungen gesehen werden, die nur über einen metastrategischen Rahmen bedingt gelenkt werden können. Zielsetzung der Lenkungsanstrengungen ist die Sicherstellung des Überlebens der Unternehmen. Die wesentlichen Komponenten des metastrategischen Rahmens orientieren sich an analogischen Übertragungen evolutionsbiologischer Vorstellungen.
136 Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt F.II.I.b) 137 Vgl. Malik, 1989, S. 197.
126
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
Wenn dem Ansatz von Malik die Konzeption von Probst gegenübergestellt wird, zeigt sich, daß sich zwar auch Probst auf die spontane Ordnungsbildung sozialer Systeme im Sinne von Hayek beruft, er sich aber letztlich an die Konzeption von Luhmann anlehnt. Mit dieser Orientierung an der Konzeption von Luhmann geht Probst von der bisherigen Ausrichtung der St. Galler Schule an Hayek ab. Er charakterisiert soziale Systeme im Sinne von Luhmann von vornherein als autopoietische Systeme, obwohl er diesen Begriff in seiner Konzeption vermeidet. Darauf weist jedoch insbesondere seine Charakterisierung sozialer Systeme als operational geschlossen und autonom hin. 138 Damit greift Probst, wenn auch mittelbar über Luhmann und ebenso wie Malik, analogisch auf biologische Systemvorstellungen zurück. Eine Diskussion der Übertragbarkeit dieser Systemvorstellung führt er allerdings nicht. Vielmehr schließt er sich einfach der Konzeption Luhmanns an. In dieser biologischen Systemkonzeption steht nicht die Offenheit des Systems und die Aufrechterhaltung eines Fließgleichgewichtes mit der Umwelt zum Zwecke der Erhaltung der Lebensfähigkeit im Vordergrund, sondern primär die durch die Selbstorganisation des Systems bestimmte Eigenentwicklung des Systems. Damit liegt dieser Systemkonzeption ein anderes kybernetisches Entwicklungsmodell zugrunde als der Systemkonzeption Maliks. 139 Darüber hinaus thematisiert Probst aufgrund der Zweckorientierung sozialer Systeme das autopoietische soziale System in Anlehnung an Luhmann vor allem als Sinnsystem. Damit bringt er hier im Gegensatz zu Malik verstärkt die Sinnorientierung mit in seine Unternehmenskonzeption ein. Hieran anknüpfend schlägt er zusätzlich zur Schaffung einer Lenkungsstruktur durch substantielles Organisieren vor, durch symbolisches Organisieren eine weitere Lenkungsstruktur in Form einer Unternehmenskultur zu schaffen. Der Grundgedanke dabei ist der, daß sowohl die materielle Struktur als auch die sinnhafte Struktur auf der Metaebene eine ausreichende Varietät fur die Komplexitätshandhabung bieten sollen. Im Rahmen dieser substantiellen und sinnhaften Lenkungsstrukturen sollen nun auch in der Konzeption von Probst die Selbstorganisationsprozesse ablaufen. Direkte Einflußnahmen auf diese Prozesse sieht auch Probst nicht vor, allenfalls der Versuch einer Einflußnahme auf der Metaebene über seine "Empfehlungen fur gestaltende Interventionen". 140 Insgesamt gesehen ist der gemeinsame systemtheoretische und kybernetische Hintergrund der beiden Konzeptionen von Malik und Probst unübersehbar.
138 Vgl. die Darstellung autopoietischer Systeme in Abschnitt F.II.l.b)bb) sowie die ausflihrliche Diskussion zu der Beschreibung von sozialen Systemen als autopoietische Systeme beginnend von Abschnitt J.lII.I.b) bis Abschnitt J.III.I.b)cc) 139 Vgl. Probst, 1987, S. 64 f. 140 Probst, 1987, S. 113.
111. Gegenüberstellung der Ansätze und Zusammenfassung
127
Auch die grundlegende Sichtweise des Lenkungsproblems, ausgehend von der hohen Komplexität dieser Problemstellung, ist identisch. Sogar die Wahl biologischer Analogien zur Beschreibung eines kybernetischen Gestaltungsmodelles findet sich in beiden Ansätzen. Allerdings ergeben sich bei genauerer Betrachtung gewichtige Unterschiede in der inhaltlichen Ausgestaltung des kybernetischen Gestaltungsmodells zur Lenkung eines Unternehmens. Während Malik die Lenkungsproblematik eher unter dem Gesichtspunkt der Systemerhaltung sieht, stellt Probst die Fragestellung der selbstorganisatorischen Systementwicklung in den Vordergrund. Zusätzlich betont er die sinnhafte Dimension des sozialen Systems "Unternehmen" und fordert neben einer materiellen Strukturierung zusätzlich eine komplementäre sinnhafte Strukturierung des Unternehmens. Bei beiden Autoren geht es aber letztlich um die Schaffung eines metastrategischen Rahmens, in dem die Selbstorganisationsprozesse ablaufen. Ebenso wie die beiden Ansätze der St. Galler Schule knüpft Kirsch an der Komplexität des Führungsproblems an. Allerdings sieht er einen wesentlichen Bestandteil der Komplexität in der Notwendigkeit, Führungsprobleme aus unterschiedlichen Kontexten heraus zu beschreiben und zu behandeln. Deshalb geht Kirsch auch davon aus, daß es sich bei Führungsproblemen um multikontextuelle Probleme handelt. Im Gegensatz zur St. Galler Schule spricht er jedoch nicht von einem interdisziplinären Forschungsansatz, in dem verschiedene Disziplinen über die allgemeine Systemtheorie und Kybernetik zusammengefaßt werden, sondern von einem multidisziplinären Forschungsansatz. Kirsch geht davon aus, daß die verschiedenen Kontexte inkommensurabel sind und deshalb nicht über einen "Metakontext Systemtheorie und Kybernetik" zusammenfaßbar sind. 141 Stattdessen bleibt der wissenschaftlichen Forschung nichts anderes übrig, als die Führungsprobleme in verschiedenen Kontexten zu erfassen und zu versuchen, Übersetzungen zwischen den Kontexten vorzunehmen. Im Gegensatz zur St. Galler Schule deren Ausgangspunkt zur Beschreibung von Führungsproblemen die holistische Sicht der Systemtheorie ist, geht Kirsch von einem methodischen Individualismus aus. 142 Die Betrachtung von Führungsproblemen, verstanden als praktische Bewältigung individueller oder kollektiver Entscheidungsprozesse, stehen bei Kirsch somit im Mittelpunkt. 143 Kirsch beschreibt das Unternehmen als evolutions- und fortschrittsfähiges System. Er zieht jedoch keine kybernetischen Gestaltungsmodelle, die letztlich auf biologischen Analogien beruhen, zur Beschreibung der Systemlenkung oder Systementwicklung heran. Vielmehr beschreibt er die Evolution des Unternehmens in Anknüpfung an die sozialwissenschaftliche Entwicklungslogik
141 Vgl. Ring1stetter, 1987, S. 50. 142 Vgl. Ring1stetter, 1987, S. 28. 143 Vgl. Kirsch, 1992. S. 7.
128
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
von Habermas. 144 Kirsch konzipiert in Anlehnung an Habermas eine Entwicklungslogik in Form von Sinnmodellen des Unternehmens. Die Entwicklungsschritte des Unternehmens bis hin zur normativen Vorstellung einer fortschrittsfähigen Organisation werden durch die Entwicklung von Systemfiihigkeiten gefördert. Diese System entwicklung soll durch die Methodik einer geplanten Evolution unterstützt werden, die eine starke Ähnlichkeit zur Systemmethodik der St. Galler Schule aufweist. Seide Methodiken basieren auf der Idee einer konzeptionellen Gesamtsicht bzw. eines übergeordneten Rahmens, in dem evolutionäre Versuchs-Irrtums-Schritte ablaufen. 145 Im Gegensatz zur St. Galler Schule thematisiert Kirsch zudem ausfilhrlich in Anlehnung an die "kommunikative Rationalität" von Habermas und die "okkasionelle Vernunft" von Spinner die Frage einer evolutionären Rationalität. Eine evolutionär rationale Durchdringung der Lebenswelt sieht Kirsch als eine weitere Voraussetzung für die Schaffung einer fortschrittsfiihigen Organisation. Die St. Galler Schule verbindet ein rationales strategisches Management mit der Vorstellung einer metastrategischen Steuerung unter Einsatz der Systemmethodik als evolutionär rationaler Methodik und mittels einer Orientierung an der Struktur des lebensfiihigen Systems. Damit wird rationales Vorgehen in Anlehnung an Hayek vor allem im Sinne von Machbarkeit interpretiert. 146 Die Tabelle 3 fast nochmals die wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Autoren der beiden Schulen im Überblick zusammen: Tabelle 3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der interdisziplinären Ansätze hinsichtlich der strategischen Steuerung von Unternehmen Beschreibungskriterien
Malik
Probst
Kirsch
Ausgangspunkt der Managementanslltze
Komplexität des Filhrungsproblems
Komplexität des Filhrungsproblems
Komplexität des Filhrungsproblems
Forschungsausrichtung
Interdisziplinär
Interdisziplinär
Multidisziplinär
Forschungsansatz
Systemtheorie und Kybernetik.
Systemtheorie und Kybernetik.
Methodologischer Individualsmus.
144 Vgl. Ring1stetter, 1987, S. 104 ff. 145 Vgl. Krieg, 1985, S. 265. 146 Vgl. Ring1stetter, 1987, S. 165.
III. Gegenüberstellung der Ansätze und Zusammenfassung
129
System betrachtung
Konzeption des Unternehmens als offenes System mit spontaner Musterbildung. Das Unternehmen sollte zu einer "lebensfähigen Struktur" weiterentwickelt werden.
Konzeption des Unternehmens als autopoietisches System im Sinne Luhmanns.
Konzeption des Unternehmens als evolvierendes und entwicklungsfähiges System. Das Unternehmen sollte zu einer "fortschrittsfähigen Organisation" weiterentwickelt werden.
Grundsätzliche Lenkungsmöglichkeiten
Die direkten Lenkungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Lenkung findet auf der Metaebene statt.
Die direkten Lenkungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt. Lenkung findet auf der Metaebene statt.
Haltung des "gemäßigten Voluntarismus".
Systemlenkung
Konstruktion eines metastrategischen Steuerungsrahmens, bestehend aus Lenkungsstruktur, Lenkungsmethodik und allgemeinen strategischen Grundsätzen und Verhaltensweisen zur Kanalisierung von Selbstorganisationsprozessen auf der Objektebene.
Die Systemlenkung erfolgt über eine substantielle und symbolische Strukturierung des Unternehmens. Die Strukturierung muß so erfolgen, daß ausreichend Freiraum rur den AbIaufvon Selbstorganisationsprozessen bleibt.
Konzept der "geplanten Evolution ll .
Lenkungsziel
Sicherung der Lebensfähigkeit des Systems.
Sicherung der Entwicklung des Systerns.
Erzielung eines Fortschritts in der Befriedigung der direkt oder indirekt Betroffenen.
Rationalität
Strategisches Management kann nicht konstruktivistisch ablaufen, sondern muß sich am Machbaren orientieren.
Strategisches Management kann nicht konstruktivistisch ablaufen, sondern muß sich am Machbaren orientieren.
Konzeption einer "evolutionären Rationalität" als Vorbedingung rur Fortschrittsfähigkeit.
9 Scheurer
130
D. Interdisziplinäre Ansätze zur strategischen Steuerung
Anhand dieser Zusammenfassung und Gegenüberstellung der beiden Managementschulen wird deutlich, daß zwar im Grunde von derselben Ausgangsfragestellung, nämlich der Komplexität des Führungsproblems, ausgegangen wird, daß jedoch die zur Lösung dieses Führungsproblems entwickelten Vorschläge sehr unterschiedlich ausfallen. Selbst noch innerhalb der st. Galler Schule lassen sich zwischen Malik und Probst deutliche Unterschiede feststellen. Andererseits basieren jedoch alle Ansätze einheitlich auf einem evolutionär geprägten Gedankengut. Dies hat zur Folge, daß generell konstruktivistische, rein planerisch orientierte Managementkonzepte abgelehnt werden. Diesen Konzepten wird entweder eine evolutionär überlagerte Systemmethodik oder eine Vorgehensweise im Sinne einer geplanten Evolution entgegengesetzt. Darüber hinaus machen alle Ansätze entweder direkt von evolutionsbiologischen Theorien analogische Anleihen oder zumindest auf dem Umweg über evolutionär geprägte sozialwissenschaftliehe Konzeptionen. Insgesamt gesehen handelt es sich zwar um eine einheitliche Orientierung an evolutionärem Gedankengut, keinesfalls jedoch um eine einheitliche Orientierung im inhaltlichen Sinne. Von der Vorstellung eines offenen Systems über die Konzeption eines autopoietischen Systems im Sinne Luhmanns bis hin zur Übernahme der evolutionären Entwicklungslogik von Habermas, liegt den verschiedenen Ansätzen offensichtlich eine große inhaltliche Spannweite zugrunde. Angesichts dieser heterogenen Vorschläge einerseits, der im Grunde jedoch einheitlichen Orientierung an der Evolutionsbiologie andererseits, erscheint es sinnvoll und notwendig zum Zwecke einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerungsfragen nochmals ausführlich auf die evolutionsbiologischen Grundlagen einzugehen. Nur eine solche Vorgehensweise kann aus unserer Sicht eine übersichtliche Ordnung in die oben skizzierte Spannweite evolutionsbiologischer oder soziologischer Ansätze bringen. Zugleich dient die Aufarbeitung der neueren evolutionsbiolgischen Diskussion als Grundlage zur Klärung der bereits in Abschnitt B.lV.2. aufgestellten Kernfragen der strategischen Steuerung. Wenn nun allerdings die jüngere evolutionsbiologische Diskussion betrachtet wird, fällt immer wieder auf, daß die hier dargestellten Erkenntnisse, insbesondere jedoch die Konzeptionen organismischer Systeme, in einen engen Zusammenhang mit physikalischen Systemkonzeptionen gebracht werden. Darüber hinaus wird im Rahmen der Evolutionsbiologie, ebenfalls in engem Zusammenhang mit den physikalischen Erkenntnissen, von dem bereits erwähnten Paradigmawechsel mit der Konsequenz eines neuen Weltbildes gesprochen. Da somit offensichtlich enge Beziehungen zwischen den bei den Erkenntnisgebieten bestehen und zudem die ersten Entwicklungen in Richtung eines Paradigmawechsel ursprünglich von der Physik ausgingen, ist zu erwarten, daß auch in der jüngeren Physik wichtige Anhaltspunkte für die Klärung der Kernfragen der strategischen Steuerung zu finden sind.
III. Gegenüberstellung der Ansätze und Zusammenfassung
131
Damit ist der weitere Weg dieser Untersuchung vorgezeichnet. Um einen Fortschritt in der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung zu erreichen, werden im folgenden zunächst physikalische und evolutionsbiologische Theorien im Hinblick darauf untersucht, welche möglichen Antworten diese Erkenntnisse flir die Kernfragen der strategischen Steuerung erbringen können. Zugleich macht diese Vorgehensweise die Anknüpfung der Ergebnisse dieser Untersuchung an den hier vorgestellten Managementansätzen möglich.
E. Physikalische Erkenntnisse als erster
Ausgangspunkt einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen I. Überblick Bezugspunkt für die Betrachtung aller naturwissenschaftlichen Theorien im weiteren Verlauf dieser Untersuchung sind immer die in Abschnitt B.lV.2. abgeleiteten Fragestellungen, anhand derer versucht werden soll, einen Fortschritt in der theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung zu bewirken. Damit ist zugleich der inhaltliche Rahmen für die Betrachtung physikalischer Theorien vorgegeben. Grundsätzlich wären hierbei zwei mögliche Vorgehensweisen bei der Betrachtung der naturwissenschaftlichen Theorien denkbar. Zum einen könnten die physikalischen Theorien untersucht und jeweils sofort in Beziehung zu den Kernfragen der strategischen Steuerung gebracht werden. Zum anderen könnte jedoch zunächst die durchgehende Entwicklung dieser Theorien untersucht und dargestellt werden, um sie erst am Ende der Betrachtung den Kernfragen der strategischen Steuerung gegenüberzustellen. Für die erste Vorgehensweise spricht der unmittelbare Bezug, der so zwischen den physikalischen Erkenntnissen und den Fragen der strategischen Steuerung herstellbar wäre. Diese unmittelbare Zuordnung birgt allerdings zwei Gefahren: Erstens unterliegen die physikalischen Erkenntnisse selber einer fortlaufenden Entwicklung, so daß manche Theorien ineinander übergehen oder aufeinander aufbauen. Werden diese Übergänge in der Betrachtung getrennt, verlieren sich möglicherweise wesentliche Zusammenhänge, die auch für die Fragestellungen der strategischen Steuerung von Bedeutung sein können. Zweitens liegt in der Herstellung des unmittelbaren Bezuges zwischen physikalischen Theorien und den Fragen der strategischen Steuerung eine wissenschaftstheoretische Gefahr. Die Versuchung ist groß, "im Eifer des Gefechtes" allein auf der Basis von festgestellten Ähnlichkeiten eine Übertragung von Erkenntnissen vorzunehmen, ohne daß vorher wissenschaftstheoretisch korrekt die Bedingungen und Möglichkeiten einer solchen Übertragung geprüft wurden. Angesichts dieser Gefahren wird in dieser Untersuchung der zweite Weg gewählt. Zuerst werden somit die naturwissenschaftlichen Theorien in ihrem
I. Überblick
133
Zusammenhang dargestellt, ohne sogleich den Versuch einer Übertragung der Erkenntnisse auf die Fragestellungen der strategischen Steuerung vorzunehmen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Charakterisierung der klassischen Physik. Weniger deshalb, weil deren Erkenntnisse auf die Fragen der Unternehmensführung übertragen werden sollen, sondern vielmehr als Grundlage für das Verständnis der Neuerungen, die sich durch die jüngeren Entwicklungen ergeben haben. Oftmals läßt sich die Tragweite der Veränderungen besser darstellen, wenn der Gegenpol mit in die Betrachtung eingeht, so auch in diesem Falle. Zudem sind die Grundlagen der klassischen Physik auch deshalb von Interesse, weil sie, ausgehend von der Aufklärung, das wissenschaftliche Weltbild und damit auch den erkenntnistheoretischen Rahmen dieser Untersuchung, entscheidend prägen. Ändert sich das wissenschaftliche Weltbild, ändert sich auch der erkenntnistheoretische Rahmen dieser Untersuchung. In diesem Zusammenhang spielen die Ergebnisse der Relativitätstheorie von Einstein und der Quantenmechanik von Heisenberg eine wesentliche "erkenntnistheoretische Rolle". Beide Theorien leiten die moderne Physik nach heutigem Verständnis ein und werden deshalb nach den Grundlagen der klassischen Physik dargestellt. Auch Prigogines Theorie nichtlinearer offener Systeme, fern vom Gleichgewicht, unterstützt mit ihren Ergebnissen die neuen erkenntnistheoretischen Ansichten. Zusätzlich kann sie jedoch aktuellste Erkenntnisse zu einer neuen Sichtweise des Unternehmens und seiner Steuerungsmöglichkeiten beitragen. Darum steht die Darstellung dieser Theorie am Schluß der Betrachtungen.
In der Zusammenfassung des Kapitels wird untersucht, inwiefern sich die, aus den dargestellten Theorien resultierenden Erkenntnisse auf die fünf Kernfragen der strategischen Steuerung beziehen lassen. Allerdings kann nicht einfach davon ausgegangen werden, daß diese Erkenntnisse ohne weiteres auf die Fragestellungen der strategischen Steuerung übertragbar sind. Deshalb handelt es sich bei dieser Zuordnung von physikalischen Erkenntnissen zu den Fragen der strategischen Steuerung solange im Grunde nur um eine Vermutung, daß diese Erkenntnisse zur theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung beitragen bis mit einem wissenschaftsmethodisch korrekten Rahmen ihre Übertragbarkeit geprüft ist.
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E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
11. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse 1. Klassische Physik Grundlage fur die Entwicklung der Naturwissenschaften im heutigen Sinne ist die Aufklärung. Als Hauptziel der Wissenschaft wird die Ermittlung der in Raum und Zeit unverrückbar gültigen Gesetze formuliert, die fur die Abläufe in der Natur verantwortlich sind. I Anhand dieser universalen Gesetzmäßigkeiten soll die Ordnung der realen Welt vollständig beschrieben werden. Gesucht wird nach einem einheitlichen Rahmen, letztlich eigentlich nach einer Weltformel, die zeigt, wie alle existierenden Phänomene logisch miteinander verknüpft sind. Damit bleibt kein Platz mehr fiir spontane, im Kern nicht vorhersehbare Entwicklungen. 2 Zugleich sollen die Menschen über die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit und in letzter Konsequenz zur Beherrschung der sie umgebenden Welt befähigt werden.3 Vor allem das Werk von Descartes und Newton hat das modeme Verständnis von Naturwissenschaft stark geprägt. Descartes fuhrt den Gedanken der alles überlagernden Vernunft (Ratio) ein. Er versuchte aus grundlegenden Prinzipien deduktiv die Gesetzmäßigkeiten realer Phänomene zu erklären. Newton dagegen leitete über die Beobachtung von realen Phänomenen induktiv bislang noch nicht bekannte Gesetzmäßigkeiten ab. Zugleich wurde das Postulat einer positivistischen, exakten Naturwissenschaft formuliert. Hiernach gilt nur das als wissenschaftlich, was rational begrUndbar und durch exakte, experimentell bestätigte Messungen unmittelbar beweisbar ist. 4 Diese Prinzipien bilden die Grundlage fur die Physik Newtons. Bezeichnenderweise reduziert seine klassische Mechanik "... die Welt auf Trajektorien oder Raum-Zeit-Linien einzelner materieller Punkte.". 5 Die Bewegungen einzelner Teilchen innerhalb des geschlossenen Systems liegen aufgrund der bekannten Gesetzmäßigkeiten deterministisch fest und sind vollkommen umkehrbar. 6 Der Anstoß fur die Bewegung der Teilchen kommt von außen. Bei bekannten Ausgangsbedingungen wird somit die Berechnung jeder beliebigen Zeitentwicklung, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, mög-
I Vgl. Böcher, 1987, S. 14. 2 Vgl. Prigogine, Stengers, 1981, S. 10. 3 Vgl. Schramm, 1989, S. 431. 4 Vgl. Riedl, 1989, S. 459/ Schramm, 1989, S. 427 ff. 5 Jantsch, 1992, S. 56. 6 Vgl. Heisenberg, 1971, S. 88.
II. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
135
lich. 7 Die Zeitrichtung spielt also keine Rolle in der Mechanik Newtons. Sie ist vollständig deterministisch und beliebig reversibel. Die mit der klassischen Physik verbundene Wissenschaftsauffassung läßt sich zusammenfassend mit folgenden Prinzipien charakterisieren: 8 •
Determinismus Bei einmal bekannten Gesetzmäßigkeiten und gleichen Ausgangsbedingungen ist bei wiederholten Versuchen immer mit einem gleichen Ergebnis zu rechnen. Umgekehrt kann auch anhand der Ergebnisse und der Kenntnis des Gesetztes auf die Ausgangsbedingungen zurückgeschlossen werden.
•
Reduktionismus Typisch für das klassische wissenschaftliche Weltbild ist die reduktionistische, d. h. trennende, abgrenzende und zerlegende Vorgehensweise bei der Erklärung komplexer Phänomene. Dahinter steckt die Vorstellung, daß durch die Rückführung komplexer Sachverhalte auf ihre Grundbausteine und die getrennte Erklärung dieser Grundbausteine auch komplexe Sachverhalte verstanden und beherrscht werden können.
•
Kausalität Mit der reduktionistischen Vorgehensweise eng verbunden ist auch der Gedanke, daß die abgegrenzten Grundbausteine zwingend in kausalen Abhängigkeiten, vor allem in Ziel-Mittel-Beziehungen zueinander stehen.
•
Betrachtung geschlossener Systeme Im Zuge einer reduktionistischen Vorgehensweise zur Erklärung komplexer Phänomene ist der Wissenschaftler dazu gezwungen, bestimmte, für seine Betrachtung geeignete Systemschnitte vorzunehmen. Meist werden bei der Betrachtung der so gewonnenen Teilsysteme die äußeren Systembedingungen konstant gesetzt, um die systeminternen Prozesse ungestört beobachten und erklären zu können. Dabei handelt es sich dann um eine Betrachtung geschlossener Systeme, deren interne Prozesse meist einem Gleichgewichtszustand entgegenstreben.
7 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 27/ Nicolis, Prigogine, 1987, S. 265. 8 Vgl. Binnig, 1992, S. 18/ Böcher, 1987, S. 14 f./ Capra, 1983a, S. 28 ff./ Eilenberger, 1990, S. 87 ff./ Fölsing, 1989, S. 411 f./ Gerok, 1990, S. 142 ff./ Haken, 1988, S. 6/ Heisenberg, 1971, S. 111 ff./ Nicolis, Prigogine, 1989, S. 454/ Richter, 1991, S. 115 ff./ Schwarz, 1974, S. 6 ff.
136
•
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
Quantifizierung Diese Entwicklung geht auf Galilei zurück, der das Experiment, die mathematische Analyse und verbunden damit, notwendigerweise auch die quantitative Messung in die Wissenschaft einftihrte. Dies war der Beginn der sogenannten "exakten" Naturwissenschaften. Gleichzeitig erhielten damit alle nicht quantifizierbaren Erklärungsansätze natürlicher Phänomene den "Geruch des Nichtwissenschaftlichen".
•
Linearität Aus dem Prinzip der Quantifizierung der Wissenschaft sowie aus dem Kausalitätsprinzip und der damit verbundenen mathematischen Erfassung realer Phänomene ergibt sich praktisch zwingend eine lineare Betrachtung dieser Phänomene, da nichtlineare Gleichungssysteme selbst mit moderner Datentechnik nur schwer lösbar sind. Die Folge ist eine lineare bzw. eindimensional kausale Betrachtungsweise realer Phänomene. Dabei wird unterstellt, daß auch nichtIineare Beziehungen durch eine lineare Betrachtung brauchbar angenähert werden können.
•
Reversibilität Reversibilität ist eine unmittelbare Folge der linearen, monokausalen und deterministischen Betrachtungsweise. Da die Endergebnisse realer Phänomeme durch deren Anfangsbedingungen und durch die zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten klar definiert sind, lassen sich ausgehend von diesen Endergebnissen jederzeit die Anfangsbedingungen in einem umgekehrten Prozeß wiederherstellen.
•
Objektivität Eng verbunden mit der Einftihrung der exakten Wissenschaften und damit vor allem mit der zunehmenden Quantifizierung der Wissenschaften ist die Trennung zwischen dem beobachtenden Subjekt und dem beobachteten Objekt. Damit steht der Beobachter außerhalb des beobachteten Systems und ist somit zu einer objektiven Messung des beobachteten Objekts in der Lage.
•
Mechanistische Betrachtung der Welt Durch die Verbindung von rein rationaler, objektiver und reduktionistischer Wissenschaft entsteht letztlich eine mechanistische Betrachtung der Welt. Der Wissensschaftier als objektiver Beobachter entdeckt und erklärt durch Zerlegung komplexer Vorgänge in ihre Grundbausteine deren Gesetzmäßigkeiten. Damit steht der Beobachter außerhalb des Systems und trifft die Entscheidungen, während das beobachtete System deterministischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist.
11. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
137
Diese Prinzipien der klassischen Wissenschaft wurden bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch empirische Erfahrungen und experimentelle Resultate im wesentlichen gestützt. Damit konnte davon ausgegangen werden, daß diese Prinzipien dazu geeignet sind, eine adäquate Beschreibung dieser Welt zu geben, oder mit anderen Worten, ein zutreffendes Weltbild zu vermitteln. Aufgrund des traditionell großen Einflusses der Physik auf die Geisteswissenschaften muß davon ausgegangen werden, daß sich diese Prinzipien auch im erkenntnistheoretischen Rahmen der Wirtschaftswissenschaften wiederfinden lassen.
2. Relativitätstheorie und Quantenmechanik Seit Mitte des 19. Jahrhunderts begann die modeme Physik mit der Entwicklung der Thermodynamik an den Grundsätzen klassischer Wissenschaft zu rütteln. Gemäß dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz kann die Entropie in einem geschlossenen System nur solange zunehmen, bis das thermodynamische Gleichgewicht des Systems erreicht ist. Entropie kann als Maß für jenen Teil der Gesamtenergie verstanden werden, der nicht frei verfügbar ist und somit nicht "... in gerichteten Energiefluß oder Arbeit umgesetzt werden kann.".9 Somit befindet sich ein geschlossenes System eindeutig auf einem unumkehrbaren Prozeß von einem Zustand höherer Ordnung hin zu größerer Unordnung. IO Am Ende dieser Entwicklung befindet sich das System im Zustand der maximal erreichbaren Entropie und damit im Zustand seines thermodynamischen Gleichgewichtes. I I Damit ist das Prinzip der Reversibilität zugunsten einer eindeutig verlaufenden zeitlichen Richtung durchbrochen. 12 Zu einem weiteren Bruch der klassischen Vorstellungen kam es durch zwei weitere entscheidende Umwälzungen in der Physik zu Beginn dieses Jahrhunderts. Es handelt sich um die Relativitätstheorie einerseits und um die Quantentheorie andererseits. Die Relativitätstheorie macht Aussagen zum Verhalten von Materie bei Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit. Die Quantentheorie beschäftigt sich mit dem Verhalten der kleinsten Materieteilchen. Beide Theorien zeigten, daß für die jeweils untersuchten Bereiche die Aussagen der klassischen Mechanik Newtons keine Gültigkeit besitzen. Mit dem Nachweis Einsteins, daß die Lichtgeschwindigkeit eine Naturkonstante ist und daß somit bewegte Systeme immer in Relation zur Lichtge9 Jantsch, 1992, S. 56. 10 Vgl. Nitschke, 1979, S. 146. 11 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 196. 12 Vgl. Drieschner, 1992, S. 40.
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E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
schwindigkeit betrachtet werden müssen, war die Vorstellung von der Zeit als einer absolut gegebenen Größe nicht mehr haltbar. Darüber hinaus wies Einstein nach, daß auch die Masse keine absolute Größe darstellt, sondern daß diese in Relation zur Geschwindigkeit zunimmt. Damit können Raum und Zeit nicht mehr getrennt voneinander und als unabhängig von der Materie betrachtet werden, sondern müssen nach Einstein als vierdimensionales Raum-ZeitKontinuum angesehen werden. 13 Einstein hielt jedoch noch an der Lokalisierbarkeit der Materie in Raum und Zeit fest. Genau mit dieser Fragestellung der Lokalisierbarkeit von Materie in Raum und Zeit setzt sich die Quantentheorie auseinander. Sie führte zu einer weiteren Infragestellung des klassischen Raumbegriffs, da sie selbst die Kontinuität des Raumes anzweifelte. Grundlage für alle weiteren Überlegungen war die Entwicklung der modernen Atomtheorie, insbesondere das Atommodell von Rutherford, das von einem Atomkern, umkreist von negativ geladenen Elektronen ausgeht. Anknüpfend an dieses Atommodell von Rutherford machte Max Planck den Vorschlag, eine Naturkonstante h als das sogenannte Wirkungsquantum einzuführen. Damit verband Planck die Vorstellung, daß Elektronen nicht in kontinuierlichen Bahnen um den Atomkern laufen, sondern daß diese Elektronen beim Wechsel der Umlaufbahnen Quantensprünge machen müssen, die mindestens h oder ein Vielfaches von h betragen. Dies bedeutet, daß elektromagnetische Strahlung die Energie nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich in Energiepaketen überträgt. 14 Wenn nun Elektronen tatsächlich Sprünge machen und Energie diskontinuierlich übertragen wird, dann muß davon ausgegangen werden, daß die Struktur des Raumes nicht kontinuierlich ist. Damit ergibt sich jedoch die Möglichkeit, daß die Welt in ihrem Wesen nach diskontinuierlich ist. 15 Ein weiterer Fortschritt in der Quantentheorie ergab sich infolge einer quantenmechanischen Untersuchung des Lichts, für die Einstein 1922 der Nobelpreis verliehen wurde. Das Ergebnis dieser Untersuchung war der unzweifelhafte Quantencharakter des Lichts. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen konnten mehrere Forscher anhand des Lichts nachweisen, daß sich ein Elektron in der Quantenwelt physikalisch als Teilchen, gleichzeitig aber auch als Welle beschreiben läßt, obwohl sich diese Befunde eigentlich gegenseitig ausschließen. Niels Bohr schloß daraus, daß nicht mehr objektiv festgestellt werden kann, ob es sich bei diesem Elektron nun wirklich um ein Teilchen oder wirklich um eine Welle handelt. Vielmehr kam Bohr zu der Erkenntnis, daß diese unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse zwar das gleiche Objekt betreffen und 13 Vgl. Nitschke, 1979, S. 179 ff./ Prigogine, 1979, S. 262. 14 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 145. 15 Vgl. Nitschke, 1979, S. 181.
II. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
139
somit zusammengehören, sich aber flir einen gemeinsamen Zeitpunkt gegenseitig ausschließen. Diese " ... innere Zusammengehörigkeit alternativer Möglichkeiten, denselben Erkenntnisgegenstand als etwas Verschiedenes zu erfahren." bezeichnet Bohr als Komplementarität. 16 Damit wird deutlich, daß ein reales Phänomen nur aus unterschiedlichen Betrachtungsperspektiven vollständig erfaßbar ist, wobei aus den unterschiedlichen Perspektiven sogar widersprüchliche Betrachtungsergebnisse resultieren können. "Um etwas gründlich und umfassend zu erkennen, ist es paradoxerweise unabdingbar, dieses 'Etwas' als Verschiedenes zu erfahren, wobei jeder Ansatz zugleich die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit anderer Ansätze voraussetzt. ".17 Es ergibt sich also eine eindeutige Abhängigkeit zwischen der Betrachtungsperspektive und dem daraus resultierenden Betrachtungsergebnis. Damit hängen wissenschaftliche Ergebnisse letztlich immer auch von den zugrundeliegenden Basiswerturteilen der jeweiligen Forscher ab. Diese Basiswerturteile, die durchaus auch aus den weltanschaulichen Vorstellungen des Wissenschaftlers, also aus einem außerwissenschaftlichen Bereich stammen können, bestimmen trotzdem das wissenschaftliche Denken und die Forschungsmethoden eines Wissenschaftlers und damit eben auch die Ergebnisse seines wissenschaftlichen Forschens. 18 Ein weiterer, bedeutender Schritt im Rahmen der Quantentheorie war die Entwicklung der Quantenmechanik durch Schrödinger. Er stellte eine Gleichung auf, die dazu in der Lage war, das zeitlich ablaufende Verhalten von Materie im Raum zu beschreiben. Im Rahmen dieser Gleichung war auch die Dualität von Teilchen und Wellen, die fur die atomare Welt typisch ist, über die Einflihrung der sogenannten Wellenfunktion miteinbezogen. 19 Hierbei handelt es sich jedoch um keine deterministische Mechanik, vergleichbar der Newtons. Im Gegenteil, Max Born machte den Vorschlag, die durch Schrödinger eingeflihrte Wellenfunktion als Wahrscheinlichkeitsamplitude anzusehen. Gemeint ist die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Raumsegment anzutreffen. 20 Mit dieser Vorstellung ist natürlich eine Absage an streng kausale, deterministisch vorhersagbare Ereignisse verbunden. Es können nur noch "... Wahrscheinlichkeiten des Vorkommens von Ereignissen ... " formuliert werden.21 16 Böcher, 1987, S. 130. 17 Böcher, 1989, S. 131. 18 Vgl. Schwarz, 1974, S. 22. 19 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 153. 20 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 154/ Gribbin, 1992, S. 67. 21 Coveney, Highfield, 1992, S. 154.
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E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
Eine weitere zentrale Aussage der Quantentheorie ist in der Unschärferelation Heisenbergs zu sehen. Während nach der Vorstellung Newtons mechanistisch die gesamte Zukunft vorhersehbar ist, sobald Ort und Impuls eines jeden Teilchens im Universum bekannt wären, behauptet die Unschärferelation, daß niemals gleichzeitig der Ort und der Impuls eines Teilchens genau bestimmbar sind. Dies ist die Folge der Wechselwirkung zwischen dem beobachteten System und der Messung des Beobachters. "Wenn wir uns entscheiden, den Ort genau zu messen, zwingen wir ein Teilchen, hinsichtlich seines Impulses größere Unbestimmtheit zu entwickeln, und umgekehrt; wenn wir uns entscheiden, durch ein Experiment Welleneigenschaften zu messen, schließen wir die Teilchenmerkmale aus ... ".22 Zusammenfassend kann somit nochmals festgestellt werden, daß durch die stochastische Quantenmechanik Schrödingers, die Unschärferelation Heisenbergs und das Komplemetaritätsprinzip von Bohr weitere Prinzipien des klassischen Wissenschaftsbildes in Frage gestellt werden. Im Grunde muß die deterministische Betrachtung der Welt auf der Basis dieser Erkenntnisse revidiert werden. Im Gegensatz zur deterministischen Mechanik Newtons zeigt sich klar, daß eine vollständige Beschreibung realer Phänomene auf der atomaren Ebene nur mit einer stochastisch geprägten Quantenmechanik möglich ist. Auch die Unbestimmtheitsrelation Heisenbergs verstärkt die Erkenntnis von einer nicht deterministisch beschreibbaren WeIt. "Die Unbestimmtheitsrelationen sagen uns, daß wir Ort und Impuls nicht gleichzeitig kennen können und daher die Zukunft nicht vorhersagen können - die Zukunft ist ihrer Natur nach unvorhersehbar und unbestimmt.".23 Damit wird aber auch das Kausalitätsprinzip, wonach aufeinanderfolgende Ereignisse von vorhergehenden zwingend verursacht werden, erschüttert. Es kann nicht mehr von einer unabhängigen Existenz des beobachteten Systems ausgegangen werden, sondern der Beobachter wird zu einem Bestandteil des beobachteten Systems, indem er durch seine Beobachtung das System verändert. Damit ist zugleich das Prinzip der objektiven Meßbarkeit von Ergebnissen verletzt. Was aus Experimenten an Meßergebnissen entnommen wird, hängt somit stark vom Maße der an das Experiment geknüpften Erwartungen, oder in anderen Worten gesagt, von der zugrundegelegten Betrachtungsperspektive ab. 24
22 Gribbin, 1989, S. 106. 23 Gribbin, 1989, S. 105. 24 Vgl. Drieschner, 1992, S. 47/ Gribbin, 1989, S. 107.
II. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
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3. Thermodynamik
a) Gleichgewichtsthermodynamik geschlossener Systeme
Aufgrund der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik wurde zunehmend deutlich, daß die klassischen Wissenschaftsprinzipien nur bedingt zur Beschreibung der realen Welt in der Lage sind. Auch die Änderung der Betrachtungsweise, die sich durch den Übergang von der klassischen Dynamik zur Thermodynamik ergab, brachte vollständig neue Erkenntnisse. Während in der klassischen Dynamik die Betrachtung einzelner Teilchen und deren Bewegungen im Vordergrund standen, beschäftigt sich die Thermodynamik mit der "". Interaktion zwischen den Mitgliedern großer Teilchenpopulationen ... "25 und mit den Ordnungszuständen oder Muster, die sich durch diese Interaktionen selbständig bilden. Im Vordergrund der Betrachtung standen zunächst geschlossene Systeme im Gleichgewicht. Hierbei wurde herausgefunden, daß der Weg solcher Systeme ins Gleichgewicht durch eine ständige Zunahme von Entropie gekennzeichnet ist, bis im Gleichgewicht der Zustand maximaler Entropie und damit zugleich ein Minimum freier Energie erreicht ist. 26 Mit diesen Erkenntnissen wird ein weiteres Prinzip der klassischen wissenschaftlichen Betrachtungsweise umgestoßen. Die Vorstellung, daß alle Prozesse im Grunde reversibel sind, läßt sich auf der Basis dieses neuen Wissens nicht mehr aufrechterhalten. Im Gegenteil, die thermodynamischen Erkenntnisse zeigen eine eindeutige Entwicklung des Prozesses im Zeitablauf. Damit führt die Thermodynamik über die Vorstellung von der Irreversibilität der Prozesse den unumkehrbaren Zeitpfeil in die wissenschaftliche Betrachtung ein)7 Mit diesem unausweichlichen und von den Ausgangsbedingungen des Systems unabhängigen Weg ins Gleichgewicht ist sowohl der Endzustand geschlossener Systeme als auch eine zeitlich unumkehrbare Entwicklungsrichtung festgelegt. Damit lassen sich zwar präzise Vorhersagen über diese Systeme und ihren Endzustand machen, nur leider sind diese Vorhersagen zur Beschreibung dynamischer Systeme unbrauchbar, da sich der thermodynamische Gleichgewichtszustand dadurch auszeichnet, daß sämtliche Prozesse innerhalb des Systems und zwischen System und Umwelt zum Erliegen kommen.
25 Jantsch, 1992, S. 36. 26 Vgl. Coveney, Higfield, 1992, S. 200 f. 27 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 189.
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E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
b) Nichtgleichgewichtsthermodynamik offener Systeme
Grundsätzlich läßt sich die Nichtgleichgewichtsthennodynamik offener Systeme in zwei verschiedene Bereiche aufspalten. Teilungskriterium ist die Gleichgewichtsnähe der betrachteten Systeme. Es kann zwischen Systemen unterschieden werden, die sich nahe und solchen, die sich fern vom Gleichgewicht befinden. 28 Beide Systeme werden im folgenden kurz skizziert: 29 •
Offene Systeme nahe dem Gleichgewicht Diese Systeme streben zum Gleichgewicht, sobald die Hindernisse beseitigt werden, die sie vom Gleichgewichtszustand abhalten. Somit bewegen sich die möglichen Systemzustände innerhalb eines relativ eng abgrenzbaren Rahmens. Es handelt sich um quasi-lineare Systemprozesse, so daß die Anfangsbedingungen keine große Rolle fur die Entwicklung dieser Systeme spielen. Die System entwicklung bewegt sich in einem vorhersagbaren Rahmen und ist nicht zufallsabhängig. Damit haben diese Systeme nahe dem Gleichgewicht einen weitestgehend detenninistischen und stabilen Systemcharakter.
•
Offene Systeme fern vom Gleichgewicht Diese Systeme sind durch nichtlineare sowie auto- und kreuzkatalytische Rückkopplungsprozesse gekennzeichnet, die zu dynamisch stabilen Systemzuständen fuhren. Je weiter sich ein solches System allerdings vom Gleichgewicht entfernt hat, desto kleiner können die Anstöße sein, die einen Wechsel des Systemzustandes auslösen, oder mit anderen Worten: desto instabiler wird das System. Der sich herausbildende Systemzustand ist wesentlich von den Anfangsbedingungen des Systems abhängig. Das System kann zwischen einer Vielzahl dynamisch stabiler Zustände wechseln, ohne daß vorhersagbar wäre, welcher dieser Systemzustände stabilisiert wird. Damit ist eine sehr umfassende, aber zugleich auch unvorhersagbare Systementwicklung möglich.
Beide Systemtypen wurden nur kurz skizziert, um eine Ahnung von den Charaktennerkmalen des jeweiligen Systemtyps zu bekommen. Mehr ist an dieser Stelle der Untersuchung noch nicht notwendig. Hier gilt es nur zu entscheiden, auf welchen Systemtyp im weiteren Verlauf der Untersuchung das Hauptaugenmerk zu richten ist. Eine solche Entscheidung kann bereits auf der Basis dieser Skizze getroffen werden: Wenn es 'um die strategische Steuerung eines Unternehmens geht, kann u. E. keine Systemvorstellung im Vordergrund
28 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 203. 29 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 203 ff./ Laszlo, 1986, S. 152.
11. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
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stehen, die von vornherein nur sehr eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten des betrachteten Systems, nämlich eine Entwicklung zum Gleichgewicht hin, zuläßt. Anders ausgedrückt Eine wirkliche Entwicklung ist nur von Systemen fern vom Gleichgewicht zu erwarten. Damit ist auch dies der Systemtyp, der für die Beantwortung der Kernfragen der strategischen Steuerung von besonderem Interesse ist. Hierfür spricht auch der Umstand, daß es sich beim gleichgewichtsfernen System typ um ein wesentlich komplexeres System handelt, was auch eher mit dem komplexen und dynamischen System "Unternehmen" korrespondiert. Da somit vor allem die Beschäftigung mit offenen Systemen fern vom Gleichgewicht weitere Aufschlüsse über Systemkomplexität einerseits und über dynamische Systementwicklung andererseits verspricht, wird der weitere Schwerpunkt der Untersuchung zunächst auf diese Systeme gelegt. In den nächsten vier Abschnitten werden deshalb diese Systeme unter· der von Prigogine geprägten Bezeichnung der "dissipativen Systeme" näher charakterisiert. aa) Dissipative Systeme Die Grundlage der weiteren Betrachtung sind somit Systeme, die sich dauerhaft fern vom Gleichgewichtszustand befinden. Mit der Bezeichnung als dissipative Systeme kommt zum Ausdruck, daß es sich um offene Systeme handelt, die durch einen ständigen Energie- und Materiedurchfluß gekennzeichnet sind. Energie- und Materiedurchfluß schaffen die Voraussetzungen für eine dynamische Stabilität des Systems und halten es zugleich fern vom Gleichgewicht. Die Gleichgewichtsfeme ist wiederum die Voraussetzung dafür, daß die Austauschprozesse mit der Umwelt überhaupt zustande kommen. Dissipative Systeme sind also dadurch gekennzeichnet, daß es sich um dynamische, mit ihrer Umwelt ständig im Austausch befindliche Systeme handelt. Vor allem sind sie jedoch durch den speziellen Selbstorganisationsmechanismus gekennzeichnet, der die ihnen eigene dynamische Stabilität hervorbringt. Im folgenden werden dissipative Systeme anhand der in der Literatur vorzufindenden Merkmale näher charakterisiert:30 •
Offenheit Eine wichtige Voraussetzung für das Vorliegen dissipativer Systeme ist die energetische Offenheit des Systems. Dissipation bedeutet im physikalischen Sinne, daß diese Systeme ständig einen Austausch von Energie und Materie mit der Umgebung aufrechterhalten. Voraussetzung für die Austauschprozesse ist ein innerer Nichtgleichgewichtszustand des Systems, da im Gleichgewicht diese Prozesse zum Stillstand kommen würden.
30 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 204 ff/ Eigen, Winkler, 1975, S. 110 ff./ Gerok, 1990, S. 147 ff/lantsch, 1992, S. 61 ff./ Nicolis, Prigogine, 1987, S. 266 ff.
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•
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
Nichtgleichgewicht Die Systeme befinden sich fern vom Zustand ihres Gleichgewichtes. Trotzdem ist im Falle solch offener Systeme die Bildung geordneter Strukturen im Sinne von dynamisch stabilen Zuständen möglich. Diese geordneten Strukturen sind Ausfluß einer spontanen Musterbildung der im System ablaufenden Prozesse. Somit handelt es sich um ein dynamisches FIießgleichgewicht, das im Rahmen des dynamischen Energie- und Materiedurchfluß im System entsteht, sofern dem System ebenso viel Energie und Materie zugeführt wird, wie zugleich verloren geht.
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Komplexität Dissipative Systeme sind nichtIineare Systeme. Anstatt der linearen und damit eindeutigen Kausalketten laufen in diesen Systemen vielfach wechselseitig vernetzte und rekursiv auf sich selber bezogene Prozesse ab. Durch diesen nichtIinearen und iterativen Charakter des Systems handelt es sich bei dissipativen Systemen ihrem Wesen nach um äußerst komplexe Systeme.
•
Rekursivität Die in diesen Systemen ablaufenden Prozesse sind durch ständige Rückkopplungen gekennzeichnet. Entscheidend hierbei ist, daß es sich nicht nur um negative Rückkopplungen handelt, die der Aufrechterhaltung der dynamischen Systemstabilität dienen, sondern daß ebenso positive Rückkopplungen möglich sind, die die alte Systemstabilität sprengen und das System in eine neue dynamische Stabilität treiben.
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Irreversibilität Dissipative Systeme sind nicht invariant gegenüber einer Zeitumkehr. Dies sorgt bei Existenz von Nichtgleichgewichtsbedingungen dafür, daß sich dissipative Systeme im Zeitablauf in Richtung einer attraktiven Menge von Systemzuständen bewegen. Diese attraktive Menge wird in der Physik Attraktor genannt. Bei diesen Attraktoren handelt es sich um die bereits angesprochenen dynamisch stabilen Systemzustände.
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Selbstorganisation Dissipative Systeme sind Systeme, in denen ausgelöst durch ihre Gleichgewichtsferne ständig Prozesse ablaufen. Diese Prozesse sind determiniert von den Anfangsbedingungen des Systems, also vom jeweils aktuellen Systemzustand. Damit liegt ein zyklischer Prozeß vor, in dem jeder Systemzustand konstitutiv für den nächsten Systemzustand ist. Solche primär vom inneren Systemzustand determinierte Prozesse werden auch als selbstreferentielle Prozesse bezeichnet. Zusätzlich spielen jedoch auch die Randbedingungen, unter denen diese Prozesse ablaufen, eine Rolle für den Prozeßverlauf, sie
II. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
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determinieren ihn jedoch nicht. Selbstorganisierend werden diese Prozesse deshalb genannt, weil sie zu spontanen Ordnungszuständen des Systems, oder anders formuliert, zu dynamisch stabilen Systemzuständen führen. Diese Charakterisierung dissipativer Systeme zeigt deutlich, daß hier im Gegensatz zur klassischen Physik, in der geschlossene, zum Gleichgewicht tendierende Systeme untersucht werden, ein ganz anderer Betrachtungsgegenstand im Mittelpunkt steht. Die besondere Aufmerksamkeit der neueren wissenschaftlichen Ansätze, die sich mit diesen Systemen befassen, gelten vor allem den Entwicklungsprozessen dissipativer Systeme. Insbesondere aber der Frage, wie diese Systeme selbstorganisierend aus instabilen Systemphasen zu Ordnungszuständen übergehen können. Mit dieser Fragestellung befassen sich die "Nichtlineare Thermodynamik" Prigogines ebenso wie die Synergetik Hakens oder die eher mathematische Variante: die Chaostheorie. Im folgenden werden die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Theorien dargestellt. Obwohl die Ausgangspunkte der einzelnen theoretischen Ansätze etwas verschieden sind und sich dies teilweise auch in der Verwendung etwas unterschiedlicher Begrifflichkeiten äußert, bleibt doch die grundlegende Fragestellung aller Ansätze, die nach dem Verhältnis von Ordnung und Unordnung. Mit dem Aufgreifen unterschiedlicher Ausgangspunkte ist es nur zu natürlich, daß die verschiedenen Ansätze unterschiedliche Facetten zu dieser Fragestellung beisteuern. In der folgenden Darstellung wird darauf verzichtet, die einzelnen theoretischen Ansätze voneinander zu unterscheiden, vielmehr wird versucht, die Ergebnisse der einzelnen Ansätze so miteinander zu verbinden, daß sich ein schlüssiges Gesamtbild der Prozesse zwischen Ordnung und Chaos ergibt. Es wird im folgenden also die Entwicklung dissipativer Systeme zwischen Ordnung und Chaos näher beleuchtet. Dabei wird zunächst dargestellt, wie dissipative Systeme von der Ordnung zum Chaos gelangen. Im nächsten Schritt wird dann der Umkehrprozeß, also der Übergang vom Chaos zur Ordnung betrachtet. Diese getrennte Betrachtung erfolgt jedoch nur aus analytischen Gründen und wird deshalb im Abschnitt E.II.3.b)dd) der Gliederung wieder aufgehoben. bb) Deterministisches Chaos Bevor nun allerdings damit begonnen wird, den Weg eines dissipativen Systems ins Chaos darzustellen, muß zunächst noch kurz geklärt werden, was es mit dem Begriff des "deterministischen Chaos" auf sich hat. 10 Scheurer
146
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
Chaotisch wird ein System dann genannt, wenn seine Entwicklung nicht determiniert ist und sie sich somit nicht vorhersagen läßt. Soweit erscheint die Definition des Chaos noch verständlich. Bei der Kombination von Determinismus und Chaos denkt man jedoch an einen Widerspruch in sich. Dies ist aber nicht der Fall. Das entstehende Chaos wird deshalb als deterministisch bezeichnet, weil Systeme vorliegen, die einfachen Naturgesetzen gehorchen und die zunächst klar definierbare Ausgangsbedingungen aufweisen. Insoweit handelt es sich eigentlich um Systeme mit einem scheinbar deterministischen Charakter. Ihre Entwicklung läßt sich jedoch aufgrund kleinster Veränderungen der Ausgangsbedingungen und deren möglicher positiver Verstärkung im Rahmen der nichtlinearen Rückkopplungsprozesse trotzdem nicht vorhersagen.3 1 Dies zeigt sich ganz deutlich, wenn der Weg betrachtet wird, auf dem sich dissipative Systeme aus einem Zustand dynamischer Stabilität heraus bis ins deterministische Chaos hinein entwickeln können. Ausgangspunkt der Betrachtung dieses Weges ist ein dynamischer Stabilitätszustand, der durch spontane Ordnungen im Rahmen von Selbstorganisationsprozessen zustande kommt. Hierbei handelt es sich um selbstreferentielle Prozesse, mit anderen Worten also um Prozesse, die von den Anfangsbedingungen des Systems determiniert werden. Kleine Änderungen der Anfangsbedingungen können infolge der Rekursivität der Systemprozesse und der Nichtlinearität der Systembeziehungen zu vollkommen neuen Systemzuständen führen. Ändern sich nun im Laufe der rekursiven Prozesse die Anfangsbedingungen des dissipativen Systems über einen bestimmten Grenzwert hinaus, beginnt das System zwischen zwei verschiedenen Attraktoren hin und her zu schwingen. Somit existieren in dieser Phase des Entwicklungsprozesses zwei dynamisch stabile Ordnungszustände. Die Gründe für Änderungen der Anfangsbedingungen können sowohl in den nichtlinearen Wechselwirkungen innerhalb des Systems, also z. 8. in positiven Rückkopplungen, als auch in Fluktuationen aus der Umwelt des Systems liegen. Mit zunehmender Änderung der Anfangsbedingungen springt das System zwischen einer immer größer werdenden Anzahl von Attraktoren hin und her bis schließlich keine Ordnung mehr auszumachen ist.3 2 Das System verstärkt also die anfangs vielleicht unbedeutend erscheinende Abweichung der Anfangsbedingungen im Rahmen der system internen, rekursiven Prozesse solange, bis es sich schließlich im sogenannten deterministischen Chaos wiederfindet. Dieser Weg ins Chaos ist in der Abbildung auf der nächsten Seite zu sehen. Es handelt sich um ein sogenanntes Bifurkationsdiagramm. Auf der Ordinate
31 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 215/ Hess, Markus, 1987, S. 159. 32 Vgl. Briggs, Peat, 1990, S. 80 ff.
II. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
147
ist die Anzahl der dynamisch stabilen Systemzustände abgetragen, die Abszisse zeigt die zunehmende Veränderung der Anfangsbedingungen auf.
Abbildung 20: Weg eines dissipativen Systems ins deterministische Chaos Der Weg ins Chaos ist in Abbildung 20 zu sehen. Er verläuft bei nahezu allen nichtlinearen, dynamischen Systemen nach dem universellen Prinzip der Periodenverdopplung. Im Rahmen dieser Periodenverdopplung stellt sich ein generell gültiges Muster ein. Beginnend von der ersten Schwingung des Systems zwischen zwei verschiedenen dynamischen Ordnungszuständen, verdoppelt das System in zeitlich immer kürzer aufeinanderfolgenden Abständen die Schwingungen zwischen der Anzahl weiterer Ordnungszustände solange, bis es im Chaos landet. Mitchell Feigenbaum entdeckte 1975 sogar, daß dissipative Systeme auf dem Weg der Periodenverdopplung universell gültige numerische Verhältnisse zwischen den Verdopplungsstellen aufweisen.33 An den weißen "Säulen" im rechten Teil des Bifurkationsbereiches ist zu sehen, daß das System inmitten des Chaos vorübergehend stabile und geordnete Bereiche aufweist, bevor es erneut über den Weg der Periodenverdopplung ins Chaos zurückkehrt. Hier zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen geschlossenen und offenen Systemen. Während in geschlossenen Systemen immer nur eine Entwicklung in Richtung zunehmender Entropie möglich ist, also einmal 33 Vgl. Briggs, Peat, 1990, S. 89. 10'
148
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
eingetretene Unordnung ohne äußere Einflüsse nicht mehr in Ordnungszustände zurückkehren kann, ist dies bei offenen Systemen mittels des durchfließenden Energie und Materiestromes möglich. Ein offenes System kann sich also im Rahmen seiner selbstorganisierenden Erneuerung auch von einem chaotischen Zustand zurück zu einem geordneten Zustand entwickeln. Zum Abschluß bleibt nur noch zu klären, was an den Bifurkationspunkten vorgeht, an denen sich die Zustandskurve des Systems zwischen den verschiedenen Ordnungszuständen verzweigt. Bifurkationen liegen dann vor, wenn " ... einer der beiden Äste das aus der Vergangenheit zu extrapolierende thermodynamische Verhalten wiedergibt, während der andere Ast den Weg in einen neuen Zustandsbereich beschreibt".3 4 Die Weichenstellung wird von Fluktuationen bestimmt. Solche Fluktuationen sind Vorgänge, bei denen das System seine ursprüngliche Stabilität verliert und somit in die Lage versetzt wird, sich intern zu differenzieren, um entweder zu seinem zunächst dominant wirkenden Anfangszustand oder einen qualitativ vollständig neuen stabilen Zustand zu gelangen.3 5 Welchen Weg das System gehen wird, ist im Vorfeld nicht deterministisch festgelegt. Der Zufall entscheidet in Abhängigkeit von der Dynamik der Fluktuation, des Ausmaßes der Abweichung des Systems vom Gleichgewicht sowie der Stärke der Nichtlinearität des Systems.3 6 Das System wird nach etlichen Versuchen schließlich eine Fluktuation stabilisieren und damit den zukünftigen Systemzustand festlegen.3 7 Die chronologische Abfolge der so ausgewählten und stabilisierten Systemzustände stellt einerseits die individuelle Geschichte eines jeden Systems dar, bildet andererseits aber zugleich die irreversiblen Anfangsbedingungen für die gesamte weitere Systementwicklung. Insofern liegt hier ein Wechselspiel zwischen "... Zufall und Notwendigkeit ... "38 vor. Damit sind Fluktuationen entscheidend für die Entwicklungsgeschichte eines Systems. Solche vorübergehenden Instabilitäten sind jedoch nur bei offenen Systemen möglich, die sich fern vom Gleichgewicht befinden. Für geschlossene Systeme im Gleichgewicht sind Instabilitäten von vornherein ausgeschlossen. Damit zeigt sich hier deutlich, daß nur offene Systeme fern vom Gleichgewicht durch den Freiraum für Instabilitäten dazu in der Lage sind, sich im Rahmen rekursiver Prozesse iterativ an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Dies stellt einen kreativen Akt dissipativer Systeme dar, der durchaus mit dem biologischen Evolutionsprozeß verglichen werden kann. Fluktuationen 34 Eigen, 1988, S. 114. 35 Vgl. Nicolis, Prigogine, 1987, S. 107 und S. 242. 36 Vgl. N icolis, Prigogine, 1987, S. 246. 37 Vgl. Nicolis, Prigogine, 1987, S. 110. 38 Nicolis, Prigogine, 1987, S. 110.
11. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
149
entsprechen den biologischen Mutationen; die Stabilisierung eines Systemzustandes entspricht dem biologischen Selektionsvorgang.3 9 Nicolis, Prigogine sprechen in diesem Zusammenhang von Bifurkationen als " ... Quelle von Innovation und Diversifikation ... "40, da sie zu qualitativ vollständig neuen Systemzuständen fuhren können. Damit wird klar, daß dissipative Systeme nur Unter Berücksichtigung zufallsbedingter Evolutionsprozesse richtig beschrieben werden können. 41 cc) Ordnung durch Fluktuation In diesem Abschnitt wird ein Phänomen untersucht, das für die Fragestellungen der strategischen Steuerung von besonderer Bedeutung ist. Angesprochen ist die spontane Bildung von Strukturen durch dissipative Systeme, also der Übergang von der Unordnung zur Ordnung. Für diesen Übergang haben sich in der Literatur verschiedene Begriffe herausgebildet. Prigogine spricht von der "Ordnung durch Fluktuation", Hermann Haken versucht diese Phänomene auf einer nicht mehr nur an die Physik gebundenen Ebene unter dem Begriff der Synergetik zu fassen. 42 Andere Autoren sprechen von Selbstorganisation. Als Grundlage für eine nähere Betrachtung des spontanen Ordnungsprozesses muß zunächst geklärt werden, welche Voraussetzungen erfullt sein müssen, damit Systeme überhaupt zur Selbstorganisation in der Lage sind. Nach der Literatur erweisen sich drei Merkmale als entscheidend für das selbstorganisierende Verhalten von Systemen. Demnach muß es sich um autokatalytische Systeme mit nichtlinearen, dynamisch rückkoppelnden Wechselwirkungen handeln: 43 •
Autokatalyse Bei der Autokatalyse handelt es sich um die Beschleunigung eines Prozesses durch einen Stoff, der selbst im Rahmen dieses Prozesses entsteht. Dieser autokatalytische Prozeß beinhaltet in sich bereits die Merkmale der Rückkopplung und der Nichtlinearität.
•
Rückkopplungsschleifen Die ständigen Rückkopplungen des Systems fuhren dazu, daß der gerade noch erreichte Endzustand eines Systems zugleich wieder der Anfangszu-
39 Vgl. Nicolis, Prigogine, 1987, S. 110. 40 Nicolis, Prigogine, 1987, S. 111. 41 Vgl. Nicolis, Prigogine, 1987, S. 268. 42 Vgl. Haken, 1990. 43 Vgl. Briggs, Peat, 1990, S. 29 ff.1 Coveney, Highfield, 1992, S. 2601 Hess, Markus, 1987, S. 1581 Küppers, 1990, S. 29.
150
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
stand des Systems und damit erneut Ausgangsbasis eines rekursiven Prozesses ist. •
Nichtlinearität Die Wechselwirkungen innerhalb eines solchen Systems sind vielfach vernetzt und nicht linear addierbar, damit ergibt das Ganze mehr als die Summe seiner Teile.
Wenn diese Voraussetzungen für die Selbstorganisation von Systemen der bereits erfolgten Charakterisierung dissipativer Systeme gegenübergestellt wird, ist zu erkennen, daß all diese Voraussetzungen von dissipativen Systemen, und zwar nur von dissipativen Systemen, erfüllt werden. Damit wird aber auch klar, daß ausschließlich dissipative Systeme zur Selbstorganisation in der Lage sind, niemals aber Systeme nahe dem Gleichgewicht oder gar Systeme im Gleichgewicht. Im folgenden werden nun die Ursachen der spontanen Strukturbildungs- oder auch Selbstorganisationsprozesse näher betrachtet. Ausgangspunkt für die Bildung neuer Strukturen sind Instabilitäten des Systems, die sich aus Fluktuationen ergeben. Die Fluktuationen resultieren aus Veränderungen der Systemumwelt oder aus Veränderungen im System selber, die durch positive Systemrückkopplungen entstehen. Allerdings führen nicht alle Fluktuationen zu ausreichend starken Systeminstabilitäten. Unterhalb einer gewissen Schwelle dämpft das System die Fluktuationen, so daß das System im Rahmen seiner rekursiven Prozesse wieder auf seinen ursprünglichen Ausgangszustand zurückkommt. Überschreiten die Fluktuationen dagegen diese Schwelle, mit anderen Worten: verändern sich die Ausgangsbedingungen für die rekursiven Systemprozesse ausreichend stark, führt dies zu qualitativ vollständig neuen Systemstrukturen. Insofern handelt es sich bei dieser Schwelle um einen kritischen Punkt für die Systemstruktur. Nahe dieser Schwelle kann selbst eine marginale Änderung der Ausgangsbedingungen zu einer vollständigen Veränderung der Systemstruktur führen. 44 Mit den Fluktuationen sind zwar die Ursachen für die spontane Strukturbildung geklärt, nicht jedoch der Ablauf dieser Selbstorganisationsprozesse. Haken bezeichnet die Entstehung neuer Strukturen als eine "Versklavung" der Systemparameter durch Ordnungsparameter, er spricht auch von "slaving parameters", die durch die Fluktuatipn dominant werden. 45 Haken beschreibt den Ablauf der Versklavung folgendermaßen:" As is shown in synergetics, at such an instability point, in general just a few collective modes become unstable and serve as 'order parameters' which describe the macroscopic pattern.
44 Vgl. Haken, 1987, S. 141/ Haken, 1989, S. 27/ Jantsch, 1992, S. 77 ff. 45 Haken, 1979, S. 5/ Haken, 1990, S. 350.
II. Beschreibung ausgewählter physikalischer Erkenntnisse
151
At the same time this macroscopic variables, i. e. the order parameters, govern the behavior of the microscopic parts by the 'slaving principle'. In this way the occurrence of the order parameters and their ability to enslave allows the system to find its own structure. When control parameters are changed over a wide range, systems may run through a hierarchy of instabilities and accompanying structures".46 Haken geht also davon aus, daß in der Nähe von Instabilitätspunkten, an die das System durch Fluktuationen getrieben wird, die gesamte Systemdynamik, die schlußendlich zu einer neuen spontanen dynamischen Ordnung fuhrt, von wenigen Ordnungsparametem bestimmt wird. Dies kann man sich so vorstellen, daß einige dynamisch stabile Prozeßelemente die Oberhand über die instabilen Prozeßelemente erlangen und diese instabilen Prozeßteiie über die im System vorhandenen nichtlinearen Wechselwirkungen auf ihren dynamischen Stabilitätsbereich hin beschränken. Die "Auswahl" dieser Ordnungsparameter erfolgt primär auf der Basis des jeweiligen Systemzustandes durch das System selbst. So gesehen handelt es sich um einen Prozeß der Selbstkoordinierung oder anders formuliert der Selbstorganisation. Die "Versklavungspunkte", an denen diese spontanen Ordnungsprozesse ablaufen, wurden bereits unter der Bezeichnung "Bifurkation" angesprochen. Wie aus dem Zitat von Haken und den im letzten Abschnitt gemachten Ausfuhrungen deutlich wird, handelt es sich im Grunde um eine ständige Entwicklung dissipativer Systeme, verursacht durch Fluktuationen. Diese Entwicklung bestimmt zugleich die spezifische Geschichte und den jeweilig aktuellen Ordnungszustand eines jeden dissipativen Systems. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, wieso in der Literatur von der "Ordnung durch Fluktuation" gesprochen wird. 47 Allerdings handelt es sich nicht nur um einen möglichen dynamisch stabilen Ordnungszustand. Die Physik unterscheidet mit dem Grenzpunktattraktor, dem Grenzzyklusattraktor und dem Torusattraktor verschiedene Ordnungstypen. 48 dd) Dissipative Systeme zwischen Ordnung und Chaos Was in den letzten zwei Abschnitten nur aus Gründen der besseren Darstellungsmöglichkeiten getrennt betrachtet wurde, wird an dieser Stelle wieder zusammengeflihrt. Es handelt sich auf der einen Seite um den Weg dissipativer Systeme von der Ordnung ins Chaos, auf der anderen Seite aber um den Weg 46 Haken, 1988, S. 13 f. 47 Vgl. Jantsch, 1992, S. 80/ Prigogine, Stengers, 1981, S. 176 ff. 48 Bei Interesse findet sich eine nähere Charakterisierung dieser Ordnungstypen bei Briggs, Peat, 1990, S. 49 ff.
152
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
dieser Systeme aus dem Chaos zur Ordnung. Trennbar sind diese beiden Wege eigentlich schon deshalb nicht, weil es sich eigentlich nur um einen Prozeß handelt, der betrachtet wird. Jedes rur die analytische Betrachtung zunächst einmal willkürlich herausgegriffene dissipative System ist im Grunde nichts anderes als die "raumzeitIiche Manifestation eines Prozesses". Jedes dissipative System ist aus Fluktuationen durch einen Selbstorganisationsvorgang im Rahmen einer spontanen Ordnungsbildung entstanden. Insofern handelt es sich um eine "Selbst-Organisation" von Prozessen, die in dieser dynamischen Ordnung dauerhaft aufrechterhalten wird. Die Prozesse bilden die dynamisch stabile Systemstruktur, die allerdings ihrerseits wieder den Ablauf der Selbstorganisationsprozesse determiniert. Diese dynamisch stabile Struktur kann so lange aufrechterhalten werden, bis neue Fluktuationen so erstarken, daß die bisherige Systemstabilität in der alten Form nicht mehr zur Erhaltung des Systems genügt. Dann kommt es durch diese Fluktuationen und in Abhängigkeit von der bislang existierenden dynamisch stabilen Systemstruktur entweder zur Ausbildung einer neuen dynamisch stabilen Struktur oder aber zu einem Schwingen zwischen verschieden möglichen dynamisch stabilen Systemzuständen. Verstärkt sich dieses Schwingen mit der Zunahme der Fluktuationen dergestalt, daß die Möglichkeiten dynamisch stabiler Systemzustände unendlich groß werden, kann eigentlich nicht mehr von einer dynamischen Stabilität gesprochen werden. Vielmehr verliert sich das System dann mit seinen Schwingungen zwischen der vollkommen unerfaßbaren und unendlichen Vielfalt möglicher dynamisch stabiler Systemzustände im chaotischen Rauschen. Diese Zusammenhänge werden nochmals anhand der Abbildung 21 verdeutlicht. So betrachtet könnte auch das deterministische Chaos als ein Schwingen zwischen zu vielen Ordnungszuständen und damit als eine besondere Form von Selbstorganisation betrachtet werden. 49 Damit verschwindet sogar die scharfe Trennung zwischen Chaos und Ordnung. Chaos und Ordnung sind nichts anderes als die zwei Seiten der gleichen Medaille. Im Vordergrund der gesamten Betrachtung steht somit der Prozeß. Dieser Prozeß kann sich unter dem Eindruck von Fluktuationen entweder durch eine spontane Ordnungsbildung selber zum dynamisch stabilen Zustand eines dissipativen Systems manifestieren oder durch das Schwingen zwischen unendlich vielen dynamischen Ordnungszuständen ins Chaos treiben. Die Ursache für das Wechselspiel zwischen Chaos und Ordnung ist die zugrundeliegende "... universale Gesetzlichkeit der 'Nichtlinearität'.".50 In diesem Wechselspiel
49 Vgl. Coveney, Highfield, 1992, S. 271. 50 Haaf, 1990, S. 108.
III. Der Zusammenhang zwischen Physik und strategischer Steuerung
153
sind eben beide Möglichkeiten jederzeit gegeben. In jedem dissipativen System steckt somit zugleich die Anlage zu Ordnung und Chaos.
'-im Falle starker Fluktuationen
DetermiDistisches Chaos
Abbildung 21 : Dissipative Systeme zwischen Ordnung und Chaos
IH. Der Zusammenhang zwischen der Physik und den Kernfragen der strategischen Steuerung Daß nach der Summe der betrachteten physikalischen Theorien nicht der Verdacht entsteht, diese Untersuchung wolle sich langsam aber sicher aus dem Bereich der strategischen Steuerung "davonschleichen", muß in einem letzten Schritt noch der Bezug zwischen den erarbeiteten physikalischen Erkenntnissen und den im Kapitel A der Untersuchung gestellten Kernfragen der strategischen Steuerung hergestellt werden. Hierzu werden in einer Matrix die Kernfragen der strategischen Steuerung den betrachteten physikalischen Theorien gegenübergestellt. In den Fächern der Matrix werden jeweils stichwortartig die Erkenntnisse den Fragestellung zugeordnet, von denen vermutet wird, daß sie einen Beitrag zur Lösung dieser Fragen leisten können. Allerdings kann es sich an dieser Stelle nur um Vermutungen handeln, da noch ein wissenschaftstheo-
154
E.Physikalische Erkenntnisse als erster Ausgangspunkt
retisch korrekter Rahmen entwickelt werden muß, anhand dessen geprüft werden kann, ob und in welcher Form diese Erkenntnisse auf die Fragen der strategischen Steuerung übertragbar sind. Im Abschnitt B.lV.2. wurden zwischen den Fragen einer erkenntnistheoretischen Ebene und zwischen inhaltlichen Fragen der strategischen Steuerung unterschieden. Genau diese Zweiteilung wird im Aufbau der Matrix in Tabelle 4 fortgesetzt, in der der Zusammenhang zwischen Physik und strategischer Steuerung dargestellt ist. Durch diese Zuordnung wird ersichtlich, daß die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik keine direkten Aussagen zu den eigentlichen Steuerungsproblemen der Unternehmensfuhrung machen. Aus den Erkenntnissen dieser Theorien ergeben sich jedoch neue, von dem Weltbild Newtons, vollkommen abweichende Vorstellungen. Die Welt wird nicht mehr deterministisch gesehen. Die Vorstellung von mechanistischen, weitgehend einfach beherrschbaren Systemen weicht dem Bild einer indeterministischen, diskontinuierlichen Welt. Da davon ausgegangen werden kann, daß nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Sozialwissenschaften, insbesondere auch die Betriebswirtschaftslehre, im Grunde stark von der Sichtweise Newtons geprägt sind, müssen diese neuen erkenntnistheoretischen Vorstellungen indirekt auch für betriebswirtschaftliche Überlegungen relevant sein. Während diese zwei Theorien primär die erkenntnistheoretischen Fragestellungen berühren, rückt die Theorie der nichtlinearen Thermodynamik offener Systeme fern vom Gleichgewicht vor allem neue Vorstellungen von komplexen, sich dynamisch entwickelnden Systemen in den Blickpunkt. Neben den Ergebnissen dieser Theorie, die die erkenntnistheoretischen Überlegungen der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik stützen und erweitern, lassen sich jedoch möglicherweise vollkommen neue Erkenntnisse zum Systemcharakter eines Unternehmens ableiten. Es deutet einiges darauf hin, daß Unternehmen als dissipative Systeme beschrieben werden können. Dies hätte dann erhebliche Konsequenzen, auch fur die Frage der Steuerung von Unternehmen. In diesem Fall wäre es angebracht, bei der Steuerung von Unternehmen Selbstorganisationsprozesse zu berücksichtigen. Damit zeigen sich bereits nach der Betrachtung der physikalischen Erkenntnisse erste inhaltliche Parallelen zu den Ansätzen der St. Galler Schule und zu den Vorstellungen Kirschs, auch wenn sich diese Managementansätze eher auf evolutionsbiologische Grundlagen berufen. Wie und ob diese physikalischen Erkenntnisse für die strategische Steuerung fruchtbar gemacht werden können, kann somit erst in Zusammenhang mit den evolutionsbiologischen Inhalten richtig beurteilt werden. Deshalb werden im nächsten Kapitel diese evolutionsbiologischen Inhalte untersucht.
III. Der Zusammenhang zwischen Physik und strategischer Steuerung
155
Tabelle 4
Der Zusammenhang zwischen Physik und strategischer Steuerung Relativitätstheorie Einsteins
Strategische Kernfragen
Quantentheorie Heisenbergs
Nichtlineare Thermodynamik Prigogines
Erkenntnistheoretische Fragestellungen Welches Weltbild bietet einen sinnvollen Rahmen für die Einordnung der strategischen Steuerungsprobleme? Welche Erkenntnisschwierigkeiten können sich f"lir die richtige Sicht der Welt und eng damit verknüpft für die richtige Sicht der strategischen Steuerung ergeben?
Raum und Zeit sind nicht unabhängig, sondern ein Kontinuum.
Es handelt sich um eine nicht streng kausale, nicht-deterministische, diskontinuierliche Welt.
Alle Systeme durchlaufen eine irreversible Entwicklung. Die Welt besteht vor allem aus nichtlinearen Systemen fern vom Gleichgewicht.
Zwischen Beobachter und beobachtetem Objekt besteht ein Zusammenhang, der das Beobachtungsergebnis beeinflußt.
Welche Erkenntnismethodik soll angewandt werden, um Erkenntnisschwierigkeiten, die mit der strategischen Steuerung verbunden sind, zu überwinden? Inhaltliche Fragestellungen Wie soll das komplexe System "Unternehmen" vor dem Hintergrund seiner Einbindung in eine dynamische Umwelt sinnvoll beschrieben werden?
Unternehmen können möglicherweise aIs dissipative Systerne beschrieben werden.
Wie soll ausgehend von diesem Systemverständnis die Steuerung des Unternehmens erfolgen?
Bei der Steuerung von Unternehmen sind Selbstorganisationsprozesse zu beachten.
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung von Unternehmen I. Überblick In diesem Kapitel wird der zweite Schritt zu einer theoretischen Fundierung der strategischen Steuerung getan. Mit diesem zweiten Schritt ist ein Wechsel des Blickwinkels verbunden. Während es im letzten Kapitel um die Steuerung komplexer Systeme aus der Sicht physikalischer Erkenntnisse ging, werden in diesem Kapitel unterschiedliche evolutionsbiologische Ansätze daraufhin untersucht, was sie zur Beantwortung der Kernfragen der strategischen Steuerung unter Komplexität und Unsicherheit beitragen können. Wichtige Anhaltspunkte dafilr, in welcher Richtung nach evolutionsbiologischen Erkenntnissen zu suchen ist, ergeben sich nicht nur aus den Kernfragen der strategischen Steuerung, sondern auch aus den skizzierten strategischen Managementansätzen der St. Galler Schule und aus den Vorstellungen Kirschs. Bei der Darstellung dieser Managementansätze ist deutlich geworden, daß dort vor allem zwei Anknüpfungspunkte zur Evolutionsbiologie im Vordergrund stehen. Zum einen handelt es sich dabei um die Anlehnung dieser Ansätze an die Methodik des Evolutionsprozesses. Der Evolutionsprozeß spielt direkt oder indirekt quer durch alle Ansätze bei der Beschreibung der Untern ehmensentwicklung eine Rolle. Darüber hinaus wird die grundlegende VersuchsIrrtums-Methodik sowohl in der Systemmethodik der St. Galler Schule als auch in der Vorstellung des "geplanten Wandels" von Kirsch als wesentliche Basis einer rationalen strategischen Steuerung des Unternehmens angesehen. Damit wird auch klar, daß mit dem Evolutionsprozeß selbst ein erster wichtiger Untersuchungsgegenstand rür dieses Kapitel eingegrenzt ist, der nicht nur an die bereits bestehenden Managementansätze anknüpfen läßt, sondern auch zur Beantwortung der in dieser Untersuchung aufgewo,rfenen Frage nach der strategischen Steuerung geeignet ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang insbesondere die Betrachtung der Evolutionsmechanismen, die letztendlich die Methodik des Evolutionsprozesses ausmachen. Genauso wichtig und untrennbar verbunden mit den Mechanismen des Evolutionsprozesses ist auch das Produkt dieses Prozesses: das or-
1. Überblick
157
ganismische System. Dies zeigt sich schon daran, daß dies in den betrachteten Managementansätzen der St. Galler Schule und von Kirsch der zweite wesentliche Anknüpfungspunkt zur Evolutionsbiologie ist. Jeder dieser Ansätze schlägt eine Systemkonzeption zur Beschreibung des Unternehmens vor, die schlußendlich auf eine organismische Systemkonzeption zurückgeht. Allerdings wurde in Kapitel D auch deutlich, daß die verschiedenen Managementansätze auf unterschiedliche organismische Systemkonzeptionen zurückgreifen. Um hier zu einer gewissen Klärung beizutragen, ob überhaupt und wenn ja, mit welcher organismischen Systemkonzeption eine adäquate Beschreibung des Systems "Unternehmen" möglich ist, müssen in Zusammenhang mit der Untersuchung der Evolutionsmechanismen auch die organismischen Systemkonzeptionen untersucht werden.
ElIDAAIonsbIoIoglsche Elkennlnlsse als zwetter Ausgangspl.nItI einer fheorellschen FtnlIeMlg der strategischen Steueru'lg von Unternehmen
EIIOIuIion und Ellcennlnls
1
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Abbildung 22: Überblick über das Kapitel F
Über die Klärung inhaltlicher Fragestellungen nach der Steuerung und der geeigneten Beschreibung des Unternehmens hinaus, wird in dieser Untersuchung auch die Bedeutung erkenntnistheoretischer Fragestellungen hervorgehoben, die in Verbindung mit der strategischen Steuerung auftauchen. Gerade zu der in Abschnitt B.IV.2 aufgeworfenen Frage nach den Erkenntnisschwierigkeiten, die mit einer richtigen Sichtweise von strategischen Steuerungsfragen verbunden sind sowie zu der Frage nach einer Erkenntnismethodik, die sich zur Überwindung eben dieser Erkenntnisschwierigkeiten eignen könnte, entstand in jüngerer Zeit eine breite biologisch fundierte Literatur. Diese erkenntnistheoretischen Inhalte werden in dieser Untersuchung unter den Stichworten der "Evolutionären Erkenntnistheorie" und der evolutionären Erkenntnismethodik dargestellt.
158
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
Abbildung 22 faßt die Vorgehensweise in diesem Kapitel nochmals überblicksartig zusammen. Die grundlegende Vorgehensweise schließt sich auch in diesem Kapitel den Überlegungen in Abschnitt E.I. an. Die ausgewählten Theorien werden deshalb in diesem Kapitel ebenfalls zunächst in ihrem Zusammenhang dargestellt. Erst in der Zusammenfassung des gesamten Kapitels werden die aus den dargestellten Theorien abgeleiteten Erkenntnisse auf die Kernfragen der strategischen Steuerung bezogen. Allerdings kann auch in diesem Kapitel noch kein abschließendes Urteil über die konkrete Anwendbarkeit der gewonnenen Ergebnisse auf die Fragestellungen der strategischen Steuerung gefällt werden. Dies bleibt einer wissenschaftstheoretisch korrekten Übertragung in den Kapiteln Hund J dieser Untersuchung vorbehalten.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
1. Der Evolutionsprozeß
Voraussetzung für die Steuerung eines komplexen Systems ist das Verständnis des Entwicklungsprozesses dieses Systems. Deshalb wird im folgenden zunächst geklärt, welche Evolutionsmechanismen dem Evolutionsprozeß zugrunde liegen und somit für die Dynamik dieses Entwicklungsprozesses verantwortlich gemacht werden. Hierzu werden verschiedene Evolutionstheorien dargestellt, die sowohl chronologisch als auch im Umfang ihrer Erklärung der Evolutionsmechanismen aufeinander aufbauen. Auf der Basis der neueren Erkenntnisse über die Evolutionsmechanismen werden dann die Systemkonzeptionen dargestellt, die als Konsequenzen des Wirkens dieser Evolutionsmechanismen zu betrachten sind. Die Kenntnis der organismischen Systemkonzeptionen in Zusammenhang mit der Kenntnis der Evolutionsmechanismen dient abschließend als Grundlage zu einer ausführlichen Charakterisierung des Evolutionsprozesses. a) Die Erklärung der Evolutionsmechanismen als Ausgangspunkt des Evolutionsprozesses Im Rahmen der Naturwissenschaften war eine der anregendsten Fragen schon immer die nach der Entstehung der Natur und damit natürlich auch nach
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
159
der Entstehung des Lebens. Bereits in der Antike wurden Antworten auf diese Frage gesucht. Schon Aristoteles versuchte die Natur mittels hierarchischer Stufenleitern, die nach aufsteigender Komplexität angeordnet waren, zu ordnen. Er unterschied anorganische, pflanzliche und tierische Gebilde. 1 Diese Stufenleitern der Natur wurden von den Wissenschaftlern des 17. und 18. Jahrhunderts wieder aufgenommen. Vor allem die Vorstellung von Aristoteles, daß die verschiedenen Stufen alle miteinander verknüpft seien, fand im Kontinuitätsprinzip von Leibniz einen starken Verfechter. Diese Stufenleitern enthielten zwar die Vorstellung eines hierachischen Aufbaus der Natur, nicht jedoch den Gedanken, diese unterschiedlichen Stufen könnten im Rahmen einer Entwicklung auseinander hervorgegangen sein. Insoweit handelte es sich um Modelle, die verschiedenste Stufen der Natur statisch hintereinander aufreihten.2 Neben den Ansätzen, die versuchten, die Natur zu ordnen, gab es auch Anstrengungen, die Entstehung der Natur zu ergründen. Ausgangspunkt all dieser Überlegungen war stets der biblische Schöpfungsbericht. Es wurde also davon ausgegangen, daß alle in der Natur beobachtbaren Phänomene von Gott geschaffen wurden und sich seit damals unverändert präsentieren. Die Forschung beschäftigte sich deshalb primär mit der Frage, zu weIchem Zeitpunkt die Schöpfung stattgefunden habe. Hier kam es dann in der Mitte des 17. Jahrhunderts auch zur Berechnung sehr genauer Zeitpunkte wie zum Beispiel von John Lightfood, einem Vizekanzler der Universität Cambridge, der den Schöpfungszeitpunkt auf den 17. September 3928 v. Chr. um 9 Uhr morgens datierte.3 Erstmals in der Mitte des 18. Jahrhunderts deutete der französische Naturforscher George Louis LecIerc de Buffon an, daß die Erde ein wesentlich höheres Alter haben müsse und daß möglicherweise davon auszugehen sei, daß sich im Verlauf einer so langen Zeit eine Veränderung der Natur ergeben haben könnte. Damit wurde erstmals das statische Weltbild, das mit der Schöpfungslehre verbunden war, in Frage gestellt. Statt dessen deutete sich die Vorstellung einer sich dynamisch entwickelnden Welt an. Damit war der geistige Hintergrund geschaffen, auf dem sich schließlich eine wirkliche Evolutionslehre entwickeln konnte. Unter Evolution wird ein historischer Vorgang verstanden, der die genealogisch bedingte Veränderung der Arten und somit deren Verwandtschaft untereinander aufzeigt. 4 Mit der Vorstellung einer sich dynamisch entwickelnden Welt stellte sich natürlich die Frage, aufgrund weIcher Mechanismen sich
1 Vgl. 2 Vgl. 3 Vgl. 4 Vgl.
Wuketis, Wuketis, Wuketis, Wuketis,
1982, S. 1982, S. 1988, S. 1988, S.
14. 18. 18. 23.
160
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
diese Entwicklung vollzieht. Die unterschiedlichen Antworten auf diese Frage werden in den folgenden drei Abschnitten dargestellt. aa) Die Erklärung von Lamarck, Darwin und des Neodarwinismus Die ersten Evolutionstheorien, die diesen Namen auch wirklich verdienen, entstanden zu Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Evolutionstheorie von Lamarck aus dem Jahre 1809 und der Evolutionstheorie von Charles Darwin aus dem Jahre 1859. Lamarck entwarf eine Abstammungstabelle für die Tiere, in der er von einer historischen Entwicklung der unterschiedlichen Tierklassen aus der "Urtierklasse" der Würmer ausgeht. Das evolutionäre Merkmal an dieser Abstammungstabelle ist die Tatsache, daß sie eine historische Entwicklung vorsieht und daß aus ihr eine ständige Höherentwicklung der Tiere hervorgeht. 5 Lamarck ging davon aus, daß die durch die Anpassung an Umwelteinflüsse individuell erworbenen Eigenschaften von Organismen dem Erbmaterial unmittelbar mitgeteilt werden und so an die Nachkommen weitergegeben werden können. 6 Damit sind zugleich die Evolutionsmechanismen beschrieben, auf die Lamarck die Entwicklung der Arten im Zeitablauf zurückführte. Obwohl mit dieser Theorie von Lamarck bereits eine erste Evolutionstheorie vorliegt, gelang der Durchbruch der Evolutionslehre erst im Jahre 1859 mit dem Werk "On the Origin of Species by Means of Natural Selection" von Charles Darwin. Die Erkenntnisse dieses Werkes gehen im wesentlichen auf Darwins Weltreise von 1831 bis 1836 zurück. Im Anschluß an diese Reise sammelte Darwin noch zwanzig Jahre Beweismaterial zur Fundierung seiner Theorie. Hierbei ergaben sich folgende Beobachtungen: 7 •
Die belebte Welt verändert sich im Zeitablauf. Die Welt ist also nicht statisch, sondern dynamisch.
•
Innerhalb der Individuen einer Art gibt es eine große Variationsbreite. Trotzdem sind die Individuen einer Art voneinander verschieden und insoweit einzigartig.
•
Alle Lebewesen erzeugen mehr Nachwuchs als schließlich überlebt. Dies führt dazu, daß die Populationsgrößen im Rahmen gewisser Schwankungen relativ stabil bleiben.
5 Vgl. Oeser, 1974, S. 50. 6 Vgl. Riedl, 1982, S. 33. 7 Vgl. Altner, 1981, S. 6/ Birx, 1991, S. 143/ Clark, 1990, S. 151/ Hasenfuss, 1987a, S. 340/ Mayr, 1984, S. 384/ Wuketis, 1988, S. 46.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
•
161
Die für die Lebewesen zur Verfügung stehenden Ressourcen sind beschränkt.
Aus diesen Beobachtungen zog Darwin die Schlußfolgerung, daß die Individuen in einem Wettbewerb um die knappen Ressourcen stehen. Die Individuen, die durch ihre erblichen Variationen am besten für diesen Kampf ums Dasein gerüstet sind, überleben und werden langsam aber sicher die weniger gut gerüsteten Artgenossen verdrängen. Damit kommt es durch den laufend stattfindenden Selektionsprozeß, über einen längeren Zeitablauf hin betrachtet, zu graduellen Veränderungen von Arten.8 Damit beschreibt Darwin die Veränderung der Arten durch eine natürlich und rein mechanistisch wirkende Auslese im Rahmen des Überlebenskampfes der Individuen. 9 Dieses Selektionsprinzip ist nach Darwin der wesentliche Evolutionsmechanismus, der für eine Anpassung der Arten und damit für eine Veränderung der Arten im Zeitablauf sorgt. Schwierigkeiten hatte Darwin allerdings mit der Erklärung der Vererbung. Dieses Problem wurde zwar nahezu zeitgleich, von der Wissenschaft aber bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend unbeachtet, durch Gregor Johann Mendel gelöst. Mit der durch Mendel begründeten Genetik konnte auch die Selektionstheorie Darwins weiter ausgebaut und erhellt werden. Mendel hatte festgestellt, daß die Vererbung über eine neue Zusammenordnung eigenständiger Erbfaktoren, den sogenannten Genen, abläuft. Mit der Rekombination der elterlichen Gene wird die individuelle Variation innerhalb einer Art erklärbar und damit natürlich auch deren große Variationsbreiten. 1O Darüber hinaus wurde mit der Mutation, einer sprunghaften, zufälligen Veränderung im Erbgefüge, ein weiterer Evolutionsfaktor gefunden, der zusätzlich die Bandbreite der genetischen Vielfalt erhöht. Ein weiterer wichtiger Schritt wurde von August Weismann gemacht, der herausfand, daß eine genetische Weitergabe individuell erworbener Merkmale nicht denkbar ist. Diese Aussage wurde infolge auch von den Erkenntnissen der modemen Molekularbiologie unterstützt und im "Ersten Hauptsatz der Molekularbiologie" niedergelegt. Die Erkenntnisse, die sich aus dieser Kombination von Genetik und Selektionstheorie ergeben, werden unter dem Begriff des Neodarwinismus zusammengefaßt. 11
8 Vgl. Altner, 1981, S. 5/ Clark, 1990, S. 151/ Mayr, 1984, S. 384/ Wuketis, 1988, S. 46/ Wuketis, 1987, S. 47 ff. 9 Vgl. Mayr, 1984, S. 391/ Weismann, 1981, S. 476/ Wuketis, 1987, S. 22. 10 Vgl. Wuketis, 1987, S. 90. 11 Vgl. Mayr, 1984, S. 431. 11 Scheurer
162
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
bb) Die Erklärung nach der Synthetischen Theorie der Evolution Weitere Erkenntnisfortschritte im Bereich von Genetik und Molekularbiologie zeigten bald, daß Darwin mit der natürlichen Selektion zwar den wichtigsten, aber nicht den einzigen Evolutionsmechanismus benannt hatte. Vor allem die Populationsgenetik spielt im Rahmen der Synthetischen Evolutionstheorie und damit im Rahmen der Forschung nach weiteren Evolutionsmechanismen eine wichtige Rolle. 12 Im Rahmen der Populationsgenetik wird der Blickwinkel der Evolutionstheoretiker ausgeweitet. Es geht nicht mehr nur um genetische Veränderungen eines einzelnen Organismus, sondern um die genetischen Veränderungen einer ganzen Population, also um die Evolution eines Genpools. Im Rahmen dieser erweiterten Sichtweise gelang es auch die Evolutionsmechanismen genauer zu untersuchen. Stellvertretend wird hier eine Zusammenfassung der Evolutionsmechanismen, die in einer Population wirksam werden, wiedergegeben: \3
A. Quellen genetischer Variationen
I. Integrität genetischer Faktoren (Vererbung durch unabhängige Erbeinheiten) 2. Auftreten neuer genetischer Faktoren (Mutation; Genfluß von anderen Populationen) 3. Auftreten neuer Genotypen durch Rekombination B. Faktoren, die die Variation wieder abtragen
I. Natürliche Auslese 2. Chance und Zufall C. Schutz der genetischen Varianten gegen Eliminierung durch natürliche Auslese
1. Zell physiologische Prozesse 2. Ökologische Faktoren
Abbildung 23: Evolutionsmechanismen nach der Synthetischen Theorie der Evolution
12 Vgl. Mayr, 1967, S. 4601 Sperlich, 1987, S. 371. 13 Wuketis, 1988, S. 65 nach Mayr, 1967.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
163
Anhand dieser Abbildung wird deutlich, daß die Synthetische Theorie die Evolutionsmechanismen der Selektion und Mutation von Darwin und dem Neodarwinismus übernimmt und auf der Basis der Populationsgenetik die Wechselwirkungen dieser Evolutionsmechanismen präzisiert. Durch genetische Rekombination und Mutationen entsteht eine große zufallsbedingte genetische Variantenvielfalt, die als Ausgangspunkt für die weitere Evolution dient. Diese vollzieht sich durch eine Selektion der für die konkreten Lebensbedingungen tauglichsten Varianten des Genpools.14 Die Tauglichkeit wird durch eine möglichst gute Anpassung von Strukturen und Funktionen der Lebewesen an ihre relevante Umwelt erreicht. Besser angepaßte Arten werden sich im Konkurrenzkampf ums Dasein besser durchsetzen und damit auch mehr Nachkommen zeugen als weniger gut angepaßte Arten. Damit vollzieht sich der Evolutionsprozeß in einem Wechselschritt zwischen zufallsbedingter Variationsbreite und der Notwendigkeit einer an der Tauglichkeit ausgerichteten Selektion. 15 Allerdings wird der Begriff der Selektion auf die Populationsgenetik bezogen und damit definitorisch ausgeweitet: "Selektion ist die Veränderung der relativen Häufigkeit der Genotypen in einer Population auf Grund der unterschiedlichen Fähigkeit ihrer Funktionsträger in der nächsten Generation vertreten zu sein.".I 6 Die Anpassung der Organismen und damit die Evolution der Arten erfolgen im Sinne der Synthetischen Theorie also einzig über den Selektionsmechanismus. Anpassung in diesem Sinne verstanden ist somit rein passiv, die Umwelt gibt die Problemstellungen vor, die Organismen passen sich in Struktur und Funktion diesen Umweltanforderungen an. 17 Damit wird nochmals deutlich, daß auch die Synthetische Evolutionstheorie das rein mechanistisch wirkende Selektionsprinzip bei der Erklärung der Evolution in den Vordergrund stellt. Über die Betrachtung von genetischer Rekombination, Mutation und Selektion hinaus formuliert die Synthetische Evolutionstheorie eine Reihe weiterer Evolutionsmechanismen, denen jedoch nicht die gleiche Bedeutung zukommt wie dem Selektionsprinzip und den Mechanismen der genetischen Variation. Damit wird der Schritt zu einer konsequent pluralistischen Evolutionstheorie, die alle, bis dahin als relevant erachteten Evolutionsmechanismen in einer Synthese zusammenfaßt, gemacht. Zusammenfassend werden nochmals die wichtigsten Aussagen der Synthetischen Evolutionstheorie dargestellt: 18 14 Vgl. Kaplan, 1978, S. 161 Mayr, 1967, S. 4791 Sperlich, 1987, S. 376 ff. 15 Vgl. Wuketis, 1988, S. 71. 16 Hasenfuss, 1987a, S. 3441 Vgl. Reichholf, 1992, S. 136. 17 Vgl. Hasenfuss, 1987a, S. 3421 Mayr, 1967, S. 13. 18 Vgl. Bertalanffy, 1970, S. 791 Clark, 1990, S. 360 ff.1 Mayr, 1984, S. 5601 Wuketis, 1982, S. 431 Wuketis, 1987, S. 93 ff./ Wuketis, 1988, S. 776 ff. 11·
164
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
•
Evolution findet im Wechselspiel zwischen ungerichteter genetischer Variation und an den Erfordernissen der Umwelt ausgerichteter Selektion statt. Der Selektionsmechanismus wird auf der Grundlage populationsgenetischer Überlegungen präzisiert.
•
Genetische Variationen können nur durch Änderungen von Genen im Rahmen der genetischen Rekombination oder im Rahmen von Mutationen auftreten. Eine direkte Vererbung vom Individuum erworbener Eigenschaften, wie von Lamarck vorgeschlagen, wird strikt abgelehnt. Damit wird die Weismann-Doktrin im sogenannten "Ersten Hauptsatz der Molekularbiologie" übernommen.
•
Die oben genannten Evolutionsmechanismen sind sowohl flir die Evolution innerhalb einer Art eines Lebewesens (Mikroevolution) gültig als auch für die evolutionäre Ausbildung von Gattungen und höheren Kategorien (Makroevolution).
•
Es gibt keine Kräfte innerhalb eines Organismus, die einen Einfluß auf die Ausrichtung des evolutionären Geschehens haben. cc) Die Erklärung nach der Systemtheorie der Evolution
Trotz des umfassenden Ansatzes der Synthetischen Theorie bleiben einige Fragen im Hinblick auf die Evolution offen. Schwer vorstellbar erscheint beispielsweise die Erklärung der Entstehung von neuen Arten und Gattungen, also die Entstehung von ganz neuen "Konstruktionsprinzipien" einzig mittels Anpassung durch Selektion. Auch die Sicht der Evolution als Anpassung an die Umwelt aufgrund eines rein mechanistisch funktionierenden Selektionsprinzips erscheint zur Erklärung der gesamten existierenden Harmonie und Ordnung lebender Systeme ungenügend. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob neben der bislang nur passiv formulierten Anpassung möglicherweise auch eine aktive Anpassung an die Umwelt denkbar ist. 19Auch die Frage, was eigentlich als Umwelt zu definieren ist, erscheint keineswegs vollständig geklärt. Schlußendlich spielt der Organismus selbst und die ihm möglicherweise innewohnenden Evolutionsmechanismen bislang keine Rolle. Obwohl die Synthetische Theorie der Evolution die zur Zeit am weitest verbreitete Evolutionstheorie sein dürfte, erscheint diese Theorie zwar nicht falsch, jedoch in einigen Punkten unvollständig und deshalb ergänzenswert.2 0
19 Vgl. Schmidt, 1987, S. 46. 20 Vgl. Bertalanffy, 1970, S. 89/ zu einer umfassenden Kritik Vgl. Schmidt, 1985, S. 19 ff./ Schmidt, 1987, S. 46/ Waddington, 1970, S. 342/ Wuketis, 1988, S. 98 ff.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
165
An den oben dargestellten Schwächen der Synthetischen Theorie setzt Riedl mit seinem Versuch an, eine Systemtheorie der Evolution zu formulieren. 21 Ihm geht es dabei nicht um die Neuformulierung einer Konkurrenztheorie zur Synthetischen Theorie oder zur Theorie Darwins, sondern um eine Erweiterung dieser Theorien. Anstatt das Selektionsprinzip als einzigen oder zumindest als den dominanten Evolutionsmechanismus zu betrachten, versucht er im Rahmen dieser Theorie die verschiedenen Systembedingungen der Evolution aufzuzeigen. Ausgangspunkt bei RiedI ist die Überlegung, daß es nahezu ausgeschlossen ist, daß das gesamte in der Natur beobachtbare Ausmaß an Ordnung aus den rein zufiilligen Evolutionsmechanismen von Mutation und Selektion entstanden sein soll. Ausgehend von einem Vergleich der Lebewesen, insbesondere ihres Aufbaus und ihrer Gestalt, kommt Riedl zu vier Grundprinzipien, die durch ihre Wirkung im Evolutionsprozeß zu einer Musterbildung oder mit anderen Worten zu einer Ordnungsbildung in der Natur fuhren. Riedl stellt folgende Ordnungsrnuster vor: •
Norm Hierunter wird die Verwendung standardisierter Bauteile in großen Mengen und in verschiedensten Zusammensetzungen verstanden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Normierung der Strukturen aber auch die Normierung der Lage dieser Strukturen. 22
•
Hierarchie Riedl geht davon aus, daß sämtliche Normbausteine in einem hierarchischen System ineinander verschachtelt und von einander abhängig verbaut sind. Hierbei bestimmen die jeweiligen Supersysteme die Bedeutung der Subsysteme, diese stellen aber zugleich den Inhalt der Supersysteme dar, ohne den diese selbst wieder bedeutungslos wären. 23
•
Interdependenz Die Normbauteile sind nicht nur in hierarchischer, sondern auch in wechselseitiger Abhängigkeit miteinander verbaut. Ihre jeweilige Bedeutung erhalten sie nur in der Verknüpfung mit anderen Bausteinen. Diese Verknüpfungen reichen jedoch über bloße Verknüpfungen zwischen den Bausteinen hinaus und dienen so zur Steuerung der Anpassungsfähigkeit des Organismus. 24 21 Vgl. Riedl, 1975. 22 Vgl. Riedl, 1975, S. 75. 23 Vgl. Riedl, 1975, S. 153. 24 Vgl. Riedl, 1975, S. 81 f. und S. 222.
166 •
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt Tradierung Alle organische Struktur ist von ihren Vorgängerstrukturen abhängig. "Das Tradierungsmuster beruht also darauf, daß alle Bauzustände Aufeinanderfolgen von Abstimmungen darstellen; und zwar wiederum so zwingend, daß kein zu durchlaufender Zustand ohne jenen, den er erzeugt 'Sinn' hätte und kein Endzustand ohne all seine Vorläufer möglich wäre.".25
Diese vier Ordnungsmuster und ihre Zusammenhänge werden von Riedl in der folgenden Abbildung dargestellt: 26
~
Hierarchie
Norm
~~
~ Interdependenz
Normhierarchie
1~
InterdependenzTradierung
Abbildung 24: Der Zusammenhang der vier Ordnungsmuster nach Riedl Alle vier Ordnungsmuster bilden zusammen eine Einheit. Norm und Hierarchie stehen im Verhältnis zueinander wie Buchstabe und Grammatik. In einem weiteren Sinne könnte man sie mit Inhalt oder Struktur gleichsetzen. Interdependenz und Tradierung stehen im Verhältnis von Zustand zu Geschichte. Wieder in einem weiteren Sinne betrachtet könnte man sie mit den Bezeichnungen Position, Zusammenhang oder Funktion belegen. 27 Damit wird deut-
25 Riedl, 1975, S. 83. 26 Riedl, 1975, S. 87. 27 Vgl. Riedl, 1975, S. 86 f.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
167
lieh, daß nur das Gesamtsystem der wechselseitigen Beziehungen zwischen den vier Ordnungsmustern einen Sinn ergibt. Struktur hat nur mit einer innewohnenden Funktion einen Sinn, genauso, wie Funktion ohne zugehörige Struktur nicht denkbar ist. Riedl weist im Rahmen seines Buches "Die Ordnung des Lebendigen"28 durch weitergehende biologische Betrachtungen nach, wie diese Ordnungsmuster über die Genwechselwirkungen Eingang in die Evolution finden.29 Diese tiefergehenden Betrachtungen sind für den weiteren Gang dieser Untersuchung nicht von Bedeutung und werden deshalb ausgespart.3 0 Im folgenden werden jedoch die Erkenntnisse zusammengefaßt, die sich aus dem Wirken dieser vier Ordnungsmuster für den Ablauf der Evolution ergeben. Als erstes läßt sich entgegen den bisherigen Vorstellungen feststellen, daß Lebewesen nicht nur passiv von ihrer Umwelt gesteuert werden, sondern daß diese Lebewesen auch aktiv in ihre Umwelt eingreifen und diese verändern. Aber selbst eine reine Anpassung an die Umwelt setzt ein bestimmtes Ordnungspotential voraus, das bereits in den genetischen Bauplänen der Lebewesen vorhanden sein muß. Diese Baupläne, bestehend aus wechselseitig hierarchisch verknüpften Normbausteinen, werden nicht nur durch die Umwelt bestimmt, sondern sind nachgewiesenermaßen teilweise bereits prädisponiert, d. h., das betreffende Lebewesen ist bereits im Vorfeld auf möglicherweise eintretende Umweltveränderungen eingestellt.3 1 Es liegt somit ein genetischer Bauplan vor, der die Möglichkeiten der Evolution auf einen bestimmten Rahmen einschränkt. Dieser Rahmen wird durch das genetische Material eines jeden Lebewesens bestimmt, das die symbolisch verkürzten Informationen über die gesamte Entstehungsgeschichte dieses Lebewesens enthält. Es kommt quasi zu entwicklungsgeschichtlich bedingten (ontogenetischen) Evolutionszwängen, die durch die gesamten Konstruktions- und Funktionspläne der jeweiligen Ahnenreihe festgelegt werden. Riedl zeigt mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Methoden wie diese Konstruktions- und Funktionspläne, in denen die bereits besprochenen vier grundlegenden Ordnungsmuster der Evolution zum Ausdruck kommen, bei jedem Evolutionsschritt die möglichen zukünftigen Evolutionsrichtungen sukzessive einschränken. Äußerst wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die so tradierten Konstruktions- und Funktionspläne über den Selektionsmechanismus 28 Riedl, 1975. 29 Zu etwas, abweichenden aber in der Wirkung ähnlichen Ergebnissen, gelangt Waddington, 1970, S. 347 ff. 30 Eine Zusammenfassung der gesamten Theorie Riedls findet der interessierte Leser unter Riedl, 1987, S. 4 - 26. 31 Vgl. Hasenfuss, 1987, S. 337.
168
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
auch durch die ehemals vorhandenen historischen Umweltbedingungen geprägt sind. Damit wird klar, daß nicht nur ein einseitig, linearer Informationsfluß vom Genmaterial hin zum Aufbau des Organismus besteht, sondern daß es sich um eine wechselseitige Beziehung handelt, da sich letztlich alle durch die Evolution verwirklichten Baupläne mit ihren durch Selektion stattgefundenen Umweltanpassungen im Genmaterial wiederfinden. 32 Mit der Formulierung dieser wechselseitig vernetzten Kausalität, bei der die Auswirkungen eines bestimmten genetischen Bauplanes zugleich wieder auf den Bauplan selber zurückwirken, wird von der Systemtheorie der Evolution die lineare Kausalität des Ersten Hauptsatzes der Molekularbiologie und damit auch die Vorstellung der Synthetischen Theorie überwunden. Damit ist zugleich eine weitere Konsequenz verbunden. Die Annahme einer Kanalisierung der weiteren Entwicklung des Organismus im Rahmen von rekursiven, wechselseitig vernetzten Prozessen, die innerhalb des Organismus ablaufen, legt den Gedanken an Selbstorganisation nahe. Genau diesen Gedanken formulieren die Vertreter der Systemtheorie der Evolution. Sie gehen davon aus, daß es sich bei diesen internen Prozessen um Selbstorganisationsprozesse handelt, die wie ein interner Selektionsmechanismus wirken)3 Als Ausgangspunkt flir die gen auere Darstellung dieser Selbstorganisationsmechanismen muß jedoch zunächst untersucht werden, wie der Aufbau eines organismischen Systems von der neueren Biologie beschrieben wird. Dies geschieht in den nächsten drei Abschnitten der Gliederung. Bevor in einem weiteren Schritt die Vorstellungen von den biologischen Selbstorganisationsprozessen in Zusammenhang mit der organismischen Systemkonzeption näher betrachtet werden, soll in Tabelle 5 nochmals zusammenfassend aufzeigt werden, welche Evolutionsmechanismen von den unterschiedlichen Evolutionstheorien als zentral für den Fortgang der Evolution angesehen werden. Anhand dieser Tabelle ist gut nachzuvollziehen, daß bereits Lamarck und Darwin Abschied von der Vorstellung einer statischen Entwicklung nahmen und den Gedanken einer dynamischen Evolution einbrachten. Ihre Vorstellung von der Funktionsweise der Evolutionsmechanismen hielt sich jedoch weitgehend an das generell gültige mechanistische Weltbild jener Zeit. Diese mechanistischen, wenn auch wesentlich verfeinerten Vorstellungen wurden im wesentlichen bis zur Synthetischen Theorie der Evolution durchgehalten. Erst im Rahmen der Systemtheorie der Evolution werden die rein mechanistischen 32 Vgl. Riedl, 1975, S. 314, weniger genau präzisierte Wechselwirkungen zeigt schon Weiss, 1970, S. 46 auf, auch Schmidt, 1985, S. 84 und 1987, S. 55 und Reichholf, 1992, S. 196 formulieren kybernetische Rückkoppelungsprozesse. 33 Vgl. Wuketis, 1987a, S. 461.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
169
Vorstellungen von der Funktionsweise der Evolutionsmechanismen durch die Einbeziehung inneren Selbstorganisationsprozesse überwunden. Ins Zentrum der Betrachtung rückt der eigendynamisch evolvierende Organismus. Evolution wird nicht mehr nur durch rein zufällig bedingte Erbänderungen, verbunden mit einer reinen Außenweltselektion erklärt, sondern durch eine Kombination von inneren und äußeren Selektionsmechanismen. Tabelle 5
Die Entwicklung der Evolutionsfaktoren Lamarck
Darwin
Mendel
Synthetische Theorie
Systemtheorie der Evolution
Evolution durch direkte Anpassung an Umweltveränderungen
Mechanistisehe, rein passive Auslese durch Selekti on
Einführung der Mutation als ZufallseIement
Mutation und Selektion als primäre Faktoren, ergänzt durch weitere Faktoren.
System bedingungen der Evolution. Zusätzlich zum passiven Seletionsmechan ismus ein vorgelagerter innerer Se lektionsmechanismus im Sinne von Selbstorganisation.
b) Das organismische System als Grundlage und Produkt des Evolutionsprozesses
Wie bereits im letzten Abschnitt erwähnt wurde, ist für eine nähere Untersuchung der Selbstorganisationsmechanismen ein grundlegendes Verständnis vom Aufbau der biologischen Welt und vor allem vom Aufbau des "Grundbausteines" dieser Welt, nämlich dem biologischen Organismus, notwendig. Deshalb wird nun in einem weiteren Schritt untersucht, wie das organismische System in der biologischen Literatur charakterisiert wird. Als Ausgangspunkt dieser Betrachtung wird die bereits im Jahr 1932 vorgestellte Konzeption von Ludwig von Bertalanffy gewählt. Zwar scheint dieser theoretische Ansatz auf den ersten Blick nicht mehr ganz zeitgemäß. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, da sich alle modernen Charakterisierungen des biologischen Systems letztlich an dieser Konzeption anlehnen und auf ihr aufbauen.
170
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
Bertalanffy fUhrt eine neue Sichtweise in die Biologie ein, die vollkommen von der bisherigen Sichtweise des biologischen Systems als geschlossenem Gleichgewichtssystem abweicht. Bertalanffy· definiert lebende Organismen durch folgende Merkmale:34 •
Es handelt sich um offene Systeme, die in einem ständigen Energieaustausch mit ihrer Umwelt stehen.
•
Lebende Systeme sind durch einen hierarchischen Aufbau gekennzeichnet.
•
Der hierarchische Aufbau resultiert aus ständig fortschreitenden Differenzierungsprozessen, die zu einer steigenden Komplexität der Systemstrukturen führen.
•
Die Differenzierung dient der Erhaltung des Systems.
•
Systemerhaltung im Sinne lebender Systeme bedeutet die Herstellung eines dynamischen Fließgleichgewichtes, das sich auch auf veränderte Umweltbedingungen einstellen kann. Es handelt sich somit nicht um Systeme, die sich in einem statischen Gleichgewichtszustand befinden.
•
Die Systementwicklung ist nicht ausschließlich auf Anpassungsleistungen des Systems zurückzuführen. Vielmehr spielen "... Gesetze auf organismischer Ebene ... "35 eine zusätzliche Rolle.
•
Lebende Systeme verfUgen über Infonnationsträger, die eine Replikation der zugrundeliegenden Baupläne oder mit anderen Worten der genetischen Codes ennöglichen.
Genau betrachtet enthält diese Konzeption eines lebenden Systems bereits viele Elemente eines dissipativen Systems. Die Konzeption eines offenen Systems mit einem Energiedurchfluß, auch die Vorstellung des Flußgleichgewichtes sowie die "Gesetze auf organismischer Ebene", deuten in die Richtung eines dissipativen Systems. Noch nicht in die Konzeption organismischer Systeme eingegangen war allerdings die zentrale Rolle der Selbstorganisationsprozesse rur diese Systeme. Bertalanffy sprach zwar bereits von einem dynamischen Fließgleichgewicht, seine Vorstellungen in bezug auf die Bildung dieses Fließgleichgewichtes orientierten sich jedoch praktisch nur am Konzept der negativen, stabilisierenden Rückkopplung. Zugleich sind offene Systeme im Sinne von Bertalanffy offensichtlich lineare Systeme.3 6 Die wirkliche Rolle der Selbstorganisationsprozesse innerhalb der organismischen Systeme wurde erst im Gefolge der nichtlinearen Thennodynamik of34 Vgl. v. Bertalanffy, 1970, S. 73 ff.! v. Bertalanffy, Beier, Laue, 1977, S. 24 ff. 35 v. Bertalanffy, 1970, S. 89. 36 Vgl. v. Bertalanffy, Beier, Laue, 1977, S. 41 ff.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
171
fener Systeme fern vom Gleichgewicht wahrgenommen. Unter dem Eindruck der von Prigogine entwickelten Theorie kam es in der Literatur zu einer erweiterten Definition organismischer Systeme. Organismische Systeme werden in der neueren Literatur vor allem mit folgenden Merkmalen charakterisiert: 37 •
Lebende Systeme sind offene Systeme fern vom Gleichgewicht. Sie sind gekennzeichnet von einem Energie- und Materialaustausch mit ihrer Umgebung.
•
Lebende Systeme sind in einem Zustand des dynamischen Fließgleichgewichtes. Allerdings entsteht dieses Fließgleichgewicht nicht nur durch negative Rückkopplungsmechanismen, sondern auch durch spontane Selbstorganisationsprozesse, die nur fern vom Gleichgewicht ablaufen.
•
Im Rahmen dieser Selbstorganisationsprozesse kommt es zu spontanen Ordnungsbildungen und damit zur Ausbildung von zeitlich stabilen Systemzuständen. Unter dem Eindruck von Umweltveränderungen oder Fluktuationen können jedoch zum Zwecke der Systemerhaltung qualitativ vollständig neue Strukturen entstehen. Die so entstehenden Systemstrukturen sind Funktionsträger im Sinne der Überlebensförderung des Systems. Diese Fähigkeit zur selbstorganisierenden, kreativen Strukturbildung verleihen dem System auch in Fällen äußerer oder innerer Störungen eine relative Stabilität. 38
•
Organismische Systeme sind durch rekursive, wechselseitig verbundene, nichtlineare Ursache-Wirkungsnetze und damit durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet. 39
•
Lebende Systeme besitzen einen Informationsspeicher und sind dazu in der Lage, im Zuge der Fortpflanzung Informationen weiterzugeben. 40 Diese Informationen oder anders ausgedrückt, diese durch die gesamte Systemgeschichte erworbenen genetischen Baupläne des Organismus sind die Grundlage der Selbstorganisationsprozesse.
Mit dieser Charakterisierung organismischer Systeme wird deutlich, daß organismische Systeme nach wie vor nach den Vorstellungen von Bertalanffy als offene Systeme verstanden werden. Allerdings wird Bertalanffys Konzeption durch die neuen Erkenntnisse der nichtlinearen Gleichgewichtsthermodynamik ergänzt. Auch Bertalanffy selbst stellt in späteren Veröffentlichungen die Nähe
37 Vgl. Bosshard, 1985, S. 133/ Hasenfuss, 1987, S. 327/ Jantsch, 1992, S. 99/ Osche, 1987, S. 5011 Schuster, 1987, S. 53. 38 Vgl. Markl, 1990, S. 207. 39 Vgl. Capra, 1983, S. 312/ Roth, 1986, S. 152. 40 Vgl. Schuster, 1987, S. 53.
172
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
seines theoretischen Ansatzes zur nichtlinearen Thermodynamik offener Systeme fern vom Gleichgewicht fest. 41 Mit dieser Entwicklung des biologischen System verständnisses war der Weg frei zu weiteren theoretischen Ansätzen, die auf diesem Systembegriff aufbauend vor allem die Rolle der Selbstorganisationsprozesse hervorheben. Insbesondere sind hier die "Biologie der Kognition" von Humberto Maturana und Francisco Varela und die "Systemtheorie der Evolution" von Rupert Riedl zu nennen. Deshalb werden als weitere Betrachtungsgrundlage dieser Untersuchung im folgenden die Systemkonzeptionen dieser zwei theoretischen Ansätze und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen hinsichtlich der Selbstorganisation näher betrachtet. aa) Die Konzeption des organismischen Systems nach der Biologie der Kognition Ausgangspunkt aller Überlegungen der bedeutendsten Vertreter der "Biologie der Kognition" Humberto Maturana und Francisco Varela ist der Versuch, die biologischen Grundlagen des Erkennens zu erforschen und darzustellen. Notwendigerweise setzt dieses Vorhaben ein Verständnis organismischer Systeme und ihrer Entwicklung voraus. Ursprung der Überlegungen ist der Versuch von Maturana lebende Systeme über den Prozeß darzustellen, der sie selbst entstehen läßt, nicht jedoch über ihre Beziehungen zur Umwelt. 42 Maturana, Varela entwickeln zur Charakterisierung lebender Systeme das Konzept der autopoietischen Organisation. 43 Demnach sind autopoietische Systeme durch folgende Merkmale zu charakterisieren: 44 •
Die Elemente eines autopoietischen Systems sind in "... einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch und zirkulär miteinander verbunden ... ".45 In autopoietischen Systemen laufen somit ständig Transformationsprozesse ab.
•
Das Netzwerk von Relationen, das zwischen den Bestandteilen des Systems existiert, wird als "Organisation" bezeichnet. Die spezielle autopoietische Organisation ist dadurch charakterisiert, daß sie Systemelemente erzeugt,
41 Vgl. v. Bertalanffy, 1970, S. 87. 42 Vgl. Maturana, Varela, 1987, S. 9. 43 Vgl. Maturana, Varela, 1987, S. 50. 44 Vgl. Fischer, 1991, S. 19 ff./ v. Foerster, 1992, S. 147/ Jantsch, 1992a, S. 164/ Maturana, 1990, S. 11 ff.l Maturana, 1992, S. 288 ff./ Maturana, Varela, 1987, S. 51 ff.l Roth, 1992, S. 258 ff.l Rusch, 1992, S. 376 ff./ Schmidt, 1992, S. 25/ Segal, 1988, S. 185 ff. 45 Maturana, Varela, 1987, S. 51.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
173
die selbst wieder als Bestandteile in den Transfonnationsprozeß eingebaut werden. Autopoietische Organisationen zeichnen sich somit dadurch aus, daß "... das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind ... ". "Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und das bildet ihre spezifische Art von Organisation.".46 Es handelt sich somit um zyklisch verknüpfte, selbstreferentielle Transfonnationsprozesse. Lebewesen sind allesamt durch eine autopoietische Organisation gekennzeichnet. •
Die Transfonnationsprozesse sind Selbstorganisationsprozesse. Die Verknüpfung der verschiedenen Systembestandteile in einem Netzwerk aus Relationen erfolgt somit im Rahmen einer spontanen Ordnungsbildung. "Ein autopoietisches System entsteht spontan aus der Interaktion von ansonsten unabhängigen Elementen, sobald diese Interaktionen ein räumlich benachbartes Netzwerk von Erzeugungsprozessen konstituieren, das sich im Raum seiner Elemente als Einheit manifestiert.".47
•
Unter der "Struktur" des Systems werden diejenigen Bestandteile und Relationen des Systems verstanden, die eine ganz bestimmte Einheit des Systems konstituieren. Grundlegend für die Zugehörigkeit zur Klasse der lebenden Systeme ist allerdings die autopoietische Organisation. Diese autopoietische Organisation kann jedoch in unterschiedlichsten Strukturen verwirklicht sein. Die Struktur legt also die konkrete Ausprägung des autopoietischen Systems mit seiner eigenen System identität fest.
•
Autopoietische Systeme sind autonom gegenüber ihrer Umwelt. Die Dynamik der Transfonnationsprozesse läuft nach den eigenen Systemgesetzlichkeiten ab und spezifiziert damit eine eigene System identität. Diese Systemgesetzlichkeiten ergeben sich aus den historisch gewachsenen Strukturrelationen und Strukturbestandteilen des Systems und leiten sich damit zum einen vom aktuellen Zustand der Systemstruktur ab, zum anderen aber auch aus der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des autopoietischen Transfonnationsprozesses. Ein autopoietisches System ist somit in erster Linie strukturdetenniniert und weist eine operationale Geschlossenheit auf. Diese operationale Geschlossenheit bedingt zugleich die Komplementarität von Struktur und Funktion. Die Struktur ist einerseits die Bedingung für die Möglichkeit der Funktion, die andererseits wiederum die Struktur schafft.
•
Der operationalen Geschlossenheit steht jedoch eine energetische Offenheit gegenüber. Ein ständiger Energie- und Materieaustausch mit der Umwelt ist die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der selbstorganisierenden Transfonnationsprozesse. Damit wird die wechselseitige Wirkung von gleichzeitiger operationaler Geschlossenheit und energetischer Offenheit 46 Beide Zitate: Maturana, Varela, 1987, S. 56. 47 Maturana, zitiert nach Fn. 176 in Paslack, 1991, S. 162.
174
F. Evolutionsbiologische Erkenntnisse als zweiter Ausgangspunkt
autopoietischer Systeme klar. Die mit der Geschlossenheit des Systems erreichte Autonomie ist nur durch die energetische Offenheit des Systems aufrechterhaltbar. •
Aufgrund der operationalen Geschlossenheit sind Einflüsse aus der Umwelt nicht bestimmend fur die System struktur eines autopoietischen Systems. Alle Informationen, die zur Erhaltung der selbstreferentiellen Organisation notwendig sind, liegen in der Organisation selbst. Allerdings können diese Einflüsse einen Transformationsprozeß im System auslösen, der zu einer Strukturänderung fuhrt. Handelt es sich beim einflußnehmenden System ebenfalls um ein autopoietisches System, kommt es zu wechselseitig rekursiv wirkenden Strukturveränderungsprozessen, zu einer sogenannten strukturellen Koppelung. 48
•
Allerdings schränkt die Strukturdeterminiertheit eines autopoietischen Systems in Verbindung mit der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der autopoietischen Systemprozesse die Möglichkeiten der Strukturänderung von vornherein stark ein.
Zusammenfassend werden nochmals die zwei Hauptcharaktermerkmale herausgegriffen, die nach Maturana und Varela lebende Systeme ausmachen. Es sind dies die Merkmale der selbstreferentiellen Organisation und die operationale Geschlossenheit lebender Systeme. Ein autopoietisches System ist somit dadurch gekennzeichnet, daß es sich in einem ständigen Transformationsprozeß befindet, der nach den eigenen Systemgesetzlichkeiten abläuft, sich also ständig mit einer eigenen Systemidentität neu konstituiert. Im Grunde existiert jedoch keine Struktur im Sinne einer statischen Struktur. Es existieren nur selbstorganisierende Prozesse, die jeweils temporäre strukturelle Muster im System bilden. Die Bildung dieser neuen Muster ist primär durch die aktuellen, aber geschichtlich gewachsenen Systemzustände determiniert, nicht jedoch durch die Umweltbedingungen. Dies fuhrt zu einer Verschränkung von Sein und Werden. Nach Fischer erhält das Sein erst im Prozeß des Werdens sein Sein. 49 bb) Die Konzeption des organismischen Systems nach der Systemtheorie der Evolution Grundlegend fur das Verständnis des organismischen Systems nach der Systemtheorie der Evolution sind Riedls Vorstellung vom Aufbau dieser Welt, die sich an den vier Ordnungsmustern der Evolution, die bereits in den letzten Ab48 Vgl. Maturana, Varela, 1987, S. 86. 49 Vgl. Fischer, 1991, S. 20.
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schnitten beschrieben wurden, orientieren. Danach muß die Welt als hierarchisches System verstanden werden, in dem alle Schichten wechselseitig miteinander vernetzt sind. Jede Schicht erklärt sich zweiseitig: einerseits aus den Entwicklungskräften und Entwicklungsmaterialien der untergeordneten Schichten, andererseits aus den formgebenden Selektionsbedingungen, die nur diese Kombinationen von Entwicklungskräften und -materialien zulassen, die sich als funktionsadäquat erweisen. Riedl spricht von den Materialbedingungen der untergeordneten und von den Formbedingungen der übergeordneten Schichten. 50 Jede weitere Differenzierung in dieser Welt entsteht durch "... Einschübe zwischen untergeordneten Teilen und einem jeweils übergeordneten Ganzen.". 51 Die Untersysteme erklären sich aus den Obersystemen, die sich gleichzeitig wieder aus den Untersystemen erklären. Der Aufbau der realen Strukturen ist somit nicht von einer linearen, sondern von einer wechselseitigen Kausalität bestimmt. Dieses grundsätzliche Aufbaumuster findet sich auf allen Ebenen der Realität. Damit geben diese Vorstellungen von Riedl auch einen Anknüpfungspunkt für die genauere Betrachtung eines organismischen Systems. Zugrunde liegt also auch hier die Vorstellung eines aus hierarchischen Bauelementen aufgebauten Lebewesens. Diese Subsysteme oder anders ausgedrückt: Diese Organe stehen alle in wechselseitigen Austauschverhältnissen, um die Gesamtfunktion des Lebewesens zu garantieren. Alle Subsysteme üben aufeinander durch eben diese wechselseitigen Relationen zugleich eine Funktionskontrolle aus. Kontrolliert wird die Funktion des einzelnen Subsystems sowie seine funktionsadäquate Verknüpfung im Rahmen des Gesamtsystems. So betrachtet können die einzelnen Subsysteme des Lebewesens wechselseitig zueinander auch als Umwelt betrachtet werden. Das bisherige Umweltkonzept wird auf die intraorganischen Relationen übertragen und damit so erweitert, daß die begriffliche Trennung von Umwelt und Lebewesen aufgehoben wird. 52 Genau dieses Verständnis des Umweltbegriffes steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach den internen Mechanismen der Evolution. Der gesamte Organismus wird als ein komplexes und wechselseitig vernetztes System verstanden, das aus einer Vielzahl von hierarchisch ineinandergeschachtelten Subsystemen aufgebaut ist. Selbst stellt der Organismus wieder ein Subsystem vor dem Hintergrund einer Population oder der Gesamtheit der Biosphäre dar. Damit können auch die intraorganischen Relationen lediglich als eine Verlängerung der Relationen zwischen dem Organismus und seinem 50 Vgl. Riedl, 1985a, S. 71. 51 Riedl, I 985a, S. 77. 52 Vgl. Wuketis, 1987a, S. 457.
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Supersystem angesehen werden. Wenn nun das Selektionsprinzip Gültigkeit besitzt, und dies wird von den Vertretern der Systemtheorie der Evolution nicht angezweifelt, dann müßte der Selektionsmechanismus, der bislang nur für die Beziehungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt formuliert wurde auch auf die intraorganischen Relationen anwendbar sein. Zum bislang rein äußeren Selektionsmechanismus würde damit ein innerer Selektionsmechanismus hinzukommen. Wie soll nun aber dieser innere Selektionsmechanismus funktionieren? Zur Beantwortung dieser Frage kann die Erkenntnis angeknüpft werden, daß Lebewesen dissipative Systeme sind. Damit verfügen sie über die bereits im Rahmen dieser Untersuchung angesprochenen Selbstregulationsmöglichkeiten zur Aufrechterhaltung ihrer dynamischen Stabilität. Genau hieran knüpft das Konzept der inneren Selektion an. liEs handelt sich darum, daß die Konstruktions- bzw. Funktionsbedingungen des Organismus selber einen Selektionsfaktor repräsentieren. In dem Maße, in dem die einzelnen Strukturund Funktionsglieder des Lebewesens aufeinander bezogen sind, füreinander Umwelten bilden und sich gegenseitig kontrollieren, wirken sie bereits selektiv, noch bevor das Lebewesen der Prüfung von seiten externer Faktoren unterzogen wird.". 53 Innere und äußere Selektion sind nicht mehr voneinander trennbar, genauso wie das Lebewesen nicht unabhängig von seiner Außenwelt betrachtet werden kann. Innere und äußere Selektion " ... ergeben ein Gefüge von Wechselbeziehungen zwischen dem Lebewesen und äußeren Erfordernissen.". 54 Damit erhält auch das innere Konstruktions- und Funktionsgefüge des Organismus einen neuen Stellenwert im System der Evolution. Die Eigendynamik des Organismus und die damit verbundene aktive Prägung der Evolution werden zu einem entscheidend wichtigen Evolutionsfaktor. Für Riedl spielen somit beide Seiten des Selbstorganisationsprozesses eine gleichberechtigte Rolle. Die negative selbstreferentielle Rückkopplung wirkt als kanalisierendes Element im Rahmen der Evolution, gleichzeitig kommt jedoch der kreativ wirkenden positiven Rückkopplung eine entscheidende Funktion bei der Bildung neuer organismischer Systeme zu, die die Grundlage für den weiteren Evolutionsprozeß bilden. Damit unterscheidet sich die organismische System vorstellung Riedls deutlich von der Systemkonzeption Maturanas und Varelas, die das autopoietische System vor allem als selbstreferentiell und als operativ geschlossen charakterisieren. Grundprinzip ihrer Systemkonzeption ist die zwingende Aufrechterhaltung der autopoietischen Organisation des Organismus. Dies fuhrt dazu, daß Maturana und Varela im Rahmen der Selbstorganisationsvorgänge autopoieti-
53 Wuketis, 1987a, S. 461. 54 Wuketis, 1987a, S. 463.
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scher Systeme vor allem die einflußdämpfende Seite betonen, mithin die negative selbstreferentielle Rückkopplung. Damit ist die Vorstellung des autopoietischen Systems primär konservativ und erklärt vor allem die Systemstabilität von Lebewesen. Die im Rahmen der Selbstorganisation ebenso mögliche positive Rückkopplung gefährdet aus dieser Sicht nur den autopoietischen Prozeß und damit die Existenz des organismischen Systems. Insgesamt gesehen kann somit festgestellt werden, daß sich die Systemkonzeption von Riedl stark am Modell des dissipativen Systems festmacht, während Maturana, Varela diese Konzeption vor allem durch ihre Vorstellung der . homöostatischen Aufrechterhaltung der autopoietischen Organisation sowie der selbstreferentiellen Geschlossenheit einengen und damit Evolution nahezu ausschließlich als konstruktiven Akt sehen. Ohne Zweifel spielt ein konstruktives Element keine unwesentliche Rolle im Rahmen des Evolutionsprozesses. Dies zeigt sich auch an den konstruktiven Elementen, die bei Riedls Verständnis des inneren Selbstorganisationsmechanismus durchscheinen. Eine so starke Betonung des Konstruktivismus, wie dies von Maturana, Varela vorgeschlagen wird, ist u. E. allerdings nicht angebracht. Vielmehr scheint uns auch vor dem Hintergrund der Erkenntnisse, die sich aus der Nichtlinearen Thermodynamik ergeben, eine Erklärung der Evolution ausgewogener, die sich auf eine Mischung von Selbstorganisation und äußeren Selektionseinflüssen stützt, wie dies bei der Systemtheorie der Evolution von Riedl der Fall ist. Dieser Ansatz verbindet die konstruktive Rolle der Selbstorganisation in der Evolution mit der Kontrolle des dabei entstandenen Produktes durch die äußere Selektion. Damit liegt diese Vorstellung vom Ablauf des Evolutionsprozesses auch den Ausführungen im nächsten Abschnitt der Untersuchung zugrunde. c) Die Charakterisierung des Evolutionsprozesses
Nachdem auf der Basis der organismischen Systembetrachtungen und deren Konsequenzen für den Evolutionsprozeß im letzten Abschnitt die weitere Untersuchung auf den von Riedl in der Systemtheorie der Evolution vorgeschlagenen Evolutionsprozeß eingegrenzt wurde, soll in diesem Abschnitt noch einmal genauer untersucht werden, wie dieser so verstandene Evolutionsprozeß zu charakterisieren ist und welche Eigenschaften er aufweist. In einem ersten Schritt wird die grundlegende Evolutionsmethodik näher untersucht. Vor allem die Rolle der Selbstorganisation im Rahmen dieser Methodik wird ausführlich betrachtet. Auf der Kenntnis der Methodik aufbauend wird geklärt, welche Rolle der Zufall einerseits und Gesetzmäßigkeiten andererseits in dieser Evolutionsmethodik spielen. Zuletzt ist noch die Frage nach der Zielsetzung der Evolutionsmethodik zu beantworten. 12 Seheurer
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aa) Die grundlegende Methodik des Evolutionsprozesses Als Voraussetzung für die Beschreibung der grundlegenden Methodik der Evolution wird nochmals kurz der Ablauf des Evolutionsprozesses aus der Sicht der Systemtheorie der Evolution beschrieben: 55 •
Die Natur kombiniert verschiedene Dinge zufiillig miteinander, um so auf der nächsten Ebene ein höheres Komplexitätsniveau zu erreichen.
•
Dieses höhere Komplexitätsniveau wird von seinem Umfeld auf Funktion überprüft und bei Nichtfunktionieren aussortiert, bei Funktionieren dagegen beibehalten. Die beibehaltenen Funktionen vermehren sich über Reproduktionen. Diese Reproduktionen sind zufallsbehaftet.
•
Die Kombinationsmöglichkeiten, die zu dem höheren Komplexitätsniveau führen, werden allerdings in ihrer Zufallskombination durch den Bauplan eingeschränkt, der bereits dem Ausgangskomplexitätsniveau zugrunde liegt. Dieser Bauplan wird somit zu einem inneren Selektionsfaktor.
Genau betrachtet, handelt es sich bei der Evolution um einen VersuchsIrrtums-Prozeß. Ausgangspunkt ist ein Versuch, bei dem es zu einer genetischen Rekombination und zu fehlerhaften Reproduktionen der genetischen Baupläne, also zu Mutation kommt. Dieser Versuch liefert das Grundmaterial für den gesamten weiteren Evolutionsprozeß. Im Rahmen des weiteren Evolutionsprozesses wird das so gebildete Grundmaterial auf seine Vorteilhaftigkeit im Sinne der Überlebensfähigkeit geprüft. Dies geschieht auf dem Wege eines zweifach gestaffelten Selektionsvorganges: 56 •
Innere Organisationsbedingungen als erste Selektionsstufe Mit den inneren Organisationsbedingungen sind die historisch gewachsenen Baupläne, oder mit anderen Worten, die Materialbedingungen des Organismus angesprochen, die die zukünftig möglichen Evolutionsschritte begrenzen. Neue evolutionäre Entwicklungen müssen in die bereits vorhandenen selbstreferentiellen wechselbezüglichen Zusammenhänge des System kohärent einpaßbar sein. Der Organismus ist von der wechselseitigen Abhängigkeit seiner Zusammenhänge und von deren Kohärenz zur Erhaltung seiner Gesamtfunktion gekennzeichnet. Einmal festgefligte und in Bauplänen etablierte Zusammenhänge sind nur noch im Rahmen von Funktionserweiterungen änderbar und auch dies noch beschränkt durch die bereits
55 VgJ. Binnig, 1992, S. 44 ff. 56 VgJ. Riedl. 1992, S. 23 f.
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vorhandenen Funktionen. Damit wird klar, daß mit zunehmend etablierten Zusammenhängen und deren funktioneller Interdependenz die Freiheitsgrade für die Entwicklung des gesamten Systems sukzessive eingeschränkt werden. Die bereits etablierten Kohärenzen der inneren Baupläne wirken somit als Kanalisierungsfaktoren der weiteren Systementwicklung. Entscheidend hierbei ist die Tatsache, daß die wechselseitigen Zusammenhänge ausschließlich aufeinander bezogen sind und nichts mit dem äußeren Milieu zu tun haben. Die Kohärenz ist somit der Ausdruck einer Eigenkonstruktion, oder anders formuliert der Selbstorganisation des Systems. Entscheidend ist also zunächst die innere Stimmigkeit der Wechselbeziehungen, bevor in einem zweiten Schritt das äußere Milieu eine Rolle spielt. •
Anpassung an das äußere Milieu als zweite Selektionsstufe Die zunächst vollkommen losgelöst vom äußeren Milieu entstandenen selbstreferentiellen Strukturen der Binnenwelt müssen sich nach ihren Vorteil messen lassen, den sie für die Erhaltung des gesamten Systems unter den Bedingungen des Außenmilieus bringen. Diese äußeren Bedingungen sind durch das System begrenzt beeinflußbar und unterliegen zudem noch einem zufallsbestimmten Wechsel. Somit bleibt dem System nichts anderes übrig, als den Versuch zu unternehmen, eine Korrespondenz zwischen System und Außenbedingungen zu schaffen. Im Rahmen dieses Adaptierungsvorganges werden vom System Funktionen entwickelt, die unter den gegebenen Selektionsbedingungen die Erhaltungsbedingungen des Binnensystems fördern. Es geht somit um die Optimierung der Leistungsflihigkeit, ausgedrückt in Funktionen und Strukturen des Systems im Hinblick auf die Erhöhung der Erhaltungsbedingungen des Systems.
Mit dieser Darstellung wird deutlich, daß die Systemtheorie der Evolution auf einem zweistufigen Evolutionsmechanismus aufbaut. In diesem Punkt sieht sich die Systemtheorie der Evolution in Übereinstimmung mit der Evolutionstheorie von Bateson, der ebenso wie Riedl davon ausgeht, daß die Veränderung eines Organismus, wenn er überleben will, immer doppelten Anforderungen genügen muß. Erstens den inneren, konservativen eher bewahrenden Anforderungen, zweitens aber auch den Anforderungen des Umfeldes, die möglicherweise nach Anpassung verlangen. 57 Damit liegt mit dem von außen wirkenden Adaptionsmechanismus zwar eine notwendige Begründungsvariante für die Erklärung der Evolution vor, jedoch noch keine hinreichende. Die hinreichende Begründung wird erst durch die erste Stufe des Evolutionsmechanismus und damit durch die hier ablaufenden Selbstorganisationsprozesse geliefert. Im Rahmen dieser Selbstorganisations-
57 Vgl. Bateson, 1987, S. 180. 12·
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prozesse werden zunächst neue evolutionäre Kombinationen auf mögliche IrrtUrner im Hinblick auf ihre Passung zu den historischen Konstruktions- und Funktionsbedingungen des Organismus hin überprüft. Liegt ein solcher Irrtum vor, wird bereits hier diese evolutionäre Kombinationsmöglichkeit von der Realisation ausgeschlossen. Der zweite Teil der Selektion ergibt sich durch die Prüfung der neuen Kombinationen durch die äußeren Selektionsbedingungen. Evolutionäre Irrtümer, also Kombinationen, die sich wenig vorteilhaft im Sinne der Überlebensfiihigkeit zeigen, werden ausgeschieden. Die Baupläne der Kombinationen, die sich jedoch als überlebensfiihig erwiesen haben, werden beibehalten und bilden den Ausgangspunkt fIlr erneute evolutionäre Versuche. Grundsätzlich kann festgestellt werden, daß die Evolution immer in zwei Richtungen zu weisen hat, sie muß sich zum einen nach den Entwicklungsgesetzen des Systems richten, zum anderen aber auf die Launen und Anforderungen der Umgebung eingerichtet sein. Die innere Entwicklung ist konservativ, sie versucht nur dieses Neue gelten zu lassen, was in Übereinstimmung mit dem bisherigen Entwicklungsstand zu bringen ist, während sich die äußere Welt ständig verändert und deshalb eher auch Veränderungen der Systeme honoriert. 58 Die Evolution kann damit als eine sequentielle Methode betrachtet werden, deren Schritte auf den Erfahrungen der vergangenen Schritte aufbauen und deren Folgeschritte immer durch kleine zufiillige Änderungen gekennzeichnet sind. Bestand haben allerdings nur die zufiilligen Neuerungen, die im gerade relevanten Umfeld eine Verbesserung im Vergleich zur vorherigen Evolutionsstufe bedeuten. 59 Damit handelt es sich im Grunde um eine Versuchs-IrrtumsMethode mit einem eingebauten Lernschritt, der die genetischen Informationen speichert, die sich für den Überlebenserfolg als vorteilhaft erwiesen haben. Ablay zeigt den Effizienzvorteil einer solchen Versuchs-Irrtums-Methodik mit eingebautem Lernschritt in einem Vergleich zur Monte-Carlo-Methode. Diese ist auch durch zufallsgesteuerte Schritte zur Problem lösung gekennzeichnet. Allerdings wird bei der Feststellung eines jeweilig neuen Schrittes immer wieder versucht, mit diesem Schritt sofort zum Ziel zu kommen und nicht wie im Rahmen einer Evolutionsstrategie aus den vorgelagerten Schritten zu lernen. Ein Vergleich anhand des Shakespeare Zitates: "To be or not to be: that is the question" zeigt, daß eine Evolutionsstrategie ca. 200 Schrittfolgen benötigt, um dieses Zitat ausgehend von einer willkürlichen Buchstabenfolge mit 31 Buchstaben und Zeichen zu erstellen. Die Vorgehensweise nach der
58 Vgl. Bateson, 1987, S. 267. 59 Vgl. Ablay, 1990, S. 73.
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Monte-Carlo-Methode weist nach 180129 Schritten erst neun Buchstaben oder Zeichen an der richtigen Stelle auf. 60 Entscheidend für die Effizienz der Evolutionsstrategie ist das Vorhandensein des Lernschrittes, also die Tatsache, daß der Schritt, der eine Verbesserung gebracht hat, wieder als Ausgangspunkt der nächsten Evolutionsschritte fortgeschrieben wird. "Die Effizienz der Evolutionsstrategie rührt insbesondere daher, daß sie von vornherein auf umfassende Infonnation über die Ordnungsstrukturen der Problemstellung verzichtet und statt dessen danach strebt, die Schrittfolge lokalen Ordnungsstrukturen optimal anzupassen.".61 Evolutionsstrategien, die mit der oben aufgezeigten Versuchs-Irrtums-Methode arbeiten, führen außerdem wesentlich schneller zum Ziel als streng detenninistische Methoden. 62 bb) Der Evolutionsprozeß zwischen Zufall und Notwendigkeit Die Fragestellung, ob die Evolution als ein reiner Zufallsprozeß aufzufassen ist, oder ob es sich um einen rein durch Gesetzmäßigkeiten bestimmten Prozeß handelt, kiu:m von beiden Standpunkten aus betrachtet werden. Zunächst kann die Vorstellung entwickelt werden, es handle sich bei der Evolution um einen rein zufallsabhängigen Prozeß. Zugrunde liegt die Idee einer vollkommen unstrukturierten Suche nach sinnvoll funktionierenden Evolutionsfonnen vor dem Hintergrund aller kombinatorisch möglicher Mutationsvarianten. Die Entwicklung solch hochkomplexer Fonnen wie des Menschen erscheint bei einer rein zufalls orientierten Evolutionssicht nach kombinatorischen Betrachtungen jedoch selbst im Zeitrahmen von Hunderten von Millionen Jahren unmöglich. 63 Die zweite Sichtweise einer Evolution als absolute Notwendigkeit würde bedeuten, daß dem Evolutionsprozeß ein übergeordneter Endzweck zugrunde liegt und daß in Abhängigkeit von diesem Endzweck für jede Evolutionsstufe bereits vorgefertigte Evolutionspläne vorliegen. Damit kommt die Betrachtung eher in einen metaphysischen oder religiösen Bereich. Für solche Annahmen sprechen jedoch keinerlei empirische Ergebnisse. Vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise sind solche Annahmen deshalb ebenfalls abzulehnen. Dieser Aspekt der Evolution wird jedoch im nächsten Abschnitt nochmals genauer untersucht. 60 Vgl. Ablay, 1990, S. 74 f. 61 Ablay, 1990, S. 90. 62 Vgl. Wuketis, 1982, S. 144. 63 Vgl. Monod, 1989, S. 251.
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Beide, zunächst bewußt einseitig vorgenommene Betrachtungsweisen zeigen, daß es sich bei der Evolution offensichtlich weder um einen rein zufallsbedingten, noch um einen rein über Gesetzmäßigkeiten erklärbaren Prozeß handelt. Allgemeiner Konsens ist, daß der evolutionäre Prozeß zwischen Zufall und Notwendigkeit schwankt, beides aber beinhaltet. 64 "Die Evolution setzt den Zufall ein, um planmäßig auf Erfolg hinzuarbeiten.".65 Die kreativen Schritte der Evolution gehen in alle Richtungen, durch das Zusammenspiel von Mutation und Selektion bleiben aber nur die Schritte vorhanden, die einen Differenzierungs- und Komplexitätszuwachs bedeuten. Im Rahmen der rein darwinistischen Vorstellungen aus zufallsbedingter Mutation und Selektion allein aufgrund von Anpassungsmängeln wird die Rolle des Zufalls noch stärker betont als dies bei der Systemtheorie der Evolution der Fall ist. "Der Zufall allein schafft gar nichts. Je größer seine Freiheit, um so geringer wird seine Chance, etwas zu treffen. Seine Trefferchance entspricht ja dem Kehrwert seiner Möglichkeiten.".66 Deshalb erfordert die scheinbar so planvoll verlaufende Evolution aus der Sicht der Systemtheorie der Evolution eine Einschränkung des Zufalles. Diese Einschränkung ist letztlich durch die inneren Selektionsvorgänge auf der Basis der vorhandenen Baupläne im Rahmen der Selbstorganisation gegeben. Grundsätzlich nehmen mit zunehmender Evolutionsstufe, also mit zunehmend erreichtem Komplexitätsgrad, die im Rahmen der eigenen Entwicklungsgeschichte bereits festgelegten Strukturen zu, damit erhöhen sich auch die Einschränkungen durch diese, als Rahmenbedingungen rur zukünftige Entwicklungen fungierenden Strukturen. Mit zunehmendem Entwicklungsstand wird somit die Rolle des Zufalls und damit die Möglichkeit von extremen Strukturänderungen immer stärker zugunsten der aus der bereits vorhandenen Struktur resultierenden Notwendigkeit eingeschränkt. 67 Zugleich bietet die neue Evolutionsstufe jedoch auch neue zukünftige Entfaltungsmöglichkeiten, die bislang nicht vorhanden waren. Diese zukünftigen Entfaltungsmöglichkeiten sind jedoch nicht vorausbestimmt; sie ergeben sich zufallsbedingt. Zusammenfassend kann jedoch noch einmal festgestellt werden, daß mit zunehmender Entwicklung die vorgelagerte innere Selektion im Rahmen der Selbstorganisationsvorgänge im Verhältnis zur äußeren Selektion immer wichtiger wird. 68 Der Zufall wird somit durch die inhärenten Selbstorganisationsmechanismen der Evolution immer weiter beschränkt. 64 Vgl. Bresch, 1989, S. 284/ Eigen, Wink1er, 1989, S. 246/ Monod, 1989, S. 249. 65 Albertz, 1990, S. \3. 66 Riedl, 1984, S. 34. 67 Vgl. Wuketis, 1984, S. 37. 68 Vgl. hierzu auch Wuketis, 1981, S. 97.
II. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
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So gesehen ist: "Die Evolution ... weder 'Angelegenheit' des 'reinen Zufalls' noch Folge vorgezeichneter Gesetze, sondern Produkt aus Zufall und Notwendigkeit. Sie ist ein sich selbst organisierender Prozeß, in dessen Verlauf erst all das ausgeprägt wurde, was der Mensch mit den Begriffen 'gesetzmäßig' und 'harmonisch' umschrieben wissen möchte.".69 cc) Das Ziel des Evolutionsprozesses "Evolution ist - zumindest bis heute und zumindest im Erfahrungsbereich aller menschlichen Wissenschaft - ein unaufhörlich beschleunigtes Wachstum von Mustern. Evolution hat also eine erkennbare, stets gleichbleibende Richtung: Sie läuft zu immer weiter vernetzten und komplexeren Zuständen der Materie dieser Welt.".70 Aufgrund dieser eindeutigen Ausrichtung der Evolution könnte die teleologische Vorstellung aufkommen, daß die Evolution an einem übergeordneten, von außen vorgegebenen Ziel orientiert ist. Mit der Anerkennung des mechanistisch wirkenden Selektionsprinzips von Darwin wird die Ausrichtung der Evolution an einem übergeordneten Endzweck der Natur jedoch endgültig ausgeschlossen. Die Idee der Teleologie hat sich in der modemen Biologie zur Idee der Teleonomie verändert. Unter Teleonomie wird die Ausrichtung der Evolution an der Entwicklung von unmittelbar systemerhaltenden Strukturen und Funktionen verstanden.71 So gesehen kann der Evolution durchaus ein Zweck zugeordnet werden, allerdings nur noch im Sinne der unmittelbaren Arterhaltung, also des unmittelbaren Überlebens. 72 Die Bildung einer komplexen strukturellen und funktionellen Organisation dient dem Organismus dazu, trotz auftretender Störungen von innen und von außen weiter zu überleben. 73 Wenn kein von außen vorgegebenes Ziel für den Evolutionsprozeß anzunehmen ist, stellt sich die Frage, wie es dann zu einer so eindeutigen Ausrichtung des Evolutionsprozesses kommen kann. Die Erklärung ergibt sich aus der Funktionsweise der Evolutionsmechanismen. Mit den zufallsbeeinflußten Mutationsschritten werden Ziele vorgeschlagen, die durch die inneren und die äußeren Selektionsbedingungen sortiert werden.7 4 Die erste, innere Selektion erfolgt über die Gesetze, die sich die Evolution selbst über die Ausbildung von
69 Wuketis, 1982, S. 147, die Hervorhebung wurde vom Verfasser übernommen. 70 Bresch, 1989, S. 280. 71 Vgl. Wuketis, 1988, S. 51. 72 Vgl. Wuketis, 1984, S. 55. 73 Vgl. Markl, 1990, S. 207. 74 Vgl. Binnig, 1992, S. 112.
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bestimmten Strukturen geschaffen hat. Der zweite Selektionsschritt erfolgt über die Anpassung an die äußeren Umweltbedingungen. Die Richtung des Evolutionsprozesses ergibt sich somit nicht aus einem übergeordneten Naturzweck, sondern sie entsteht als Folge der Evolution, zunächst zufällig und später aus Notwendigkeit. 75 "Die Evolution zielt nicht. Sie verlangt nur die Einhaltung des Möglichen. Damit entsteht mit dem Möglichen die Richtung ... Ziele sind keine Voraussetzungen dieser Genesis, sie sind ihre Folge.".76 Ziele sind damit als Einschränkungen des Zufalls anzusehen; sie stellen eine Selbstbeschränkung des Systems auf ein Feld von Möglichkeiten dar. 77 Somit bringt der Zufall seine eigene Einschränkung zustande. Der Zufall strukturiert mit anderen Worten den Zufal1. 78 Solche Zufallseinschränkungen im Sinne von Festlegungen eines Bauplanes sind jedoch nur dann sinnvoll, wenn sie seiber der Evolution unterliegen, um so auf veränderte Bedingungen reagieren zu können. Andererseits haben sie aber nur einen Einfluß auf die Evolution, wenn sie über mehrere Mutations-Selektions-Perioden Bestand haben. Der, den Evolutionsmechanismen zugrundeliegende Selbstorganisationsprozeß macht die Vorstellung einer übergeordneten Zielsetzung obsolet. Das Ziel wird folglich durch das Wechselspiel zwischen Mutation und Selektion selbst erzeugt. 79 Somit handelt es sich um eine zielgerichtete Vorgehensweise, ohne Kenntnis eines fest umrissenen Endzieles, es handelt sich um " ... ein Spiel unter den jeweiligen Gegebenheiten.".80
2. Evolution und Erkenntnis Bislang wurde im Rahmen der Evolutionsbiologie mit der Betrachtung der Evolutionsmechanismen und der daraus hervorgegangenen Charakterisierung des Evolutionsprozesses untersucht, wie sich die Biologie die Entwicklungsdynamik der belebten Welt vorstellt. Mit dem organismischen System wurde zudem das Produkt dieser Entwicklungsdynamik näher analysiert. Damit standen bislang offensichtlich die Suche nach möglichen Systemkonzeptionen für die Beschreibung des Unternehmens im Mittelpunkt; zugleich mit dem Erwerb von Kenntnissen über die mit diesen Systemkonzeptionen verbundene Entwick-
75 Vgl. Riedl, 1984, S. 163. 76 Riedl, 1984, S. 163. 77 Vgl. Binnig, 1992, S. 143. 78 Vgl. Binnig, 1992, S. 120. 79 Vgl. Binnig, 1992, S. \09. 80 Wuketis, 1984, S. 56/ Vgl. auch Lay, 1983, S. 285/ Luria, 1989, S. 278/ Markl, 1990, S. 207 ff./ Vollmer, 1990, S. 224.
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lungsdynamik, aber auch die Suche nach steuerungsrelevantem Wissen. Was bislang offensichtlich eine untergeordnete Rolle gespielt hat, sind die erkenntnistheoretischen Fragestellungen, die mit der strategischen Steuerung verbunden sind. Gerade das Wissen um die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis, die aus diesen Grundlagen resultierenden Erkenntnisschwierigkeiten und das Wissen um eine angemessene Erkenntnismethodik sind jedoch wesentlich für einen richtigen Umgang mit der strategischen Steuerungsproblematik. Es muß folglich also geklärt werden, was die modeme Evolutionsbiologie zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen der Steuerung komplexer Systeme beitragen kann. Zur Vermeidung einer in der Literatur teilweise vorhandenen Begriffsvermischung und der damit zugleich einhergehenden Vermischung von Inhalten werden die weiteren Untersuchungen in diesem Abschnitt in zwei inhaltlich eindeutig voneinander getrennten Teilen vorgenommen. Zunächst wird unter der Überschrift der Evolutionären Erkenntnistheorie ein Ansatz dargestellt, der das Phänomen der menschlichen Erkenntnis aus evolutionstheoretischer Perspektive beleuchtet. Ausgehend von der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis macht diese Theorie auch Aussagen zu grundlegenden Erkenntnisschwierigkeiten, die sich aus diesem Entwicklungsweg ergeben. Anschließend wird die Frage nach der methodisch richtigen Entwicklung der menschlichen Erkenntnis aus der Sicht der Evolutionstheorie gestellt. Diese Fragestellung ist Thema einer evolutionären Wissenschaftsmethodik. a) Die Evolutionäre Erkenntnistheorie
Zunächst erscheint es etwas verwunderlich, daß sich die Evolutionsbiologie mit Fragen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auseinandersetzt. Es handelt sich hierbei eigentlich um das angestammte Gebiet der philosophischen Erkenntnistheorie. Im Gegensatz zur philosophischen Erkenntnistheorie beleuchtet die Evolutionäre Erkenntnistheorie das Phänomen der menschlichen Erkenntnis jedoch aus einer evolutionstheoretischen Perspektive. Da es sich bei der Evolutionsbiologie um eine empirisch fundierte Naturwissenschaft handelt, bewahrt sie sich auch den Anspruch, die menschliche Erkenntnisflihigkeit mittels einer empirisch prüfbaren Theorie zu erklären. Damit steht sie im Gegensatz zu den klassischen, philosophischen und damit nichtempirischen Erkenntnistheorien. Inhaltlich untersucht die philosophische Erkenntnistheorie, "... was Erkenntnis ist ... ". Zusätzlich geht es um die Klärung " ... der normativen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Sinne ihrer GÜltigkeit".8 1
81 Beide Zitate: Engels, 1987, S. 235.
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Ganz anders die Evolutionäre Erkenntnistheorie: Lorenz, der Begründer der Evolutionären Erkenntnistheorie, beschreibt das Ziel, das er mit seinem Buch "Die Rückseite des Spiegels" verfolgt, im Aufriß der AufgabensteIlung folgendermaßen: "Sie (Lorenz' Untersuchung: der Verfasser) muß versuchen, eine auf biologischer und stammesgeschichtlicher Kenntnis des Menschen begründete Erkenntnistheorie zu formulieren und gleichzeitig damit ein dieser Erkenntnistheorie entsprechendes Bild des Menschen zu entwerfen. Dies bedeutet den Versuch, den menschlichen Geist zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Betrachtung zu machen ... ",82 Damit ist der zentrale Anspruch der Evolutionären Erkenntnistheorie nach Lorenz klar: Ihm geht es primär um eine biologische Erklärung der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis. Allerdings ergeben sich aus der evolutionären Perspektive manche Überschneidungen zu den Fragestellungen der klassischen Philosophie und aus der Sicht der Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie damit verbunden, auch Antworten auf Fragen, die bislang von der klassischen Erkenntnistheorie nicht befriedigend lösbar waren,83 Vollmer schreibt der Evolutionären Erkenntnistheorie sogar die Funktion einer interdisziplinären Metatheorie zu, deren Schwerpunkte auf erkenntnistheoretischen und philosophischen Fragestellungen liegen und deshalb weit über eine Biologie der Erkenntnis hinausgehen,84 Dies wird allerdings von einer Reihe von hauptsächlich philosophisch orientierten Autoren nicht so gesehen. Auch Lorenz und Riedl betonen eher den biologischen Erklärungsaspekt der menschlichen Erkenntnis. Im Rahmen dieser Untersuchung sollen weniger die Aussagen der Evolutionären Erkenntnistheorie in den Mittelpunkt gerückt werden, die sich mit den erkenntnistheoretischen Fragen der klassischen Philosophie beschäftigen. Für diese Untersuchung ist eher von Interesse, welche Schlüsse die biologische Evolutionslehre in bezug auf die Ausgestaltung der menschlichen Erkenntnisflihigkeit nahe legt. Aus der Sicht der strategischen Steuerung stellt sich eben eher die Frage, mit welchen evolutionär entstandenen Besonderheiten der menschlichen Erkenntnis bei der Bewältigung der strategischen Probleme zu rechnen ist, als beispielsweise die Frage nach dem philosophischen Wahrheitsbegriff. Dies ist auch der Grund, wieso der Überschneidungsbereich der Evolutionären Erkenntnistheorie mit der klassischen Philosophie und die sich dort abspielende Kontroverse zwischen den beiden Wissenschaftsbereichen hier nicht
82 Lorenz, 1973, S. 13. 83 Vgl. Riedl, 1985, S. 80. 84 Vgl. Vollmer, 1985, S. 291.
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aufgegriffen wird.8 5 Einzig im Rahmen der Grundlegung der Evolutionären Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz werden die philosophischen Punkte der Evolutionären Erkenntnistheorie kurz berührt. Ausgangspunkt der Evolutionären Erkenntnistheorie ist die Sichtweise des Evolutionsprozesses als erkenntnisgewinnender Prozeß. Zugrunde liegt die Vorstellung, daß die besondere Versuchs-Irrtums-Methodik des Evolutionsprozesses eigentlich ein Lernalgorithmus ist. Aufgezeigt werden kann dies an der Sicherung des Überlebenserfolges einer Art. Je besser die Lebensprobleme einer Art durch die Evolution bereits im Vorfeld antizipiert werden, desto größer ist der Überlebenserfolg. 86 Entscheidend ist somit eine möglichst richtige Prognose in bezug auf die Lebensprobleme. Die Prognosefiihigkeiten können jedoch nur durch zusätzlich erworbene Erkenntnisse über die reale Welt erhöht werden. Dieser Erkenntniserwerb kann selbst wiederum nur über die versuchsweise Aufstellung von Prognosen und ihre anschließende Überprüfung an den Erfahrungen mit der realen Welt verlaufen. Die so gewonnenen überlebensrelevanten Erfahrungen werden im System adaptiert und erhöhen damit die zukünftige Prognosefiihigkeit des Systems. Diese Adaptierung stellt offensichtlich nichts anderes dar, als den Versuch, die Gesetzmäßigkeiten der realen Welt im System zu "vereinnahmen", um die zukünftige Prognostik so erfolgreich wie möglich zu gestalten. So gesehen handelt es sich beim Evolutionsprozeß um einen Lernprozeß, der dazu fuhrt, daß mit jeder Evolutionsstufe gleichzeitig neue Erkenntnisse über die reale Welt in das System integriert werden. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie geht davon aus, daß sich auch die Entstehung der menschlichen Erkenntnisfiihigkeit über diesen Lernalgorithmus des Evolutionsprozesses erklären läßt. aa) Die Grundlegung der Evolutionären Erkenntnistheorie durch Lorenz Die ersten Aussagen zur evolutionären Erkenntnistheorie wurden von Konrad Lorenz bereits in einem Aufsatz 1941 veröffentlicht. 87 Dieser Anstoß fand allerdings bis zur Veröffentlichung seines Buches: "Die Rückseite des Spiegels" wenig Beachtung.8 8 Dieser Aufsatz und vor allem das erwähnte Buch enthalten seine wesentlichen Kernpunkte zur biologischen Erklärung der Er85 Einen Einstieg in dieses Thema findet man über Florey, 1991, S. 123/ Irrgang, 1990, S. 93 ff./ Löw, 1983, S. 331 ff./ Nagl-Docekal, 1990, S. 69 ff./ Pöltner, 1993, S. 63 ff./ Wolters, 1991, S. 146 ff./ einen weiteren Überblick über die Kritik an der Evolutionären Erkenntnistheorie und Erwiderungen zu dieser Kritik findet der interessierte Leser bei Vollmer, 1985, S. 268 ff. 86 Vgl. Riedl, 1987a, S. 47. 87 Vgl. Lorenz, 1977, S. 162 ff. 88 Vgl. Lorenz, 1973.
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kenntnis. Diese zentralen Thesen können bis heute als die Grundaussagen der Evolutionären Erkenntnistheorie angesehen werden. Deshalb werden diese Thesen im folgenden kurz dargestellt: 89 •
Evolution als Erkenntnisprozeß Im Rahmen des Evolutionsprozesses werden Informationen über die Außenwelt gesammelt und über den Selektionsmechanismus als genetische Information an den Organismus weitergegeben. Anpassung an das jeweilige Selektionsmilieu stellt somit einen Wissenserwerb dar. 90
•
Apriorische Denkformen des Individuums sind aposteriori durch die Stammesgeschichte festgelegt Im Gegensatz zu Kants Vorstellung der apriorischen Denkformen, die unabhängig von jeder Erfahrung vorhanden sein sollen und die die Voraussetzung für jegliche Erkenntnis bilden, geht Lorenz davon aus, daß diese Denkformen im Verlauf der Stammesgeschichte in einem evolutionären Anpassungsprozeß an die real existierenden Strukturen entstanden sind. Damit stellen die von einem Individuum als apriorisch empfundene Denkformen im Grunde die Erfahrungen dar, die durch Mutation und Selektion im Laufe der Stammesgeschichte aposteriori genetisch fixiert wurden. So verstanden haben die Denkformen wie alle anderen im Laufe der Evolution ausgebildeten Organe eine bestimmte Funktion bezüglich des Überlebens und sind somit auch der naturwissenschaftlichen Untersuchung zugänglich. 91
•
Hypothetischer Realismus Dem hypothetischen Realismus liegt die Vorstellung zugrunde, "... daß alle Erkenntnis auf Wechselwirkung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt beruht, die beide gleichermaßen wirklich sind. ".92 Lorenz geht davon aus, daß eine reale Welt existiert und daß die "Dinge an sich" erkennbar sind. 93 Damit spiegeln die evolutionär ausgebildeten apriorischen Denkstrukturen die real existierenden Strukturen wider. Eine vollständige Übereinstimmung von Erkenntnis und Realität ist jedoch nicht vorhanden. Vielmehr nähert sich das Denken asymptotisch der Realität. Damit ist klar, daß jede Erkenntnis immer nur hypothetisch ist.
89 Vgl. Lorenz, 1973 und 1977. 90 Vgl. Lorenz, 1973, S. 37. 91 Vgl. Lorenz, 1977, S. 166. 92 Lorenz, 1973, S. 25. 93 Vgl. Lorenz, 1973, S. 16.
II. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
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Erkenntnis ist jedoch eine Abbildung oder Spiegelung der Wirklichkeit. Zur Abbildung der äußeren Wirklichkeit als Modell in der Erkenntnisstruktur kommt es durch die Auseinandersetzung von real vorhandener Denkstruktur mit real vorhandenen Umweltstrukturen in einem sich wechselseitig erhellenden Prozeß. Deshalb bringt die Betrachtung beider Seiten, sowohl der realen Welt als auch der Denkstrukturen - ebenfalls ein Bestandteil der realen Welt - ein ähnliches Ergebnis hervor. Es kann davon ausgegangen werden, daß es sich bei diesem Ergebnis um ein realistisches Abbild der existierenden Realität handelt, da nur jene Organismen überleben, deren Erkenntnisstrukturen mit den zugrundeliegenden Naturordnungen übereinstimmen. 94 Da der Erkenntnisapparat samt den Gesetzmäßigkeiten seiner Innenvorgänge in Anpassung an die realen Strukturen der Welt entstanden ist, sind nun umgekehrt Rückschlüsse aus diesen Gesetzmäßigkeiten auf die Gesetzmäßigkeiten der äußeren Wirklichkeit möglich. 95 Die Erkenntnis des "Realen an sich" ist jedoch nie möglich. Insofern ist auch nicht sicher, daß es eine reale äußere Wirklichkeit und reale Erkenntnisstrukturen gibt. Sowohl die Existenz der erworbenen Denkformen als auch die Existenz einer realen Außenwelt können hierbei jedoch als gut bewährte Arbeitshypothesen angesehen werden. 96 •
Hypothesen sind Gestalten Lorenz geht davon aus, daß die apriorischen Denkformen durch die Gesetze der Gestaltwahrnehmung geprägt sind. Unter einer Gestaltwahrnehmung wird eine gesamthafte, aber abstrahierte Sichtweise von Beobachtungsphänomenen verstanden, die sich noch im vorbewußten Bereich abspielt. Im Rahmen dieses Abstraktionsvorganges werden die, für die Erkenntnis wichtigen von den unwichtigen Merkmalen des zu erkennenden Beobachtungsphänomens getrennt. Erkannt werden dann nicht mehr die Beobachtungsphänomene in allen Einzelteilen, sondern in Form eines Musters, das die wesentlichen Merkmale repräsentiert. "Das Vermögen, Essentielles vom Akzidentiellen zu trennen, beruht auf Sinnes- und Nervenvorgängen, die unserer Selbstbeobachtung und rationellen Kontrolle unzugänglich sind, aber funktionell vernunftmäßigen Berechnungen und Schlüssen durchaus gleichen. Man nennt derartige unbewußte Verrechnungsvorgänge mit Egon Brunswik ratiomorph. ".97 Mit der Verankerung dieser Gesetze der Gestaltwahrnehmung in den apriorischen Denkformen werden sie nach Lorenz zu-
94 Vgl. Lorenz, 1973, S. 17. 95 Vgl. Lorenz, 1973, S. 16. 96 Vgl. Lorenz, 1973, S. 22 f. 97 Lorenz, 1973, S. 216, die Hervorhebung wurde vom Verfasser übernommen.
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gleich zu einem wesentlichen Bestandteil des rationalen Erkennens und damit auch zu einer legitimen Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis. •
Entstehung neuer Evolutionsebenen durch Fulguration Mit Fulguration benennt Lorenz das Emergenzphänomen der Systemtheorie. Er geht davon aus, daß sich im Rahmen der Evolution durch die zufällige Kombination von Subsystemen auf einer neuen Evolutionsstufe ein neues Gesamtsystem gebildet hat, dessen gesamthafte Systemeigenschaften nicht allein aus der Summe der Systemeigenschaften der Subsysteme erklärbar sind. 98 bb) Die inhaltliche Ausweitung der Evolutionären Erkenntnistheorie durch Riedl und Vollmer
Riedls Weg zur Evolutionären Erkenntnistheorie verläuft zunächst unabhängig von Konrad Lorenz. Ausgangspunkt fur Riedl ist die von ihm entwickelte Systemtheorie der Evolution. Riedl stellt fest, daß die vier Ordnungsmuster der Evolution, die er auf der Basis von wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen identifiziert hatte, nämlich Normen, Interdependenzen, Hierarchien und Tradierungen ebenso Ordnungsmuster des menschlichen Denkens sind. Damit ist klar, daß die Ordnungsmuster des Denkens von den bereits vorher vorhandenen Ordnungsmustem der physischen Evolution abgeleitet sind. 99 Die Denkordnung ist ein Selektionsprodukt der älteren Naturordnung. 100 Damit läßt sich die menschliche Erkenntnisfähigkeit aber unmittelbar auf die evolutionäre Ausstattung des Menschen beziehen. Es ist davon auszugehen, daß alle Schichten der menschlichen Erkenntnisfähigkeit aufeinander aufbauen. Das Bewußte baut auf dem Ratiomorphen auf, dieses auf 'Wissen' der Instinkte, der Schaltungen, der Reflexe, Regulative sowie auf allen lebenserhaltenden Funktionen und Strukturen. 101 Die menschliche Erkenntnisfähigkeit wäre demnach exakt nach den gleichen Prinzipien aufgebaut, wie alle evolutionären Strukturen. Ebenso wie Lorenz kommt Riedl somit zu dem Schluß, daß sich die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis biologisch erklären lassen. Riedl geht mit Lorenz davon aus, daß sich im Laufe der Evolutionsgeschichte der menschlichen Vernunft ein "ratiomorpher Apparat" gebildet hat. Er beschreibt in seinem Buch "Die Biologie der Erkenntnis", wie sich die Ord-
98 Vgl. Lorenz, 1973, S. 48. 99 Vgl. Riedl, 1988, S. 136. 100 Vgl. Riedl, 1980, S. 13. 101 Vgl. Riedl, 1985 S. 246.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
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nungsmuster der Evolution als Bestandteile des vorbewußten, ratiomorphen Apparates erweisen. 102 Demnach stellt sich der ratiomorphe Apparat als eine vorbewußte Erkenntnis- und Entscheidungshilfe dar, der sich unter dem Zwang der Anpassung an die Welt entwickelte.103 Das Denken wird somit durch eine Reihe von evolutionär entstandenen vorbewußten Voraus-Urteilen gelenkt, die sich im Laufe der Evolution in Anpassung an die reale Welt als überlebensadäquat herauskristallisiert haben. 104 Bestandteil dieses ratiomorphen Apparates sind vier empirisch ermittelte Erkenntnismechanismen, "... deren Auflage es ist, den Organismen erfolgreiche Programme zur Entscheidungsfindung gegenüber immer komplexeren Zuständen und Ereignissen in ihrer Umwelt zu applizieren.".105 Riedl formuliert vier Hypothesen, die er als angeborenes "Voraus-Urteil" der menschlichen Erkenntnisgewinnung und Vernunft ansieht: I 06 •
Die Hypothese vom anscheinend Wahren Diese Hypothese baut darauf auf, daß sich bestimmte Ordnungsformen in dieser Welt immer wiederholen. "Es geht darum, das Notwendige vom Zufälligen und innerhalb des Notwendigen aus der Ordnung dieser Welt das sich wiederholend Allgemeine, die Gesetzlichkeit, den Begriff, die Diagnose zu abstrahieren. Die Kenntnis des Gesetzes enthält den lebenserhaltenden Wissenserwerb; seine Wiederholung gestattet das Erreichen von Gewißheit. ".107 Deshalb greift vorrational die Erwartung, daß mit der Bestätigung einer Prognose auch das Zutreffen aller Folgeprognosen immer wahrscheinlicher werde. 108 Hierin liegt auch die vorrationale Grundlage für die induktive Vorgehensweise des Menschen bei der Erweiterung seines Kenntnisgewinnes.
•
Die Hypothese vom Ver-Gleichbaren Die vorbewußte menschliche Wahrnehmung neigt zum "Gleichmachen von Ungleichem".1 09 Dies stellt vor dem Hintergrund einer in der Realität vorhandenen Individualität eines jeglichen Lebewesens oder Gegenstandes eine Überlebensnotwendigkeit dar. In einer Welt, in der jedes Ding als ein
102 Vgl. Riedl, 1980. 103 Vgl. Riedl, 1980, S. 35 f. 104 Vgl. Riedl, 1980, S. 35. 105 Riedl, 1980, S. 12. 106 Vgl. Riedl, 1980, S. 38 ff. 107 Riedl, 1980, S. 65. 108 Vgl. Riedl, 1987b, S. 121. 109 Riedl, 1980, S. 81.
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spezifisches, nur einmal vorhandenes Phänomen betrachtet werden müßte, wäre aufgrund des damit verbundenen Informationsüberflusses und der begrenzten menschlichen Informationsverarbeitungskapazitäten ein Zurechtfinden nicht möglich. "Das Allgemeine, Gleiche, mußte also zwangsläufig gebildet werden.".1 10 Ergebnis dieses Zwanges ist die abstrahierende menschliche Gestaltwahrnehmung. "Die Hypothese vom Ver-Gleichbaren enthält die Erwartung, daß das Ungleiche in der Wahrnehmung der Dinge ausgeglichen werden dürfe, und daß sich ähnliche Sachen, obwohl sie offenbar nicht dasselbe sind, auch in manchen noch nicht wahrgenommenen Eigenschaften als vergleichbar erweisen würden: sie läßt erwarten, daß Ähnliches die Voraussicht über weitere Ähnlichkeiten zuließe." .111 •
Die Hypothese von der Ur-Sache Diese Hypothese macht eine Aussage zu der menschlichen Voraussetzungen, kausal zu denken. "Die Hypothese von der Ursache enthält die Erwartung, daß ähnliche Ereignisse oder Zustände dieselbe Ursache haben und dieselbe Wirkung tun werden.". I 12 Mit anderen Worten gesagt: Dieser Bestandteil unseres vorrationalen ratiomorphen Apparates läßt uns bei der Betrachtung eines jeden Phänomens zunächst daran denken, daß jedes Phänomen das Ergebnis einer Ursache-Wirkungs-Kette sein muß. Die Erklärung des Phänomens erfolgt dann durch die Rückverfolgung dieser UrsacheWirkungs-Kette bis hin zur "Ur-Sache".1 13
•
Die Hypothese vom Zweckvollen Riedl geht davon aus, daß es sich bei diesem Erkenntnismechanismus um den stammesgeschichtlich jüngsten Mechanismus handelt, da sein Funktionieren bereits die Nähe zur bewußten Reflexion voraussetzt. Diese Hypothese "... enthält die Erwartung, daß die Funktionen ähnlicher Systeme als Subfunktionen desselben Obersystems verstanden werden dürfen. Wir können auch sagen: daß gleiche Strukturen demselben Zweck entsprechen oder genügen werden.". I 14 Der Mensch wird somit immer zunächst nach dem Sinn oder Zweck eines betrachteten Phänomens fragen.
Riedl geht davon aus, daß es sich bei den vier Erkenntnismechanismen um eine Stufenhierarchie in der hier vorgestellten Reihenfolge handelt, bei der das Funktionieren eines nachgelagerten Mechanismus vom Funktionieren der vor-
°
11 Riedl, 111 Riedl, 112 Riedl, 113 Riedl, 114 Riedl,
1980, 1980, 1980, 1980, 1980,
S. S. S. S. S.
82. 93. 130. 130. 159.
11. Beschreibung ausgewählter evolutionsbiologischer Erkenntnisse
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gelagerten Mechanismen abhängig ist. 115 Der ratiomorphe Apparat verfolgt unbewußt eine Vorgehensweise des Wissensgewinnes, die bereits der gesamten Evolution erfolgreich zugrunde liegt. Wichtig für die Erklärung der Erkenntnis ist der Umstand, daß der ratiomorphe Apparat angeboren wird, also bereits vor jeder individuellen Erfahrung eines Menschen vorhanden ist, und daß "... er durchaus vernunftsähnlich im Vorbewußten operiert, aber nichts mit rationaler Vernunft zu tun hat, ja von dieser nicht einmal in seinen Fehlern korrigiert werden kann." .116 Damit wird deutlich, daß diese wechselseitig verknüpften Erkenntnismechanismen bereits mit auf die menschliche Entscheidungsfindung einwirken, bevor es überhaupt zu bewußten, kritischen Reflexionen kommt und somit eine wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins ist. 117 Der vorrationale Verrechnungsapparat ist zwar der rationalen Wahrnehmung entzogen, bestimmt und steuert jedoch ständig unsere rationale Vernunft mit. 118 Der ratiomorphe Apparat und seine Hypothesen wurden unter bestimmten Selektions- oder Milieubedingungen entwickelt. Damit ist die selektive Bewährung auch an diese Selektionsbedingungen geknüpft unter denen er entstanden ist. Dieser Vorteil des selektierten Apparates kann in einen Nachteil umschlagen, wenn sich die Selektionsbedingungen ändern. In diesem Fall werden ursprüngliche Selektionsvorteile zu Selektionsnachteilen. "Die Macht des Vorurteils innerhalb des Selektionsbereiches hat außerhalb desselben seine Ohnmacht zur Folge". I 19 Da die Entwicklung des ratiomorphen Apparates unter Selektionsbedingungen erfolgte, die in einem frühen Stadium der menschlichen Entwicklung relevant waren, mit den heutigen Milieubedingungen aber nicht mehr in Übereinstimmung sind, muß davon ausgegangen werden, daß es teilweise zu falschen Kanalisationsleistungen im vorbewußten Bereich kommt, die zu Erkenntnisschwierigkeiten durch verkürzte Deutungen führen: 120 •
Der ratiomorphe Apparat macht glauben, daß die Ursachen in linearen Ursachen-Wirkungsketten zu beschreiben sind. Gleichzeitig suggeriert er, daß die Zwecke aus der Zukunft wirken. Rekursiven Regelkreisen wird mißtraut. 121
115 Vgl. Riedl, 1980, S. 148. 116 Riedl, 1980, S. 35. 117 Vgl. Riedl, 1984, S. 222 f. 118 Vgl. Riedl, 1980, S. 35. 119 Riedl, 1984, S. 237. 120 V gl. Riedl, 1984, S. 232 ff./ Vollmer, 1985, S. 162. 121 Vgl. Riedl, 1985a, S. 137. 13 Scheurer
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Aufgrund der Vorstellung einer linearen Ursachen-Wirkungskette wird ein Ort absoluter Gewißheit in Fonn von letzten Ursachen und letzten Zwecken gesucht. 122
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Aus der Vorstellung von linearen Ursache-Wirkungsketten ergibt sich wiederum die Vorstellung, daß geplante Eingriffe kanalisierbar seien.
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Bereits einmal getroffene Entscheidungen werden immer wieder wiederholt und an statt als "Vorurteile" als neue Entscheidungen angesehen.
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Es besteht eine starke Tendenz zur Umdeutung von reinen Zufälligkeiten in Gesetzmäßigkeiten.
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Es besteht die Vorstellung, daß aus allen möglichen Lösungen eines Problems die einfachste Lösung die richtige Lösung sei. 123
Es ist grundsätzlich davon auszugehen, daß jeder bewußt gemachte Problemlösungsvorschlag immer zunächst auf der Basis dieser verkürzten Deutungen erstellt und somit zunächst von dem kohärenten System dieser angeborenen Hypothesen eingeschränkt wird. Es kann weiter davon ausgegangen werden, daß diese vereinfachten Deutungen für die Lösung einer Menge von AIItagsproblemen ausreichen. Bewußte Vorgehensweisen werden erst dann zum Einsatz gebracht, wenn die vorbewußte Infonnationsverarbeitung mit der Lösung komplexer Problem überfordert ist. 124 Genau in diesem Fall werden die vereinfachten, aber überlebensadäquaten Deutungen, die der ratiomorphe Apparat von der realen Welt liefert, in der Verbindung mit deren Interpolation durch das Bewußtsein zu einem echten Erkenntnisproblem. Die Evolutionsmechanismen, Versuch und Irrtum oder übertragen auf den Evolutionsprozeß als Lernprozeß, Erwartungsbildung und Kontrolle an der Realität bleiben zwar im Prinzip dieselben. Ihre Wirkungsweisen ändern sich jedoch im Bereich der kulturellen Evolution, die mit der Entwicklung der Sprache an der Schwelle zum menschlichen Bewußtsein einhergeht. Einerseits wird durch die Sprache die gemachte Erfahrung direkt weitergebbar und sorgt so für eine enonn beschleunigte evolutionäre Entwicklung, andererseits kann mit der Entwicklung des Bewußtseins die Bildung von neuen Erwartungen aufgrund der bereits gemachten Erfahrungen, die zum Teil auch in den Deutungen des ratiomorphen Apparates verankert sind, jetzt durch bewußte Reflexion vollständig im Inneren ablaufen. Durch die gezielte und bewußte Abrufbarkeit aller gemachten Erfahrungen besteht praktisch eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten diese Erfahrungen miteinander zu kombinieren. Mit dieser neu ge-
122 Vgl. Riedl. 1985a, S. 137. 123 Vgl. Riedl, 1985a, S. 97. 124 Vgl. Riedl, 1992, S. 84.
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wonnen Fähigkeit können die Korrespondenzen mit der Außenwelt ausgeweitet werden; es kann jedoch auch zur Vorstellung des Unmöglichen und Absurden führen.125 In jedem Fall kommt es jedoch durch die vorbewußten vereinfachten Deutungen des ratiomorphen Apparates zu einer Verkürzungen in den Vorstellungsmöglichkeiten. Dies drückt sich so aus, daß immer regelhafte, deterministische, hinweis- und funktionsabhängige lineare Lösungen angestrebt werden.1 26 Dies bringt Riedl mit der in Abbildung 25 dargestellten Grafik zum Ausdruck: 127
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