Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung: Rechtsstaatliche und demokratische Grundlagen sowie Anforderungen einer Kennzeichnungspflicht in Art. 72 Abs. 3 GG [1 ed.] 9783428551255, 9783428151257

Die 2006 neu in das Grundgesetz aufgenommene Kompetenzart der Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG sieht auf Rec

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Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung: Rechtsstaatliche und demokratische Grundlagen sowie Anforderungen einer Kennzeichnungspflicht in Art. 72 Abs. 3 GG [1 ed.]
 9783428551255, 9783428151257

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1345

Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung Rechtsstaatliche und demokratische Grundlagen sowie Anforderungen einer Kennzeichnungspflicht in Art. 72 Abs. 3 GG

Von

Enikö Zsinka

Duncker & Humblot · Berlin

ENIKÖ ZSINKA

Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1345

Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung Rechtsstaatliche und demokratische Grundlagen sowie Anforderungen einer Kennzeichnungspflicht in Art. 72 Abs. 3 GG

Von

Enikö Zsinka

Duncker & Humblot · Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahr 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15125-7 (Print) ISBN 978-3-428-55125-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85125-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit entstand während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht von Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute. Sie wurde im Sommersemester 2016 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie zuletzt im Oktober 2016 im Wesentlichen aktualisiert. Ich danke Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute für die inhaltliche Freiheit bei der Wahl des Promotionsthemas sowie für die konstruktive und kritische Begleitung meiner Arbeit. Insbesondere für seine stetige Diskussionsbereitschaft sei ihm herzlich gedankt. Prof. Dr. Stefan Oeter danke ich für die zeitnahe Erstellung des hilfreichen Zweitvotums. Dem Bundesministerium des Innern bin ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu Dank verpflichtet.

Enikö Zsinka

Inhaltsübersicht Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Gang und Vorgehensweise der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kapitel 1

Der deutsche Föderalismus und die Entstehung der Abweichungsgesetzgebung 

26

A. Der deutsche Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens und seine Umsetzung im Reformprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Kapitel 2

Das materielle Abweichungsrecht nach Art. 72 Abs. 3 GG und seine verfassungsrechtliche Ausgestaltung 

85

A. Konkurrierende Gesetzgebungskompetenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 B. Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Kapitel 3

Ausdrückliche Zitiergebote im Grundgesetz und im Recht der Europäischen Union 

112

A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Die Bezeichnung der Ermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG . . . . . . . . 136 C. Zitiergebot bei der Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Union  . 156 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

8 Inhaltsübersicht Kapitel 4

Aspekte der Rechtsstaatlichkeit 

161

A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht bei der Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 C. Folgerung eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 E. Konkrete Ausgestaltung eines Zitiergebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Kapitel 5

Aspekte der Demokratie  

260

A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie als Staats- und Regierungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 B. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Kapitel 6

Konsequenzen eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung 

282

A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 B. Abweichungswille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 C. Prozessuale Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 D. Hinreichende Sanktionswirkung der Unanwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Gang und Vorgehensweise der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kapitel 1

Der deutsche Föderalismus und die Entstehung der Abweichungsgesetzgebung 

26

A. Der deutsche Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Idee des Föderalismus im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1. Begriffsklärung: Föderalimus und Bundesstaat  . . . . . . . . . . . . . . . 28 a) Bundesverfassungsgericht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 b) Allgemeine Staatslehre   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 c) Besondere Staatsrechtslehre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Entwicklungsstufen des deutschen Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Separativer Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Unitarischer Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Kooperativer Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Reföderalisierter Bundesstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 5. Erschütterter Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 6. Kompetitiver Föderalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 7. Entstehung und Bedeutung der verfolgten Leitbilder  . . . . . . . . . . 44 a) Entstehung föderalistischer Leitbilder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 b) Bedeutung föderalistischer Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 c) Steuerungswirkung der Leitbilder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 d) Dogmatische Figuren als Kristallisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 III. Ziele der Föderalismusreform  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Neuaustarierung der föderalen Elemente  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Klare Verantwortlichkeiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2. Ungeschriebenes Ziel: Rationale Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

10 Inhaltsverzeichnis B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens und seine Umsetzung im Reformprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Früher historischer Hintergrund des „Zugriffsgedankens“  . . . . . . . . . 60 1. Erwägungen hinsichtlich einer „subsidiären Bundesgesetzgebung“ für die Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Die Überlegungen Hans Dichgans’ zu einer umfassenden Revision der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Vorschlag eines „Rückholverfahrens“ für die Länder nach Lenz . . 63 4. Heinsens Sondervotum zum Schlussbericht der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II. Der „Zugriffsgedanke“ innerhalb der Reformbemühungen der Landesparlamente in den 1980er Jahren bis zur Jahrtausendwende  . . . . . . . 66 III. Aufleben des „Zugriffsgedankens“ seit dem Jahr 2000 . . . . . . . . . . . . 69 1. Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“ 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Reformvorschlag der Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3. Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente 2003 . . . . . . 71 IV. Der „Zugriffsgedanke“ in der Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Vorschlag der Länder – umgekehrt konkurrierende Gesetzgebung   . 73 2. Vorschlag Steenblock – verfassungsrechtlich verankerte Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Vorschlag Stünker-Röttgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 V. Weitere Entwicklung nach dem Scheitern der Kommission . . . . . . . . 77 VI. Aufnahme des Reformvorhabens in den Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD 2005   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 VII. In der Föderalismuskommission diskutierte Zitiergebote  . . . . . . . . . . 80 VIII. Grundgesetzänderung mit Wirkung zum 1. September 2006 . . . . . . . 82 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Kapitel 2

Das materielle Abweichungsrecht nach Art. 72 Abs. 3 GG und seine verfassungsrechtliche Ausgestaltung 

85

A. Konkurrierende Gesetzgebungskompetenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 B. Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 I. Inhaltliche Abmessungen der neuen Gesetzgebungskategorie  . . . . . . 90 1. Normqualität der abweichenden Norm  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. „Abweichende“ Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 a) Negativgesetzgebung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Inhaltsgleiche Landesgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

Inhaltsverzeichnis11 c) Abweichungsrecht und absichtsvoller Regelungsverzicht des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Wirkungen der neuen Gesetzgebungskategorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Art. 72 Abs. 3 GG als lex specialis zu Art. 72 Abs. 1 GG . . . . . . . 98 2. Ermessensentscheidung der Länder und des Bundes . . . . . . . . . . . 99 3. Abweichungsfeste Kerne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4. Die sog. „lex posterior-Regel“ des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG  . . . . . 103 a) Kollisionsvermeidungs- oder Kollisionsentscheidungsnorm  . . . 103 b) Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als lex specialis zu Art. 31 GG . . . . . . . 107 c) Die Einordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG und die Rolle eines Zitiergebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Kapitel 3 A. Die S. 2 I. II.

Ausdrückliche Zitiergebote im Grundgesetz und im Recht der Europäischen Union 

112

Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts nach Art. 19 Abs. 1 GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Geschichtlicher Hintergrund des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . 116 Funktionen des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Warn- und Besinnungsfunktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Klarstellungs-, Hinweis- und Informationsfunktion  . . . . . . . . . . . . 119 3. Anforderungen an die Art der Grundrechtsnennung . . . . . . . . . . . . 121 a) Der Ort und die Form der Grundrechtsnennung . . . . . . . . . . . . 121 aa) Einzelzitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 bb) Artikelnummer oder Inhaltsangabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 b) Änderungsgesetz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . 129 a) Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Materielle Bedeutung des Zitiergebots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 c) Dogmatische Konsequenzen des Verstoßes gegen das Zitier­ gebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

B. Die Bezeichnung der Ermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG . . . . . . . . 136 I. Geschichtlicher Hintergrund des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG . . . . . . . . . . 138 II. Funktionen des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Qualifikationshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 2. Kontrollfunktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Rechtsschutzfunktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III. Anforderungen an die Angabe der Rechtsgrundlage  . . . . . . . . . . . . . 144 1. Zitierdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

12 Inhaltsverzeichnis 2. Amtliche Fundstelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Mehrere Rechtsgrundlagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Der Ort des Zitats in der Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5. Sammelverordnungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 IV. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG . . . . . . . . 154 C. Zitiergebot bei der Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Union  . 156 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Kapitel 4

Aspekte der Rechtsstaatlichkeit 

161

A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 I. Bestimmtheit und Normklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 1. Gemeinsamkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 3. Elemente des Klarheitsgrundsatzes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Verständlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Widerspruchsfreiheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Systemgerechtigkeit als Widerspruchsfreiheit der Gesamtrechtsordnung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 d) Übersichtlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 aa) Der Grundsatz der Übersichtlichkeit in ausgewählten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 172 (1) Entscheidung zu den Apothekenstoppgesetzen . . . . . . 173 (2) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (3) Entscheidung zur Anrechnung des Kindergeldes auf Unterhaltszahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (5) Präventivüberwachung durch das Zollkriminalamt . . . 177 (6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb) Gebot der Übersichtlichkeit als Komplexitätskontrolle . . . 179 (1) Parameter normativer Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . 179 (2) Effekte normativer Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 cc) Adressatenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht bei der Abweichungsgesetz­ gebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 I. Entstehung einer Gemengelage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 II. Rechtsunsicherheit auf Grund der Gemengelage . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Maßstab für die Beurteilung normativer Komplexität . . . . . . . . . . 197 2. Überschreitung der Grenze verfassungsrechtlich zulässiger normativer Komplexität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Inhaltsverzeichnis13 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 4. Transaktionskosten überregional agierender Unternehmen . . . . . . . 201 III. Gemengelagen schon zu Zeiten der früheren Rahmen- und konkurrierenden Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Konkurrierende Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Rahmengesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3. Vorteil der Abweichungsgesetzgebung gegenüber früherem Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 C. Folgerung eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 I. Zitiergebot für Landes- und Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Offenlegung der gezielten Betätigung des Abweichungsrechts . . . 213 2. „Einfärbung“ des Art. 72 Abs. 1 GG mit den Vorgaben des Art. 72 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Entwirrung sich überlappender Rechtsschichten . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Zitierung abweichungsfester Kerne im Bundesrecht?  . . . . . . . . . . 216 II. Funktionen des Zitiergebots  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Besinnungs- und Offenlegungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 2. Warnfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3. Informations- und Rechtsschutzfunktion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot für die Abweichungs­ gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 I. Zitiergebot nur für bereits bestehende Gemengelagen? . . . . . . . . . . . . 221 II. Zitiergebot nur für bestimmte Kompetenztitel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 III. Transparenz durch Notifikation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 IV. Kompensation durch Dokumentation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Veröffentlichung der Abweichung im Bundesgesetzblatt . . . . . . . . 227 2. Hinweis auf abweichendes Recht in juristischen Datenbanken etwa bei „juris“ und „beck-online“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Bundesrechtsdatenbank im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 V. Problem der nachträglichen Veränderung von Bundes- oder Landesnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 VI. Vertikale Kooperation im bundesstaatlichen Gefüge . . . . . . . . . . . . . . 233 VII. Horizontale Kooperationsformen zwischen den Ländern  . . . . . . . . . . 234 VIII. Bundestreue als Grenze der Abweichungsgesetzgebung? . . . . . . . . . . 237 IX. Synopsen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 X. Mehr Unklarheit durch ein Zitiergebot?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 XI. Gefahr der Überforderung des Gesetzgebers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 XII. Einschränkung der Gesetzgebungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 XIII. Problem der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

14 Inhaltsverzeichnis E. Konkrete Ausgestaltung eines Zitiergebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Ort der Zitierung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 II. Sammelzitate und salvatorische Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 III. Zitierdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 IV. Angabe der amtlichen Fundstelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 V. Entstehungdaten einzelner Vorschriften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 VI. Zitierung durch den Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Kapitel 5

Aspekte der Demokratie  

260

A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie als Staats- und Regierungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 I. Demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 1. Demokratische Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Verantwortungsklarheit durch das parlamentarische Gesetz . . . 268 b) Mangel an demokratischer Verantwortungsklarheit bei der Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . 268 2. Ungeschriebenes Zitiergebot als Kompensation für den Mangel an demokratischer Verantwortungsklarheit bei der Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 II. Demokratische Repräsentation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Vorgang demokratischer Repräsentation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 2. Gefährdung demokratischer Repräsentation durch das Defizit an eigener Urteilsbildung und Überschaubarkeit politischer Entscheidungsfragen bei den Repräsentanten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3. Ungeschriebenes Zitiergebot als Kompensation für die Gefährdung demokratischer Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 B. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Kapitel 6

Konsequenzen eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung 

282

A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 I. Das hergebrachte Nichtigkeitsdogma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 III. Abkehr von der Nichtigkeit bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Verfassungsrechtlich verankerte Abkehr von der Nichtigkeitsfolge des Art. 31 GG für die Abweichungsgesetzgebung  . . . . . . . . . . . . 294

Inhaltsverzeichnis15 2. Rechtsschutzfunktion des Zitiergebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 3. Gesamtnichtigkeit bzw. Gesamtunanwendbarkeit einer Bundes­ regelung bei Verstoß gegen das Zitiergebot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4. „Föderale Teilnichtigkeit“ von Bundesrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 5. „Föderale Teilunanwendbarkeit“ von Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . 297 6. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 B. Abweichungswille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 C. Prozessuale Geltendmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 D. Hinreichende Sanktionswirkung der Unanwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Einführung A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung Am 1. September 2006 trat das 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes1 und damit die sogenannte „Föderalismusreform I“ in Kraft. Diese Änderung ist die „umfangreichste (…) seit Bestehen des Grundgesetzes“.2 Ausweislich der Begründung zum Entwurf des Föderalismusreformgesetzes3 soll die Reform „demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abbauen und wieder klarere Verantwortlichkeiten schaffen und so die föderalen Elemente der Solidarität und Kooperation einerseits und des Wettbewerbs andererseits neu ausbalancieren. Insgesamt geht es um eine nachhaltige Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sowohl des Bundes als auch der Länder.“4 Ein Baustein zur Erfüllung dieser Reformziele war die Einführung von Abweichungsrechten der Länder. Sowohl auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen nach Art. 72 Abs. 3 GG als auch auf dem Feld der Verwaltungskompetenzen nach Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG können die Länder nun eigenständige – von bundesgesetzlichen Vorgaben relativ unabhängige – Regelungen treffen. Die in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG niedergelegte Befugnis der Länder, von bundesgesetzlichen Behörden- und Verfahrensregelungen abzuweichen, wird auch als formelles bzw. verfahrensrechtliches Abweichungsrecht bezeichnet.5 Sie wurde als Ausgleich für das Entfallen der blockadeanfälligen Zustimmung des Bundesrates bei entsprechenden Bundesregelungen nach Art. 84 Abs. 1 GG a. F. in das Grundgesetz eingeführt.6 Die vorliegende Arbeit befasst sich ausschließlich mit der die Gesetzgebungskompetenzen betreffenden und daher auch als materielles7 Abweichungsrecht bezeichneten Regelung in Art. 72 Abs. 3 GG, auch wenn 1  BGBl.

2006 I, S. 2034 ff. Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 17. 3  BT-Drs. 16 / 813. 4  BT-Drs. 16 / 813, S. 7. 5  So u. a. Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, 2009, S. 18 und Schulze Harling, Das materielle Abweichungsrecht der Länder, Art. 72 Abs. 3 GG, 2011, S. 17 Fn. 3. 6  BT-Drs. 16 / 813, S. 8, 14. 7  Schulze Harling (Fn. 5), S. 17. 2  Meyer,

18 Einführung

die verfassungsrechtlichen Fragestellungen zu Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG ähnliche sein dürften. Mit Einführung des materiellen8 Abweichungsrechts in Art. 72 Abs. 3 GG wurde die konkurrierende Gesetzgebung neben ihrer Vorrang- und Erforderlichkeitsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 1 und Abs. 2 GG9 um eine weitere Unterart ergänzt. Auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien können die Länder nun von bundesgesetzlichen Vollregelungen nach Art. 72 Abs. 1 GG abweichende Regelungen treffen. Laut der Begründung zum Entwurf des Föderalismusreformgesetzes10 sollen die Länder dadurch die Möglichkeit erhalten, „in den genannten Bereichen abweichend von der Regelung des Bundes eigene Konzeptionen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren“.11 Ferdinand Kirchhof sprach in diesem Zusammenhang auch von der „Luft zum Atmen für regionale Besonderheiten“ der Länder.12 In der Tat bietet die Abweichungsgesetzgebung den Ländern eine viel weiter reichende Entscheidungsfreiheit über den Zugriff auf die jeweilige Regelungsmaterie als unter Geltung der abgeschafften Rahmengesetzgebung in Art. 75 GG a. F.13 Die Länder können sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch hinsichtlich der Reichweite und inhaltlichen Gestaltung der Abweichung ihre eigenen Vorstellungen umsetzen.14 Indessen haben nicht nur die Länder das Recht zur Abweichung, auch der Bund hat auf Grund seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz ein auf den gleichen Gegenstand bezogenes Gesetzgebungsrecht. Auf Grund dieser Doppelkompetenz ist ein Kollisionsfall zwischen Bundes- und Landesrecht abzusehen. Dieser wird gemäß Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG aufgelöst, indem anders als nach Art. 31 GG das spätere 8  Zur

Begriffsverwendung siehe Fn. 5. „Abweichungsgesetzgebung“ als neues Kompetenzverteilungsinstrument zwischen den Gliederungsebenen des deutschen Bundesstaates, in: Härtel (Hrsg.), Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutsch­ land, Europa und der Welt, Bd. I, 2012, § 20 Rn. 2. 10  BT-Drs. 16 / 813. 11  BT-Drs. 16 / 813, S. 11. 12  Kirchhof, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in der Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 15. / 16.05.2006, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, (http: /  / starweb.hessen.de / cache / bund / foederalis mus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)) S. 11. 13  Oeter, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 72 Rn. 122. 14  Haug, Die Abweichungsgesetzgebung – ein Kuckucksei der Föderalismusreform?, DÖV 2008, 851, 854. 9  Schmidt-Jortzig,



A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung19

Recht dem früheren vorgeht. Die Priorität des einen föderativen Akteurs folgt demnach nicht aus hierarchischen, sondern aus rein zeitlichen G ­ ründen. Folgerichtig wird nunmehr von einer „echten Konkurrenz“ zwischen Bund und Ländern gesprochen.15 Die Meinungen über diese dem Grundgesetz bis dato unbekannte Gesetzgebungsart gehen weit auseinander. Manch einer bezeichnet sie als ein typisches Beispiel politischer Kompromissbildung16, sie sorge nicht unbedingt für klare Verhältnisse, „sondern halte sie eher in der Schwebe“17. Damit stehe sie nicht im Zeichen der in der Gesetzesbegründung angedachten Entflechtung von Bundes- und Landeszuständigkeiten; im Gegenteil sie verstärke diese nur.18 Auf Grund der beachtlichen Entschließungs- und Gestaltungsfreiheit drohe nicht nur ein „Schäbigkeitswettbewerb“19 im Sinne eines race to the bottom der Länder, sondern in Anbetracht von maximal sechzehn verschiedenen Landesgesetzgebungen auch ein „Flickenteppich“ von konkurrierendem Bundes- und abweichendem Landesrecht.20 Mit der Zeit werde nach etlichen Abweichungen ein „Rechtsdickicht“21 von unregelmäßig übereinander liegenden „Rechtsschichten“ von Bundes- und Landesrecht entstehen.22 Dieses „Normwirrwarr“23 gehe mit der „Gefahr der Unübersichtlichkeit“24 und einer 15  Kunig, in: v.  Münch (Begr.) / Kunig (Hrsg.), GG- Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2012, Art. 72 Rn. 1. 16  Meyer (Fn. 2), S. 164. 17  Schmidt-Jortzig, Legislative Handlungsmöglichkeiten und Handlungspflichten nach der Föderalismusreform, in: Magiera / Sommermann / Ziller (Hrsg.), Verwaltungs­ wissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive, Festschrift für Heinrich Siedentopf, 2008, S. 331, 342. 18  Schmidt-Jortzig (Fn. 9), § 20 Rn. 2. 19  Schmidt-Jortzig (Fn. 17), S. 331, 343. 20  Knopp, Föderalismusreform – zurück zur Kleinstaaterei? An den Beispielen des Hochschul-, Bildungs- und Beamtenrechts, NVwZ 2006, 1216, 1220; SchulzeFielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, 249, 253. 21  Kment, Raumplanung unter Ungewissheit, ZUR 2011, 127, 128. 22  Hager, Konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsmöglichkeiten (Art. 72 Abs. 3 GG), BauR 2012, 29, 31. 23  Papier, Aktuelle Fragen der bundesstaatlichen Ordnung, NJW 2007, 2145, 2148. 24  Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, JZ 2006, 930, 933; Stock, Konkurrierende Gesetzgebung, postmodern: Aufweichung durch „Abweichung“?, ZG 2006, 226, 235; Pestalozza, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, S. 51 (http: /  / star web.hessen.de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)).

20 Einführung

„irreparablen Rechtszersplitterung“25 einher. Der Rechtsbetroffene sei gezwungen, sich die Rechtslage wie ein „Mosaik“26 bzw. „Rechtspuzzle“27 zusammenzusetzen. Ferdinand Kirchhof verglich diesen Vorgang im Jahr 2006 mit einer „Grabung in den neun Schichten Trojas“.28 Die gegenseitige Ablöse der bundesstaatlichen Akteure könne sich bei genügend Unvernunft „ad infinitum fortsetzen“; aus diesem Grund wird die Abweichungsgesetzgebung auch als „Ping-Pong-Gesetzgebung“ bezeichnet.29 Es gibt aber auch die gegenteilige Auffassung, die im gefürchteten „Ping-Pong“ lediglich ein „Phantomrisiko“ sieht.30 Dass sich Bund und Länder auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung tatsächlich in einen langwierigen Wettstreit begäben, entbehre „jeglichen Anfangsverdachts“.31 Somit tauchen rund um die Abweichungsgesetzgebung eine Reihe von Fragen auf, etwa auch die, ob zur Eindämmung der oben beschriebenen Gefahr einer Gemengelage zwischen Bundes- und Landesrecht ein ungeschriebenes Zitiergebot für diese Gesetzgebungsart mitgedacht werden muss. Über die Notwendigkeit einer expliziten Zitierpflicht für die Abweichungsgesetzgebung wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren der Föde­ ralismusreform 2006 diskutiert.32 Entsprechende Anregungen kamen von den Sachverständigen Huber und Pestalozza in ihren Stellungnahmen in der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags.33 Beide 25  Möstl, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, ZG 2003, 297, 304; Rengeling, Föderalismusreform und Gesetzgebungskompetenzen, DVBl 2006, 1537, 1549. 26  Papier (Fn. 23), NJW 2007, 2145, 2147. 27  Hager (Fn. 22), BauR 2012, 29. 28  Kirchhof (Fn. 12), S. 10. 29  Vorholz, Pingpong mit Paragrafen – Die geplante Föderalismusreform sorgt für Verwirrung in der Umweltpolitik, in: Die Zeit Nr. 6 / 2006 (http: /  / www.zeit.de /  2006 / 06 / F_9aderalismus / seite-1 (25.06.15)); Kothe, Ping-Pong oder „Wasserspiele“ zwischen Bund und Land, VBlBW 2012, 58. 30  Klein / Schneider, Art. 72 GG n. F. im Kompetenzgefüge der Föderalismusreform, DVBl 2006, 1549, 1553. 31  Klein / Schneider (Fn. 30), DVBl 2006, 1549, 1553. 32  Voigt, Das Raumordnungsgesetz 2009 und das Bayrische Landesplanungsgesetz 2012, in: Manssen (Hrsg.), Regensburger Beiträge zum Staats- und Verwaltungsrecht, 2013, S. 8. 33  Huber, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in der Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen ­ Bundestages am 15. / 16.05.2006, S. 219, 231; ders., Stenografischer Bericht der 12.  Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, (http: /  / starweb.hessen.de /  cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)) S. 40;



A. Gegenstand und Ziel der Untersuchung21

machten den Vorschlag, dass in Art. 72 Abs. 3 des Grundgesetzes eine Verpflichtung statuiert werden müsse, wonach auf Grund zu befürchtender Unübersichtlichkeit eine Abweichung im entsprechenden Gesetz kenntlich zu machen wäre.34 Huber sprach sich zusätzlich für eine explizite wechselseitige No­ tifizierungspflicht gegenüber dem Bund oder dem betroffenen Land aus, „damit klar ist, von welchen Vorschriften des Bundes- bzw. des Landesrechts abgewichen wird“.35 Trotz zum Teil leidenschaftlicher Stellungnahmen einiger Sachverständiger konnte sich 2006 weder eine explizite Zitier- noch Notifizierungspflicht der Länder durchsetzen. Beide Gebote sind nicht expressis verbis Teil des Verfassungstextes geworden. Gleichwohl plädieren gegenwärtig nicht Wenige für ein ungeschriebenes Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung, wobei die Verbindlichkeit eines solchen Gebots ganz unterschiedlich gesehen wird. Degenhart hält es für ein „verfassungsrechtliches Desiderat, wenn nicht (für) ein zwingendes Verfas­ sungsgebot“.36 „Die ausdrückliche Benennung der Abweichungsnorm (könne) „wesentlich beitragen zu rechtsstaatlich gebotener Rechtsklarheit und zu demokratischer Transparenz“.37 „Angesichts der unterschiedlichen und komplexen Abweichungskonstellationen (sei) eine Bezeichnung der AbweiPestalozza, ebd., S. 51, vgl. v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder im Naturschutzrecht, Schriftenreihe Natur und Recht 15, 2012, S. 39, Fn. 232. 34  Pestalozza, a. a. O. (Fn. 33), S. 51; Huber, a. a. O. (Fn. 33), S. 231: „(Konflikte und Rechtsunsicherheit) könnten deutlich entschärft werden, wenn das Grundgesetz in Art. 72 Abs. 3 (Entwurf) eine Verpflichtung statuieren würde, eine Abweichung im Gesetz kenntlich zu machen und sie dem Bund bzw. dem betroffenen Land zu notifizieren. Sie sollte im BGBl. veröffentlicht werden und der Bund dazu verpflichtet werden, ein Register zu führen, aus dem sich sämtliche Abweichungen ergeben. Im Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 GG sowie in der vor einigen Jahren etablierten Praxis, in den Gesetzen die Richtlinien und EG-Verordnungen anzugeben, deren Umsetzung ein Gesetz dienen soll, fände diese Verpflichtung in gewisser Hinsicht auch Vorläufer.“, vgl. v. Stackelberg (Fn. 33), S. 39, Fn. 233. 35  Huber (Fn. 33), Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll, S. 219, 231; ders., (Fn. 33), Stenografischer Bericht, S. 40. 36  Degenhart, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Abweichungsgesetzgebung, DÖV 2010, 422, 424; ebenso Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, NVwZ 2008, 492, 495; Gerstenberg (Fn. 5), S. 260; Meyer (Fn. 2) S. 172; v. Stackelberg (Fn. 33), S. 38 ff.; Schulze-Fielitz (Fn. 20), NVwZ 2007, 249, 255; FischerHüftle, Zur Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet „Naturschutz und Landschaftspflege“ nach der Föderalismusreform, NuR 2007, 78, 80; Mammen, Der neue Typus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsrecht, DÖV 2007, 376, 378; Köck / Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz – Sind Eingriffsregelung und Landschaftsplanung allgemeine Grundsätze des Naturschutzes?, NVwZ 2008, 353, 357; Callies, Stellungnahme als Sachverständiger im Rahmen der öffentlichen Anhörung der Föderalismuskommission II am 08.11.2007, Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, K-Drs. 006, S. 28. 37  Degenhart (Fn. 36), DÖV 2010, 422, 424.

22 Einführung

chungsnorm rechtsstaatlich geboten.“38 Andere halten es für zu weitgehend, eine Pflicht aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten.39 „Der Gesetzgeber (dürfe) in seiner Gestaltungsbefugnis nicht vorschnell beschränkt werden.“40 Die Länder sollten lediglich „im Interesse der Vollzugsfähigkeit im Gesetzestext deutlich auf die Abweichung hinweisen“.41 Wenn überhaupt, han­dele es sich bei dem Zitiergebot um einen „verfassungspolitischen Wunsch (nach) bürgerfreundliche(r) Gesetzgebungskultur“.42 Selbst die Befürworter eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung sind sich hinsichtlich der Adressaten und Zwecke eines solchen Gebots nicht ganz einig. Dass die Länder die Normen des Bundes, von denen sie abweichen, zum Schutz des Rechtsbetroffenen benennen müssen, ist noch relativ unstreitig.43 Zusätzlich zu den Kenntlichmachungen der Länder wurden aber schon im Rahmen der Föderalismuskommission solche des Bundes gefordert. Zum einen solle der Bund zur Ausräumung von „denkbaren Unsicherheiten über die kompetenzielle Lage“ abweichungsfeste Normen – den Klammerzusätzen in Art. 72 Abs. 3 GG entsprechend – im Bundesgesetz anführen.44 Zum anderen solle er bei subsequenter Überregelung angeben, welche Vorschriften des abweichenden Landesrechts von der Neuregelung betroffen sind.45

38  Degenhart

(Fn. 36), DÖV 2010, 422, 424. Hager (Fn. 22), BauR 2012, 31, 34 und Schulze Harling (Fn. 5), S. 119. 40  Hager (Fn. 22), BauR 2012, 31, 34. 41  Müggenborg / Hentschel, Neues Wasser- und Naturschutzrecht, NJW 2010, 961, 967; ebenso Reinhardt, Gesetzgebungskompetenzen im Wasserrecht, AöR 135 (2010), S. 459, 484; Louis, Die Gesetzgebungszuständigkeit für Naturschutz und Landschaftspflege nach dem Gesetzesentwurf zur Föderalismusreform, ZUR 2006, 340, 343; Haug (Fn. 14), DÖV 2008, 851, 854. 42  Hager (Fn. 22), BauR 2012, 31, 34. 43  Meyer (Fn. 2), S. 172; Fischer-Hüftle (Fn. 36), NuR 2007, 78, 79 f.; Franzius (Fn. 36), NVwZ 2008, 492, 495; Becker, Das Recht der Länder zur Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) und das neue WHG und BNatSchG, DVBl 2010, 754, 756; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 14. Auflage, 2016, Art. 72 Rn. 30; Windhorst, in: Studienkommentar GG, 2. Auflage, 2015, Art. 72 Rn. 30; Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Supplementum 2007, Bd. II, 2. Auflage, 2007, Art. 72 Rn. 51; Gerstenberg (Fn. 5), S. 260; Foerst, Die Abweichungskompetenz der Länder gemäß Art. 72 III GG im Bereich des Wasserhaushaltsrechts, 2012, S. 84; v. Stackelberg (Fn. 33), S. 38. 44  Hierfür plädiert Meyer (Fn. 2), S. 172. 45  Pestalozza (Fn. 33), S. 51; Huber (Fn. 33), S. 231; Degenhart (Fn. 36), DÖV 2010, 422, 424; für den Fall des formellen Abweichungsrechts in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG bejahend Trute, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. III, 6. Auflage, 2010, Art. 84 Rn. 31 und Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Auflage, 2008, Art. 84 Rn. 59. 39  Z. B.



B. Gang und Vorgehensweise der Untersuchung23

Ziel dieser Untersuchung ist zu klären, ob für die Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG ein ungeschriebenes Zitiergebot gilt. Die Arbeit befasst sich nicht mit der Abweichungsgesetzgebung als solcher, dazu sind bereits umfassende Abhandlungen46 erschienen. Vielmehr betrachtet sie die Gesetzgebungskompetenz im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Zitiergebot. Mag man nun Befürworter oder Gegner der Abweichungsgesetzgebung sein, seit 2006 ist sie verfassungsrechtliche Realität, so dass auch ein adäquater Umgang mit ihren Besonderheiten gefunden werden muss.

B. Gang und Vorgehensweise der Untersuchung Die soeben beschriebene Hauptfrage der Untersuchung wird in sechs Schritten beantwortet. Der erste Teil der Arbeit widmet sich den historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen bzw. Vorfragen eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung. Überlegungen zur Idee des deutschen Föderalismus mit seinen zahlreichen Entwicklungsstufen bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung. Die Abweichungsgesetzgebung wird dabei als Ausprägung des gegenwärtig herrschenden Leitbilds eines kompetitiven Föderalismus identifiziert. Der im Leitbild enthaltene Wettbewerbsgedanke und die damit implizierte „echte“ Gleichrangigkeit von Bund und Ländern werden in der Argumentation des Hauptteils fruchtbar gemacht. Zu den Vorfragen eines ungeschriebenen Zitiergebots gehört auch die Klärung der historischen Herkunft des Abweichungsgedankens. Hierbei lässt sich zeigen, dass bereits bei früher bestehenden oder auch nur diskutierten Zugriffs- und Abweichungsbefugnissen Zitierpflichten eine Rolle spielten. Das zweite Kapitel befasst sich mit den spezifischen Merkmalen der Abweichungsgesetzgebung. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den Tatbestand und die dem Grundgesetz bis dato unbekannte Rechtsfolge gelegt. Auf Seiten des Tatbestands wird der Begriff der „Abweichung“ nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus philologischer Sicht betrachtet. Auf Grund der gewonnenen Erkenntnisse können abweichende Regelungen eindeutiger identifiziert und Abgrenzungsschwierigkeiten zu anderen Instituten etwa zu Öffnungsklauseln des Bundes, die ein Zitiergebot in Abrede stellen könnten, vermieden werden. Auf der Rechtsfolgenseite werden die allgemei46  Gerstenberg (Fn. 5); Schulze Harling (Fn. 5); Beck, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder, 2009; Grünewald, Die Abweichungsgesetzgebung der Bundesländer – ein Fortschritt im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes?, 2010; Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge, 2011; für das Raumordnungsrecht Petschulat, Die Regelungskompetenzen der Länder für die Raumordnung nach der Föderalismusreform, 2014; für das Naturschutzrecht v. Stackelberg (Fn. 33) und für das Wasserhaushaltsrecht Foerst (Fn. 43).

24 Einführung

ne Kollisionsregel in Art. 31 GG und die besondere in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG gegenübergestellt, so dass die Bedeutung des in der Verfassungstradi­ tion bisher unbekannten lex-posterior-Grundsatzes für das Erfordernis eines Zitiergebots deutlich wird. Eine Analyse der ausdrücklich im Grundgesetz aufgeführten Zitiergebote in Art. 19 Abs. 1 S. 2 und Art. 80 Abs. 1 S. 3 schließt die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Hintergründe ab. Die umfängliche Erläuterung der Zitierpflichten ermöglicht es, im Hauptteil Vergleiche zwischen den geschriebenen und dem ungeschriebenen Zitiergebot anzustellen. Der Hauptteil der Bearbeitung widmet sich der verfassungsrechtlichen Begründung eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung. Die Staatsstrukturprinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie werden jeweils als „Sonden“47 eingesetzt, nicht nur um Zugang zu den tiefer liegenden Problemen der Abweichungsgesetzgebung zu finden, sondern gleichzeitig auch Lösungen für bestimmte Fragen anbieten zu können. Indem zunächst die Staatsstrukturprinzipien mit ihren relevanten Ausprägungen dargelegt und anschließend daraus Schlüsse für das erläuterte Problem der Gemengelage im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung gezogen werden, erfolgt die methodische Vorgehensweise in dieser Arbeit vorwiegend deduktiv. Das vierte Kapitel befasst sich mit den rechtsstaatlichen Aspekten eines ungeschriebenen Zitiergebots. Um aus dem abstrakten Staatsstrukturprinzip einen konkreten Kontrollmaßstab für die Abweichungsgesetzgebung extrahieren zu können, werden vom Prinzip ausgehend die in einem Stufenverhältnis zueinander stehenden Elemente und Subelemente hergeleitet. Aus dem Gebot der Rechtssicherheit ergibt sich das der Normenklarheit. Dieses umfasst wiederum den Aspekt der Übersichtlichkeit. Das extrahierte Übersichtlichkeitsgebot wird als konkreter Maßstab im Rahmen einer „Kom­ plexitätskontrolle“48 zur Überprüfung des Ausmaßes der drohenden Gemengelage von Bundes- und Landesrecht bei der Abweichungsgesetzgebung eingesetzt. Dabei erweist sich die in der Abweichungsgesetzgebung angelegte Wechselbezüglichkeit von Normen als derart komplex und somit unübersichtlich, dass für diese Gesetzgebungsart eine Kompensation in Form eines Zitiergebots mitgedacht werden muss. Zur besseren Handhabe wird in Anlehnung an die geschriebenen Zitiergebote in Art. 19 und 80 GG eine Funktionslehre für das ungeschriebene Zitiergebot eingeführt. 47  Begriffsverwendung bei Trute, Herausforderungen an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Reich (Hrsg.), Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 23, 29. 48  Towfigh, Komplexität und Normenklarheit – oder: Gesetze sind für Juristen gemacht, Der Staat 48 (2009), 29, 37.



B. Gang und Vorgehensweise der Untersuchung25

Das fünfte Kapitel betrachtet die demokratischen Aspekte eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung. „Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch die Vergabe oder den Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.“49 Dieser Aspekt demokratischer Verantwortungsklarheit ist bei der Abweichungsgesetzgebung auf Grund der drohenden Gemengelage von Bundes- und Landesrecht verletzt. Auch der Vorgang demokratischer Repräsentation wird als gefährdet eingestuft, wenn dem einzelnen Abgeordneten eine „eigene Urteilsbildung in politischen Entscheidungsfragen auf Grund mangelnder Überschaubarkeit“50 erschwert wird. Zur Eindämmung der demokratischen Defizite erweist sich wiederum die Annahme eines ungeschriebenen Zitiergebots als geboten. Das abschließende sechste Kapitel der Untersuchung widmet sich der Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das ungeschriebene Zitiergebot. Folgt das Zitiergebot aus den Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie, handelt es sich bei dessen Nichtbeachtung um einen Verfassungsverstoß. Dieser wird grundsätzlich mit dem Verdikt der Nichtigkeit geahndet. Für das nachgewiesene Zitiergebot besteht die Rechtsfolge allerdings in der Unanwendbarkeit der gegen das Gebot verstoßenden Regelung, da diese – insbesondere bei einem Verstoß auf Bundesseite – besser mit den föderalen Besonderheiten der Abweichungsgesetzgebung zu vereinbaren ist. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung.

49  BVerfGE

113, 331, 336. Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee /  Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. III, 3. Auflage, 2005, § 34 Rn. 36. 50  Böckenförde,

Kapitel 1

Der deutsche Föderalismus und die Entstehung der Abweichungsgesetzgebung Um das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung im richtigen rechtsgeschichtlichen und rechtswissenschaftlichen Kontext verorten zu können, wird im folgenden Kapitel zunächst der deutsche Föderalismus mit seinen zahlreichen Entwicklungsstufen erläutert. Die Abweichungsgesetzgebung wird dabei als Ausprägung des gegenwärtig herrschenden Leitbilds eines kompetitiven Föderalismus identifiziert. Der Wettbewerbsgedanke dieses Leitbilds ist von zentraler Bedeutung für die Klärung verschiedener Fragen rund um ein Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung. Weiterhin wird die historische Herkunft des Abweichungsgedankens geklärt; handelt es sich doch bei dem heute nicht mehr so „neuen“ Gesetzgebungstyp der Abweichungsgesetzgebung – anders als man vielleicht denken mag – nicht um eine Erfindung der Föderalismuskommission aus dem Jahr 2006, sondern um einen schon seit Jahrzehnten immer wieder diskutierten „Zugriffsgedanken“ der Länder. Es lässt sich zeigen, dass bereits bei früheren Zugriffs- und Abweichungsbefugnissen eine Zitierpflicht in die betreffenden Regelungen aufgenommen wurde.

A. Der deutsche Föderalismus I. Idee des Föderalismus im Grundgesetz Der deutsche Föderalismus hat – ähnlich wie das Staatsstrukturprinzip der Demokratie – durch den weitreichenden Gebrauch als politisches Schlagwort und die vielen wissenschaftlichen Analysen1 zur seiner „wahren Ausprägung“ zahlreiche Bedeutungsfacetten erlangt.2 1  Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, 2012; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998; Deuerlein, Föderalismus, 1972; Koselleck, Föderale Strukturen in der deutschen Geschichte, 1975; Maier, Der Föderalismus – Ursprünge und Wandlungen, AöR 115 (1990), S. 213 ff.; Oberreuter, Föderalismus, in: Herders Staatslexikon, Bd.  II, 7.  Auflage, 1986, Sp. 632; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1996; Ritter, Föderalismus und



A. Der deutsche Föderalismus27

Gemeinhin bezeichnet Föderalismus ein organisationsrechtliches Prinzip, nach dem sich kleinere politische Einheiten unter Beibehaltung hoheitlicher Befugnisse zu einem übergeordneten selbstständigen politischen Gebilde zusammenschließen und mit der oberen Einheit in einer kompetenziellen Wechselwirkung stehen.3 Traditionell zielt der Föderalismus darauf ab, „historisch gewachsene regionale Eigenarten“ und „sprachliche bzw. geografische Identitäten“ zu wahren. Er achtet „räumliche und wirtschaftliche Lebenszusammenhänge“ und führt diese „Vielfalt zugleich in staatlicher Einheit“ zusammen.4 Diese historische Deutung des Föderalismus ist eine Zeit lang kritisch beäugt5 und zum Teil auch als „folkloristisch“ abgetan worden.6 Spätestens im Rahmen der Wiedervereinigung, als die Entstehung der neuen Länder an ihren Ursprung anknüpfte, obgleich eine Schöpfung auf dem Reißbrett vielleicht effizienter gewesen wäre,7 bestätigte sich allerdings die „Überlebensfähigkeit älterer Legitimationsschichten bundesstaatlicher Ordnung“.8 Die Bedeutsamkeit der bundesstaatlichen Struktur Deutschlands für die Wiedervereinigung kann man sich am besten verdeutlichen, indem Parlamentarismus in Deutschland in Geschichte und Gegenwart, 2005; Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, 2. Auflage, 1986; Isensee, Der Föderalismus und der Verfassungsstaat der Gegenwart, AöR 115 (1990), S. 248 ff; Trute, Verwaltungskompetenzen im deutschen Bundesstaat, in: Härtel (Hrsg.), Handbuch Föderalismus – Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, 2012, § 28; Schambeck, Vom Wesen und Wert des Föderalismus heute, in: Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 27 ff.; v. Arnim, Das föderative System in Deutschland – Motor oder Hemmschuh notwendiger politischer Reformen?, in: v. Arnim (Hrsg.), Föderalismus – hält er noch was er verspricht? – seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, auch im Lichte ausländischer Erfahrungen; Beiträge auf der 67. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 17. bis 19. März 1999 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 2000, S. 19 ff.; Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaats in rechtsvergleichender Sicht, 1977; ­Jekewitz, Deutscher Föderalismus: Fehlentwicklung oder Vorbild in Europa?, Recht und Politik 2003, 89 ff.; Scharpf, Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, 1994; Weber, Kriterien des Bundesstaats, 1980. 2  Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2.  Auflage, 1996, S. 287. 3  Creifelds, Rechtswörterbuch, 21.  Auflage, 2014, S. 470; Oberreuter (Fn. 1), Sp. 632; Pernthaler (Fn. 2), S. 288. 4  Bauer, Entwicklungstendenzen und Perspektiven des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, DÖV 2002, 837, 838. 5  Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962, S. 12 ff. 6  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 838. 7  So Kilian, Wiedererstehen und Aufbau der Länder in der vormaligen DDR, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VIII, 1995, § 186 Rn. 17 ff., 67 ff. 8  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 838; so auch Häberle, Aktuelle Probleme des deutschen Föderalismus, Die Verwaltung 1991, 169, 171.

28

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

man sich den Akt der Wiedervereinigung „durch Einverleibung in einen Einheitsstaat vorstellt“.9 Die eigene Staatlichkeit der fünf wieder gegründeten Länder hat demnach einen nicht zu verkennenden identitätsstiftenden Effekt, denn ein Teil der deutschen Staatsgewalt wird allein von der Bevölkerung dieser fünf Länder ausgeübt.10 Somit kann als spezifische Legitimationsgrundlage der bundesstaatlichen Ordnung auch seine Fundierung in der historisch gewachsenen regionalen Vielfalt der Länder gesehen werden.11 Neben diesen konventionellen Ansatz tritt die Rechtfertigung mit „gewaltenteilerischen Überlegungen“, wonach Bindung und Teilung von Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern staatliche Macht differenziert und begrenzt und damit letztendlich einen „freiheitsschützenden Effekt“ hat.12 Auf Grund der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wird das Prinzip der Gewaltenteilung zum Teil auch als das Hauptargument für die föderale Ordnung der Bundesrepublik angeführt.13 In diesem Zusammenhang „setzt Föderalismus die großen staatstheoretischen Konzepte des Verfassungsstaates, der Gewaltenteilung, (…) der gegliederten Demokratie und der Subsidiarität“ – um nur einige wenige zu nennen – „als wirksame Strukturen der Staatlichkeit (…) voraus“.14 Er baut aber nicht nur auf ihnen auf, sondern verstärkt sie auch in einem positiven Sinne, indem der föde­rale Staatsaufbau auch für die Sicherung „individueller Freiheit“, „Rechtsstaatlichkeit“ und „Demokratie“ eintritt.15 Die Begriffe Föderalismus und Bundesstaat werden in dieser kurzen Einführung unreflektiert synonym gebraucht. Für den korrekten Gebrauch der Begrifflichkeiten in dieser Arbeit soll nachfolgend untersucht werden, ob sie tatsächlich gleichbedeutend sind. 1. Begriffsklärung: Föderalimus und Bundesstaat Das Bundesstaatsprinzip ergibt sich aus mehreren Verfassungsbestimmungen, wobei Art. 20 Abs. 1 GG die zentrale Norm darstellt.16 Hier ist das Bundesstaatsprinzip zweimal verankert, zum einen in der Bezeichnung 9  Starck, Idee und Struktur des Föderalismus im Lichte der Allgemeinen Staatslehre, in: Härtel (Hrsg.), Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. I, 2012, § 1 Rn. 40. 10  Starck (Fn. 9), § 1 Rn. 40. 11  Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 10. 12  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 838. 13  Hoppenstedt, Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes zwischen Unitarismus und Föderalismus, 2000, S. 21. 14  Pernthaler (Fn. 2), S. 287. 15  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 838. 16  Šarčević, Das Bundesstaatsprinzip, 2000, S. 6.



A. Der deutsche Föderalismus29

„Bundesrepublik Deutschland“, zum anderen in der expliziten Kennzeichnung als „Bundesstaat“.17 Wenn man sich fragt, was der Bundesstaat genau ist und in welchem Verhältnis er zum Föderalismus steht, helfen die Worte allein kaum weiter.18 Der „Bundesstaat“ muss „mehr“ sein als ein Gemeinwesen, dem man Staatsqualität beimisst. Der Föderalimus muss wiederum, da er mit dem Bundesstaat in Verbindung gebracht wird, zu diesem „kompatibel“ sein.19 Bundesstaat und Föderalismus sind nicht notwendigerweise identisch.20 Eine genaue und trennscharfe Abgrenzung der Begriffe Föderalimus und Bundesstaat bereitet aber bis heute nicht unerhebliche „Schwierigkeiten“.21 Der Begriff des Föderalismus (lateinisch foedus = Bündnis, Bund)22 kann mit Hilfe des Grundgesetzes nur unzureichend bestimmt werden, denn er erfährt darin keine eindeutige „Kontur“.23 Das Wort Föderalismus taucht im Grundgesetz eigentlich gar nicht auf, lediglich Art. 23 Abs. 1 GG spricht von „föderative(n) Grundsätzen“, die das föderative Wesen der Europäischen Union betreffen.24 Der Begriff des Bundesstaats ist hingegen ein „verfassungsrechtlicher Begriff“.25 Er ergibt sich ausdrücklich aus dem in Art. 20 Abs. 1 GG niedergelegten Bekenntnis zum Bundesstaat und indirekt nicht nur aus der Präambel, sondern auch aus etlichen anderen grundgesetzlichen Artikeln, die das Verhältnis von Bund und Ländern betreffen, namentlich z. B. aus Art. 28 GG, 70 ff. GG und Art. 83 ff. GG.26 Die Gesamtheit der „unmittelbar“ oder auch nur „mittelbar“ bundesstaatsbezogenen Vorschriften des Grundgesetzes bildet 17  Sommermann, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 20 Abs. 1 Rn. 20. 18  Šarčević (Fn. 16), S. 6. 19  Šarčević (Fn. 16), S. 6. 20  Kämmerer, Staatsorganisationsrecht, 2. Auflage, 2012, Rn. 90. 21  Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, 2009, S. 19. 22  Creifelds (Fn. 3), S. 470; Pernthaler (Fn. 2), S. 288. 23  Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 126 Rn. 8. 24  Šarčević (Fn. 16), S. 9; Schweitzer, Europäische Union: Gefahren oder Chancen für den Föderalismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz?, VVDStRL 53 (1994), S. 48, 56; Konow, Maastricht II und die „föderativen Grundsätze“, DÖV 1996, 845, 848; Meißner, Die Bundesländer und die Europäischen Gemeinschaften, 1996, S.  125 f.; Krawietz, Assoziationen versus Staat? Normative Strukturelemente föderaler politisch-rechtlicher Gemeinschaftsbildung, in: Duso / Krawietz / Wyduckel (Hrsg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, 1997, S, 321 (324). 25  Šarčević (Fn. 16), S. 10. 26  Šarčević (Fn. 16), S. 10.

30

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

sogar „die Hälfte des Verfassungstextes“.27 Die Bestimmungen erreichen eine „Dichte“ und „Ausführlichkeit“, die in Verfassungstexten eher ungewöhnlich ist und bei anderen Staatsstrukturprinzipien wie etwa dem der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit nicht anzutreffen sind.28 Trotz der beschriebenen rein wörtlichen Abstinenz im Grundgesetz hat sich der Föderalismus inzwischen zu einem besonderen Merkmal für die Grundgesetzinterpretation entwickelt.29 Dies beruht nicht zuletzt darauf, dass die Idee des deutschen Staates von Anfang an – abgesehen von der Zeit zwischen 1933 und 1945 – mit einer föderativen Struktur in Verbindung gebracht wurde.30 Zudem erfolgt die Bestimmung abstrakter staatsrechtlicher Begriffe durch die Methodik der Verfassungsauslegung stets in einer Art „angewandten Geschichte“ aus der „Synthese“ der historisch „vor­ geprägten“ und „positivrechtlich“ verankerten Begriffsmerkmale.31 Klärungsbedürftig bleibt, was unter den Begriffen des Föderalismus und des Bundesstaats im Einzelnen zu verstehen ist,32 ob sie synonym verwendet werden dürfen oder strikt voneinander zu trennen sind. a) Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht scheint – oberflächlich betrachtet – zwischen dem Begriff des Föderalismus und des Bundesstaats zu unterscheiden.33 Beispielsweise spricht es vom „föderativ gestalteten Bundesstaat“34 und bringt damit eine gewisse terminologische Trennung beider Begriffe zum Ausdruck.35 An anderer Stelle verwendet es die Begriffe aber synonym,36 weshalb nicht von vornherein von einer durch das Bundesverfassungsgericht 27  Isensee

(Fn. 23), § 126 Rn. 5. (Fn. 23), § 126 Rn. 5. 29  Šarčević (Fn. 16), S. 10; Thieme, Vierzig Jahre Bundesstaat, DÖV, 1989, 499, 500, spricht davon, dass „das föderalistische Ideengut die politische Ordnung des GG durchtränke“. 30  Starck, Föderalismusreform, 2007, Rn. 1; Ipsen, Staatsrecht I, 28.  Auflage, 2016, Rn. 531; Kämmerer (Fn. 20), Rn. 91. 31  Šarčević (Fn. 16), S. 7. 32  Die folgenden Erwägungen orientieren sich an den Ausführungen von Šarčević (Fn. 16), S. 6 ff. und Gerstenberg (Fn. 21), S. 19 ff. 33  Šarčević (Fn. 16), S. 11. 34  BVerfGE 60, 175, 209; 64, 301, 317; vergleichbar „in einem Bundesstaat mit betont föderalistischem Aufbau“ BVerfGE 3, 58, 158 oder „in einem betont föderativ gestalteten Staat wie die Bundesrepublik Deutschland“ BVerfGE 4, 157, 189; 6, 376, 382; 22, 267, 270. 35  Šarčević (Fn. 16), S. 11. 36  Vgl. z. B. BVerfGE 4, 178, 189. 28  Isensee



A. Der deutsche Föderalismus31

geprägten eindeutigen adjektivischen Abspaltung des Föderalismusbegriffs vom Bundesstaatsbegriff ausgegangen werden kann.37 Vielmehr sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Hinblick auf die Verwendung der Begrifflichkeiten näher zu untersuchen. Das Gericht versteht unter dem Bundesstaat einen „Gesamtstaat“, der wiederum in Gliedstaaten unterteilt ist.38 In Hinblick auf die „Organisation der Staatsgewalt“ wird der Begriff des Bundesstaats als „Grundgedanke der Koexistenz zweier staatlicher Ebenen“39 verstanden.40 „Der Bundesstaatsbegriff bezeichnet demnach einen in territoriale Einheiten gegliederten Staat, dessen Einheiten nicht lediglich Selbstverwaltungskörperschaften sein dürfen, sondern vielmehr als Gliedsstaaten eine eigene Staatsqualität besitzen müssen.“41 Dem Föderalismusbegriff scheint das Gericht dagegen keine unabhängige Bedeutung beizumessen, sondern sieht ihn als einen Bestandteil des Bundesstaats.42 Aus ihm folge eine „föderalistische“ Haltung, die zur politischen „Abstimmung“, Kompromissbildung und Bewältigung von Gegensätzlichkeiten zwischen Zentralstaat und Gliedsstaaten und den Gliedstaaten untereinander führe.43 Dem Föderalismusbegriff wird somit eine gewisse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zugesprochen, die dem normativen Bundesstaatsbegriff eine politische Note verleihe.44 Auch mit Blick auf das weiche Instrument der „Bundestreue“45 beziehe sich der Föderalismus auf „elastische“ politische Faktoren.46 Auch wenn das Bundesverfassungsgericht folglich auf den zweiten Blick beiden Begriffen unterschiedliche Bedeutungen beimisst, führt es die Begriffe letztendlich wieder zusammen, indem es insbesondere in neueren Entscheidungen etwa die Autonomie von Bund und Ländern bzw. die gegenseitige Treue und Abstimmung als Teile eines „föderativ gestalteten Bundesstaat(s)“47 begreift und „bündnische“ und „föderale“ Merkmale gleichsetzt.48 37  Šarčević

(Fn. 16), S. 11. 1, 14, 34; 4, 157, 189; 60, 175, 207 ff.; 86, 148, 215. 39  Šarčević (Fn. 16), S. 11. 40  BVerfGE 1, 117, 131; 13, 54, 78. 41  Šarčević (Fn. 16), S. 12. 42  BVerfGE 1, 299, 315; Bauschke, Bundesstaatsprinzip und Bundesverfassungsgericht, 1970, S. 28 ff. 43  BVerfGE 1, 229, 315; 6, 309, 361; 12, 205, 254 ff.; Šarčević (Fn. 16), S. 12. 44  Šarčević (Fn. 16), S. 12. 45  Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 25 ff., 40 ff., 70 ff. 46  Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudr. der 20. Auflage, 1999, S. 97, Rn. 219; Šarčević (Fn. 16), S. 12. 38  BVerfGE

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht den Föderalismusbegriff als Teil des Bundesstaatsbegriffs begreift, also zwar eine nuancierte Unterscheidung trifft, die Begriffe aber insbesondere in letzter Zeit stets im Zusammenhang verwendet. Das steht einer synonymen Verwendung im Ergebnis gleich.49 b) Allgemeine Staatslehre Die Allgemeine Staatslehre hält eine begriffliche Abgrenzung beider Begriffe für notwendig50 und bezeichnet sie als „deskriptive Idealtypen“. Es handele sich um „stilisierte Abbilder“, die „aus (…) der Staatswirklichkeit abstrahiert“ werden.51 Die Bedeutung des Bundesstaatsbegriffs liegt nach dieser Lehre in erster Linie darin, eine Unterscheidung und Abgrenzung zum Staatenbund und zum Einheitsstaat zu ermöglichen.52 Der Bundesstaat verbindet einzelne Gliedstaaten, die trotz des Verbandes Staaten bleiben, zu einem Gesamtstaat, der ebenfalls Staatsqualität hat.53 Beim Staatenbund haben lediglich die einzelnen Glieder Staatscharakter, nicht aber der Verband als solcher.54 Beim Einheitsstaat hingegen hat nur die „Gesamtkörperschaft“ Staatsqualität, den „Untergliederungen“ steht „allenfalls Selbstverwaltung“ zu.55

47  BVerfGE 60, 175, 209; 96, 231, 242; 98, 145, 157; BVerfG, B. v. 14.1.2008, 2 BvR 1975 / 07, juris Rn. 34. 48  BVerfGE 86, 148 ff.; 101, 158 ff.; Šarčević (Fn. 16), S. 12. 49  Šarčević (Fn. 16), S. 12. 50  Beyerle, Föderalismus, in: Festschrift für Felix Porsch, 1923, S. 128; Herzog, Föderalismus, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. I, 3. Auflage, 1987, S. 914; Laufer, Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland, 5. Auflage, 1985, S.  65 ff., 69; Frenkel, Föderalismus: System, Recht und Probleme des Bundesstaats im Spannungsfeld von Demokratie und Föderalismus, in: Föderalismus und Bundesstaat, Bd. I, 1984, Nr. 199, S. 76 ff. und Nr. 254, S. 92 ff. 51  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4; Graf Vitzthum, Die Bedeutung gliedsstaatlichen Verfassungsrechts in der Gegenwart, VVDStRL 46 (1988), S. 7, 8 Anm. 1; Schäffer, Der österreichische Föderalismus – Rechtskonzept und politische Realität, in: Kramer (Hrsg.), Föderalismus zwischen Integration und Sezession: Chancen und Risiken bundesstaatlicher Ordnung, 1993, S. 171 ff.; Gerstenberg (Fn. 21), S. 19. 52  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4. 53  BVerfGE 1, 14, 34; 13, 54, 74 ff.; 34, 9, 19; 72, 330, 385f. neben vielen anderen Ipsen (Fn. 30), Rn. 535. 54  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4. 55  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4.



A. Der deutsche Föderalismus33

Die „konträren staatstheoretischen Prinzipien“ zu dieser typologischen Einordnung sind der Föderalismus und Unitarismus.56 Der Föderalismus erfordert in Abgrenzung zum Unitarismus den Bund von Gliedern, die eine „Handlungseinheit“ bilden, ohne ihre Autonomie aufzugeben. Der Unitarismus hingegen beschreibt ein „Prinzip zentral organisierter“ und „geschlossener (…) Staatlichkeit“.57 Die Aufgabe des Bundesstaates liege nun darin, die gegensätzlichen „Tendenzen“ des Föderalismus und des Unitarismus zu „verbinden“ und zu „versöhnen“.58 Als weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Föderalismus und Bundesstaat sieht die Allgemeine Staatslehre die Normativität der Strukturprinzipien. Der Föderalismus beschreibe die „politischen Wertungen und allgemeinen Organisationsprinzipien“ des Rechtsbegriffs59 Bundesstaat und damit lediglich das politische Wirken im Sinne von „Machtprozessen und Machtausgleich“ im Staatstypus Bundesstaat.60 Nach dieser staatsphilosophischen Lehre überschreitet der Föderalismus die nationalen Grenzen des Bundesstaats, indem er nicht nur staatliche, sondern auch überstaatliche Ordnungsvorstellungen umfasst, die sich sowohl auf die gesellschaftliche Organisa­ tion des Staates als auch auf das Zusammenwirken mehrerer staatlicher Entscheidungszentren beziehen.61 Der Föderalismus beschreibt hiernach ein universelles „organisationsrechtliches Prinzip, das eine übergeordnete territoriale Einheit vorsieht, die sich aus (räumlich) untergeordneten Einheiten mit eigenen hoheitlichen Befugnissen konstituiert und mit ihnen in einer kompetenziellen Wechselbeziehung steht“.62 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die staatsphilosophische Lite­ ratur eine klare Unterscheidung zwischen beiden Begrifflichkeiten vornimmt.

56  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4; Anschütz, Der deutsche Föderalismus in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: VVDStRL 1 (1924), S. 11 f.; Weber, Kriterien des Bundesstaats, 1980, S. 26. 57  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4. 58  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 4. 59  Frenkel (Fn. 50), Nr. 254, S. 92; Ermacora, Allgemeine Staatslehre, 2. TBd., 1970, S. 648. 60  Pernthaler (Fn. 2), S. 291. 61  Šarčević (Fn. 16), S. 14. 62  Kämmerer (Fn. 20), Rn. 90.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

c) Besondere Staatsrechtslehre Die Besondere Staatsrechtslehre neigt dazu, beide Begriffe des Bundesstaats und des Föderalismus synonym zu gebrauchen.63 Diese dogmatische Gleichstellung hat zunächst historische Gründe. Der Föderalismus gehört naturgemäß zur deutschen Staatsgründung64 und zum historisch geprägten Gesamtkontext der Bundesstaatlichkeit.65 Er bietet außerdem Hilfestellung bei der Konkretisierung der einzelnen „Entwicklungsphasen des Bundesstaates“.66 Die synonyme Verwendung folgt gleichwohl maßgeblich aus dem inneren Wesen des Staatsrechts, wonach die „Deutung“ und „Systematisierung“ der „Verfassungsaussagen über den Bundesstaat“ schon immer im Vordergrund stand, und der Föderalismus stets dahinter zurücktreten musste.67 Hierdurch kam es im Laufe der Zeit zwar zur Schaffung eines „positivistischen“ Begriffs des Bundesstaats, der auch eine Reihe von Grundsätzen aufstellt, dabei wurde aber die Entwicklung eines abgrenzbaren Inhalts beider Begriffe, des Bundesstaats und des Föderalismus, vernachlässigt.68 Rückblickend verleihen zwar die positivrechtlich ausgeformten Grundsätze z. B. das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG den Begriffen des Bundesstaates und des Föderalismus eine gewisse Gestalt, aber nur in ihrer Gesamtschau.69 Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Bundesstaat im Besonderen Staatsrecht keine genaue Abgrenzung zum Begriff des Föderalismus ermöglicht.70 63  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837 ff.; Šarčević (Fn. 16), S. 16 ff.; Sommermann (Fn. 17), Art. 20 Rn. 24; Hense, Bundeskulturpolitik als verfassungs- und verwaltungsrechtliches Problem, DVBl 2000, 376, 383. 64  Šarčević (Fn. 16), S. 18; Ossenbühl, Föderalismus nach 40 Jahren des Grundgesetzes, DVBl 1989, 1230 ff.; Rumpler, Föderalismus als Problem der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts (1815–1871), Der Staat 16 (1977), S. 213, 215 ff.; Schmalenbach, Föderalismus und Unitarismus in der Bundesrepublik Deutschland: Die Reform des Grundgesetzes nach 1994, 1998, S. 3 ff. 65  So ist wohl die Anknüpfung des BVerfG an das „Wesen des Bundesstaats“ (E 4, 115, 141) bzw. an das Wesen des bundesstaatlichen Prinzips (E 1, 117, 131; 1, 299, 315; 13, 54, 78) sowie herkömmliche Merkmale, wie die Eigenstaatlichkeit der Länder (E 1, 14, 34; 3 58, 158; 11, 77, 88; 36, 342, 360) zu verstehen; vgl. Šarčević (Fn. 16), S. 17 Fn. 59. 66  Vgl. dazu Häberle, Die Schlußphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern, JöR 43 (1995), S. 407 ff.; Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837 ff.; Šarčević (Fn. 16), S. 18 ausführlich dazu unter A. II. 67  Šarčević (Fn. 16), S. 18. 68  Šarčević (Fn. 16), S. 18. 69  Šarčević (Fn. 16), S. 18. 70  Šarčević (Fn. 16), S. 18.



A. Der deutsche Föderalismus35

2. Zwischenbilanz Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der Wissenschaft eine unterschiedliche Einordnung des Bundesstaats- und des Föderalismusbegriffs aus staatstheoretischer und staatsrechtlicher Perspektive erfolgt. Staatsphilosophische Betrachtungen nehmen anders als das „dogmentreue“ Staatsrecht eine differenzierte Betrachtung beider Begriffe vor. Die Staatstheorie unterscheidet einen politisch geprägten Föderalismusbegriff vom normativen Bundesstaatsbegriff. Die staatsrechtliche Auffassung verwendet die beiden Begriffe hingegen synonym in erster Linie auf Grund der Existenz von Verfassungen des Bundes und der Länder und somit auf Grund des doppelten Staatscharakters. Mit der Föderalismusreform 2006 wurde der neue Typus der Abweichungsgesetzgebung geschaffen und damit ein wesentlicher Bereich des Bund-Länder-Verhältnisses, namentlich der der konkurrierenden Gesetzgebung maßgebend verändert. Diese Arbeit beschäftigt sich daher mit einem in erster Linie staatsrechtlichen Thema, weshalb eine Orientierung an staatsrechtlichen Begrifflichkeiten zweckmäßig erscheint. Auch die Bezeichnung Föderalismusreform für eine partiell bundesstaatliche Umgestaltung spricht für eine synonyme Verwendung der Begrifflichkeiten.71 Aus diesem Grund wird in der weiteren Bearbeitung nicht zwischen beiden Begriffen unterschieden.

II. Entwicklungsstufen des deutschen Föderalismus Deutschland kann auf eine lange föderative Tradition zurückblicken, die stets auf eine gedeihliche Organisation der Staatlichkeit gerichtet war und sich den jeweiligen Zeitumständen immer wieder aufs Neue angepasst hat.72 Der Föderalismus ist in Deutschland sogar tiefer verwurzelt und genießt eine stärkere „Kontinuität“ als die „staatliche Tradition“.73 Die politische Ordnung hatte bereits einen „bündischen“ Charakter zu Zeiten, in denen es noch keinen staatlichen Überbau gab.74 Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, so schwer dessen Einordnung in die modernen staats- und völkerrechtlichen Kategorien Bundesstaat und Staatenbund auch fallen mag,75 war 71  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 21 Fn. 22. (Fn. 30), Rn. 1. 73  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 10. 74  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 10. 75  Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967, S. 67 ff., 159 ff., 199 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, Reichspublizistik und Policeywissenschaft, 1988, S. 170 ff. 72  Starck

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

„stets eine Föderation seiner Stände“, auch wenn „es sich nie zu einem Staat im modernen Sinne“ entwickelt hat.76 Im 19. Jahrhundert verstand sich der Deutsche Bund als „beständiger Bund“ der souveränen Fürsten und freien Städte, demnach als Staatenbund.77 Die nie in Kraft getretene Paulskirchenverfassung von 1849 entwarf erstmals eine bundesstaatliche Organisationsform, die im Verborgenen als Muster späterer Staatsorganisation fortwirkte.78 Realisiert wurde diese in der Gründung des Norddeutschen Bundes von 1867 und in der Folge in dessen Erweiterung zum Deutschen Reich von 1871.79 Ohne den Föderalismus wäre die von Bismarck verfolgte Gründung des Deutschen Reiches nicht möglich gewesen. Die Reichsverfassung von 1871 war aus diesem Grund überaus „bündisch“.80 Auch in der Weimarer Republik blieb der föderale Aufbau trotz „massiver Bestrebungen“ zur Unitarisierung im Kaiserreich erhalten.81 Die extrem zentralistische nationalsozialistische Diktatur ist wiederum nur ein zeitliches Intervall geblieben, wie auch der Zen­ tralismus der DDR.82 Insbesondere nach der Schreckensherrschaft der Na­ tionalsozialisten erschien der föderale Staatsaufbau 1949 als ein „geeignetes Organisationsprinzip“.83 Die Aufteilung von Kompetenzen zur „Verhinderung von Machtkonzentration“ wirkte wie ein probates Mittel zur Sicherung „individueller Freiheit“.84 Außerdem bot der föderale Aufbau schon damals eine gute Basis für die eines Tages erfolgende Wiederherstellung der deutschen Einheit des gegenwärtig zerrissenen deutschen Staates.85

76  Isensee

(Fn. 23), § 126 Rn. 10. Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 1975, S. 658 ff.; Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 10. 78  Pauly, Die Verfassung der Paulskirche und ihre Folgewirkungen, Bd.  I, 3. Auflage, 2003, § 3 Rn. 37 f., 49, 56; Bartelsperger, Das Verfassungsrecht der Länder und bundesstaatliche Verfassungshomogenität, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 128 Rn. 14 ff.; Ritter, Föderalismus und Parlamentarismus in Deutschland in Geschichte und Gegenwart, 2005, S. 11 ff. 79  Gerstenberg (Fn. 21), S. 27. 80  Starck (Fn. 30), Rn. 1. 81  Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 10; Gerstenberg (Fn. 21), S. 28. 82  Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. I, 3. Auflage, 2003, § 11 Rn. 25; Isensee (Fn. 23), § 126 Rn. 10. 83  Gerstenberg (Fn. 21), S. 28. 84  Gerstenberg (Fn. 21), S. 28. 85  Gerstenberg (Fn. 21), S. 26, 28. 77  Huber,



A. Der deutsche Föderalismus37

Den „Ausgangspunkt“ der neueren „geschichtlichen Entwicklung“ des föderalen Bundesstaates bildet demnach die 1949 vom Parlamentarischen Rat getroffene Entscheidung für den „bundesstaatlichen Aufbau“.86 Seit ihrem Entstehungszeitpunkt 1949 kann die Bundesrepublik Deutschland in ihrer föderalen Dimension mit den Stichworten des „Wandels“ bzw. der „Entwicklung“ umschrieben werden.87 Ihre bereits mehr als 60jährige grundgesetzliche Entfaltung ist von erheblichen Veränderungen geprägt. Der Föderalismus entpuppt sich hierbei als ein „dynamisches“88 Organisationsprinzip, das eine beträchtliche Toleranzbreite für Entwicklungen aufweist.89 Insbesondere die Langlebigkeit des Bundesstaatsprinzips ergibt sich nicht zuletzt aus seiner Varianz und Eignung, Konflikte konstruktiv zu wenden. Diese „hohe Anpassungsfähigkeit“ des bundesdeutschen Föderalismus sorgte stets dafür, dass ein „zeitgemäß empfundenes Verständnis des Bundesstaats“ ausgebildet wurde, das „für aktuelle Problemlagen“ angemessene „Lösungen generieren“ konnte.90 Abschließend ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass auch Deutschlands beständige und stabile pluralistische Demokratie auf den Föderalismus und dessen spezifische Fähigkeit zur Konsensgewinnung zurückzuführen ist.91 Mittels „deskriptiver Tendenzbegriffe“92 – auch „Bindestrichföderalismen“ genannt93 – soll an die einzelnen Entwicklungsphasen des föderativen Bundesstaats „holzschnittartig“ erinnert werden.94 Die einzelnen Entwicklungsschritte vollzogen sich nicht linear, sondern stets in einer Art „Wellenbewegung“,95 zumeist ausgelöst durch ein historisches Ereignis. Der Rückblick auf frühere Reformansätze ist deshalb sinnvoll, weil spätere Reformvorschläge zumeist nicht erstmals auf der Bildfläche erscheinen, sondern „ihre Wurzeln oftmals in der Vergangenheit haben“.96 Ihre retrospekti86  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 24. (Fn. 66), JöR 43 (1995), 355, 407; Maier (Fn. 1), AöR 115 (1990), S.  213 ff.; Kilper / Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 1996, S. 18. 88  Benz, Föderalismus als dynamisches System, 1985. 89  Ossenbühl (Fn. 64), DVBl 1989, 1230, 1233. 90  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 842; Maier (Fn. 1), AöR 115 (1990), S. 213, 230. 91  Häberle (Fn. 66), S. 407. 92  Hense (Fn. 63), DVBl 2000, 376, 383. 93  Frenkel (Fn. 50), Nr. 309 ff. S. 112, 113 ff. 94  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 838. 95  Postlep / Döring, Entwicklungen in der ökonomischen Föderalismusdiskussion, in: Postlep (Hrsg.). Aktuelle Fragen zum Föderalismus, 1996, S. 19, 28. 96  Gerstenberg (Fn. 21), S. 52. 87  Häberle

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

ve Betrachtung deckt zum einen ihre „zeitabhängige Idealisierung“ auf,97 liefert aber auch hilfreiche Erkenntnisse, um aus der Geschichte zu lernen. Die verfolgten Leitbilder könnten unterschiedlicher kaum sein, sie reichen vom separativen über den unitarischen und den kooperativen bis hin zum reföderalisierenden98 und kompetitiven Bundesstaat. 1. Separativer Föderalismus In der föderalistischen Frühphase der Bundesrepublik Deutschland war die bundesstaatliche Ordnung nach der Konzeption des Parlamentarischen Rates von 1949 vom Leitbild eines separativen Föderalismus geprägt. Danach waren sämtliche staatliche Aufgaben zwischen Bund und Ländern streng geteilt („Trennsystem“).99 Noch heute spricht man deshalb in der Bundesstaatstheorie vom „Verbot der Mischverwaltung“.100 Die Aufgabenverteilung erfolgte betont „länderfreundlich“.101 Dies findet nach wie vor seinen grundgesetzlichen Ausdruck in der allgemeinen Zuständigkeitsverteilung des Art. 30 GG zu Gunsten der Länder wie auch in Spezialregelungen des Art. 70, 83 und 92 GG, während Bundeskompetenzen rein normativ in der Regel „Ausnahmecharakter“ haben,102 auch wenn dies der heutigen Verfassungsrealität nicht mehr entspricht.103 Spiegelbildlich dazu steht ein „finanzverfassungsrechtliches Trennsystem“, wonach das Grundgesetz ursprünglich von einer strengen Trennung von „Aufgaben, Aufgabenverantwortung“ und Aufgabenfinanzierung zwischen Bund und Ländern ausgegangen ist.104 Dieses separative Grundmuster wurde gleichwohl von Beginn an nicht streng durchgehalten, schon früh beteiligte sich der Bund an Landesaufgaben z. B. im Wege der sogenannten Mischfinanzierung.105 Allerdings wurden diese Durchbrechungen des Bundesstaatsprinzips damals 97  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 52. (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 842. 99  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839. 100  Schneider, Kooperation, Konkurrenz oder Konfrontation? Entwicklungstendenzen des Föderalismus in der Bundesrepublik, in: Klönne u. a. (Hrsg.), Lebendige Verfassung – das Grundgesetz in Perspektive, 1981, S. 104; Köttgen, Der Einwand der Mischverwaltung und das Grundgesetz, DÖV 1955, 485 ff.; darauf, dass bereits damals in der Praxis eine Mischverwaltung durchaus üblich war, verweist Loeser, Theorie und Praxis der Mischverwaltung, 1976. 101  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839. 102  Schneider, Die bundesstaatliche Ordnung im vereinigten Deutschland, NJW 1991, 2448, 2449; ders. (Fn. 100), S. 104. 103  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839. 104  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839. 105  Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449. 98  Bauer



A. Der deutsche Föderalismus39

wenn nicht als verfassungswidrig, jedenfalls als diskutabler Grenzbereich aufgefasst.106 2. Unitarischer Bundesstaat Schon in der „Aufbauphase der Bundesrepublik“ in den 1950er Jahren wurde die klare föderalistische Trennung der Verantwortungsbereiche durch die Einsicht in das Erfordernis gesamtstaatlicher Aufgabenerledigung in einer modernen „Industriegesellschaft“ relativiert.107 Es erfolgte eine auf unterschiedlichen Faktoren beruhende Abkehr vom Modell des separativen Föderalismus hin zum „unitaristischen Bundesstaat“.108 Die intensive – teilweise auf punktuellen Grundgesetzänderungen beruhende – Stärkung der Bundesgesetzgebung, „der Ausbau der Bundesverwaltung“ oder auch die „rechtsvereinheitlichend wirkende Rechtsprechung“ führten u. a. aus sachlich-normativer Sicht zur Modifikation der ursprünglich föderal angedachten Struktur.109 Unitarisierend wirkten aber auch sozioökonomische Veränderungen, wie die höhere „gesellschaftliche Mobilität“,110 die eine immer stär­kere „Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse“111 und damit auch der „grundrechtlichen Postulate“112 zur Folge hatte. Als Gegengewicht zu diesen unitarisierenden Tendenzen trat der „Bedeutungszuwachs des Bundesrats“ durch die „extensive Auslegung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesge­ setzen“.113 Letztendlich sind also für den Wandel der föderativen Ordnung nicht nur förmliche Grundgesetzänderungen sowie Entscheidungen der politischen Akteure auf Seiten des Bundes und der Länder, sondern auch „sozioökonomische Rahmenbedingungen“ verantwortlich.114

106  Müller-Vollbehr, Fonds- und Investitionshilfekompetenz des Bundes, 1975; Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449; ders. (Fn. 100), S. 104. 107  Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449. 108  Hesse (Fn. 5); Lerche, Föderalismus als nationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), S. 66, 85. 109  Böckenförde, Sozialer Bundesstaat und parlamentarische Demokratie, in: Jekewitz u. a. (Hrsg.), Politik als gelebte Verfassung: aktuelle Probleme des modernen Verfassungsstaats, Festschrift für Friedrich Schäfer, 1980, S. 101 ff.; Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839. 110  Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449. 111  Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449. 112  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839. 113  BVerfGE 8, 274, 294 f.; Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839; Häberle (Fn. 66), S. 409. 114  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 839; Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

3. Kooperativer Föderalismus In den 1960er Jahren begann eine dritte Entwicklungsphase der bundesstaatlichen Ordnung, die weniger durch sachlich-normative Unitarisierung als durch institutionelle und prozedurale Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Sinne eines kooperativen Föderalismus geprägt war.115 Das damalige Bedürfnis nach einem flexiblen „System der Zusammenordnung und Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern und unter den Ländern“116 wurde durch eine Reihe von Formen des Zusammenwirkens realisiert, die bis heute fortwirken, namentlich eine Vielzahl von „BundLänder-Kommissionen“ und von „länderübergreifenden Gremien und Ar­ beitsgruppen“.117 Weiterhin wurde das Institut der „Gemeinschaftsaufgaben“ (Art. 91 a, 91 b GG) im Jahr 1969 in das Grundgesetz aufgenommen.118 Vor allem aber zeigte sich die Idee des kooperativen Föderalismus im öffent­ lichen Finanzwesen. Während das Grundgesetz ursprünglich von einem ­finanzverfassungsrechtlichen Trennsystem ausgegangen war,119 wurden nun die besonders „ertragreichen Einkommens-, Körperschafts- und Umsatzsteuern“ zu einem Steuerverbund zusammengefasst, dessen Einnahmen zwischen Bund und Ländern „nach einem bestimmten Schlüssel“ aufgeteilt wurden.120 4. Reföderalisierter Bundesstaat? In den 80er Jahren löste Missmut über die politischen Gegebenheiten Reformansätze zu einer Reföderalisierung des Bundesstaates aus. Das Unbehagen bezog sich zuvorderst auf Begleiterscheinungen des kooperativen Föderalismus mit seinem stetigen Streben nach Konsens, insbesondere in 115  Kommission für die Finanzreform, Gutachten über die Finanzreform der Bundesrepublik Deutschland (Troeger-Gutachten), 1966, Tz. 77 ff; Konow, Kooperativer Föderalismus und Gemeinschaftsaufgaben, DÖV 1966, 368 ff.; Liebkrecht, Der kooperative Föderalismus, DVBl 1967, 72 ff.; Kunze, Kooperativer Föderalismus in der Bundesrepublik, 1968; Kisker, Kooperation im Bundesstaat, 1971; Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449. 116  Kommission für die Finanzreform (Fn. 115), Tz. 76; Luthardt, Abschied vom deutschen Konsensmodell?, Aus Politik und Zeitgeschichte 13 / 1999, S. 12 ff. 117  Rau, Bewährt oder erstarrt? Unser föderatives System auf dem Prüfstand, in: Bundesrat (Hrsg.), 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent – zur Struktur des deutschen Föderalismus, 1999, S. 17, 20; Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 118  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840; Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449. 119  Siehe oben A. II. 1. 120  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840; Schneider (Fn. 102), NJW 1991, 2448, 2449.



A. Der deutsche Föderalismus41

Hinblick auf „Politikverflechtungen im föderativen Staat“121. Als negative Konsequenzen wurden fehlende „Effizienz“, „Fachbürokratien“, „Verständigungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner sowie Transparenzdefizite“ ausgemacht.122 Als besonders einschneidend wurde aber aus verfassungsrechtlicher Sicht die „Entmachtung der Bundes- und Landesparlamente“ wahrgenommen, da „kooperativer Föderalismus“ in erster Linie „Exekutivföderalismus“ ist.123 Trotz mancher kleinerer Vorstöße konnte diese Gegenbewegung zum kooperativen Föderalismus nie richtig Fuß fassen. Es blieb bei punktuellen „Beschneidungen des überwucherten kooperativen Födera­ lismus“124, ohne dass sich ein eigenständiges „Reformkonzept“125 des reföderalisierenden Bundesstaats je konsequent durchgesetzt hätte.126 5. Erschütterter Bundesstaat Die reföderalisierenden Tendenzen der 1980er Jahre wurden erschüttert vom politischen „Großereignis der Wiedervereinigung“.127 Aufkommende Impulse in Richtung eines Konkurrenzföderalismus wurden zunächst zurückgestellt, da sie mangels Wettbewerbsfähigkeit der neuen Länder fatale Auswirkungen gehabt hätten.128 Eine weitere „Erschütterung“129 des bundesstaatlichen Gleichgewichts brachte der „fortschreitende Prozess der europäischen Integration“.130 Sie hatte Kompetenzeinbußen in substantiellem Maße zur Folge,131 wodurch die bestehende innerstaatliche Kompetenzverteilung aufgeweicht wurde.132 Somit haben die deutsche Wiedervereinigung und die Europäisierung als „Föderalismusbeben“ (…) „die Gestalt der bundesstaatlichen Ordnung nachhaltig verändert“; beide Phasen werden mit den 121  Scharpf / Reissert / Schnabel, Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, 1976; Hesse (Hrsg.), Politikverflechtung im föderativen Staat, 1978; Posse, Föderative Politikverflechtung in der Umweltpolitik, 1986. 122  Klatt, Parlamentarisches System und bundesstaatliche Ordnung, APuZ, 31 (1982), S. 3. 8; Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 123  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 124  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 125  Ossenbühl, Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 158. 126  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 127  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 128  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 129  Scharpf (Fn. 1), S. 51. 130  Bauer (Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840. 131  Hoppenstedt (Fn. 13), S. 173. 132  Hennecke, Aufgabenverflechtung zwischen EG, Bund und Ländern, dargestellt am Beispiel des Umweltschutzes, in: Magiera / Merten (Hrsg.), Bundesländer und Europäische Gemeinschaft, 1988, S. 217, 221.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Begriffen des „solidarischen“, „reformierten“ oder „europäisierten“ Föderalismus umschrieben.133 6. Kompetitiver Föderalismus Seit den 90er Jahren wird für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern bzw. den Ländern untereinander das Prinzip eines kompetitiven Föderalismus (Konkurrenzföderalismus, Wettbewerbsföderalismus) in Abkehr von dem eine „Verantwortungsverwischung“ begünstigenden kooperativen Föderalismus verfolgt.134 Letzterer sei „konkordanzdemokratisch“135 auf ein „Übermaß an Einigungszwängen“ angelegt, wodurch man geradewegs in eine „Politikverflechtungsfalle“ laufe.136 Das Leitbild des „Wettbewerbs­ föderalismus“137 ist hingegen auf eine „Entflechtung“ dieser Verschränkungen und insgesamt auf eine stärkere Trennung von Bund- und Landesangelegenheiten gerichtet.138 Damit sollen den Ländern gegenüber dem Bund eigene Gestaltungsspielräume geschaffen werden, damit ein innovativer und leistungssteigernder Wettbewerb um die besten Lösungen im Bundesstaat in Gang gesetzt werden kann. Die Länder sollen in die Lage versetzt werden, eigene, an ihren Präferenzen orientierte und bei positiver Entwicklung auch für andere Regionen adaptierbare politische Lösungen, zu erproben.139 Dadurch soll der „bundesweite Immobilismus“ überwunden werden.140 Der Wettbewerbsföderalismus muss aber nicht zwingend als 133  Bauer

(Fn. 4), DÖV 2002, 837, 840, 841. (Fn. 1), S. 259 ff.; Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, 2005, S. 104 ff.; Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland, 2005, S. 159 ff. 135  Renzsch, Finanzausgleich und die Zukunft des Föderalismus, in: Hüttig / Nägele (Hrsg.), Verflochten und verschuldet. Zum (finanz-)politischen Reformbedarf des deutschen Föderalismus in Europa, Loccumer Protokolle 60 / 98, S. 24, 34. 136  Scharpf / Reissert / Schnabel (Fn. 121), S. 13 ff.; Huber, Deutschland in der Föderalismusfalle?, 2003; Darnstädt, Die Konsensfalle, 2004; Wachendorfer-Schmidt, Politikverflechtung im vereinigten Deutschland, 2. Auflage, 2005. 137  Münch, Konkurrenzföderalismus für die Bundesrepublik: Eine Reformdebatte zwischen Wunschdenken und politischer Machbarkeit, in: Jahrbuch des Föderalismus 2 (2001), 115 ff.; Ottnad / Linnartz, Föderaler Wettbewerb statt Verteilungsstreit, 1997, S.  164 ff.; Männle (Hrsg.), Föderalismus zwischen Konsens und Konkurrenz, 1998. 138  Schmidt-Jortzig, Herausforderungen für den Föderalismus in Deutschland. Plädoyer für einen neuen Wettbewerbsföderalismus, DÖV 1998, 746, 749 ff. 139  Leonardy, Deutscher Föderalismus jenseits 2000: Reformiert oder deformiert?, ZParl 1999, 135, 152. 140  Stock, Konkurrierende Gesetzgebung, postmodern: Aufweichung durch „Abweichung“?, ZG 2006, 226, 229. 134  Oeter



A. Der deutsche Föderalismus43

„Gegenmodell“141 zum kooperativen Föderalismus gedacht werden, sondern lässt sich auch als dessen Fortsetzung begreifen, indem er eine „tragende Spannung“ in das Gefüge der bundesstaatlichen Akteure bringt, die das Bündische stützen soll. Die „Zusammenarbeit“ findet bloß nicht in vertrauter Eintracht, sondern auf andere Weise, nämlich „in Konkurrenz“ statt.142 Dies ist kein Widerspruch zur Idee der Kooperation, auch wenn es auf den ersten Blick so scheint. „Kooperatives und konkurrentes Verhalten als sich ausschließende Gegensatzpaare zu sehen, wäre zu einseitig.“143 In ökonomischen Betrachtungen ist Konkurrenz nicht nur Gegengewicht, sondern auch Ausdruck von Kooperation, in welcher die Konkurrenten auf dem jeweiligen Markt agieren.144 Konkurrenten vereinigen sich bzw. wählen kooperatives Verhalten, wenn sie dadurch ihren Zielen näher kommen als in einer Konkurrenzsituation. Solche strategischen Kooperationen treten zum konkurrierenden Verhalten hinzu, verdrängen es aber nicht.145 Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht bedürfen Kooperationen erhöhter Beobachtung, wenn aus ihnen abgestimmte Handlungsweisen derart resultieren, dass sie den Wettbewerb beschränken und das Wirken des freien Marktes behindern.146 Wettbewerbsbeschränkende Absprachen sind unter Konkurrenten zwar nicht erlaubt, ihr Konkurrenzverhalten auf dem Markt erhält aber beispielsweise durch das Kartellrecht als Regelwerk für kooperatives Verhalten feste Konturen.147 Der wesentliche Unterschied zwischen kooperativem und kompetitivem Föderalismus lässt sich – trotz der beschriebenen Überschneidungen – wie folgt darstellen: Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern wird im Rahmen des kompetitiven anders als beim kooperativen Föderalismus nicht zum „institutionellen Selbstzweck eines harmonistischen Bundesstaatsmodells“ emporgehoben,148 sondern ist lediglich „notwendige Form der Konfliktbewältigung im Rahmen eines strukturell kompetitiven Prozesses der Austragung substantieller politischer Meinungsverschiedenheiten“149 in einem demokratischen Parteienstaat.150 etwa Sanden (Fn. 134), S. 170. Europa als Wettbewerbsgemeinschaft von Staaten, in: Kirchhof P. u. a. (Hrsg.), Staaten und Steuern, Festschrift für Klaus Vogel, 2000, S. 593, 604. 143  Zerle, Kooperationslösungen zwischen Staat und Wirtschaft: Selbstverpflichtungen als umweltpolitisches Instrument, 2004, S. 18. 144  Leisner (Fn. 142), S. 593, 604; Zerle (Fn. 143), S. 17 ff. 145  Zerle (Fn. 143), S. 17. 146  v. Knorring, Volkswirtschaftslehre, in: Förschler / Hümer / Rössle / Stark (Hrsg.), Führungswissen für kleine und mittlere Unternehmen, Bd. IV, 3. Aufl., 2003, S. 75; Zerle (Fn. 143), S. 18. 147  Leisner (Fn. 142), S. 593, 604. 148  Schneider (Fn. 100), S. 119. 141  So

142  Leisner,

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Aus historischer Sicht hat der kompetitive Föderalismus aus dem „Föderalismusbeben“151 der Wiedervereinigung und dessen Bewältigung entscheidende Schubkraft erhalten.152 Dieser Auffassung ist auch Wolfgang Schäuble, wenn er meint, dass innerstaatlicher Wettbewerb Folge der historischen Entwicklung in Deutschland im letzten Jahrzehnt des auslaufenden Jahrhunderts ist.153 Das kategorische Denken in ökonomischen und politischen Systemen in Ost und West war nach dem formalen Akt der deutschen Einheit nicht überwunden, sondern hat der politischen Ordnung weiterhin Impulse verliehen.154 So mahnte Richard von Weizsäcker 1989 die Deutschen in Ost und West, sie könnten und sollten „etwas voneinander lernen“ – angesichts ihrer bisherig differenten Entwicklung.155 Abschließend bleibt festzuhalten, dass es sich bei dem kompetitiven Föderalismus nicht um ein eigenständiges Rechtsprinzip handelt, an dem die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ausgerichtet werden könnte.156 Vielmehr soll der Wettbewerb lediglich ein „zentrales Leitmotiv“ und politisches Gestaltungsprinzip des Föderalismus sein. Auch in dieser Hinsicht hat er aber bei der Austarierung der föderalen Kräfte eine nicht zu unterschätzende „heuristische“ Bedeutung.157 7. Entstehung und Bedeutung der verfolgten Leitbilder In den vorangehenden Abschnitten erfolgte eine hauptsächlich normative Annäherung an den Föderalismus. Durch die Fokussierung auf einzelne „Entwicklungsbrennpunkte“158 seit 1949 wurden vor allem Veränderungen in der Gesetzgebung und Verwaltung z. B. durch die Aufwertung des Bundesrats aufgezeigt. Die Untersuchung vollzog sich dabei in erster Linie durch eine 149  Schneider

(Fn. 100), S. 119. (Fn. 100), S. 117. 151  Siehe oben A. II. 5. 152  Leisner (Fn. 147), S. 593, 604. 153  Schäuble, in: Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, 1990, S. 11. 154  Leisner (Fn. 147), S. 593, 604. 155  Leisner (Fn. 147), S. 593, 604. 156  Sommermann (Fn. 17), Art. 20 Abs. 1 Rn. 55. 157  Sommermann (Fn. 17), Art. 20 Abs. 1 Rn. 55; Callies, Die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG von dem Hintergrund von kooperativem und kompetitiven Föderalismus, DÖV 1997, 889, 891 ff. 158  Kilper / Lhotta, Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, 2004, S. 10. 150  Schneider



A. Der deutsche Föderalismus45

Anknüpfung an bestehende Rechtsnormen.159 Dem Föderalismus, dessen Sinngehalt sich wohl kaum in einem Punkt erschöpft,160 kann man sich gleichwohl aus verschiedenen Richtungen nähern.161 Daher soll im Anschluss eine insbesondere von der modernen Politikwissenschaft ausgehende, deskriptiv-analytische Betrachtung erfolgen.162 Diese befasst sich sowohl mit der Entstehung und Veränderung föderalistischer Leitbilder wie auch mit der Frage, wie unter ihrem Einfluss politische Entscheidungen getroffen werden.163 Maßgebend ist hierbei die Steuerungskraft, die von den „Wertvorstellungen und Ordnungsideen“ ausgeht.164 Nur diese analytische Beschreibung und Rekonstruktion der Abläufe bietet aus politikwissenschaftlicher Sicht Aufschluss über das „Funktionieren des Föderalismus in der Verfassungs­ wirklichkeit“.165 Trotz des politikwissenschaftlichen Ansatzes soll in einer rechtswissenschaftlichen Untersuchung eine Einordnung föderalistischer Leitbilder ihrer Rechtsnatur nach nicht vernachlässigt werden, wie auch der aus den Leitbildern gewonnenen dogmatischen Figuren. a) Entstehung föderalistischer Leitbilder Während die Bezeichnung einzelner föderalistischer Leitbilder häufig aus einem plötzlichen und intuitiven Kreationsakt im Rahmen des politischen Diskurses hervorgeht, erfolgt die Konturierung der Begrifflichkeiten durch einen „methodisch geleiteten“ Abstraktionsprozess166, der sich als ein „Wechselspiel von politischer Praxis und wissenschaftlicher Theorie“ be159  Vgl. zur normativen Betrachtung unter vielen Oeter (Fn. 1); Šarčević (Fn. 16); Bauer, Bundesstaatstheorie und Grundgesetz, in: Blankenagel / Pernice / Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle, 2004, S.  645 ff. 160  Benz, Themen, Probleme und Perspektiven der vergleichenden Föderalismusforschung, PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 13; Kilper / Lhotta (Fn. 158), S. 18. 161  Kilper / Lhotta (Fn. 158), S. 18. 162  Große Hüttmann, Die föderale Staatsform in der Krise?, Bürger im Staat, 1999, 107 ff.; Schultze, Föderalismus, in: Nohlen / Schultze (Hrsg.), Lexikon der Poli­ tikwissenschaft, Bd. I, 2010, S. 266 ff.; Jachtenfuchs, Ideen und internationale Beziehungen, ZIB 1995, 417 ff.; Braun, Der Einfluß von Ideen und Überzeugungssystemen auf die politische Problemlösung, PVS 1998, 797 ff.; Schneider, Europäische Integration: die Leitbilder und die Politik, in: Kreile (Hrsg.), Die Integration Europas, 1992, S. 3 ff.; Kilper / Lhotta (Fn. 158), S. 18. 163  Kilper / Lhotta (Fn. 158), S. 18 / 19; Benz (Fn. 160), PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 19. 164  Kilper / Lhotta (Fn. 158), S. 18; Benz (Fn. 160), PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 44. 165  Kilper / Lhotta (Fn. 158), S. 18. 166  Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“ – Über Nutzen und Gefahren von Staatsbildern, Der Staat 40 (2001), S. 495, 508.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

schreiben lässt167. Hierbei befruchten sich wissenschaftliche Theoriebildung und die eher rechtspolitisch geprägten Leitbilddebatten gegenseitig.168 Während die Diskussionen um die Begründung einer Bundesstaatstheorie als Forum für die Generierung von Leitbildern besondere Bedeutung erlangen, gelten die Leitbilddebatten als „Plattform für Auseinandersetzungen über verfassungsrechtliche Strukturreformen“.169 Zur wissenschaftlichen Begründung einer Bundesstaatstheorie haben in der Vergangenheit einige Autoren maßgebend beigetragen, indem sie zum Teil die Begriffsbildung entscheidend geprägt oder mitgeformt haben.170 Hinzutreten „Pionierentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts“, wie etwa das Erste Fernsehurteil,171 die einen „nachhaltigen“ Einfluss auf das Bundesstaatsprinzip in Deutschland hatten.172 Aus welchen Elementen sich eine föderale Phase jeweils genau konstituiert hat, wird zumeist erst in einer retrospektiven Betrachtung deutlich. Häufig handelt es sich um eine bunte Mischung von „Texten“, „Dogmatiken“, „Theorien“, „politischen Entwürfen“, „Fällen“, „Gerichtsentscheidungen“ und gelebter „Staatspraxis“.173 Besonders gut lässt sich dieses Zusammenwirken verschiedener Faktoren an der Phase des kooperativen Föderalismus illustrieren.174 Die Idee des kooperativen Föderalismus entstand im sog. Troeger-Gutachten, welches in einer Realanalyse die damals neuerlich vielen Verträge zwischen Bund und Ländern in den Blick nahm.175 Auf dieses Phänomen der Staatspraxis reagierte der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 1969 und schuf die Gemeinschaftsaufgaben in den Art. 91 a und b GG. Damit ist der Gesetzgeber nicht nur auf den Druck der Praxis tätig geworden, sondern hat ebenso zukunftsgewandt einen formellen 167  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2.  Auflage, 1984, S. 655; Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 176. 168  Bauer (Fn. 159), S. 645, 660. 169  Bauer (Fn. 159), S. 645, 660. 170  Smend hat beispielsweise den Begriff der „Bundestreue“ eingeführt, der später auch vom BVerfG rezipiert wurde, vgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, 1916; ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Auflage, 1994, S. 39 ff., u. a. BVerfGE 12, 205, 254 ff.; Hesse wiederum hat den Begriff des „unitarischen Bundesstaats“ geprägt, vgl. Hesse, Der unitarische Bundesstaat, 1962; Beide Beispiele vgl. Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 175. 171  BVerfGE 12, 205 ff.; Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 175. 172  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 175. 173  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 175. 174  Oeter (Fn. 1), S. 266 ff. 175  Schneider, Verträge zwischen Gliedstaaten im Bundesstaat, VVDStRL 19 (1961), S. 1 ff.; Ein anderes Beispiel für einen Anstoß zur Umstellung auf ein neues Leitbild, nämlich auf das des kompetitiven Föderalismus, stellen die Ergebnisse der Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“, Entflechtung 2005, 2000, vgl. unter B. III. 1., dar.; vgl. Bauer (Fn. 159), S. 645, 660 Fn. 110.



A. Der deutsche Föderalismus47

Rahmen zumindest für eine spezielle Kooperationsform geschaffen.176 Bis zum heutigen Tag gibt es eine Vielzahl von Kooperationsformen zwischen den bundesstaatlichen Akteuren, von denen nur die wenigsten in den Gesetzestexten erfasst sind.177 Das Leitbild des kooperativen Föderalismus bietet in diesen Fällen aber einen gewölbeartigen Überbau, mit dem alle Kooperationsformen abgebildet werden können. Die Entwicklung der einzelnen föderalistischen Phasen kann man sich als einen ständig währenden „Prozess von Rezeption und Produktion“ vorstellen.178 In den Rezeptionsprozessen wird das derzeitige Modell durch „Rechtsprechung und Wissenschaft“ an der Realität gemessen.179 Dabei kommt es ähnlich wie bei der Lehre zur Rechtsanwendung von Engisch180 zu einem Hin- und Herwandern des Blicks zwischen dem idealtypischen Modell und der realtypischen Wirklichkeit.181 Ergibt der Abgleich eine Inkongruenz, ist eine Fortbildung des alten bzw. Produktion eines neuen Modells notwendig, so dass am vorläufigen Ende des Prozesses von einer „geronnenen Wirklichkeit“ in Form des aktuellen Modells gesprochen werden kann.182 „Die Konstruktion der Leitbilder stellt sich so gesehen als ein fortgesetztes Experimentieren innerhalb eines vorgegebenen, durch die äußeren und förmlichen Elemente der Verfassung festgeschriebenen Rahmens dar, als ein im Kern diskursiver Vorgang, mit dem eine pluralisierte und zusehends fragmentierte Gesellschaft versucht, sich über die essentiellen Grundlagen ihres Zusammenlebens zu verständigen.“183

176  Häberle

(Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 176. (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 176. Zu den Kooperationsformen siehe unten Kapitel 4. D. VI. und D. VII. 178  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 173; zur Veränderung von Leitbildern auch Trute, Herausforderungen an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Reich (Hrsg.), Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, 2002, S. 23, 26, 28 und 34. 179  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 173. 180  „Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt“, vgl. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Auflage, 1963, S. 15. 181  Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: Jekewitz / Klein / Kühne / Petersmann / Wolfrum (Hrsg.), Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung, Festschrift für Karl Josef Partsch, 1989, S. 555, 566. 182  Häberle (Fn. 8), Die Vewaltung 1991, 169, 173. 183  Volkmann, Rechtsgewinnung aus Bildern – Beobachtungen über den Einfluss dirigierender Hintergrundvorstellungen auf die Auslegung des heutigen Verfassungsrechts, in: Krüper / Merten / Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 77, 89 unter Verweis auf Vertiefungen bei Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), S. 157 ff. 177  Häberle

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

b) Bedeutung föderalistischer Leitbilder Die föderalistischen Leitbilder entfalten durch den vielfachen Gebrauch in der Staatspraxis häufig eine gewisse Bindungswirkung.184 Eine spätere Dogmatisierung der Leitbilder als verfassungsrechtliche Strukturprinzipien scheint somit nicht von vornherein ausgeschlossen.185 Hierbei ist aber die den Leitbildern eigene Deutungsoffenheit zu bedenken. Sie enthalten weder konkrete Ge- oder Verbote, noch sind sie „falsifizierbar“.186 Sie werden zum Teil auch für „dogmatisch völlig unbeherrschbar“ gehalten.187 Ihnen mangele es an „normativer Valenz“.188 In der Tat haben sie weder den Charakter von Rechtssätzen noch von vertraglichen Absprachen zwischen den bundesstaatlichen Akteuren, demnach keine rechtliche Verbindlichkeit. Anders als Rechtsbegriffe sind Leitbilder naturgemäß „nicht einklagbar“.189 In der Weise wie Rechtsbegriffe auf „maximale“ inhaltliche „Eindeutigkeit“ vor dem Hintergrund des Rechtsstaatsprinzips angewiesen sind, haben Leitbilder einen offenen Charakter und „laden“ mit einem „kreativen Moment“ „zu Deutungen ein“.190 Der Reiz des Bildes liegt hierbei in seiner „Suggestion, dass man da Verschiedenes sehen könne (und) der Öffnung für Diversität, mit der auch Recht in seinen Steuerungsbemühungen zunehmend konfrontiert ist“.191 Leitbilder dienen daher – wie andere „Schlüsselbegriffe“192 auch – der Verschränkung von Perspektiven und dem Zugang zu neuen Argumentationsebenen.193 Sie können zunächst noch unausgereiften Gedanken ersten Halt geben, dem Denken eine grobe Richtung weisen und „weitere Reflektionsprozesse“ ord184  Voßkuhle

(Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 509. (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 509. 186  Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 507. 187  Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 510. 188  Bauer (Fn. 159), S. 645, 661 unter Verweis auf Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 509. 189  Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 223, 235. Baer, a. a. O., S.  223, 226 nennt „Begriffe, die den Vorgang der Dogmatisierung durchlaufen haben, Rechtsbegriffe“ und grenzt damit zu „ ‚nur‘-Schlüsselbegriffen“ wie Leitbildern ab. Dieser Gegenüberstellung wird hier gefolgt. 190  Baer (Fn. 189), S. 223, 228, 231, 232; Beispiele aus der Rechtswissenschaft sind das „humane Gericht“ oder der „aktivierende Staat“, vgl. Baer (Fn. 189), S. 223, 232; Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 510 schließt von der Deutungsoffenheit auf die dogmatische Unbeherrschbarkeit der Leitbilder. 191  Baer (Fn. 189), S. 223, 251; zur Suggestivkraft von Staatsbildern ebenso Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 509. 192  Nach Baer (Fn. 189), S. 223, 224 sind Schlüsselbegriffe Typen, Modelle und insbesondere Leitbilder. 193  Baer (Fn. 189), S. 223, 225. 185  Voßkuhle



A. Der deutsche Föderalismus49

nen.194 Von den herkömmlichen Kategorien der „Werte“ und „Prinzipien“ unterscheiden sich die Leitbilder dadurch, dass sie diesen vorangestellt sind und ihnen mit ihrem „Bild“ „Farbe und Kontur“, also „Inhalt“ verleihen.195 Während „Werte“ und „Prinzipien“ also mit ihrem „Gewicht“ in „die Rechtsanwendung“ eingehen, ist es beim Leitbild der „Inhalt“.196 Trotz des informellen Charakters sind Leitbilder in ihren tatsächlichen Wirkungen, die mehr oder weniger subtil sein können, nicht zu unterschätzen.197 Wie jede verfassungsrechtliche Theorie sind sie laut Häberle in der Lage, „die diffuse bzw. pluralistische Wirklichkeit ordnend und z. T. gestaltend beim Namen (zu) nennen und auf Begriffe zu bringen“.198 Neben diesem Gegenwartsbezug sollen Leitbilder auch über eine Zukunftsgewandtheit in dem Maße verfügen, wie die einzelnen Etappen „selbst schöpferisch sind“.199 Sanden hält dies für einen „Irrglauben“.200 Die Konzeption des bundesdeutschen Staates lasse sich nicht mit einem einzigen Begriff abbilden.201 Aus diesem Grund verzichtet er von vornherein auf begriffliche Einordnungen.202 Häberle überstrapaziere die Verfassungslehre, denn ein Begriff könne nicht gleichzeitig Realität und Zukunft im Sinne eines politischen Programms erfassen.203 Sanden ist dabei insofern zuzustimmen, als die föderalistischen Leitbilder auf wissenschaftstheoretischen Annahmen beruhen und damit die Verfassungswirklichkeit nur abstrakt abbilden können. Das sieht aber auch Häberle, wenn er zu bedenken gibt, dass die föderalistischen Leitbilder wie jede wissenschaftliche Theoriebildung ihre „Grenzen“ haben.204 Die Wirklichkeit ist zu vielfältig, um sie in einer Theorie zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenzufassen und abzubilden.205 Sandens Position konsequent zu Ende gedacht, hätte zur Folge, dass auf jedwede Begriffsbildung in der Föderalismusfor-

194  Voßkuhle

(Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 507. (Fn. 183), S. 77, 85. 196  Volkmann (Fn. 183), S. 77, 85. 197  Ging es unter A. II. 7. a) noch darum eine Vorstellung über den Prozess der Entstehung der Leitbilder zu gewinnen, stellt sich hier die Frage, was die Begriffe im Stande sind zu leisten. 198  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 184; ebenso Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 507 / 508, der die Fähigkeit der Leitbilder betont, Komplexität zu reduzieren. 199  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 174. 200  Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland, 2005, S. 147. 201  Sanden (Fn. 200), S. 147. 202  Sanden (Fn. 200), S. 147. 203  Sanden (Fn. 200), S. 147. 204  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 183. 205  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 185. 195  Volkmann

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

schung verzichtet werden müsste.206 Damit wäre die Umschreibung des Föderalismus der Beliebigkeit anheimgestellt.207 Außerdem würde die Tatsache ausgeblendet, dass alle wissenschaftlichen Begrifflichkeiten auf theoretischen Modellannahmen beruhen.208 Das Phänomen des Föderalismus abzubilden ist eine durchaus komplexe Aufgabe, davon zeugen schon die zahlreichen Adjektive und Bindestrich-Präfixe, mit denen er umschrieben wird.209 Diese begriffliche Pluralität beruht aber nicht zuletzt auf den vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen, aus denen er erforscht wird.210 Aus Scheu vor Komplexität gleichwohl auf eine, wenn auch vielfältige Begriffsbildung zu verzichten, erscheint nicht angemessen. Abschließend kann Sanden auch nicht in der Einschätzung gefolgt werden, die Begriffe könnten Zukünftiges nicht erfassen.211 Die Zukunftsgewandtheit der Begriffe liegt gerade darin, dass nur durch Reibung an alten Begriffen neue entstehen können. Um es mit den Worten von Huber zu sagen: „stillen (Leitbilder) ein Bedürfnis nach Orientierung und Sinngebung und halten die Verfassung offen für sich wandelnde gesellschaftliche Rahmenbedingungen“.212 Die Begrifflichkeiten dienen somit auch der Fortentwicklung des Typus Verfassungsstaat.213 c) Steuerungswirkung der Leitbilder Weiterhin lohnt sich ein genauerer Blick auf die steuernde Wirkung föderalistischer Leitbilder. Wie jede Systembildung in der Rechtswissenschaft geht auch das Denken in föderalistischen Leitbildern auf die elementare Ordnungsaufgabe des Rechts zurück.214 Teil dieser Ordnungsaufgabe ist die Steuerungsfunktion des Rechts.215 Aus der Betriebswirtschaft und Unternehmensführung ist die steuernde und auch lenkende Funktion von Leitbildern wohl bekannt.216 Dort sind sie das Ergebnis eines „mehrschichtigen Verar206  Benz

(Fn. 160), PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 13. (Fn. 160), PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 13. 208  Benz (Fn. 160), PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 13. 209  Frenkel (Fn. 50), Nr. 309 ff. S. 112, 113 ff. 210  Benz (Fn. 160), PVS 42 (2001), Sonderheft 32, S. 9, 13. 211  Sanden (Fn. 200), S. 147. 212  Huber, Rechtsgewinnung aus Bildern  – Kurzintervention, in: Krüper / Merten / Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 91. 213  Häberle (Fn. 8), Die Verwaltung 1991, 169, 184. 214  Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage, 2006, S. 2. 215  Schmidt-Aßmann (Fn. 214), S. 18. 216  Bergler, Psychologie des Marken- und Firmenbildes, 1963; Wewer, Leitbilder und Verwaltungskultur, in: Blanke / von Bandemer / Nullmeier / Wewer (Hrsg.), Handbuch zur Verwaltungsreform, 2. Auflage, 2001; Koehne, Das Selbstbild deutscher 207  Benz



A. Der deutsche Föderalismus51

beitungsprozesses zwischen individuellem Wunschprofil und gruppenspezifischen sozialen Normenvorstellungen“217 und drücken die Erwartungen der Gruppe gegenüber dem Einzelnen aus.218 Die dem Leitbild zugrundeliegenden Werte gehen hierbei mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und Totalität einher.219 Personen, die sich den festgelegten Werten bzw. Spielregeln nicht verpflichtet fühlen, erfahren ggf. eine negative Ausgrenzung220 in der Form, dass ihnen die Darlegungslast auferlegt wird, wenn sie aus dem System ausscheren wollen. Im umgekehrten Fall dient das Leitbild als Begründungserleichterung. Somit verfolgen Unternehmensleitbilder letztlich das Ziel, verhaltensregulierend leitbildadäquates Verhalten zu fördern.221 In diesem Zusammenhang steht eher das „Leiten“222 und nicht so sehr die offene Idee des Bildes im Vordergrund.223 Bei den föderalistischen Leitbildern geht es hingegen sowohl um das „Lenken“ als auch um eine übergeordnete Vision. Anders als Unternehmensleitbilder kommen föderalistische Leitbilder nicht durch Hierarchie, sondern diskursiv zustande. Außerdem haben sie in der Regel eine längere Lebensdauer als Unternehmensleitbilder, die etwa alle acht bis zehn Jahre für überdenkenswert gehalten werden, da sie sich dem schneller vollziehenden wirtschaftlichen Strukturwandel immer wieder aufs Neue anpassen müssen.224 Doch worin besteht nun die konkrete Steuerungsfunktion föderalistischer Leitbilder? In der jüngeren politikwissenschaftlichen Literatur geht man davon aus, dass das Handeln politischer Akteure weniger von rationalen Strategien also „Interessen und ihrem Austausch“ als vielmehr von „Ideen, Wertvorstellungen und Überzeugungen“ geprägt ist.225 Diese Leitbilder in Gestalt von Motiven und Zielvorstellungen werden folglich den Interessen, Unternehmer, 1976; Eichener / Mai / Klein (Hrsg.), Leitbilder der Büro- und Verwaltungsorganisation, 1995; Möltgen / Reichwein, Begriff und Funktion von Leitbildern, DNV 1 / 1999, S. 9 ff. 217  Bergler (Fn. 216), S. 138. 218  Koehne (Fn. 216), S. 28. 219  Koehne (Fn. 216), S. 28. 220  Koehne (Fn. 216), S. 28. 221  Belzer, Leitbilder – Potentiale und Perspektiven für moderne Organisationen, in: Belzer (Hrsg.), Sinn in Organisationen? – Oder: warum haben moderne Organisationen Leitbilder, 2. Auflage, 1998, S. 13, 48; Baer (Fn. 189), S. 223, 235. 222  Sprachwissenschaftlich geht leiten auf leiden zurück, was ursprünglich gehen oder weggehen bedeutete, vgl. Baer (Fn. 189), S. 223, 236 Fn. 98. 223  Baer (Fn. 189), S. 223, 235. 224  Wewer (Fn. 216), S. 155, 156, 159. 225  Große Hüttmann (Fn. 162), Bürger im Staat, 1999, 107, 108; Jachtenfuchs (Fn. 162), ZIB 1995, 417, 428; Braun (Fn. 162), PVS 1998, 797, 798; Schneider (Fn. 162), S. 3, 4 f.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

die daraus ursächlich entstehen, vorangestellt.226 Sie gelten dabei als „Wissen über die Wirklichkeit“,227 wobei damit nicht harte Fakten, sondern „Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der je gegebenen Situation“228 gemeint sind.229 „Was man sich vornimmt, ergibt sich aus dem, was man wahrnimmt; was man wahrnimmt, wie man die Situation auslegt, das hängt vom Motivhorizont (…) ab (…).“230 Die Leitbilder sind demnach eine Art Filter, durch den die einzelnen bundesstaatlichen Akteure beispielsweise die Länder, „die politische Wirklichkeit wahrnehmen“ und auf dieser Grundlage „ihre Interessen definieren“.231 Sie sind folglich nicht nur richtungsweisend im politischen Prozess, sondern spielen schon auf der vorgelagerten Ebene der „subjektiven“ „Wahrnehmung“ der Wirklichkeit eine entscheidende Rolle.232 Selbstredend bleiben durch die Einnahme einer bestimmten Blickrichtung andere Betrachtungsweisen versperrt.233 In den Köpfen entscheidungsbefugter Akteure entsteht somit vor dem Hintergrund des jeweils herrschenden, föderalen Leitbilds eine gewisse Grundeinstellung bzw. ein „Vorverständnis“, welches ihre Entscheidungen prägt.234 „Ordnungsideen“, „Werte“ und damit Leitbilder präjudizieren beispielsweise die Präferenzen von Richtern, von denen sie permanent angewendet, aktualisiert und neu hergestellt werden.235 Um es mit den Worten von Starck zu sagen, handelt es sich bei Leitbildern um „mächtige geistige Strömungen, die in alle Institutionen und Strukturen irgendwie einsickern“236, aber an sich keine herkömmliche Dogmatik sind.237 Das Eindringen der „Ideensysteme“238 erfolgt selten in 226  Große

Hüttmann (Fn. 162), Bürger im Staat, 1999, 107, 108. (Fn. 162), ZIB 1995, 417, 428. 228  Schneider (Fn. 162), S. 3, 4. 229  Große Hüttmann (Fn. 162), Bürger im Staat, 1999, 107, 108. 230  Schneider (Fn. 162), S. 3, 4. 231  Große Hüttmann (Fn. 162), Bürger im Staat, 1999, 107, 108. 232  Große Hüttmann (Fn. 162), Bürger im Staat, 1999, 107, 108. 233  Großmaß, Orientierung und Verwirrung – Zur Bedeutung von Bildern im feministischen Diskurs, in: Großmaß / Schmerl (Hrsg.), Leitbilder, Vexierbilder und Bildstörungen, 1996, S. 19, 20; Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 507. 234  Baer (Fn. 189), S .223, 244; Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 506. 235  Lhotta, Verfassungsgerichtsbarkeit im Bundesstaat: Überlegungen zu einer neo-institutionalistischen Ergänzung der Forschung, in: Jahrbuch des Föderalismus 4 (2003), 49, 64 so auch Volkmann (Fn. 183), S. 77, 80. 236  Starck, Die Rechtswissenschaft in der Zukunft, in: Eberle / Ibler / Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für Winfried Brohm, 2002, S. 567, 572. 237  Starck (Fn. 236), S. 567, 572, 573; Baer (Fn. 189), S. 223, 237. 238  Baer (Fn. 189), S. 223, 235. 227  Jachtenfuchs



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großen Wellen,239 sondern eher tröpfchenweise, aber beständig und vor allem mit Breitenwirkung. d) Dogmatische Figuren als Kristallisationen Auch wenn die Leitbilder in dieser Arbeit nicht als Figuren klassischer Dogmatik eingeordnet werden,240 gehen gelegentlich aus ihnen Produkte hervor,241 die selbst zur herkömmlichen Dogmatik werden. Das ist am „Verbot der Mischverwaltung“242 gut erkennbar, das aus dem Leitbild des separativen Föderalismus entstanden ist.243 Leitgedanken durchlaufen in der Regel einen Prozess reger Diskussion, setzen sich mehr oder weniger durch und sind das Ergebnis einer „Kompromiss- (…) und Konsensbildung“.244 Verfestigen sich Begriffe, Ordnungsvorstellungen oder Deutungsmuster derart, dass sie als verbindliches Wissen anerkannt sind, ist der Prozess der Dogmatisierung durchlaufen.245 Zumindest hinsichtlich einiger Sinnbezüge föderaler Leitbilder kristallisieren sich demnach im Laufe der Zeit dogmatische Figuren heraus, die anders als die deutungsoffenen Leitbilder über einen ausreichenden Konkretisierungs- und Konturierungsgrad verfügen. Darüber hinaus scheint der entscheidende Unterschied zwischen Leitbildern und herkömmlicher Dogmatik in ihrer Revidierbarkeit zu liegen. Während die Umstellung eines Leitbilds im Sinne eines Paradigmenwechsels jederzeit möglich ist, je nachdem, welcher Föderalismus gerade als zeitgemäß empfunden wird,246 ist eine unmittelbare Abkehr von dogmatischen Figuren kaum denkbar. Vielmehr handelt es sich immer um eine Weiterentwicklung, die eine große Begründungslast in sich birgt. Der Sache nach kann diese Weiterentwicklung allerdings durchaus auch zu einer Umkehr führen. Die Leitbilder setzen sich folglich auf der 239  Große Wellen bzw. „Föderalismusbeben“ werden zwar durch die historischen Großereignisse erzeugt, diese sind aber lediglich Anlass einer neuen Ära. Vgl. A. II. 5, A. II. 6. 240  So auch Baer (Fn. 189), S. 223, 226. Siehe oben Fn. 189. 241  Schneider (Fn. 162), S. 3, 5. 242  BVerfGE 32, 145, 156; 39, 96, 120; 41, 291, 311. 243  Siehe oben A. II. 1. 244  Schneider (Fn. 162), S. 3, 4; Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 506. 245  Jansen, Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion: Einführung, in: Essen / Jansen (Hrsg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, 2011, S. 1, 6 f. 246  Bauer (Fn. 159), S. 645, 660. Auch Volkmann (Fn. 183), S. 77, 81 stellt auf die Veränderung der tatsächlichen Lebensverhältnisse ab.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

dogmatischen Ebene in dem Sinne fort, als die kristallisierten dogmatischen Figuren als deren Verfestigung aufgefasst werden können.247

III. Ziele der Föderalismusreform248 Nach der dem Entwurf des Föderalismusreformgesetzes249 beigefügten Begründung soll die Föderalismusreform „demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abbauen und wieder klarere Verantwortlichkeiten schaffen und so die föderalen Elemente der Solidarität und Kooperation einerseits und des Wettbewerbs andererseits neu ausbalancieren. Insgesamt geht es um eine nachhaltige Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sowohl des Bundes als auch der Län­ der.“250 Diese relativ abstrakten Anmerkungen werden in der Gesetzesbegründung an ausgewiesener Stelle durch einen früheren Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefs der Länder vom 14. Dezember 2005 konkretisiert. Darin werden die Reformziele der Föderalismusreform I wie folgt beschrieben: „– Stärkung der Gesetzgebung von Bund und Ländern durch eine deutlichere Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen und Abschaffung der Rahmengesetzgebung – Abbau gegenseitiger Blockaden durch Neubestimmung der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen im Bundesrat – Abbau von Mischfinanzierungen und Neufassung der Möglichkeit für Finanzhilfen des Bundes und Bekräftigung der Zusagen aus dem Solidarpakt II für die neuen Länder – die Stärkung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes durch eine Neuregelung der Außenvertretung und Regelungen zu einem nationalen Stabilitätspakt sowie zur Verantwortlichkeit für die Einhaltung von supranationalem Recht.“251 Diese in der Begründung zum Gesetzentwurf angegebenen Reformziele knüpfen im Wesentlichen an die der 2003 eingesetzten Bundesstaatskom247  Schneider (Fn. 162), S. 3, 5; Voßkuhle (Fn. 166), Der Staat 40 (2001), S. 495, 497. Nach Volkmann (Fn. 183), S. 77, 85 „gerinnen (die Leitbilder) auf diese Weise selber zu Recht, als dessen Bestandteil sie ihrerseits fortentwickelt und ausbuchstabiert werden können“. 248  Die Ausführungen in diesem Abschnitt orientieren sich im Wesentlichen an Gerstenberg (Fn. 21), S. 162 ff. 249  BT-Drs. 16 / 813. 250  BT-Drs. 16 / 813, S. 7. 251  BT-Drs. 16 / 813, S. 7 f.



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mission an.252 Dies ist wenig erstaunlich, knüpft doch die Föderalismusreform im Wesentlichen an die Vorarbeiten dieser Bundesstaatskommission an. Bemerkenswert ist dennoch die erstmalige Aufnahme des Wettbewerbsgedankens in die Reformziele.253 Dies spricht für eine zeitgemäße, stärkere Ausrichtung dieser Reform am Leitbild des Wettbewerbsföderalismus. Bei näherer Betrachtung der Reformziele lassen sich die einzelnen Zielvorgaben „zueinander ins Verhältnis“ setzen, so dass eine gewisse Rangfolge erkennbar wird.254 An oberster Stelle stehen einerseits die Herstellung eines föderalen Gleichgewichts zwischen Bund und Ländern und andererseits – völlig losgelöst davon – die Stärkung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes.255 Für diese Arbeit ist das oberste Leitmotiv der Austarierung des Einflusses der bundesstaatlichen Akteure interessant. Die Ziele der klaren Verantwortlichkeiten und der Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sind diesem obersten Leitgedanken als Mittel zur Erreichung der föderalen Balance nachgeordnet.256 Bei ihnen handelt es sich also um „untergeordnete Zwischenziele“.257 Für die Erreichung dieser Zwischenziele sollen laut Gesetzesbegründung wieder geeignete Mittel zur Verfügung stehen, namentlich die in dem Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefs der Länder aufgeführten Punkte mit Ausnahme des Oberziels der Stärkung der Europatauglichkeit des Grundgesetzes und der bereits im ersten Satz angesprochene Abbau der Verflechtungen zwischen Bund und Ländern.258 1. Neuaustarierung der föderalen Elemente Nach der Gesetzesentwurfsbegründung soll als ein oberstes Ziel ein Gleichgewicht zwischen den bundesstaatlichen Akteuren hergestellt werden. Auf diese Weise sollen die Leitmotive föderaler Strukturen, nämlich der Solidarität und der Kooperation einerseits und des Wettbewerbs a­ ndererseits, ausbalanciert werden. Irreführend ist gleichwohl der „Ort“, an dem dieses 252  Vgl. die Einsetzungsbeschlüsse, BT-Drs. 15 / 1685 und BR-Drs. 750 / 03, wonach die Bundesstaatskommission die Ziele verfolgte, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern zu verbessern, die politischen Verantwortlichkeiten deutlicher zuzuordnen sowie die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung zu steigern. 253  Gerstenberg (Fn. 21), S. 163. 254  Gerstenberg (Fn. 21), S. 163. 255  Gerstenberg (Fn. 21), S. 163. 256  Gerstenberg (Fn. 21), S. 163. 257  Gerstenberg (Fn. 21), S. 163. 258  Gerstenberg (Fn. 21), S. 163.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Oberziel in der Begründung steht.259 Es wird der „Anschein“ erweckt, als könne es nur durch die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten erreicht werden.260 Auch die Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Akteure ist aber ein Mittel, um die geforderte Balance herzustellen.261 Eine klarere Verteilung der Verantwortlichkeiten käme zweifelsfrei auch zustande, wenn dem Bund noch mehr Aufgaben als bisher übertragen werden würden. Die Kompetenzen wären dann aber noch stärker beim Bund angesiedelt. Das Oberziel des föderalen Gleichgewichts wäre nicht austariert, sondern würde im Gegenteil noch stärker ins Wanken geraten. Eine Ausgewogenheiten der Zuständigkeiten der bundesstaatlichen Akteure ausgerichtet am Leitbild des Wettbewerbsföderalismus setzt aber zusätzlich zu den klaren Verantwortlichkeiten unabhängige und selbstverantwortliche „Aufgabenwahr­ nehmung“en sowohl des Bundes wie auch der Länder voraus.262 a) Klare Verantwortlichkeiten Nach der Gesetzesentwurfsbegründung soll die Reform „demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abbauen und wieder klarere Verantwortlichkeiten schaffen.“263 Bei oberflächlicher Betrachtung stehen der Abbau von Zuständigkeitsverflechtungen zwischen Bund und Ländern und die Herstellung klarer Verantwortlichkeiten nach dieser Formulierung „gleichberechtigt“ (…) „nebeneinander“.264 Denklogisch bezweckt aber der Abbau von Verflechtungen, klare Verantwortlichkeiten zu schaffen, ist also ein Unterziel zur Erreichung des Zwischenziels.265 Der Abbau von Zuständigkeitsverflechtungen wird überwiegend mit den Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a und 91b GG)266 und der Mitwirkung des Bundesrats bei der Gesetzgebung267 in Verbindung gebracht.268 Die konkrete Ausgestaltung des Abbaus von Verflechtungen kann daher in der Minimierung von Mischfinanzierungen und von zustimmungsbedürftigen Bun259  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 164. (Fn. 21), S. 164. 261  Gerstenberg (Fn. 21), S. 164. 262  Gerstenberg (Fn. 21), S. 164. 263  BT-Drs. 16 / 813, S. 7 f. 264  Gerstenberg (Fn. 21), S. 168. 265  Gerstenberg (Fn. 21), S. 168. 266  Scharpf / Reissert / Schnabel (Fn. 121), S. 230 ff. 267  Stock (Fn. 140), ZG 2006, 226, 231; Schulze Harling, Das materielle Abweichungsrecht der Länder, Art. 72 Abs. 3 GG, 2011, S. 37 ff. 268  Gerstenberg (Fn. 21), S. 168. 260  Gerstenberg



A. Der deutsche Föderalismus57

desgesetzen gesehen werden.269 Dies kommt explizit auch in den von der Bundeskanzlerin und den Regierungschefs der Länder 2005 beschlossenen Reformzielen zum Ausdruck.270 Einige Vorschläge in der Föderalismuskommission plädierten dafür, klarere Verantwortlichkeiten durch eine Hinwendung zum Trennsystem zu schaffen,271 d. h. sämtliche Kompetenztitel sollten entweder ausschließlich dem Bund oder den Ländern zugeordnet werden.272 Der Vorteil eines solchen strikten Trennsystems wäre darin zu sehen, dass auf diese Weise eine klare Verantwortungsteilung und -zurechnung zwischen Bund und Ländern und damit eine eindeutige demokratische Legitimation möglich wäre. Auch einer schleichenden Unitarisierung der bundesstaatlichen Ordnung wäre so Vorschub geleistet.273 Eine stärkere Annäherung an das Trennsystem erscheint bis zu einem gewissen Grad zwar sinnvoll, dessen vollständige Umsetzung hätte aber die Abkehr vom Institut der konkurrierenden Gesetzgebung zur Folge.274 Die Abschaffung dieses „Vorratsbereichs potentieller Bundesgesetzgebung“275 würde dem Grundgesetz die Möglichkeit nehmen, sich auf veränderte Gegebenheiten einzustellen.276 Art. 72 GG vermittelt ein gewisses Maß an „Elastizität und Anpassungsfähigkeit“277 und ist ein „wichtiges Scharnier für flexible Kompetenzverteilung“278. Darauf wollte man nicht verzichten, denn einige Kompetenzbereiche können sich aus unterschiedlichen „Aspekten“ zusammensetzen, die teils einer „zentralen oder dezentralen Lösung bedürfen“.279 Die Zuordnung zur zentralen oder dezentralen Ebene kann sich im Laufe der Zeit außerdem ändern.

269  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 168. (Fn. 21), S. 169. 271  Teufel, Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Kommissionsprotokoll 2. Stenographischer Bericht, 2. Sit­zung vom 28.11.2003. S. 27. 272  Gerstenberg (Fn. 21), S. 169. 273  Huber, Das Bund-Länder-Verhältnis de constitutione ferenda, in: Blanke /  Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaats, 2005, S. 27. 274  Gerstenberg (Fn. 21), S. 169. 275  Oeter, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 72 Rn. 1. 276  Huber (Fn. 273), S. 27. 277  Niclauß, Demokratiegründung in Westdeutschland, 1974, S. 2006. 278  Huber (Fn. 273), S. 28. 279  Gerstenberg (Fn. 21), S. 169. 270  Gerstenberg

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

b) Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern Bei der Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern handelt es sich um ein neben die klaren Verantwortlichkeiten tretendes Zwischenziel, das nicht wie letzteres um der „Demokratie willen“, sondern um der „Effizienz“ willen verfolgt wird. Wieder ist die Gesetzesbegründung an dieser Stelle ungenau, scheint doch die Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeiten alle übrigen Reformziele einzurahmen („Insgesamt geht es um …“).280 Auf Seiten des Bundes sollte insbesondere durch die Neufassung von Art. 84 Abs. 1 GG und damit durch eine Reduzierung von zustimmungsbedürftigen Bundesgesetzen dessen Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit gestärkt werden.281 Für die Stärkung der Länderseite finden sich in der weiteren Gesetzesbegründung keine besonderen Anhaltspunkte. Gleichwohl ist in den Reformzielen von der Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Bundes und der Länder die Rede. Auch das Oberziel der Austarierung der föderalen Ordnung kann demnach nur realisiert werden, wenn auch den Ländern eine gewisse Autonomie von wesentlichem Gewicht zugestanden wird.282 2. Ungeschriebenes Ziel: Rationale Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen Die Neuordnung der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Rahmen der Föderalismusreform I lässt außerdem darauf schließen, dass der Gesetzgeber erstmals seit 1949 ein ausschließlich an rationalen Kriterien ausgerichtetes Konzept283 von Gesetzgebungskompetenzen verfolgt hat, auch wenn dieses Ziel in der Gesetzesbegründung nicht ausdrücklich ­erwähnt wird.284 Ursprünglich hatten sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten maßgeblich an der Weimarer Reichsverfassung orientiert.285 Häufig sprechen demnach 280  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 170. 16 / 813, S. 3. 282  Gerstenberg (Fn. 21), S. 170, 171. 283  Huber, Deutschland nach der Föderalismusreform – in besserer Verfassung!, in: Pitschas / Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz, 2007, S. 609. 284  Gerstenberg (Fn. 21), S. 171. 285  Friedrich, Probleme der Landesgesetzgebung in der Bundesrepublik – Empfiehlt es sich, die Systematik der Gesetzgebungszuständigkeit im Grundgesetz zu ändern?, ZParl 1971, 449, 450. 281  BT-Drs.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens59

historische Erwägungen für die Zuordnung eines Sachbereichs zu einer Kompetenzart. Das System der Gesetzgebungskompetenzen gleichwohl als „historisches Zufallsprodukt“286 zu bezeichnen, erscheint ein wenig überzogen. Vielmehr werden auch schon 1949 rationale Erwägungen für die Zuordnung eines Sachbereiches zu einem bundesstaatlichen Akteur angestellt worden sein. Dennoch tat der verfassungsändernde Gesetzgeber im Rahmen der Föderalismuskommission 2006 gut daran, das bestehende Kompetenzsystem erneut zu hinterfragen und durch eine noch stärker an rationalen Gesichtspunkten ausgerichtete Konzeption zu ersetzen. Für diese reflektierte Vorgehensweise des Gesetzgebers spricht, dass ohne eine Orientierung an sachbezogenen Kriterien eine ernsthafte Diskussion in der Kommission wohl kaum möglich gewesen wäre.287 Auch die Resultate der Föderalismusreform I zeigen, dass trotz fehlender Aufnahme in die Gesetzesbegründung eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Kompetenztiteln stattgefunden haben muss. Nicht umsonst wird die Föderalismusreform 2006, um es mit den Worten des ehemaligen Bundesratspräsidenten und Erstem Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Weichmann über die Finanz­ reform von 1969 zu sagen, als „tiefgreifend(ste) und weitreichend(ste)“288 Neuerung der bundesstaatlichen Ordnung seit 1949 bezeichnet.289

B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens und seine Umsetzung im Reformprozess Am 10. März 2006 ist mit dem von den Koalitionsfraktionen von CDU / CSU und SPD in den Deutschen Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf290 die jahrelang währende Debatte über die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen im deutschen Bundesstaat vorerst zum Abschluss gekommen. Einer der zentralen und stets eindringlich diskutierten Punkte war die Verwirklichung eines „Zugriffsgedankens“, also die Frage, ob und auf welche Weise die Länder von Bundesgesetzen abweichende Regelungen treffen können.291 Zugriffs- bzw. Abweichungsbefugnisse der Länder sind 286  Gerstenberg

(Fn. 21), S. 172. (Fn. 21), S. 172. 288  Weichmann in der 338. Sitzung des Bundesrates, Stenografische Berichte, S. 108. 289  Gerstenberg (Fn. 21), S. 18. 290  BT-Drs. 16 / 813. 291  Dietsche, Die „konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsrecht für die Länder“ – Zu den verschiedenen Modellen der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung eines neuen materiell-rechtlichen Gesetzgebungsinstruments, in: Jahrbuch des Föderalismus 7 (2006), S. 182. 287  Gerstenberg

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

dennoch keine Erfindung der Föderalismuskommission aus dem Jahr 2006. Der erste ernsthaft mit der Ausgestaltung der heutigen Abweichungsgesetzgebung vergleichbare Vorschlag stammt von dem früheren Hamburgischen Senator für Bundesangelegenheiten Ernst Heinsen, den er im Rahmen eines Sondervotums innerhalb der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ von 1976 geäußert hat. Auf diesen „alten Vorschlag“ des Senators Heinsen wurde in den Debatten der Föderalismuskommission 2006 auch rekurriert.292 Heinsen gilt damit als „Erfinder“ der Abweichungsgesetzgebung,293 auch wenn der Grundgedanke der Zugriffsgesetzgebung bereits zu Zeiten der Weimarer Republik bzw. noch früher entstanden ist. Interessant für die vorliegende Arbeit ist, dass bereits in den früheren Vorschlägen zum „Zugriffsgedanken“ eine Bezugnahme bzw. Kenntlichmachung des zu suspendierenden Rechts thematisiert wurde. Trotz des zeitlichen Abstands und der damit in vielerlei Hinsicht eingetretenen Veränderungen sind die Staatsstrukturprinzipien des Bundesstaats, des Rechtsstaats und der Demokratie, die mit einem Zitiergebot in Zusammenhang stehen, in ihren Grundfesten immer noch die gleichen.

I. Früher historischer Hintergrund des „Zugriffsgedankens“ 1. Erwägungen hinsichtlich einer „subsidiären Bundesgesetzgebung“ für die Weimarer Republik 1928 trat der „Zugriffsgedanke“ zum ersten Mal in Form einer „subsidiären Bundesgesetzgebung“ in den Überlegungen Heinrich Herrfahrdts294 im Rahmen der seit 1927 diskutierten Reformierung der Weimarer Reichsverfassung in Erscheinung.295 Nach Ansicht Herrfahrdts handelte es sich bei der Beziehung zwischen dem Deutschen Reich und dem hegemonialen Land Preußen, das trotz der Gebietsabtretungen in Folge des Versailler Vertrages mit etwa Zweidritteln der Fläche und der Einwohner des Deutschen Reiches das mit Abstand größte deutsche Land darstellte, um ein äußerst konfliktgeladenes „Nebeneinander von Zentralgewalten“.296 Die Reichsministerien waren auf Grund eines fehlenden Verwaltungsunterbaus auf die Einrichtun292  Scharpf, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform am 15. / 16.05.2006, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung, S. 57 (http: /  / starweb.hessen.de / cache / bund / foederalismus_ 01_Protokoll_Allgemeiner_Teil.pdf (08.05.13)) und Münch, ebd., S. 302. 293  Dietsche (Fn. 291), S. 182, 198. 294  Damaliger Landgerichtsrat und Privatdozent an der Universität Greifswald. 295  Herrfahrdt, Reich und Preußen: Vorschläge zur Verfassungsreform, 1928. 296  Herrfahrdt (Fn. 295), S. 1.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens61

gen in den einzelnen Ländern angewiesen, so dass Herrfahrdt eine Zusammenführung der Staatsgewalten des Deutschen Reiches und Preußens vorschlug.297 Zum Erhalt der föderalen Eigenständigkeit nichtpreußischer Länder beinhaltete Herrfahrdts „Gesetz über die Vereinigung der preußischen Staatsgewalt mit der Reichsgewalt“ einen § 2, der folgendes vorsah: „Gesetze für Preußen werden als Reichsgesetze erlassen. Sie treten auch in den nichtpreußischen Ländern in Kraft, soweit nicht das einzelne Land im Reichsrat einen Vorbehalt macht.“298 Jenen § 2 begründete Herrfahrdt damit, „dass die Reichseinheit auch in den bisher nicht zur Zuständigkeit des Reiches gehörigen Angelegenheiten allmählich hergestellt wird, soweit nicht im Einzelfall in bestimmten Ländern ein Bedürfnis nach abweichender Regelung vorliegt“.299 In der Folge geriet der Vorschlag Herrfahrdts zunehmend in Vergessenheit. Erst 1950 erwähnte er ihn wieder und betonte den „Zugriffsgedanken“ der Länder, indem er herausstellte, die Länder hätten „freie Hand, ob und inwieweit sie (die Bundesgesetze) anwenden oder ändern wollen“.300 Historischer Vorgänger des Herrfahrdtschen Vorschlags von 1928 ist § 66 der Frankfurter Reichsverfassung („Paulskirchen-Verfassung“) von 1849. Jener § 66 lautete: „Reichsgesetze gehen den Gesetzen der Einzelstaaten vor, insofern ihnen nicht ausdrücklich eine nur subsidiäre Geltung beigelegt ist.“ Neben der grundsätzlichen Regel „Reichsrecht bricht Landesrecht“ sollte demnach auch die Möglichkeit bestehen, dass die Länder von den Reichsgesetzen abweichende eigene Regelungen erlassen.301 Nach dem Scheitern der Frankfurter Reichsverfassung 1849 verschwand der „Zugriffsgedanke“ vorerst, denn die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 und die nahezu identische Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 (Bismarcksche Reichsverfassung) bestimmten lediglich Art. 31 GG entsprechend, dass Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen.302

297  Herrfahrdt

(Fn. 295), S. 1. (Fn. 295), S. 8. 299  Herrfahrdt (Fn. 295), S. 8. 300  Herrfahrdt, Art. 72 GG Abschnitt III a. E. S. 7, in: Dolzer / Vogel / Graßhoff (Hrsg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 73. Lieferung, Mai 1995. 301  Beck, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder, 2009, S. 24. 302  Schulze Harling (Fn. 267), S. 50. 298  Herrfahrdt

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

2. Die Überlegungen Hans Dichgans’ zu einer umfassenden Revision der Verfassung 1970 publizierte das damalige Bundestags- und CDU-Fraktionsmitglied Hans Dichgans seine Vorschläge zu einer umfassenden Verfassungsreform.303 Er schlug vor, neben den bestehenden Bundes- und Landeskompetenzen eine weitere dritte Kompetenzebene der „Länderangelegenheiten“ zu schaffen, die Regelungsmaterien erfassen sollte, die alle Länder in ihrer Gesamtheit betreffen.304 Solche „Länderangelegenheiten“ sollten Gegenstände sein, die bisher durch Staatsverträge oder durch Beschlüsse der Fachministerkonferenzen geregelt wurden.305 Der Vorschlag hatte keinen Zugriff auf Bundeskompetenzen oder eine Abweichung von Bundesregelungen zum Ziel,306 die Länder sollten lediglich über Materien, die einer Bundeseinheitlichkeit bedürfen, beschließen können. Der Beschluss sollte im ersten Jahr einstimmig erfolgen, während Folgeänderungen per Mehrheitsbeschluss gefasst werden konnten.307 Besonders an diesem Vorschlag ist, dass das Bedürfnis nach einer einheitlichen Regelung keine Zuweisung an den Bund zur Folge hatte, Dichgans nahm vielmehr an, dass sich die Länder auf eine einheit­ liche Lösung verständigen könnten.308 Dichgans erkannte, dass dies eine Neugestaltung des Gesetzgebungsverfahrens zur Folge gehabt hätte, insbesondere wäre wohl die Einrichtung des Bundesrats als gleichzeitiger „Länderrat“ unumgänglich gewesen.309 Mit seinem Vorschlag knüpfte Dichgans an eine Diskussion über eine „koordinierte Ländergesetzgebung“ an, die zwischen 1945 und 1949 geführt wurde, als mangels einer zentralen Bundesebene unter den Besatzungsmächten länderübergreifendes Recht in Form von Staatsverträgen gesetzt wurde.310

303  Dichgans, Vom Grundgesetz zur Verfassung – Überlegungen zu einer Gesamt­ revision, Düsseldorf 1970. 304  Dichgans (Fn. 303), S. 130; Dietsche / Hinterseh, Ein sogenanntes Zugriffsrecht für die Länder – „konkurrierende“ Gesetzgebung beim Wort genommen? Zur Entwicklung einer verfassungsrechtlichen Diskussion, in: Jahrbuch des Föderalismus, 6 (2005), S. 187, 192. 305  Dichgans (Fn. 303), S. 130. 306  Schulze Harling (Fn. 267), S. 53. 307  Dichgans (Fn. 303), S. 130; Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 192. 308  Dichgans (Fn. 303), S. 129. 309  Dichgans (Fn. 303), S. 130. 310  Herrfahrdt (Fn. 300) Abschnitt III a. E., S. 7; Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 193.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens63

3. Vorschlag eines „Rückholverfahrens“ für die Länder nach Lenz Angeregt von Dichgans Überlegungen311 verfolgte Carl Otto Lenz für die Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen dem „Bedarf nach Bundeseinheitlichkeit“ und eines „Gesetzgebungsföderalismus“ einen anderen Weg, indem er die Gesetzgebungskompetenz der „konkurrierenden Gesetzgebung“ beim Wort nahm.312 Nach den ersten bedeutenden Reformen des Grundgesetzes 1969 veröffentlichte Lenz, damaliger Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Erwägungen zur Reform der Gesetzgebungszuständigkeiten, wobei zentraler Gegenstand ein „Rückholverfahren“ für die Länder war.313 Lenz schlug für die Neugestaltung der Gesetzgebung in Bund und Ländern zwei Modelle vor.314 Das erste Modell behielt die ausschließliche und konkurrierende Gesetzgebung des Bundes bei. Die Materien der konkurrierenden Gesetzgebung sollten allerdings nicht mehr nach dem Enumerativprinzip aufgelistet sein, vielmehr sollte dem Bund auf Grund einer Generalklausel das Recht zur Gesetzgebung immer dann zustehen, wenn Bundestag und Bundesrat eine bundeseinheitliche Regelung für notwendig hielten.315 Da dies zu einer Ausweitung der Reichweite von Bundeszuständigkeiten geführt hätte, beinhaltete Lenz’ Vorschlag außerdem ein „Rückholverfahren“, wonach in Bereichen, die bundeseinheitlich geregelt gewesen wären, ein Landesparlament Gesetze hätte erlassen können. Diese Gesetze hätten aber erst verkündet werden dürfen, wenn Bundestag und Bundesrat nicht innerhalb einer gewissen Frist widersprechen.316 Lenz selbst erkannte, dass dieses Modell Nachteile hatte, schließlich existierte ein „verfassungsrechtlich garantierter Kern an ausschließlichen Länderkompetenzen“ sodann nicht mehr, vielmehr hätten sämtliche Gesetzgebungskompetenzen zur Disposition des Bundes gestanden.317 Auf Grund dieses Nachteils schlug Lenz ein zweites Modell vor, wonach die Kompetenzordnung des Grundgesetzes zunächst „unangetastet“ bleiben,318 der Bundesregierung aber auf dem Gebiet der Landesgesetzgebung 311  Lenz, Modelle zur Weiterentwicklung des föderativen Systems, ZfP 1970, 138, 139 und 142. 312  Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 193. 313  Lenz (Fn. 311), ZfP 1970, 138 ff. 314  Lenz’ Überlegungen wurden in der Reformdiskussion der Folgezeit kaum wahrgenommen und erregten auch in der Literatur kaum Aufmerksamkeit, vgl. Kimminich, Der Bundesstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.) HdBStR, Bd. I, 1. Auflage, Heidelberg 1987, § 26 Rn. 58. 315  Lenz (Fn. 311), ZfP 1970 138, 140; Schulze Harling (Fn. 267), S. 53. 316  Lenz (Fn. 311), ZfP 1970 138, 140; Schulze Harling (Fn. 267), S. 54. 317  Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 191.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

ein Initiativrecht zur Schaffung „bundeseinheitlichen Landesrechts“ zustehen sollte.319 Dieses Modell hatte angesichts des Nachteils des ersten Modells die Sicherung eines „verfassungsrechtlich garantierten Kerns an ausschließlichen Länderkompetenzen“ zum Ziel. Für alle Länder einheitliche Landesgesetze wären demnach zustande gekommen, wenn sie vom Bundesrat beschlossen worden wären und die Mehrheit der Landesparlamente zugestimmt hätte.320 Auch für dieses Modell sah Lenz wiederum ein „Rückholverfahren“ vor, wonach sich jeder einzelne Landtag sein Gesetzgebungsrecht „zurückholen“ konnte, wenn allein der Bundesrat nicht widersprach. Auch das zweite Modell war, dies musste selbst Lenz einräumen, Einwänden ausgesetzt: Die Ausübung des Rückholrechts eines jeden Landtags, die unabhängig von anderen Landtagen erfolgen konnte, hätte eine unübersicht­ liche Gesetzeslage zur Folge haben können.321 4. Heinsens Sondervotum zum Schlussbericht der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ 1976 Die beschriebenen Vorschläge und Modelle sind mit dem im Rahmen der Föderalismusreform 2006 eingeführten Abweichungsrecht in Art. 72 Abs. 3 GG nur im weitesten Sinne verwandt. Als eigentlicher Vater des „Zugriffsgedankens“ gilt der frühere Hamburger Senator Dr. Ernst Heinsen,322 der in einem Sondervotum zum Schlussbericht der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ des Deutschen Bundestages323 1976 einen Vorschlag zur Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern ins Gespräch brachte. Zum ersten Mal sollte es eine Regelungsmöglichkeit für die Länder im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes geben, die selbst dann noch Bestand haben sollte, wenn der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht auf dem betreffenden Gebiet bereits Gebrauch gemacht hatte.324 Heinsen schlug die Einfügung eines Art. 72a in das Grundgesetz vor:325

318  Dietsche / Hinterseh

(Fn. 304), S. 187, 191. (Fn. 311), ZfP 1970, 138, 141. 320  Lenz (Fn. 311), ZfP 1970, 138, 141; Schulze Harling (Fn. 267), S. 54. 321  Lenz (Fn. 311), ZfP 1970, 138, 141 f.; Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 191. 322  Vom 01.01.1973 bis 30.04.1974 Bevollmächtigter der Stadt Hamburg beim Bund, vormals Justizsenator in Hamburg; vgl. Dietsche (Fn. 291), S. 182, 198. 323  Schlussbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform BT-Drs. 7 / 5924; die Arbeit der Kommission dauerte von 1973 bis 1976. 324  Beck (Fn. 301), S. 25. 325  BT-Drs. 7 / 5924, S. 137. 319  Lenz



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens65 (1) Abweichend von Art. 72 Abs. 1 können die Länder im Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ergänzen, wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuteilung Einspruch erhebt. (2) Landesgesetze nach Absatz 1 werden dem Bundestag und der Bundesregierung durch den Präsidenten der Volksvertretung des Landes zugeleitet. Dabei sind die Vorschriften des Bundesrechts, von denen abgewichen wird oder die ergänzt werden, ausdrücklich zu nennen. Das Landesgesetz wird frühestens zwei Wochen nach Ablauf der in Absatz 1 genannten Frist wirksam.

Auf die neue Kompetenz des Art. 72a GG (E) gestütztes Landesrecht sollte also in Abweichung von der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG (a. F.) Bestand haben.326 Heinsen stand mit seinem Sondervotum in Einklang mit der wettbewerbsföderalistischen Ausrichtung der Enquete-Kommission, die sich später auch die Verfechter des „Zugriffsrechts“ in der Bundesstaatskommission 2003 / 2004 zu eigen gemacht haben,327 indem er betonte, „daß die Möglichkeit, neue und unterschiedliche Regelungen im räumlich überschaubaren Bereich eines Landes zu erproben und dadurch politischen Wettbewerb zwischen den Ländern (…) zu eröffnen, ein hervorragender Motor des Fortschritts im gesamten Bundesgebiet sein kann.“328 Heinsens war der erste substantielle Vorschlag, den Ländern durch die Einräumung eines Abweichungsrechts von den bundesrechtlichen Regelungen mehr „legislativen Spielraum“ zu verschaffen.329 Dennoch ist der legislative Zugewinn nicht zu überschätzen, zumal das Widerspruchsrecht des Bundestages mit „keinerlei qualitativer Beschränkung oder gar Begründungspflicht versehen“ war.330 Für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, zu klären, ob im Bereich der Abweichungsgesetzgebung eine Zitierpflicht existiert, ist aber Art. 72a Abs. 2 S. 2 GG (E) von besonderer Bedeutung, der eine solche explizite Zitierpflicht statuierte. Abweichende Landesgesetze hätten dem326  Beck

(Fn. 301), S. 26. (Fn. 304), S. 187, 188. 328  BT-Drs. 7 / 5924, S. 137, dazu heißt es dann weiter: „Wenn sich nun  – wie häufig – in einem Lande aus der Erfahrung mit der Anwendung eines Bundesgesetzes der politische Wille zu einer Reform ergibt, die Zweckmäßigkeit dieser Reform aber ohne praktische Erprobung nicht sofort allgemein anerkannt wird und daher eine generelle Novellierung des Gesetzes nicht zu erwarten ist, kann es sinnvoll sein, die Erprobung im Bereich eines Landes zu ermöglichen. Aus diesem Grunde wird vorgeschlagen, den Ländern das Recht zu geben, in Abweichung von Art. 72 Abs. 1 GG und des Grundgesetzes des Art. 31 GG, daß Bundesrecht Landesrecht bricht, durch Landesgesetz eine im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung erlassene bundesgesetzliche Regelung abzuändern oder zu ergänzen. Allerdings muß der Bundesgesetzgeber berechtigt sein, die Änderungen zu verhindern, wenn übergeordnete Gesichtspunkte dagegen stehen.“ (BT-Drs. 7 / 5924, S. 138). 329  Beck (Fn. 301), S. 26. 330  Beck (Fn. 301), S. 26. 327  Dietsche / Hinterseh

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

nach die Bundesnorm, von der abgewichen werden sollte, ausdrücklich benennen müssen. Das Landesrecht sollte nach Art. 72a Abs. 2 S. 1 GG (E) dem Bundestag und der Bundesregierung zwecks Notifizierung zugeleitet werden. Die Zitierung sollte also neben rechtsstaatlichen Erwägungen auch der besseren Orientierung der Abgeordneten durch ein transparentes Verfahren dienen und verfolgte damit ebenso demokratische Aspekte, auf die im Rahmen dieser Arbeit an anderer Stelle detailliert eingegangen wird.331 Schlussendlich sind die Empfehlungen der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ und damit auch das Sondervotum Heinsens auf Grund fehlender verfassungsändernder Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht umgesetzt worden.332

II. Der „Zugriffsgedanke“ innerhalb der Reformbemühungen der Landesparlamente in den 1980er Jahren bis zur Jahrtausendwende In den 1980er Jahren gab es zahlreiche Reformbemühungen verschiedener Landesparlamente, die an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit erläutert werden sollen.333 Eine der ersten Initiativen erfolgte zwischen 1983 und 1984 durch eine interfraktionelle Konferenz der Fraktionsvorsitzenden der deutschen Landesparlamente unter Vorsitz des rheinland-pfälzischen Landtagspräsidenten Albrecht Martin (sog. Martin-Kommission). Ziel der Kommission war, „alle bisherigen Vorschläge zur Verfassungsreform zu prüfen, daraus gemeinsame Empfehlungen zu entwickeln und diesen politisch zum Durchbruch zu verhelfen“.334 Zwar wurde in den Empfehlungen ausdrücklich auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Verfassungs­ reform“335 Bezug genommen, Zugriffs- bzw. Abweichungsrechte oder gar das Sondervotum Heinsens fanden jedoch keine Erwähnung.336 331  Siehe

dazu Kapitel 5. Harling (Fn. 267), S. 55. 333  Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Reformbemühungen der Jahre 1985 bis 2000 bietet die Synopse von Münch und Zinterer, Reform der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern: Eine Synopse verschiedener Reform­ ansätze zur Stärkung der Länder 1985–2000, ZParl 2000, 657 ff. 334  Martin, Möglichkeiten, dem Bedeutungsverlust der Landesparlamente entgegenzuwirken, ZParl 1984, 278 ff. 335  BT-Drs. 7 / 5924. 336  Landtag Rheinland-Pfalz, Drs. 10 / 1150; Münch / Zinterer (Fn.  333), ZParl 2000, 657, 675; Thaysen, Sicherung der Länder-Eigenstaatlichkeit und Stärkung der Landesparlamente, Vorschläge einer von den Fraktionsvorsitzendenkonferenzen von CDU / CSU, SPD und FDP berufenen interfraktionellen Arbeitsgruppe, ZParl 1985, 179, 188. 332  Schulze



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens67

Am 1. Dezember 1988 setzte der Landtag von Nordrhein-Westfalen die Sachverständigenkommission „Erhaltung und Fortentwicklung der bundesstaatlichen Ordnung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland – auch in einem vereinten Europa“ (sog. van Nes Ziegler-Kommission337) ein. Bereits im Februar 1988 nahm die Kommission ihre Arbeit auf und legte ihren Abschlussbericht im März bzw. Dezember 1990 vor. Somit fällt ihr Bearbeitungszeitraum in die Zeit des Falls des Eisernen Vorhangs und der Vollendung der deutschen Wiedervereinigung.338 Den Turbulenzen dieser Zeit geschuldet wiesen die Sachverständigen darauf hin, dass „über den politischen, ökonomischen und finanziellen Problemen der Wiedervereinigung die Diskussion über notwendige Anpassungen der institutionellen Ordnung der Bundesrepublik zu kurz gekommen ist“.339 Gleichwohl betonte die Kommission, dass die „Schwächung der Gesetzgebungshoheit der Länder in verschiedener Weise rückgängig“340 zu machen sei. Zu diesem Zweck griff die Kommission im Wesentlichen auf die Vorschläge der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“341 zurück, so beispielsweise auf die Übertragung von Gesetzgebungsrechten auf die Länder. Ihre zentrale Empfehlung zur Einführung eines Zugriffsrechts im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz orientierte sich maßgeblich am Vorschlag Heinsens mitsamt seines Formulierungsvorschlags für einen entsprechenden Art. 72a GG (E).342 Laut Kommission „bestehe der Vorteil eines Zugriffsrechts der Länder darin, dass neue Wege in der Gesetzgebung zunächst für den begrenzten Bereich eines Hoheitsgebiets ausprobiert werden können. Dadurch werde ein föderalistischer Wettbewerb unter den Ländern, aber auch zwischen Bund und Ländern ermöglicht, der sich als Motor des Fortschritts entpuppen könne.“343 Die Arbeit der van Nes Ziegler-Kommission zeigt jedenfalls, dass die Schaffung von nachhaltigen Ländergesetzgebungskompetenzen in der Diskussion um die Reformierung des bundesstaatlichen Gefüges immer mehr an Bedeutung gewann.344 337  Kommission des Landtags von Nordrhein-Westfalen zur „Erhaltung und Fortentwicklung der bundesstaatlichen Ordnung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland – auch in einem vereinten Europa“, LT-Vorl. 11 / 182 vom 22.11.1990; hrsg. von Große-Sender, 1990; Namensgeber ist ihr Vorsitzender John van Nes Ziegler. 338  Lhotta, Verfassung, Bundesstaatsreform und Stärkung der Landesparlamente im Zeichen der deutschen Einheit und der europäischen Integration: Zur Arbeit einer Sachverständigenkommission des Landtags von Nordrhein-Westfalen, ZParl 1991, 253 ff. 339  Landtag Nordrhein-Westfalen (Fn. 337), Bericht Teil II LT-Vorl. 11 / 182, S. 13. 340  Münch / Zinterer (Fn. 333), ZParl 2000, 657, 668 ff. 341  BT-Drs. 7 / 5924. 342  Bericht Teil II (Fn. 339), S. 34; Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 196. 343  Münch / Zinterer (Fn. 333), ZParl 2000, 657, 676; Beck (Fn. 301), S. 27. 344  Beck (Fn. 301), S. 27.

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Die am 16. Januar 1992 konstituierte345 und am 5. November 1993 ihren Abschlussbericht vorlegende346 Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat setzte sich ebenfalls mit den beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes auseinander347 und erkannte das Problem des steten Schwindens von Ländergesetzgebungskompetenzen.348 Der Bericht des Landes Hessen befasste sich eingehend mit dieser Problematik.349 Dabei wurde am bestehenden Kompetenzgefüge des Grundgesetzes keine grundsätzliche Kritik geübt, vielmehr wurde insbesondere bei der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung eine Aushöhlung von Landeskompetenzen durch den Bund festgestellt.350 Änderungsvorschläge des Landes Hessen zu Art. 72 GG (a. F.) waren erneut an denen des ehemaligen Hamburger Senators Heinsen angelehnt. In Art. 72 GG (a. F.) sollte folgender Absatz 4 angefügt werden: (4) Abweichend von Abs. 1 können die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ergänzen oder ersetzen, wenn nicht der Bundestag innerhalb von drei Monaten nach Zuteilung Einspruch erhebt. Landesgesetze nach Satz 1 werden dem Bundestag oder der Bundesregierung durch den Präsidenten der Volksvertretung des Landes zugeleitet. Dabei sind die Vorschriften des Bundesrechts, von denen abgewichen oder die ergänzt werden sollen, ausdrücklich zu nennen. Das Landesgesetz wird frühestens zwei Wochen nach Ablauf der in Satz 1 genannten Frist wirksam.

Das Land Hessen führte zur Begründung der Regelung dessen reföderalisierende Wirkung an.351 In der Gemeinsamen Verfassungskommission fand dennoch keine nähere Auseinandersetzung mit diesem Vorschlag statt.352 Für den Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist aber bedeutsam, dass wiederum Art. 72 Abs. 4 S. 3 GG (E) eine ausdrückliche Zitierpflicht derjenigen Bundesnormen vorsieht, von denen abgewichen werden soll.

345  Scholz,

Grundgesetz und europäische Einigung, NJW 1992, 2593, 2594. 12 / 6000; Gerstenberg (Fn. 21), S. 85. 347  Dt. Bundestag (Hrsg.), Gemeinsame Verfassungskommission, S. 20 ff.; Berlit, Die Reform des Grundgesetzes nach der staatlichen Einigung Deutschlands, JöR 1996, 17, 29 ff.; vgl. Gerstenberg (Fn. 21), S. 85 f. 348  BT-Drs. 12 / 6000, S. 32; Beck (Fn. 301), S. 28. 349  Zur Sache 2 / 96, Bd. 3, Arbeitsunterlage Nr. 4, S. 35. 350  Zur Sache 2 / 96, Bd. 3, Arbeitsunterlage Nr. 4, S. 35. 351  Zur Sache 2 / 96, Bd. 1, StenBer. 4. Sitzung, S. 273. 352  Schmalenbach (Fn. 64), S. 118. 346  BT-Drs.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens69

III. Aufleben des „Zugriffsgedankens“ seit dem Jahr 2000 1. Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“ 2000 Im Jahre 2000 stellte die von der Bertelsmann Stiftung einberufene Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“ ihr Arbeitsergebnis mit dem Titel „Entflechtung 2005 – Zehn Vorschläge zur Optimierung der Regierungsfähigkeit im deutschen Föderalismus“353 vor. Dieses Reformkonzept empfahl u. a., wieder anknüpfend an den Vorschlag Heinsens, den Ländern das Recht einzuräumen, auch in bereits bundesgesetzlich geregelten Bereichen eigenständige Normen zu erlassen.354 Die Länder sollten demnach „im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung (…) eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesgesetz ersetzen oder ergänzen können.355 Entweder dem Bundesrat oder dem Bundestag sollte im Gegenzug das Recht eingeräumt werden, aus Gründen der Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit innerhalb von drei Monaten nach einem solchen Gesetzesbeschluss eines Landes Einspruch zu erheben.“356 Die Ähnlichkeit zum ursprünglichen Vorschlag Heinsens von 1976 ist wiederum nicht von der Hand zu weisen; lediglich in den einführenden Überlegungen zum Reformprojekt eines Abweichungsrechts für die Länder wurde – von Heinsen inhaltlich abweichend – gefordert, dass das Einspruchsrecht dem Bund nur in „begründeten Fällen“ zustehen sollte.357 Eine weitergehende Spezifikation dieser Begründungsanforderungen erfolgte nicht. In Hinblick auf den Kontext der Bertelsmann-Kommission ist dies aber nicht weiter verwunderlich, war doch ihr Auftrag nicht die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs, sondern die Darlegung von Vorschlägen zur Reformierung des bundesstaatlichen Gefüges. Das Verdienst der Kommission besteht letztlich darin, „das Modell der Abweichungsgesetzgebung im Kontext neuer Ansprüche an die bundesstaatliche Ordnung in das neue Jahrhundert hinübergerettet zu haben“.358

353  Arndt / Benda / Dohnanyi u. a., Entflechtung 2005: Zehn Vorschläge zur Optimierung der Regierungsfähigkeit im deutschen Föderalismus, Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit“, 2000. 354  Arndt / Benda / Dohnanyi u. a. (Fn. 353), S. 24. 355  Arndt / Benda / Dohnanyi u. a. (Fn. 353), S. 24. 356  Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 196. 357  Arndt / Benda / Weidenfeld (Hrsg.), Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Gliedstaaten, 2001, S. 12. 358  Beck (Fn. 301), S. 30.

70

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

2. Reformvorschlag der Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags 2002 Die am 26. Oktober 1998 ins Leben gerufene Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags „Reform des Föderalismus – Stärkung der Landesparlamente“, die im März 2002 ihren Schlussbericht vorlegte, sollte u. a. auch Vorschläge zur Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern erarbeiten.359 Zur Stärkung der Ländergesetzgebungskompetenzen sprach sich die Kommission für eine „Vorranggesetzgebung der Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung“ aus, die abermals große Ähnlichkeit mit dem Vorschlag der Bertelsmann-Kommission und damit letztendlich mit dem Vorschlag Heinsens von 1976 aufwies.360 Die Länder sollten „in Abweichung des bisher in Art. 72 Abs. 1 GG geregelten Beteiligungsverhältnisses von Bund und Ländern im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung“ berechtigt sein, „eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesrecht zu ersetzen oder zu ergänzen“.361 Ein beachtlicher Unterschied zum Vorschlag der Bertelsmann Stiftung und damit auch zum Vorschlag Heinsens ist die Ausgestaltung des Widerspruchsrechts des Bundes. Der Bundestag sollte zwar ein Einspruchsrecht haben; der Einspruch konnte aber auf Antrag eines betreffenden Landes durch den Bundesrat zurückgewiesen werden.362 Im Vergleich zum Vorschlag der Bertelsmann-Kommis­ sion und zu dem Heinsens sollte also nicht der Einspruch des Bundestages abschließend über den Bestand des Landesrechts entscheiden, vielmehr wurde dem Bundesrat dieses Letztentscheidungsrecht eingeräumt.363 Ein Mitglied der Kommission sah in der Abkehr von der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes hin zu einer Vorranggesetzgebung der Länder nicht nur eine beträchtliche „Schwächung“ des Bundes, sondern auch „die Gefahr einer unübersehbaren Rechtszersplitterung, unter anderem im Bürgerlichen Recht, im Justizwesen, im Recht der Wirtschaft und im Umweltrecht“. 359  Bayerischer Landtag, Drs. 14 / 118 und Drs. 14 / 1464, S. 1; Bayerischer Landtag, Reform des Föderalismus – Stärkung der Landesparlamente: Bericht der Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags, 2002, S. 6; vgl. Beck (Fn. 301), S. 31. 360  Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 197. 361  Vgl. Bayerischer Landtag, Reform des Föderalismus (Fn. 359), S. 50. 362  Art. 72 Abs. 3 GG (E) sollte folgendermaßen aussehen: „Soweit der Bund von diesem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht hat, kann ein Land die bundesgesetzliche Regelung, falls es sie nicht oder nicht mehr für erforderlich i. S. v. Abs. 2 hält, ganz oder teilweise durch Landesrecht ersetzen oder ergänzen, das in Kraft treten kann, wenn der Bundestag nicht innerhalb von drei Monaten nach der Verkündung Einspruch erhebt oder der Einspruch des Bundestages auf Antrag des Landes vom Bundesrat zurückgewiesen wird.“, siehe Bayerischer Landtag, Reform des Föderalismus (Fn. 359), S. 21. 363  Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 197.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens71

Diese Bereiche seien für einen Wettbewerbsföderalismus und für Auseinandersetzungen „zwischen Bundestag und Bundesrat“ ungeeignet.364 Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder schloss sich dieser Kritik nicht an. Es sei kaum zu erwarten, dass viele Länder in grundlegenden Bereichen überhaupt abweichen, zumal der Alleingang eines Landes für dieses beträchtliche finanzielle Aufwendungen auf Grund des notwendigen Gesetzgebungsverfahrens zur Folge hätte.365 Die Schwächung des Bundes im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung einerseits sei notwendige Folge der Stärkung der Länder andererseits und damit als Gegenargument unbeachtlich.366 3. Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente 2003 Im Jahre 2003 gab es eine große Zahl an Reformvorschlägen.367 „Die Länder und die Parlamente stärken!“ war der Leitgedanke dieser Zeit und auch die Stoßrichtung des ersten Föderalismuskonvents der deutschen Landesparlamente, der am 31. März 2003 in Lübeck stattfand.368 Auf dem Konvent wurde durch die Landtagspräsidenten und Fraktionsvorsitzenden einstimmig die „Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente“369 verabschiedet, die es den Ländern ermöglichte, bundesgesetzliche Regelungen durch Landesrecht zu ersetzen oder zu ergänzen, so dass in bestimmten Bereichen Bundesrecht nur solange und soweit gelten sollte, wie die Länder von ihrer Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht haben. Das abweichende Landesrecht sollte auch dann weiter gelten, wenn der Bund seine Gesetzgebungsbefugnis ausgeübt hat.370 Nach diesem Modell hätte der 364  Vgl. Bayerischer Landtag, Reform des Föderalismus (Fn. 359), S. 52; Dietsche / Hinterseh (Fn. 304), S. 187, 197. 365  Schulze Harling, (Fn. 267), S. 56. 366  Bayerischer Landtag, Reform des Föderalismus (Fn. 359), S. 52. 367  Z. B. Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 27.03.2003 „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung – Leitlinien für die Verhandlungen mit dem Bund“, in: Hrbek / Eppler, Deutschland vor der Föderalismusreform, 2003, S. 26 ff. sowie am 09.04.2003 von der Bundesjustizministerin Zypries vorgelegtes Positionspapier des Bundes zur Föderalismusreform (Hrbek / Eppler [a. a. O.], S.  32 ff.) sowie am 13.06.2003 veröffentlichtes „Berliner Programm zur Reform des Föderalismus“ des Bundesarbeitskreises Christlich Demokratischer Juristen (Hrbek / Eppler [a. a. O.], S.  65 ff.). 368  Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages (Hrsg.), Föderalismuskonvent der deutschen Landesparlamente, 2003. 369  Vgl. Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtags (Hrsg.) (Fn. 368), S.  127 ff. 370  Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtags (Hrsg.) (Fn. 368), S. 40.

72

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Bund also nicht die Möglichkeit, seinem Gesetzesrecht in einem Land erneut Geltung zu verschaffen, wenn das jeweilige Land von seinem Abweichungsrecht Gebrauch gemacht hat.371 Somit handelt es sich bei dem Abweichungsrecht dieser Ausprägung um eine „umgekehrt konkurrierende Vorranggesetzgebung“.372

IV. Der „Zugriffsgedanke“ in der Gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Am 16. Oktober 2003 beschloss der Bundestag373 und einen Tag später auch der Bundesrat374 die Einsetzung einer gemeinsamen „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“. Den paritätisch getragenen Vorsitz der Bundesstaatskommission übernahmen in der konstituierenden Sitzung am 7. November 2003 der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Stoiber und der damalige Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Müntefering. Nach den Beschlusstexten bestand die inhaltliche Aufgabe der Kommission darin, Vorschläge zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung zu erarbeiten.375 Die Reformziele wiesen in drei grobe Richtungen. Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern sollte verbessert, die politischen Verantwortlichkeiten klarer zugeordnet und die Zweckmäßigkeit und Effizienz der Aufgabenerfüllung sollte gesteigert werden.376 Besonderes Augenmerk wollte man dabei auf die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen, auf die zukünftigen Mitwirkungsrechte der Länder in der Bundesgesetzgebung und auf die Überprüfung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern legen.377 Sowohl die Landesparlamente sollten durch die Rückübertragung von Kompetenzen gestärkt werden, aber auch der Bund sollte seine Handlungsfähigkeit zurückerlangen. In der Vergangenheit hätten Unsicherheiten in der Kompetenzverteilung zu unnötigen Verzögerungen von Gesetzesvorhaben geführt. In Hinblick auf die demokratische Bedeutung von Wahlen und die Transpa371  Dietsche / Hinterseh

(Fn. 304), S. 187, 197; Beck (Fn. 301), S. 32. Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, ZG 2003, 297, 303; Kirchhof, Ein neuer Ansatz zur Reform des Grundgesetzes – Zu den Bemühungen der Föderalismuskommission um die Erneuerung des Bundesstaats, ZG 2004, 209, 216. 373  BT-Drs. 15 / 1685. 374  BR-Drs. 750 / 03. 375  Gerstenberg (Fn. 21), S. 140. 376  Vgl. Einsetzungsbeschlüsse BT-Drs. 15 / 1685 und BR-Drs. 750 / 03. 377  Gerstenberg (Fn. 21), S. 140 Fn. 656. 372  Möstl,



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens73

renz hoheitlicher Entscheidungen müssten politische Verantwortlichkeiten aber für den Bürger klar zuordenbar sein.378 Schon in der zweiten von insgesamt elf Plenumssitzungen beschloss die Kommission die Einsetzung von zwei Arbeitsgruppen; Arbeitsgruppe 1 für den Themenkomplex „Gesetzgebungskompetenzen und Mitwirkungsrechte“ und Arbeitsgruppe 2 für den Themenbereich „Finanzbeziehungen“.379 Diese vorangehende Phase der Kommissionsarbeit war geprägt von allgemeinen Stellungnahmen und ersten Meinungspositionierungen.380 Mitte Mai 2004 wurden zusätzlich sieben Projektgruppen gebildet, als abzusehen war, dass sich mit den beiden Arbeitsgruppen das hoch gesteckte Ziel, bis Ende des Jahres 2004 Ergebnisse vorlegen zu können, nicht erreichen lässt.381 In diesem Zusammenhang sind insbesondere Projektgruppe 1 „Art. 84 GG und materielle Zugriffsrechte der Länder“ und Projektgruppe 4 „Gesetzgebungskompetenzen im Umwelt- und Verbraucherschutzrecht“ zu nennen.382 Hinsichtlich des materiellen Zugriffsrechts in der Projektgruppe 1 wurden verschiedene Modelle diskutiert, die sich in ihrer konkreten Ausgestaltung teilweise beträchtlich unterschieden. Drei dieser Modelle sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. 1. Vorschlag der Länder – umgekehrt konkurrierende Gesetzgebung Die Länder Bayern, Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt schlugen eine weitreichende Ausgestaltung des Gesetzgebungstypus „Zugriffsgesetzgebung“ vor.383 Kernstück sollte folgender Art. 72 a GG werden: „Im Bereich der Zugriffsgesetzgebung haben der Bund und die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung. Gesetze der Länder gehen in diesem Bereich Bundesgesetzen vor. Soweit die Länder von geltendem Bundesrecht abweichen, können / sollen sie von dieser Befugnis nur zur Regelung von Sachzusammenhängen Gebrauch machen.“

Alternativ zu Satz 3 wurde folgender Formulierungsvorschlag gewählt: 378  Schulze

Harling (Fn. 267), S. 64. Harling (Fn. 267), S. 65. 380  Gerstenberg (Fn. 21), S. 146. 381  Gerstenberg (Fn. 21), S. 146. 382  Schulze Harling (Fn. 267), S. 65. 383  Vgl. eine umfassende Darlegung des Vorschlags: Zur Verankerung und Systematik des Gesetzgebungstypus der „Zugriffsgesetzgebung“, PAU  – 1 / 0013, in: CDROM „Zur Sache 1 / 2005“; Schulze Harling, (Fn. 267), S. 72 Fn. 373; Beck (Fn. 301), S. 36. 379  Schulze

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

„Macht ein Land von seinem Recht zur Gesetzgebung Gebrauch, so soll es das Bundesgesetz, von dem abgewichen werden soll, insoweit vollständig durch Landesrecht ersetzen.“

Art. 70 Abs. 2 GG sollte wie folgt aussehen: „Die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern bemisst sich nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes über die ausschließliche Gesetzgebung, die konkurrierende Gesetzgebung und die Zugriffsgesetzgebung.“

Art. 31 GG sollte dementsprechend um folgenden Halbsatz ergänzt werden: „… soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt.“

Art. 75 GG sollte nicht mehr die zu streichende Rahmengesetzgebung enthalten, sondern folgendermaßen lauten: „Die Zugriffsgesetzgebung bezieht sich auf folgende Gebiete: …“.384

Der Vorschlag der Länder hätte einen grundsätzlichen Gleichrang von Bundes- und Landesgesetzgebung zur Folge gehabt.385 Die betreffende Materie hätte allerdings nicht zunächst vom Bund geregelt werden müssen, damit im Anschluss die Länder gesetzgeberisch tätig werden könnten. Der Grund für die beiden gleichlaufenden Vollkompetenzen bestand nach Ansicht der Länder darin, dem Bund die Möglichkeit zu nehmen, durch bloße Nichtregelung bestimmte Bereiche für die Landesgesetzgebung zu sperren.386 Eine Konkurrenz zwischen Bundes- und Landesrecht auf bestimmten Kompetenzfeldern sollte durch einen Anwendungsvorrang für das Landesrecht gelöst werden.387 Das Landesrecht hätte also das Bundesrecht nicht vollständig verdrängt, sondern es lediglich überlagert. „Kollidierendes“ Bundesrecht sollte zwar wirksam bleiben, wäre aber dem Landesrecht nachgegangen, wenn und soweit von der Zugriffsgesetzgebung Gebrauch gemacht wurde. Im Falle einer Neuregelung des Bundesrechts wäre das Landesrecht weiterhin bestehen geblieben, womit also eine Rückholbarkeit der Materie seitens des Bundes ausgeschlossen gewesen wäre. Nur im Falle der Nichtigkeit des Landesrechts hätte das verdrängte Bundesrecht wiederaufleben können.388 Der Vorschlag der Länder zielte also darauf ab, den Ländern „das letzte Wort bei der ­Gesetzgebung“ zu überlassen. Diese Zielsetzung zu Ende gedacht, handelt es sich bei dem Modell um eine Form „umgekehrt konkurrierender Ge­ des Gesetzgebungsvorschlags bei Dietsche (Fn. 291), S. 182, 187. Das Abweichungsrecht der Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge, 2011, S. 50. 386  Chandna (Fn. 385), S. 50. 387  Beck (Fn. 301), S. 37. 388  Beck (Fn. 301), S. 37. 384  Darstellung 385  Chandna,



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens75

setzgebung“.389 Der Vorschlag hatte in der Arbeitsgruppe 1 kaum Befürworter und stieß insbesondere auf Bundesseite auf heftige Kritik.390 2. Vorschlag Steenblock – verfassungsrechtlich verankerte Öffnungsklauseln Der Bundestagabgeordnete Steenblock (Bündnis 90 / Die Grünen) schlug verfassungsrechtlich verankerte Öffnungsklauseln vor,391 wonach der Bund von Verfassungs wegen verpflichtet werden sollte, einfachgesetzliche Öffnungsklauseln in seine Gesetze aufzunehmen, falls eine Bundesregelung nicht erforderlich sei.392 Art. 75 GG sollte aufgehoben und dessen Materien der bisherigen Rahmenkompetenz auf die ausschließliche Bundes- bzw. Landesgesetzgebungskompetenz aufgeteilt werden. Hinsichtlich ehemaliger Kompetenztitel der Rahmengesetzgebung, die in die ausschließliche Bundeskompetenz verschoben worden wären, sollte der Bund verpflichtet werden, diese für die Länder einfachgesetzlich zu öffnen. Diese Anforderungen sollten in einem Absatz 2 zu Art. 73 GG festgehalten werden: „Auf den Gebieten 1. … 2. … [Titel der bisherigen Rahmengesetzgebung] räumt der Bund den Ländern im Rahmen seiner Gesetze die Befugnis zur Regelung ein, wenn hierfür wegen regionaler Besonderheiten ein Bedürfnis besteht (Öffnungsklausel). Dies gilt nicht für Regelungen, bei denen zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit oder zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im gesamtstaatlichen Interesse ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht. Durch Landesgesetz ersetzbare Regelungen bedürfen auch dann nicht der Zustimmung des Bundesrates, wenn diese nach einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes erforderlich wäre.“

Hinsichtlich einzelner Materien der konkurrierenden Gesetzgebung sollte ebenso eine Pflicht des Bundes geschaffen werden, seine Gesetze für Landesrecht zu öffnen. Dies sollte in einem neuen Art. 72 Abs. 2 GG festgehalten werden: „Auf den Gebieten 1. … 2. … räumt der Bund den Ländern im Rahmen seiner Gesetze die Befugnis zur Regelung ein (Öffnungsklausel). Dies gilt nicht für Regelungen, bei denen zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit oder zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet im gesamtstaat­ 389  Dietsche

S. 37.

390  Zur

(Fn. 291), S. 182, 189; Chandna (Fn. 385), S. 51; Beck (Fn. 301),

Sache 1 / 2005, PAU  – 1 / 0014. Sache 1 / 2005, PAU  – 1 / 0018; Beck (Fn. 301), S. 38. 392  Möstl ([Fn. 372], ZG 2003, 298, 308  f.) meint, dass der Bund bereits auf Grund von Art. 72 Abs. 2 GG zur Aufnahme von Öffnungsklauseln in seine Gesetze verpflichtet ist, falls die Erforderlichkeit bundesgesetzlicher Regelungen nicht besteht, vgl. Schulze Harling, (Fn. 267), S. 72 Fn. 376. 391  Zur

76

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

lichen Interesse ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung besteht. Durch Landesgesetz ersetzbare Regelungen bedürfen auch dann nicht der Zustimmung des Bundesrates, wenn diese nach einer anderen Bestimmung des Grundgesetzes erforderlich wäre.“

Steenblock nannte als Ziel seines Vorschlags die Abschichtung und klarere Zuordnung von Kompetenzen. Die überwiegende Zahl von Kompetenzen sollte eindeutig der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes oder den Länder übertragen werden. Hinsichtlich der restlichen Kompetenzen sollte der Bund festlegen können, ob und inwieweit eine Öffnung für das Landesrecht bestehen müsste.393 Nach Ansicht der Länder griffen aber solche einfachgesetzlichen Öffnungsklauseln, auch wenn sie verfassungsrechtlich verankert gewesen wären, zu kurz. Länderkompetenzen seien nicht von Verfassungs wegen gegeben, sondern auf eine einfachgesetzliche Bundesregelung angewiesen. Außerdem sei es höchst unwahrscheinlich, dass der Bund den Länder großzügig breite Materien zur Gesetzgebung öffnet.394 Die Einräumung einer Erlaubnisklausel sei nach dem Grundgesetzentwurf von einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe abhängig, deren Bestimmung der Einschätzung des Bundesgesetzgebers unterliege. Nur in „Evidenzfällen“ gäbe es also eine Pflicht des Bundes zur Öffnung.395 3. Vorschlag Stünker-Röttgen Der Vorschlag der beiden Bundestagsabgeordneten Stünker (SPD) und Röttgen (CDU)396 ist der letztlich erfolgten Grundgesetzänderung am nähesten.397 Danach sollte die konkurrierende Gesetzgebung dahingehend reformiert werden, dass die Länder für bestimmte Regelungsbereiche von bestehendem Bundesrecht abweichen dürfen. Für Kollisionen zwischen Bundesund Landesrecht sollte eine lex-posterior-Regel gelten, wonach das jeweils jüngere Gesetz dem älteren vorgehe.398 Zwischen der Gesetzgebung des Bundes und der Länder würde nach diesem Modell ein echtes Konkurrenzverhältnis bestehen. Dies sollte durch den Wegfall der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG noch unterstrichen werden. Absatz 1 des Art. 72 GG sollte demnach gleich bleiben, Absatz 3 jedoch gestrichen und Absatz 2 wie folgt geändert werden:

393  Beck

(Fn. 301), S. 39. Ergebnisvermerk der 7. Sitzung der PG 1 am 28.09.2004, S. 2. 395  Beck (Fn. 301), S. 40. 396  PAU 1 / 0017, in: CD-ROM „Zur Sache 1 / 2005“. 397  Schulze Harling (Fn. 267), S. 72. 398  Zur Sache 1 / 2005, PAU  – 1 / 0017. 394  Vgl.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens77 „Hat der Bund auf dem Gebiet des 1. Art. 74 Abs. 1 Nr. … (aus dem ehemaligen Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 und 4) 2. Art. 74 Abs. 1 Nr. … von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz von den bundesgesetzlichen Bestimmungen abweichende Regelungen treffen.“399

Dieser Vorschlag von Stünker und Röttgen stieß auf breite Zustimmung sowohl auf Seiten des Bundes als auch auf Seiten der Länder. Er bildet den Ursprung des heutigen Art. 72 Abs. 3 GG, dessen Ausgestaltung „die konkurrierende Gesetzgebung beim Wort genommen“ sein soll.400

V. Weitere Entwicklung nach dem Scheitern der Kommission Die Kommission konnte sich trotz der regen Vorarbeiten nicht auf ein von der Mehrheit getragenes Reformkonzept einigen, weshalb die Vorsitzenden am 17. Dezember 2004 nur noch das Scheitern der Kommission verkünden könnten.401 Offiziell wurden für das Scheitern unüberwindbare Differenzen in den Bereichen des Hochschulwesens und der Bildungsplanung angegeben.402 Dennoch ist wohl davon auszugehen, dass auch machtpolitische Beweggründe sowohl auf Bundes- wie auch auf Länderseite zum Scheitern der Kommission geführt haben.403 Während auf dem Gebiet der Inneren Sicherheit, der Mitwirkung der Länder in europäischen Angelegenheiten und der Haftung auf europäischer Ebene eine Einigung in Form eines offenen Kompromisses vermutlich möglich gewesen wäre, galt dies nicht für den Bestand und die Reichweite materieller Zugriffs- oder Abweichungsrechte im Umweltrecht.404 Absolut unüberwindbar waren die Differenzen im Bildungswesen. Da nicht nur Stoiber, einer der beiden Vorsitzenden, sondern insbesondere auch die CDU-Ministerpräsidenten405 eine endgültige positive des Gesetzgebungsvorschlags bei Dietsche (Fn. 291), S. 182, 189. (Fn. 385), S. 51. 401  Müntefering, 10. Sitzung der Kommission am 17.12.2004, Stenografischer Bericht, S. 280, in: CD-ROM „Zur Sache 1 / 2005“; Schulze Harling (Fn. 267), S. 74. 402  Henneke, Chancen der Föderalismusreform nach dem Scheitern der Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, in: Henneke (Hrsg.), Föderalismusreform in Deutschland, Stuttgart 2005, S. 13 ff.; Gerstenberg (Fn. 21), S. 147 ff. 403  Gerstenberg (Fn. 21), S. 149. 404  Müntefering (Fn. 401), S. 279; Ergebnisvermerk PG 4, 5. Sitzung 14.10.2004, S. 1 f., in CD-ROM „Zur Sache 1 / 2005“; Schulze Harling (Fn. 267), S. 75. 405  Siehe hierzu Ministerpräsident Koch, in: Darnstädt u. a., „Die Blamage“ vom 20.  Dezember 2004, in: DER SPIEGEL 52 / 2004, S. 24, (www.spiegel.de / spiegel /  print / d-38627551.html (28.09.16)) „Wer so etwas fordert, der muss wissen, dass eine Einigung unmöglich ist“; Ministerpräsident Teufel, Neue Bewährungsprobe für 399  Darstellung 400  Chandna

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Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Beschlussfassung der Kommission vorab von einer Einigung in der Bildungsfrage abhängig gemacht hatten, konnte die Arbeit der Kommission letztenendes nicht durch ein konstruktives Ergebnis abgeschlossen werden.406 Nach dem Scheitern der Kommission kam es noch im Frühjahr 2005 zu diskreten Nachverhandlungen zwischen den ehemaligen Kommissionsvorsitzenden, wobei deren Erträge die Aufnahme einer Abweichungsgesetzgebung nicht mehr vorsahen.407 Die Verhandlungen wurden schlussendlich abgebrochen, als der damalige SPD-Bundesvorsitzende Müntefering die Stellung der Vertrauensfrage und damit Neuwahlen ankündigte.408

VI. Aufnahme des Reformvorhabens in den Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD 2005 Aus der vorgezogenen Wahl zum 16. Deutschen Bundestag vom 18. September 2005 ging eine Große Koalition zwischen CDU / CSU und SPD hervor, so dass die Bedingungen für einen zweiten Anlauf zur Föderalismusreform nicht besser hätten sein können.409 Schon kurz nach der Wahl beschloss die Große Koalition, sich der Föderalismusreform als eines ihrer ersten großen Projekte anzunehmen, und sie als Annex in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.410 Zu diesem Zweck setzte sie die Koalitionsarbeitsgruppe „Föderalismus“ unter der Leitung des designierten Bundesinnen­ ministers Schäuble und des SPD-Generalsekretärs Benneter ein, die am 7. November 2005 ein Einigungspapier vorlegte, welches am 18. November 2005 in den Koalitionsvertrag als Anlage 2 aufgenommen wurde.411 Die Koalition bezweckte – wie schon die Bundesstaatskommission 2003 – eine den Föderalismus, in: Jahrbuch des Föderalismus 6 (2005), S. 15 und 18, der meint, dass die Kompromissbereitschaft der Länder überstrapaziert wurde und die Bildungskompetenzen fast nur einen symbolischen Preis dargestellt hätten; Ministerpräsident Müller, Der Sinn des Föderalismus, in: Stiftung Gesellschaft für Rechtspolitik, Trier / Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier (Hrsg.), 44. Bitburger Gespräche, Föderalismusreform, S. 7, 17 f. 406  Gerstenberg (Fn. 21), S. 147 ff. 407  Beck (Fn. 301), S. 44. 408  Schulze Harling (Fn. 267), S. 75. 409  Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 37; Schulze Harling (Fn. 267), S. 75; Gerstenberg (Fn. 21), S. 156. 410  Gerstenberg (Fn. 21), S.  147 ff. 411  Schulze Harling (Fn. 267), S. 76; Gerstenberg (Fn. 21), S. 147 ff; Röttgen / Boehl, Abweichung statt Zustimmung. Die Re-Adjustierung des Verhältnisses von Bundestag und Bundesrat durch Änderung des Artikels 84 GG, in: Holtschneider / Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 17, 26.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens79

Entflechtung der Kompetenzen von Bund und Ländern, eine klarere Zuordnung von Verantwortlichkeiten, mehr Befugnisse für den Bund neben mehr Gestaltungsspielräumen für die Länder sowie die Neuregelung der Finanzbeziehungen.412 Von ausschlaggebendem Gewicht für die Einigung auf den strittigen Gebieten des Bildungs- und Umweltrechts war die Einführung der Abweichungsgesetzgebung.413 Die Gegenstände der abzuschaffenden Rahmengesetzgebungskompetenz sollten als dritter Unterfall der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG eingefügt und mit der Abweichungsmöglichkeit für die Länder versehen werden.414 Folgenden Wortlaut sollte Art. 72 Abs. 3 GG haben.415 „Hat der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen auf folgenden Gebieten treffen: 1. Jagdwesen, soweit es sich nicht um das Recht der Jagdscheine handelt; 2. Naturschutz und Landschaftspflege, soweit es sich nicht um Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes handelt; 3. Bodenverteilung; 4. Raumordnung; 5. Wasserhaushalt, soweit es sich nicht um stoff- oder anlagenbezogene Regelungen handelt; 6. Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse. Bundesgesetze auf diesem Gebiet treten frühestens sechs Monate nach ihrem Erlass in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates anderes bestimmt ist.“

Auf eine Regelung der Konkurrenz von abweichendem Bundes- und Landesrecht konnte man sich noch nicht einigen, auch wenn der Bund auf eine Rückholoption insistierte.416 Im Rahmen dieser Koalitionsvereinbarung war die Abweichungsgesetzgebung zum ersten Mal in ihrer Geschichte als „konkrete politische Absichtserklärung festgehalten“ worden.417

412  Schulze

Harling (Fn. 267), S. 76. (Fn. 21), S. 157. 414  Beck (Fn. 301), S. 45; Gerstenberg (Fn. 21), S. 157. 415  Siehe dazu Gerstenberg (Fn. 21), S. 157. 416  Röttgen / Boehl (Fn. 411), S. 17, 30 und Stünker, Zur Entwicklung der Neufassung von Art. 72 Abs. 2 GG (Erforderlichkeitsklausel) und Art. 72 Abs. 3 GG (Abweichungsrechte), in: Holtschneider / Schön (Hrsg.), Die Reform des Bundesstaates, 2007, S. 91, 101; Gerstenberg (Fn. 21), S. 158. 417  Beck (Fn. 301), S. 45. 413  Gerstenberg

80

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

VII. In der Föderalismuskommission diskutierte Zitiergebote Für den Gegenstand dieser Arbeit, zu klären, ob im Bereich der Abweichungsgesetzgebung eine Zitierpflicht besteht, ist von nicht unbeachtlicher Bedeutung, dass ein solches explizites Zitiergebot im Rahmen der Föderalismuskommission zwar diskutiert, schlussendlich aber verworfen wurde. Entsprechende Anregungen kamen von den Sachverständigen Huber und Pestalozza in ihren Stellungnahmen in der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags.418 Beide machten den Vorschlag, dass im Grundgesetz in Art. 72 Abs. 3 eine Verpflichtung statuiert werden müsste, wonach auf Grund zu befürchtender Rechtsunübersichtlichkeit eine Abweichung im entsprechenden Gesetz kenntlich zu machen wäre.419 Huber sprach sich zusätzlich für eine explizite wechselseitige Notifizierungspflicht gegenüber dem Bund oder dem betroffenen Land aus, „damit klar ist, von welchen Vorschriften des Bundes- bzw. des Landesrechts abgewichen wird“.420 Der Sachverständige Wieland gab zu bedenken, dass die bereits im Grundgesetz verankerten Zitiergebote etwa für Grundrechtseingriffe in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG mittlerweile zu rein formalen Vorschriften verkommen seien, und einer Zitierpflicht in Art. 72 Abs. 3 GG daher ein ähnliches Schicksal drohe.421 Der Sachverständige Meyer nahm vor allem die Rechtsfolge der grundsätz418  Huber, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in der Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 15. / 16.05.2006, S. 219, 231; ders., Stenografischer Bericht der 12.  Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006 (http: /  / starweb.hessen.de /  cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)), S. 40; Pestalozza, ebd., S. 51, vgl. v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder im Naturschutzrecht, Schriftenreihe Natur und Recht 15, 2012, S. 39, Fn. 232. 419  Pestalozza, a. a. O. (Fn. 418), S. 51; Huber, a. a. O. (Fn. 418), S. 231: „[Konflikte und Rechtsunsicherheit] könnten deutlich entschärft werden, wenn das Grundgesetz in Art. 72 Abs. 3 (Entwurf) eine Verpflichtung statuieren würde, eine Abweichung im Gesetz kenntlich zu machen und sie dem Bund bzw. dem betroffenen Land zu notifizieren. Sie sollte im BGBl. veröffentlicht werden und der Bund dazu verpflichtet werden, ein Register zu führen, aus dem sich sämtliche Abweichungen ergeben. Im Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 GG sowie in der vor einigen Jahren etablierten Praxis, in den Gesetzen die Richtlinien und EG-Verordnungen anzugeben, deren Umsetzung ein Gesetz dienen soll, fände diese Verpflichtung in gewisser Hinsicht auch Vorläufer.“ Vgl. v. Stackelberg (Fn. 418), S. 39, Fn. 233. 420  Huber a. a. O. (Fn. 418), Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll, S. 219, 231; ders. (Fn. 418), Stenografischer Bericht, S. 40. 421  Wieland, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform am 15. / 16.05.2006 (Fn. 418), S. 64.



B. Die Herkunft des Abweichungsgedankens81

lichen Nichtigkeit eines Verstoßes gegen das Zitiergebot in den Fokus seiner Überlegungen. Würde die Nichtigkeit der nicht zitierten Norm entfallen,422 entstünde eine noch beträchtlichere Unsicherheit über die Rechtslage.423 Der Sachverständige Kirchhof wandte ein, dass das Erfordernis der formellen Etikettierung einer Abweichung große Unsicherheit auf Seiten des Gesetzgebers dahingehend erzeuge, ob tatsächlich eine Abweichung oder lediglich ein Zusatz, eine Konkretisierung oder eine Änderung vorliegt. Außerdem befürchtete er eine volumenmäßige Überforderung des Bundesverfassungsgerichts, das bei einer Nichtigkeitsfolge überprüfen müsste, ob und richtig ­zitiert worden ist.424 Der Sachverständige Ruthig schlug lediglich „Transparenz durch Notifikationsverfahren“ vor. „Die Länder wären verpflichtet, dem Bund den Erlass und die Aufhebung solcher Gesetze anzuzeigen, die von konkurrierendem Bundesrecht abwei­chen.“425 Wie diese Anmerkungen bereits verdeutlichen, wurden schon während der Reformdiskussion Zitiergebote für unterschiedliche Adressaten diskutiert. Relativ einig waren sich die Befürworter eines Zitiergebots, dass die Länder die Normen des Bundes, von denen sie abweichen, zum Schutze des Rechtsunterworfenen benennen müssen.426 Vereinzelt wurden auch demokratische Gründe für eine Zitierpflicht angeführt. Der Landesgesetzgeber müsse erkennen können, ob im Falle von Gesetzesinitiativen der Landesregierung ein Sonderweg des jeweiligen Bundeslandes beschritten werden soll.427 Schon im Rahmen der Föderalismuskommission wurden zusätzlich zu den Kenntlichmachungen der Länder auch solche des Bundes gefordert. Zum einen sollte der Bund zur Ausräumung von „denkbaren Unsicherheiten über die kompetenzielle Lage“ abweichungsfeste Normen im Bundesgesetz benennen.428 Zum anderen sollte er bei subsequenter Bundesregelung, also 422  Bzgl.

der Gründe für das Entfallen der Nichtigkeit, siehe unten Kapitel 6. Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform am 15. / 16.05.2006 (Fn. 418), S. 64. 424  Kirchhof, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform am 15. / 16.05.2006 (Fn. 418), S. 67. 425  Ruthig, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 15. Sitzung des Rechtsausschusses am 18.05.2006, (http: /  / starweb.hessen.de / cache / bund /  foederalismus_03_Protokoll_Umwelt.pdf. (07.02.13)), S. 12. 426  Schulze Harling (Fn. 267), S. 117. 427  Meyer (Fn. 409), S. 172. 428  Ebd. Dieses Zitiergebot wäre dann aber in die originäre konkurrierende Gesetzgebung des Bundes nach Art. 72 Abs. 1 GG und nicht in seine Abweichungsgesetzgebung hineinzulesen, vgl. unter Kapitel 2. B. II. 3. 423  Meyer,

82

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

für den Fall der Überregelung abweichenden Landesrechts, angeben, welche Vorschriften des abweichenden Landesrechts von der Neuregelung betroffen sind.429 Festzuhalten bleibt, dass sich trotz der Beratungen und Stellungnahmen in der Reformdiskussion ein ausdrückliches Zitiergebot in Art. 72 Abs. 3 GG nicht hat durchsetzen können. Ein ungeschriebenes Zitiergebot hergeleitet aus Staatsstrukturprinzipien stellt dieser Umstand dennoch nicht in Abrede.

VIII. Grundgesetzänderung mit Wirkung zum 1. September 2006 Die Fraktionen von CDU / CSU und SPD brachten am 7. März 2006 einen umfassenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes430 und ein Föderalismusreform-Begleitgesetz mit den erforderlichen Konsequenzen auf einfachgesetzlicher Ebene in den Bundestag und Bundesrat ein.431 Danach sollte Art. 72 Abs. 3 GG wie folgt aussehen. „Hat der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, können die Länder durch Gesetz hiervon abweichende Regelungen treffen über: 1. das Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine); 2. den Naturschutz und die Landschaftspflege (ohne die Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes); 3. die Bodenverteilung; 4. die Raumordnung; 5. den Wasserhaushalt (ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen); 6. die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse. Bundesgesetze auf diesen Gebieten treten frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, soweit nicht mit Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates etwas anderes bestimmt ist. Auf den Gebieten des Satzes 1 geht im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vor.“

Die Anlage 2 des Koalitionsvertrages wurde damit nicht vollständig übernommen, auch wenn Art. 72 Abs. 3 GG hauptsächlich nur sprachlich ver­ ändert wurde.432 Lediglich die lex-posterior-Regelung des Satzes 3 wurde 429  Für den Fall des formellen Abweichungsrechts in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG bejahend Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Auflage, 2008, Art. 84 Rn. 59. 430  BT-Drs. 16 / 813. 431  Gerstenberg (Fn. 21), S. 160; Beck (Fn. 301), S. 45. 432  Beck (Fn. 301), S. 46.



C. Zusammenfassung83

komplett neu eingeführt. Diese regelt explizit den Kollisionsfall von abweichendem Bundes- bzw. Landesrecht, indem sie bestimmt, dass in Abweichung zu Art. 31 GG, ohne Rücksicht auf den Rang des jeweils erlassenen Gesetzes, das spätere Gesetz Vorrang hat.433 Der Bundestag stimmte dem Gesetzesvorhaben am 7. Juli 2006 vollständig zu.434 Das Föderalismusreformgesetz wurde am 31. August 2006 im Bundesgesetzblatt verkündet.435 Die Grundgesetzänderung trat am 1. September 2006 in Kraft.

C. Zusammenfassung Föderalismus bezeichnet gemeinhin ein organisationsrechtliches Prinzip, nach dem sich kleinere politische Einheiten unter Beibehaltung hoheitlicher Befugnisse zu einem übergeordneten selbstständigen politischen Gebilde zusammenschließen und mit der oberen Einheit in einer kompetenziellen Wechselwirkung stehen. Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wird für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern bzw. den Ländern unter­ einander das Prinzip eines kompetitiven Föderalismus verfolgt. Auch wenn es sich beim kompetitiven Föderalismus nicht um ein eigenständiges Rechtsprinzip handelt, an dem die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ausgerichtet werden könnte, ist der Wettbewerb ein zentrales Leitmotiv und politisches Gestaltungsprinzip dieser Epoche. Der im Leitbild enthaltene Wettbewerbsgedanke streitet für eine „echte“ Gleichrangigkeit von Bund und Ländern. Dieser Grundgedanke kann bei Fragen, die das Bund-Länder-Verhältnis bei der Abweichungsgesetzgebung betreffen, fruchtbar gemacht werden. Beispielsweise spricht er für eine Gleichbehandlung der bundesstaatlichen Akteure in Hinblick auf das Bestehen einer Kennzeichnungspflicht. Darauf wird noch zurückzukommen sein.436 Zugriffs- bzw. Abweichungsbefugnisse der Länder sind keine Erfindung der Föderalismuskommission aus dem Jahr 2006. Der erste ernsthaft mit der Ausgestaltung der heutigen Abweichungsgesetzgebung vergleichbare Vorschlag stammt von dem früheren Hamburgischen Senator für Bundesangelegenheiten Ernst Heinsen, den er im Rahmen eines Sondervotums innerhalb der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ von 1976 geäußert hat. Auf diesen „alten Vorschlag“ des Senators Heinsen wurde in den Debatten der Föderalismuskommission 2006 auch rekurriert. Heinsen gilt damit als „Erfinder“ der Abweichungsgesetzgebung, auch wenn der Grundgedanke der 433  Beck

(Fn. 301), S. 46. 462 / 06. 435  BGBl. 2006 I S. 2034 ff. 436  Siehe dazu unter Kapitel 4. C. I. 1. 434  BR-Drs.

84

Kap. 1: Entstehung der Abweichungsgesetzgebung

Zugriffsgesetzgebung bereits zu Zeiten der Weimarer Republik bzw. noch früher entstanden ist. Sowohl der Vorschlag Heinsens wie zum Teil auch die zu früheren ­ ugriffs- und Abweichungsbefugnissen beinhalteten eine Zitierpflicht des Z abweichenden Gesetzgebers. Somit spricht zunächst aus historischer Sicht einiges für eine Zitierpflicht des abweichenden Gesetzgebers. Da mithin die historischen und theoretischen Grundlagen der Abweichungsgesetzgebung und eines eventuellen Zitiergebots geklärt sind, bedarf es einer weitergehenden Auseinandersetzung mit den rechtlichen Voraussetzungen und Folgen dieser Gesetzgebungsart.

Kapitel 2

Das materielle Abweichungsrecht nach Art. 72 Abs. 3 GG und seine verfassungsrechtliche Ausgestaltung Im Anschluss sollen die spezifischen Merkmale dieser Gesetzgebungsart einer näheren Betrachtung unterzogen werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den Tatbestand und die dem Grundgesetz bis dato unbekannte Rechtsfolge gelegt.

A. Konkurrierende Gesetzgebungskompetenz Die Aufgabe des Bundesstaates besteht in der Verbindung und Versöhnung „widerstreitender Tendenzen“1 „der Gleichförmigkeit des Einheitsstaates und der Vielfalt des Staatenbundes“2. Die konkrete Umsetzung dieses Gleichgewichts erfolgt u. a. durch ein mehr oder weniger ausgefeiltes „Zusammenspiel“ zwischen der Zentralgewalt und den einzelnen Gliedern, für den deutschen Kontext zwischen Bund und Ländern.3 Unter formellen Gesichtspunkten geht es hierbei um eine ausgewogene Verteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern, genauer gesagt um eine zweckmäßige systematische Zuordnung von Kompetenzen und ggf. Verschränkung der einzelnen Ebenen.4 Für den Bereich der Gesetzgebung bedeutet dies die generelle „Trennung der Kompetenzsphären zwischen Bund und Ländern“ also die grundsätzliche „Ausschließlichkeit und Alternativität der Kompetenzzuweisungen“.5 Einzelne Regelungsmaterien und entsprechen1  Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 126 Rn. 4; siehe oben Kapitel 1. A. I. 1. 2  Schmidt-Jortzig, „Abweichungsgesetzgebung“ als neues Kompetenzverteilungsinstrument zwischen den Gliederungsebenen des deutschen Bundesstaates, in: Härtel (Hrsg.), Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. I, 2012, § 20 Rn. 2. 3  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 4  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 5  Rozek, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 70 Abs. 1 Rn. 1.

86

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

de „Regelungshoheiten“ sind dem Bund und den Ländern also grundsätzlich jeweils „getrennt zugewiesen“.6 In einem gewaltenteilerischen System kann eine strenge organisatorische und funktionelle Trennung der Hoheitsgewalt gleichwohl nicht in jeder Hinsicht durchgehalten werden.7 Dies gilt erst recht für moderne Gewaltenteilungssysteme, die den heutigen ausdifferenzierten Gegebenheiten entsprechend eine hohe Komplexität aufweisen müssen.8 Das „vielfältige Beziehungsgeflecht“ der Verfassungsgewalten umfasst mithin unterschiedliche Formen und Verfahren der Kontrolle und Zusammenarbeit.9 Hinsichtlich der Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen war die konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis des Art. 72 GG neben der Rahmen- und Grundsätzegesetzgebung schon immer das wichtigste „Scharnier“ für die gegenseitige Einflussnahme.10 Diesen vielseitigen Kompetenztyp mit einem „Vorratsbereich potenzieller Bundesgesetzge­ bung“11, in dem die Gliedstaaten vorerst ihre Zuständigkeit behalten, der Bund aber bei Bedarf die Gesetzgebung an sich ziehen kann, kennt nahezu jedes bundesstaatliche System so etwa auch das der USA, das in Kanada und das der Schweiz.12 Die Elastizität dieser Kompetenzart ermöglicht Reaktionen auf den Wandel der Gegebenheiten und damit gerade die Stabilität des Bundesstaates.13 Als Gesetzgebungstyp ist die konkurrierende Gesetzgebung zwar weiterhin unangefochten14 und genießt bei weitem die größte praktische Bedeutung.15 Seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 hat sich ihre Struktur aber grundlegend verändert. Mit der Auflösung der Bundesrahmengesetzgebung in Art. 75 GG a. F. ist an die Stelle der bisher einheitlichen Konkurrenzgesetzgebung ihre dreistufige Ausprägung getreten.16 Es gibt nun eine Vorranggesetzgebung nach Art. 72 Abs. 1 GG, bei der die Zuordnung zu 6  Schmidt-Jortzig

(Fn. 2), § 20 Rn. 2. (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 8  BVerfGE 95, 1, 15; 96, 375, 394. 9  Sommermann, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 20 Abs. 2 Rn. 212. 10  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 11  Oeter, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 72 Rn. 1. 12  Oeter (Fn. 11), Art. 72 Rn. 1. 13  Kunig, in: v.  Münch (Begr.) / Kunig (Hrsg.), GG- Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2012, Art. 72 Rn. 38. 14  Kunig (Fn. 13), Art. 72 Rn. 38. 15  Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, Suppl. Art. 20–82 GG, 2007, Art. 72 Rn. 13. 16  Degenhart, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Abweichungsgesetzgebung, DÖV 2010, 422; Kunig (Fn. 13), Art. 72 Rn. 1; Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 7  Schmidt-Jortzig



B. Abweichungsgesetzgebung87

einem der Kompetenztitel in Art. 74 GG ausreicht, um den Bund zur Gesetzgebung zu befähigen.17 Ferner gibt es eine Erforderlichkeitsgesetzgebung nach Art. 72 Abs. 2 GG, die „der Bund nur bei nachweislichem Bedarf einer bundeseinheitlichen Regelung in Anspruch nehmen“ darf.18 Drittens ist in Art. 72 Abs. 3 GG eine Art Anstoßgesetzgebung in Form einer Abweichungsgesetzgebung umgesetzt worden.19 Hierbei gibt der eine bundesstaatliche Akteur mit einem Gesetz ein „Regelungsmuster“ vor und der andere kann davon abweichen.20 Für diesen dritten Teilbereich ließe sich nun sogar von einer „echten Konkurrenz“ zwischen Bund und Ländern sprechen, denn die Priorität des einen föderativen Partners folgt jetzt aus rein zeitlichen Gründen.21 Bis 2006 wurde das Kompetenzsystem des Art. 72 Abs. 1 GG hingegen mit den Begriffen einer „unechten Konkurrenz“22 oder „Vorranggesetzgebung“23 des Bundes umschrieben, weil den Ländern die Gesetzgebungsbefugnis nur zukam, solange und soweit der Bund untätig geblieben war, oder wenn er das von ihm besetzte Regelungsfeld wieder geräumt hatte.24

B. Abweichungsgesetzgebung In dieser Arbeit soll die dritte Stufe der neu konzipierten konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz näher untersucht werden. Die Abweichungsgesetzgebung war trotz ihres zeitlich weiter zurückliegenden Ursprungs25 ein bis 2006 „vorbildloser Kompetenztyp“ im deutschen Verfassungssystem.26 Im internationalen Vergleich sind Abweichungsmöglichkeiten schon länger etabliert. Das Europarecht kennt Abweichungsbefugnisse auf primärrechtlicher Ebene schon seit geraumer Zeit.27 Nach Art. 114 Abs. 5 AEUV können die Mitgliedsstaaten gegenüber rechtsangleichenden „Harmonisierungsmaßnahmen“ zur Regelung von „spezifischen Problemen“ unter bestimmten 17  Schmidt-Jortzig

(Fn. 2), § 20 Rn. 2. (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 19  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 20  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 2. 21  Kunig (Fn. 13), Art. 72 Rn. 1. 22  Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 135 Rn. 152. 23  Ströfer, Der Beginn der Kompetenzsperre für den Landesgesetzgeber nach Art. 72 Abs. 1 GG. Am Beispiel der neueren bergrechtlichen Gesetzesregelungen und -bestrebungen, JZ 1979, 394, 395. 24  Kunig (Fn. 13), Art. 72 Rn. 1. 25  Siehe oben Kapitel 1. B. I. 26  Degenhart (Fn. 16), DÖV 2010, 422. 27  Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, NVwZ 2008, 492, 498. 18  Schmidt-Jortzig

88

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

Voraussetzungen abweichende „einzelstaatliche Bestimmungen“ erlassen.28 Somit ist die europäische „Rechtseinheit“ auch „im wichtigen Bereich des Wirtschaftsrechts nur eine relative“.29 Außerdem können die Mitglieds­ staaten nach Art. 193 AEUV speziell in der Umweltpolitik im Verhältnis zu allgemein verbindlichen europäischen Schutzmaßnahmen „verschärfte Schutzmaßnahmen ergreifen“.30 Auch das Völkervertragsrecht kennt entsprechende Opting-out- bzw. Opting-up-Vorkehrungen.31 Die Figur der Abweichungsgesetzgebung, die jenseits der öffentlichen Verhandlung über die Verfassungsreform in das Grundgesetz gelangt ist, wird u. a. als ein typisches Beispiel politischer Kompromissbildung be­ zeichnet,32 denn sie sorge nicht unbedingt für klare Verhältnisse, sondern halte sie eher „in der Schwebe“.33 Die Regelungsmaterien der abgeschafften Rahmengesetzgebungskompetenz hätte man teils auch der ausschließ­lichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes oder der der Länder übertragen bzw. teilweise der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz zuschlagen können, wenn man den primären Bundeszugriff unbedingt hätte wahren wollen.34 Letzten Endes habe man sich aber mit der Etablierung der neuen Gesetzgebungskategorie nicht nur gegen die Verringerung der Anzahl der unterschiedlichen Gesetzgebungszuständigkeiten,35 sondern auch gegen die angedachte Entflechtung36 von Bundes- und Landesgesetzgebungsbefugnissen entschieden.37 Ursprünglich habe man mit der Reform diese Politikverflechtungen gerade bekämpfen wollen, nun bestehe aber die Gefahr, dass sich Bund und Länder auf Grund gegenseitiger Drohgebärden potenzieller Abweichung aus der parlamentarischen Gesetzgebung zurückziehen38 und dies 28  Schmidt-Jortzig

(Fn. 2), § 20 Rn. 3 Fn. 4. (Fn. 27), NVwZ 2008, 492, 498. 30  Franzius (Fn. 27), NVwZ 2008, 492, 498; Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 3 Fn. 4. 31  Vgl. Art. 28 UN-Antifolterkonvention; Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 3 Fn. 4. 32  Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 164. 33  Schmidt-Jortzig, Legislative Handlungsmöglichkeiten und Handlungspflichten nach der Föderalismusreform, in: Magiera / Sommermann / Ziller (Hrsg.), Verwaltungs­ wissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive, Festschrift für Heinrich Siedentopf, 2008, S. 331, 342. 34  Meyer (Fn. 32), S. 164. 35  Meyer (Fn. 32), S. 164. 36  Siehe oben unter Kapitel 1. A. III. 37  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 4. 38  Schulze-Fielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, 249, 253, 254; Oeter, Neustrukturierung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, Veränderung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform Einführung, 2007, Rn. 29. 29  Franzius



B. Abweichungsgesetzgebung89

„exekutivischen Koordinationsgremien“39 überlassen. Diese Art der „Entparlamentarisierung“ habe auch immer einen „Demokratieverlust“ zur ­Folge.40 Unabhängig von dieser Problematik werden dem neuen Institut der Abweichungsgesetzgebung auch positive Effekte zugesprochen. Der Bund könne unter Geltung der Abweichungsgesetzgebung anstelle der früheren Rahmenregelungen nun Vollregelungen für die betroffenen Materien erlassen. Angesichts der höchst unterschiedlichen Gesetzgebungskapazität der Länder bestehe mit der Abweichungsgesetzgebung für nicht abweichungswillige Länder kein legislativer Regelungsdruck, da die jeweiligen Bundesgesetze in vollem Umfang anwendbar seien und damit keinerlei Regelungslücken entstehen könnten. Potente und abweichungswillige Länder hätten wiederum einen viel weiter reichenden Zugriff auf die jeweilige Materie als unter Geltung der alten Rahmengesetzgebung.41 Das Abweichungsrecht erkenne somit die Differenz zwischen den Ländern an und zolle ihrer Asymmetrie Tribut.42 Berücksichtige man, dass die Länder vor der Föderalismusreform I ihre Stellung als bloße Vollzugs- und Verwaltungseinheiten43 beklagt haben, werde das Instrument der Abweichungsgesetzgebung somit seinem zentralen Ziel, der Stärkung der Ländergesetzgebung, gerecht. Die Abweichungsgesetzgebung ermögliche einen von den größeren Ländern dringend geforderten „regulatorischen Wettbewerb“ unter den Ländern.44 Gleichwohl sei der „experimentelle Charakter“45 der Abweichungsgesetzgebung nicht zu verkennen. Sie begründe die Möglichkeit eines Gestaltungswettbewerbs nicht nur unter den Ländern, sondern auch zwischen 39  Meyer

(Fn. 32), S. 165. (Fn. 32), S. 165. 41  Oeter (Fn. 11), Art. 72 Rn. 122. 42  Scharpf, Recht und Politik in der Reform des deutschen Föderalismus, in: Becker / Zimmerling (Hrsg.), Politik und Recht, PVS-Sonderheft 36 (2006), 306, 324 ff. 43  BT-Drs. 16 / 813, S. 15; Haug, Die Abweichungsgesetzgebung – ein Kuckucksei der Föderalismusreform?, DÖV 2008, 851, 856. 44  Teufel, in: Deutscher Bundestag / Bundesrat (Hrsg.), Dokumentation der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, Zur Sache 1 / 2005, 2005, Sten.Ber. der 2. Sitzung vom 28.  November 2003, S. 27; Uhle, in: Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, Art. 72 Rn. 47; Stock, Konkurrierende Gesetzgebung, postmodern: Aufweichung durch „Abweichung“?, ZG 2006, 226, 233. 45  Oeter (Fn. 11), Art. 72 Rn. 124; Selmer, Folgen der neuen Abweichungsgesetzgebung der Länder – Abschied vom Leitbild „gleichwertiger Lebensverhältnisse“?, ZG 2009, 33, 36; Fischer-Hüftle, Zur Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet „Naturschutz und Landschaftspflege“ nach der Föderalismusreform, NuR 2007, 78, 85; Michel, Der experimentelle Bundesstaat, JZ 2006, 884. 40  Meyer

90

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

Bund und Ländern, die es unter Geltung des Grundgesetzes noch nicht gegeben habe.46 Abschließend lässt sich in Hinblick auf den Kompromisscharakter der Abweichungsgesetzgebung und ihren damit einhergehenden Vor- und Nachteilen festhalten, dass nach jahrzehntelanger Stagnation nun zumindest „Bewegung in die Fortentwicklung des bundesdeutschen Föderalismuskonzepts gekommen ist“.47 Wiederum gilt die „alte Erkenntnis“48: „Bundesstaat und Föderalismus sind – in der Geschichte wie in der Gegenwart – die Verkörperung eines permanenten Kompromisses. Eine vollendete, alle Beteiligten zufrieden stellende Föderativverfassung wird es nicht geben; erreichbar ist nur eine relativ beste.“49

I. Inhaltliche Abmessungen der neuen Gesetzgebungskategorie Die Abweichungsgesetzgebung unterliegt mehreren inhaltlichen Beschränkungen. Die von ihr verfolgten Ziele und Umsetzungsbedingungen sind verschiedentlich – wenn auch nicht abschließend – untersucht worden.50 Im Anschluss werden die Bedingungen, die für die Fragestellung dieser Arbeit relevant sind, beleuchtet. Dabei kommt die klassische Auslegungsmethodik insbesondere des Wortlauts und der systematischen Stellung der maßgeb­ lichen Normen zur Anwendung.51

46  Oeter

(Fn. 11), Art. 72 Rn. 124. Die große Staatsreform als Ausweg aus der Föderalismusfalle?, LKV 2006, 385, 395. 48  Ebd. 49  Stern, Föderative Besinnungen, in: Müller (Hrsg.), Recht als Prozess und Gefüge, Festschrift für Huber, 1981, S. 319, 331. 50  Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, NVwZ 2006, 1209  ff.; Franzius (Fn. 27), NVwZ 2008, 492  ff.; Häde, Entflechtung und Verflechtung. Eine Zwischenbilanz der ersten Stufe der Föderalismusreform, ZG 2009, 1 ff.; Haug (Fn. 43), DÖV 2008, 851 ff.; Klein / Schneider, Art. 72 GG n. F. im Kompetenzgefüge der Föderalismusreform, DVBl 2006, 1549 ff.; Nierhaus / Rademacher (Fn. 47), LKV 2006, 385 ff.; Rengeling, Föderalismusreform und Gesetzgebungskompetenzen, DVBl 2006, 1537 ff.; Stock (Fn. 44), ZG 2006, 226 ff.; Schulze Harling, Das materielle Abweichungsrecht der Länder, Art. 72 Abs. 3 GG, 2011; Uhle (Fn. 44), Art. 72 Rn. 47 ff.; Köck / Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz – Sind Eingriffsregelung und Landschaftsplanung allgemeine Grundsätze des Naturschutzes?, NVwZ 2008, 353 ff.; Selmer (Fn. 45), ZG 2009, 33 ff. 51  So auch Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 6. 47  Nierhaus / Rademacher,



B. Abweichungsgesetzgebung91

1. Normqualität der abweichenden Norm In Hinblick auf die Rechtsnatur der abweichenden Norm spricht Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG zunächst von einer „durch Gesetz abweichenden Regelung“. Es bedarf der Klärung, was mit diesem Passus an dieser Stelle im Grundgesetz gemeint ist.52 Art. 72 Abs. 1 GG verwendet eine ähnliche Formulierung, wonach der „Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat“. Man könnte zunächst annehmen, dass das Grundgesetz mit dem Begriff des Gesetzes stets ein förmliches Gesetz meint. Dies ist aber nicht immer der Fall, wie etwa die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte oder Art. 83 GG zeigen.53 Art. 104 Abs. 1 GG spricht sogar explizit von einem „förmlichen Gesetz“; dies wäre nicht notwendig, wenn das Grundgesetz immer den formellen Gesetzesbegriff verwenden würde.54 Das Grundgesetz gebraucht mtihin keinen einheitlichen Begriff des Gesetzes; der Gesetzesbegriff ist vielmehr aus dem Verwendungszusammenhang, der systematischen Stellung sowie dem Sinn und Zweck der jeweiligen Grundgesetzbestimmung zu ermitteln.55 Im Bereich der in Art. 70 bis 75 GG enthaltenen Kompetenzvorschriften hat sich das Bundesverfassungsgericht allerdings eindeutig für die Maßgeblichkeit des förmlichen Gesetzesbegriffs entschieden,56 geht es doch in Abschnitt VII des Grundgesetzes um Anordnungen der gesetzgebenden Körperschaften.57 Somit muss es sich bei der abweichenden Regelung in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG um ein förm­ liches Gesetz handeln. Eine Rechtsverordnung reicht nicht aus.58 2. „Abweichende“ Regelung Inhaltlich setzt Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG eine „abweichende“ Regelung voraus. Zu klären ist, was unter einer Abweichung zu verstehen ist. Auf den ersten Blick erscheint diese Frage trivial, von etwas „abweichen“ heißt „etwas anders machen, zu ihm eine Alternative finden“59. Mancherorts wird auch Beck, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder, 2009, S. 54. 21, 312, 326; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 14. Auflage, 2016, Art. 83 Rn. 5; Beck (Fn. 52), S. 54. 54  Beck (Fn. 52), S. 54. 55  BVerfGE 24, 184, 195; Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 70 Rn. 16. 56  BVerfGE 55, 7, 21; Rozek, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 70 Rn. 24. 57  Uhle, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 73. EGL, 2014, Art. 70 Rn. 35. 58  Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, 2009, S. 260. 59  Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 9. 52  So

53  BVerfGE

92

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

diese Definition dahingehend präzisiert, dass eine Abweichung „bei jeder inhaltlich oder formell anderen Regelung vorliege“.60 Da sich eine Regelung nun dadurch auszeichnet, dass sie bestimmte Rechtsfolgen festlegt, müsse das Ergebnis der Abweichung „die Geltung einer von der Bundesregelung verschiedenen Rechtsfolge sein“61. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass das Abstellen auf den verwaltungsrechtlichen Begriff der „Regelung“ – mit seiner Rechtsfolgenausrichtung – zu kurz gegriffen ist. Die inhaltliche Reichweite des Abweichungsrechts weist weitere Facetten auf als den bloßen Abgleich der Rechtsfolgen von Normen. Das Wort „Regelung“ ist im Kontext des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG vielmehr im Sinne eines Rechtssatzes zu verstehen.62 Die Abweichungskompetenz umschließt demnach auch die Befugnis das zu suspendierende Recht etwa auf Tatbestandsseite „abzuändern, zu konkretisieren oder zu erweitern“.63 Naturschutz- und Wasserrecht, die gemäß Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 5 GG dem Abweichungsrecht unterliegen, bestehen zu einem großen Teil aus Verbots- und Gebotsvorschriften bzw. Legaldefinitionen. Verbots- und Gebotsvorschriften bestehen wiederum stets aus Tatbestand und Rechtsfolge, haben also die für Rechtsvorschriften typische „Wenn-dann“-Struktur.64 Damit stellt sich die Frage, ob auch bei Tatbestandsverschiedenheit aber Rechtsfolgengleichheit von einer Abweichung iSd Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG ausgegangen werden darf. Ist man sogar bereit, sich von einer Schnittmenge zwischen Bundes- und Landesrecht zu lösen, egal ob auf Tatbestandsoder auf Rechtsfolgenseite, so stellt sich die weitergehende Frage, ob die Abweichungsbefugnis auch „völlig andere Rechtssätze“ umfasst, die sich auf das Ausgangsgesetz in keiner Weise beziehen.65 Zu guter Letzt harrt die Frage einer Antwort, ob auch von Legaldefinitionen abgewichen werden darf. Die Antworten auf diese Fragen hängen insbesondere von der Wort­ interpretation des Begriffs „abweichen“ ab.66

60  BSG, Urt. v. 11.12.2008, B 9 VS 1 / 08 R, juris Rn. 37; Fischer-Hüftle (Fn. 45), NuR 2007, 78, 80; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 11. Auflage, 2011, Art. 84 Rn. 8, in der Folgeauflage wird von dieser Formulierung bereits Abstand genommen, indem dort nur von einer inhaltlich (materiell) anderen Regelung gesprochen wird. 61  Schulze Harling (Fn. 50), S. 128; Reinhardt, Gesetzgebungskompetenzen im Wasserrecht, AöR 135 (2010), S. 459, 484. 62  Siehe unter B. I. 1. 63  Gerstenberg (Fn. 58), S. 261. 64  Becker, Das Recht der Länder zur Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) und das neue WHG und BNatSchG, DVBl 2010, 754, 755. 65  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 755. 66  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 755.



B. Abweichungsgesetzgebung93

Das Wort „abweichen“ verwendet das Grundgesetz nicht nur an jetzt prominenter Stelle in Art. 72 Abs. 3 GG, sondern beispielsweise auch in Art. 143 GG67. Auch andere Rechtsvorschriften unterhalb der Verfassung gebrauchen den Begriff des „Abweichens“.68 Das altgermanische69 Stammverb „weichen“ hat zunächst einen räumlich zu verstehenden Vorstellungsinhalt, dem das Präfix „ab“ vorangestellt wird.70 Eng verwandt ist es mit den Worten „Wechsel“ (eigentlich „Weichen, Platzmachen“) und „Woche“ (eigentlich „Wechsel, Reihenfolge“).71 Als Synonyme für diesen örtlichen Vorstellungsinhalt kommen in Betracht: „sich abkehren“, „beiseitetreten“, „distanzieren“, „seiner Wege gehen“, „Abstand nehmen“72 oder sprichwörtlich gewendet „vom Pfad der Tugend abweichen“.73 Das „Abweichen“ bezieht sich nach diesem „lokalen Vorstellungsinhalt“ immer auf einen „Hauptpfad“, der verlassen wird. Dieser „Hauptpfad“ ist der „Maßstab“ für die Existenz und das Ausmaß einer Abweichung.74 Die Übertragung dieser philologischen Erkenntnisse auf Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG lässt den Schluss zu, dass das zu suspendierende Gesetz im Sinne eines Hauptpfades den Maßstab für die Abweichung darstellt.75 Dieses Bundes- oder Landesgesetz gibt demnach eine bestimmte Richtung vor, die durch sein „Finalprogramm“ zum Ausdruck gebracht wird. Zumindest in diese Richtung muss sich auch das Abweichungsgesetz bewegen, andernfalls handelt es sich nicht mehr um eine Abweichung vom Hauptpfad, sondern um einen völlig anderen Rechtssatz, mithin um ein „aliud“, dessen Wirksamkeit sich allgemein an den Kompetenznormen des Grundgesetzes bzw. an der jeweiligen Landesverfassung und ebenfalls an Art. 31 GG misst.76 Für diese Schlussfolgerungen spricht auch der Anwen67  Dieser Artikel ordnet die vorübergehende Geltung abweichenden Rechts in den neuen Bundesländern und Ostberlin an; Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 755. 68  So beispielsweise § 15 BImSchG, § 34 BauGB oder § 665 BGB. Nach § 665 BGB ist der Beauftragte berechtigt, von den Weisungen des Auftraggebers abzuweichen, wenn er den Umständen nach annehmen darf, dass der Auftraggeber bei Kenntnis der Sachlage die Abweichung billigen würde. Der Beauftragte schuldet also „denkenden Gehorsam, er muss sich nach dem mutmaßlichen Willen des Auftraggebers richten.“ (Medicus / Lorenz, Schuldrecht II, Besonderer Teil, 17. Aufl., 2014, Rn. 863); vgl. Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 755. 69  Duden, Das Herkunftswörterbuch, 4. Auflage, 2007, S. 919. 70  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. 71  Duden (Fn. 69), S. 919. 72  Duden, Das Synonymwörterbuch, 5. Auflage, 2010, S. 1071. 73  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. 74  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. 75  Für die Bestimmung des Hauptpfads und das Ausmaß einer Abweichung ist es natürlich hilfreich, wenn das abweichende Recht die Norm benennt, von der abgewichen wird; vgl. Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756.

94

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

dungsvorrang des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG („geht … vor“). Dieser setzt denklogisch eine mit Art. 31 GG vergleichbare Schnittmenge von Bundesrecht und abweichendem Landesrecht voraus,77 wobei die Nichtigkeitsfolge des Art. 31 GG vom Anwendungsvorrang des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG natürlich divergiert.78 Um auf die oben gestellten Fragen zurückzukehren, lässt sich nun eindeutig festhalten, dass es sich bei dem abweichenden Recht nicht um einen völlig neuen Rechtssatz handeln darf, der sich auf das Ausgangsgesetz nicht bezieht. Eine ausreichende Bezugnahme ist sowohl bei Tatbestandsverschiedenheit und Rechtsfolgengleichheit wie auch im umgekehrten Fall gegeben.79 Darüber hinaus kann aber auch bei Tatbestands- und Rechtsfolgenverschiedenheit eine Abweichung vorliegen, wenn beispielsweise der Tatbestand im Vergleich zur Vorgängernorm lediglich erweitert und zusätzlich eine andere Rechtsfolge gewählt wird. Maßgebend ist, ob eine „Abweichung“ vom „Hauptpfad“80 der Vorgängernorm vorliegt. Zu klären bleibt die Konstellation der Abweichung von Legaldefinitionen. Hierbei bieten die Klammerzusätze der abweichungsfesten Kerne in Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 2 und 5 GG eine gewisse Orientierung. Alle Legaldefinitionen, die mit diesen abweichungsfesten Merkmalen in Verbindung stehen, müssen denklogisch von einer Abweichung ausgeschlossen sein, andernfalls hätte die grundgesetzliche Sperrung dieser Bereiche für eine Abweichung keinen Sinn.81 Im Naturschutzrecht besteht die Besonderheit, dass „die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes“, die gemäß Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG zum abweichungsfesten Kern gehören, nach der Systematik des BNatSchG als finale Normen durch die jeweils im Bundesgesetz nachstehenden Regelungen konkretisiert werden.82 Daraus folgt, dass landesgesetzliche Abweichungen im Naturschutzrecht von vornherein relativ starken Einschränkungen unterliegen. Diese grundlegenden Erkenntnisse über die Wortbedeutung des Begriffs „Abweichung“ stellen im Anschluss den Leitfaden für die Einordnung der sogenannten Abweichungskonstellationen dar. Eine inhaltliche Beschränkung des gesetzlich weit gefassten Abweichungsrechts wird in dreifacher Hinsicht diskutiert. 76  Becker

(Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. dazu unten B. II. 4. b). 78  Siehe unter B. II. 4. a); Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. 79  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. 80  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 756. 81  Becker (Fn. 64), DVBl 2010, 754, 758. 82  Degenhart (Fn. 16), DÖV 2010, 422, 425. 77  Siehe



B. Abweichungsgesetzgebung95

a) Negativgesetzgebung Die erste Konstellation betrifft den Fall der sogenannten „Negativgesetzgebung“. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der abweichende Gesetzgeber lediglich die Nichtanwendbarkeit des zu suspendierenden Rechts anordnet. Die Nichtanwendbarkeit kann das gesamte Vorgängergesetz betreffen, aber auch einzelne „Normen“ oder „Normgruppen“.83 Beispielsweise bestimmt ein Land, dass es in seinem Herrschaftsgebiet abweichend von § X BNatSchG kein naturschutzrechtliches Vorkaufsrecht geben soll, wenn es dieses für nicht erforderlich hält.84 Angezweifelt wird bereits, ob in solchen Fällen überhaupt eine abweichende Regelung iSd Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG vorliegt, da „keine Entscheidung in der Sache“ getroffen werde.85 Charakteristisch für eine Regelung ist aber nicht lediglich die „Entscheidung in der Sache“, sondern auch „das Festlegen von Rechtsfolgen“.86 Auch bei der Nichtgeltung eines naturschutzrechtlichen Vorkaufsrechts – um bei dem obigen Beispiel zu bleiben – trifft das Land eine positive Rechtsfolge, nämlich die Geltung des Gegenteils, der „Regelungsqualität“ zuzuerkennen ist.87 Darüber hinaus ist die „Negativgesetzgebung“ auch vom Begriff des „Abweichens“ gedeckt.88 Synonyme für das „Abweichen“ sind „sich abkehren“, „distanzieren“ oder „seiner Wege gehen“.89 Die Anordnung, dass das ganze Bundesgesetz oder Teile dessen nicht anwendbar sind, drückt unmissverständlich aus, dass das jeweilige Land eigene Wege geht. Für die gegenteilige Auffassung,90 dass für die Abweichung eine „Positivregelung“ notwendig sei, wird die Gesetzesbegründung angeführt.91 Danach sollen die Länder durch die Abweichungsbefugnis „eigene Konzeptionen (…) verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Vo­ raussetzungen und Bedingungen (…) reagieren“.92 Eine Negativregelung sei vor diesem Hintergrund keine Verwirklichung eigener Konzeptionen.93 83  Gerstenberg

(Fn. 58), S. 261. (Fn. 45), NuR 2007, 78, 80. 85  Degenhart (Fn.  50), NVwZ 2006, 1209, 1213; Franzius (Fn. 27), NVwZ 2008, 492, 494; Hendrischke, „Allgemeine Grundsätze“ als abweichungsfester Kern der Naturschutzgesetzgebung des Bundes, NuR 2007, 454, 455; Köck / Wolf (Fn. 50), NVwZ 2008, 353, 356. 86  Gerstenberg (Fn. 58), S. 261. 87  Gerstenberg (Fn. 58), S. 261. 88  Gerstenberg (Fn. 58), S. 261. 89  Siehe oben B. I. 2. 90  Degenhart (Fn. 16), DÖV 2010, 422, 425. 91  Fischer-Hüftle (Fn. 45), NuR 2007, 78, 80. 92  BT-Drs. 16 / 813 S. 11. 93  Degenhart (Fn. 16), DÖV 2010, 422, 425. 84  Fischer-Hüftle

96

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

Dennoch kann in der Anordnung der Nichtgeltung von beispielsweise Bundesrecht auch die Ausübung eines „intendierten Regelungsverzichts“ gesehen werden, der der Verwirklichung eigener gesetzgeberischer Konzeptionen dient.94 Im Übrigen ist eine Positiv- oder Negativgesetzgebung vielfach lediglich eine Frage der „Formulierung“, z. B. die Nichtgeltung einer Regelung anstelle des „Hinzufügens einer Ausnahme“.95 Eine dahingehende Differenzierung erscheint daher eher „formalistisch“96 als sachgerecht. Abschließend bleibt festzuhalten, dass eine bewusste Nichtregelung auch zur Eindämmung maßloser Kodifizierung beiträgt. Denn in vielen Fällen hat sie gleichwohl „Regelungsqualität“, etwa in Form der „Aufhebung eines Verbots“.97 Angesichts der allseits beklagten Normflut ist der abweichende Gesetzgeber also gut beraten, wenn er sich an Montesquieu hält: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.“ b) Inhaltsgleiche Landesgesetzgebung Die zweite Konstellation betrifft die Frage, ob ein „Abweichen“ vorliegt, wenn der abweichende Gesetzgeber ein mit dem suspendierten Gesetz inhaltsgleiches Gesetz verfasst. Dies wäre dann der Fall, wenn allein schon in der Ausübung der Gesetzgebungskompetenz durch einen anderen Gesetzgeber ein „Abweichen“ zu sehen ist.98 Das Handeln eines anderen Gesetzgebers ist der konkurrierenden Gesetzgebung aber schon wesensimmanent. Das weitere Zugeständnis bzw. Erfordernis einer „abweichenden Regelung“ hätte keine darüberhinausgehende Bedeutung.99 Weiterhin spricht der Sinn und Zweck der Abweichungsbefugnis im Sinne der Verwirklichung eigener Regelungskonzepte100 gegen die Sicht, formulierungsidentische Abwei94  Pieroth (Fn. 60), Art. 72 Rn. 30; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein (Begr.), GG-Kommentar, 13. Auflage, 2014, Art. 72 Rn. 104; Gerstenberg (Fn. 58), S. 261. 95  Chandna, Das Abweichungsrecht der Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG im bundesstaatlichen Kompetenzgefüge, 2011, S. 59. 96  Seiler, in: Epping / Hillgruber (Hrsg.), GG-Kommentar, 2016, Art. 72 Rn. 24.2.; Chandna (Fn. 95), S. 59. 97  Chandna (Fn. 95), S. 59. 98  So Pieroth (Fn. 53), Art. 72 Rn. 30; Sannwald (Fn. 94), Art. 72 Rn. 104; Ipsen, Staatsrecht I, 28. Auflage, 2016, Rn. 582; ders., Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusnovelle, NJW 2006, 2801, 2804; Glaser, Das Jagdrecht im Spannungsfeld bundesstaatlicher Gesetzgebung, NuR 2007, 439, 441. 99  Gerstenberg (Fn. 58), S. 262. 100  Siehe oben B. I. 2. a).



B. Abweichungsgesetzgebung97

chungsgesetze würden für ein „Abweichen“ ausreichen.101 Folglich muss für eine „abweichende Regelung“ eine materiell vom Vorgängerrecht zu unterscheidende Regelung vorliegen.102 Wiederholt beispielsweise ein Landesgesetz auch Bundesrecht neben abweichendem Landesrecht, hat der wortgleich übernommene Teil keinen Anwendungsvorrang. Vielmehr gilt für diesen Teil nach wie vor Bundesrecht.103 c) Abweichungsrecht und absichtsvoller Regelungsverzicht des Bundes Zuguterletzt bedarf die Konstellation der Klärung, in der der Bund von seiner Zuständigkeit in der Weise Gebrauch macht, dass er Bereiche von Abweichungsmaterien bewusst ungeregelt lässt. Im Falle dieses „absichtsvollen Schweigens des Bundesgesetzes“104 wird eine Einschränkung der Abweichungsbefugnis verlangt, da es andernfalls zu „eine(r) Umgestaltung (Erweiterung) des Bundesgesetzes“105 käme. Dies wird dadurch erreicht, dass für das Gebrauchmachen des Bundes von seiner Gesetzgebungszuständigkeit eine Positivregelung verlangt wird.106 Wie bereits ausgeführt, besteht aber auch in der umgekehrten Konstellation der Negativgesetzgebung „Regelungs­ qualität“.107 Dies muss dann erst recht für die erstmalige Kodifizierung eines bisher nicht geregelten Zustands gelten.108 Den Ländern den Zugriff auf diese Materien zu verwehren, indem man an das Gebrauchmachen des Bundes eine positive Regelung knüpft, würde den Bund in die Lage versetzen, durch bloße Untätigkeit die Länder von der Gesetzgebung auszuschließen.109 Dies stünde zum Sinn und Zweck der Abweichungskompetenz in eklatantem Widerspruch, wonach die Länder die Möglichkeit erhalten sollen, eigene politische Konzepte zu verwirklichen,110 die auf Grund territorialer Besonderheiten vielleicht auch nur in einigen Ländern einer Regelung bedürfen.111 Folg-

101  Gerstenberg

(Fn. 58), S. 262. Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, DRiZ 2007, 51, 54; Franzius (Fn. 27), NVwZ 2008, 492, 494; Uhle (Fn. 44), Art. 72 Rn. 51. 103  Meyer (Fn. 32), S. 171; Schulze Harling (Fn. 50), S. 131. 104  Fischer-Hüftle (Fn. 45), NuR 2007, 78, 80. 105  Fischer-Hüftle (Fn. 45), NuR 2007, 78, 81. 106  Fischer-Hüftle (Fn. 45), NuR 2007, 78, 81. 107  Siehe oben B. I. 2. a). 108  Schulze Harling (Fn. 50), S. 132. 109  Kirchhof, 3. Sitzung der Kommission am 12.12.2003, Stenografischer Bericht, S. 60, in CD-ROM „Zur Sache 1 / 2005“; Schulze Harling (Fn. 50), S. 133. 110  BT-Drs. 16 / 813 S. 11. 111  Schulze Harling (Fn. 50), S. 133. 102  Mayen,

98

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

lich macht der Bund auch durch eine absichtsvolle Nichtregelung von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch.

II. Wirkungen der neuen Gesetzgebungskategorie Insbesondere in Hinblick auf die Wirkungen der neuen Gesetzgebungs­ kategorie ist eine vertiefte Betrachtung notwendig, wobei die dogmatischen Konsequenzen der neuen Gesetzgebungsart den Kern der Überlegungen darstellen.112 1. Art. 72 Abs. 3 GG als lex specialis zu Art. 72 Abs. 1 GG Die legislative Kompetenzordnung des Grundgesetzes ist geprägt von einer rechtstheoretischen Dialektik zwischen Grundsatz und Ausnahme,113 die bei einigen Rechtsfeldern ein stark ausgeprägtes Schachtelprinzip zur Folge hat.114 Die konkurrierende Gesetzgebung in Art. 72 GG ist ein besonders gutes Beispiel für dieses Schachtelprinzip. Die in Art. 72 Abs. 3 GG verankerten Gesetzgebungskompetenzen sind Teil der konkurrierenden Gesetzgebung und daher ebenfalls im Kompetenzkatalog des Art. 74 Abs. 1 GG in Nr. 28 bis 32 erfasst.115 Mangels Aufzählung in Art. 72 Abs. 2 GG entfällt für sie die Erforderlichkeitsklausel. Weiterhin gilt grundsätzlich auch für sie die Regel des Art. 72 Abs. 1 GG, wonach die Länder insoweit nicht regelungsbefugt sind, wie der Bund sich dieser Materien bereits durch seine Gesetzgebung angenommen hat.116 Gegen den Ausschluss ihrer Regelungsbefugnis können die Länder aber die Replik des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG vorbringen. Innerhalb der dort geregelten Gebiete können sie trotz ergangener Bundesregelung abweichende Regelungen treffen.117 Die Reichweite dieser Ausnahme zu Art. 72 Abs. 1 GG hängt vom Umfang des dort geregelten Abweichungsrechts ab.118 Sind doch in den Nummern 1, 2 und 5 des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG einzelne Bereiche vom Abweichungsrecht ausgenommen.119 Soweit das Abweichungsrecht aber reicht und ausgeübt wird, tritt der Befehl des Art. 72 Abs. 1 GG zurück.120 auch Schmidt-Jortzig (Fn. 2), § 20 Rn. 21. Justitiabler Föderalismus, 2000, S. 18 ff. 114  Beck (Fn. 52), S. 48. 115  Meyer (Fn. 32), S. 167. 116  Beck (Fn. 52), S. 48. 117  Ebd. 118  Meyer (Fn. 32), S. 167. 119  Beck (Fn. 52), S. 48. 120  Meyer (Fn. 32), S. 167. 112  So

113  Kenntner,



B. Abweichungsgesetzgebung99

2. Ermessensentscheidung der Länder und des Bundes Die Abweichungsgesetzgebung bietet den Ländern eine viel weiter reichende Entscheidungsfreiheit über den Zugriff auf die jeweilige Regelungsmaterie als unter Geltung der alten Rahmengesetzgebung.121 Sie versetzt die Länder in die Lage, durch den Erlass eigener Regelungen vom Bundesgesetz abzuweichen und zwar sowohl hinsichtlich des „Ob“ als auch hinsichtlich der Reichweite und inhaltlichen Gestaltung der Abweichung.122 Damit soll den Ländern – wie bereits mehrfach ausgeführt123 – die Möglichkeit geschaffen werden, abweichend von der Konzeption des Bundes eigene Vorstellungen zu verwirklichen und auf ihre unterschiedlichen strukturellen Voraussetzungen und Bedingungen zu reagieren.124 Entschließt sich nur ein Teil der Länder vom jeweiligen Bundesgesetz abzuweichen, wobei die übrigen Länder das Bundesrecht weiterhin unverändert zur Anwendung kommen lassen, entsteht „ ‚landesexternes‘125 partielles Bundesrecht“. Weicht ein Land wiederum nur punktuell von bundesgesetzlichen Regelungen ab, hat dies „ ‚landesinternes‘126 partielles Bundesrecht“ zur Folge.127 Indes haben nicht nur die Länder das Recht zur Abweichung. Auch der Bund hat ein – da ist man sich einig – auf den gleichen Gegenstand bezogenes Gesetzgebungsrecht. Streitig ist allerdings, auf welche Kompetenzgrundlage „abweichendes“ also subsequentes Bundesrecht zu stützen ist. Vereinzelt wird angenommen, die Gesetzgebungskompetenz für die Überregelung abweichenden Landesrechts ergäbe sich auch für den Bund aus Art. 72 Abs. 3 GG.128 Fernliegend ist dies nicht, wird doch mit Blick auf die Abweichungsgesetzgebung gerne von einem erstmaligen „echten Konkurrenzverhältnis“129 oben unter B.; Oeter (Fn. 11), Art. 72 Rn. 122. (Fn. 94), Art. 72 Rn. 103; Uhle, Verfassungsnorm im Aufwind: Art. 125a GG, DÖV 2006, 370, 374; Haug (Fn. 43), DÖV 2008, 851, 854. 123  Siehe oben B. I. 2. a); B. I. 2. c). 124  BT-Drs. 16 / 813, S. 11. 125  Uhle, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, 73. EGL, 2014, Art. 125a Abs. 2 GG Rn. 48. 126  Uhle (Fn. 125), Art. 125a Abs. 2 GG Rn. 48. 127  Gerstenberg (Fn. 58), S. 267. 128  In diese Richtung geht auch die Begründung zum Entwurf des Föderalismusreformgesetzes (BT-Drs. 16 / 813, S. 11): „Mit Satz  3 wird das Verhältnis von Bundes- und Landesrecht im Bereich des neuen Absatz 3 klargestellt.“; genauso ­ ­Gerstenberg (Fn. 58), S. 268, 269 und Hoppe, Kompetenz-Debakel für die „Raumordnung“ durch die Föderalismusreform infolge der uneingeschränkten Abweichungszuständigkeit der Länder?, DVBl 2007, 144, 148, der für die Befugnis des Bundes zur Abweichung auf Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG abstellt. Ebenfalls auf Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG abstellend Schulze-Fielitz (Fn. 38), NVwZ 2007, 249, 254. 129  Kunig (Fn. 13), Art. 72 Rn. 1; siehe oben A. 121  Siehe

122  Sannwald

100

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

zwischen den bundesstaatlichen Akteuren gesprochen. Andere meinen hingegen, die Kompetenzgrundlage für abweichendes Bundesrecht ergäbe sich ausschließlich aus der originären konkurrierenden Bundeskompetenz des Art. 72 Abs. 1 GG.130 Für diese Ansicht wird insbesondere der Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 GG ins Feld geführt, wonach nur den Ländern ein Abweichungsrecht gegenüber bestehendem Bundesrecht zustehe.131 In der Tat spricht Art. 72 Abs. 3 GG nur von einem Abweichungsrecht der Länder und nicht von einem des Bundes. Diese Art der Negativ-Formulierung einer Gesetzgebungsbefugnis ist aber auch Art. 72 Abs. 1 GG nicht fremd, dort ist ebenfalls positiv nur von der Gesetzgebungsbefugnis der Länder die Rede. Dennoch wird aus Art. 72 Abs. 1 GG eine vorrangige konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes nicht in Zweifel gezogen. Diese mittelbare Art der Kompetenzzuweisung an den Bund entspricht also durchaus dem Wesen der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz. Auch wenn die Wortlautauslegung zu keinem eindeutigen Ergebnis führt, spricht für ein Abweichungsrecht des Bundes aus Art. 72 Abs. 1 GG die Entstehungsgeschichte der Abweichungsgesetzgebung. Die alte Rahmengesetzgebung wurde abgeschafft und ihre Materien in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes überführt. Der Bund sollte die Möglichkeit von Vollregelungen auf diesem Gebiet erhalten.132 Systematisch betrachtet führt die Neuerung des Art. 72 Abs. 3 GG dazu, dass die Länder von diesen Vollregelungen des Bundes durch eigene Vollregelungen abweichen können.133 Die zuvor herrschende Ausschließlichkeit der Kompetenz wurde durch das Zusammenspiel von Art. 72 Abs. 1 und Abs. 3 GG aufgegeben.134 Nachteil einer abweichenden Bundesgesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG ist allerdings, dass dann eigentlich Art. 31 GG zur Anwendung käme.135 Schließlich steht Art. 72 130  Meyer (Fn. 32), S. 166; Pieroth (Fn. 53), Art. 72 Rn. 30. Eine Zitierpflicht für überregelndes Bundesrecht hinsichtlich der Landesgesetze, von denen abgewichen wird, könnte dann womöglich entfallen, schließlich existiert eine solche für die originäre konkurrierende Bundesgesetzgebungskompetenz anerkanntermaßen nicht. Die Zitierpflicht wäre nur denkbar, wenn man die Abweichung des Bundes als Sonderfall seiner originären konkurrierenden Bundesgesetzgebung begreift, die einer gesonderten Handhabe bedarf. Dazu siehe unten Kapitel 4. C. I. 2. 131  Meyer (Fn. 32), S. 166. 132  Siehe oben B. 133  Ipsen (Fn. 98), Rn. 581. 134  Ipsen (Fn. 98), Rn. 581. 135  Meyer und Pestalozza, Stellungnahmen zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am15. / 16.05.2006, S. 41 und 46 (http: /  / starweb.hessen.de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_ Teil_pdf. (07.02.13)); Meyer (Fn. 32), S. 166.



B. Abweichungsgesetzgebung101

Abs. 3 S. 3 GG in einem anderen Absatz und wäre in dieser Konstellation – wie für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes aus Art. 72 Abs. 1 GG generell – überflüssig.136 Weiterhin spricht Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG in der zeitlichen Abfolge nur vom „Verhältnis von Bundes- und Landesrecht“. Für die umgekehrte Konstellation abweichenden Landes- und überregelnden Bundesrechts wäre er streng genommen nicht einschlägig. Allerdings ist Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG so zu verstehen, dass er einen Anwendungsvorrang des ­späteren Rechts statuiert, ohne dabei einen Unterschied zwischen Bundesund Landesrecht vorzunehmen.137 Wie sollte sonst das erstmalige „echte Konkurrenzverhältnis“138 zwischen Bund und Ländern zustande kommen? Auch das Wort „jeweils“ im Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG spricht für diese Auslegung. Art. 31 GG wird somit auch für die Konstellation abweichenden Landes- und überregelnden Bundesrechts durch Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG verdrängt.139 Ein aus teleologischer Sicht nicht unbeachtlicher Nachteil einer Kompetenz des Bundes aus Art. 72 Abs. 1 GG könnte darin zu sehen sein, dass womöglich dasselbe Bundesgesetz zu unterschiedlichen Zeiten in den Bundesländern in Kraft tritt – je nachdem, ob in dem einzelnen Land abweichendes Recht existiert oder nicht. Dieser Umstand wäre für eine überschaubare Rechtslage im gesamten Bundesgebiet äußerst abträglich. Aus diesem Grund ist Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG so zu lesen, dass sämtliche Bundesgesetze auf dem Gebiet des Abweichungsrechts frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft treten. Dies gilt sowohl, wenn der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebung erstmals Gebrauch gemacht, als auch, wenn er abweichendes Landesrecht überregelt.140 Denkbar ist folglich, dass es zu abweichenden Landesgesetzen und diese wieder überregelnden späteren Bundesgesetzen kommt. Beide Abweichungen können auch nur Ausschnitte des vorangegangenen Gesetzes betreffen.141 Diese Ausübung des Rückholrechts kann sich, „wenn die Akteure hartnäckig bleiben (…) ad infinitum fortsetzen“142, weshalb die Abweichungs­ gesetzgebung auch als „Ping-Pong-Gesetzgebung“ bezeichnet wird.143 die konsequente Schlussfolgerung von Meyer (Fn. 32), S. 115 und 166. (Fn. 58), S. 269 Fn. 505. 138  Siehe oben unter A. 139  A. A. Kothe, Ping-Pong oder „Wasserspiele“ zwischen Bund und Land, VBlBW 2012, 58, der für das korrigierende Bundesgesetz Art. 31 GG anwenden will. 140  Schulze Harling (Fn. 50), S. 144. 141  Papier, Aktuelle Fragen der bundesstaatlichen Ordnung, NJW 2007, 2145, 2147. 142  Stock (Fn. 44), ZG 2006, 226, 235. 143  Vorholz, Pingpong mit Paragrafen – Die geplante Föderalismusreform sorgt für Verwirrung in der Umweltpolitik, in: Die Zeit Nr. 6 / 2006 (http: /  / www.zeit. 136  So

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Auch nach Ausübung der Abweichungskompetenz auf Seiten der Länder ist der Bund nicht darauf beschränkt, lediglich „abweichendes Bundesrecht“ zu erlassen. Denn dafür bietet die Systematik des Grundgesetzes keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist der Bund auch nach Ausübung der Abweichungskompetenz durch die Länder befugt, seine originäre konkurrierende Gesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG umfänglich auszuschöpfen, indem er etwa das Bundesgesetz vollständig neu erlässt oder Änderungen am bestehenden Bundesrecht vornimmt.144 3. Abweichungsfeste Kerne Der Bund kann unter Geltung der Abweichungsgesetzgebung Vollregelungen für die betroffenen Materien erlassen. Diese Befugnis muss er aber nicht ausschöpfen. Falls er die Vollregelungskompetenz nicht ausschöpft, haben die Länder nach Art. 72 Abs. 1 GG die volle Gesetzgebungsbefugnis über die Materien. Dies gilt dann auch für die abweichungsfesten Kerne. Falls der Bund die Materien nur partiell regelt, greift im Übrigen auch die Gesetzgebungskompetenz der Länder nach Art. 72 Abs. 1 GG.145 Hinsichtlich der abweichungsfesten Kerne gibt es also eine fakultative Regelungskompetenz sowohl des Bundes als auch der Länder nach Art. 72 Abs. 1 GG. Ist der Bund demnach auch bei abweichungsfesten Materien nicht zu einer Vollregelung verpflichtet,146 und kommen somit beide föderativen Partner für die Regelung der abweichungsfesten Materien in Betracht, erscheint es auf den ersten Blick paradox, dem Bund ein Zitiergebot für abweichungsfeste Materien im Rahmen des Art. 72 Abs. 1 GG aufzuerlegen.147 Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Ausübung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 72 Abs. 1 GG in Abgrenzung zu Art. 72 Abs. 3 GG Sperrwirkung gegenüber den Ländern entfaltet, so dass es sinnvoll sein könnte, im Bundesgesetz durch eine Zitierung deutlich zu machen, dass überhaupt abweichungsfeste Materien betroffen sind und in welchem Umfang sie vom Bund geregelt worden sind.148 de / 2006 / 06 / F_9aderalismus / seite-1 (12.02.13)); Uhle (Fn. 44), Art. 72 Rn. 53; Stock (Fn. 44), ZG 2006, 226, 235; Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, JZ 2006, 930, 932; Hinsichtlich der daraus resultierenden Gefahr einer Gemengelage zwischen Bundes- und Landesrecht siehe unten Kapitel 4. B. 144  Gerstenberg (Fn. 58), S. 269. 145  Meyer (Fn. 32), S. 172. 146  Ebd. 147  So aber Meyer (Fn. 32), S. 172. 148  Im Übrigen befasst sich die vorliegende Arbeit mit einem ungeschriebenen Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung aus Art. 72 Abs. 3 GG, so dass eine Zitierpflicht im Rahmen des Art. 72 Abs. 1 GG anderweitiger Klärung bedarf.



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4. Die sog. „lex posterior-Regel“ des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG Den größten Reiz machen die „dogmatischen Konsequenzen“ des neuen Gesetzgebungstypus der Abweichungsgesetzgebung aus.149 Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang zur „fundamentalen bundesstaatlichen Kollisionsnorm“150 des Art. 31 GG, wobei diese Norm schon immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zu anderen bundesstaatlichen Vorschriften etwa zu Art. 1 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG aber insbesondere zu den Art. 70 ff. GG stand.151 Seit Einführung der Abweichungsgesetzgebung 2006 hat sich dieses Spannungsverhältnis gleichwohl weiter verschärft.152 a) Kollisionsvermeidungs- oder Kollisionsentscheidungsnorm Um die Nähe bzw. auch Ferne des „neuen“ Gesetzgebungsinstruments zu Art. 31 GG zu bestimmen, stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG um die Regelung einer „Kollisionsvermeidung“153 oder einer „Kollisionsentscheidung“ wie bei Art. 31 GG154 handelt. Für die Beantwortung dieser Frage bedarf es zunächst eines grundlegenderen Blickes auf den Umgang der Rechtsordnung mit Normkollisionen. Der Einheitsstaat und die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes unterscheiden sich insofern nicht voneinander, als sie eine „geschlossene Einheit“155 bilden, in dem Sinne, dass sie für jede aus der Lebenswirklichkeit stammende Fragestellung eine klare und eindeutige Antwort bereithalten müssen.156 Dieses Prinzip der Einheit der Rechtsordnung gilt mithin 149  Klein / Schneider

(Fn. 50), DVBl 2006, 1549, 1552. in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, 6. Auflage, 2010, Art. 31 Rn. 19 f.; Das BVerfG spricht insoweit von einer „Grundsatznorm“ (BVerfGE 36, 342, 362, 365) und einer „für das Bundesstaatsprinzip grundlegenden Vorschrift“ (BVerfGE 36, 342, 365; 96, 345, 364). Andere sprechen von einer „fundamentalen Vorschrift im bundesstaatlichen Gefüge“ (Gubelt, in: v.  Münch (Begr.) / Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 6. Auflage, 2012, Art. 31 Rn. 26), die „im bestehenden bundesstaatlichen Rechtssystem unentbehrlich“ (Maunz, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Erstbearbeitung, 1958, Art. 31 Rn. 22) ist. 151  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 2. 152  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 2; Haug (Fn. 43), DÖV 2008, 851, 856. 153  So Klein / Schneider (Fn. 50), DVBl 2006, 1549, 1552; Chandna (Fn. 95), S.  81 f.; Schulze Harling (Fn. 50), S. 187 ff. 154  So März, Bundesrecht bricht Landesrecht, 1989, S. 108; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 58; Oeter (Fn. 11), Art. 72 Rn. 127; Beck (Fn. 52), S. 72 f.; Gerstenberg (Fn. 58), S. 268; Meyer (Fn. 32), S. 166. 155  Rüthers, Rechtstheorie, 2. Auflage, 2005, Rn. 774, der die Einheit der Rechtsordnung jedoch nicht als einen vorgegebenen „objektiven“ Orientierungspunkt der Rechtsanwendung sieht, sondern vielmehr von einem „Suchbild“ ausgeht. 150  März,

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Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

sowohl für den Zentralstaat wie auch für den föderalen Staatsaufbau.157 Zum Bundesstaatsprinzip hat der Grundsatz gleichwohl eine besondere Beziehung, stehen sich doch hier anders als im Einheitsstaat zwei föderal selbstständige Regelungsebenen mit Rechtsetzungsautorität gegenüber.158 Die Gefahr einer „Normenkollision“, d. h. eines „inhaltlichen Normwider­ spruchs“,159 insbesondere zwischen Rechtsnormen, die unterschiedlichen Rechtssetzungsautoritäten entstammen, ist hier vielfach höher als beim Einheitsstaat.160 Der Bundesstaat hat zwei Möglichkeiten, auf diese Situa­ tion zu reagieren.161 Er kann bereits im Vorfeld einer Rechtsetzungsebene Gesetzgebungskompetenzen zuweisen, so dass sich widersprechende Normbefehle überhaupt nicht gegenüberstehen können.162 Zu diesen sogenannten „Kollisionsvermeidungsnormen“163 zählen vor allem die im VII. Abschnitt angesiedelten Kompetenztypen mit ihren Kompetenzkatalogen.164 Sie dienen der „Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit der Kompetenzordnung“ also insbesondere dem Verfassungsgrundsatz, dass die Zuständigkeit für die Regelungsfelder derart auf die Rechtsetzungsebenen zu verteilen ist, dass kein „herrenloser“ Rest übrig bleibt.165 Ein weiterer leitender Gesichtspunkt der Kompetenzverteilung ist ein Nebeneinander der Rechtsetzungsbefugnisse zu vermeiden, also nach Möglichkeit ein ausschließliches Alternativverhältnis der Rechtsetzungszuständigkeiten herbeizuführen.166 Die zweite Möglichkeit, Normenkonflikten im bundesstaatlichen Gefüge zu begegnen, ist den Widerspruch zu Gunsten der einen und zu Lasten der anderen Ebene im Nachhinein aufzulösen bzw. zu entscheiden.167 Nur eine der beiden sich gegenüberstehenden Normen kann danach Geltung beanspruchen, die andere trifft das Schicksal der Nichtigkeit. Die wichtigste „Kollisionsentscheidungs- bzw. -bereinigungsnorm“168 im deutschen Verfassungsrecht ist Art. 31 GG. Hiernach bricht verfassungsgemäß zustande gekommenes Bundesrecht entgegenstehendes rechtmäßig zustande gekomme156  März

(Fn. 154), S. 101; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 2; Beck (Fn. 52), S. 70. (Fn. 154), S. 101; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 11. 158  März (Fn. 154), S. 101; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 11. 159  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 40 ff.; aus rechtstheoretischer Sicht Walter, Über den Widerspruch von Rechtsvorschriften, 1955, S. 19 ff.; 49 ff. 160  Beck (Fn. 52), S. 70. 161  Beck (Fn. 52), S. 71. 162  Ebd. 163  Kirchhof, Private Rechtsetzung, 1987, S. 478 ff. 164  März (Fn. 154), S. 109; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 21. 165  März (Fn. 154), S. 109; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 22. 166  März (Fn. 154), S. 109; ders. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 22. 167  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 19. 168  Beck (Fn. 52), S. 72. 157  März



B. Abweichungsgesetzgebung105

nes Landesrecht.169 Art. 31 GG entzieht also weder den Ländern Zuständigkeiten noch weist er dem Bund welche zu, die Kompetenzverteilung ist seinem Regelungsgehalt vielmehr vorgelagert.170 Für Kollisionsvermeidungs- und Kollisionsentscheidungsnormen gilt demnach ein eindeutiges Rangverhältnis.171 Sind Rechtsetzungszuständigkeiten auf die beiden bundesstaatlichen Ebenen alternativ verteilt, sind Normenkonflikte im Vorfeld ausgeschlossen. Kompetenzgemäßes Bundes- und Landesrecht können sich niemals gegenüberstehen, so dass auch die Voraussetzungen des Art. 31 GG nicht gegeben sind.172 „Kollisionsentscheidungsnormen“ weisen hingegen keine Gesetzgebungsbefugnisse zu, sondern legen eine Rechtsfolge für den Fall fest, dass sich zwei gültige, einander widersprechende Normen zeitgleich gegenüberstehen.173 Wäre Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG eine Kollisionsvermeidungsnorm, so wäre das Eingreifen dieser Vorschrift eine Frage der Ausübung der Abweichungsgesetzgebungskompetenz.174 Handelt es sich hingegen um eine Kompetenzentscheidungsnorm, so greift die Vorschrift erst in einem zweiten Schritt für die Auflösung eines Kollisionsfalles zwischen ordnungsgemäß zustande gekommenem Bundes- und Landesrecht.175 Einig ist man sich zunächst dahingehend, dass Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG einen Anwendungsvorrang statuiert.176 Das spätere Gesetz geht dem vorangegangenen der anderen Regelungsebene in seiner Anwendung vor, d. h. das frühere Recht wird nicht außer Kraft gesetzt, also im Sinne eines Geltungsvorrangs gebrochen, sondern lediglich in seiner Anwendung gehemmt.177 169  v.  Münch / Mager, Staatsorganisationsrecht unter Berücksichtigung europarechtlicher Bezüge, 7. Auflage, 2009, Rn. 696; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 3. Auflage, 2015, Art. 31 Rn. 19; Korioth, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 31 Rn. 11. 170  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 21. 171  Das Rangverhältnis meint hierbei nicht das der „Spezialität“, da sich Kolli­ sionsvermeidung und Kollisionsentscheidung auf verschiedene Arten und Stufen von Normenwidersprüchen und deren Bereinigung beziehen; in diese Richtung auch Dreier (Fn. 169), Art. 31 Rn. 19; März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 23 Fn. 54. 172  Aus diesem Grund hat Art. 31 GG einen nur sehr schmalen Anwendungsbereich, vgl. Korioth (Fn. 169), Art. 31 Rn. 2. 173  Beck (Fn. 52), S. 72. 174  Beck (Fn. 52), S. 72. 175  Beck (Fn. 52), S. 72. 176  Pietzcker, Zuständigkeitsordnung und Kollisionsrecht im Bundesstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 134 Rn. 43; SchmidtJortzig (Fn. 4), § 20 Rn. 22. 177  A. A. Meyer (Fn. 32), S. 166, der für späteres Bundesrecht lediglich Art. 31 GG anwenden will, da Art. 72 Abs. 3 GG das Recht zur Abweichung nur gegenüber bestehendem Bundesrecht erlaube. Zur dieser Frage siehe oben B. II. 2.

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Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

Wird das spätere Gesetz irgendwann aufgehoben, lebt das verdrängte Recht wieder auf. Die verdrängte Norm wird demnach lediglich suspendiert bzw. überlagert, aber nicht derogiert.178 Denklogisch müssen die beiden Normen dann aber verfassungsgemäß zustande gekommen sein und sich zu einem bestimmten Zeitpunkt gültig gegenübergestanden haben.179 Die Befürworter der Einordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als Kollisionsvermeidungsnorm halten schon eine Kollision von Bundes- und Landesrecht im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung für ausgeschlossen, da sich gültiges Bundes- und Landesrecht niemals gegenüber stünden. Anwendbar sei immer nur Bundes- oder Landesrecht.180 Diese Schlussfolgerung liegt nahe, wenn man die Regelung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG auf die Ebene der Gesetzgebung vorverlagert, so dass sie einzuhaltende Vorgaben bereits für die Ausübung der Gesetzgebungskompetenz aufstellt. Das Ziel der ausschließlichen Alternativität von Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenz wird also erreicht, indem die Rechtsfolge des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG mit seinem Anwendungsvorrang in einer Art ex-tunc-Wirkung181 auf den Entstehungszeitpunkt des späteren Landes- bzw. Bundesrechts zurückbezogen wird. Diese ex-tunc ähnliche Wirkung tritt aber nicht einmal als Rechtsfolge des auf Grund des angeordneten Geltungsvorrangs viel durchgreifenderen Art. 31 GG ein, denn das gebrochene Landesrecht wird nicht etwa von Anfang an nichtig, sondern lediglich ex nunc, also für die Zukunft, aufgehoben.182 Sinn und Zweck der Abweichungsgesetzgebung ist weiterhin den Bund und die Länder in ein „echtes Konkurrenzverhältnis“ um die Gesetzgebung zu setzen.183 Sie sollen gleichermaßen auf die jeweilige Rechtsmaterie zugreifen können. Für den bezweckten „regulatorischen Wettbewerb“184 um die beste Regelung der betroffenen Rechtsmaterie wäre es kontraproduktiv, wenn einer Rechtsetzungsebene im Vorhinein zum Nachteil der anderen Ebene die alleinige Gültigkeit ihrer Norm zugesprochen werden würde.

178  Beck

(Fn. 52), S. 72. (Fn. 52), S. 72. 180  Klein / Schneider (Fn. 50), DVBl 2006, 1549, 1552; Chandna (Fn. 95), S. 81 f. 181  Es handelt sich lediglich um eine Art ex-tunc-Wirkung, denn der Anwendungsvorrang des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG soll nicht etwa nur für die Vergangenheit eintreten, vielmehr sollen seine Rechtswirkungen bereits im Entstehungszeitpunkt der Gesetze bestehen. Zwar wird hierbei dasselbe Ziel der Hemmnis des Gesetzes verfolgt, gleichwohl sind der Ansatzpunkt und die Perspektive eine andere. 182  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 43. 183  Beck (Fn. 52), S. 73. 184  Siehe oben Kapitel 1. A. II. 6. 179  Beck



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b) Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als lex specialis zu Art. 31 GG Art. 31 GG hatte bis zum Inkrafttreten der Abweichungsgesetzgebungskompetenz im Jahr 2006 im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung des Art. 72 GG keinen Anwendungsbereich, denn die Zuständigkeitsstruktur war auf einen ausschließlich alternativ-konkurrierenden Zugriff ausgerichtet.185 Ausnahmen kumulativ-konkurrierender Zuständigkeit fanden sich bis dato nur im VIII. Abschnitt des Grundgesetzes bei der Regelung des Verwaltungsverfahrens.186 Die in Art. 72 Abs. 3 GG getroffene Regelung eröffnet also erstmalig in der Geschichte der konkurrierenden Gesetzgebung ein Nebeneinander von sich widersprechendem Bundes- und Landesrecht. Ohne die besondere Konfliktlösung in S. 3 der Norm käme der prinzipielle Geltungsvorrang des Bundesrechts aus Art. 31 GG nun eigentlich auch auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung zur Anwendung.187 Die Begründung zum Entwurf des Föderalismusreformgesetzes ordnet das Verhältnis zwischen Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG und Art. 31 GG folgendermaßen ein: „Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG setzt die Grundregel des Art. 31 GG partiell außer Kraft und ist daher als Ausnahme zu diesem Grundsatz zu sehen“.188 Diese Formulierung erscheint etwas unpräzise, treffender ist das Verhältnis beider Normen zueinander mit der Charakterisierung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als „bereichsspezifische Spezialregelung“ beschrieben.189 Um eine Ausnahme zu Art. 31 GG zu sein, müsste es sich bei Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG um ein „Gegenstück zum Tatbestand“190 des Art. 31 GG handeln. Eine tatbestandliche Ausnahme hat in Hinblick auf Normenkonflikte den großen Vorteil, dass sie von vornherein die gleichzeitige Anwendbarkeit mehrerer Normen und damit auch eine Kollisionslage dieser Normen ausschließt.191 Die Auflösung eines Normwiderspruchs durch eine 185  Beck

(Fn. 52), S. 73; März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 58. Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, am 15. / 16.05.2006, (http: /  / starweb.hessen.de / cache /  bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)), S. 40; Pieroth (Fn. 53), Art. 84 Rn. 8; März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 64; Dittmann, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 84 Rn. 22; Beck (Fn. 52), S. 74. 187  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 59. 188  BT-Drs. 16 / 813, S. 11; BR-Drs. 178 / 06, S. 30; Degenhart (Fn. 50), NVwZ 2006, 1209, 1212; Mammen, Der neue Typus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsrecht, DÖV 2007, 376, 377. 189  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 63; Pieroth (Fn. 53), Art. 72 Rn. 32; Meyer (Fn. 32), S. 166; Gerstenberg (Fn. 58), S. 268; a. A. Germann, in: Kluth (Hrsg.), Föderalismusreformgesetz, 2007, Art. 84, 85 Rn. 36 ff. 190  Germann (Fn. 189), Art. 84, 85 Rn. 41. 191  Weiss,Widersprüche im Recht, 2011, S. 86. 186  Huber,

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Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

lex-specialis-Regelung ist in diesem Fall nicht notwendig, denn ohne Tatbestandserfüllung kann es nicht zu divergierenden Rechtsfolgen kom­ men.192 Der Tatbestand des Art. 31 GG setzt aber – wie auch der des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG – sich zeitgleich gegenüberstehendes verfassungsgemäß zustande gekommenes Bundes- und Landesrecht also eine Kolli­ sionslage voraus.193 Vereinzelt wird eine solche Kollisionslage für Art. 72 Abs. 3 GG bestritten, indem das Abweichungsrecht als tatbestandliche Ausnahme zum „erschöpfenden Gebrauchmachen“ in Art. 72 Abs. 1 GG konstruiert wird.194 In den Fällen des Art. 72 Abs. 3 GG bestehe kein – zeitlich – „abschließender“ Gebrauch der Bundesgesetzgebungszuständigkeit aus Art. 72 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 bis 33 GG, so dass die „Anwendbarkeit solcher Bundesgesetze unter dem Vorbehalt abweichender Regelungen durch den Landesgesetzgeber“ stehe195 und in diesem Sinne zeitlich reduziert sei.196 Auf diese Weise wird die Möglichkeit einer Normenkollision und damit die Erfüllung des Tatbestands von vornherein ausgeschlossen. Eine Bundesgesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG, die bereits auf Tatbestandsseite mit einer zeitlichen Befristung der Anwendbarkeit der Bundesgesetze versehen ist, wie sie Germann vorschwebt, ist wohl schon nicht mit dem Demokratieprinzip aber erst recht nicht mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz der Rechtssicherheit197 vereinbar und würde einen beachtlichen Bruch mit der Verfassungstradition zur konkurrierenden Gesetzgebung bedeuten. Außerdem liefert diese Konstruktion keine Antwort auf die Frage, woher der Geltungsvorrang des späteren überlappenden Bundesrechts stammen soll.198 Somit bleibt festzuhalten, dass es sich bei dem Abweichungsrecht mit seiner „lex posterior“-Regel nicht um ein Gegenstück zum Tatbestand des Art. 31 GG handeln kann, schließlich stehen sich in beiden Fällen verfassungsgemäßes Bundes- und Landesrecht gegenüber. Für das Vorliegen eines Spezialitätsverhältnisses müssten die Normen denselben Lebenssachverhalt betreffen, aber unterschiedliche Rechtsfolgen vorsehen.199 Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG ordnet im Kollisionsfall den Vorrang des späteren, d. h. jüngeren Gesetzes an. Er verdrängt damit lediglich im Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG die sonst generelle Rechts192  Weiss

(Fn. 191), S. 86. oben B. II. 4. a). 194  So Germann (Fn. 189), Art. 84, 85 Rn. 41. 195  Germann (Fn. 189), Art. 84, 85 Rn. 37. 196  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 63 Fn. 35. 197  Dazu siehe unten Kapitel 4. A. 198  März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 63 Fn. 35. 199  Rüthers (Fn. 155), Rn. 771. 193  Siehe



B. Abweichungsgesetzgebung109

folge des Vorrangs des Bundesrechts und tauscht damit den im deutschen Föderalismus bisher geltenden Maßstab der Normenhierarchie gegen den formalen der Zeit.200 „Das jeweils spätere Recht profitiert daher gleichermaßen vom juvenilen Mehrwert der lex posterior-Regelung“.201 c) Die Einordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG und die Rolle eines Zitiergebots Für die Funktion eines Zitiergebots im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung macht es keinen Unterschied, ob Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als Kollisionsentscheidungs- oder Kollisionsvermeidungsnorm eingeordnet wird. Auf Grund der parallelen Gesetzgebungsbefugnis von Bund und Ländern auf dem Gebiet des Abweichungsrechts ist erstmals in der Geschichte des deutschen Föderalismus die Entstehung einer außerordentlich diffizilen Gemengelage von Bundes- und Landesrecht denkbar.202 Unabhängig davon, wie verwoben die Mischlage auch sein mag, Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG trifft stets eine materielle Entscheidung dahingehend, welche Norm Anwendungsvorrang genießt und welche suspendiert wird. Für den Rechtsbetroffenen, Rechtsanwender bzw. Parlamentarier kann es aber u. U. schwierig sein, den aktuellen Rechtsbefehl zu erkennen. Er soll daher durch eine Zitierpflicht in die Lage versetzt werden, sich die bestehende Rechtslage einfacher zu erschließen. Die Aufgabe eines Zitiergebots liegt also nicht darin, einen Normwiderspruch aufzulösen, sondern die Entscheidung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG für die Außenwelt transparent und nachvollziehbar zu machen. Aus diesem Grund ist es für die Funktion eines Zitiergebots auch unerheblich, ob sich Bundes- und Landesrecht in Form eines Normwiderspruchs jemals gegenüberstehen. Bei einer Einordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als Kollisionsvermeidungsnorm gäbe es zwar nie eine Kollision zwischen Bundesund Landesrecht, da die Rechtsfolge des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG auf den Zeitpunkt der Entstehung des späteren Rechts vorverlagert würde. Dennoch würde das verdrängte Recht trotz Entstehung des späteren Rechts wirksam weiter existieren genauso wie im Falle der Einordnung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als Kollisionsentscheidungsnorm. Für eine eventuelle Gemengelage von wirksamem aber suspendiertem und Anwendungsvorrang genießendem Recht, der sich der Rechtsbetroffene bzw. -anwender gegenüber sähe, macht es im Ergebnis keinen Unterschied, ob schon im Entstehungszeitpunkt des späteren Rechts der Normenkonflikt vermieden oder erst im Nachhinein behoben wird. In beiden Fällen droht eine Mischlage von eventuell kaum 200  Beck

(Fn. 52), S. 79; März (Fn. 150), Art. 31 Rn. 61. (Fn. 150), Art. 31 Rn. 61. 202  Siehe dazu unten Kapitel 4. B. 201  März

110

Kap. 2: Das materielle Abweichungsrecht

durchschaubarem verdrängtem und nicht verdrängtem Recht, deren Entwirrung ein Zitiergebot dienen soll.

C. Zusammenfassung Inhaltlich setzt Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG eine „abweichende“ Regelung voraus. Das altgermanische Stammverb „weichen“ hat einen räumlich zu verstehenden Vorstellungsinhalt, dem das Präfix „ab“ vorangestellt wird. Eng verwandt ist es mit den Worten „Wechsel“ (eigentlich „Weichen, Platzmachen“) und „Woche“ (eigentlich „Wechsel, Reihenfolge“). Als Synonyme für diesen örtlichen Vorstellungsinhalt kommen in Betracht: „sich abkehren“, „beiseitetreten“, „distanzieren“, „seiner Wege gehen“, „Abstand nehmen“ oder sprichwörtlich gewendet „vom Pfad der Tugend abweichen“. Das „Abweichen“ bezieht sich nach diesem lokalen Vorstellungsinhalt immer auf einen Hauptpfad, der verlassen wird. Dieser Hauptpfad ist der Maßstab für die Existenz und das Ausmaß einer Abweichung. Die Übertragung dieser philologischen Erkenntnisse auf Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG lässt den Schluss zu, dass das zu suspendierende Gesetz im Sinne eines Hauptpfades den Maßstab für die Abweichung darstellt. Dieses Bundes- oder Landesgesetz gibt demnach eine bestimmte Richtung vor, die durch sein Finalprogramm zum Ausdruck gebracht wird. Zumindest in diese Richtung muss sich auch das Abweichungsgesetz bewegen, andernfalls handelt es sich nicht mehr um eine Abweichung vom Hauptpfad, sondern um einen völlig anderen Rechtssatz, mithin um ein „aliud“, dessen Wirksamkeit sich allgemein an den Kompetenznormen des Grundgesetzes bzw. an der jeweiligen Landesverfassung und ebenfalls an Art. 31 GG misst. Eine ausreichende Bezugnahme auf die Vorgängernorm ist sowohl bei Tatbestandsverschiedenheit und Rechtsfolgengleichheit der subsequenten Norm wie auch im umgekehrten Fall gegeben. Darüber hinaus kann aber auch bei Tatbestands- und Rechtsfolgenverschiedenheit eine Abweichung vorliegen, wenn beispielsweise der Tatbestand im Vergleich zur Vorgängernorm lediglich erweitert und zusätzlich eine andere Rechtsfolge gewählt wird. Maßgebend bleibt, ob eine „Abweichung“ vom Hauptpfad der Vorgängernorm vorliegt. Die dogmatischen Konsequenzen der Abweichungsgesetzgebung stehen in unmittelbarem Zusammenhang zur fundamentalen bundesstaatlichen Kollisionsnorm des Art. 31 GG. Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG ist wie Art. 31 GG auch eine sogenannte Kollisionsentscheidungsnorm, d. h. der Konflikt zwischen den Rechtsetzungsebenen von Bund und Ländern wird nicht bereits durch die Kompetenzordnung gelöst, sondern erst im Nachhinein wird der Widerspruch zu Gunsten der einen und zu Lasten der anderen Ebene entschieden.



C. Zusammenfassung111

Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG ordnet im Kollisionsfall den Vorrang des späteren, d. h. jüngeren Gesetzes an. Er verdrängt damit lediglich im Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG die sonst generelle Rechtsfolge des Vorrangs des Bundesrechts und tauscht damit den im deutschen Föderalismus bisher geltenden Maßstab der Normenhierarchie gegen den formalen der Zeit. Die Aufgabe eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung liegt nicht etwa darin, Normwidersprüche wie bei Kollisionsvermeidungsnormen zu vermeiden oder wie bei Kollisionsentscheidungsnormen aufzulösen. Das Zitiergebot steht vielmehr im Dienste der lex-posterior-Regelung und soll die Entscheidung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG für die Außenwelt transparent und nachvollziehbar machen. Bereits in der Föderalismuskommission im Jahr 2006 wurde über die Notwendigkeit eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung diskutiert. Dabei wurden insbesondere Vergleiche zu den ausdrücklichen Zitierpflichten in Art. 19 und 80 GG gezogen. Aus diesem Grund bedarf es im Folgenden einer Auseinandersetzung mit den beiden geschriebenen Zitiergeboten im Grundgesetz. Darüber hinaus wird das Zitiergebot bei der Umsetzung europäischer Richtlinien erläutert.

Kapitel 3

Ausdrückliche Zitiergebote im Grundgesetz und im Recht der Europäischen Union Ziel der vorliegenden Arbeit ist zu klären, ob für die im Jahr 2006 neu in das Grundgesetz eingeführte Abweichungsgesetzgebungskompetenz ein ungeschriebenes Zitiergebot besteht. Diese Frage wurde bereits in der Föderalismuskommission – wenn auch in der für diesen Prozess gebotenen Kürze – diskutiert,1 und hierbei insbesondere ein Vergleich zu den ausdrücklichen Zitierpflichten in Art. 19 und 80 GG gezogen. Der Blick ging indes auch über die nationale Ebene hinaus, wobei die seit etwa 1990 etablierte Praxis, in den nationalen Bestimmungen die europäischen Richtlinien anzugeben, deren Umsetzung ein Gesetz dienen soll, als „Vorläufer“ eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung ausgemacht wurde.2 Die Tatsache, dass der Gesetzgeber das Instrument der Zitierung kennt und andernorts mehrfach davon Gebrauch gemacht hat, könnte man demnach als Indiz gegen die Existenz eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung werten.3 Gleichwohl führt an verfassungsrechtlichen Implikationen, die sich in den seltensten Fällen explizit und in Gänze explizit aus dem Grundgesetz ergeben, kein Weg vorbei. Aus diesem Grund befasst sich dieses Kapitel mit expliziten verfassungs- und europarechtlichen Zitiergeboten, um im Anschluss anhand der gewonnenen

1  Siehe

oben Kapitel 1. B. VII. Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in der Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 15. / 16.05.2006, S. S. 219, 231; (http: /  / starweb.hessen.de / cache /  bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (11.07.13)); Grünewald, Die Abweichungsgesetzgebung der Bundesländer – ein Fortschritt im Kompetenzgefüge des Grundgesetzes?, 2010, S. 58. 3  So Classen, Gutachten zu Problemen der Neuregelung des Erwerbs des Di­ plomgrades gemäß § 41 Abs. 1 Satz 3 und 4 LHG Mecklenburg-Vorpommern, S. 13 (http: // spd-fraktion-mv.de / images / Flyer / AkkreditierungMVGutachten.pdf  (28.09. 16)). 2  Huber,



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts113

Erkenntnisse und Wertungen Rückschlüsse auf ein ungeschriebenes Zitiergebot für Art. 72 Abs. 3 GG ziehen zu können.

A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Der zum allgemeinen Teil der Grundrechtslehren gehörende Art. 19 GG4 enthält vier Garantien: „das Verbot der individuellen Durchbrechung der Grundrechte, die Unantastbarkeit des Wesensgehalts, die Eröffnung des Rechtswegs und das Zitiergebot“.5 Letzteres ist in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verankert, indem die Norm bestimmt, dass „das Gesetz (durch das ein Grundrecht eingeschränkt werden soll) das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen“ muss. Damit knüpft das Zitiergebot tatbestandlich an das vorangehende Allgemeinheitsgebot des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG an.6 Das Gesetz, das selbst unmittelbar Grundrechte einschränkt oder auf Grund dessen Einschränkungen von Grundrechten möglich sind, muss demnach „seinen grundrechtsbeschränkenden Charakter unter Angabe des eingeschränkten Grundrechts“ offenlegen.7 Das im Katalog der Grundrechtsbestimmungen an prominenter Stelle platzierte Zitiergebot führte lange Zeit ein „Schattendasein“.8 In der Anfangszeit der Bundesrepublik Deutschland mag dessen stiefmütterliche Behandlung vielleicht noch begreiflich sein, standen doch zu dieser Zeit der Wiederaufbau und damit die Bewahrung wichtiger Gesetze vor dem Verdikt der Nichtigkeit im Vordergrund.9 Erstaunlicher ist aber der jahrzehntelang andauernde Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit dem Zitiergebot. In den ersten 56 Jahren seines Bestehens hat das Gericht nicht einmal eine 4  Herzog, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Vorauflage, Art. 19 Abs. 1 Rn. 2 (zitiert nach Remmert, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 19 Rn. 3). 5  Kilian, Der Geltungsbereich des Zitiergebots in Artikel 19 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes, 1966, S. 1. 6  Huber, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. I, 6. Auflage, 2010, Art. 19 Abs. 1 Rn. 62. 7  Singer, Das Bundesverfassungsgericht und das Zitiergebot, DÖV 2007, 496. 8  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496; Alberts, Die Bedeutung des Zitiergebots, Art. 19 Abs. 1 S. 2, insbesondere für die neuere Polizeigesetzgebung, JA 1986, 72, 73; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 2, 1994, S. 748; vgl. die märchenhafte Beschreibung eines „im Dornröschenschlaf befindliche(n) verfassungsrechtliche(n) Zitiergebot(s)“ bei Schwarz, Die Zitiergebote im Grundgesetz, 2002, S. 16. 9  Dürig, Art. 2 des Grundgesetzes und die Generalermächtigung zu allgemeinpolizeilichen Maßnahmen, AöR 79 (1953 / 54), S. 57, 58; Schwarz (Fn. 8), S. 15.

114

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Verletzung dieser Vorschrift festgestellt,10 obwohl es – zwar seltene – aber genügend Anlässe hierzu gegeben hätte.11 Das liegt in erster Linie an seiner äußerst restriktiven Auslegung des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG.12 Zu Recht war daher bereits relativ früh von einem „gestörten Verhältnis (…) der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum Formerfordernis des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG“ die Rede,13 vereinzelt wurde sogar die Abschaffung dieser Vorschrift verlangt, um sie vor einem weiteren Verfallsprozess zu bewahren.14 Vor diesem Hintergrund könnte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz15 vom 27. Juni 200516 eine „Trendwende“ im Umgang des Gerichts mit dem 10  Alberts

(Fn. 8), JA 1986, 72, 73. BVerfGE 2, 121, 122; 5, 13, 15 f.; 10, 89, 99; 24, 367, 396; 28, 36, 46; 35, 185, 188; 64, 72, 79 f.; 85, 386, 404; BVerfG NJW 83, 2869 ff. 12  So schränkte das Gericht den Anwendungsbereich des Zitiergebots ein, indem es bei offenkundigen Grundrechtseinschränkungen die Nennung des eingeschränkten Grundrechts für unnötig hielt (BVerfGE 35, 185, 189). Außerdem sollte Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nur für echte Gesetzesvorbehalte gelten (BVerfGE 10, 99 [zu Art. 2 Abs. 1 GG]; BVerfGE 28, 46 [zu Art. 5 GG]; BVerfGE 24, 398 [zu Art. 14 Abs. 3 GG]; BVerfGE 13, 122 und BVerfGE 64, 72 [zu Art. 12 GG]). In anderen Fällen von Grundrechtseinschränkungen durch einen Gesetzesvorbehalt hat es Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht einmal erwähnt (BVerfG NJW 1987, 180) oder Vorlageverfahren an formellen Voraussetzungen scheitern lassen (BVerfGE 68, 352); vgl. Schwarz (Fn. 8), S. 15; Selk, Zum heutigen Stand der Diskussion um das Zitiergebot, Art. 19 I 2 GG, JuS 1992, 816. In einer Entscheidung zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr führt das Gericht weiter aus, das Zitiergebot diene lediglich dazu, neue, dem bisherigen Recht nicht bekannte Möglichkeiten des Eingriffs in Grundrechte zu verhindern, ohne dass sich der Gesetzgeber hierüber im klaren ist und dies auch ausdrücklich zu erkennen gibt. Somit gelte das Zitiergebot weder für vorkonstitutionelles Recht (BVerfGE 5, 13, 15; 16, 190, 199) noch für Gesetzesvorbehalte im nachkonstitutionellen Recht, welche nur bereits bestehende Grundrechtsbeschränkungen unverändert oder mit geringer Modifikation wiederholen (BVerfGE 35, 185, 188); vgl. Dehner / Jahn, Anschnallpflicht und Bußgeldbewehrung als Grundrechtsproblem – BVerfG NJW 1987, 180, JuS 1988, 30, 32. 13  Bethge, Probleme des Zitiergebots des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, DVBl 1972, 365, 371; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496. 14  So schrieb seinerzeit Bethge ([Fn. 13], DVBl 1972, 365, 371): „Wenn sogar das Bundesverfassungsgericht, der vielgepriesene Hüter der Verfassung, diese Bestimmung zur Farce werden läßt, gebietet der Respekt vor der Verfassung, eher die Abschaffung dieser Vorschrift zu erwägen, als sie einem weiteren Verfallprozeß preiszugeben, der sich mittelbar auch zuungunsten des Grundgesetzes auswirkt.“ 15  Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (NdsSOG) i. d. F. von Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes v. 11.12.2003 (NdsGVBl S. 414) und i. d. F.d. Bek. v. 19.1.2005 (NdsGVBl S. 9). 16  Nach BVerfGE 113, 348, 366 f. soll es anders als noch in BVerfGE 35, 185, 189 nicht ausreichen, dass sich der Gesetzgeber des Grundrechtseingriffs bewusst war, wenn sich dies im Gesetzestext nicht niedergeschlagen hat. 11  U. a.



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts115

Zitiergebot bedeuten.17 In dieser Entscheidung hat das Gericht erstmals einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG festgestellt.18 Auch das Urteil zur heimlichen Informationserhebung nach § 5 Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen (VSG NRW)19 könnte auf eine zukünftig stärkere, gerichtliche Durchsetzung des Zitiergebots schließen lassen.20 Dennoch bleibt die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abzuwarten, bevor von einer belastbaren Umkehr der Position des Gerichts gesprochen werden kann. Neben der höchstrichterlichen Rechtsprechung wurde seit jeher auch der Staatspraxis ein „nonchalanter Umgang“ mit dem Zitiergebot bescheinigt.21 Das liegt vor allem daran, dass sich die Polizeigesetze der Länder stets darauf beschränkten, Art. 2 Abs. 2 und Art. 13 GG zu zitieren, obwohl auch Art. 8, Art. 10 und Art. 11 GG für die Polizeigesetze schon immer von Bedeutung waren.22 Allerdings darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass jüngere Regelungen diesem Säumnis bereits verstärkt Rechnung tragen.23 Auch in der staatsrechtlichen Literatur gehört das Zitiergebot nicht zu den bevorzugten Grundgesetzbestimmungen.24 Dies ist schon daran erkennbar, dass die Kommentierungen zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG weniger ausführlich sind.25 Gleichwohl kann, wenn überhaupt, nur das Schrifttum – und dann auch nur ein Teil dessen26 – als von Anfang an 17  Huber

(Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 83. (Fn. 7), DÖV 2007, 496. 19  BVerfGE 120, 274, 343 f. 20  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 83. In der Entscheidung (BVerfGE 120, 274, 343 f.) wird ein Verstoß gegen die Zitierpflicht festgestellt, da das Grundrecht im Gesetzestext nicht ausdrücklich als eingeschränkt benannt wird. Enthält eine Norm zwei Ermächtigungsgrundlagen, müsse aus dem Gesetz mit hinreichender Deutlichkeit klar werden, für welche Ermächtigungsgrundlage der Gesetzgeber mit einem Eingriff rechnet. 21  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 64; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496. 22  Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72, 74; Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 64. 23  Art. 74 BayPAG; § 8 POG RP; § 9 BremPolG; § 31 HmbSOG; § 7 PolG NW; § 79 SächsPolG; § 11 ThürPAG. 24  Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365. 25  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816. 26  Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes, 1950, S. 23; Röhl, Die Nennung des eingeschränkten Grundrechts nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes, AöR 81 (1956), S. 195 ff.; Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365 ff.; Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72 ff.; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816 ff.; a. A. Dürig (Fn. 9), AöR 79 (1953 / 54), S. 57, 62 Fn. 13, der die „formalistische Hypertrophie“ des Grundgesetzes anmahnt; Jellinek, Rede bei der Gedenkfeier der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Kiel (17. Juli 1953), in: Hermann von Mangoldt: Reden zu seinem Gedächtnis, 1953, S. 22 f., der meint: „In der Tat hat hier der Grundgesetzgeber des Guten zuviel getan; denn manchmal weiß der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes noch gar nicht, ob das Gesetz ein Grundrecht einschränkt oder nicht.“ (S. 22). 18  Singer

116

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

loy­ aler Befürworter eines Zitiergebots bezeichnet werden.27 Insbesondere Herzog forderte stets mit Nachdruck eine strikte Beachtung des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und verlangte die Regeneration einer „gegenwärtig praktisch leerlaufenden Verfassungsnorm“28 im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Judikatur.29

I. Geschichtlicher Hintergrund des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG In den Beratungen des Parlamentarischen Rates ab 1948 waren die Bedenken gegen ein Zitiergebot von Anfang an groß, wohl deshalb, weil die Zielsetzung dieser Schranke kein Vorbild aus der Weimarer Zeit kannte,30 als es noch möglich war, die Verfassung bei Einhaltung bestimmter formaler Voraussetzungen „schleichend auszuhöhlen“.31 Auf dieses intransparente Defizit der Weimarer Reichsverfassung sollte neben Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG u. a. auch mit Art. 79 GG reagiert werden, der vorschreibt, dass Verfassungsänderungen in der Regel Verfassungstextänderungen sind.32 In der ersten Lesung des Grundgesetzentwurfs im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates fand das Zitiergebot noch keine mehrheitliche Zustimmung.33 Insbesondere der Abgeordnete von Mangoldt äußerte erhebliche Bedenken gegen solch „rein formale Bestimmungen“. Der Gesetzgeber, der ein dringendes Gesetz mache, könne dies alles nicht von vornherein übersehen. Daher fürchte er einen „Rattenschwanz von Prozessen“ und praktisch eine Wiederholung des Gesetzgebungsverfahrens.34 In der zweiten Lesung im Hauptausschuss trug von Mangoldt erneut seine Bedenken vor und verwies 27  Schwarz

(Fn. 8), S. 15. in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Altauflage, Art. 19 Abs. 1 Rn. 12 (zitiert nach Schwarz [Fn. 8], S. 15). 29  Schwarz (Fn. 8), S. 15. 30  Nur in Art. 63 Abs. 2 der Hessischen Verfassung von 1946 kann in Ansatzpunkten ein vorgrundgesetzlicher Vorläufer des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG gesehen werden. Dort hieß es: „Gesetz im Sinne solcher grundrechtlicher Vorschriften ist nur eine vom Volk oder von der Volksvertretung beschlossene allgemeinverbindliche Anordnung, die ausdrücklich Bestimmungen über die Beschränkung oder Ausgestaltung des Grundrechts enthält. Verordnungen, Hinweise im Gesetzestext auf ältere Regelungen sowie durch Auslegung allgemeiner gesetzlicher Ermächtigungen gewonnene Bestimmungen genügen diesen Erfordernissen nicht.“, vgl. Röhl (Fn. 26), AöR 81 (1956), S. 195, 196 Fn. 1; Stern (Fn. 8), S. 745; Kilian (Fn. 5), S. 1 Fn. 1. 31  Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72. 32  Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72. 33  Stern (Fn. 8), S. 745. 34  Parl. Rat-GrdsA., Sten. Ber. (32. Sitzung vom 19.01.1949), S. 80 ff.; v. Doemming / Füsslein / Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, in: JöR N.F. 1 (1951), 1, 178 f. 28  Herzog,



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts117

auf schwerwiegende Folgen bei unterbliebener Grundrechtsnennung, da u. U. ein Gesetz nur aus diesem Grund für verfassungswidrig erklärt werden müsste.35 Er sah darin eine „sehr weitgehende Fesselung des Gesetzgebers“, der bei jedem Gesetz erwägen müsste, ob nicht in ein Grundrecht eingegriffen wird.36 Der Abgeordnete von Brentano erwiderte, dass der Gesetzgeber eben nicht vergessen dürfe, das Eingreifen in ein Grundrecht zu erwähnen; hierdurch solle erreicht werden, dass sich sowohl der Rechtsanwender wie auch der Rechtsbetroffene im Klaren darüber sind, dass eine gesetzliche Ermächtigung zu diesem Eingriff vorliegt.37 Eine ähnliche ­Position vertrat der Abgeordnete Dehler, der die Aufgabe des Zitiergebots darin sah, die Grundrechte vor ihrer Aushöhlung zu bewahren.38 Nach aus­ giebigen Diskussionen setzte sich schlussendlich die Position der beiden letztgenannten mit 11 zu 7 Stimmen durch.39 In der dritten Lesung scheiterte auch der letzte Versuch von Mangoldts, das Zitiergebot streichen zu lassen. Er betonte, dass in der Rechtsprechung häufig darüber gestritten werde, in welchen Fällen welches Grundrecht zur Anwendung käme. Diese Prüfung obliege einzig und allein der Rechtsprechung. Würde man diese Aufgabe dem Gesetzgeber übertragen, stelle dies eine Fessel dar, die ihm seine Arbeit unnötigerweise erschwere.40 Darauf erwiderte Dehler vehement „Wir wollen diese Fessel des Gesetzgebers“.41 In der Folgezeit wurden nur noch einige sprachliche Veränderungen am Wortlaut vorgenommen42 und anschließend die Endfassung des heutigen Art. 19 GG beschlossen und verkündet.43 Der Abgeordnete von Mangoldt hielt auch nach Erlass des Grundgesetzes an seiner Meinung fest und setzte sich dafür ein, dass das Zitiergebot als bloße Sollvorschrift aufgefasst wird. Er bezeichnete die Bestimmung weiterhin als „Formalismus und eine unnötige Erschwerung der Arbeit des Gesetzgebers“.44

35  Schwarz

(Fn. 8), S. 20. (Fn. 8), S. 20. 37  Schwarz (Fn. 8), S. 20. 38  Schwarz (Fn. 8), S. 20; v.  Doemming / Füsslein / Matz (Fn.  34), JöR N.F. 1 (1951), 1, 179. 39  Parl.Rat-HA, Sten.Ber. (44. Sitzung vom 19.1.1949), S. 591 f. 40  Schwarz (Fn. 8), S. 21. 41  Parl.Rat-HA, Sten.Ber. (44. Sitzung vom 19.1.1949), S. 620. 42  v.  Doemming / Füsslein / Matz (Fn. 34), JöR N.F. 1 (1951), 1, 180. 43  Schwarz (Fn. 8), S . 21. 44  Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72. 36  Schwarz

118

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

II. Funktionen des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Mit der Anordnung eines Zitiergebots in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verfolgt die Verfassung unterschiedliche Ziele. Zum einen wendet sie sich an den Gesetzgeber, zum anderen an den Rechtsanwender bzw. betroffenen Grundrechtsträger.45 1. Warn- und Besinnungsfunktion Das Bundesverfassungsgericht adressiert mit dem Zitiergebot seit jeher den Gesetzgeber.46 Durch die Warn- und Besinnungsfunktion der Zitierpflicht soll vermieden werden, „daß neue, dem bisherigen Recht fremde Möglichkeiten des Eingriffs in Grundrechte geschaffen werden, ohne daß der Gesetzgeber sich darüber Rechenschaft legt und dies ausdrücklich zu erkennen gibt“.47 Damit ist die Position des Abgeordneten Dehler in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates aufgegriffen, der die Funktion des Zitiergebots vor allem darin sah, die Grundrechte vor ihrer schleichenden Aushöhlung zu bewahren.48 Das Schrifttum hat sich dieser Funktionszuweisung nicht nur angeschlossen, sondern diese auch weiter „aus­ differenziert“.49 „Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG soll verhindern, daß der Gesetzgeber in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre der Bürger eingreift, ohne sich dessen bewußt zu sein und ohne die Vor- und Nachteile eines solchen Eingriffs gründlich gegeneinander abgewogen zu haben.“50 Der Gesetzgeber soll also zu erkennen geben, dass er sich der Spannungs- und Interessenkollisionslage, die mit dem grundrechtseinschränkenden Gesetz verbunden ist, bewusst ist51 und die Verantwortung dafür übernimmt.52 In erster Linie handelt es sich demnach um ein „psychologisches Hemmnis“53 45  Schwarz

(Fn. 8), S. 21. (Fn. 7), DÖV 2007, 496. 47  BVerfGE 5, 13, 15; 35, 185, 188 f.; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496. 48  Siehe oben A. I. 49  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 50  Menger, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Altauflage, Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 141 (zitiert nach Stern [Fn. 8], S. 747); Kiefersauer, Die Grundrechtsgesetzgebung – eine lex imperfecta?, JR 1952, 81, 82 spricht von einem „Spiegel der Selbstverantwortung des Gesetzgebers“, die ihn „zwinge, bei jedem Akt der Gesetzgebung, sich diesen Spiegel vorzuhalten, indem bei jeder möglichen Berührung mit einem Grundrecht dieses unter Anführung des das Grundrecht ordnenden Artikels ausdrücklich im Gesetz bezeichnet werden muss.“ 51  Schwarz (Fn. 8), S. 22. 52  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 68; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 53  Bullinger, Anmerkung zum Beschluss des BVerwG vom 17.1.1961, BB 1961, 499. 46  Singer



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts119

bzw. eine „mentale Schranken-Schranke“54 für den grundrechtseinschränkenden Gesetzgeber. Mit Blick auf die „Verfassungswirklichkeit“55 ist hinsichtlich der Warnfunktion noch ein weiterer Aspekt zu beachten. Der sich in mehreren Etappen vollziehende Gesetzgebungsprozess betrifft formal zwar das gesamte Parlament, die „eigentliche Gesetzgebungsarbeit“ findet heute aber in der Regel nicht mehr „im Plenum des Parlaments“ statt, sondern arbeitsteilig „im Zusammenspiel von Ministerialbürokratie und einzelnen Abgeordneten des zuständigen Ausschusses“.56 Die übrigen Abgeordneten können sich daher der grundrechtlichen Bedeutung der im Plenum zur Abstimmung stehenden Gesetze auch angesichts der Fülle und Ausdifferenziertheit „moderner Gesetzgebungstätigkeit“ nicht immer vollends bewusst sein.57 Ihnen kann eine Zitierpflicht bei einem „groben Durchgang durch einen Gesetzesentwurf“ durchaus Hilfestellung leisten, denn ihnen wird als „Nicht-Spezialisten“ verdeutlicht, welche Auswirkungen die Legiferierung haben könnte.58 Hinzu tritt die nichtparlamentarische Öffentlichkeit; auch ihr gegenüber muss sich der Gesetzgeber mit seinem Gesetzesentwurf verantworten.59 Diese wird umso aufmerksamer sein und den öffentlichen Druck auf den Gesetzgeber erhöhen, je mehr Grundrechte durch das geplante Gesetz eingeschränkt werden sollen.60 Die Warnfunktion hat demnach mehrere Facetten: Sie betrifft sowohl die parlamentarische Arbeitsteilung als auch die öffentliche Debatte. Letztere wird nunmehr auch vom Bundesverfassungsgericht registriert.61 2. Klarstellungs-, Hinweis- und Informationsfunktion Das Zitiergebot richtet sich nach Ansicht vieler Stimmen im Schrifttum nicht nur an den Gesetzgeber, sondern hat auch im Rahmen der Gesetzesanwendung eine Klarstellungs-, Hinweis- und Informationsfunktion.62 Hier54  Stern

(Fn. 8), S. 747. (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 71. 56  Zitat bei Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 71; ebenso Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 57  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 71; Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72, 73. 58  Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72, 73. 59  Alberts (Fn. 8), JA 1986, 72, 73. 60  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 71. 61  BVerfGE 113, 348, 366; 120, 274, 343. 62  Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. I, 3. Auflage, 2013, Art. 19 Abs. 1 Rn. 19; Lerche, Grundrechtsschranken, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. V, 2. Auflage, 2000, § 122 Rn. 41; Model / Müller, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Auflage, 1996, Art. 19 Rn. 6; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 817; Schwarz (Fn. 8), S. 23 f. 55  Huber

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

für spreche erneut die Entstehungsgeschichte der Norm.63 Der Abgeordnete Brentano führte in den Beratungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates an, „daß auch derjenige, der das Gesetz anwende und auf den es Anwendung finde, sich darüber im Klaren (sein müsste), daß eine gesetzliche Berechtigung und Ermächtigung zu diesem Eingriff vor­liegt“64. Zum einen soll also dem Gesetzesanwender, in den meisten Fällen der Verwaltung, durch die Nennung des eingeschränkten Grundrechts die Grundrechtsrelevanz seines Handelns verdeutlicht und er so für die Folgen seines Handelns sensibilisiert werden.65 Zum anderen soll der betroffene Grundrechtsträger darüber informiert werden, dass und bezüglich welcher seiner Grundrechte Eingriffe drohen, damit in dieser Hinsicht letztendlich „Rechtsgewissheit“ eintreten kann.66 Das Bundesverfassungsgericht teilt seit jeher diese subjektive Betrachtung des Schrifttums nicht;67 vielmehr sieht es in dem Zitiergebot lediglich eine objektive Schranke für den Gesetzgebungsprozess.68 Auch in seinen jüngsten Entscheidungen zum Zitiergebot69 hat es – „in Kenntnis der Literaturstimmen“ – zur Hinweis- und Informa­ tionsfunktion geschwiegen.70 Auch das Handbuch der Rechtsförmlichkeit nennt für die Staatspraxis nur die Warn- und Besinnungsfunktion.71 Gleichwohl hat das Zitiergebot eine über den „Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens“ hinausreichende, „subjektiv schützende Wirkung“ für den Rechtsbetroffenen.72 Für diesen individuellen Einschlag spricht nicht nur die Stellung des Zitiergebots im Katalog der Grundrechte,73 sondern insbesondere dessen systematische und teleologische Nähe zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.74 „Gegen grundrechtseinschränkende Gesetze und auf ihnen beruhende Maßnahmen kann sich der Betroffene dann leichter wehren, wenn er sie als solche erkennt.“75 Der Gesetzgeber soll durch das 63  Singer

(Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. oben A. I.; Brentano, Parl.Rat., 44. Sitzung des Hauptausschusses vom 19.1.1949, Prot. S. 591; Dehner / Jahn (Fn. 12), JuS 1988, 30, 32; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 817. 65  Schwarz (Fn. 8), S. 23. 66  Dreier (Fn. 62), Art. 19 Abs. 1 Rn. 19; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 817. 67  U. a. BVerfGE 64, 72, 81. 68  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 69  BVerfGE 113, 348, 366; 120, 274, 343. 70  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 71  Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Auflage, 2008, Rn. 427; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 498. 72  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 73  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 497. 74  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 817. 75  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 817. 64  Siehe



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts121

Zitiergebot also – auch nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens – zu erkennen geben, dass nach seinem Willen die von ihm ins Leben gerufene Regelung grundrechtseinschränkend ist, damit bei der Normanwendung in dieser Hinsicht Gewissheit besteht.76 Darüber hinaus ergibt sich aus der Informationsfunktion des Zitiergebots, dass sich der Bürger als Grundrechtsträger im umgekehrten Fall auf das „Schweigen des Gesetzgebers“ verlassen können sollte.77 Ist die Nennung eines Grundrechts unterblieben, ist dies ein Hinweis für den Grundrechtsträger, dass der Gesetzgeber dessen Einschränkung bei Erlass des Gesetzes nicht beabsichtigt hat, so dass Exekutive und Judikative veranlasst sind, eine verfassungskonforme Auslegung des einschränkenden Gesetzes derart vorzunehmen, dass kein Widerspruch zum durch das unterbliebene Zitat manifestierten Willen des Gesetzgebers entsteht.78 3. Anforderungen an die Art der Grundrechtsnennung Höchstrichterlich wurde der Anwendungsbereich des Zitiergebots lange Zeit streng restriktiv ausgelegt.79 Damit ging eine Bedeutungslosigkeit der Zitierpflicht schon ab dem Zeitpunkt ihrer Existenz einher. Dementsprechend wurde auch der Art des Grundrechtszitats in der Vergangenheit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei stellt sich sowohl die Frage nach dem Ort und den Modi der Grundrechtsnennung wie auch die Frage, ob das Zitiergebot bei Gesetzesänderungen im Änderungs- oder im Stammgesetz zu beachten ist.80 a) Der Ort und die Form der Grundrechtsnennung In der älteren Literatur wurde zum Teil noch fast jede Form der Grundrechtsnennung für ausreichend erachtet. Hauptsache der Gesetzgeber hat das Grundrecht „irgendwo genannt“ und damit gezeigt, dass er daran gedacht hat.81 Entscheidend sollte lediglich der Zweck der Zitierpflicht sein, der darin bestehe, Grundrechtsbeschränkungen für jedermann erkennbar zu machen. Dann käme es aber auch nur darauf an, dass das jeweilige Gesetz und 76  Schwarz

(Fn. 8), S. 24. (Fn. 8), S. 24. 78  Remmert, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 19 Abs. 1 Satz  2 Rn. 41; Drews / Wacke, Allgemeines Polizeirecht: Ordnungsrecht der Länder und des Bundes, 7. Auflage, 1961, S. 130; Kilian (Fn. 5), S. 3. 79  Siehe oben A. 80  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 81  So noch Röhl (Fn. 26), AöR 81 (1956), S. 195, 213. 77  Schwarz

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

die Zitierung irgendwie zusammen veröffentlicht werden.82 Somit verwundert es kaum, dass sich im Laufe der Zeit in der Praxis ganz unterschied­ liche Formen des Grundrechtszitats herausgebildet haben.83 Häufig findet man Zitierungen am Ende des Gesetzestextes in einer eigenen Bestimmung,84 aber auch zu Beginn85 oder mitten im Gesetz86 als sogenanntes Sammelzitat.87 Mitunter wird das Grundrecht auch in unmittelbarem Zusammenhang zur einschränkenden Gesetzesnorm als sogenanntes Einzelzitat angeführt.88 Vereinzelt werden die einzuschränkenden Grundrechte auch in der Präambel,89 Verkündungsformel,90 Gesetzesbegründung91 oder auch nur in einem Artikel des Änderungsgesetzes aber nicht im geänderten Gesetz selbst92 genannt.93 Hierbei unterschreiten lediglich die Nennungen in der Gesetzesbegründung und in der Verkündungsformel eindeutig das verfassungsrechtlich Gebotene, denn diese Bereiche sind anders als es Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG verlangt, nicht Teil des „Gesetzes“.94 Auch wenn der Ratio der Zitierpflicht in Form der Selbstkontrolle des Parlaments auch auf diese Weise Rechnung getragen wäre,95 sind diese Gestaltungsformen offenkundig nicht mit dem Wortlaut der Verfassung vereinbar.

82  Sienz, Das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 des Grundgesetzes, 1959, S. 106. 83  Dazu Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 43 ff.; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 819; Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 97. 84  Z. B. § 196 StVollzG, Art. 74 BayPAG, Art. 58 BayLStVG, § 79 SächsPolG; § 13 ATDG – Antiterrordateigesetz. 85  § 4 PolG Bad.-Württ. 86  § 11 ThürPAG. 87  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 88  Z. B. § 41 Abs. 3 LMBG, § 9 Abs. 2 S. 9 BVerfSchG; § 52 Abs. 6 S. 2 BImSchG. 89  Z. B. Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften v. 12.7.1985, BGBl. I, S. 1502. 90  Beispiele aus der Vergangenheit bei Stern (Fn. 8), S. 757 Fn. 298. 91  Entwurf zur Änderung des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes (NGef­ AG) vom 17.06.2003, LT-Drs. 15 / 240 S. 15. 92  Vgl. etwa das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses vom 13.8.1968, BGBl. I 1968, 953, Art. 3, § 10; Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9.12.1974, BGBl. I 1974, 3415, Art. 12; Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung vom 14.4.1978, BGBl. I 1978, 499, Art. 4; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 819. 93  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 819. 94  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 43. 95  Dazu Schwarz (Fn. 8), S. 123.



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts123

aa) Einzelzitat Die Art der Grundrechtsnennung, die der Ratio der Zitierpflicht am ehesten gerecht wird, ist unstreitig die konkrete Bezugnahme auf das betroffene Grundrecht in unmittelbarem Anschluss an die jeweilige Gesetzesbestimmung.96 Durch ein solches Einzelzitat können in Hinblick auf die oben beschriebene Warn- und Besinnungs- bzw. Informations- und Hinweisfunktion sowohl der einzelne Abgeordnete als auch der Gesetzesadressat und -anwender klar erkennen, welche Einschränkung auf Grundlage welcher der eventuell zahlreichen grundrechtsrelevanten Vorschriften eines Gesetzes droht.97 Dennoch macht der Gesetzgeber nicht selten von sogenannten Sammelzitaten in seinen Gesetzen Gebrauch, in denen er sämtliche durch die Normen des Gesetzes eingeschränkten bzw. einschränkbaren Grundrechte an einer Stelle benennt, ohne dass die jeweils betroffenen Vorschriften erkennbar werden.98 Ob derartige Sammelzitate mit der Verfassung vereinbar sind, wird unterschiedlich gesehen.99 Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wird das Sammelzitat zum Teil ohne weitere Einschränkung zugelassen.100 Schließlich habe der Vorschlag des Abgeordneten Dehler, einen Art. 20 c Abs. 1 S. 2 in das Grundgesetz einzufügen, wonach das betroffene Gesetz „das Grundrecht namentlich unter Angabe der es regelnden Gesetzesstelle bezeichnen“101 sollte, keine Mehrheit gefunden und sei damit nicht Teil des Grundgesetzes geworden.102 Weiterhin mache die „Kompliziertheit und Sprödigkeit“ mancher Gesetzesmaterien die Nennung der betroffenen Grundrechte in unmittelbarem Zusammenhang mit den grundrechtsrelevanten Vorschriften unmöglich, so dass eine globale Zitierung unerlässlich sei.103 Dieser Sichtweise kann aber aus folgenden Gründen 96  Kilian (Fn. 5), S. 6; Herzog, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Vorauflage, Art. 19 Abs. 1 Rn. 56 (zitiert nach Remmert [Fn. 78], Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 43); Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 98; Schwarz (Fn. 8), S. 125 ff. 97  Kilian (Fn. 5), S. 6; Krebs, in: von Münch (Begr.) / Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 6. Auflage, 2012, Art. 19 Rn. 14.; Schwarz (Fn. 8), S. 125. 98  Schwarz (Fn. 8), S. 125. 99  Für eine uneingeschränkte Zulässigkeit von Sammelzitaten Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500; Jarass,in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 14. Auflage, 2016, Art. 19 Rn. 7; Wuttke, Polizeirecht und Zitiergebot, 2004, S. 22 ff. dagegen Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 19 Rn. 31; Schwarz (Fn. 8), S. 125 ff.; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 819 f.; Dehner / Jahn (Fn. 12), JuS 1988, 30, 32. 100  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 101  Parlamentarischer Rat, 44. Sitzung des Hauptausschusses v. 19.1.1949, Prot. S. 592. 102  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 103  Herzog, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Vorauflage, Art. 19 Abs. 1 Rn. 56 (zitiert nach Selk [Fn. 12], JuS 1992, 816, 819).

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

nicht gefolgt werden.104 Durch ein Sammelzitat kann nicht in transparenter Weise gewährleistet werden, dass sich der parlamentarische Gesetzgeber tatsächlich mit der Grundrechtsrelevanz einer einzelnen Bestimmung befasst hat.105 Ferner kann der Normadressat bzw. Gesetzesanwender bei einer pauschalen Auflistung der betroffenen Grundrechte z. B. am Anfang oder am Ende eines Gesetzes – insbesondere bei vielschichtigen Gesetzesmate­ rien – nicht erkennen, durch oder auf Grund welcher Vorschrift welches Grundrecht eingeschränkt wird bzw. werden kann.106 Damit ist der zweite Funktionsbereich der Hinweis- und Informationsfunktion des Zitiergebots aufgegriffen. Vor allem aber lässt sich das Erfordernis des Sammel- anstelle eines Einzelzitats nicht damit begründen, dass der Gesetzgeber sein eigenes Gesetz für zu kompliziert oder unübersichtlich hält.107 Als „Urheber“ seines eigenen Gesetzes ist der Gesetzgeber am ehesten in der Lage, sein Werk auf dessen Grundrechtsrelevanz hin zu überprüfen.108 Eine unnötige Behinderung seiner Arbeit wird daraus nicht ersichtlich.109 Bei Schaffung des bereits außer Kraft getretenen Bundesseuchengesetzes110 hat der Gesetzgeber schließlich schon früh unter Beweis gestellt, dass er in Lage ist, durchgehend Einzelzitate zu verwenden.111 Falls der Gesetzgeber sein Gesetz für den Gebrauch eines Zitiergebots für zu spröde, kompliziert oder unübersichtlich hält, kann dies darüber hinaus ein Indiz dafür sein, dass das Gesetz einer umfänglichen Überarbeitung in Form einer Entzerrung und Vereinfachung bedarf, damit es auch in Hinblick auf seine Anwendung rechtsstaatlichen Anforderungen genügt.112 Über den Umweg der Beachtung des Zitiergebots kann somit dem gesamten Gesetzestext zu mehr Rechtsklarheit verholfen werden.113 Unbeschadet der vorangegangenen Erwägungen kann das Sammelzitat in manchen seltenen Fällen gleichwohl auch aus rechtsstaatlicher Sicht die beste Lösung sein. Dies ist der Fall, wenn bei dieser Vorgehensweise die Funktionen des Zitiergebots gewahrt bleiben.114 Denkbar ist dies, „wenn ein auch das Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 431. (Fn. 8), S. 126. 106  Schwarz (Fn. 8), S. 126. 107  Schwarz (Fn. 8), S. 126. 108  Schwarz (Fn. 8), S. 126. 109  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 110  Vom 18.12.1979, BGBl. I, S. 2262, außer Kraft seit 1.1.2001. 111  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 112  Schwarz (Fn. 8), S. 126. 113  Hendrichs, in: von Münch (Begr.) / Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 3. Auflage, 1985, Art. 19 Rn. 18; Schwarz (Fn. 8), S. 126. 114  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 44. 104  So

105  Schwarz



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts125

Gesetz in seiner Gesamtheit ein oder mehrere Grundrechte“ betrifft.115 Hier wäre es tatsächlich übertriebener Formalismus, wenn das Gesetz in jeder Vorschrift dem Zitiergebot genügen müsste. Den beiden Funktionsgruppen des Zitiergebots wäre in Form eines Sammelzitats allemal hinreichend Rechnung getragen, denn es wäre für „jedermann erkennbar“, dass das gesamte Gesetz ein oder mehrere Grundrechte tangiert.116 Den zweiten denkbaren Fall für ein zulässiges Sammelzitat stellen Gesetze dar, die einen sehr „überschaubaren Umfang“ haben.117 Hier können Einzelzitate aus rechtsstaatlicher Sicht sogar abträglich sein, wenn sie Regelungen aus ihrem Zusammenhang reißen und damit deren Anwendung erschweren.118 Das Sammelzitat ist hierbei aber nur zulässig, wenn den dort genannten Grundrechten die entsprechende Gesetzesnorm zugeordnet werden kann.119 Festzuhalten bleibt, dass das Einzelzitat in unmittelbarem Zusammenhang zur grundrechtsrelevanten Norm die Regel und das Sammelzitat lediglich die Ausnahme von dieser Regel sein sollte.120 bb) Artikelnummer oder Inhaltsangabe? Hinsichtlich der Form der Grundrechtsnennung kann man sich abschließend die Frage stellen, ob die Artikelnummer ausreicht oder eine Inhalts­ angabe des jeweiligen Grundrechts erforderlich ist.121 Das Grundgesetz verlangt seinem Wortlaut nach lediglich die Angabe der Artikelnummer. Dies wird in den meisten Fällen auch genügen.122 Lediglich wenn eine Artikelnummer mehrere Grundrechte betrifft und der Gesetzgeber auf andere Weise nicht eindeutig ausdrücken kann, welches Grundrecht er meint, ist eine Inhaltsangabe wiederum aus rechtsstaatlichen Gründen angebracht.123

115  Schwarz

(Fn. 8), S. 127. (Fn. 8), S. 127. 117  Schwarz (Fn. 8), S. 126; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 44. 118  So auch Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 432. 119  Schwarz (Fn. 8), S. 127. 120  Dehner / Jahn (Fn. 12), JuS 1988, 30, 32; Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820; Schwarz (Fn. 8), S. 127 / 128; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 44; Stern (Fn. 8), S. 757 / 758: Aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ergebe sich „für den Gesetzgeber die Verpflichtung, eines möglichst konkreten Einzelzitats (…), die nur in Ausnahmefällen durch die Nennung in der Präambel oder einer Schlussbestimmung erfüllt werden kann.“ 121  Schwarz (Fn. 8), S. 122. 122  Model / Müller (Fn. 62), Art. 19 Anm. 6. 123  Schwarz (Fn. 8), S. 122. 116  Schwarz

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

b) Änderungsgesetz Schließlich bleibt die oben aufgeworfene Frage124, wie man dem Zitiergebot gerecht werden kann, wenn ein bestehendes Gesetz geändert wird und die Gesetzesänderung die Beachtung des Zitiergebots auslöst.125 Hierbei verfährt die Praxis wiederum uneinheitlich. Der veröffentlichte Normtext der StPO enthält beispielsweise keine Grundrechtszitate, denn die Zitierung von neu eingeschränkten bzw. einschränkbaren Grundrechten erfolgt ausschließlich im Änderungsgesetz.126 Andere Änderungsgesetze führen hingegen einen einzelnen Paragraphen in das Stammgesetz ein, der sich ausschließlich mit der Einschränkung von Grundrechten und dem entsprechenden Grundrechtszitat beschäftigt.127 Wieder andere Änderungsgesetze pflegen das Grundrechtszitat lediglich in schon bestehende, das Zitiergebot betreffende Vorschriften des Stammgesetzes ein.128 Nicht selten führen Änderungsgesetze zwar Grundrechtszitate in das Stammgesetz ein, verzichten aber darauf, wenn das betroffene Grundrecht bereits in einem Sammelzitat genannt ist.129 Welche dieser Gestaltungsformen mit Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar ist, hängt insbesondere davon ab, welchen Zweck man dem Zitiergebot beimisst. Eine ausschließlich an der Warn- und Besinnungsfunktion ausgerichtete Zweckbestimmung ließe den Schluss zu, dass das Grundrechtszitat lediglich im Änderungsgesetz ausreicht;130 ist doch der Nachweis, 124  Siehe

oben unter A. II. 3. (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 501; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2

125  Singer

Rn. 45. 126  Art. 7 des Gesetzes zur Umsetzung des Urteils des BVerfG v. 3.3.2004 (akustische Wohnraumüberwachung) v. 24.6.2005, BGBl. I, S. 1841, 1846; Art. 3 des Gesetzes zur Änderung der StPO v. 20.12.2001, BGBl. I, S. 3879, 3880; § 4 des Gesetzes zur Änderung der StPO (DNA-Identitätsfeststellungsgesetz), BGBl. I, S. 2646; vgl. Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 127  Art. 1 Nr. 30 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des brandenburgischen Meldegesetzes v. 14.12.2005, GVBl. S. 274, 283 für das Zitiergebot in Art. 5 Abs. 2 S. 3 der Verfassung des Landes Brandenburg. „§ 37 Einschränkung von Grundrechten: Durch dieses Gesetz wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 11 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg eingeschränkt.“; vgl. Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 128  Vgl. Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und über die Übergabeverfahren zwischen Mitgliedsstaaten der EU v. 21.7.2004, BGBl. I, S. 1748, 1752: „Es werden die Worte „und der Schutz vor Auslieferung (Art. 16 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes)“ eingefügt.“; vgl. Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 129  Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des StGB v. 24.3.2005, BGBl. I, S. 969; vgl. Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 130  So das Bundesverfassungsgericht, das ein enges Verständnis des Normzwecks pflegt, siehe oben A. II. 1. In BVerfGE 35, 185, 189 wurde die isolierte Zitierung im Änderungsgesetz zumindest implizit gebilligt. In diese Richtung ging auch



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts127

dass sich der Gesetzgeber mit der Grundrechtsrelevanz des betreffenden Gesetzes auseinandergesetzt hat, hiermit erbracht. Auch der Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG steht einer solchen Beurteilung nicht entgegen, zumal „das Gesetz“ auch das Änderungsgesetz selbst sein kann.131 Die Ratio des Zitiergebots erschöpft sich aber nicht in der an den Gesetzgeber gerichteten Warn- und Besinnungsfunktion, sondern beinhaltet auch eine den Gesetzesadressaten und -anwender betreffende Hinweis- und Informationsfunktion.132 Vor diesem Hintergrund ist die ausschließliche Nennung des Grundrechts im Änderungsgesetz mit der Verfassung nicht vereinbar. Zwar werden Änderungsgesetze auch gemäß Art. 82 Abs. 1 GG im Bundesgesetzblatt verkündet.133 Der verbindliche Normtext ergibt sich außerdem nicht allein aus dem Stammgesetz, sondern stets „aus dem Verlauf der amtlichen Gesetz- und Verordnungsblätter“,134 so dass eigentlich für jedermann die Möglichkeit der Kenntnisnahme besteht.135 Maßgeblich für den Normzweck der Hinweis- und Informationsfunktion kann aber nur die konsolidierte Gesetzesfassung in Form der Textausgaben sein.136 Denn nicht jeder Gesetzesadressat bezieht das Bundesgesetzblatt137 oder kann mit den einschlägigen Datenbanken umgehen. Die Verkündung im Bundesgesetzblatt dient zwar gerade dazu, die Kenntnis aller Bürger vom Gesetz zu fingieren,138 indem die Rechtsnormen der Öffentlichkeit in einer Weise zugänglich gemacht werden, dass die Kenntnis aller Bürger vom Normtext in zumutbarer und verlässlicher Weise gesichert ist.139 Diese Fiktion der allseitigen Kenntnisnahme ab dem Zeitpunkt der Existenz des Gesetzes140 bezieht sich aber nur auf den Zweck der Verkündung in Art. 82 Abs. 1 GG. Von diesem Normzweck pauschal auf den des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG zu schließen, erscheint verfehlt. Der Hinweis- und Informationsfunktion des Zitiergebots wird also nur entsprochen, wenn das Grundrechtszitat dergestalt im Änderungsgesetz erfolgt, dass es Teil des Stammgesetzes wird. Nur dies entBVerfGE 113, 348, 367, wonach das Änderungsgesetz, das § 33 a in das Niedersächsische Sicherheits- und Ordnungsgesetz einfügen sollte, als Verstoß gegen das Zitiergebot gewertet wurde; vgl. Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 500. 131  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 132  Siehe oben A. II. 2. 133  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 134  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 501. 135  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 136  Schwarz (Fn. 8), S. 124. 137  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 138  Guckelberger, Übergang zur elektronischen Gesetzesverkündung, DVBl 2007, 985, 986. 139  BVerfGE 16, 1, 17; 40, 237, 252 f., 255; 65, 283, 291. 140  Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1987, S. 132, 136; Ziegler, Der verschollene Bebauungsplan, DVBl 2006, 1356, 1358.

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

spricht der aus dem Gebot der Rechtsklarheit fließenden Hinweis- und Informationsfunktion des Zitiergebots.141 An dieser Stelle sei auch an die Kritik erinnert, die der Änderungsgesetzgebung gemeinhin seit jeher und mit der wachsenden „Gesetzes- und Änderungsflut“142 auch immer stärker anhaftet. Da die meisten neuen Vorschriften keine Rechtsneuschöpfungen, sondern zumeist Rechtsänderungen sind, verfügen diese Fragen auch über eine wiederkehrende Aktualität.143 Änderungsgesetze werden im Rahmen der Gesetzgebungslehre teilweise für völlig unverständlich gehalten, da sie häufig „nur aus einzelnen Worten“ oder „Satzfetzen“ bestünden, die erst in der Zusammenschau mit dem Stammgesetz einen Sinn ergäben.144 „Diese Technik verschleiert nicht selten eine damit einhergehende Verschlechterung der Rechtslage.“145 Unabhängig davon, ob dies tatsächlich für jede Änderung des vorhandenen Rechts zutrifft, kann bei einer Nennung der eingeschränkten Grundrechte ausschließlich im Änderungsgesetz durchaus von einem „Verstecken“ der Beeinträchtigung vor den Betroffenen gesprochen werden.146 In einem speziellen Fall liegt der Verstoß gegen die Zitierpflicht relativ klar auf der Hand. In Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht kommt der Gesetzgeber schon der Warn- und Besinnungsfunktion des Zitiergebots nicht nach, wenn er bei eigentlich zitierpflichtiger Änderung eines Gesetzes weder das Stamm- noch das Änderungsgesetz mit einem Grundrechtszitat versieht, weil das betroffene Grundrecht bereits im vorhandenen Stammgesetz – beispielsweise in einem Sammelzitat – genannt ist, diese Nennung aber auf einer schon zuvor bestehenden Einschränkung oder Einschränkungsermächtigung beruht.147 Auf diese Weise kann der Gesetzgeber 141  Schwarz

(Fn. 8), S. 124; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 45. Gesetzesänderung, 2004, S. 2, so auch Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 9 ff. 143  Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 105. 144  Schneider, Gesetzgebung, 3. Auflage, 2002, Rn. 451. Aus diesem Grund hat das Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Empfehlungen zur Gestaltung von Änderungsgesetzen verfasst, die der Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit der Rechtsordnung dienen sollen, vgl. Rn. 492 ff. 145  Schneider (Fn. 144), Rn. 451. 146  Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 147  BVerfGE 113, 348: „Führt die Änderung eines Gesetzes zu neuen Grundrechts­ einschränkungen, ist das betroffene Grundrecht im Änderungsgesetz auch dann gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG zu benennen, wenn das geänderte Gesetz bereits eine Zitiervorschrift im Sinne dieser Bestimmuung enthielt.“ Daher verstoßen § 5 Abs. 2 Nr. 11 und § 7 Abs. 1 NWVerfSchG wegen der neu geschaffenen Möglichkeit der Einschränkung von Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG gegen das Zitiergebot; vgl. Huber, Trojaner mit Schlapphut – Heimliche „Online-Durchsuchung“ nach dem Nordrhein-Westfälischen Verfassungsschutzgesetz, NVwZ 2007, 880, 884. 142  Brandner,



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts129

weder den einzelnen Abgeordneten noch die Öffentlichkeit davor warnen, dass durch die Gesetzesänderung eine weitere Grundrechtseinschränkung droht.148 Schließlich stellt sich auch bei der Änderungsgesetzgebung erneut die Frage, ob ein Sammelzitat der Grundrechte – häufig im vorletzten Artikel eines Änderungsgesetzes149 – dem verfassungsrechtlichen Zitiergebot gerecht wird. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Form des Zitats in der Vergangenheit gebilligt.150 Da Änderungsgesetze aber genauso wie Stammgesetze Teil der Gesetzgebung sind,151 kann für sie nichts anderes gelten, als dass das Einzelzitat dem Sammelzitat mit Blick auf das Gebot rechtsstaatlicher Normklarheit vorzuziehen ist.152 4. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Trotz der leidenschaftlichen Debatten um ein Zitiergebot in den Anfangsjahren des Grundgesetzes, ist die „dogmatische und rechtspolitische Bedeutung (des Zitiergebots) bisher eher bescheiden geblieben“.153 Das liegt zuvorderst an der äußerst restriktiven Auslegung des Tatbestands des Zitiergebots durch das Bundesverfassungsgericht.154 Diese langjährige Zurückhaltung beruht wohl auf einer Vermeidung des Eintritts der Rechtsfolgen einer Verletzung des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG.155 In der Tat herrscht bis heute keine Einigkeit über diese Rechtsfolgen.156 a) Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung Während in den ersten Jahren des Grundgesetzes der überwiegende Teil des Schrifttums und wohl auch das Bundesverfassungsgericht im Fall der Missachtung des Zitiergebots die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Norm annahmen,157 gingen andere Autoren beim Zitiergebot von einer „un148  Singer

(Fn. 7), DÖV 2007, 496, 501. oben Fn. 92. 150  BVerfGE 35, 185, 189: „Es bedurfte keiner besonderen Hervorhebung im Text des Änderungsgesetzes, um zu beweisen …“, vgl. Selk (Fn. 12), JuS 1992, 816, 820. 151  Brandner (Fn. 142), S. 15. 152  Siehe oben A. II. 3. a). 153  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 63. 154  Siehe oben A. 155  Dreier (Fn. 62), Art. 19 Abs. 1 Rn. 29; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 502. 156  Siehe dazu exemplarisch die Aufbereitung bei Stern (Fn. 8), S. 758 und Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Abschnitt III. 149  Siehe

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

verbindlichen Sollvorschrift“ aus, deren Verletzung die Wirksamkeit des einschränkenden Gesetzes unangetastet lassen sollte.158 Begründet wurde dies mit einem „übertriebenen Formalismus“ und einer „unnötigen Erschwerung der Arbeit des Gesetzgebers“.159 Gegen diese Deutung bestanden schon immer erhebliche Bedenken.160 Zum einen ist sie mit dem eindeutigen Wortlaut des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar. Der Gesetzgeber „muss“ die eingeschränkten Grundrechte nennen. Den Imperativ haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Grundrechtsteil bewusst gewählt, „platonische Wunschvorstellungen“161 waren damit nicht gemeint.162 Für diese Auslegung spricht auch die systematische Stellung des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG; umgeben vom Allgemeinheitsgebot des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG und der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, die unbestritten die Nichtigkeit zuwiderlaufender Gesetze nach sich ziehen.163 Gegen die Auffassung, die im Zitiergebot einen „verbindlichen Verfassungsbefehl“ sieht, kann auch nicht vorgebracht werden, die Legislativgewalt dürfe mit ihrem Bekenntnis zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG die anderen Gewalten nicht binden.164 Diesem letztgenannten Standpunkt ist zwar insoweit beizupflichten, als der Gesetzgeber durch das Grundrechtszitat seinen Willen zum Einschränkungscharakter des Gesetzes manifestiert.165 Dieser Wille ist im Verhältnis zur Exekutive und Judikative aber nicht verbindlich. Denn die Auslegung von Gesetzen ist in einem Rechtsstaat nach Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 97 Abs. 1 GG Aufgabe der Gerichte. Sie haben ein uneingeschränktes richterliches Prüfungsrecht, wobei lediglich das Bundesverfassungsgericht zur „Kassation“ von Gesetzen befugt ist.166 Auch die Verwaltung kann trotz eines im Gesetz vorhandenen Grundrechtszitats das von ihr anzuwendende 157  Wie bereits ausgeführt, hat das BVerfG in den ersten 56 Jahren seines Bestehens nicht einmal einen Verstoß gegen das Zitiergebot festgestellt. 158  Klein, in: v. Mangoldt / Klein, GG-Kommentar, Bd. I, 2. Auflage, 1957, Art. 19 Anm. IV 3; Barella, Behandlungszwang bei untergebrachten Personen?, NJW 1959, 2291, 2292; Hesse, Die Bindung des Gesetzgebers an den Art. 2 I GG bei der Verwirklichung der „verfassungsmäßigen Ordnung“, 1968, S. 101. 159  Klein (Fn. 158), Art. 19 Anm. IV 3. 160  Stern (Fn. 8), S. 758. 161  Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365. 162  Stern (Fn. 8), S. 758. 163  Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365; dort heißt es weiter: „Hätte der Verfassungsgeber die Bestimmung des Zitiergebots, die zwischen diesen zwingenden Fundamentalnormen des Grundrechtsschutzes steht, lediglich als lex imperfecta, gleichsam als bloß beschwörenden Appell an eine sich in Gutwilligkeit übende Legislative ausgestalten wollen, so hätte dies doch einer ausdrücklichen Ermächtigung bedurft.“ 164  Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365, 366. 165  Siehe oben A. II. 2. 166  Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365, 366.



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts131

Gesetz auf seine „materielle Grundrechtsmäßigkeit“ hin überprüfen, eine „Aussetzungs- oder gar Verwerfungskompetenz“ geht mit diesem „exekutivischen Normprüfungsrecht“ gleichwohl nicht einher.167 Obwohl die Legislative demnach mit der Zitierung die Exekutive und Judikative auf Grund des Gewaltenteilungsprinzips nicht binden darf, ist das Zitiergebot „als Direktive des Grundgesetzes an den Gesetzgeber“ verbindlich.168 Der „Zwang zum Bekenntnis“169, dass das beschlossene Gesetz ein Grundrecht einschränkt, dient in erster Linie der Selbstbesinnung des Gesetzgebers, im Grunde aber der Verantwortungsübernahme170 der direkt demokratisch legitimierten Legislativgewalt. Nicht gefolgt werden kann daher der Auffassung, die an den Verstoß gegen das gebotene Grundrechtszitat keine Sanktionen knüpft, sondern lediglich von einer bloßen „Ordnungs- oder Sollvorschrift“171 ausgeht. Diese Auffassung wird gleichwohl – soweit ersichtlich – heute nicht mehr ernsthaft vertreten.172 b) Materielle Bedeutung des Zitiergebots Die heutige Diskussion um ein Zitiergebot bezieht sich auf die Frage, ob es sich dabei lediglich um eine Formvorschrift handelt, die ausschließlich der „formalen Sicherung der Grundrechte gegenüber dem Gesetzgeber“ dient173 oder ob sich das Zitiergebot zwar aus einer „Formvorschrift ergibt, aber aus einer für den materiellen Grundrechtsschutz bedeutsamen“174. Diese Debatte resultiert aus einer teilweise immer noch währenden „Fixierung der Grundrechtsdogmatik auf materiell-rechtliche“ Anforderungen.175 Formell-rechtlichen Sicherungsmechanismen wie dem Zitiergebot wird zum Teil nach wie vor die gebotene Aufmerksamkeit versagt und eine lediglich dienende – von den materiell-rechtlichen Wertungen losgelöste – Funktion zugesprochen.176 Dieser heutige Diskurs ist überwiegend eine Fortsetzung 167  Denkbar ist lediglich die Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens durch die Verwaltungsspitze im Rahmen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, vgl. Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365, 366. 168  Scheuner, Aussprache zu den Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 103, 125; Bethge (Fn. 13), DVBl 1972, 365, 366. 169  Kiefersauer (Fn. 50), JR 1952, 81, 82. 170  So auch Kiefersauer (Fn. 50), JR 1952, 81, 82. 171  Insbesondere Klein (Fn. 158), Art. 19 Anm. IV 3. 172  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47 Fn. 1. 173  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 40; Krebs (Fn. 97), Art. 19 Rn. 14. 174  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 92. 175  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 63. 176  Symptomatisch hierfür aus der älteren Rechtsprechung BVerfG NJW 1999, 3399, 3400: „Als Formvorschrift bedarf die Norm enger Auslegung, wenn sie nicht

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

des früheren, der das Zitiergebot als ledigliche Sollvorschrift betraf. Dies ist augenscheinlich schon daran erkennbar, dass auf die die damalige Diskussion prägenden Begrifflichkeiten wie z. B. die einer „bloßen Ordnungs­ vorschrift“177 rekurriert wird, diese aber in einen neuen Kontext eingebettet werden. Stand früher der zwingende Charakter und damit die Durchsetzbarkeit des Zitiergebots im Vordergrund, wird jetzt die Durchschlagskraft des formellen Erfordernisses auf die materielle Ebene thematisiert. Die Anreicherung der früheren Debatte erfolgt – der heutigen Zeit entsprechend – insbesondere mit europarechtlichen Erwägungen. Der Einfluss des Europarechts und die damit einhergehende nationale Vorstellung von einem zeitgemäßen, eine rechtsvergleichende Betrachtungsweise einschließenden Grundrechtsverständnis stehen hierbei der Einordnung des Zitiergebots als „bloße Ordnungsvorschrift“ entgegen.178 Die Annahme, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG diene ausschließlich dazu, durch formell-rechtliche Anforderungen das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren transparenter zu machen und damit ohne größere Komplikationen ablaufen zu lassen, greift zu kurz.179 Das Zitiergebot führt auch zu einer materiellen Anreicherung und Sicherung der Grundrechte, indem der öffentliche Widerstand gegen ein grundrechtseinschränkendes Gesetz auf Grund von Publizität wächst180 und damit dessen Eingriffsintensität minimiert wird.181 Folglich schlägt das Zitiergebot auch auf den materiellen Grundrechtsschutz durch, indem es der „Verhältnismäßigkeit durch Verfahren“182 oder mit anderen Worten der materiellen Gewährleistung des Übermaßverbots183 dient.

zu einer leeren Förmlichkeit erstarren und den die verfassungsmäßige Ordnung konkretisierenden Gesetzgeber in seiner Arbeit unnötig behindern soll …“, vgl. Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 63 Fn. 142. 177  In diesem Sinne Klein (Fn. 158), Art. 19 Anm. IV 3 und Anmerkung bei Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 100 Fn. 221, der Ordnungs- und Sollvorschrift in diesem Zusammenhang gleichsetzt. 178  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 91; Held, Der Grundrechtsbezug des Verwaltungsverfahrens, 1984; Lerche / Schmitt-Glaeser / Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984; Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Auflage, 1975. 179  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 90. 180  So nur BVerfGE 113, 273, 304 ff. 181  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 93. 182  Raue, Müssen Grundrechtsbeschränkungen verhältnismäßig sein?, AöR 131 (2006), S. 79, 97. 183  Huber (Fn. 6), Art. 19 Abs. 1 Rn. 92.



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts133

c) Dogmatische Konsequenzen des Verstoßes gegen das Zitiergebot Den größten Reiz machen wiederum die dogmatischen Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit einer Norm auf Grund der Verletzung des Zitiergebots aus.184 Vor dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit muss gleichwohl stets in einem vorangehenden Schritt geprüft werden, ob die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung in der Weise besteht, dass das nicht zitierte Grundrecht durch das Gesetz nicht eingeschränkt wird bzw. das Gesetz hierzu nicht ermächtigt.185 Dies ist nur denkbar, wenn das Gesetz über einen Anwendungsbereich verfügt, der über das dem Zitiergebot unterfallende, aber nicht zitierte Grundrecht hinausreicht.186 Ist eine derartige Auslegung nicht möglich, weil die Norm dann keinen Sinn mehr ergäbe, ihren Zweck verfehlen würde oder keinen Anwendungsbereich mehr hätte, ist die Norm verfassungswidrig.187 Dies hat im Einklang mit der traditionellen deutschen Lehre von der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze188 zur Folge, dass die jeweilige Norm ipso iure, d. h. ex tunc, bei nachkonstitutionellen Gesetzen also ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses, nichtig ist.189 Aus diesem Grund hebt das Bundesverfassungsgericht verfassungswidrige Gesetze nicht auf, sondern stellt lediglich nach §§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG deklaratorisch deren Nichtigkeit fest.190 Allerdings hat sich das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit in Anbetracht der Wirkungen einer Nichtigkeitserklärung zu weiteren „Ent­ scheidungsvarianten“191 neben der ex-tunc-Nichtigkeit von verfassungswidri184  Dazu Schwarz (Fn. 8), S. 131 ff.; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 502 f.; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47; Stern (Fn. 8), S. 758 f.; Röhl (Fn. 26), AöR 81 (1956), S. 195, 213 f. 185  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 502; Schwarz (Fn. 8), S. 128, 131. 186  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 502. 187  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 502. 188  Schwarz (Fn. 8), S. 132; Korioth, in: Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Auflage, 2015, Rn. 379; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 502. 189  Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S.  69 ff.; Bettermann, Richterliche Gesetzesbindung und Normenkontrolle, in: Müller (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 593 ff.; Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im öffentlichen Recht, 1995, S. 105: „Die Urteile der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung stellen nur fest, was Recht ist, und schaffen oder ändern es nicht.“ 190  Korioth (Fn. 188), Rn. 379; Schwarz (Fn. 8), S. 132. 191  Rupp-von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit und gesetzgebende Gewalt, AöR 102 (1977), S. 1, 19.

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

gen Normen veranlasst gesehen.192 Im Falle von Verletzungen des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG durch den Ausschluss bestimmter Personengruppen von einer Begünstigung193 stellt das Bundesverfassungsgericht regelmäßig lediglich die Verfassungswidrigkeit der jeweiligen Norm fest.194 Es sei Aufgabe des Gesetzgebers im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit zu wählen, ob er die Begünstigung generell abschafft oder aber den Kreis der Begünstigten erweitert.195 Durch die bloße Unvereinbarkeitserklärung soll der Gesetzgeber also – häufig unter Wahrung einer vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist – die Gelegenheit erhalten, den verfassungswidrigen Zustand selbst zu beseitigen.196 Das für verfassungswidrig erklärte Gesetz wird hierbei bis zur Nachbesserung des Gesetzgebers lediglich suspendiert.197 Die verfassungsgerichtliche Unvereinbarkeitserklärung beschränkt sich jedoch nicht auf die Verletzungen des Gleichheitssatzes.198 Auch in anderen Fällen199 hat das Bundesverfassungsgericht bereits von der Nichtigerklärung der verfassungswidrigen Norm Abstand genommen und sich auf die Unvereinbarkeitserklärung beschränkt, wenn auf Grund der Nichtigerklärung eine Lücke in der Rechtsordnung entstünde, die einen Zustand hervorbrächte, der von der Verfassung noch weiter entfernt wäre als der bisherige.200 Die befristete Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm ist dann akzeptabler als ihr Fehlen.201 Aus diesem Grund wird die verfassungswidrige Norm vorerst nicht mittels einer Anwendungssperre suspendiert, sondern dieser Zustand 192  Schwarz

(Fn. 8), S. 133. als im Falle der Diskriminierung einer bestimmten Personengruppe durch eine gesetzliche Regelung, die zwingend die Nichtigkeit der Regelung nach sich zieht, handelt es sich in diesen Fällen um die Begünstigung einer und Belastung einer anderen Personengruppe, wobei weder die Begünstigung noch die Belastung, sondern nur die unterschiedliche Behandlung beider Personengruppen gegen den Gleichheitssatz verstößt, vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Auflage, 2010, § 20 Rn. 90. 194  Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG-Kommentar, Stand: 48. EGL, 2016, § 78 Rn. 69. 195  BVerfGE 22, 349, 361 f.; 92, 158, 186; 93, 121, 148; 97, 35, 48; 99, 69, 83; 101, 397, 409; 105, 73, 133; Maurer (Fn. 193), § 20 Rn. 91. 196  Schwarz (Fn. 8), S. 133. 197  Schwarz (Fn. 8), S. 135. 198  Maurer (Fn. 193), § 20 Rn. 91. 199  BVerfGE 91, 186 ff. zum sog. „Kohlepfennig“ und BVerfGE 93, 121 ff.; 165, 178 f. zu Einheitswerten im Rahmen der Vermögens- und Erbschaftssteuer. 200  BVerfGE 83, 130, 154; 85, 386, 401; 90, 60, 104 f.; 99, 216, 244; 101, 106, 131; 109, 190 235 f.; 111, 191, 224; 119, 331, 382 f.; Schwarz (Fn. 8), S. 134; Lerche, Aktuelle Fragen zur verfassungsgerichtlichen Anordnung der Weitergeltung verfassungswidriger Normen, Bröhmer (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Festschrift für Georg Ress, 2005, S. 1221, 1226. 201  Schwarz (Fn. 8), S. 134. 193  Anders



A. Die Bezeichnung des eingeschränkten Grundrechts135

wird bis zur gesetzgeberischen Neuregelung hinausgeschoben.202 Für eine Übergangszeit handelt es sich bei der verfassungswidrigen Norm demnach vor dem Hintergrund von Rechtssicherheit und Vertrauensschutz um uneingeschränkt geltendes Recht.203 In der Tat kam es für das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Folgen der Missachtung des Zitiergebots lange Zeit „nicht zum Schwur“.204 Das verwundert kaum, hat es doch den Tatbestand der Zitierpflicht stets sehr restriktiv ausgelegt.205 Mit der Entscheidung zum Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes206 ist in dieser Hinsicht aber eine Wende eingetreten, die sich der von Herzog stets propagierten „flexiblen Rechts­ folgenlösung“207 anschließt. Danach sei „die Nichtbeachtung des Zitiergebots für die Wirksamkeit des angegriffenen Gesetzes ohne Konsequenzen“.208 Da das Gericht zu einschlägigen Rechtsfragen des Zitiergebots noch nicht judiziert und sich damit eine unterschiedliche Staatspraxis herausgebildet habe, führe „aus Gründen der Rechtssicherheit die Nichtbeachtung des Zitiergebots erst bei solchen grundrechtseinschränkenden Änderungsgesetzen zur Nichtigkeit, die nach dem Zeitpunkt der Verkündung dieser Entscheidung beschlossen werden“.209 Hinsichtlich der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Zitiergebot wird also ab dieser Bundesverfassungsgerichtsentscheidung mit zweierlei Maß gemessen. Gesetze, die nach Verkündung des Urteils erlassen werden und die Zitierpflicht missachten, trifft das Schicksal der ex-tunc Nichtigkeit. Gesetze, die vor Verkündung des Urteils erlassen wurden und das Zitiergebot nicht beachten, trifft überhaupt keine Sanktion.210 Die Nichtigkeitsfolge soll demnach lediglich ex nunc wirken und nur Gesetze erfassen, die nach der geänderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erlassen werden.211 Aus rechtspraktischer Sicht ist diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen, verhindert sie doch nicht nur die Nichtigkeit des Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes, sondern auch die zahlreicher vorhandener Gesetze212 und damit aus Gründen der Rechtssicherheit einen „partiellen Kahlschlag in den 202  Schwarz

(Fn. 8), S. 134. (Fn. 8), S. 135. 204  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 503. 205  Siehe oben A. 206  BVerfGE 113, 348, 367. 207  Herzog, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Altauflage, Art. 19 Abs. 1 Rn. 60 (zitiert nach Stern [Fn. 8], S. 759 Fn. 308). 208  BVerfGE 113, 348, 367. 209  BVerfGE 113, 348, 367; Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47. 210  Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 503. 211  Stern (Fn. 8), S. 759. 212  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47. 203  Schwarz

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Gesetzesbüchern von Bund und Ländern“213. Gleichzeitig stärkt sie aber auch das Zitiergebot für die Zukunft, indem die Nichtigkeitsfolge eines Verstoßes und damit die Durchschlagskraft der Zitierpflicht bestätigt wird.214 Dogmatisch lässt sich diese Durchbrechung und ungleiche Heranziehung der Nichtigkeitslehre gleichwohl kaum begründen.215

B. Die Bezeichnung der Ermächtigung nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Die Setzung abstrakt genereller Regelungen ist nach der Konzeption des Grundgesetzes in erster Linie Aufgabe des demokratisch legitimierten Gesetzgebers.216 Art. 80 GG statuiert eine Ausnahme von diesem Grundsatz, indem er das Verordnungsrecht der Exekutive zuerkennt.217 Als „Durch­ brechung des Gewaltenteilungsprinzips“218 liegt Art. 80 GG somit an der „Schnittstelle von Gesetzgebung und Exekutive“.219 Rechtstechnisch zählt der Erlass von Rechtsverordnungen sowohl zur Gesetzgebung als auch zum Gesetzesvollzug.220 Die Verordnungsbefugnis der Exekutive ist gleichwohl eine ausschließlich von der Rechtsetzungsmacht der Legislative abgeleitete.221 Ein originär exekutives Verordnungsrecht sieht das Grundgesetz nicht vor.222 Das Parlament bleibt unbestritten „Herr der Rechtsetzung“223 und 213  Singer

(Fn. 7), DÖV 2007, 496, 503. (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 503. 215  Remmert (Fn. 78), Art. 19 Abs. 1 S. 2 Rn. 47; Singer (Fn. 7), DÖV 2007, 496, 503. 216  BVerfGE 34, 52, 59; Zoller, Über die Bedeutung des Art. 80 GG, 1971, S. 3; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, 1999, Rn. 525; Schack, Die Verlagerung der Gesetzgebung im gewaltenteilenden Staat, in: Bussmann / Grass (Hrsg.), Festschrift für Karl Haff, 1950, S. 332, 336. 217  Zoller (Fn. 216), S. 3. 218  Zoller (Fn. 216), S. 2; Fröhler / Mörtel, Probleme der Verordnungsermächtigung nach Art. 80 GG, 1976, S. 47. 219  Brenner, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. I, 6. Auflage, 2010, Art. 80 Abs. 1 Rn. 7. 220  Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage, 2011, § 4 Rn. 19; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 7. 221  Schwanengel, Einwirkungen der Landesparlamente auf die Normsetzung der Exekutive, 2002, S. 11 ff. 222  Ziekow, Verordnungsermächtigungen mit supra- und internationalen Bezügen, JZ 1999, 963, 964; Studenroth, Einflussnahme des Bundestages auf Erlass, Inhalt und Bestand von Rechtsverordnungen, DÖV 1995, 525, 526; Trips, Das Verfahren der exekutiven Rechtsetzung, 2006, S. 64 ff.; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 7. 223  Wilke, Bundesverfassungsgericht und Rechtsverordnungen, AöR 98 (1973), S. 196, 213. 214  Singer



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung137

kann Rechtsverordnungen „jederzeit durch Gesetz außer Kraft setzen“.224 Damit ist das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung durch das Grundgesetz prinzipiell geklärt.225 Von einem echten Konkurrenzverhältnis kann hierbei keine Rede sein.226 Das Gesetz wirkt gegenüber der Rechtsverordnung absolut.227 Aus diesem Grund stellt Art. 80 Abs. 1 GG explizite Anforderungen für den Erlass von Rechtsverordnungen auf.228 Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG enthält hierbei die spezielle Verpflichtung, die Rechtsgrundlage in der erlassenen Rechtsverordnung anzugeben. Adressat dieser Regelung sind nach Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG die Bundesregierung, die Bundesminister und die Landesregierungen, soweit sie durch Bundesrecht zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt sind.229 Auch dieses verordnungsrechtliche Zitiergebot ist wie das grundrechtliche in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG bisher nicht auf die ihm vermeintlich gebührende Aufmerksamkeit in Rechtsprechung und Wissenschaft gestoßen.230 Das mag nicht zuletzt an dem auf den ersten Blick nur formalen Ordnungscharakter dieser Vorschriften liegen. Anders als bei der Zitierpflicht in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG hat sich das Bundesverfasssungsgericht allerdings ausnahmslos für die Nichtigkeit der Rechtsverordnung bei Missachtung des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG ausgesprochen231 mit der nicht lediglich an formalen Gesichtspunkten ausgerichteten Begründung, dass das Zitiergebot ein „unerlässliches Element des demokratischen Rechtsstaats“ sei.232 Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1999 hatte eine verstärkte Auseinandersetzung mit dieser Verfassungsbestimmung zur Folge, womit auch eine wissenschaftliche Aufwertung derselben in der jüngeren Vergangenheit einherging.233 224  Ossenbühl, Rechtsverordnung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VIII, 2. Auflage, 1996, § 64 Rn. 14. 225  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 14. 226  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 14. 227  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 14. 228  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 14. 229  Schwarz (Fn. 8), S. 149. Die Verordnungsgebung auf Grund von Ländergesetzen erfasst Art. 80 Abs. 1 GG nicht, vgl. Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 7. 230  Schwarz (Fn. 8), S. 149. 231  BVerfGE 101, 1, 41, ebenso VGH Baden-Württemberg, ESVGH 7, 49, 54; VGH Kassel NJW 1981, 779, 779 f. und VGH Mannheim NVwZ-RR 1998, 371, 372. Nach BVerfGE 113, 348, 367 ist bei einem Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG lediglich von einer Nichtigkeit mit Wirkung ex nunc auszugehen, siehe oben A. II. 4. 232  BVerfGE 101, 1, 41 ff. unter Verweis auf Bartlsperger, Zur Konkretisierung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien, VerwArch 58 (1967), 249, 270. 233  Mößle, Das Zitiergebot, BayVBl 2003, 577 ff.; Füßer / Stöckel, Das Zitiergebot des Art. 80 I 3 GG und Probleme des Erlasses von „komplexen Artikelverordnungen“, NVwZ 2010, 414 ff.; Tillmanns, Tierschutz durch Rechtsverordnung – Die Hennenhaltungsverordnung auf dem Prüfstand des BVerfG, NVwZ 2002, 1466 ff.;

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Bedeutung des Zitiergebots ist die praktische Relevanz von Rechtsverordnungen seit jeher unbestritten. Die meisten Rechtsverordnungen gibt es in den Bereichen des Finanz- und Wirtschaftsrechts sowie des Verkehrs- und Sozialrechts, also in eher rechtstechnischen Bereichen, die in besonderem Maße auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen angelegt sind.234 Dabei wird deutlich, worauf das Institut der Rechtsverordnung angelegt ist. Die Verordnungsgebung dient zuvorderst der „Entlastung des parlamentarischen Gesetzgebers“.235 In einer modernen Wissens- und Informationsgesellschaft kann das Parlament die Fülle der bereits bestehenden und künftig hinzutretenden normativen Aufgaben nicht allein bewältigen, weshalb eine partielle Übertragung von Rechtssetzungsgewalt auf die Exekutive – wenngleich innerhalb bestimmter Grenzen – unerlässlich ist.236 Das Recht der Verordnungsgebung ermöglicht aber nicht nur, dass sich der Gesetzgeber auf die wesentlichen politischen Entscheidungen konzentrieren kann, sondern auch, dass die betroffenen Materien im Idealfall mit größerem Sachverstand und vorallem zeitnah geregelt werden.237

I. Geschichtlicher Hintergrund des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Das Recht der Verordnungsgebung kann auf eine durchaus wechselvolle Geschichte zurückblicken.238 Art. 80 Abs. 1 GG war mit der Entstehung des Grundgesetzes 1949 nicht nur ein „Novum“ in der deutschen Verfassungsgeschichte, sondern stellte auch den in der Weimarer Zeit noch unvorstellbaren Versuch dar, den Grenzverlauf zwischen Gesetz und Verordnung Härtel, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2007, 431, 437; Müller-Terpitz, Rechtsverordnungen auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts, DVBl 2000, 232 ff.; Schwarz, Das Zitiergebot bei Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG), DÖV 2002, 852 ff.; Kauch / Düsing, Anforderungen an nationale Rechtsverordnungen zur Konkretisierung von EG-Recht im Lichte des Art. 80 Abs. 1 GG, AUR 2003, 69 ff. 234  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 12; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 4. 235  BVerfGE 7, 267, 274; 8, 274, 311, 321; 42, 191, 203; 55, 207, 228, 241 f.; Triepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, 1942, S. 111; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 2. 236  Lepsius, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht. Ermöglichung oder Begrenzung von Innovationen?, VVDStRL 63 (2004), S. 264, 305; Ipsen, Wissenschaftliche und technische Entwicklungen, VVDStRL 48 (1990), S. 177, 186 f.; Kloepfer, Ins­ trumente des Technikrechts, in: Schulte (Hrsg.), Handbuch des Technikrechts, 2003, S. 111, 137; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 2. 237  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 8. 238  Schmidt, Die Beteiligung des Bundes beim Erlass von Rechtsverordnungen, 2002, S.  17 ff.; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 1.



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung139

ausdrücklich in der Verfassung zu regeln.239 Die Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr 1919 enthielt weder eine ausdrückliche Regelung der Verordnungsgebung noch eine damit einhergehende mit dem heutigen Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG vergleichbare Vorschrift.240 Die Weimarer Staatspraxis war dennoch von einer großzügigen Handhabung des Verordnungsrechts geprägt.241 Aus diesem Grund befasste sich bereits der Deutsche Juristentag im Jahr 1921 mit der Frage, ob nicht neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Rechtsverordnung in die Reichsverfassung aufgenommen werden sollten.242 Schlussendlich wurde diese Frage verneint.243 Allerdings nahm bereits die damalige Staatsrechtslehre mit Blick auf eine Zitierpflicht an, dass sich aus der Weimarer Reichsverfassung der ungeschriebene Grundsatz eines Zitiergebots in der Form ergäbe, dass in Durchführungsverordnungen die gesetzliche Ermächtigung anzugeben sei, es sei denn, diese sei offenkundig, stillschweigend oder gewohnheitsrechtlich gegeben.244 Die Staatspraxis der Weimarer Zeit war – über die großzügige Verordnungsgebung hinaus – geprägt von einer großen Anzahl an „Ermächtigungsgesetzen“, die zum Teil ein Abweichen von den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung zuließen.245 Durch verfassungsänderndes Gesetz konnte der Exekutive die Befugnis verliehen werden, Bestimmungen der Verfassung komplett außer Kraft zu setzen.246 All diese Entwicklungen deuteten schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik auf einen zunehmenden Notstand hin.247

239  Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 642; Mößle, Inhalt, Zweck und Ausmaß, 1990, S. 9. 240  Schwarz (Fn. 8), S. 150; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 1. 241  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 3. 242  Triepel, „Empfiehlt es sich, in die Reichsverfassung neue Vorschriften über die Grenzen zwischen Gesetz und Verordnungsrecht aufzunehmen?“, in: Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentags, 1922, S. 11, 24, 25. 243  Mößle (Fn. 239), S. 24; Magiera, Allgemeine Regelungsgewalt („Rechtsetzung“) zwischen Parlament und Regierung, Der Staat 13 (1974), 1.; „Der Umfang ihrer Zulässigkeit (von Rechtsverordnungen) kann durch eine zureichende Formulierung in einer geschriebenen Verfassung kaum abgegrenzt werden …“, „Die genauere Absteckung der Grenzen zwischen Gesetz und Verordnung ist der Wissenschaft und der Praxis zu überlassen.“, vgl. Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentags, 1922, S. 53 bis 57. 244  Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 266; Schwarz (Fn. 8), S. 150. 245  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 11; Schwarz (Fn. 8), S. 150. 246  Jacobi, Die Rechtsverordnung, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 1932, S. 236, 240; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 11. 247  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 3.

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Die Weimarer Praxis der Verordnungsgebung wurde in der nationalsozialistischen Phase zum „Hebel für eine grundlegende Verfassungsver­ schiebung“.248 Das Reichsgesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933249 räumte der Reichsregierung die Befugnis ein, auch Gesetze im formellen Sinne zu erlassen.250 Dies war das Ende delegierter Legislativgewalt; zwischen Gesetzen und Verordnungen bestand nun kein Unterschied mehr.251 Bildhaft gesprochen hatte die Verordnungsgebung im Nationalsozialismus ihren „parlamentarischen Resonanzboden“ eingebüßt.252 Diese Entwicklung gipfelte im Reichsgesetz vom 30. Januar 1934253, welches die Reichsregierung faktisch zum Verfassungsgeber machte.254 Damit war die Aufgabe des gewaltengeteilten Rechtsstaats manifestiert.255 Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich der Bedeutungsgehalt des 1949 geschaffenen Art. 80 Abs. 1 GG.256 Er sollte der „Ermächtigungsgesetzgebung“ Vorschub leisten257 und damit eine „geräuschlose Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive“ verhindern.258 Art. 80 Abs. 1 GG lässt sich somit sowohl als Konkretisierung des aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Gewaltenteilungsgrundsatzes wie auch des Demokratie­ prinzips begreifen.259 Die Übertragung von Legislativgewalt sollte nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich sein und damit dem Parlament die „Flucht aus der Verantwortung“260 verwehren.261 In der Nachkriegszeit führten die instabilen Verhältnisse der Vergangenheit zu einem „ausgeprägten Misstrauen“ gegenüber der exekutivischen Normsetzung.262 Selbst das Bundesverfassungsgericht sprach von einer 248  Ossenbühl

(Fn. 224), § 64 Rn. 12. I, S. 141. 250  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 12. 251  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 4. 252  Uhle, Parlament und Rechtsverordnung, 1999, S. 67. 253  RGBl. I, S. 75. 254  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 4. 255  Uhle (Fn. 252), S. 64 ff.; Mößle (Fn. 239), S. 28 ff. 256  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 5; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 13. 257  Hasskarl, Die Begrenzung exekutiver Rechtsetzungsbefugnis unter besonderer Berücksichtigung der Bundesgesetzgebung, 1969, S. 16, 23 bis 27; Klein, Verordnungsermächtigungen nach deutschem Verfassungsrecht, in: Genzer / Einbeck u. a. (Bearb.), Die Übertragung rechtsetzender Gewalt im Rechtsstaat, 1952, S. 7, 13 ff. 258  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 13. 259  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 13. 260  BVerfGE 34, 52, 60. 261  BVerfGE 1, 14, 59 f.; Ossenbühl, Gesetz und Verordnung im gegenwärtigen Staatsrecht, ZG 1997, 305, 307 ff.; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 13. 262  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 13; Mößle (Fn. 239), S. 9. 249  RGBl.



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung141

„Macht“, die es „zu zügeln“ galt.263 Mit der Zeit kristallisierte sich aber heraus, dass angesichts der Herausforderungen und Regelungsnotwendigkeiten des modernen Wohlfahrtsstaats Rechtsverordnungen unverzichtbar sind,264 so dass heute nunmehr in Art. 80 Abs. 1 GG ein gelungener Kompromiss zwischen dem historisch begründeten Misstrauen und den Erfordernissen einer funktionierenden Staatspraxis gesehen wird.265

II. Funktionen des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG dient ganz unterschiedlichen Zwecken,266 wobei letztlich alle Funktionen im Dienste der Rechtsklarheit stehen.267 1. Qualifikationshilfe Zunächst ermöglicht die Angabe der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage die rein formale Qualifikation einer Rechtsvorschrift als Rechtsverordnung in Abgrenzung zu den Verwaltungsvorschriften, die ebenfalls der Rechtskonkretisierung dienen.268 Während Verwaltungsvorschriften regelmäßig nur Verwaltungsinterna, also Regelungen einer Behörde an eine nachgeordnete Behörde, betreffen, erzeugen Rechtsverordnungen allgemeinverbindliches Recht mit Außenwirkung.269 Im direkten Vergleich beider Regelungsarten muss nur die Rechtsverordnung von Verfassungs wegen die formal-gesetzliche Ermächtigungsnorm benennen.270 Somit dient das Zitiergebot als formale Qualifikationshilfe vor allem dem Rechtsanwender, die Rechtsverordnung schon rein äußerlich von Verwaltungsvorschriften zu unterscheiden und damit deren Rechtsnatur sicher zu bestimmen.271

33, 125, 157; Mößle (Fn. 239), S. 9. (Fn. 224), § 64 Rn. 13. 265  Mößle (Fn. 239), S. 9. 266  Nachfolgend wird der Systematisierung von Schwarz (Fn. 8), S. 150 ff. und Schnelle, Eine Fehlerfolgenlehre für Rechtsverordnungen, 2007, S. 78 in Hinblick auf die Funktionen des Zitiergebots gefolgt. 267  Nierhaus, in: Dolzer (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 86. EGL, Stand November 1998, Art. 80 Abs. 1 Rn. 322. 268  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 65; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 16. 269  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 5. 270  VGH Kassel NJW 1981, 779, 780; Schwarz (Fn. 8), S. 151. 271  VGH Kassel NJW 1981, 779, 780; Schwarz (Fn. 8), S. 151; Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 322; Wallrabenstein, in: von Münch (Begr.) / Kunig (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2012, Art. 80 Rn. 46. 263  BVerfGE

264  Ossenbühl

142

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

2. Kontrollfunktion Weiterhin dient das Zitiergebot der gubernativen Selbstkontrolle.272 Diese Funktion bezieht sich nicht nur auf das Gebot der rechtsstaatlichen Normklarheit, sondern hat insbesondere auch eine demokratische Komponente.273 Die Exekutive soll sich durch die Angabe der Ermächtigungsgrundlage – vergleichbar mit der Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG274 – „des ihr aufgegebenen Normensetzungsprogramms vergewissern und sich auf dieses beschränken“275. Der Verordnungsgeber wird durch das Zitiergebot also veranlasst, intensiv zu überlegen, welche Rechtsgrundlagen für die Rechtsverordnung in Betracht kommen, und auf welche dieser ggf. zahlreichen Rechtsgrundlagen er sich stützen will.276 Entsprechend dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes hat sich der Verordnungsgeber auch inhaltlich an den von der Ermächtigungsnorm gezogenen Rahmen zu halten.277 Stehen mehrere Rechtsgrundlagen für eine Verordnung im Raum, zitiert der Verordnungsgeber aber nur eine dieser Grundlagen, legt er sich damit verbindlich auf diese Ermächtigung fest.278 Bei einer gerichtlichen Überprüfung „kommt (es) also nicht darauf an, ob er sich überhaupt im Rahmen der delegierten Rechtsetzungsgewalt bewegt, vielmehr muss sich die von ihm in Anspruch genommene Rechtssetzungsbefugnis gerade aus den Vorschriften ergeben, die er selbst angeführt hat“.279 Durch die Angabe der Rechtsgrundlage legt der Verordnungsgeber somit den Prüfungsumfang für eine eventuelle spätere gerichtliche Kontrolle fest.280 Die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit

272  BVerfGE 101, 1, 42; BVerwG NJW 1983, 1922; Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 80 Rn. 31; kritisch zur Funktion der „gubernativen Selbstkontrolle“ Mößle (Fn. 233), BayVBl 2003, 577, 582. 273  Mößle (Fn. 233), BayVBl 2003, 577, 581. 274  Siehe oben A. II. 1.; kritisch zum Vergleich der Funktionen beider Zitiergebote Mößle (Fn. 233), BayVBl 2003, 577, 582: „Eine Parallele zum Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG wäre zumindest fragwürdig; die mit ihm verfolgte Absicht, Grundrechtseingriffe zu verhindern, ohne dass der Gesetzgeber sich darüber Rechenschaft abgelegt hat und dies ausdrücklich zu erkennen gibt, ist mit der Verpflichtung zum gewissenhaften Gebrauch einer Ermächtigung weder von der Situation noch von der Tragweite her zu vergleichen.“ 275  BVerfGE 101, 1, 42. 276  Schwarz (Fn. 8), S. 151. 277  BVerwG NJW 1983, 1922. 278  Ramsauer, in: Denniger / Hoffmann-Riem / Schneider / Stein (Hrsg.), Alternativer Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II., 3. Auflage, Stand Oktober 2001, Art. 80 Rn. 73. 279  BVerwG NJW 1983, 1922. 280  Schwarz (Fn. 8), S. 152.



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung143

der Rechtsverordnung erfolgt mithin nur in Hinblick auf die Vereinbarkeit mit der angegebenen Rechtsgrundlage („Konzentrationswirkung“).281 3. Rechtsschutzfunktion Schließlich hat das Zitiergebot eine Rechtsschutzfunktion,282 die am augenscheinlichsten im Dienste der Rechtsklarheit steht.283 Da es sich bei der Rechtsverordnung um delegierte Rechtsetzungsmacht handelt, sorgt die Zitierung für Transparenz und Nachprüfbarkeit der normativen Ableitungszusammenhänge.284 Zum einen wird für den betroffenen Adressatenkreis erkennbar, dass der Verordnungsgeber überhaupt von einer gesetzlichen Ermächtigung Gebrauch machen wollte.285 Zum anderen wird ihm die Prüfung erleichtert, ob sich der Verordnungsgeber an den zitierten gesetzlichen Rahmen seiner Ermächtigung gehalten hat.286 Hierbei ist dem Betroffenen nicht zuzumuten, dass er die gesamte Rechtsordnung daraufhin überprüft, ob sich die Rechtsverordnung auf Grundlagen stützen lässt, die sie selbst nicht angibt.287 Im Interesse einer „externen Richtigkeitskontrolle“288 muss die Verordnung vielmehr ihre Ermächtigungsgrundlage vollständig zitieren.289 Dieses strenge formale Erfordernis der umfänglichen Zitierung lässt sich mit der Entwicklung des Rechtsstaatsprinzips seit dem Jahr 1945 begründen.290 Die Gerichtsbarkeit sollte auf Grund der Erfahrungen aus der Vergangenheit eine stärkere Rolle im gewaltengeteilten Staatsgefüge einnehmen.291 Die Schaffung des Art. 19 Abs. 4 GG als „Schlussstein im Gewölbe des Rechtsstaats“292 korrespondiert buchstäblich mit dieser Entwicklung; nahezu jede hoheitliche Handlung sollte mittels eines „lückenlosen Indivi281  Schwarz

(Fn. 8), S. 152. (Fn. 8), S. 152; Mann (Fn. 272), Art. 80 Rn. 32. 283  Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 46. 284  BVerfGE 101, 1, 41. 285  Ramsauer (Fn. 278), Art. 80 Rn. 33. 286  BVerfGE 24, 184, 196; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 65; Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 322. 287  Spanner, Besprechung zu Bengl / Berner / Emmerig, Bayrisches Landesstrafund Verordnungsgesetz, 1957, DÖV 1957, 412. 288  Mann (Fn. 272), Art. 80 Rn. 31. 289  BVerfGE 101, 1, 41 ff. 290  Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 270. 291  v. Unruh, Verwaltungsgerichtsbarkeit im Verfassungssstaat, 1984; SchmidtAßmann, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 19 Abs. 4 Rn. 16; Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 270. 292  Thoma, Über die Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in: Wandersleb / Traumann (Hrsg.), Recht-Staat-Gesellschaft, Bd. III, 1951, S.  9 ff. 282  Schwarz

144

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

dualrechtsschutzes“ gerichtlich überprüfbar sein.293 Diese Rechtsweggarantie kann aber nur dann vollständig ihre Wirkung entfalten, wenn der Betroffene seine Rechtsansprüche auch sachgerecht verfolgen kann.294 Aus diesem Grund müssen beispielsweise Verwaltungsbehörden beim Erlass von Verwaltungsakten stets die Gründe für die jeweilige Maßnahme angeben, damit der Betroffene einschätzen kann, ob und mit welcher Argumentation ein Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat.295 Für die „untergesetzliche Rechtssetzung“ kann nichts anderes gelten, sie unterliegt gleichermaßen dem Gesetzmäßigkeitsprinzip und der „gerichtlichen Kontrolle“.296 Auch eine Rechtsverordnung muss demnach der „Begründungspflicht“ bzw. dem Rechtfertigungszwang nach außen Folge leisten.297 Sie muss alle relevanten Faktoren vor allem ihrer Existenz transparent und nachvollziehbar darlegen.298 Der Grundgesetzgeber hat hierfür das Mittel der Zitierpflicht auserkoren. Dass eine Rechtsverordnung überhaupt von einer Ermächtigungsnorm gedeckt ist, genügt demnach den heutigen rechtsstaatlichen Anforderungen nicht mehr.299 Das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG erweist sich damit in der jüngeren Verfassungsentwicklung „als ein notwendiges Korrelat des Gesetzmäßigkeitsprinzips, der Rechtsschutzgarantie sowie der gerichtlichen Gewalten­ kontrolle“300.

III. Anforderungen an die Angabe der Rechtsgrundlage Das Grundgesetz fordert in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG die Angabe der Rechtsgrundlage in der Rechtsverordnung. Somit bedürfen die beiden Komponenten der „Rechtsgrundlage“ und der „Angabe in der Rechtsverordnung“ einer näheren Untersuchung.301

293  Bartlsperger

(Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 270. (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 271. 295  BVerfGE 6, 32, 44; 40, 276, 286; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 8. Auflage, 2014, § 39 Rn. 2; Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 271. 296  Grzeszick, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 20 Rn. 71; Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 271. 297  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 45; näher dazu Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 37 ff. 298  Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 271. 299  Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 271. 300  Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 272. 301  Schwarz (Fn. 8), S. 153. 294  Bartlsperger



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung145

1. Zitierdichte Während in der Nachkriegszeit noch vereinzelt vertreten wurde, die Angabe des „Ermächtigungsgesetzes“ reiche für die Wahrung des Zitiergebots in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG aus,302 besteht heute kein Zweifel mehr, dass mit der „Rechtsgrundlage“ nicht das Gesetz als Ganzes, sondern die einzelne Delegationsvorschrift gemeint ist.303 Dies ergibt sich schon daraus, dass in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG von „Gesetz“ und in S. 3 von „Rechtsgrundlage“ die Rede ist.304 Verwendet der Gesetzgeber unterschiedliche Begriffe „in zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Sätzen“, bringt er damit zum Ausdruck, dass sie „nicht identisch“ gemeint sein können.305 Der Begriff der „Rechtsgrundlage“ enthält vielmehr eine Spezifikation. Während in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG ein Bestimmtheitsgebot derart aufgestellt wird, dass Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im „Gesetz“ festzuhalten sind, ver­ langt S. 3 die Angabe der genauen Delegationsvorschrift in Form der „Rechtsgrundlage“. Nur auf diese Weise ist eine exakte Prüfung der „normativen Ableitungszusammenhänge“ und ihrer Grenzen möglich.306 Fraglich bleibt, wie konkret das Zitat der einzelnen Vorschrift erfolgen muss. Der Wortlaut des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG hilft hierbei kaum weiter, denn es mangelt an einer grundgesetzlichen Festlegung von Ebenen der Normunterteilung, etwa in Form von Absätzen.307 Aus Gründen rechtsstaatlicher Normklarheit könnte zur Einhaltung des Zitiergebots stets der am kleinsten noch textlich unterteilbare Norminhalt der gesetzlichen Grundlage anzugeben sein.308 Eine Zitierung müsste sich demnach an „Paragraph, Absatz, Satz“, Halbsatz, Nummer, Buchstabe oder Variante orientieren.309 Andererseits könnte es schon ausreichen, wenn der Rechtsbetroffene anhand der Angabe zweifelsfrei feststellen kann, welche Vorschrift als Ermächtigung gemeint ist.310 Dies sei bei mehrgliedrigen Paragraphen, die nur eine Er302  Hamann (Begr.) / Lenz (Fortgef.), Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1970, Art. 80 Rn. 9. 303  BGH MDR 77, 474; Schnelle (Fn. 266), S. 79; Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 323; Schwarz (Fn. 8), S. 153; Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 47; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 43; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 671. 304  Schwarz (Fn. 8), S. 153; Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 323. 305  Schwarz (Fn. 8), S. 153. 306  BVerfGE 24, 184, 196 f.; 101, 1, 42; Schnelle (Fn. 266), S. 79. 307  Sachs, Anmerkung zum BVerfG, Beschluss vom 24.7.1986  – 1 BvR 331 / 85, BayVBl 1987, 209, 210. 308  Sachs (Fn. 307), BayVBl 1987, 209, 210; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 43. 309  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 43; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 781.

146

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

mächtigung enthalten, gegeben.311 Ist eine zweifelsfreie Bestimmung der gesetzlichen Ermächtigung anhand des Zitats aber nicht möglich, etwa weil eine Vorschrift mehrere Ermächtigungen enthält, sei vom Verordnungsgeber gleichwohl eine exakte Zitierweise zu verlangen.312 Gegen diese letztgenannte Auffassung spricht, dass Rechtsgrundlage der Verordnung auch bei einem mehrgliedrigen Paragraphen nur der Normabschnitt ist, auf den sich die Exekutive stützt.313 Zur Klarstellung dieses singulären Legitimationszusammenhangs sollte eine exakte Zitierung erfolgen. Außerdem kann der Exekutive als Erzeuger der untergesetzlichen Regelung ohne weiteres abverlangt werden, die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage präzise zu benennen, zumal Präzision eine Grundvoraussetzung juristischer Arbeit ist.314 Zu bedenken bleibt weiterhin, dass sich der Paragraph, der eine einzelne Ermächtigung enthält, verändern kann, indem beispielsweise weitere Ermächtigungen hinzutreten. Hierbei kann sich durchaus auch die Ermächtigungsgrundlage der Verordnung innerhalb des Paragraphen verschieben, so dass die Zitierung von da an unrichtig ist. Selbst bei einer Verschiebung der Rechtsgrundlage kann diese aber im Nachhinein mit einer ursprünglich exakten Zitierung leichter zurückverfolgt werden. 2. Amtliche Fundstelle In unmittelbarem Zusammenhang zur Zitierdichte stellt sich die Frage, ob zur vollständigen Angabe der Rechtsgrundlage auch der Hinweis auf die amtliche Fundstelle im Gesetzblatt gehört, damit der Ort des verkündeten Gesetzestextes der Rechtsverordnung direkt entnommen werden kann.315 Dem Wortlaut des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG lässt sich ein dahingehendes ver310  BVerwG, NJW 1983, 1922; Ramsauer (Fn. 278), Art. 80 Rn. 73; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 14. Auflage, 2016, Art. 80 Rn. 15 / 16. 311  Schwarz (Fn. 8), S. 156; Auch das BVerfG scheint keine strengen Maßstäbe hinsichtlich der Zitiergenauigkeit aufzustellen. In einen Beschluss vom 24.7.1986 – 1 BvR 331 / 85 (BayVBl 1986, 650 f.) geht es davon aus, dass die Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG gewahrt sind, obwohl lediglich § 6 Abs. 1 StVG und nicht die exaktere Form des § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG als Rechtsgrundlage angegeben wurde.; Beispiel bei Schnelle (Fn. 266), S. 79. 312  Schwarz (Fn. 8), S. 156. 313  Schnelle (Fn. 266), S. 79. 314  Schnelle (Fn. 266), S. 79. 315  Auch wenn dies teilweise der gängigen Staatspraxis entspricht, bejahen eine dahingehende Pflicht zur Angabe der Fundstelle ohne weitere Begründung Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 324 und Lücke, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Auflage, 2003, Art. 80 Rn. 29; a. A. BVerwG NJW 1983, 1922; Pieroth (Fn. 310), Art. 80 Rn. 22; Mann (Fn. 272), Art. 80 Rn. 31; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 43; Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 47.



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung147

fassungsrechtliches Gebot abermals nicht entnehmen.316 Es könnte aber aus der Ratio des Zitiergebots folgen.317 Dem Verordnungsgeber als Urheber seines Werkes wird die amtliche Fundstelle seiner Ermächtigungsgrundlage gewiss bekannt sein, so dass aus dem Zweck der gubernativen Selbstkontrolle der Hinweis auf die amtliche Fundstelle nicht gefolgert werden kann.318 Lediglich die Rechtsschutzfunktion des Zitiergebots in Form der erleichterten Auffindbarkeit der Rechtsgrundlage und Nachprüfbarkeit der Rechtssetzungssetzungsgrenzen könnte als Anknüpfungspunkt dienen.319 Dies kommt aber nur in Betracht, wenn ohne Angabe der Fundstelle dieser Zweck erschwert bzw. vereitelt werden würde.320 Bereits 1979 entschied aber das Oberverwaltungsgericht Hamburg, dass es „dem Rechtsadressaten zumindest bei bekannten Gesetzen möglich ist, sich ohne weitere Schwierigkeiten Kenntnis über den maßgebenden Gesetzestext zu verschaffen, so dass es zur Wahrung der Zitierpflicht keiner Angabe der amtlichen Fundstelle des Gesetzblattes bedarf“.321 Im Zeitalter des Internets und elektronischer Datenbanken wie beispielsweise juris, deren Landesportale auch kostenlos zugänglich sind, muss dies erst recht gelten, „ohne dass es dabei (…) auf den Bekanntheitsgrad des betreffenden Ermächtigungsgesetzes“ ankäme.322 Daher ist es „Sache der regierungsinternen Geschäftsordnungsbefugnis zu regeln, in welchem Ausmaß der Gesetzesadressat durch den Hinweis auf die maßgebliche Fundstelle im Gesetzblatt zum Text des ermächtigenden Gesetzes hingeführt wird, eine verfassungsrechtliche Pflicht, dem Staatsbürger das Auffinden der Ermächtigungsregelung durch die Angabe der Fundstelle zu erleichtern, besteht nicht.“323 Zu einem anderen Schluss könnte man lediglich bei zwischenzeitlicher Änderung der Ermächtigungsvorschrift gelangen.324 Hier könnte für den Rechtsbetroffenen die Situation einer nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheit eintreten, wenn nicht klar ist, auf welche Fassung des Gesetzes sich die Rechtsverordnung bezieht.325 Da sich die Rechtsverordnung aber im Zeitpunkt ihrer Entstehung 316  Schwarz

(Fn. 8), S. 157. NJW 1983, 1922. 318  Schwarz (Fn. 8), S. 157. 319  So auch Schwarz (Fn. 8), S. 157. Nicht gefolgt werden kann daher Schnelle (Fn. 266), S. 80, der die fehlende Pflicht zur Angabe der Fundstelle damit begründet, dass der Zweck des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG nicht darin bestehe, die Auffindbarkeit der Norm zu erleichtern, sondern diese lediglich zu konkretisieren. 320  Schwarz (Fn. 8), S. 157. 321  OVG Hamburg, Urt. v. 12.12.1978  – Bf III 84 / 78, 2. Leitsatz (abgedruckt in GewArch 1979, 85 ff.). 322  BVerwG NJW 1983, 1922. 323  BVerwG NJW 1983, 1922. 324  Schwarz (Fn. 8), S. 157. 325  Schwarz (Fn. 8), S. 157. 317  BVerwG

148

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

immer an der derzeit geltenden Ermächtigungsgrundlage orientiert,326 bietet dieser Zeitpunkt bei nachträglichen Veränderungen stets einen Orientierungspunkt zur Nachverfolgung der Gesetzesgenese, so dass auch diese Anstrengungen zum Auffinden der Ermächtigungsnorm zumutbar erscheinen. 3. Mehrere Rechtsgrundlagen Kommen mehrere Ermächtigungsgrundlagen für eine Verordnung in Betracht, so stellt sich die Frage, ob die Nennung aller Rechtsgrundlagen notwendig ist,327 oder ob bei inhaltlicher Überschneidung mehrerer Ermächtigungsgrundlagen auf eine umfängliche Zitierung verzichtet werden kann.328 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung vom 6. Juli 1999 zur Hennenhaltungsverordnung329 für eine vollständige Angabe und konsequenterweise für die Nichtigkeit der dagegen verstoßenden Rechtsverordnung ausgesprochen.330 Diese Entscheidung hat für einiges Aufsehen in der Fachöffentlichkeit gesorgt.331 Die Nennung weiterer Ermächtigungsgrundlagen über die Deckung des materiellen Gehalts der Rechtsverordnung hinaus, wird teilweise für übertrieben gehalten.332 Die Deutung des Zitiergebots habe im Kontext des Art. 80 Abs. 1 GG zu erfolgen.333 Dieser sei in erster Linie eine Replik auf den Niedergang der Demokratie in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus.334 Daher verfolge Art. 80 Abs. 1 GG hauptsächlich den Zweck, einer vollständigen Verlagerung der Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive entgegenzuwirken.335 Damit werde dem rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsgrundsatz und dem Demokratieprinzip Genüge getan, denn das Parlament behalte auf 326  BVerwG

NJW 1983, 1922. Pieroth (Fn. 310), Art. 80 Rn. 23; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 44; Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 326; Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 780. 328  So Rollecke, Die artgemäßen Bedürfnisse der Legehennen und der Menschen, NJW 1999, 3245; Müller-Terpitz (Fn. 233), DVBl 2000, 232, 238; Schwarz (Fn. 233), DÖV 2002, 852, 854 ff.; Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 48; Schnelle (Fn. 266), S.  81 f. 329  Verordnung zum Schutz von Legehennen bei Käfighaltung (Hennenhaltungsverordnung) vom 10. Dezember 1987, BGBl. I, S. 2622. 330  BVerfGE 101, 1, 41. 331  Roellecke (Fn. 328), NJW 1999, 3245 f.; Müller-Terpitz (Fn. 233), DVBl 2000, 232 ff.; Schwarz (Fn. 233), DÖV 2002, 852 ff. 332  Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 48. 333  Tillmanns (Fn. 233), NVwZ 2002, 1466, 1470. 334  Schwarz (Fn. 8), S. 168. 335  Tillmanns (Fn. 233), NVwZ 2002, 1466, 1470. 327  So



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung149

Grund der Hürden, die die verordnungsrechtliche Rechtsetzung nehmen muss, im Wesentlichen seine essentielle Aufgabe der Rechtsetzung.336 Diesen Erwägungen kann nicht gefolgt werden. Wie bereits dargelegt wurde,337 dient das Zitiergebot auch „der Offenlegung des Ermächtigungsrahmens gegenüber dem Adressaten der Verordnung“338. Sowohl das Bestimmtheitsgebot des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG wie auch die Zitierpflicht in S. 3 dienen demnach dem Rechtsschutz des Bürgers.339 Zu einem anderen Ergebnis kann man nur gelangen, wenn man Art. 80 Abs. 1 GG lediglich mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip aber nicht mit der Rechtsschutzgarantie in Verbindung bringt.340 Dann reicht die Zitierung einer Ermächtigungsnorm, die sich mit dem Inhalt der Rechtsverordnung deckt, völlig aus, um die Rechtsverordnung zu legalisieren.341 Das Zitiergebot verfügt aber über eine im Rang nicht hinter den anderen Funktionen zurücktretende Rechtsschutzfunktion.342 Die Delegation von Rechtsetzungsmacht soll durch die Angabe der Rechtsgrundlage(n) für den Rechtsbetroffenen verständlich und kontrollierbar sein.343 Dem kann auch nicht mit der Argumentation begegnet werden, der Rechtsschutz des Bürgers werde mit dem Erfordernis, alle gesetzlichen Ermächtigungen nennen zu müssen, nicht erleichtert, sondern erschwert.344 Diese letztgenannte These wird damit begründet, dass die Feststellung der Wirksamkeit der Rechtsverordnung durch den Bürger nicht selten Schwierigkeiten bereite, wenn neben den genannten Ermächtigungsgrundlagen noch weitere existieren, da sich Rechtsverordnungen häufig z. B. auch auf europäisches Recht stützen.345 Diese Erwägungen nehmen 336  Ossenbühl

1470.

337  Siehe

(Fn. 224), § 64 Rn. 13; Tillmanns (Fn. 233), NVwZ 2002, 1466,

oben B. II. 3. 101, 1, 42. 339  Für Art. 80 Abs. 1 S. 2GG siehe BVerfGE 29, 198, 210; 55, 207, 226; 56, 1, 12 und für Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG siehe BVerfGE 101, 1, 42; vgl. Tillmanns (Fn. 233), NVwZ 2002, 1466, 1470. 340  So Roellecke (Fn. 328), NJW 1999, 3245. 341  So Roellecke (Fn. 328), NJW 1999, 3245. 342  Siehe oben B. II. 3. 343  BVerfGE 101, 1, 41 f.; Pieroth (Fn. 310), Art. 80 Rn. 22. 344  Tillmanns (Fn. 233), NVwZ 2002, 1466, 1470. 345  Tillmanns (Fn. 233), NVwZ 2002, 1466, 1470; Für die Wirksamkeitsprüfung der Rechtsverordnung werden europarechtliche Grundlagen durchaus herangezogen, einer Zitierung bedarf es gleichwohl nicht, denn Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG betrifft ausschließlich das Verhältnis des innerstaatlichen Gesetz- und Verordnungsgebers; vgl. BVerwGE 121, 382, 386; 118, 70, 73 f.; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn.  43; a. A. Härtel, Demokratie im europäischen Verfassungsverbund, JZ 2007, 431, 437; Kauch / Düsing, Anforderungen an nationale Rechtsverordnungen zur Konkretisierung von EG-Recht im Lichte des Art. 80 Abs. 1 GG, AUR 2003, 69, 72 f. 338  BVerfGE

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

einen unzulässigen Perspektivwechsel in Hinblick auf den Zweck der Zitierpflicht vor. Die Exekutive und nicht der Bürger unterliegt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG dem Gesetzmäßigkeitsprinzip. Sie hat sich an die Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Rechtsverordnung zu halten. Der Rechtsbetroffene ist nicht Adressat des Zitiergebots, sondern lediglich dessen Nutznießer. Ihm soll die Nachprüfung ggf. schwer auffindbarer Rechtsgrundlagen durch die Zitierung ermöglicht werden. Ist dieser Vorgang mit derart vielen Unwägbarkeiten – wie behauptet346 – verbunden, kann er erst recht nicht auf den Bürger abgewälzt, sondern muss von der Exekutive als Urheber der Rechtsetzung wahrgenommen werden. Abschließend lässt sich demnach festhalten, dass die Nennung aller Rechtsgrundlagen notwendig ist, wobei nicht zu jeder einzelnen Verordnungsbestimmung angegeben werden muss, auf welcher der verschiedenen Ermächtigungsgrundlagen sie beruht.347 4. Der Ort des Zitats in der Rechtsverordnung In der Praxis herrscht ein uneinheitliches Bild über den Ort des verordnungsrechtlichen Zitats.348 Es gibt den immer seltener werdenden Fall der paragraphengenauen Benennung der Ermächtigungsgrundlage sowohl in der Präambel wie auch bei der konkreten Verordnungsbestimmung.349 Häufiger wird lediglich in der Präambel die Ermächtigungsgrundlage angeführt, auf eine zusätzliche Nennung im Rahmen der einzelnen Paragraphen aber verzichtet.350 Auch in Fällen, in den die Verordnung auf verschiedenen Ermächtigungsgrundlagen beruht, werden diese häufig lediglich in der Präambel genannt.351 Welche dieser Darstellungsformen mit der Verfassung noch zu vereinbaren sind, bemisst sich nach dem Telos der Zitierpflicht. Während für das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG noch galt, dass die Angabe des betroffenen Grundrechts in unmittelbarem Anschluss an die einschränkende Gesetzesbestimmung der Ratio des Zitiergebots am ehesten gerecht wird,352 wird für das Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG bereits als ausreichend erachtet, wenn die konkrete Ermächtigungsnorm nur in der Präam346  Tillmanns

(Fn. 233), NVwZ 2002, 1466, 1470. 20, 283, 292; 101, 1, 42; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 44. 348  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 415. 349  Verordnung zur Durchführung des Weingesetzes v. 9.5.1995, BGBl. I, S. 630; Neufassung der Wein-Überwachungsverordnung v. 14.5.2002, BGBl. I, S. 1624; Beispiele bei Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 415 Fn. 2. 350  Abfallverbringungsgebührenverordnung v. 17.12.2003, BGBl. I, 2749. 351  Verordnung über die Erhebung von Gebühren und die Umlegung von Kosten nach dem Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz v. 29.4.2002, BGBl. I, 1504. 352  Siehe oben A. II. 3. a). 347  BVerfGE



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung151

bel353 und nicht bei jedem einzelnen Paragraphen der Rechtsverordnung angeführt wird.354 Dies beruht darauf, dass die Ermächtigungsgrundlage die Verordnung in ihrer Gesamtheit betrifft, so dass es sinnvoll erscheint, diese der Verordnung voranzustellen. Die unterschiedlichen Grundrechtsbeeinträchtigungen können hingegen ganz verschiedene Bestimmungen betreffen, die in der Regel eines unmittelbaren Einzelzitats bedürfen, damit die ­Verbindung zwischen der Einschränkung und dem betroffenen Grundrecht hergestellt ist. Fraglich bleibt, ob die Präambel über die notwendige Rechtsnatur verfügt, denn das Zitat der Rechtsgrundlage muss im Rahmen der gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG erlassenen „Rechtsverordnung“ erfolgen.355 Das Zitat sollte also aus einer Regelung hervorgehen, die zur „rechtstechnischen Einheit der Rechtsverordnung“ gehört.356 Die Präambel ist aber Teil des nach Art. 82 Abs. 1 S. 2 GG im Bundesgesetzblatt verkündeten Textes,357 sie gehört damit anders als beispielsweise die Verkündungsformel bei Gesetzen358 zur verordnungsrechtlichen Rechtsetzung. Während also die Angabe der Ermächtigungsgrundlage in der amtlichen Begründung den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG nicht genügen würde, da es bei der Angabe in nicht unmittelbar der Rechtsetzung „dienenden Schrift­ stücken“ an der notwendigen „rechtsstaatlichen (…) Publizität“ mangelt,359 ist gegen die Angabe in der Präambel nichts einzuwenden. 5. Sammelverordnungen In Hinblick auf die verfassungsrechtlich gebotene Rechtsklarheit stellt sich abschließend die Frage, ob sogenannte Sammelverordnungen, bei denen in der Präambel ein ganzes „Bündel“ von Ermächtigungsgrundlagen aus unterschiedlichen Gesetzen genannt wird, mit der Ratio der Zitierpflicht vereinbar sind.360 Die Erkenn- und Nachprüfbarkeit der legitimatorischen 353  Das Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 781 spricht hierbei von „Eingangsformel“. Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 415 sprechen vom „Vorspruch“. Alle Begriffe meinen dasselbe. 354  Im Ergebnis auch BVerfGE 101, 1, 42; Lücke (Fn. 315), Art. 80 Rn. 29; Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 43; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 780; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 65; Schwarz (Fn. 8), S. 165 f.; Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 323. 355  Lücke (Fn. 315), Art. 80 Rn. 29. 356  Lücke (Fn. 315), Art. 80 Rn. 29. 357  Lücke (Fn. 315), Art. 80 Rn. 29. 358  Siehe oben A. II. 3. a). 359  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 44. 360  Dazu ausführlich Schwarz (Fn. 8), S. 166  ff. und Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 416.

152

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Ableitungszusammenhänge – wie sie die Rechtsschutzfunktion der Zitierpflicht vorschreibt361 – kann in diesen Fällen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein.362 Die höchstrichtliche Rechtsprechung in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts hat gleichwohl in der Vergangenheit Sammelverordnungen für zulässig erachtet, ohne dass zu jeder Verordnungsbestimmung im einzelnen angegeben werden müsste, auf welcher der Ermächtigungen sie beruht.363 In den genannten Entscheidungen ging es um Rechtsverordnungen, die einerseits 4 vorangestellte Ermächtigungsgrundlagen im Verhältnis zu 6 darauf gestützten Paragraphen364 bzw. 2 Ermächtigungsgrundlagen im Verhältnis zu 20 Paragraphen365 anführten.366 Nimmt man vereinfachend an, dass jeder Paragraph lediglich auf einer Ermächtigungsgrundlage beruht, lägen für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 24 und für die des Bundesverwaltungsgerichts 40 normative Ableitungszusammenhänge vor,367 die der Rechtsbetroffene „durchgehen“ müsste.368 Dennoch haben die Gerichte seinerzeit entschieden, dass für den Betroffenen unter zumutbarem Aufwand erkennbar sei, auf welcher der Ermächtigungen die einzelnen Verordnungsbestimmungen beruhen.369 Angesichts der immer weiter zunehmenden Komplexität zu regelnder Lebensbereiche und dem damit auch einhergehenden Bedürfnis nach untergesetzlichen Regelungen ist aber anzunehmen, dass die Zahl der Rechtsverordnungen und ihrer Ermächtigungsgrundlagen stetig steigt und auch weiterhin steigen wird bis hin zu sogenannten derzeit schon existierenden Artikelverordnungen,370 in denen eigenständige Verordnungen und ihre entsprechenden Grundlagen in einer Rechtsverordnung zusammengefasst werden.371 Dabei liegt auf der Hand, dass die „Quantität“ der zitierten Rechtsgrundlagen irgendwann die „Qualität“ der Erkennbarkeit der Legitimationszusammenhänge betreffen muss.372 Ein klarer Richtwert, wie viele vorangestellte Ermächtigungsgrundlagen für welche Anzahl von Paragraphen in der Verordnung genannt werden dürfen, lässt sich gleich361  Siehe

oben B. II. 3. (Fn. 8), S. 166; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 65. 363  BVerfGE 20, 283, 292; BVerwG NJW 1983, 1922. 364  BVerfGE 20, 283 ff. 365  BVerwG NJW 1983, 1922. 366  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417 Fn. 24. 367  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417 Fn. 25. 368  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417 Fn. 23. 369  BVerfGE 20, 283, 292; BVerwG NJW 1983, 1922. 370  Z.  B. Verordnung zur Vereinfachung des Deponierechts vom 27.04.2009, BGBl. I, 900. 371  Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 47. 372  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 416. 362  Schwarz



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung153

wohl nicht „pauschal“ festlegen.373 Für die Erkenn- und Nachprüfbarkeit ist immer der „Einzelfall“ entscheidend, dabei insbesondere der „Regelungsumfang“ und die Komplexität der Rechtsverordnung in Form von ggf. weit verzweigten Paragraphen mit mehreren Absätzen und Ziffern sowie die Anzahl der die Verordnung stützenden Ermächtigungsgrundlagen.374 Mathematisch lässt sich aber festhalten, dass mit zunehmender Zahl der Ermächtigungsgrundlagen für eine Rechtsverordnung die Zahl der normativen Ableitungszusammenhänge mindestens linear – häufiger aber exponential – steigt.375 Aus diesem Grund schlagen Füßer und Stöckel als verfassungsrechtlichen Maßstab vor, ab einer Anzahl von höchstens 100 möglichen „Zuordnungsbeziehungen“ zwischen Rechtsverordnung und Rechtsgrundlage eine hinreichende Erkennbarkeit für den Bürger auszuschließen.376 Bei Artikelverordnungen dürfte diese Grenze sehr schnell erreicht sein, weshalb diese Form der Verordnungsgebung vor dem Hintergrund des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG teilweise von vornherein für unzulässig erachtet wird.377 Dieses Ergebnis, dass Sammelzitate nicht zwangsläufig ausgeschlossen sind, wenn die Verordnungsbestimmung der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage noch zuordenbar ist, scheint im Widerspruch zu stehen, zu dem zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG gefundenen Ergebnis, wonach grundsätzlich nur das Einzelzitat in unmittelbarer Nähe zur Gesetzesvorschrift verfassungsrechtlich zulässig ist.378 Dieser Eindruck verstärkt sich um so mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass beiden Zitiergeboten eine Rechtsschutzkomponente innewohnt, zum einen in der Form, dass der Grundrechtsträger über die gesetzliche Einschränkung bzw. Einschränkbarkeit seines Grundrechts informiert werden soll, zum anderen in der Gestalt, dass für den Rechtsbetroffenen nachvollziehbar sein soll, ob sich der Verordnungsgeber an den gesetzlich gezogenen Rahmen der Ermächtigungsgrundlage gehalten hat. In beiden Fällen geht es im Grunde um legitimatorische Ableitungszusammenhänge, die durch das Zitat kenntlich gemacht werden sollen, damit der Bürger bei erkannter Unterbrechung der Legitimationskette gegen den Rechtsakt vorgehen kann. Der entscheidende Unterschied liegt aber darin, dass es bei Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG um Grundrechte des 373  Füßer / Stöckel

(Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417. (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417. 375  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417 Fn. 23. Von einem exponentialen Anstieg ist auszugehen, wenn mit jeder zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage nicht nur ein, sondern mehrere neue Paragraphen in die Rechtsverordnung aufgenommen werden. Dies wird auf die überwiegende Zahl der Rechtsverordnungen auch zutreffen. 376  Füßer / Stöckel (Fn. 233), NVwZ 2010, 414, 417. 377  Wallrabenstein (Fn. 271), Art. 80 Rn. 47. 378  Siehe oben A. II. 3. a). 374  Füßer / Stöckel

154

Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Betroffenen geht, demnach um Rechte, deren Verletzung seine Sphäre unmittelbar berührt. Bei der Prüfung, ob sich eine Verordnung an den Rahmen ihrer gesetzlichen Grundlage hält, handelt es sich hingegen um eine Vorfrage zur eigentlichen Beschwer des Betroffenen. Dies rechtfertigt eine unterschiedliche Behandlung der Zulässigkeit von Sammelzitaten. Hiergegen könnte lediglich vorgebracht werden, dass auch Grundrechtsbeeinträchtigungen zumeist eines weiteren Vollzugsaktes z. B. in Form eines Verwaltungsaktes bedürfen, sich also ebenso – bis auf den Fall von self-executing Normen – nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass die unmittelbare Beschwer der Rechtsverordnung meistens auch eines weiteren Vollzugsaktes bedarf. Als ein weiterer Grund für den unterschiedlichen Umgang mit der Zulässigkeit des Sammelzitats ist anzuführen, dass Gesetze zumeist mehrere verschiedene Grundrechte berühren, die Grundlage der Verordnung diese aber in der Regel in ihrer Gesamtheit betrifft. Daher ist es rechtstechnisch sinnvoll, die Ermächtigung der Verordnung „vor die Klammer zu ziehen“, auch wenn es sich dabei um mehrere Gesetze handelt. Legalisieren mehrere Gesetze jeweils verschiedene Abschnitte der Verordnung, ist die Zuordnung der einzelnen Paragraphen der Verordnung zu den Gesetzen zwar erschwert, hält sich aber anhand des von Füßer und Stöckel vorgeschlagenen Schlüssels von höchstens 100 Zuordnungen im Rahmen des Zumutbaren.379 Mit dieser Betrachtung steht dann wiederum auch im Einklang, dass gegen ein vo­ rangestelltes Sammelzitat im Rahmen des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nichts einzuwenden ist, wenn ein Gesetz in seiner Gesamtheit nur ein oder mehrere wenige Grundrechte betrifft.380 Die Zulässigkeit von Sammelzitaten für Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG stellt außerdem den Zweck des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG nicht in Abrede, denn das grundrechtliche Zitat gilt neben dem verordnungsrechtlichen in vollem Umfang für das Gesetz, das die Grundlage für die Rechtsverordnung darstellt. Ermächtigt also ein Gesetz zum Erlass von Rechtsverordnungen und zu Grundrechtseingriffen, sind beide Zitiergebote zu beachten.381

IV. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG ist nicht bloß eine Ordnungsvorschrift, sondern eine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für die Rechts379  Siehe

oben. oben A. II. 3. a). 381  Schwarz (Fn. 8), S. 168. 380  Siehe



B. Die Bezeichnung der Ermächtigung155

verordnung.382 Dies ergibt sich schon aus dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift „ist (…) anzugeben“, insbesondere aber auch aus ihrem verfassungshistorischen Hintergrund.383 Während sich der Abgeordnete von Mangoldt in den Beratungen zum Grundgesetzentwurf noch vehement gegen die Aufnahme eines Zitiergebots in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ausgesprochen hatte,384 wurde erstaunlicherweise auf seine Veranlassung hin das Wort „soll“ im ursprünglichen Herrenchiemsee-Entwurf des Art. 80 GG durch das Wort „ist“ ersetzt.385 In Übereinstimmung mit den Vätern und Müttern des Grundgesetzes verletzt demnach die Nichtbeachtung des Zitiergebots ein „unerlässliches Element des demokratischen Rechtsstaats“386 und führt daher zur Nichtigkeit der Rechtsverordnung.387 Die Nichtigkeit einer Rechtsverordnung kann sich sowohl aus formellen wie materiellen Fehlern ergeben, wobei der Verstoß gegen das Zitiergebot einen formellen Fehler darstellt,388 der in zweifacher Hinsicht auftreten kann.389 Zum einen kann das Zitat in der Rechtsverordnung vollständig fehlen, zum anderen – und das dürfte wohl der häufigere Fall sein – kann das vorhandene Zitat an bestimmten Mängeln leiden, indem es beispielsweise nicht innerhalb des Verordnungstextes erfolgt ist oder die Rechtsgrundlage nicht konkret genug bezeichnet.390 In Abgrenzung dazu liegt ein materieller Fehler der Rechtsverordnung insbesondere dann vor, wenn sie den Rahmen ihrer gesetzlichen Grundlage überschreitet oder gegen anderweitiges Verfassungsrecht verstößt.391 Seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hennenhaltungsverordnung ist nun auch höchstrichterlich geklärt, dass die unvollständige Nennung der Rechtsgrundlage die Nichtigkeit der Rechtsverordnung zur Folge hat, auch wenn die Angabe einzelner 382  Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 328; Schoch, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Einschränkung politischer Betätigung von Soldaten, AöR 108 (1983), S. 215, 238; Schwarz (Fn. 8), S. 170. 383  Schwarz (Fn. 8), S. 170. 384  Siehe oben A. I. 385  v.  Doemming / Füsslein / Matz (Fn. 34), JöR N.F. 1 (1951), 1, 179, 588 f.; Über von Mangoldts Beweggründe lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise beruht die unterschiedliche Haltung gegenüber den Zitierpflichten auf den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit. Demnach sollte wohl insbesondere der Verlagerung von Rechtsetzungsmacht auf die Exekutive entschieden ein Riegel vorgeschoben werden. 386  Bartlsperger (Fn. 232), VerwArch 58 (1967), 249, 270. 387  Brenner (Fn. 219), Art. 80 Abs. 1 Rn. 46; Ramsauer (Fn. 278), Art. 80 Rn. 73; Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 65; für eine Abkehr von der ex-tunc-Nichtigkeit hin zu einem differenzierten Rechtsfolgensystem Schnelle (Fn. 266), S. 157 ff. 388  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 72. 389  Schwarz (Fn. 8), S. 171. 390  Schwarz (Fn. 8), S. 171. 391  Ossenbühl (Fn. 224), § 64 Rn. 72.

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

Grundlagen zur Legalisierung des materiellen Gehalts der Rechtsverordnung ausreichen würde.392 In all diesen Fällen liegt gleichwohl keine Unwirksamkeit auf Grund der Missachtung des Zitiergebots vor, die Rechtsverordnung ist vielmehr allein aus materiellen Gründen nichtig.393 Wegen der „Konzentrationswirkung“394 und der intendierten Rechtsklarheit des Zitats ist auch ein „Nachschieben von Ermächtigungsgrundlagen“ unzulässig.395 Fehlt zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses die notwendige Rechtsgrundlage, ist die Rechtsverordnung von vornherein kompetenzlos entstanden.396 Eine spätere Zitierung kann lediglich eine ex-nunc-Verfassungsmäßigkeit und damit Wirksamkeit der Rechtsverordnung bewirken.397

C. Zitiergebot bei der Umsetzung von Richtlinien der Europäischen Union Art. 288 Abs. 3 AEUV verpflichtet jeden Mitgliedsstaat, an den eine Richtlinie gerichtet ist, diese fristwahrend, vollständig und in Übereinstimmung mit den Richtlinienzielen umzusetzen.398 In der Praxis erfolgt die Umsetzung zumeist durch förmliches Parlamentsgesetz oder durch Rechtsverordnung.399 Eine Pflicht zur Umsetzung durch gesetzliche bzw. untergesetzliche Regelungen lässt sich aus dem Primärrecht gleichwohl nicht herleiten, denn Art. 288 AEUV überlasst den Mitgliedsstaaten die „Wahl der Form und Mittel“ zur Erfüllung der Richtlinienziele.400 Dies deutet zunächst 392  BVerfGE

101, 1, 41. (Fn. 8), S. 171. 394  Siehe oben B. II. 2. 395  Nierhaus (Fn. 267), Art. 80 Abs. 1 Rn. 328; Schwarz (Fn. 8), S. 171. 396  Schwarz (Fn. 8), S. 172. 397  Schwarz (Fn. 8), S. 172. 398  EuGH, verb Rs C-6 und C-9 / 90, Francovich, Slg 1991, I-5357, Rn.  3; EuGH, Rs C-129 / 96, Inter-Environnement Wallonie, Slg 1997, I-7411, Rn. 40; Hummer, Neueste Entwicklungen im Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Recht der Mitgliedstaaten, 2010, S. 153; Während Verordnungen nach Art. 288 Abs. 2 AEUV mit ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt unmittelbare Wirkung in jedem Mitgliedsstaat entfalten und daher keiner Umsetzung bedürfen, stellen Richtlinien den praktisch wichtigsten Fall normativer Durchführung des EU-Rechts durch legislative Umsetzung in innerstaatliches Recht dar; vgl. Jarass / Beljin, Die Bedeutung von Vorrang und Durchführung des EG-Rechts für die nationale Rechtsetzung und Rechtsanwendung, NVwZ 2004, 1, 6 f.; Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1987, S. 11 ff. 399  Hummer (Fn. 398), S. 154. 400  EuGH, vgl z. B. Rs C-365 / 93, Kommission / Griechenland, Slg 1995, I-499, Rn. 9; Hummer (Fn. 398), S. 154; Kotzur, in: Geiger / Khan / Kotzur, Kommentar EUV / AEUV, 5. Auflage, 2010, Art. 288 AEUV Rn. 12. 393  Schwarz



C. Zitiergebot bei der Umsetzung von Richtlinien der EU157

auf einen erheblichen Freiraum bei der inhaltlichen Gestaltung und Wahl der Rechtsnatur der mitgliedsstaatlichen Umsetzungsakte hin.401 Allerdings ist der das Unionsrecht ubiquitär prägende Effektivitätsgrundsatz (effet ­utile) zu beachten. Die Mitgliedsstaaten müssen demnach bei der Umsetzung Formen und Mittel wählen, die der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie unter Berücksichtigung des mit ihr verfolgten Zwecks am ehesten gerecht werden.402 Mit Blick auf die aus dem Effektivitätsprinzip fließenden Grundsätze der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit403 sollen die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung „eine so bestimmte, klare und transparente Lage schaffen, dass der Einzelne seine Rechte in vollem Umfang erkennen und sich vor den nationalen Gerichten auf sie berufen kann“.404 Diesem Erfordernis können nur verbindliche und mit rechtlicher Außenwirkung versehene Umsetzungsmaßnahmen entsprechen, denn diese werden nach dem innerstaatlichen Verfassungsrecht amtlich verkündet.405 Die Umsetzungspflicht statuiert aber nicht nur eine rechtsförmliche Transformation in nationales Recht, vielmehr verlangen neuere Richtlinien auch, dass in den nationalen Umsetzungsvorschriften selbst oder in der amtlichen Veröffentlichung auf die Richtlinie hingewiesen wird.406 Dieses europarechtliche Zitiergebot steht ohne Zweifel im Dienste der Umsetzungspflicht, wird es doch in unmittelbarem Zusammenhang zur obligatorischen Notifizierung der Kommission über die Richtlinienumsetzung angeführt.407 Innerstaatlich ist das europarechtliche Zitiergebot durch § 75 Abs. 2 i. V. m. § 42 Abs. 4 der Gemein­ 401  Jarass / Beljin

(Fn. 398), NVwZ 2004, 1, 7. Rs 48 / 75, Royer, Slg 1976, 497, Rn. 69 / 73; Ruffert, in: Callies / Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUV / AEUV, 5. Auflage, 2016, Art. 288 AEUV Rn. 26. 403  Hummer (Fn. 398), S. 154, Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), Kommentar zum EUV / AEUV, 2. Auflage, 2012, Art. 288 AEUV Rn. 91. 404  EuGH, Rs. 29 / 84, Kommission / Deutschland, Slg 1985, 1661 Rn. 23. 405  EuGH, Rs C-159 / 99, Kommission / Italien, Slg 2001, I-4007, Rn. 32; Hummer (Fn. 398), S. 154; Streinz, Europarecht, 10. Auflage, 2016, Rn. 485; Hummer (Fn. 398), S. 155. 406  Dieses Erfordernis besteht etwa seit 1990. Fast formelartig heißt es in den Richtlinien: „Wenn die Mitgliedsstaaten diese Vorschriften erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme.“ Siehe Art. 44 Abs. 1 UAbs. 3, RL 2006 / 123 / EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. 2006 L 376, 6; Art. 94 Abs. 1 UAbs. 2, RL 2007 / 64 / EG über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, ABl. 2007 L 319, 1; Art. 18 Abs. 1 Uabs. 2, RL 2006 / 7 / EG über die Qualität der Badegewässer und deren Bewirtschaftung, ABl. 2006 L 64, 37. 407  Frenzel, Die Umsetzung von Rechtsakten der EG als Gesetzeszweck – Willensbekundung oder dynamische Verweisung?, NVwZ 2006, 1141. Siehe z. B. Art. 18 Abs. 2, RL 2006 / 7 / EG über die Qualität der Badegewässer und deren Bewirtschaftung, ABl. 2006 L 64, 37. 402  EuGH,

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

samen Geschäftsordnung der Bundesministerien abgesichert,408 wonach für die rechtsförmliche Gestaltung von Gesetzesentwürfen das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Handbuch der Rechtsförmlichkeit maßgebend ist, das die europäischen Richtlinienvorgaben aufgreift und für das innerstaatliche Recht präzisiert.409 Die Zwecke des europarechtlichen Zitiergebots sind eng verwandt mit den Zwecken der ausdrücklichen Zitierpflichten im Grundgesetz.410 In Anlehnung an die Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG soll sich der nationale Gesetzgeber bei der Transformation bewusst machen, dass es sich nicht um die Schaffung herkömmlichen nationalen Rechts handelt, sondern um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie mit speziellen Anforderungen.411 Zum anderen soll – wiederum in Anlehnung an das grundrechtliche Zitiergebot – der Rechtsanwender, also etwa die Verwaltung, für die besonderen Umstände der Herkunft des Rechtsakts aus dem Unionsrecht sensibilisiert werden, damit er sich ggf. auf die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung oder unmittelbaren Anwendung einer Richtlinie besinnen kann.412 Der Hauptzweck des europarechtlichen Zitiergebots liegt aber genauso wie beim grund- und verordnungsrecht­ lichen in der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Der Rechtsbetroffene soll in die Lage versetzt werden, seine aus der Richtlinie resultierenden Rechte geltend zu machen.413 Wie der nationale Gesetzgeber dem Zitiergebot entspricht, liegt in seinem Ermessen. Er kann entweder im Text der nationalen Umsetzungsvorschrift selbst oder bei der amtlichen Veröffentlichung, in Deutschland also im Gesetzblatt, auf die Richtlinie hinweisen.414 Auf jeden Fall sollte die umzusetzende Richtlinie stets im Vollzitat, also unter Angabe der amtlichen Fundstelle genannt werden,415 denn anders als in der deutschen Rechtstradition verfügt das europäische Sekundärrecht häufig nicht über konsolidierte Fassungen, so dass die Fundstellenangabe auf europäischer Ebene insbesondere der Auffind- und Unterscheidbarkeit der Richt­linien dient. Als eine Möglichkeit, dem Zitiergebot zu entsprechen, ist die Richtlinie in der Überschrift des entsprechenden 408  Frenzel,

(Fn. 407), NVwZ 2006, 1141 Fn. 12. der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 308 ff. 410  Zu den Zwecken des europarechtlichen Zitiergebots auch Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 308. 411  Hummer (Fn. 398), S. 155. 412  Hummer (Fn. 398), S. 155; Biervert, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Auflage, 2012, Art. 288 Rn. 27 und 29. 413  Schroeder (Fn. 403), Art. 288 AEUV Rn. 92. 414  Hummer (Fn. 398), S. 155; Schroeder (Fn. 403), Art. 288 AEUV Rn. 92. 415  Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 309. 409  Bundesministerium



D. Zusammenfassung159

Gesetzes zu nennen.416 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Umsetzung der Richtlinie im Vorschriftentext selbst ggf. in einem separaten Paragraph aufzunehmen.417 Die am häufigsten verwendete Variante besteht darin, den Hinweis auf die Richtlinie in einer Fußnote zur Überschrift des Gesetzes oder der Rechtsverordnung vorzunehmen.418 Das Fußnotenzitat ist dann bei der Verkündung nur ein Hinweis, erhält also anders als die anderen Zitate keine Gesetzeskraft.419 Auch die Folgen des mitgliedsstaatlichen Verstoßes gegen das europarechtliche Zitiergebot sind eng angelehnt an die Rechtsfolgen der Nichtbeachtung der ausdrücklichen grundgesetzlichen Zitierpflichten. Der Europäische Gerichtshof sieht in der fehlenden Nennung der Richtlinie einen Verstoß gegen die Umsetzungspflicht, ohne dass es darauf ankäme, ob die Mitgliedsstaaten die Inhalte der Richtlinie in nationales Recht umgesetzt haben.420 Somit handelt es sich auch bei dem europarechtlichen Zitiergebot nicht um eine bloße Sollvorschrift, sondern um eine zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung, deren Missachtung als Pflichtverletzung zu werten ist.

D. Zusammenfassung Die ausdrücklichen Zitiergebote in Art. 19 und 80 GG haben ähnliche Funktionen. Durch die Warn- und Besinnungsfunktion der Zitierpflicht in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG soll vermieden werden, dass neue, dem bisherigen Recht unbekannte Möglichkeiten des Eingriffs in Grundrechte geschaffen werden, ohne dass sich der Gesetzgeber darüber Rechenschaft legt und dies ausdrücklich zu erkennen gibt. Durch die Pflicht zur Angabe der Ermächtigungsgrundlage einer Rechtsverordnung in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG soll sich 416  Verordnung zur Umsetzung der Richtlinie 80 / 68 / EWG des Rates vom 17. Dezember 1979 über den Schutz des Grundwassers gegen Verschmutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe (Grundwasserverordnung), ABl. L 20, 43; vgl. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 312. 417  Z. B. § 14 der Verordnung über die Qualität und Bewirtschaftung der Badegewässer (HmbBadegewässerVO) vom 26.02.2008, HmbGVBl 2008, S. 117. 418  So etwa im Fall des Geräte- und Produktsicherheitsgesetzes, des Allgemeinen Eisenbahngesetzes und des Energiewirtschaftsgesetzes, vgl. Frenzel, (Fn. 407), NVwZ 2006, 1141 Fn. 11. 419  Bundesministerium der Justiz (Hrsg.) (Fn. 71), Rn. 311. 420  EuGH, Rs C-137 / 96, Kommission / Deutschland, Nichtumsetzung der Pflanzenschutzmittel betreffenden RL 414 / 91 / EWG, Slg 1997, I-6749 Rn. 8; Rs C-360 /  95, Kommission / Spanien, Vertragsverletzung Spaniens durch nicht fristgerechte Umsetzung der RL 371 / 91 / EWG  – Verstoß gegen die für die Richtlinienumsetzung vorgeschriebenen Bezugnahmepflicht, Slg 1997, I-7337 Rn. 13; vgl. Jarass / Beljin (Fn. 398), NVwZ 2004, 1, 7 Fn. 91.

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Kap. 3: Ausdrückliche Zitiergebote

die Exekutive – vergleichbar mit der Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG – des ihr aufgegebenen Normensetzungsprogramms vergewissern und sich auf dieses beschränken. In beiden Fällen geht es im Grunde also darum, dass sich die Rechtsetzungsebenen ihr eigenes Handeln mit all seinen Konsequenzen bewusst machen und die Verantwortung dafür übernehmen. Beide Zitiergebote haben daneben auch eine Rechtsschutzkomponente, zum einen in der Form, dass der Grundrechtsträger über die gesetzliche Einschränkung bzw. Einschränkbarkeit seines Grundrechts informiert wird, zum anderen in der Gestalt, dass für den Rechtsbetroffenen nachvollziehbar ist, ob sich der Verordnungsgeber an den gesetzlich gezogenen Rahmen der Ermächtigungsgrundlage gehalten hat. In beiden Fällen geht es mithin um legitimatorische Ableitungszusammenhänge, die durch das Zitat kenntlich gemacht werden sollen, damit der Bürger bei erkannter Unterbrechung der Legitimationskette gegen den Rechtsakt vorgehen kann. Das Zitat muss jeweils in einer Art erfolgen, die den Funktionen des Zitiergebots gerecht wird. Bei beiden Zitiergeboten handelt es sich nicht – auch wenn die höchstrichterliche Handhabe in der Vergangenheit zum Teil eine andere gewesen sein mag – um bloße Ordnungs- oder Sollvorschriften. Vielmehr statuieren beide Zitiergebote zwingende Wirksamkeitsvoraussetzungen. Ihre Nichtbeachtung hat die ex-tunc-Nichtigkeit der jeweiligen Norm zur Folge. Da für ein Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung insbesondere rechtsstaatliche Erwägungen angeführt werden, bedarf es im Anschluss einer vertieften Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Staatsstrukturprinzip.

Kapitel 4

Aspekte der Rechtsstaatlichkeit Das folgende Kapitel befasst sich mit den rechtsstaatlichen Aspekten eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung. Bereits gegen diesen verfassungsrechtlichen Ansatz werden Bedenken ganz grundlegender Art geäußert. Bei dem Rechtsstaatsprinzip handele es sich um ­einen „überaus allgemeinen Grundsatz“, so dass viel gegen die Herleitung einer Zitierpflicht aus diesem Grundsatz spreche.1 Dem lässt sich aber entgegenhalten, dass sowohl das Rechsstaats- wie auch das Demokratieprinzip elementare Grundpfeiler der Verfassung sind und in einem ausdifferenzierten System von materiellen, verfahrensmäßigen und organisatorischen Elementen feste Konturen erlangen.2 Mithin kann den Prinzipien und ihren Ausprägungen ein ausreichender Konkretisierungsgrad nicht abgesprochen werden. Nachdem somit ein fundamentaler Einwand gegen die Herleitung einer Zitierpflicht aus dem Rechtsstaatsprinzip ausgeräumt ist, widmet sich die folgende Untersuchung einem unter Geltung des Grundgesetzes in d ­ ieser Form noch nie da gewesenen Problem normativer Unklarheit.3 Zu dessen Beseitigung wird ein Zitiergebot vorgeschlagen.

1  Classen, Gutachten zu Problemen der Neuregelung des Erwerbs des Diplomgrades gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 und 4 LHG Mecklenburg-Vorpommern, 2011 (http: / / spd-fraktion-mv.de / images / Flyer / AkkreditierungMVGutachten.pdf (28.09. 16)), S. 13. 2  Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 3. Auflage, 2004, § 26 Rn. 69. 3  Dieses Problem normativer Unklarheit hat es zuvor noch nicht gegeben, da die „neue“ Kompetenzart der Abweichungsgesetzgebung keinen grundgesetzlichen „Vorläufer“ kennt. Vgl. Uhle, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 72 Rn. 46. v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder im Naturschutzrecht, Schriftenreihe Natur und Recht 15, 2012, S. 140, spricht in diesem Zusammenhang von einem Problem normativer Klarheit und Bestimmtheit.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips Das allgemeine Rechtsstaatsprinzip folgt u. a. aus Art. 20 Abs. 3 GG4 und bezeichnet vornehmlich einen Staat, in dem die politische Herrschaft nur auf Grund oder im Rahmen des Rechts ausgeübt wird.5 Eines der wesent­ lichen Bestandteile des Rechtsstaatsprinzips ist das Gebot der Rechtssicherheit.6 Den Wesensgehalt dieses Gebots in einer „Formel“ zusammenzufassen, fällt nicht leicht.7 Jedenfalls meint Rechtssicherheit nicht den Schutz vor der Wechselhaftigkeit des Lebens.8 Vielmehr geht es um einen speziellen Schutz durch Recht, kurz gesagt um die „Verlässlichkeit der Rechts­ ordnung“.9 „Die(se) Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen.“10 Die Freiheit betrifft dabei das Individuum und meint insbesondere die Möglichkeit des Einzelnen, sein privates, berufliches und wirtschaftliches Leben nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten zu können.11 Hierfür bedarf es sicherer rechtlicher „Rahmen­ bedingungen“.12 Der Einzelne muss, um seine Freiheit voll ausschöpfen zu können, in die Lage versetzt werden, die Rechtslage zu erkennen und sein

4  BVerfGE 1, 14, 45; 63, 343, 353. Das allgemeine Rechtsstaatsprinzip wird an ganz unterschiedlichen Stellen im Grundgesetz festgemacht, so beispielsweise in Art. 28 Abs. 1 GG, in Art. 20 GG, in Art 79 Abs. 3 GG sowie in der Gesamtheit der Einzelnormen mit rechtsstaatlichem Gehalt, vgl. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 63 ff. m. w. N. Aus historischer Sicht wurde Art. 20 Abs. 3 GG zur besseren Kennzeichnung der „Rechtsstaatlichkeit als Grundlage des Grundgesetzes“ formuliert, vgl. Anmerkung des Abgeordneten Dehler zum Entwurf des Art. 20 GG, in: v.  Doemming / Füsslein / Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR N.F. 1 (1951), S. 1, 200. 5  Grzeszick, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Stand: 77. EGL, 2016, Art. 20 Rn. 37. 6  Std. Rspr. vgl. BVerfGE 2, 380, 403; 60, 253, 268 f.; 88, 384, 403; SchmidtAßmann (Fn. 2), § 26 Rn. 81; Gassner, Gesetzgebung und Bestimmheitsgrundsatz, ZG 11 (1996), 37, 41; Papier / Möller, Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung, AöR 122 (1997), S. 177, 179; zum Gebot der Rechtssicherheit v. Arnauld, Rechtssicherheit, 2006; Streinz, Rechtssicherheit als Bewährungsprobe des Verfassungsstaates, in: Blankenagel / Pernice / Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für Peter Häberle, 2004, S. 745 ff. 7  Dazu Kunig (Fn. 4), S. 390 ff.; vgl. Schmidt-Aßmann (Fn. 2), § 26 Rn. 81. 8  Schmidt-Aßmann (Fn. 2), § 26 Rn. 81. 9  BVerfGE 97, 67, 78; Schmidt-Aßmann (Fn. 2), § 26 Rn. 81. 10  BVerfGE 97, 67, 78. 11  Sommermann, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 20 Abs. 3 Rn. 288. 12  Sommermann (Fn. 11), Art. 20 Abs. 3 Rn. 288.



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips163

Verhalten danach auszurichten.13 Staatliche Handlungen müssen daher so klar, unmissverständlich und auch beständig sein, dass sich der Einzelne hinreichend auf sie verlassen kann.14 Damit sind bereits weitere Subelemente der Rechtssicherheit angesprochen, die ebenfalls mit der „Verlässlichkeit der Rechtsordnung“ zu tun haben.15 Namentlich sind dies die Prinzipien der Normenbestimmheit und Normenklarheit, die im Folgenden näher präzisiert werden.

I. Bestimmtheit und Normklarheit Die Prinzipien der Bestimmtheit und Klarheit sind eng miteinander verwandt, nicht nur in Hinblick auf ihre verfassungsrechtliche Herleitung aus dem rechtsstaatlichen Gebot16 der Rechtssicherheit, sondern auch hinsichtlich ihrer Anforderungen an die Normgestaltung.17 Mit Blick auf die Normgestaltung geht es um Grundsätze wie „Deutlichkeit“, Verständlichkeit, Genauigkeit, „Nachvollziehbarkeit“ und „Übersichtlichkeit“ von Normen.18 Diese Grundsätze suggerieren eine gewisse Gleichartigkeit und Gleichgerichtetheit von Klarheit und Bestimmtheit, nicht umsonst werden die Begriffe häufig auch synonym verwandt.19 Manch einer sieht die Begriffe auch als Obergriffe für den jeweils anderen.20 „Bei aller Ähnlichkeit“ verfügen 13  BVerfGE 5, 25, 31 f.; 8, 274, 302; 22, 330, 346; Grzeszick (Fn. 5), Art. 20 Rn. 53; Hammer-Strnad, Das Bestimmtheitsgebot als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 92. 14  Grzeszick (Fn. 5), Art. 20 Rn. 50; Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 11. Auflage, 2013, Rn. 163. 15  Grzeszick (Fn. 5), Art. 20 Rn. 50; Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 20 Rn. 122. 16  Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 497. 17  Jehke, Bestimmtheit und Klarheit im Steuerrecht, 2005, S. 30. 18  Sayeed, Die verfassungsrechtliche Herleitung des Klarheitsgebots und seine Anwendung am Beispiel des § 34 AWG, 2010, S. 4. 19  Aus der älteren Rechtsprechung BVerfGE 5, 25, 31 ff.; 26, 338, 367; 45, 400, 420; 93, 213, 238 f.; 103, 21, 33; Kunig (Fn. 4), S. 200 ff., 396 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 12. Auflage, 1984, S. 829; Möllinger, Über Notwendigkeit, Zweck und Grenzen der Steuerverwaltungsvorschriften, DStJG 5 (1982), 339, 350. 20  Stern (Fn. 19), S. 830 meint beispielsweise: „Das Gebot der Bestimmtheit geht über die Anforderungen der Klarheit hinaus.“ Nicht die Bestimmtheit, sondern die Klarheit als Oberbegriff sehen beispielsweise Müller, Der Grundsatz der Normenklarheit im Arbeitsrecht, 1992, S. 3 f. und Herschel, Rechtssicherheit und Rechts­ klarheit, JZ 1967, 727, 728 f. Aus dieser unterschiedlichen Betrachtung in Form einer Oberbegriffsbildung einerseits oder einer direkten Gegenüberstellung der Begriffe andererseits resultiert denn auch die „Scheindebatte“, die sich um die Frage dreht,

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

beide Grundsätze allerdings über einen ganz „eigenen Charakter“ und eine unterschiedliche Stoßrichtung.21 Auch das Bundesverfassungsgericht scheint sich nunmehr in Abkehr von seiner früheren inkonsistenten Begriffsprägung22 einer differenzierten und vom überwiegenden Schrifttum23 geteilten Betrachtungsweise anzuschließen.24 Diese Betrachtung definiert Normenklarheit als „Durchsichtigkeit im Zusammenspiel der einzelnen Begriffe, Sätze und Paragraphen und als Übersichtlichkeit der Norm im Aufbau.25 Normenklarheit sei daher die formale Eigenschaft eines Gesetzes, eine Frage der gesetzestechnischen Qualität und der adäquaten Gesetzessprache, also des „Wie“ der gesetzlichen Regelung.26 Bestimmtheit hingegen betreffe die inhaltliche Eigenschaft von Gesetzen.27 Sie beziehe sich auf das Maß ob unklare Normen automatisch unbestimmt sein müssen. Hiervon kann man ausgehen, wenn man die Unbestimmtheit „in einem weiteren Sinne“ versteht, so Braun, Offene Kompetenznormen – ein geeignetes und zulässiges Regulativ im Wirtschaftsverwaltungsrecht?, VerwArch 76 (1985), 24, 46; vgl. Jehke (Fn. 17), S. 186 / 187. Folgt man dieser Einschätzung nicht, können unklare Vorschriften durchaus bestimmt sein; vgl. Geitmann, Bundesverfassungsgericht und „offene“ Normen, 1971, S. 28. Dass klare Normen sowohl bestimmt als auch unbestimmt sein können, ist in der Literatur hingegen – soweit ersichtlich – unstreitig; vgl. Hammer-Strnad (Fn. 13), S. 8. 21  Jehke (Fn. 17), S. 30. 22  „Rechtsstaatliche Grundsätze der Normenklarheit und Justiziabilität“ (BVerfGE 21, 73, 79), „Gebot der Normklarheit“ (BVerfGE 45, 400, 420), „rechtsstaatliches Gebot hinreichender Bestimmtheit“ (BVerfGE 49, 168, 181), Beispiele vgl. Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 265 f. 23  Geitmann (Fn. 20), S. 28; Braun (Fn.  20), VerwArch 76 (1985), 24, 46. Münch, Rechtssicherheit als Standortfaktor, NJW 1996, 3320, 3321; Gassner, Kriterienlose Genehmigungsvorbehalte im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1994, S. 118 f.; Ritter, Das Erfordernis der genügenden Bestimmtheit, 1994, S. 173; Schneider, Gesetzgebung, 3. Auflage, 2002, Rn. 80; Steinmann, Unbestimmtheit verwaltungsrechtlicher Normen aus der Sicht von Vollzug und Rechtsetzung, 1982, S. 79. 24  BVerfGE 110, 33, 53 ff. 25  Braun (Fn.  20), VerwArch 76 (1985) 24, 46; Busch, Das Verhältnis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zum Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt, 1992, S. 141; Gassner (Fn. 23), S. 118 f.; Geitmann (Fn. 20), S. 17 f.; 28; Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielräume bei der Anwendung der Steuergesetze, 1992, S. 109; Stern (Fn. 19), S. 829 f.; Schneider (Fn. 23), Rn. 62 f.; Sayeed (Fn. 18), S. 5. 26  Braun (Fn.  20), VerwArch 76 (1985) 24, 46 im Anschluss an Geitmann (Fn. 20), S. 28; Hamm-Strnad (Fn. 13), S. 7; Sayeed (Fn. 18), S. 5. 27  Bestimmtheit und Klarheit als Eigenschaften von Gesetzen zu sehen, mag dem Vorgang der Gesetzesanwendung, innerhalb dessen viele andere Faktoren wie z. B. die Lesart eine Rolle spielen, nicht gerecht werden. Aus diesem Grund wird mitunter die Vorstellung von situationsabstrakter Bestimmtheit des Textes durch ein Konzept von anwendungsbezogener Bestimmbarkeit ersetzt, vgl. Müller / Christensen (Fn. 14), Rn. 166; Trute, Die konstitutive Rolle der Rechtsanwendung, in: Trute / Groß /  Röhl / Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008, S. 211 ff.; Laudenklos, Rechtsarbeit ist Textarbeit, KJ 1997, 142 ff. Kri-



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips165

an gesetzlichem Inhalt, auf das „Was“ und „Wie viel“ der Regelungsdichte. Regelungsdichte bedeute dabei das Verhältnis zwischen Konkretisierung und Abstraktion.28 Unbestimmtheit sei demnach ein Mangel an Gesetzes­ inhalt und präzisen gesetzlichen Vorgaben.29, 30 1. Gemeinsamkeiten Zunächst ist die sich aus diesen Eigenschaften ergebende Schnittmenge31 beider Grundsätze zu bestimmen. Diese betrifft die Funktion beider Gebote: Sie dienen gleichermaßen der Erzeugung von Rechtssicherheit.32 Denn nur klare und bestimmte Normen garantieren die Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns und sorgen dafür, dass der Normunterworfene sein Verhalten an ihnen auszurichten vermag.33 Somit ist auch die Wirkung bei Nichterfüllung eines dieser Grundsätze vergleichbar. Die „Ermittlung des Normbefehls“ wird für den Gesetzesanwender erheblich erschwert bis unmöglich. Recht als „Kommunikationsmedium“ zwischen Gesetzgeber und Gesetzesanwender „versagt“.34 Klarheit und Bestimmtheit von Normen haben also gemein, dass auf Grund ihres Mangels eine „Rechtsfrage“ nicht mit Gewissheit beantwortet werden kann.35 Auch wenn der Rechtsanwender bei einem Verstoß tisch dazu Gassner (Fn. 6), ZG 1996, 37, 39 unter Verweis auf Geitmann (Fn. 20), S. 25, beide meinen, die Frage der verfassungsrechtlichen Bestimmtheit würde auf diese Weise zum „Scheinproblem“ degradiert werden, wenn keine allgemeingültigen Aussagen im Vorhinein aufgestellt werden könnten. Ihrer Ansicht nach „kann das Bestimmtheitsgebot aber durchaus mittels generalisierender Maßstäbe konkretisiert werden“; vgl. Gassner (Fn. 6), ZG 1996, 37, 39, auch wenn der Grad der Bestimmtheit von Gesetzesvorschriften sehr unterschiedlich sein mag; vgl. Geitmann (Fn. 20), S. 25. Da an dieser Stelle der Untersuchung Fragen der Determination der Gesetzesanwendung eine untergeordnete Rolle spielen, sollen die bereits gewählten Begrifflichkeiten und die Perspektive des Gesetzestextes beibehalten werden. 28  Hill, Einführung in die Gesetzgebungslehre, 1982, S. 108. 29  Geitmann (Fn. 20), S. 163; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1985, S.  121 f. 30  Sayeed (Fn. 18), S. 5; Hamm-Strnad (Fn. 10), S. 7. 31  Gassner (Fn. 23), S. 121 spricht von „zwei sich schneidenden Kreisen“. 32  Gassner (Fn. 23), S. 118; Jehke (Fn. 17), S. 181; Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, 1996, S. 542 f.; Merten, Gesetzeswahrheit und Titelklarheit, in: Rüthers / Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 295, 301. 33  Jehke (Fn. 17), S. 183. 34  Diese identische Wirkungsweise ist auch der Grund, weshalb Rechtsprechung und Literatur teilweise nicht zwischen beiden Grundsätzen unterscheiden, vgl. Jehke (Fn. 17), S. 181; Gassner (Fn. 23), S. 119. 35  Jehke (Fn. 17), S. 182.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

gegen die Grundsätze mit demselben „Ergebnis“ konfrontiert wird, ist der „Weg“ dorthin von ganz unterschiedlichen Defiziten der Normgestaltung geprägt,36 die nachfolgend untersucht werden.37 Festzuhalten bleibt an dieser Stelle aber bereits die Erkenntnis, dass der jeweils andere Begriff nicht als Oberbegriff für beide Grundsätze fungieren kann.38 Vielmehr sind die Begrifflichkeiten unabhängig voneinander zu betrachten.39 2. Unterschiede Nachdem die Gemeinsamkeiten beider Grundsätze betrachtet wurden, erfolgt im Anschluss eine Analyse ihrer Unterschiede. Diese lassen sich in erster Linie an der Gegenüberstellung von „Gesetzestechnik“ und „Gesetzesinhalt“ darstellen.40 Während ein gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßendes Gesetz sprachlich nicht präzise genug gefasst ist, ist das Klarheitsgebot verletzt, wenn das Gesetz „zu kompliziert“ ist, der Bürger also unzumutbare Hindernisse überwinden muss, um festzustellen, welchen „Inhalt“ eine Regelung hat.41 „Überdetalliertheit und Überfrachtetheit von Rechtsnormen“ erzeugen mithin „Unverständnis und Verwirrung“ beim Rechtsbetroffenen.42 Klarheit betrifft folglich die Transparenz der Gesetzesstruktur43 und neigt deshalb zu „Kürze“, „Einfachheit“, „Gliederung und Ordnung“.44 Hingegen wird die Forderung nach sprachlicher Präzision, die das Be36  Jehke

(Fn. 17), S. 183. unten A. I. 2. 38  Zu dieser Frage siehe oben A. I. 39  Geitmann (Fn. 20), S. 47 ff. schlägt als Oberbegriff für Unklarheit und Unbestimmtheit den Begriff der „Offenheit“ vor, ebenso Gassner (Fn. 23), S. 119 und Jehke (Fn. 17), S. 183. Geitmann (Fn. 20), S. 47 Fn. 123 weist darauf hin, dass dieser Begriff im Schrifttum bereits, wenn auch nur „beiläufig“ verwendet wurde, u. a. von Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, S. 58; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 183; Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 37 und Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungslehre, 1965, S. 200, 212. Nach Geitmann (Fn. 20), S. 47 enthält der Begriff der „Offenheit“ anders als die Begriffe der „Unklarheit“ und „Unbestimmtheit“ keine Wertungen und kann nicht nur ein „Entweder-oder“, sondern auch ein „Mehr oder Weniger“ beschreiben. Insbesondere „die positive Seite gesetzlicher Unbestimmtheit“ werde mit dem Begriff der „Offenheit“ „nicht schon von vornhe­ rein“ geleugnet. Im Fokus dieser Untersuchung steht der Begriff der Normenklarheit, dessen Antonym von vornherein negativ konnotiert ist, so dass in diesem Zusammenhang von einer wertneutralen Oberbegriffsbildung abgesehen werden kann. 40  Jehke (Fn. 17), S. 182. 41  Schmalz, Staatsrecht, 4. Auflage, 2000, Rn. 163; Sayeed (Fn. 18), S. 5. 42  Sayeed (Fn. 18), S. 6. 43  Gassner (Fn. 23), S. 119. 44  Sayeed (Fn. 18), S. 6. 37  Siehe



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips167

stimmtheitsgebot aufstellt, in erster Linie durch detaillierte Normen und Regelungskomplexe erfüllt, die bestenfalls bereits konkrete Anwendungsfelder beschreiben.45 Bestimmtheit bezieht sich damit auf Normmerkmale wie „Präzision, Ausführlichkeit und Komplexität“.46 Lange und detaillierte Tatbestandsumschreibungen mit mehreren Voraussetzungen, Varianten, Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen mögen daher als bestimmt gelten, ihnen mangelt es aber an der notwendigen Klarheit.47 Damit werden bereits die „gegensätzlichen Tendenzen“48 beider Begriffe deutlich. In der Rechtspraxis stellt sich das Bestimmtheitsproblem häufig bei der Verwendung von Generalklauseln und ausfüllungsbedürftigen bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen.49 Daher betrifft es meist lediglich einzelne oder wenige Worte im Normtext.50 Dagegen bezieht sich der Verstoß gegen die Normenklarheit fast immer auf ganze Normenkomplexe innerhalb eines Gesetzes oder gar auf das Zusammenspiel von Normen innerhalb verschiedener Gesetze.51 Die Normenklarheit betrifft also das Problem, dass die Begriffe einer Norm zwar „bestimmt oder zumindest bestimmbar“ sind, die Rechtslage aber nicht ermittelt werden kann, weil das Zusammenwirken einzelner Tatbestandsmerkmale einer Norm oder der „Norm mit anderen Normen“ zu unübersichtlich ist.52 3. Elemente des Klarheitsgrundsatzes Unklarheit als ein die Gesetzestechnik betreffendes Defizit kann durch ganz „unterschiedliche Faktoren verursacht werden“.53 In Wissenschaft54 und Praxis55 sind diese Faktoren bereits, wenn auch nicht hinlänglich, um45  Hey, Steuerplanungssicherheit als Rechtsproblem, 2002, S. 549; Hill (Fn. 28), S. 130; Jehke (Fn. 17), S. 182. 46  Sayeed (Fn. 18), S. 6. 47  Schneider (Fn. 23), Rn. 80. 48  Sayeed (Fn. 18), S. 5. 49  Jehke (Fn. 17), S. 184. 50  Jehke (Fn. 17), S. 184. 51  Vogel / Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, Rn.  487; Benda, Die Wahrung verfassungsrechtlicher Grundsätze im Steuerrecht, DStZ 1984, 159, 162. 52  Bartone, Gedanken zu den Grundsätzen der Normenklarheit und Normenbestimmtheit als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, in: Rensen / Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 305, 311. 53  Jehke (Fn. 17), S. 189; Ruppe, Der Anspruch auf Normenklarheit im Steuerrecht und seine Durchsetzung im Gesetzgebungs- und Rechtsschutzverfahren, Beihefter zu DStR 17 (2008), 20; Sayeed (Fn. 18), S. 115. 54  U. a. Burghart, Die Pflicht zum guten Gesetz, 1995, S.  61  ff.; Schneider (Fn. 23), Rn. 329 ff.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

schrieben worden.56 Der Gesetzgeber ist demnach gehalten, verständliche, „durchsichtige“,57 „widerspruchsfreie“,58 „praktikable“,59 „justiziable“60 und „übersichtliche“61 Normen zu schaffen.62 All diese Aspekte betreffen in Ab­ grenzung zum Bestimmtheitsgebot die äußere Normgestaltung.63 Die Vielzahl der Umschreibungen suggeriert, es handele sich bei dem Gebot der Klarheit um ein viel heterogeneres und vielschichtigeres als das der Bestimmtheit, welches insbesondere ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe betrifft.64 Die Elemente gesetzlicher Klarheit sind allerdings durchaus systematisier- und „kategorisierbar“65, wie nachfolgend gezeigt wird.66 In der Praxis treten die einzelnen Faktoren bei der Beurteilung eines Klarheitsproblems nicht selten gemeinsam auf. Mitunter sind sie eng miteinander verzahnt und stehen ggf. in gegenseitiger Abhängigkeit.67 Eine von­ einander getrennte Betrachtung erscheint dennoch sinnvoll, um die Konturen des Klarheitsgrundsatzes deutlicher bestimmen zu können. a) Verständlichkeit Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Verständlichkeit“68 führt zu keinen neuen Erkenntnissen, denn es handelt sich dabei lediglich um ein „Synonym“ für Klarheit.69 Das Gebot der Klarheit setzt nämlich bei der Verständlichkeit der Norm an.70 Ist eine Norm unverständlich, kann der Normunterworfene sein Verhalten nicht an ihr ausrichten, so dass auch ein 55  BFH Beschl. v. 6.9. 2006, XI R 26 / 04, FR 2007, 188, 192; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Auflage, 2008. 56  Sayeed (Fn. 18), S. 115. 57  Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 46. 58  Benda (Fn. 51), DStZ 1984, 159, 162 f. 59  Arndt, Praktikabilität und Effizienz, 1983, S.  7  ff.; Herschel (Fn. 20), JZ 1967, 727, 732. 60  BVerfGE 21, 73, 79; 31, 255, 264. 61  Maurer, Staatsrecht I, 6. Auflage, 2010, § 8 Rn. 48. 62  BFH Beschl. v. 6.9. 2006, XI R 26 / 04, FR 2007, 188, 192. 63  Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 46. 64  Jehke (Fn. 17), S. 189. 65  Jehke (Fn. 17), S. 189. 66  Siehe unten A. I. 3. a); A. I. 3. b); A. I. 3. c); A. I. 3. d). 67  Sayeed (Fn. 18), S. 115. 68  Huber, Verständlichkeit als Gebot der Verfassung, ZG 1990, 355 ff.; Burghart (Fn. 54), S. 61 ff. 69  BVerfGE 14, 13, 16; Hey (Fn. 45), S. 554 (Fn. 42); Jehke (Fn. 17), S. 189; Schätzler, Sind schlechte Gesetze nichtig?, NJW 1957, 121, 122. 70  Towfigh, Komplexität und Normenklarheit – oder: Gesetze sind für Juristen gemacht, Der Staat 48 (2009), 29, 38.



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips169

Folgeleisten nicht verlangt werden kann. Rechtstechnisch entfällt der Befolgungsanspruch mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Die Verfassungswidrigkeit ergibt sich wiederum aus dem Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit.71 „Verständlichkeit“ dient demnach lediglich der allgemeinen Umschreibung der Grundannahmen des Klarheitsgebots und ist kein eigenständiges Subelement, durch dessen Untersuchung der Klarheitsgrundsatz deutlichere Konturen gewinnen könnte.72 b) Widerspruchsfreiheit Angesichts der immer weiter voranschreitenden Differenziertheit zu regelnder Lebensbereiche und der damit einhergehenden Verzweigung und Spezialisierung der Rechtsordnung können einzelne Vorschriften und Gesetze heute nicht mehr zusammenhanglos betrachtet werden.73 Jede Norm und jedes Gesetz ist vielmehr Teil eines netzförmigen Systems, in dem sich Regelungen gegenseitig beeinflussen und mitunter auch bedingen.74 Damit dieses System nicht in seinen Grundfesten erschüttert wird, müssen die Regelungen prinzipiell widerspruchsfrei verfasst sein. Widerspruchsfreiheit ist somit ein weiteres Element des Klarheitsgebots.75 Gesetzliche Widersprüchlichkeit kann in unterschiedlichen „Formen“ auftreten.76 Zunächst können sich Tatbestandsmerkmale innerhalb einer Vorschrift schon „sprachlogisch (…) widersprechen“.77 Ist dies der Fall, geht der Normbefehl mit dem entsprechenden „Aussagegehalt“ auf Grund des Verstoßes gegen den Klarheitsgrundsatz verloren, denn vom Bürger kann nicht erwartet werden, dass er der „Handlungsanweisung“ folgt.78 Betrifft 71  Towfigh

(Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 38. (Fn. 17), S. 190. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der „Praktikabilität“. Dieser ist auch kein Subelement des Klarheitsgebots, sondern steht zu diesem im Verhältnis von Ursache und Wirkung; vgl. Hey (Fn. 45), S. 549, Jehke (Fn. 17), S. 190 Fn. 50. 73  Sayeed (Fn. 18), S. 119. 74  Brandner, Berichtigung von Gesetzesbeschlüssen durch die Exekutive, ZG 1990, 46, 58; Sayeed (Fn. 18), S. 119. 75  Burghart (Fn. 54), S. 108. 76  Jehke (Fn. 17), S. 190. 77  Gassner (Fn. 23), S. 120; Dieser Fall wird tatsächlich kaum vorkommen, ist aber denkbar, wenn eine Norm auf Tatbestandsseite gleichzeitig sagt: „Wenn A, dann B“ und „Wenn nicht A, dann B“. Zumeist ist das Zusammenspiel von Tatbestandsmerkmalen innerhalb einer Norm oder verschiedener Normen lediglich „gestört“, kann also durch Auslegung behoben werden, vgl. Jehke (Fn. 17), S. 190. 78  Gassner (Fn. 23), S. 120; Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 48; Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung? – Eine Reise nach Absurdistan?, NJW 1998, 2875, 2876; Jehke (Fn. 17), S. 190. 72  Jehke

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

der Widerspruch nicht den Tatbestand einer, sondern die Rechtsfolgen verschiedener Normen, ist dieser nur in dem Maße beachtlich, wie er nicht durch Auslegung behoben werden kann.79 Ob ein Verstoß gegen das Klarheitsgebot auf Grund von Widersprüchlichkeit in dieser Rechtsfolgenkon­ stellation überhaupt in Betracht zu ziehen ist, hängt davon ab, ob es sich bei dem Widerspruch um einen Regel- oder Prinzipienkonflikt handelt.80 Ein Regelkonflikt liegt vor, wenn die Auslegung beider Normen ergibt, dass sich die „gesetzlichen Handlungsanweisungen“ widersprechen, weil sie sich z. B. gegenseitig ausschließen, wie etwa ein „Gebot“ und ein „Verbot“.81 Ist der festgestellte Regelungskonflikt auch nicht durch die Heranziehung von juristischen Kollisionsregeln aus der Welt zu räumen, liegt ein „echter“ Widerspruch vor, der vom Klarheitsgebot umfasst wird, denn der Norm­ unterworfene kann nicht erkennen, „wie er sich rechtmäßig verhalten soll“.82 Ein Prinzipienkonflikt stellt hingegen lediglich ein Spannungsverhältnis zwischen Optimierungsgeboten dar.83 Deren Realisierbarkeit wird überhaupt erst durch gegenläufige Prinzipien determiniert.84 Es geht also nicht um zwei sich entgegenstehende Handlungsanweisungen, von denen realiter nur eine befolgt werden kann, sondern um unterschiedliche Wertungen, die mittels Auslegung prinzipiell zu einem Ausgleich gebracht werden können.85 Der Wertungs- bzw. Prinzipienkonflikt führt damit nicht zu einem Zustand, der für das Klarheitsgebot von Relevanz wäre.86 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „sprachliche Inkonsistenzen“87 häufig durch Auslegung bewältigt werden können. Ein Verstoß gegen das Klarheitsgebot auf Grund von Widersprüchlichkeit liegt nur vor, wenn be79  Sendler (Fn. 78), NJW 1998, 2875, 2876; Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588, 592; Jehke (Fn.17), S. 191. 80  Zur Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 5. Auflage, 2006, S. 77 ff.; Jehke (Fn. 17), S. 191. 81  Jehke (Fn. 17), S. 190. Felix, Die Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 245 weist außerdem darauf hin, dass der Begriff „Widerspruch“ nicht mehr verwendet werden sollte, da Rechtsnormen keinen Wahrheitsgehalt haben und man aus diesem Grund besser von „Normenkonflikt“ sprechen sollte. Hier wird der Begriff aus Vereinfachungsgründen synonym verwendet, vgl. Jehke (Fn. 17), S. 191 Fn. 55. 82  BVerfGE 17, 306, 314; 25, 216, 227; Felix (Fn. 81), S. 239 ff.; Jarass (Fn. 79), AöR 126 (2001), S. 588, 597; Jehke (Fn. 17), S. 191. 83  Jehke (Fn. 17), S. 191. 84  Alexy, Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, ARSP Beiheft 25 (1985), 13, 19. 85  Alexy (Fn. 80), S. 78 ff.; Jarass (Fn. 79), AöR 126 (2001), S. 588, 593; Bumke, Gesetzgebungskompetenz unter bundesstaatlichem Kohärenzzwang?, ZG 1999, 376, 379; Jehke (Fn. 17), S. 192. 86  Bumke (Fn. 85), ZG 1999, 376, 379; Jehke (Fn. 17), S. 192. 87  Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 47.



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips171

reits sprachlogische Widersprüche auf Tatbestandsseite oder nicht ausräumbare Regelkonflikte auf Rechtsfolgenseite bestehen.88 c) Systemgerechtigkeit als Widerspruchsfreiheit der Gesamtrechtsordnung Nachdem mit der Widerspruchsfreiheit die „Systemverträglichkeit“89 einzelner Vorschriften und Gesetze betrachtet und Verstöße gegen den Klarheitsgrundsatz für bestimmte Fälle ermittelt wurden, stellt sich nun die Frage nach der Systemgerechtigkeit der Gesamtrechtsordnung und ihrer Relevanz für den Klarheitsgrundsatz. Am Maßstab der Systemgerechtigkeit wird im Allgemeinen diskutiert, ob der Gesetzgeber seine einmal gewählte gesetzliche Grundkonzeption überdenken darf, oder ob er bei seiner Änderungsgesetzgebung stets an eine folgerichtige Entwicklung gebunden ist.90 Mitunter wird ein in sich geschlossenes „Gerüst systematisch aufeinander abgestimmter Prinzipien“ der Gesamtrechtsordnung verlangt und bei dessen Fehlen ein Verstoß gegen den Klarheitsgrundsatz angenommen.91 Aus den vorangehenden Erwägungen92 wird jedoch deutlich, dass Wertungs- und damit Prinzipienkonflikte für den Klarheitsgrundsatz nicht von Belang sind, da sie grundsätzlich durch Auslegung behoben werden können. Außerdem steht für Fragen der Systemgerechtigkeit anstelle des rechtsstaatlichen Klarheitsgebots mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG ein probates Mittel zur Verfügung, um den Gesetzgeber an sein einmal gewähltes Regelungsprogramm zu erinnern.93 Damit geht dann aber auch einher, dass der Gesetzgeber von seinem einmal gewählten System selbstverständlich abweichen darf, wenn es dafür einen stichhaltigen Grund gibt.94 d) Übersichtlichkeit Von besonderer Bedeutung für das rechtsstaatliche Klarheitsgebot ist der Aspekt der „Überschaubarkeit“, „Transparenz“ und „Übersichtlichkeit“ der Rechtsordnung.95 Daran mangelt es, wenn die Rechtslage auf Grund des 88  Jehke

(Fn. 17), S. 192; Sayeed (Fn. 18), S. 128. (Fn. 54), S. 108. 90  Burghart (Fn. 54), S. 108. 91  Hey (Fn. 45), S. 564. 92  Siehe oben A. I. 3. b). 93  Jehke (Fn. 17), S. 196. 94  BVerfGE 85, 238, 247; Jehke (Fn. 17), S. 194; Jarass (Fn. 79), AöR 126 (2001), S. 588, 595 f. 89  Burghart

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Umfangs und der Eigenart ihrer Regelung nicht mehr erkennbar ist.96 Der Begriff der „Übersichtlichkeit“ impliziert eine weiträumige Verwoben- und Ausdifferenziertheit der Rechtsordnung und betrifft damit in der Regel das „Zusammenspiel“ mehrerer „Normenkomplexe“ und seltener das einzelner Normen.97 Einzelne Vorschriften mit ihren Tatbestandsmerkmalen können demnach für sich genommen bestimmt bzw. bestimmbar sein. Die Rechtslage kann unter Berücksichtigung des „Zusammenspiels einzelner Tatbestandsmerkmale“ einer Norm oder häufiger einer Norm mit anderen Normen indessen so undurchschaubar sein, dass nicht mehr festgestellt werden kann, welches Verhalten dem Normadressaten auferlegt wird, also rechtens ist.98 Hängt die Feststellung der Rechtslage für den Normunterworfenen also nicht nur von einer Einzelnorm ab – was wohl die Regel und nicht die Ausnahme sein dürfte – sondern vom Zusammenspiel von Normen unterschiedlicher Regelungsbereiche, müssen die „Klarheit des Norminhalts“ und die Vorhersehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch in Hinblick auf dieses „Zusammenwirken“ gegeben sein.99 aa) Der Grundsatz der Übersichtlichkeit in ausgewählten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts In der Vergangenheit hat sich das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen mit dem Erfordernis der Übersichtlichkeit bei der Normgestaltung – wenn auch nicht immer unter konkreter Benennung dessen100 – befasst. Exemplarisch sollen im Folgenden drei Entscheidungen kurz referiert werden, um dabei die spezifischen Gegebenheiten der Unüber95  Die Begriffe betreffen alle dasselbe Subelement des Klarheitsgebots und sind daher synonym verwendbar. Gassner (Fn. 23), S. 119 f. spricht von „Übersichtlichkeit“ und „Transparenz“; Geitmann (Fn. 20), S. S. 28 spricht lediglich von „Übersichtlichkeit“; Huber (Fn. 68), ZG 1990, 355, 358 spricht von „Überschaubarkeit“ und Hey (Fn. 45), S. 554 ff. auch von „Übersichtlichkeit“; vgl. Jehke (Fn. 17), S. 196 Fn. 84. 96  Gassner (Fn. 23), S. 119 ff.; Jehke (Fn. 17), S. 196. 97  BVerfGE 108, 52, 75; 110, 33, 53 f.; Jehke (Fn. 17), S. 196. 98  Ruppe (Fn. 53), Beihefter zu DStR 17 (2008), 20, 23; Bartone (Fn. 52), S. 305, 311. 99  BVerfGE 108, 52, 75; 110, 33, 53 f.; BVerfG NJW 2003, 2733, 2735; Papier, Verfassungsrechtliche Grundlagen der Besteuerung, in: Brandt (Hrsg.), Für eine bessere Steuerrechtskultur. Erster Deutscher Finanzgerichtstag 2004, S. 25, 29. 100  Generell werden mit „Klarheit“ mal Bestimmtheitsanforderungen (BVerfGE 31, 255, 264; 37, 132, 142; 65, 1, 44; 103, 21, 33) und mal mit „Bestimmtheit“ Klarheitsanforderungen (BVerfGE 17, 67, 82) aufgestellt. Andermal werden Klarheitsanforderungen nur mit „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ umschrieben (BVerfGE 1, 14, 45; 5, 25, 31; 17, 67, 82); vgl. Jehke (Fn. 17), S. 201.



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sichtlichkeit und die vom Gericht aufgestellten Maßstäbe zur Beurteilung dieser nachvollziehen zu können. In allen drei Entscheidungen sorgten Verweisungen für die beanstandete Unübersichtlichkeit; etwa in Form eines Generalverweises, einer dynamischen Verweisung und in Form von Verweisungsketten. (1) Entscheidung zu den Apothekenstoppgesetzen Im Jahre 1956 hat das Bundesverfassungsgericht101 die zwischen 1953 und 1955 erlassenen Gesetze über die Errichtung neuer Apotheken, die sogenannten Apothekenstoppgesetze,102 in Gänze für nichtig erklärt.103 Der zweite Leitsatz der Entscheidung lautet: „Wenn ein Gesetz auf andere Normen verweist, so muß es, um den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit zu genügen, klar erkennen lassen, welche Normen gelten sollen.“104 Die beiden angegriffenen Apothekenstoppgesetze sahen in ihrem jeweiligen § 1 vor, „dass bis zum Inkrafttreten einer bundesgesetzlichen Regelung des Apothekenwesens die Erlaubnis oder die Berechtigung zur Errichtung einer Apotheke nur auf Grund der Bestimmungen erteilt werden dürfe, die am 1. Oktober 1945 in den einzelnen Ländern des Bundesgebiets galten“.105 § 1 der Apothekenstoppgesetze enthielt also keine eigene Regelung über die Errichtung von Apotheken, sondern verwies generell auf das am 1. Oktober 1945 in den Ländern geltende Recht. Sein Inhalt war demnach nur unter Heranziehung des Landesrechts ermittelbar.106 Dieses Landesrecht beruhte wiederum auf einer Vielzahl einzelner Vorschriften, die sehr unübersichtlich waren.107 Nicht umsonst wurde seinerzeit von der „Buntscheckigkeit des 101  BVerfGE 5, 25 ff. Dazu Clemens, Die Verweisung von einer Rechtsnorm auf andere Vorschriften, AöR 111 (1986), S. 63, 85. Kritisch zur Entscheidung des BVerfG Schätzler (Fn. 69), NJW 1957, 121. 102  Gesetze v. 13.1.1953 (BGBl I, 9), v. 4. 7. 1953 (BGBl I, 469), v. 10.8.1954 (BGBl I, 256) und v. 23.12.1955 (BGBl I, 840). 103  Dazu Lehner, Zur Bestimmtheit von Rechtsnormen – am Beispiel einer Entscheidung des Österreichischen VerfGH, NJW 1991, 890, 891. 104  BVerfGE, 5, 25. 105  BVerfGE 5, 25, 26. 106  BVerfGE 5, 25, 31. 107  BVerfGE 5, 25, 31 f.: „Nur in wenigen Ländern bestehen verhältnismäßig einfach zu ermittelnde Rechtsvorschriften aus jüngerer Zeit (vgl. etwa Bayern, Verordnung über das Apothekenwesen vom 27. Juni 1913, GVBl. S. 343, in der Fassung der Verordnung vom 7. Mai 1936, GVBl. S. 87, Gesetz über das Apothekenwesen vom 16. September 1933, GVBl. S. 274 und Württemberg, Verordnung des Staatsministeriums über die Apothekenberechtigungen vom 13. Dezember 1933, RegBl. S. 433). Überwiegend beruht die rechtliche Regelung der Errichtung neuer Apotheken auf einer Vielzahl einzelner Vorschriften. Sie gehen zum Teil auf die Zeit vor Erlaß der

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Apothekenbetriebsrechts der Länder“ gesprochen.108 Zum Teil reichten die Vorschriften auf die Zeit vor Entstehung des Grundgesetzes zurück und wurden als Rechtsvorschriften oder mitunter auch als Ministerialerlasse verabschiedet.109 Inwieweit spätere Erlasse frühere aufhoben, konnte nur mit Schwierigkeiten festgestellt werden.110 Die Unübersichtlichkeit ergab sich laut Bundesverfassungsgericht nicht zuletzt daraus, dass nicht einmal die mit der Sachmaterie befassten Behörden eines Landes übereinstimmende Auskünfte hinsichtlich der Rechtslage gaben. Somit könnte erst recht nicht dem Rechtsunterworfenen zugemutet werden, von sich aus zu ermitteln, welche Bestimmungen Anwendung fänden.111 Wegen der generellen Verweisung112 auf das in den jeweiligen Ländern geltende Recht sei „die ­Ermittlung dessen, was nach den Apothekenstoppgesetzen rechtens sei, dem Rechtsunterworfenen ohne Zuhilfenahme spezieller Kenntnisse nicht möglich“.113 „Weder die in Bezug genommenen Bestimmungen seien klar erkennbar noch kann er deren Inhalt mit hinreichender Sicherheit feststellen.“114 Somit sei „der Inhalt der Apothekenstoppgesetze unklar und unbestimmt“.115 Da § 1 jeweils den einzigen materiellen Inhalt der Gesetze darstellte, wurden die Gesetze gänzlich für nichtig erklärt.116 Verfassungen zurück und sind bald als Rechtsvorschriften, bald als Ministerialerlasse veröffentlicht. In den Ländern, in denen preußisches Recht gilt, sind außer der revidierten Apothekenordnung vom 11. Oktober 1801, dem Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810 (GS S. 79) und der Königlichen Verordnung wegen Anlegung neuer Apotheken vom 24. Oktober 1811 (GS S. 359) noch insgesamt 15 Erlasse und Kabinettsorders heranzuziehen, die zwischen 1840 und 1913 ergingen. Wie weit spätere Erlasse frühere aufheben, kann nur mit Schwierigkeiten festgestellt werden. Die tatsächliche Unübersichtlichkeit der Vorschriften wird nicht zuletzt dadurch belegt, daß die Auskünfte der Länder, zu denen ehemals preußische Gebietsteile gehören, über das preußische Apothekenrecht nicht übereinstimmen; so nennt etwa die Auskunft eines Landes weder die Kabinettsorder vom 30. Juni 1894 noch den sie ausführenden Ministerialerlaß vom 5. Juli 1894, obwohl diese Vorschriften die Rechtsgrundlage für die Erteilung von Personalkonzessionen ohne das Recht der Präsentation des Nachfolgers bilden. Hinsichtlich des früheren hessischen Rechts gehen die Auskünfte der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen auseinander; eines der Länder nennt zwei Erlasse vom 5. Mai 1935 und 9. Juli 1936 nicht, die das andere als Änderung eines von beiden erwähnten Erlasses vom 8. Juli 1911 mitteilt.“ 108  Sellmann, Anmerkung zu BVerfGE 5, 25 ff., DVBl 1956, 569, 572. 109  BVerfGE 5, 25, 31. 110  BVerfGE 5, 25, 32. 111  BVerfGE 5, 25, 33. 112  Zur Verweisung umfassend Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, 1970. 113  BVerfGE 5, 25, 32. 114  BVerfGE 5, 25, 32. 115  BVerfGE 5, 25, 34. 116  BVerfGE 5, 25, 34.



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips175

(2) Zwischenergebnis Augenscheinlich hat sich das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung schon sehr früh mit der Gesetzestechnik und in diesem Zusammenhang auch mit dem Aspekt der Übersichtlichkeit beim Zusammenspiel verschiedener Normen befasst.117 Die Unübersichtlichkeit des Regelungszusammenhangs ergibt sich in dieser Entscheidung in erster Linie aus einem Generalverweis auf landesrechtliche Vorschriften, denen es selbst an Überschaubarkeit mangelt. (3) E  ntscheidung zur Anrechnung des Kindergeldes auf Unterhaltszahlungen Auch im Steuerrecht hat sich das Bundesverfassungsgericht in einer jüngeren Entscheidung118 mit einer ähnlichen Konstellation auseinander gesetzt.119 Die Entscheidung beruhte auf einer Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG120 des Amtsgerichts Kamenz und einer Verfassungsbeschwerde und betraf die Nichtanrechnung von Kindergeld auf den Kindesunterhalt getrennt lebender Eltern nach § 1612 b Abs. 5 BGB a. F.121 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die angegriffene Norm des § 1612 b Abs. 5 BGB a. F. für mit dem Grundgesetz – insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 GG – vereinbar erklärt122 und die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.123 Gleichzeitig erging aber ein „Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber“124 mit folgendem zweiten Leitsatz der Entscheidung:125 „Das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG gebietet dem Gesetzgeber, bei der von ihm gewählten Ausgestaltung eines Familienleistungsausgleichs Normen zu schaffen, die auch in ihrem Zusammenwirken dem Grundsatz der Normklarheit entspre117  Sayeed

(Fn. 18), S. 72. 108, 52 ff. 119  Sayeed (Fn. 18), S. 72. 120  Vorlagebeschluss AG Kamenz, v. 30.1.2001  – 1 F 210 / 00. 121  Sayeed (Fn. 18), S. 72. 122  Jehke (Fn. 17), S. 204. 123  Bartone (Fn. 52), S. 305, 318. 124  Der Bundestag hatte die verfassungsrechtlich problematische Gesetzeslage schon vor der Entscheidung des BVerfG erkannt und die Bundesregierung in einer Entschließung aufgefordert, das Unterhaltsrecht mit sozial- und steuerlichen Parallelvorschriften abzustimmen; vgl. BT-Drs. 14 / 3781, S. 3. Das BVerfG konnte auf diese Entschließung verweisen und die gesetzgebenden Organe ermahnen, Abhilfe zu schaffen. Auf eine Verfassungswidrigkeitserklärung konnte somit verzichtet werden; vgl. BVerfGE 108, 52, 77. 125  Jehke (Fn. 17), S. 204. 118  BVerfGE

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

chen. Dem genügen die das Kindergeld betreffenden Regelungen in ihrer sozial-, steuer- und familienrechtlichen Verflechtung immer weniger.“126 Zu den Gründen, die im Zusammenhang mit der Normenklarheit stehen, hat das Gericht ausgeführt, dass gesetzliche Regelungen so gefasst sein müssten, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen könne, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag.127 Die Anforderungen an die Normenklarheit seien erhöht, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Rechtslage die Betätigung von Grundrechten erschwere.128 Nicht nur bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen, sondern auch bei der Gewährung von Leistungen müssten die Normen für den Betroffenen klar, nachvollziehbar und in ihrer Ausgestaltung widerspruchsfrei sein.129 „Soweit die praktische Bedeutung einer Norm für den Normunterworfenen nicht nur von der Geltung und Anwendung einer Einzelnorm abhängt, sondern vom Zusammenspiel von Normen unterschiedlicher Regelungsbereiche, hier des Kindergeld-, Unterhalts-, Steuerund Sozialhilferechts, müssen die Klarheit des Norminhalts und die Voraussehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch in Hinblick auf dieses Zusammenwirken gesichert sein.“130 Die betreffenden Regelungen würden in ihren sozial-, steuer- und familienrechtlichen Verflechtungen diesen Grundsätzen immer weniger genügen.131 Es sei schon nicht erkennbar, „inwieweit das Kindergeld in seiner Doppelfunktion als Sozial- und gleichzeitig steuerliche Ausgleichsleistung Steuergerechtigkeit herstellen soll und welcher Anteil hiervon staatliche Familienförderung ist“.132 Neben der Nebulösität der Funktion des Kindergeldes seien insbesondere dynamische Verweisungen zur Ermittlung von Messgrößen für die Höhe des Kindesunterhalts für dieses Defizit verantwortlich.133 Gerade für Kindergeldberechtigte, die auf familienfördernde Leistungen des Staates besonders angewiesen sind, sei schwer erkennbar, in welcher Höhe sie mit Kindergeld rechnen können.134 Diese Situation hält das Gericht für bedenklich und fordert den Gesetzgeber auf, Abhilfe zu schaffen.135

126  BVerfGE 127  BVerfGE 128  BVerfGE 129  BVerfGE 130  BVerfGE 131  BVerfGE 132  BVerfGE 133  BVerfGE 134  BVerfGE 135  BVerfGE

108, 108, 108, 108, 108, 108, 108, 108, 108, 108,

52, 52, 52, 52, 52, 52, 52, 52, 52, 52,

53. 75. 75. 75. 75. 75. 75. 75 f.; Sayeed (Fn. 18), S. 73. 77. 77.



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips177

(4) Zwischenergebnis Wiederum hat sich das Gericht in dieser Entscheidung u. a. mit dem Aspekt der Übersichtlichkeit von Normen – jedenfalls der Sache nach – befasst. Auch wenn eine konkrete Bezeichnung in dieser Hinsicht unterblieben ist, wurde auf Begriffe wie das „Rechtsstaatsprinzip“ oder eine „Verflechtung“ rekurriert.136 Wieder tragen Verweisungen, in diesem Fall dynamische137, zur Unschärfe der Rechtslage bei. (5) Präventivüberwachung durch das Zollkriminalamt In einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts138 ging es um die Überwachung des Briefverkehrs und der Telekommunikation durch das Zollkriminalamt.139 Der abstrakte Normenkontrollantrag der Regierung des Landes Rheinland-Pfalz richtete sich gegen die §§ 33, 39, 40 und 41 Außenwirtschaftsgesetz (AWG), die die Befugnisse des Zollkriminalamts beschrieben, Sendungen, die vom Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis des Art. 10 Abs. 1 GG geschützt werden, zu öffnen und auszuwerten sowie die Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen.140 Weiterhin befasste sich die Entscheidung mit der Befugnis öffentlicher Stellen, die erlangten personenbezogenen Daten zu verarbeiten.141 Das Gericht erklärte die benannten Normen für mit Art. 10 GG unvereinbar.142 Zu den Gründen führte das Bundesverfassungsgericht aus: „Ermächtigungen zu Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GG bedürfen nach Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG einer gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit zu entsprechen hat. (…) Der Betroffene muss die Rechtslage anhand der gesetzlichen Regelung so erkennen können, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag. (…) Soweit die praktische Bedeutung einer Regelung vom Zusammenspiel der Normen unterschiedlicher Regelungsbereiche abhängt, müssen die Klarheit des Normeninhalts und die Voraussehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch im Hinblick auf dieses Zusammenwirken 136  2.

Leitsatz der Entscheidung, BVerfGE 108, 52, 53. Abgrenzung statischer und dynamischer Verweisungen siehe Fn. 163. 138  BVerfGE 110, 33 ff. Dazu Huber, Effektiver Grundrechtsschutz mit Verfallsdatum – Die präventive Überwachung der Telekommunikation und Post nach dem novellierten Zollfahndungsdienstgesetz, NJW 2005, 2260 ff. 139  Sayeed (Fn. 18), S. 74. 140  BVerfGE 110, 33, 52 ff. 141  BVerfGE 110, 33, 68 ff.; Bartone (Fn. 52), S. 320. 142  Entscheidungsformel BVerfGE 110, 33. 137  Zur

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

gesichert sein.“143 Gerade das Zusammenspiel von Normen unterschied­ licher Regelungsbereiche widerspreche aber im Außenwirtschaftsgesetz den Geboten von Normenbestimmtheit und Normenklarheit. Mit Blick auf die Normenklarheit würden Verweisungen und Weiterverweisungen auf Strafrechtsnormen, Ordnungswidrigkeitentatbestände, Anlagen, Genehmigungstatbestände und Verfahrensnormen über eine starke Streubreite und Verschachtelung verfügen.144 Zwar könnten Verweisungsketten als solche bei komplexen Regelungszusammenhängen eine vorzugswürdige Alternative gegenüber einer ausufernden Eingriffsnorm sein.145 Ergibt sich der Norminhalt aber erst aus langen, über mehrere Ebenen gestaffelten, unterschiedlich variablen Verweisungsketten, „die bei gleichzeitiger Verzweigung in die Breite den Charakter von Kaskaden annehmen, leidet die praktische Erkennbarkeit der maßgebenden Rechtsgrundlage“.146 Außerdem berge die Anzahl und die Möglichkeit zu unterschiedlichen Kombinationen von Tatbestandsmerkmalen „ein hohes Fehlerrisiko in der Rechtsanwendung“ in sich, zumal sich die Tatbestandsmerkmale auf ein Verhalten beziehen, „das sich noch im Vorfeld einer Straftat und damit der Verwirklichung der Tatbestandselemente befindet“.147 Könnten allenfalls Experten mit vertretbarem Aufwand die Rechtslage bestimmen, sei das Gebot der Normenklarheit verletzt.148 Aber nicht nur im Vorfeldbereich, sondern auch hinsichtlich der Verwendung einmal erhobener Daten würden die Vorschriften des Außenwirtschaftsgesetzes erhebliche Mängel in Hinblick auf das Gebot der Normenklarheit aufweisen.149 Da neue Eingriffsbefugnisse im Vorfeldbereich häufig mit bereits vorhandenen und seltener mit neuen Datenverwendungsregelungen kombiniert werden, sei selbst für einen geschulten Betrachter die Ermittlung der Rechtslage hinsichtlich der weiteren Datenverwendung wenn überhaupt nur mit unvertretbarem Aufwand möglich.150 (6) Zwischenergebnis Auch in dieser Entscheidung befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit dem aus dem Klarheitsgebot fließenden Grundsatz der Übersichtlichkeit 143  BVerfGE,

110, 33, 75. 110, 33, 61. 145  BVerfGE 110, 33, 63. 146  BVerfGE 110, 33, 63 f. 147  BVerfGE 110, 33, 61 f. 148  BVerfGE 110, 33, 64. 149  BVerfGE 110, 33, 68 ff. 150  Trute, Rechtsprechungsanalyse – Grenzen des präventionsorientierten Polizeirechts in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Die Verwaltung 2009, 85, 92. 144  BVerfGE



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips179

von Rechtsnormen. Die Unschärfe des Regelungszusammenhangs ergibt sich in dieser Entscheidung insbesondere aus der Verwendung von Verweisungsketten. bb) Gebot der Übersichtlichkeit als Komplexitätskontrolle Das Gebot der Übersichtlichkeit von Normen korrespondiert mit einem in erster Linie „kognitiven Problem“ des Adressaten.151 Normative Komplexität und Ausdifferenziertheit erschweren dem Adressaten die Erfassung des Norminhalts.152 Während dies bei der Widersprüchlichkeit von Normen153 eher mit dem Inhalt der Regelung zu tun hat, resultiert der Erkenntnismangel hinsichtlich des Norminhalts bei Unübersichtlichkeit vor allem aus der formalen Gesetzestechnik.154 Will man allerdings nicht auf die – wenn auch konstruierte – Abbildung der Lebenswirklichkeit im Recht verzichten, ist die zunehmende Komplexität der Lebensbereiche notwendigerweise mit einer steigenden Komplexität des Rechts verbunden.155 Die Grenzen der Zulässigkeit normativer Komplexität sind gleichwohl überschritten, wenn der Adressat nicht erkennen kann, was die jeweilige Norm von ihm verlangt.156 Das Gebot der Übersichtlichkeit dient somit wie eine Art Filter der „Komplexitätskontrolle“, indem „es die Ränder der Rechtmäßigkeit normativer Komplexität markiert“.157 (1) Parameter normativer Komplexität Auch wenn sich im deutschen Schrifttum bisher noch kein einheitlicher Begriff der Komplexität herausgebildet hat,158 wurden zumindest Parameter 151  Jehke

(Fn. 17), S. 196. (Fn. 17), S. 196. 153  Siehe oben A. I. 3. b). 154  Jehke (Fn. 17), S. 196. 155  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 37. 156  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 30. 157  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 37. 158  Im deutschen Rechtsraum wird der Begriff der Komplexität – soweit ersichtlich – lediglich in einem deskriptiven Sinne gebraucht, vgl. BFH, B. v. 6.9.2006, XI R 26 / 04, BB 2006, 2506, 2512, 2513, 2514. Auf internationaler Ebene findet hingegen bereits eine Diskussion hin zu einer juristisch-dogmatischen Begriffsbildung statt, vgl. Burton / Dirkis, Defining Legislative Complexity – A Case study: The tax law improvement project, University of Tasmania Law Review, 1996, 14, 198 ff.; Green, Accounting Standards and Tax Law: Complexity Dynamism and Divergence, British Tax Review 1995, 445 ff.; Schuck, Legal Complexity: Some Causes, Consequences and Cures, Duke Law Journal, 42 (1992), 1 ff.; Nachweise bei Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 31 Fn. 12. 152  Jehke

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

normativer Komplexität bereits beschrieben.159 Diese Parameter werden als „Dichte“ und „Interdependenz“ bezeichnet.160 Die „Dichte“ befasst sich mit der Zahl der normativen Informationen einer Vorschrift, demnach mit der Summe der Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgenbefehle einer Rechtsnorm.161 Normative „Interdependenz“ zählt hingegen nicht die Anzahl der zu verarbeitenden Aussagen einer Norm, sondern betrachtet die Wechselbezüglichkeit von Tatbestandsmerkmalen und Rechtsfolgenanordnungen verschiedener Normen oder innerhalb einer Norm. Es handelt sich dabei jeweils um „externe“ oder „interne“ normative „Interdependenz“.162 Den Hauptanwendungsfall normativer Interdependenz stellen Verweisungen jeglicher Art163 dar. Sie erzeugen „interne“ und viel häufiger „externe Interdependenzen“, so dass sich die Anzahl der Vorschriften, die für die Beurteilung einer Rechtsfrage herangezogen werden, erhöht.164 Mitunter können „kombinatorische Explosionen“ entstehen, falls äußerst viele Wechselbeziehungen verschiedener Normen zu berücksichtigen sind.165 Dies erschwert nicht nur dem Gesetzgeber die Normsetzung und vor allem -änderung, sondern führt insbesondere bei der Verwaltung und den Gerichten zu einem erhöhten Fehlerrisiko bei der Rechtsanwendung und -kontrolle.166 Das Verhältnis von „Dichte“ und „Interdependenz“ zueinander lässt sich im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung beschreiben: Erhöht sich das eine, reduziert sich automatisch das andere, so dass theoretisch auch die Komplexität sinkt.167 Wächst beispielsweise die Dichte einer Norm, kann 159  Towfigh

(Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 31. (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 31 in Anlehnung an Schuck (Fn. 158), Duke Law Journal, 42 (1992), 1, 3 f. Zur Operationalisierung des Begriffs der Interdependenz vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 250 ff. 161  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 31 / 32; Kreppel, Persönlichkeitsrecht und Abgabepflicht. Das Tatbestandsmäßigkeitsprinzip und die Gestaltungsfreiheit des Steuergesetzgebers, in: Schwarze / Vitzthum (Hrsg.), Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht, 1983, S. 119, 131. 162  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 32. 163  Siehe oben Entscheidung des BVerfG zu Generalverweisungen unter A. I. 3. d) aa) (1); zu dynamischen Verweisungen unter A. I. 3. d) aa) (3) und zu Verweisungsketten unter A. I. 3. d) aa) (5). Anders als statische Verweisungen, die auf eine zeitlich festgelegte Gesetzesfassung verweisen, sind dynamische Verweisungen, die jeweils auf die aktuelle Gesetzesfassung Bezug nehmen, unter demokratischen Gesichtspunkten zumindest fragwürdig, vgl. BVerfGE 47, 285, 312. Zu Verweisungen allgemein u. a. Göbel, Gleitendes Verweisen als Rechtsetzungsform, in: Schäffer / Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 64 ff. 164  BVerfGE 110, 33, 63 f.; Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 32. 165  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 32. 166  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 32 Fn. 19. 167  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 33. 160  Towfigh



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips181

auf Interdependenzen entsprechend verzichtet werden. Zur Bestimmung der Rechtslage reicht dann im äußersten Fall lediglich eine, aber sehr ausdifferenzierte Vorschrift, die den entsprechenden „Spezialfall“ regelt, aus. Zumindest für die einzelne Rechtsfrage würde sich die Komplexität also reduzieren.168 (2) Effekte normativer Komplexität Normative Komplexität wurde schon immer als ein virulentes Problem der Gegenwart und noch problematischeres der Zukunft wahrgenommen.169 Als Paradebeispiele schwer durchschaubarer Regelungsmaterien gelten Bereiche des „Steuer“-170, „Umwelt- und Technik“-171, „Unterhalts“-172 und „Sozialrechts“173.174 Trotz der negativen Konnotation ist normative Komplexität in ihrer Wirkung per se neutral, also weder erstrebenswert noch schädlich,175 sondern lediglich Ausdruck der realen Komplexität des zu regelnden Lebensbereichs. Ein zu hohes Maß an Komplexität führt dennoch ab einem gewissen Grad zur Unverständlichkeit der jeweiligen Norm.176 Um diese Grenze genauer fassen zu können, wird vorgeschlagen, Komplexität als ein „objektives Maß“ zu betrachten – ähnlich wie „Celsius-Grade für die Messung von Temperatur“.177 So abstrakt die Begrifflichkeit normativer Komplexität demnach auch klingen mag, ihr Maß ist durchaus bestimmbar und kann damit auch einer Bewertung zugeführt werden.

168  Towfigh (Fn.  70), Der Staat 48 (2009), 29, 33. Werden allerdings viele Rechtsfragen auf diese Weise geregelt, erhöht sich selbstverständlich die Komplexität der Gesamtrechtsordnung. 169  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29; Voigt, Editorial, in: Seibel (Hrsg.), Die Nutzung verwaltungswissenschaftlicher Forschung für die Gesetzgebung, 1984; Sobota (Fn. 16), S. 152; Lange, Eindämmung der „Vorschriftenflut“ im Verwaltungsrecht?, DVBl 1979, 533  ff.; Kang, Gesetzesflut und rechtsfreier Raum, 1990; S.  202 f.; Schuck (Fn. 158), Duke Law Journal, 42 (1992), 1, 9 ff. 170  Papier (Fn. 99), S. 25; Borell / Schemmel, Steuervereinfachung, DStZ 1987, 110; Weber-Grellet, Strukturwandel des Steuerstaats, DB 2007, 1717. 171  Wolf, Die komplexe Energielandschaft macht eine Stromregulierungsbehörde notwendig, Wirtschaftsdienst 1999, 423 f. 172  BVerfGE 108, 52, 75. 173  Karpen, Gesetzescheck (2005–2007): Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Gesetzen, ZRP 2008, 97. 174  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29 / 30. 175  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 34 unter Verweis auf Schuck (Fn. 158), Duke Law Journal, 42 (1992), 1, 8. 176  Siehe oben A. I. 3. d) bb). 177  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 34.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Durch steigende normative Komplexität, sei es durch die Erhöhung der „Normdichte“ oder die Zunahme von „Interdependenzen“, vergrößert sich das Informationsvolumen, welches der Rezipient zur Ermittlung des Norm­ inhalts verarbeiten muss.178 Zur Dimensionierung und genaueren Bezifferung des zu verarbeitenden Informationsmaterials lohnt sich ein Blick in eine andere, noch relativ junge wissenschaftliche Disziplin, namentlich die der Kognitionswissenschaft.179 Diese befasst sich u. a. mit der Fähigkeit des Gedächtnisses als kognitives System, Informationen zu verarbeiten. Von besonderem Forschungsinteresse ist dabei die Annahme, dass kognitive menschliche Prozesse durch mathematische Berechnungen ausgedrückt werden können.180 Nach Miller sind das Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis lediglich in der Lage, 7 + / – 2 bedeutungsvolle Informationseinheiten (sog. chunks) unmittelbar zu behalten und simultan zu verarbeiten.181 Aus diesem Grund fällt es auch schwer, „längere Telefonnummern“ im Gedächtnis zu behalten.182 Die Kapazität der kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Gedächtnisses ist also begrenzt.183 Im Falle normativer „Dichte“ und „Interdependenz“ steigen somit die „kognitiven Kosten“ in Form von „Aufmerksamkeit“, gleichzeitig sinkt die Zahl der Informationseinheiten, die im Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis gespeichert werden kann.184 Ab einer Zahl von etwa 7 Informationseinheiten steht dann für zusätzliche Informationen an sich kein Raum mehr zur Verarbeitung zur Verfügung. 178  Towfigh

(Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 34. ersten Anfänge der Kognitionswissenschaft als einer „Wissenschaft von kognitiven Prozessen, die als Berechnungsprozesse aufgefasst werden“, gehen zurück auf Newell und Simon, die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an der Carnegie-Mellon-University in Pittsburgh Grundlagenforschung zur Künst­ lichen Intelligenz und Psychologie betrieben. Die eigentliche Entstehung der Kog­ nitionswissenschaft beruht auf einem 1975 entwickelten Forschungsförderungsprogramm der Alfred P. Sloan Foundation, die jahrelang beträchtliche Geldsummen zur Verfügung stellte, damit „die sich abzeichnende Integration theoretischer Ansätze in der Künstlichen Intelligenz, der Psychologie, den Neurowissenschaften, der Linguistik und der Anthropologie sowie der Philosophie“ besser erforscht werden konnte. In einem State-of-the-Art-Bericht der Sloan Foundation wurde die Kognitionswissenschaft 1978 folgendermaßen beschrieben: „Dieses Gebiet ist durch ein gemeinsames Forschungsziel hervorgebracht worden, nämlich der Fähigkeit des Geistes zur Repräsentation und zur Berechnung sowie deren strukturelle und funktionelle Entsprechung im Gehirn zu erforschen.“; vgl. Strube, Stichwort Kognitionswissenschaft, in: Strube u. a. (Hrsg.), Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, 1996, S. 305, 318. 180  Strube (Fn. 179), S. 317. 181  Miller, The magical number seven, plus oder minus two: some limits on our capacity for processing information, Psychological Review, 63 (1956), 81 ff. 182  Thagard, Kognitionswissenschaft, 1999, S. 17. 183  Thagard (Fn. 182), S. 17. 184  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 35 unter Verweis auf Simon, How big is a chunk?, Science 183 (1974), S. 482 ff. 179  Die



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips183

Die Begrenzung des Gedächtnisses ist aber – bis zur „magischen“ Zahl 7185 – durch die Verdichtung von Informationseinheiten (sog. chunking) überwindbar.186 Denn mehrere separate Informationseinheiten können mit Hilfe des Langzeitgedächtnisses zu einer Einheit „zusammengefasst“ werden.187 Die einzelnen chunks (Klumpen) können demnach unterschiedlich umfangreich gestaltet sein.188 Die vier Ziffern „1, 9, 8, 9“ können beispielsweise durch die Verbindung mit dem historischen Ereignis des Mauerfalls als eine anstelle von vier Informationseinheiten (chunks) abgespeichert werden.189 Damit wird das Arbeitsgedächtnis entlastet,190 und es besteht Raum für weitere Informationseinheiten. Chunking kann somit als ein „Kodierungsprozess“ bezeichnet werden, bei dem ursprünglich separate Informationseinheiten durch allgemeine Ordnungsprinzipien oder die Heranziehung von Vorwissen in größeren Einheiten zusammengefasst werden.191 Spezifisches Fachwissen in dem betreffenden Bereich begünstigt in hohem Maße die Zusammenfassung von größeren und komplexen Informationsmengen zu ganzen Einheiten (chunks).192 Rechtskundige können beispielsweise einzelne Bestandteile eines Lebenssachverhalts zu einer rechtlichen Kategorie, „etwa den Verwaltungsakt“, zusammenfassen oder Informationen „ausblenden“, die für die in Rede stehende Rechtsfrage irrelevant sind.193 Für sie sinkt damit die Komplexität der zu beurteilenden Materie.194 Damit wird aber auch deutlich, dass die Bewertung normativer Komplexität im Auge des Betrachters liegt.195 Um bei der „TemperaturAnalogie“ zu bleiben, ist für den Rezipienten die „gefühlte“ Temperatur von entscheidender Bedeutung.196

185  Vgl. Titel des Beitrags von Miller (Fn.  181), Psychological Review, 63 (1956), 81 ff. 186  Thagard (Fn. 182), S. 17. 187  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 35. 188  Gold, Stichwort Chunk, in: Strube u. a. (Hrsg.), Wörterbuch der Kognitionswissenschaft, 1996, S. 83. 189  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 35. 190  Gold (Fn. 188), S. 83. 191  Gold (Fn. 188), S. 83. 192  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 37. 193  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 37. 194  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 37. 195  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 37. 196  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 36.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

cc) Adressatenfrage Somit drängt sich geradezu die Frage auf, auf wessen Perspektive und Erkenntnismöglichkeiten es für die Beurteilung der Übersichtlichkeit von Normen und ganzen Normenkomplexen ankommt. Stellt man auf den mit der jeweiligen Spezialmaterie vertrauten Juristen ab, ist ein „Zustand“ kaum denkbar, in dem er den Inhalt einer Regelung auf Grund von Überkomplexität nicht fassen kann.197 Anders dürfte sich die Situation für einen Bürger mit durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten ohne juristische Vorkenntnisse darstellen.198 Auf wessen Perspektive kommt es also an? Nach einem älteren Postulat müssen Gesetze allgemeinverständlich sein, „d. h. sie müssen so einfach und klar sein, dass jeder Bürger ihren Sinn und ihre Bedeutung ohne weiteres erfassen kann“.199 Begründet wird diese Forderung nach Allgemeinverständlichkeit mit der gesellschaftlichen Funktion von Rechtsnormen. Als abstrakt generelle Regelungen seien Rechtsnormen Instrumente einer auf Breitenwirkung angelegten Verhaltenssteuerung.200 Die Steuerung des menschlichen Verhaltens solle dabei durch den Anspruch auf Verbindlichkeit realisiert werden.201 Der Bürger könne dem Normbefehl aber nur nachkommen, wenn dieser für ihn erkennbar ist.202 In einer modernen Wissensgesellschaft mit einer notwendigerweise ausdifferenzierten Rechtsordnung kann dieses „Ideal“203 der Allgemeinverständlichkeit von Rechtsnormen gleichwohl nicht aufrechterhalten werden.204 Die Gruppe der Gesetzesadressaten bildet keine homogene Masse, die einheitlich umschrieben werden könnte.205 Vielmehr geht mit der unterschiedlichen Funktion der Gesetze auch ein variabler Adressatenkreis einher. Maßstab der Klarheit bzw. Übersichtlichkeit kann demnach nur der 197  Jehke

(Fn. 17), S. 197. (Fn. 17), S. 197. 199  Müller, Die verständliche Norm, in: Schäffer / Triffterer (Hrsg.), Rationalisierung der Gesetzgebung, 1984, S. 35. 200  Auch das BVerfG spricht von einer „gesetzlichen Verhaltenssteuerung durch Vorhersehbarkeit“, vgl. BVerfGE 105, 135, 173; Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 45. 201  Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 45. 202  Geitmann (Fn. 20), S. 28 f.; Schlarmann, Privilegierte Fachplanungen als Ziele der Raumordnung und Landesplanung und ihre Umsetzung in die Bauleitplanung nach § 1 IV BBauG, DVBl 1980, 275, 279; Schmidt-Aßmann, Rechtsstaatliche Anforderungen an Regionalpläne, DÖV 1981, 237, 239; Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 45. 203  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 49. 204  Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 45. 205  Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 45. 198  Jehke



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips185

„idealisierte, fiktive Normadressat“206 für den jeweiligen Regelungsbereich sein.207 Bei einem Unternehmen mit eigener Rechtsabteilung dürfte folglich ein durchaus großzügigerer Maßstab angebracht sein.208 Sind von einer gesetzlichen Regelung allerdings typischerweise nicht Unternehmen, sondern „einfache Bürger“ betroffen, weil sich der Norminhalt direkt an sie wendet, indem beispielsweise unmittelbare Verhaltenspflichten auferlegt oder Begünstigungen auf Antrag gewährt werden, muss der Norminhalt so klar und übersichtlich sein, dass der einzelne durchschnittlich gebildete Bürger die Struktur des Gesetzes erfassen kann.209 „Der Verständnishorizont oszilliert demnach zwischen verschiedenen Polen“, je nachdem für welchen Adressatenkreis die betreffende Rechtsnorm typischerweise relevant ist.210

206  Formulierung so bei Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 49, der dieser Ansicht aber gerade nicht folgt, siehe Fn. 211. 207  BVerfGE 49, 168, 181; 59, 104, 114; BFH Beschl. v. 6.9. 2006, XI R 26 / 04, FR 2007, 188, 193: „Ausnahmen (vom Prinzip der Allgemeinverständlichkeit) sind möglicherweise zu machen, wenn der Normadressat typischerweise steuerlich beraten ist.“; Duve / Weirich, Die Verständigung zwischen dem Bürger und den Juristen kann verbessert werden, in: Radtke (Hrsg.), Die Sprache des Rechts und der Verwaltung, 1981, S. 119, 121 f.; Kreppel (Fn. 161), S. 119, 129; Jehke (Fn. 17), S. 215; Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, S. 70; Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 172; Sandrock, Die Verständlichkeit von Eingriffsnormen als Verfassungsgebot, in: Epping u. a. (Hrsg.), Brücken bauen und begehen, Festschrift für Knut Ipsen, 2000, S . 781, 803; Braun (Fn. 20), VerwArch 76 (1985), 24, 45; Bleckmann, Spielraum der Gesetzesauslegung und Verfassungsrecht, JZ 1995, 685, 686; Schneider (Fn. 23), Rn. 454; Hey (Fn. 45), S. 561; Schaumburg / Schaumburg, Legislativer Gehorsam im Steuerrecht, in: Mellinghoff u.  a. (Hrsg.), Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für Wolfgang Spindler, 2011, S. 171, 181; Krüger, Der Adressat des Rechtsgesetzes, 1969, S. 82 ff. stellt auf den „inte­ ressierten Laien“ als Maßstab ab. 208  Sandrock (Fn. 207), S. 781, 803; Hey (Fn. 45), S. 562; Bleckmann (Fn. 207), JZ 1995, 685, 686 „Dem Laien (…) ist es zuzumuten, bei der Lösung schwierigerer juristischer Probleme auf den Rat erfahrener Juristen zurückzugreifen.“ 209  Sandrock (Fn. 207), S. 781, 803; Jehke (Fn. 17), S. 216. Der Österreichische Verfassungsgerichtshof teilt diese Auffassung: „Eine Vorschrift, zu deren Sinnermittlung subtile verfassungsrechtliche Kenntnisse, qualifizierte juristische Befähigung und Erfahrung und geradezu archivarischer Fleiß von Nöten sind, ist keine verbindliche Norm.“ (Erk. VfSlg. 3130 / 1956 Rn. 14.014 dazu Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, Österreichisches Staatsrecht I, Grundlagen, 2011, S. 189). In neueren Entscheidungen wendet das Gericht die sog. „Denksportbegründung“ an: „Nur mit subtiler Sachkenntnis, außerordentlich methodischen Fähigkeiten und einer gewissen Lust zum Lösen von Denksport-Aufgaben kann überhaupt verstanden werden, welche Anordnungen hier getroffen werden sollen.“ (Erk. VfSlg. 12.420 / 1990 dazu Adamovich / Funk / Holzinger / Frank, a. a. O., S. 189 und Erk. VfSlg. 13.000 / 1992). 210  Sandrock (Fn. 207), S. 781, 803.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Besonders weitgehende Stimmen im Schrifttum betrachten als Adressat von Rechtsnormen und damit auch als Bezugspunkt für die Übersichtlichkeit nicht den Bürger, sondern ausschließlich den Rechtsstab, der mit der Anwendung, Vermittlung und Umsetzung des Rechts betraut ist.211 Die Gründe für diese Haltung sind vielfältig. Zum einen würden die Bürger auf Grund der viel beklagten Normflut das konkrete Gesetz gar nicht kennen und auch nicht kennen können.212 Selbst Juristen sei dies – wenn überhaupt – nur auf Spezialgebieten möglich.213 Anstelle des Gesetzes richte der Bürger sein Verhalten vielmehr an seinem „Rechtsempfinden“214 aus, das er u. a. aus sozialen Normen gewinne.215 Ist das Gesetz für den Bürger demnach eine „terra incognita“, könne auch nicht gefordert werden, dass der Norminhalt für ihn verstehbar sein müsse.216 Daraus schlussfolgernd sei nicht das Gesetz das entscheidende Instrument zur Steuerung mensch­lichen Verhaltens, sondern die Rechtsanwendung, also die Konkretisierung des Gesetzes etwa durch den Richter oder die Verwaltung.217 Dieser Betrachtung kann keineswegs gefolgt werden. Zunächst wird zwar rechtstechnisch mit der Verkündung des Gesetzes im Gesetzblatt die Kenntnis des Bürgers vom Gesetz lediglich fingiert.218 Dennoch soll dem Bürger durch die Verkündung im Gesetzblatt gerade die Möglichkeit geschaffen werden, vom geltenden Recht Kenntnis zu erlangen. Dann muss der Bürger den Normbefehl aber auch erkennen können. Weiterhin wird behauptet, der 211  Müller (Fn. 199), S. 35, 42; Hirsch, Die Steuerung des menschlichen Verhaltens, JZ 1982, 41 ff.; Sayeed (Fn. 18), S. 97 gehört im Ergebnis auch zu dieser Gruppe, auch wenn sie ihren Maßstab zunächst am Bürger ausrichtet. „Zumindest diejenigen, die sich mit der Anwendung und Durchsetzung des Rechts befassen, sollten in der Lage sein, ohne vertiefte wissenschaftliche Untersuchungen seine Normbefehle zu erfassen.“; Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 42 ff. spricht von „Intermediären, die dem Adressaten das Recht vermitteln können“ (S. 43); Burghart (Fn. 54), S. 80: „Maßstab für die Erkennbarkeit und Verständlichkeit einer Norm ist der als Generalist ausgebildete Jurist und der selbst rechtsanwendende Angehörige anderer Fachkreise.“ 212  Müller (Fn. 199), S. 35, 37; Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 46 ff.; Hirsch (Fn. 211), JZ 1982, 41, 44. 213  Müller (Fn. 199), S. 35, 37. 214  Hammer / Keller, Überlegungen zur Entstehung des Rechtsempfindens aus entwicklungspsychologischer Sicht, in: Lampe (Hrsg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, S. 152 ff. 215  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 47. Anschaulich dazu Müller (Fn. 199), S. 35, 38 „Er (der Bürger) lernt zudem aus eigener und – in Gesprächen am Wirtshaustisch, im Treppenhaus oder unter Kollegen am Arbeitsplatz – fremder Erfahrung Rechtsnormen kennen (…)“. 216  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 49 f. 217  Müller (Fn. 199), S. 35, 37. 218  Siehe oben Kapitel 3. A. II. 3. b).



A. Rechtssicherheit als Element des Rechtsstaatsprinzips187

Normtext müsse lediglich „vermittlungsfähig“ sein, d. h. für die mit der „Übersetzung“ des Rechts betrauten Stellen verständlich.219 Maßgebend sei demnach der Verständnishorizont des Rechtsstabs, dessen essentielle Auf­ gabe die Vermittlung des Rechts gegenüber dem Bürger sei.220 Das Gesetz müsse demnach lediglich „übersetzbar“, nicht aber für den Bürger verständlich sein.221 Diese Sichtweise entmündigt nicht nur den Bürger, sondern degradiert ihn geradewegs zum bloßen Objekt der Rechtsordnung.222 „Rechtssubjekt ist (aber) der Mensch in seiner Eigenschaft als vernünftiges Wesen; als Subjekt der Ethik; als solches wird er anerkannt, indem sich die Rechtsgemeinschaft an seinen Willen und seine Einsicht wendet; nicht, indem sie mit ihm so oder so verfährt.“223 Von besonderer Bedeutung für die Frage des Adressatenhorizonts ist somit die „drohende Entfremdung des Bürgers vom Staat“224, die mit einer lediglichen Vermittlung des Gesetzesverständnisses und der Rechtserkenntnis einherginge. „Der unmittelbare Zugang des Bürgers zum Staat und zum Recht als dem wichtigsten Ordnungsfaktor im Verhältnis Staat – Bürger“225 wäre gefährdet.226 Der tragende Feiler einer funktionierenden Staatsordnung ist also nicht die Distanz zum Staat, sondern die Möglichkeit der Identifikation des Bürgers mit dem Staat.227 Nicht die eventuell auch zwangsweise Durchsetzung des Rechts sichert nachhaltig die Rechtsordnung,228 sondern die freiwillige Beachtung und Befolgung der Gesetze durch den Bürger auf Grund seiner „Einsicht in ihre Notwendigkeit und Vernünftigkeit“.229 „Überschaubarkeit und Verständlichkeit der Rechtsordnung“ sind dabei entscheidende Voraussetzungen für die Akzeptanz230 des Rechts in der Bevölkerung.231 Für den Bestand des 219  Müller

(Fn. 199), S. 41. (Fn. 199), S. 43. 221  Müller (Fn. 199), S. 43. 222  Binder, Der Adressat der Rechtsnorm, 1970, S. 3. 223  Binder (Fn. 222), S. 3. 224  Benda (Fn. 51), DStZ 1984, 159, 163; so auch Borell / Schemmel (Fn. 170), DStZ 1987, 110, 114. 225  Hill, Steuerreform als Chance zur Verbesserung der Steuergesetzgebung, ZG 1987, 238, 265. 226  Hey (Fn. 45), S. 561. 227  Siehe zum Aspekt der Identifikation im Rahmen des Vorgangs demokratischer Repräsentation Kapitel 5. A. II. 1. 228  So aber Hirsch (Fn. 211), JZ 1982, 41, 44. 229  Herzog, Von der Akzeptanz des Rechts, in: Rüthers / Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 127, 128 / 131. 230  Siehe dazu auch Kapitel 5. A. II. 1. 231  Herzog (Fn.  229), S. 127, 130; Zippelius, Rechtsphilosophie, 6.  Auflage, 2011, S. 122 f.; zur „Akzeptanzsicherung in und durch Verfahren“ siehe Trute, Die 220  Müller

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Staates ist daher von existentieller Bedeutung, ob seine Bürger das notwendige Maß an „Loyalität“ und „demokratischem Verantwortungsbewusstsein“ aufbringen, damit sein Rechtssystem insbesondere auf Grund von freiwilliger Unterordnung funktioniert.232 Somit kann für den Maßstab von Klarheit und Übersichtlichkeit nicht ausschließlich die Sichtweise der Rechtskundigen entscheidend sein.

II. Zwischenergebnis Normenklarheit und Normenbestimmtheit sind Subelemente des rechtsstaatlichen Gebots der Rechtssicherheit.233 Während sich das Bestimmtheitsgebot zuvorderst dem Gesetzesinhalt widmet, befasst sich das Klarheitsgebot vor allem mit der formalen Gesetzestechnik.234 Von besonderer Bedeutung für das Klarheitsgebot ist der Aspekt der Übersichtlichkeit.235 Dieser verlangt, dass soweit sich eine gesetzliche Regelung aus dem Zusammenspiel von Normen ganz unterschiedlicher Regelungsbereiche ergibt, „muss die Klarheit des Normeninhalts und die Voraussehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch im Hinblick auf dieses Zusammenwirken gesichert sein“.236 Das Übersichtlichkeitsgebot dient mithin als „Komplexitätskontrolle“ der Überprüfung des Ausmaßes der Wechselbezüglichkeiten von Normen.237 Maßstab für die Beurteilung der Übersichtlichkeit sind die Erkenntnismöglichkeiten des typischerweise von der Regelungsmaterie betroffenen Adressaten.238

B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht bei der Abweichungsgesetzgebung Nicht nur spezielle Regelungsbereiche wie typischerweise die Steuergesetzgebung239 stehen in der Kritik, unübersichtlich zu sein. Auch der 2006 neu in das Grundgesetz eingefügte Kompetenztyp der Abweichungsgesetzdemokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Die Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Auflage, 2012, § 6 Rn. 47. 232  Herzog (Fn. 229), S. 127, 129. 233  Siehe oben A. und A. I. 234  Siehe oben A. I. 2. 235  Siehe oben A. I. 3. d). 236  BVerfGE, 110, 33, 75. 237  Siehe oben A. I. 3. d) bb). 238  Siehe oben A. I. 3. d) cc). 239  Siehe oben A. I. 3. d) bb) (2).



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht189

gebung und die damit einhergehenden Befugnisse von Bund und Ländern werden mit der „Gefahr der Unübersichtlichkeit“240 und der einer „irreparablen Rechtszersplitterung“241 in Verbindung gebracht. Nachdem der verfassungsrechtliche Hintergrund und der Maßstab des Übersichtlichkeitsgebots vorangehend entfaltet wurde, soll im Anschluss untersucht werden, ob und inwiefern diese Zuschreibungen für den neuen Kompetenztyp zutreffen.

I. Entstehung einer Gemengelage Ein Abweichungsrecht haben nicht nur die Länder. Auch der Bund hat ein auf den gleichen Gegenstand bezogenes Gesetzgebungsrecht.242 Wie der Wortlaut des Grundgesetzes bereits nahelegt, sind bei der Kompetenzausübung zunächst die Länder am Zug.243 Ihnen räumt das Grundgesetz im Sinne eines „echten Wettbewerbsföderalismus“244 nicht nur hinsichtlich des „Ob“, sondern auch hinsichtlich der Reichweite und inhaltlichen Gestaltung ihrer Abweichung große Spielräume ein.245 Auf Grund dieser beachtlichen Entschließungs- und Gestaltungsfreiheit droht in Anbetracht von maximal 16 verschiedenen Landesgesetzgebungen zunächst ein „Flickenteppich“246 von konkurrierendem Bundes- und abweichendem Landesrecht. Denkbar ist, dass in einzelnen Ländern für bestimmte Rechtsbereiche Bundesrecht fortgilt, während es in anderen Ländern durch eigene gesetzgeberische Lösungen abbedungen wird.247 In diesem Fall entsteht aus Sicht der abweichenden 240  Häde, Zur Föderalismusreform in Deutschland, JZ 2006, 930, 933; Stock, Konkurrierende Gesetzgebung, postmodern: Aufweichung durch „Abweichung“?, ZG 2006, 226, 235; Pestalozza, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, S. 51 (http: /  / star web.hessen.de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)). 241  Möstl, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, ZG 2003, 297, 304; Rengeling, Föderalismusreform und Gesetzgebungskompetenzen, DVBl 2006, 1537, 1549 verweist nicht nur auf die Gefahr einer „Rechtszersplitterung“, sondern auch auf die der „Verwischung politischer Verantwortlichkeiten“. 242  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 243  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 244  Siehe oben Kapitel 1. A. II. 6. 245  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 246  Knopp, Föderalismusreform – zurück zur Kleinstaaterei? An den Beispielen des Hochschul-, Bildungs- und Beamtenrechts, NVwZ 2006, 1216, 1220; SchulzeFielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, 249, 253. 247  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Länder „landesexternes, partielles Bundesrecht“.248 Somit sind auf das gesamte Bundesgebiet bezogen Rechtsbereiche denkbar, in denen in einzelnen Ländern Bundesrecht gilt, in anderen Ländern hingegen abweichendes Landesrecht. Hinzu kommt, dass der Landesgesetzgeber das Bundesrecht bei einer Abweichung nicht in Gänze ablösen muss, sondern sich auf für ihn wichtige Punkte beschränken kann.249 Bei dieser punktuellen Abweichung entsteht „landesinternes, partielles Bundesrecht“.250 Gleichwohl haben nicht nur die Länder die Befugnis zur Abweichung, sondern auch der Bund. Er kann auf Grund seines „Rückholrechts“ abweichendes Landesrecht durch subsequentes Bundesrecht überregeln.251 Hierbei darf auch er sich – wie die Länder – auf die Regelung einzelner Ausschnitte beschränken, so dass früheres Bundes- bzw. Landesrecht ggf. unberührt bleiben.252 Denkbar sind folglich wiederum Rechtsbereiche, in denen in den Ländern auf ganz unterschiedliche Weise sowohl altes Bundesrecht wie auch abweichendes 248  Siehe

oben Kapitel 2. B. II. 2. oben Kapitel 2. B. II. 2. 250  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. Die gleichzeitige Geltung von Bundes- und Landesrecht in einem Bundesland wäre nur vermeidbar, wenn man den Begriff des Gesetzes in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG in der Weise liest, dass damit nur Gesetze als Einheit und nicht die jeweiligen abweichenden Einzelvorschriften gemeint sind. Diese Auslegung würde aber „über die Hintertür des Anwendungsvorrangs“ zu einer Kompetenzerweiterung des Landesgesetzgebers führen. Sein Abweichungsrecht beschränkt sich aber auf die in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG genannten Materien; vgl. Schulze Harling, Das materielle Abweichungsrecht der Länder, 2011, S. 199; ebenso Beck, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder, 2009, S. 67 f. 251  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 252  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. Teilweise wird angenommen, das spätere Bundesgesetz löse die Landesabweichung „in toto“ ab. Hierfür spreche schon der Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG, schließlich sei dort vom späteren „Gesetz“ die Rede. vgl. Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, 2009, S. 270 ebenso Fischer-Hüftle, Zur Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet „Naturschutz und Landschaftspflege“ nach der Föderalismusreform, NuR 2007, 78, 80. Im Fall des Bundes kann zwar das Argument einer unzulässigen Kompetenzerweiterung nicht unbedingt greifen (vgl. Fn. 250 für die Länder), hat doch der Bund auf Grund des Art. 72 Abs. 1 GG ein weitergehendes Gesetzgebungsrecht auf dem Feld der konkurrierenden Gesetzgebung als die Länder. Dennoch würde diese Lesart dem Wesen der Abweichung (vgl. Kapitel 2. B. I. 2.) vollends widersprechen. Bund- und Landesrecht müssen in einer bestimmten Beziehung zu einander stehen, damit eine Abweichung des einen vom anderen vorliegt. Dies ist bei Vorschriften, die einen völlig anderen Sachverhalt betreffen, nicht gegeben. Hierfür spricht auch der Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG, indem er „im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht“ den Anwendungsvorrang statuiert. Bei einer zur Gänze erfolgenden bundesgesetzlichen Ablösung könnte der Bund außerdem mit nur einer abweichenden Vorschrift das Landesrecht komplett ausschalten, ohne diesem ein sinnvolles Bundeskonzept entgegensetzen zu müssen. Vgl. Schulze Harling (Fn. 250), S. 200 / 201. 249  Siehe



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht191

Landesrecht und dies wieder überlappendes Bundesrecht gilt. Die Ausübung des „Rückholrechts“ kann sich – falls die bundesstaatlichen Akteure keine Vernunft walten lassen – unbegrenzt fortsetzen,253 daher wird im Zusammenhang mit der Abweichungsgesetzgebung häufig auf den Ballwechsel beim Tischtennis rekurriert.254 Von oben betrachtet entsteht somit auf den Gebieten der Abweichungsgesetzgebung womöglich erst nach einiger Zeit ein „Rechtspuzzle“, das sich aus verschiedenen, übereinanderliegenden „Rechtsschichten“ zusammensetzt.255 Während die beschriebenen Mischlagen die gleichzeitige Geltung von ggf. zu unterschiedlichen Zeiten entstandenem Bundes- und Landesrecht in einem Land betreffen, ist selbst der Extremfall denkbar, in dem Bundesrecht – vielleicht auch nur in spezifischen Einzelfragen – in allen Ländern durch unterschiedliche Regelungen verdrängt wird. In diesem Fall würde eine Bundesregelung zwar wirksam existieren, sie wäre aber eine Norm ohne jeglichen Anwendungsbereich.256 Diese Situation der drohenden Verwobenheit von zu unterschiedlichen Zeiten zustande gekommenem Bundes- und Landesrecht ist mit der Bezeichnung einer „Gemenge- oder Mischlage“257 bzw. mit der eines „Normenwirrwarr(s)“258 treffend umschrieben. Die Gefahr des Eintritts eines solchen Zustands kann auch durch die „Wartepflicht des Bundes“259 aus Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG nicht vollends beseitigt werden.260 Zwar treten Bundesgesetze auf Gebieten, die dem Abweichungsrecht unterliegen, in der Regel erst frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft, damit abweichungswillige Länder eine „zeitliche Überholungs- und Präventions­ 253  Schließlich können die Länder vom subsequenten Bundesrecht erneut abweichen. Nach der lex-posterior-Regelung in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG geht das spätere Landesrecht dem Bundesrecht dann wiederum vor. 254  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 255  Hager, Konkurrierende Gesetzgebung mit Abweichungsmöglichkeiten (Art. 72 Abs. 3 GG), BauR 2012, 29. 256  Häde (Fn. 240), JZ 2006, 930, 932; Mayen, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, DRiZ 2007, 51, 54. 257  Degenhart, Die Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen durch die Föderalismusreform, NVwZ 2006, 1209, 1212; Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, NVwZ 2008, 492, 493; Hoppe, Kompetenz-Debakel für die „Raumordnung“ durch die Föderalismusreform infolge der uneingeschränkten Abweichungszuständigkeit der Länder?, DVBl 2007, 144, 149. 258  Papier, Aktuelle Fragen der bundesstaatlichen Ordnung, NJW 2007, 2145, 2148. 259  Klein / Schneider, Art. 72 GG n. F. im Kompetenzgefüge der Föderalismusreform, DVBl 2006, 1549, 1552 sprechen von einem „Retardeffekt“. 260  So aber Decker, Mehr Asymmetrie im deutschen Föderalismus? Die neue Abweichungsgesetzgebung, in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus 2007, 2007, S. 205, 220.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

chance“261 erhalten. Die Landesgesetzgeber können sich aber auch nach Ablauf der Sechsmonatsfrist zu einer Abweichung entschließen. In diesem Fall nimmt das Grundgesetz – ohne jegliche Schonfrist – die drohenden „kurzfristig wechselnden Rechtsbefehle“262 in Kauf.263 Die Gefahr der Entstehung unübersichtlicher Gemengelagen ist dann ungleich höher. Gleichwohl wird behauptet, bei dem gefürchteten „Ping-Pong“ handele es sich lediglich um ein „Phantomrisiko“.264 Dass sich Bund und Länder auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung in einen langwierigen Wettstreit begäben, entbehre „jeglichen Anfangsverdachts“.265 Man werde sich in den meisten Fällen aus politischen Gründen zu einer bundeseinheitlichen Regelung oder höchstens zu zwei parallel existierenden Modellen durchringen.266 Außerdem sei die Abweichungsgesetzgebung „auf ganze zwei Politikfelder begrenzt“, nämlich die des Umweltschutzes und der Bildung, und das auf Grund der abweichungsfesten Kerne auch „nur in eng abgesteckten Politikbereichen“.267 Dagegen lässt sich allerdings einwenden, dass auf Grund der grundgesetzlichen Zuweisung von Gesetzgebungskompetenz Abweichungen und damit unübersichtliche Gemengelagen jedenfalls möglich sind. Nichts anderes bedeutet eine Gesetzgebungskompetenz als die Befugnis und damit auch die Möglichkeit zur Gesetzgebung. Unübersichtliche Gemengelagen sind damit normativ jedenfalls angelegt.268 Auch die Evidenz 261  Stock

(Fn. 240), ZG 2006, 226, 235. 16 / 813 Nr. 9, S. 15. Wie sich dies auf den Normunterworfenen auswirkt, siehe unten B. II. In der „Ping-Pong“-Analogie bleibend, spricht Reinhardt, Gesetzgebungskompetenzen im Wasserrecht, AöR 135 (2010), S. 459, 490 in diesem Zusammenhang vom „Bild eines raschen Ballwechsels, den der Zuschauer bei hinreichend geübten Spielern äußerstenfalls mit bloßem Auge kaum nachzuvollziehen in der Lage ist“. 263  Klein / Schneider (Fn. 259), DVBl 2006, 1549, 1553. 264  Klein / Schneider (Fn. 259), DVBl 2006, 1549, 1553. 265  Klein / Schneider (Fn. 259), DVBl 2006, 1549, 1553. In diesem Sinne auch Oeter, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 72 Rn. 126. 266  Röttgen, Die Arbeit der Kommission zur Modernisierung der bundesstaat­ lichen Ordnung  – ein Zwischenbericht, in: Blanke / Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaats, 2005, S. 99, 103 f.; Decker (Fn. 260), S. 205, 219. 267  Beck (Fn. 250), S. 174; Decker (Fn. 260), S. 205, 219. 268  Schmidt-Jortzig, „Abweichungsgesetzgebung“ als neues Kompetenzverteilungsinstrument zwischen den Gliederungsebenen des deutschen Bundesstaates, in: Härtel (Hrsg.), Föderalismus als demokratische Rechtsordnung und Rechtskultur in Deutschland, Europa und der Welt, Bd. I, 2012, § 20 Rn. 18. Außerdem „gehört es zu einer gründlichen juristischen Analyse, alle Möglichkeiten, die sich aus Gesetzesänderungen ergeben, schonungslos darzustellen“. Zitat bei Louis, Die Gesetzgebungszuständigkeit für Naturschutz und Landschaftspflege nach dem Gesetzesentwurf zur Föderalismusreform, ZUR 2006, 340, 343. 262  BT-Drs.



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht193

des Faktischen spricht gegen die Annahme, es werde aus politischen Gründen nicht zu einem intensiven Gebrauch des Abweichungsrechts durch die Länder kommen. Denn bis heute haben nicht wenige Landesgesetzgeber von ihrem Abweichungsrecht Gebrauch gemacht.269 Dabei verfolgen längst nicht alle etwa lediglich das Ziel, das Bundesrecht zu ergänzen.270 Manchen – in der Regel finanzstarken – Ländern271 kommt es gerade darauf an, das Bundesrecht in bestimmten Fragen durch ein „Vollgesetz“ abzulösen.272 Der bayrische Landesgesetzgeber hat beispielsweise in seinem neuen Landesplanungsgesetz eine „bayernspezifische Formulierung der Grundsätze der Raumordnung“ sowie eine „Vereinfachung des Anwendungsbereichs des Raumordnungsverfahrens“ festgelegt.273 Letzteres führt in Bayern zu einer erheblichen Eingrenzung des Raumordnungsverfahrens.274 Auch der niedersächsische Landesgesetzgeber hat in seinem Landesnaturschutzgesetz275 zwar nur vereinzelte, dafür aber inhaltlich beachtliche Abweichungen vom 269  Um nur einige wenige zu nennen: vgl. etwa Bayrisches Landesplanungsgesetz v. 25.06.2012, BayLplG, GVBl. 2012 S. 254; Niedersächsisches AusführungsG zum BNatSchG v. 19.02.2010, Nds. GVBl. 2010, S. 104; Niedersächsisches Wassergesetz v. 19.02.2010, GVBl. 2010, S. 64; Bayrisches Wassergesetz v. 25.02.2010, GVBl. 2010, S. 66; Landeshochschulgesetz MV v. 25.01.2011, GVBl. 2011, S. 18; Landesjagdgesetz SH v. 13.10.1999, GVBl. 1999, S. 300. 270  So etwa für die Raumordnung § 1 NdsROG, § 1 Abs. 1 SächsLPlG, § 1 Abs. 1 ThürLPlG; dazu Schmitz / Jornitz, Die Tücken der Abweichungsgesetzgebung – Dargestellt am Beispiel des neuen Bayerischen Landesplanungsgesetzes, DVBl 2013, 741; Stegmüller, Wirklich „Tücken der Abweichungsgesetzgebung“? – Zur Dogmatik und Auslegung des Art. 72 Abs. 3 GG – Erwiderung auf Schmitz / Jornitz, DVBl 2013, 1477 ff.; weiterhin für den Bereich von Naturschutz und Landschaftspflege das BremNatG v. 27.04.2010, GVBl. 2010, 315; verwirrend ist allerdings, dass etwa in § 8 Abs. 1 BremNatG die Formulierung „Abweichend von § 17 Abs. 1 BNatSchG …“ gewählt wurde, obwohl die Regelung auf der im BNatSchG enthaltenen Möglichkeit zum Erlass weitergehender landesrechtlicher Regelungen beruht; vgl. dazu Schütte / Kattau, Die Neuordnung des Naturschutzrechts in den Bundesländern, ZUR 2010, 353, 355. 271  Schließlich waren es auch die finanzstarken Bundesländer, die das Abweichungsrecht in der Föderalismusreform als Kompromiss durchgesetzt haben; siehe oben Kapitel 1. B. IV. 1. Dann verwundert es kaum, dass sie im Anschluss auch davon Gebrauch machen. 272  BayLT-Drs. 16 / 10945, S. 1, 17; dazu Schreiber, Das neue bayrische Landesplanungsgesetz – Der Auftakt zur Reform der bayrischen Landesplanung, BayVBl 2012, 741 ff. 273  BayLT-Drs. 16 / 10945, S. 16 f. 274  Gemäß Art.  24 Abs. 1 BayLplG sind beispielsweise nur raumbedeutsame Vorhaben und nicht etwa auch raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen – wie in § 15 ROG – Gegenstand des Raumordnungsverfahrens. Vgl. Schmitz / Jornitz (Fn. 270), DVBl 2013, 741, 746. 275  Niedersächsisches AusführungsG zum BNatSchG v. 19.02.2010, Nds. GVBl. 2010, S. 104.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

BNatSchG vorgenommen.276 Beispielsweise wurde – abweichend von § 15 Abs. 6 S. 3 BNatSchG – für Ersatzzahlungen im Rahmen von Kompensa­ tionsmaßnahmen für Eingriffe in Natur und Landschaft eine Höchstgrenze von 7 % der Investitionssumme eingeführt.277 Bereits die Zulässigkeit einer derartigen Höhenbegrenzung wird angezweifelt.278 Indes ist nicht nur der Bereich des Umweltschutzes, sondern auch der der Bildung – ausweislich Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 6 GG für das Feld der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse – von landesrechtlicher Abweichung betroffen. Abweichend von §§ 18, 19 HRG hat beispielsweise der Landesgesetzgeber Mecklenburg-Vorpommerns in § 41 Abs. 1 S. 3 und 4 LHG M-V279 eine Regelung eingeführt, wonach die Hochschulen des Landes in den Prüfungsordnungen von Masterstudiengängen aufnehmen können, dass anstelle des Mastergrades ein Diplomtitel verliehen wird. Die neue Regelung zielt wohl in nicht geringem Maße darauf ab, mehr Studierende ins Land zu holen. Allerdings geht sie mit einer Vermischung zweier unterschiedlicher Graduierungssysteme einher. Dieser Umstand droht ggf. auch die Akkreditierung entsprechender Studiengänge zu versagen.280 Diese teilweise beachtlich vom Bundesrecht abweichenden landesrechtlichen Konzeptionen belegen durchaus, dass die Abweichungsgesetzgebung nur zwei Politikfelder betrifft. Nicht zuletzt für den Wirtschaftsstandort Deutschland handelt es sich bei den Materien allerdings um solche von signifikanter Bedeutung, bedenkt man nur, dass eine starke Heterogenität in diesen Feldern die Informationskosten überregional agierender Unternehmen in die Höhe treiben kann.281 Schließlich ist mit den vorfindlichen landesrechtlichen „Sonderwegen“ auch bewiesen, dass „politische Vernunft“ kein den Tatsachen entsprechendes und schon gar kein rechtlich belastbares Argument ist.282 276  Schütte / Kattau

(Fn. 270), ZUR 2010, 353, 356. Abs. 1 S. 1 Nds. AusführungsG zum BNatSchG. 278  vgl. etwa Franzius, Die Zukunft der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung, ZUR 2010, 346, 352. 279  Landeshochschulgesetz MV v. 25.01.2011, GVBl. 2011, S. 18. 280  Akkreditierungsrat Pressemitteilung, Diplomgrade in Masterstudiengängen unzulässig, 09.06.2011 (http: /  / www.akkreditierungsrat.de / fileadmin / Seiteninhalte /  AR / Veroeffentlichungen / Pressemitteilungen / AR_Pressemitteilung_2011-3.pdf (30.06.15)); ebenso Trute, Rechtsfragen der Vergabe des Diplomtitels für Masterstudiengänge in Mecklenburg-Vorpommern, 2011 (http: /  / www.vumv.org / aktuelles / ak tuelle-meldungen / details / news / aktuelles-gutachten-bezeifelt-diplom-vergabe-inmecklenburg-vorpommern.html (28.09.16)); ebenfalls dazu aber mit gegenteiliger Auffassung Classen (Fn. 1). 281  Cancik, Das neue Naturschutzrecht Niedersachsens – ein Testfall für die Abweichungsgesetzgebung, NdsVBl. 2011, 177, 182. Zu den Kostensteigerungen siehe unten B. II. 4. 282  Becker, Das Recht der Länder zur Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) und das neue WHG und BNatSchG, DVBl 2010, 754, 755 Fn. 24. 277  § 6



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht195

II. Rechtsunsicherheit auf Grund der Gemengelage Allein auf Grund der Möglichkeit abweichenden Landes- bzw. Bundesrechts entsteht beim Rezipienten Unsicherheit dahingehend, wie der gültige Normbefehl lautet.283 Will er auf den Gebieten der Abweichungsgesetzgebung die bestehende Rechtslage ermitteln, muss er in einem ersten Schritt immer prüfen, ob eine Bundesregelung existiert.284 Falls dies zutrifft, kann er auf den bundesgesetzlichen Rechtsbefehl nicht blind vertrauen, sondern muss herausfinden, ob es eine entsprechende landesgesetzliche Abweichung gibt.285 Eine Abweichung ist per definitionem darin zu sehen, dass der Landesgesetzgeber eine von der jeweiligen Bundesnorm unterschiedliche Entscheidung trifft. Diese kann sich sowohl auf die Tatbestands- wie auch auf die Rechtsfolgenseite – bzw. auf beide Ebenen – beziehen.286 Liegt eine landesgesetzliche Abweichung ebenfalls vor, ist durchaus möglich, dass auch sie von einer subsequenten Abweichung in einem späteren Bundesgesetz und darauffolgenden Landesgesetz verdrängt worden ist.287 Bis zur momentanen Rechtslage können sich die bundesstaatlichen Akteure etliche Male abgelöst haben, so dass zum Zeitpunkt der Betrachtung möglicherweise bereits ein „Rechtsdickicht“288 von unregelmäßig übereinanderliegenden „Rechtsschichten“ entstanden ist.289 Diese „Rechtsschichten“ treffen jeweils eine von ihrer „Bezugsschicht“ unterschiedliche Entscheidung auf Tatbestands- und / oder Rechtsfolgenseite. In einer Gesamtschau entstehen also Wechselbezüglichkeiten von Tatbestands- und Rechtsfolgenanordnungen verschiedenster Normen; mit anderen Worten: Es kommt zu einer beträchtlichen Zunahme „externer Interdependenzen“.290 Denn die Anzahl der Vorschriften, die zur Beurteilung einer Rechtsfrage herangezogen werden müssen, erhöht sich. Damit geht auch ein Anstieg normativer Komplexität einher.291 Ist ein „Rechtsdickicht“292 unter den genannten Bedingungen einmal entstanden, muss zur Ermittlung der Rechtslage die zeitliche und inhaltliche Reichweite der Rechtsschichten „auseinander dividiert“ werden. Hierbei ist von erheblichem Nachteil, dass man weder dem zwar noch gül283  Papier

(Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. (Fn. 240), JZ 2006, 930, 933. 285  Häde (Fn. 240), JZ 2006, 930, 933. 286  Siehe oben Kapitel 2. B. I. 2; Dazu auch Schmitz / Jornitz (Fn. 270), DVBl 2013, 741, 742. 287  Häde (Fn. 240), JZ 2006, 930, 933. 288  Kment, Raumplanung unter Ungewissheit, ZUR 2011, 127, 128. 289  Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31. 290  Zum Begriff externer Interdependenzen siehe oben A. I. 3. d) bb) (1). 291  Siehe oben A. I. 3. d) bb) (1). 292  Kment (Fn. 288), ZUR 2011, 127, 128. 284  Häde

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

tigen, aber in dem betreffenden Land und in der konkreten Frage eventuell nicht mehr anwendbarem Bundes- oder Landesrecht ansehen kann, ob die jeweilige Regelung durch später gesetztes Recht überholt worden ist.293 Bei Heranziehung eines jeden Gesetzes muss daher sowohl dessen Inkrafttreten ermittelt als eventuell auch seine Regelungen zu anderen – unter Umständen älteren oder jüngeren – Vorschriften in Beziehung gesetzt werden.294 Auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung reicht zur Ermittlung der Rechtslage der Blick in ein Gesetz somit nicht aus.295 Vielmehr bedarf es eines „Stereoblicks“, bei dem mehrere Gesetze parallel betrachtet werden müssen.296 Der Abgleich verschiedenster Gesetze kann sich als besonders schwer erweisen, da sich Bundes- und Landesrecht weder in ihrem „Aufbau“ noch sprachlich ähneln müssen.297 Erschwerend tritt hinzu, dass das „ablösende“ Gesetz keine Vollregelung der entsprechenden Materie treffen muss.298 Der Rezipient muss sich die Rechtslage daher eventuell – einem „Mosaik“ vergleichbar – für den einzelnen Fall und vielleicht auch nur für ein Bundesland geltend, aus dem sich jeweils überlappenden Bundes- und Landesrecht zusammensetzen.299 Das Gleichnis von einer „Grabung in den neun Schichten Trojas“300 erscheint für diesen Vorgang durchaus angemessen.301 „Vergleichsweise einfache Sachverhalte“ können auf diese Weise „Gegenstand komplexer Rechtsfragen werden“.302 Mithin steht die normative Komplexität der beschriebenen Rechtslage außer Frage.

293  Papier

(Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. (Fn. 255), BauR 2012, 31, 32. 295  Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31, 32. Dies ist allerdings auch bei vielen anderen Rechtsmaterien der Fall. Selbst wenn es keine landesrechtlichen Abweichungen vom Bundesrecht gibt, muss sich der Betroffene dessen aber zumindest vergewissern. 296  Schwind, Die Neuregelung des Wasserrechts in Niedersachsen, NdsVBl 2010, 345, 349. 297  Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. 298  Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. 299  Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. 300  Kirchhof, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, S. 10 (http: /  / starweb.hessen. de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)). 301  So auch Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2148. 302  Kothe, Ping-Pong oder „Wasserspiele“ zwischen Bund und Land, VBlBW 2012, 58. 294  Hager



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht197

1. Maßstab für die Beurteilung normativer Komplexität Im Zusammenhang mit der aus dem Abweichungsrecht resultierenden Gemengelage und Komplexität wird nun behauptet „die verfassungsrechtlich gezogene Linie (sei) überschritten (…), wenn nur noch Spezialisten nach eingehender Prüfung die aktuelle Gesetzeslage aufspüren könn(t)en.“303 Diesem Befund wird im Anschluss nachgegangen. Er suggeriert zunächst, indem er einen Gegensatz zum Spezialisten also dem Rechtskundigen aufbaut, dass Maßstab für die Beurteilung von Komplexität immer der juristisch nicht vorgebildete Bürger sei. Allerdings ist für den Adressatenhorizont, wie bereits ausgeführt, ein flexiblerer Maßstab zu wählen.304 Für die Beurteilung der Komplexität des Zusammenspiels ganzer Normenkomplexe sind die Erkenntnismöglichkeiten des typischerweise von der Regelungsmaterie betroffenen Adressaten entscheidend.305 Sind von den Materien der Abweichungsgesetzgebung somit vorwiegend nur große Unternehmen mit entsprechenden Rechtsabteilungen betroffen, könnten ausschließlich deren Kapazitäten zur Bewältigung von Komplexität entscheidend sein. Wenden sich Gesetze allerdings direkt an den Bürger, indem sie beispielsweise unmittelbare Verhaltenspflichten statuieren oder Begünstigungen auf Antrag gewähren, kommt es allein auf die Erkenntnismöglichkeiten des mit durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestatteten und rechtlich nicht vorgebildeten Bürgers an.306 Die überwiegende Zahl der in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG genannten Kompetenzfelder betrifft Materien des Umweltrechts. Der Kompetenztyp erstreckt sich ebenso auf den für das Hochschulrecht nicht unbeachtlichen Teil der Hochschulzulassung und -abschlüsse. Kennzeichnend für das Umweltrecht ist ein „Instrumentenmix“ aus direkten und indirekten Verhaltenssteuerungen.307 Zu den direkten – also unmittelbar erzwingbaren – Verhaltenspflichten zählen vor allem Gebote und Verbote.308 Diese sind in fast allen Bereichen des Umweltrechts, die zur Abweichungsgesetzgebung gehören, vorhanden.309 Neben den unmittelbaren Verhaltenspflichten kennt nicht nur das 303  Hager

(Fn. 255), BauR 2012, 31, 32. oben A. I. 3. d) cc). 305  Siehe oben A. I. 3. d) cc). 306  Siehe oben A. I. 3. d) cc). 307  Kluth, Allgemeines Umweltrecht, in: Kluth / Smeddinck (Hrsg.), Umweltrecht, 2013, § 1 Rn. 142. 308  Kloepfer, Instrumente des Umweltrechts, in: Kloepfer, Umweltschutzrecht, 2. Auflage, 2011, § 4 Rn. 36; Sparwasser / Engel / Voßkuhle, Steuerung umweltrelevanten Verhaltens, in: Sparwasser / Engel / Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Auflage, 2003, § 2 Rn. 58 ff. 309  Z. B. in § 5 WHG, § 15 BNatSchG, § 4 BBodSchG, §§ 19, 20 BJagdG. Aus Vereinfachungsgründen werden die Bundesgesetze aufgeführt. Gleiche Inhalte finden sich auch in den Landesgesetzen. 304  Siehe

198

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Umwelt-, sondern auch das Hochschulrecht die Gewährung von Begünstigungen auf Antrag.310 Somit kann Maßstab für die Bewertung der Komplexität des Zusammenspiels von Vorgängernorm und subsequenter Norm im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung nur der Erkenntnishorizont des rechtlich nicht vorgebildeten Bürgers sein. Eine Aufspaltung der Regelungsmaterien in solche mit direkten Verhaltenspflichten und Gewährung von Begünstigungen auf Antrag und in solche ohne – zwecks Differenzierung im Rahmen des ­Adressatenhorizonts –, erscheint nicht praktikabel. 2. Überschreitung der Grenze verfassungsrechtlich zulässiger normativer Komplexität Nachdem der Maßstab für die Beurteilung der Komplexität somit in den Erkenntnismöglichkeiten des juristisch nicht vorgebildeten Bürgers gefunden ist, stellt sich die anschließende Frage, ob er mit dem oben beschriebenen Szenario der Abweichungsgesetzgebung überfordert ist oder sich die Rechtslage unter zumutbarem Aufwand erschließen kann. Mit anderen Worten: Wann ist die verfassungsrechtlich zulässige Grenze normativer Komplexität im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung überschritten? In Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht ist das Gebot der Normenklarheit verletzt, wenn allenfalls Experten in der Lage sind, mit vertretbarem Aufwand die Rechtslage zu bestimmen.311 Sieht sich der Rechtsunterworfene demnach außer Stande die bestehende Rechtslage anhand des geschriebenen Normmaterials selbst zu erfassen und beauftragt aus diesem Grund einen „Intermediär“312 zur Klärung seiner rechtlichen Situation, ist dies zunächst ein Indiz für Überkomplexität. Denn dabei fallen sogenannte Transaktionskosten313 an. Diese Transaktionskosten sind Aus310  Z. B. § 6 Abs. 2 ROG; § 19 Abs. 6 HRG; § 41 Abs. 1 S. 3 und 4 LHG MV. Nicht gefolgt werden kann daher Classen (Fn. 1), S. 14, der als Adressat der Regelung in § 41 Abs. 1 S. 3 und 4 LHG MV nicht den „einzelne(n) Bürger“ sieht, sondern „staatliche Stellen“, die „wesentlich bessere Möglichkeiten“ hätten, die Rechtslage zu bestimmen. Zudem unterlägen sie der „Rechtsaufsicht (des) (…) Ministerium(s)“ und könnten sich insoweit „auch beraten lassen“. Dem ist entgegenzuhalten, dass nach § 41 Abs. 1 S. 3 LHG MV der Diplomgrad anstelle des Mastergrades auf Antrag des Studierenden verliehen wird. Der Bürger, in diesem Fall der Studierende, muss also zunächst tätig werden, bevor staatliche Stellen ihm den Diplomgrad verleihen können. 311  BVerfGE 110, 33, 64, dazu siehe oben unter A. I. 3. d) aa) (5). 312  Diesen Begriff verwendet Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 43 und meint damit „etwa Rechtsanwälte, Notare, Steuerberater, Verbände, aber auch Gerichte und die Verwaltung …“ (Fn. 76). 313  Der Begriff der Transaktionskosten ist nicht abschließend geklärt. Eine mögliche Definition lautet: Transaktionskosten resultieren aus der ungleichen Verteilung



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht199

druck der Rechtsunsicherheit des Normunterworfenen. Sie würden nicht anfallen, wenn er sich die Rechtslage unter zumutbarem Aufwand selbst erschließen könnte. Die Komplexität von Normen hat damit unmittelbaren Einfluss auf die Kosten des Normunterworfenen.314 Ihr Anstieg erschwert das Verständnis und verursacht „direkte und indirekte Kosten“.315 Zu untersuchen bleibt, in welcher Form Transaktionskosten für den Norm­ unterworfenen im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung anfallen. Zunächst vergrößern die beschriebenen Interdependenzen das Informationsvolumen, welches der Rezipient zur Ermittlung des Normmaterials verarbeiten muss.316 Zu bedenken ist dabei, dass der typische Normunterworfene etwa nur 7 + / – 2 Informationseinheiten (chunks) in seinem Arbeits- und Kurzzeitgedächtnis speichern, gleichzeitig verarbeiten und nicht – wie der Rechtskundige – Informationen zu größeren Einheiten zusammenfassen (chunking) kann.317 Will der Normunterworfene somit die Rechtslage ermitteln, kommt es durch die beträchtliche Zahl möglicher Interdependenzen zu einem Anstieg seiner kognitiven Kosten in Form von Aufmerksamkeit.318 Dennoch muss die Grenze seiner kognitiven Fähigkeiten bei einer Zahl von 7 + / – 2 Informationseinheiten längst nicht erreicht sein. Schon die Heranziehung kleinerer Hilfsmittel wie „Papier“ und „Stift“ oder die eines „Computers“ kann die Menge erfassbarer Informationseinheiten erhöhen.319 Selbst mit diesen Hilfsmitteln wird dem Normunterworfenen aber die Entflechtung einer über Jahrzehnte zustande gekommenen Verwobenheit von Normen kaum gelingen. Denn er kann weder selektieren, auf welche Informationen es für die Erfassung der Rechtslage entscheidend ankommt, noch kann er von Wissen zwischen verschiedenen Subjekten. Sie werden aufgewandt, um die Informationsasymmetrie auszugleichen und bestehen aus diesem Grund größtenteils aus Informationskosten. vgl. Beckmann, Die Internationalisierung der Rechnungslegung und ihre Implikationen für das Europäische Bilanzrecht, 2008, S. 194. 314  In diesem Sinne auch Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 54. 315  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 53; Schuck (Fn. 156), Duke Law Journal, 42 (1992), 1, 18 ff.; Epstein, Simple rules for a complex world, 1995, pp. 30 spricht von „administrative costs“ und meint damit sämtliche Kosten, die für das Funktionieren einer Rechtsordnung aufgebracht werden müssen. Erfasst werden also sowohl Transaktionskosten von Unternehmen wie auch die des Gesetzgebers, der Verwaltung und der Gerichte. Komplexität erschwert nämlich nicht nur dem Gesetzgeber die Normsetzung und vor allem -änderung, sondern führt insbesondere bei der Verwaltung und den Gerichten zu einem erhöhten Fehlerrisiko bei der Rechtsanwendung und -kontrolle. Siehe oben unter A. I. 3. d) bb) (1). Für die hier beschriebene Problematik der Abweichungsgesetzgebung soll gleichwohl die Per­ spektive des aus dem Staatsgefüge herausgelösten Bürgers im Vordergrund stehen. 316  Siehe oben A. I. 3. d) bb) (2). 317  Siehe oben A. I. 3. d) bb) (2). 318  Dazu siehe unter A. I. 3. d) bb) (2). 319  Towfigh (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 35.

200

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

den Inhalt von Rechtsbegriffen exakt erfassen.320 Aus diesem Grund wird er womöglich auch nicht in der Lage sein, den Inhalt und die Reichweite der Abweichung genau zu bestimmen. Die Folge ist, dass sich der Normunterworfene für Rechtsfragen, auf die es ihm entscheidend ankommt, weil beispielsweise Schäden für ihn eintreten können, falls er untätig bleibt, Rechtsrat bei einem Intermediär einholen wird.321 Neben den kognitiven Kosten fallen für den Normunterworfenen somit auch Informationsbeschaffungskosten an. Nicht jeder „Gang zum Rechtskundigen“ muss allerdings gleich eine verfassungsrechtlich fragwürdige Überkomplexität des Gesetzes oder der Rechtslage bedeuten, denn häufig veranlassen den Bürger aus seiner Sicht „nicht eindeutige Begriffe“ einen Rechtskundigen aufzusuchen. Bestimmte oder auch unbestimmte Rechtsbegriffe darf der Gesetzgeber allerdings durchaus in seinen Gesetzen verwenden. Falls es die Sachnotwendigkeit des zu regelnden Bereichs erfordert, ist der Gesetzgeber auf diese Regelungstechnik sogar angewiesen, will er sich nicht in Detailkodifikationen verlieren. Für das Problem der Abweichungsgesetzgebung ergibt sich die Komplexität allerdings – auch was die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen anbelangt – nicht aus der Sachgesetzlichkeit des Regelungsbereichs, sondern aus den formalen Umständen der Gesetzgebungskompetenz. Die Erfassung der Begriffe fällt schwer, weil sich ihr Inhalt aus der Bezugnahme zu Begriffen im „überholten“ Gesetz ergibt. Aber nicht nur der Inhalt des „überholten“ Gesetzes ist maßgebend, sondern auch der der vo­ rangehenden Gesetze, denn ersteres steht wiederum in einer inhaltlichen Beziehung zum davor maßgeblichen Gesetz usw. Der „aktuelle“ Rechtsbegriff lässt sich also erst aus einer „Rückverfolgung“ der vorangehenden Inhalte erschließen. Auch hinsichtlich der Rechtsbegriffe, die eigentlich weniger den formalen Aufbau als den Inhalt der Gesetze betreffen, führt also im Kern ein formaler Aspekt zur Komplexitätssteigerung. Diese Form der Komplexität ist weniger hinnehmbar, denn auf unbestimmte Rechtsbegriffe kann der Gesetzgeber bei der Gestaltung seiner Gesetze nicht immer verzichten, um einen möglichst übersichtlichen Aufbau hat er sich aber zu bemühen. Mithin muss für diese Situation eine weitgehende Kompensation mitgedacht werden.322

320  Siehe

oben A. I. 3. d) bb) (2). (Fn. 70), Der Staat 48 (2009), 29, 54; Kaplow, A Model of the Op­ timal Complexity of Legal Rules, Journal of Law, Economics & Organization, Vol. 11 (1995), 150. 322  Die Kompensation besteht in einem ungeschriebenen Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung, siehe unten C. 321  Towfigh



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht201

3. Zwischenergebnis Sowohl die kognitiven wie auch die Informationsbeschaffungskosten des Normunterworfenen sind Beleg für seine, aus der formalen Überkomplexität der Rechtslage folgende, Rechtsunsicherheit. Für das oben beschriebene – normativ angelegte – Szenario einer Verwobenheit der Gesetzgebung auf Bundes- und Landesebene ist die verfassungsrechtlich zulässige Grenze normativer Komplexität überschritten. 4. Transaktionskosten überregional agierender Unternehmen Auch wenn Maßstab zur Beurteilung der Komplexität der rechtlich nicht vorgebildete Bürger ist, sind von den Regelungen auf dem Feld der Abweichungsgesetzgebung nicht nur Bürger, sondern auch überregional agierende Unternehmen betroffen. Das Rechtsinformationsinteresse des Bürgers beschränkt sich in der Regel auf das Bundesland, in dem er lebt. Seine Transaktionskosten fallen somit für einen spezifischen Einzelfall in nur einem Bundesland an. Verglichen damit sind die Transaktionskosten von Projektträgern und Unternehmen, die in mehreren Bundesländern gleichzeitig verschiedene Projekte betreuen, ungleich höher, stellen sich doch bei solchen Projekten grundsätzlich nicht nur viel mehr Rechtsfragen aus verschiedensten Rechtsbereichen, sondern diese Rechtsfragen können von Bundesland zu Bundesland auch ganz unterschiedlich ausfallen. „Auslegungsschwierigkei­ ten“323 zur Reichweite der Abweichungsgesetzgebungskompetenz etwa in Hinblick auf abweichungsfeste Kerne oder zur „Fortgeltung“ der Vorgängernorm können außerdem „Rechts- und Investitionsunsicherheiten“ erzeugen,324 die beispielsweise zu baulichen Verzögerungen oder im Extremfall sogar zur „Abschreckung von Unternehmen“325 führen können. Dies alles verursacht wiederum Transaktionskosten. Zur Bezifferung dieser Kosten wird das Standard-Kosten-Modell326 herangezogen,327 welches eine Methode zur 323  Zu

den Auslegungsschwierigkeiten siehe unten D. X. (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 358. 325  Pestalozza, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am15. / 16.05.2006, S. 51 (http: /  / starweb.hessen. de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)). 326  Kroll, „Bürokratieabbauer“ im Aufwind, ZG 2009, 259 ff.; Jann / Jantz, Bürokratiemessung in Deutschland, ZG 2008, 51 ff.; Ernst / Koop, Bürokratiemessung in Deutschland – das Standard-Kosten-Modell und der Normenkontrollrat, ZG 2006, 179 ff.; Frick / Brinkmann / Ernst, Das Standard-Kosten-Modell, ZG 2006, 28  ff.; Maurer, Gesetzesfolgenabschätzung als notwendiges Element eines Programms zur Besseren Rechtsetzung, ZG 2006, 377 ff.; Veit, Reformen auf die sanfte Art: Büro324  Schütte / Kattau

202

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Messung von Bürokratiekosten darstellt, die auf die Wirtschaft mit einem neuen Gesetz zukommen.328 Das Modell, das ursprünglich aus den Niederlanden stammt, wurde mit der Einrichtung eines Nationalen Normenkon­ trollrates am 1. Juni 2006 auf Bundesebene eingeführt.329 Das Gesetz zur Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates330 schreibt in seinem § 2 Abs. 2 explizit die Anwendung des Standard-Kosten-Modells zur Messung von Bürokratiekosten vor. Nach § 2 Abs. 1 NKR-Gesetz beschränkt sich das Modell bei der Bezifferung der Bürokratiekosten allerdings auf solche, die aus Informationspflichten resultieren.331 Dies geschieht nicht ohne Grund, würde doch andernfalls ein politischer Akt als solcher in Frage gestellt werden, was wiederum mit dem Demokratieprinzip wohl kaum zu vereinbaren wäre.332 Die Überprüfung ist daher auf „die Art und Weise (der) akten- und formularmäßigen Umsetzung“ des Normentwurfs begrenzt.333 Die daraus resultierenden Kosten werden ermittelt und im Anschluss wird – falls notwendig – durch Alternativvorschläge zur Ausgestaltung der Rechtsvorschrift versucht, sie zu reduzieren.334 So sinnvoll die Überprüfung von Gesetzesinitiativen in Hinblick auf die daraus resultierenden Bürokratiekosten auch sein mag, für das hier geschilderte Problem der Verwobenheit von Bundes- und Landesgesetzen und die daraus resultierenden Kosten ist die Einrichtung des Nationalen Normenkontrollrats nur von begrenztem Wert, ist doch sein Anwendungsbereich auf die Überprüfung von Normentwürfen auf Bundesebene beschränkt und erkratieabbau und Anwendung des Standardkostenmodells in Schweden, ZG 2008, 68 ff. 327  Z. B. Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege v. 03.04.2009, BR-Drs. 278 / 09, Anlage S. 1 und 2. 328  Dietsche, Das Standardkosten-Modell zur Messung bürokratischer Lasten im Kontext der Diskussion über die Föderalismusreform II, in: Baus / Eppler / Wintermann (Hrsg.), Zur Reform der föderalen Finanzverfassung in Deutschland, Der deutsche Föderalismus 2020, Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, 2008, S. 179, 180. 329  Dietsche (Fn. 328), S. 179. 330  NKR-Gesetz v. 14.08.2006, BGBl I, S. 1866. 331  Dazu zählen beispielsweise Kosten im Zusammenhang mit dem „Ausfüllen von Steuererklärungen, Nachweisen, Anträgen“ usw. Nicht erfasst werden z. B. direkte Folgekosten wie die Entrichtung von Steuern und Gebühren. vgl. Kroll, Das Standardkosten-Modell und dessen Beitrag zum Bürokratieabbau, in: Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam (Hrsg.), Potsdamer Diskussionspapiere zur Verwaltungswissenschaft, 2005, S. 20. 332  Dietsche (Fn. 328), S. 179, 180. 333  Dietsche (Fn. 328), S. 179, 180. 334  Dietsche (Fn. 328), S. 179, 180.



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht203

fasst damit gerade nicht das Zusammenspiel von Normen der verschiedenen bundesstaatlichen Akteure.335

III. Gemengelagen schon zu Zeiten der früheren Rahmen- und konkurrierenden Gesetzgebung Mit Verweis auf die frühere Rahmengesetzgebung in Art. 75 GG a. F. und die konkurrierende Gesetzgebung in Art. 72 GG wird mitunter das Vorliegen einer besonders unübersichtlichen Gemengelage bei der Abweichungsgesetzgebung bestritten.336 Ein Nebeneinander von Bundes- und Landesrecht und damit vergleichbare Gemengelagen habe es schon vor Einführung der Abweichungsgesetzgebung gegeben.337 Zuweilen habe auch dieses System dem Rechtsanwender eine „recht diffizile Prüfung“ der Rechtslage abverlangt.338 Daher soll im Anschluss ein Vergleich der Gemengelagen Aufschluss darüber geben, wie schwierig und vor allem unterschiedlich sich die Bestimmung der Rechtslage in den einzelnen Konstellationen gestalten kann. 335  In diesem Sinne auch Callies, Stellungnahme als Sachverständiger im Rahmen der öffentlichen Anhörung der Föderalismuskommission II am 08.11.2007, Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-LänderFinanzbeziehungen, K-Drs. 006, S. 19 und Jann, Stellungnahme als Sachverständiger im Rahmen der öffentlichen Anhörung der Föderalismuskommission II am 08.11.2007, Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, K-Drs. 073, S. 13 f. Der Sachverständige Callies plädierte aus diesem Grund im Rahmen der Föderalismuskommission II für ein vom Bund koordiniertes „Länder-Benchmarking“, bei dem der Bund das Recht erhalten sollte, entsprechende Kriterien für einen Vergleich der Gesetzesentwürfe zwischen den Ländern festzulegen und Kennzahlen, wie z. B. für den Vollzugsaufwand, zu ermitteln. In concreto sollte nach Umsetzung der Gesetze durch die Länder unter Leitung des Bundes geprüft werden, welches Landesgesetz die geringsten Kosten verursacht hat. Nach Callies sollte dem Bund gegenüber den „unterlegenen“ Ländern ein Weisungsrecht zustehen, so dass diese die nach dem Gesetzes-Benchmark­ ing beste und damit kostenneutralste Regelung verbindlich übernehmen müssten. (Callies, a. a. O.). Dazu Dietsche, Abweichungsgesetzgebung und Gesetzesfolgenabschätzung – Zu den Möglichkeiten des Bundes hinsichtlich einer Folgenabschätzung im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung, in: Baus / Scheller / Hrbek (Hrsg.), Die bundesstaatliche Kompetenz- und Finanzverteilung im Spiegel der Föderalismus­ reform I und II, Der deutsche Föderalismus 2020, Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung, 2009, S. 57 ff. Zum interkommunalen Benchmarking siehe Kuhlmann, Benchmarking auf dem Prüfstand: Kosten, Nutzen und Wirkungen interkommunaler Leistungsvergleiche in Deutschland, VerwArch 94 (2003), 99 ff. 336  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. 337  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. 338  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126.

204

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

1. Konkurrierende Gesetzgebung Der Wortlaut des Art. 72 Abs. 1 GG hat sich im Zuge der Föderalismusreform 2006 nicht verändert. Noch immer ist der Landesgesetzgeber „solange und soweit“ von der Regelung einer Materie ausgeschlossen, wie der Bund auf Grund der ihm zustehenden Vollkompetenz eine „erschöpfende Regelung“ getroffen hat.339 Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass allein die Ausübung der Bundesgesetzgebungskompetenz noch keine Sperrwirkung für die Länder entfaltet.340 Vielmehr muss im Zuge einer Gesamtwürdigung des Normenkomplexes ermittelt werden, ob der jeweilige Sachbereich vom Bund abschließend geregelt worden ist.341 Besondere Probleme bei der Bestimmung der Sperrwirkung bereitet die seit Jahrzehnten gängige Praxis des Bundesgesetzgebers die Landesgesetzgeber zu ermächtigen, eigene ergänzende Vorschriften zu erlassen oder von den Regelungen des Bundes abzuweichen.342 Der Einwand, der Bund habe bei Erlass dieser Regelung „erschöpfend“ von seiner Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch gemacht, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.343 Schließlich kennt das Grundgesetz keine zeitliche oder sachliche Beschränkung von Bundesgesetzen für den Fall, dass der Landesgesetzgeber auf den Regelungsvorbehalt hin tätig wird.344 Das Bundesverfassungsgericht hält diese Konstellation für weniger problematisch.345 Sie ist mit dem Grundgesetz wohl auch vereinbar, betrachtet man die bundesgesetzliche Regelung als nicht „umfänglich erschöpfend“, sondern als „subsidiär“ für den Fall, dass der Landesgesetzgeber keine Regelung trifft.346 339  Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7.  Auflage, 2014, Art. 72 Rn. 27. 340  Degenhart (Fn. 339), Art. 72 Rn. 27. 341  BVerfGE 7, 342, 347; 20, 238, 248; 49, 343, 358; 67, 299, 324; Jarass, Regelungsspielräume des Landesgesetzgebers im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und in anderen Bereichen, NVwZ 1996, 1041, 1044  f.; Degenhart (Fn. 339), Art. 72 Rn. 27. 342  Rengeling, Gesetzgebungszuständigkeit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 135 Rn. 158; Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 63. 343  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 63 unter Verweis auf v.  Mangoldt / Klein / Pestalozza, Bonner Grundgesetz, Bd. VIII, 3. Auflage, 1996, Art. 72 Rn. 280 ff. 344  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 63; zum Abweichungsrecht als tatbestandliche Ausnahme zum „erschöpfenden Gebrauchmachen“ in Art. 72 Abs. 1 GG siehe oben unter Kapitel 2. B. II. 4. b). 345  BVerfGE 35, 65, 73  f. „Eine Aussparung der Bundeskompetenz zugunsten der Länder ist im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zulässig (…). Gerade im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung ist der Regelungsvorbehalt zugunsten des Landesgesetzgebers ein übliches Mittel der Gesetzgebungstechnik (…).“; Entscheidung zitiert nach Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 63. 346  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 63.



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht205

Gesteht der Bund den Ländern mit den beschriebenen Regelungsvorbehalten eigene Lösungen zu, kann auch hierbei durchaus ein „Flickenteppich“347 von maximal 16 „Sonderwegen“ entstehen. Das „Phänomen“ bundesgesetzlicher Hauptregelung mit landesrechtlichen Besonderheiten ist somit in der Tat kein neues, sondern eines, das es schon vor 2006 gab.348 Ohne Zweifel kann auch diese Konstellation die Ermittlung der Rechtslage erheblich erschweren. Der Unterschied zur drohenden Gemengelage bei der Abweichungsgesetzgebung besteht aber zum einen darin, dass bei der originären konkurrierenden Gesetzgebung anhand der Formulierung des Bundesgesetzes deutlich wird, für welche Bereiche die Länder eigene Lösungen entwickeln dürfen. Zum anderen verbleibt trotz der Öffnungsklauseln immer derselbe Regelungsbereich beim Bund und bei den Ländern. Bei der Abweichungsgesetzgebung ist dies anders. Hier können sich die bundesstaatlichen Akteure – bis auf die abweichungsfesten Kerne – hinsichtlich sämtlicher Materien gegenseitig ablösen. Sie treten mit der Neukonzeptionierung der konkurrierenden Gesetzgebung mit dem jetzigen Unterfall der Abweichungsgesetzgebung in ein „echtes Konkurrenzverhältnis“.349 Das bedeutet, dass sich der in der Kompetenznorm des Art. 72 Abs. 3 GG angelegte „Flickenteppich“ im Laufe der Zeit als viel kleinteiliger, buntscheckiger und – anders als bei der originären konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG – mit mehreren sich überlappenden „Rechtsschichten“ erweisen kann. 2. Rahmengesetzgebung F. ist Die Abschaffung der Rahmengesetzgebung350 in Art. 75 GG a.  Kernstück der Neuerungen im Rahmen der Föderalismusreform 2006, zumindest was den Bereich der Gesetzgebungskompetenzen angeht.351 In der Begründung zum Entwurf des Föderalismusreformgesetzes352 heißt es: „Die Kategorie der Rahmengesetzgebung mit der Notwendigkeit von zwei nacheinander geschalteten Gesetzgebungsverfahren auf der Ebene des Bundes und in den Ländern hat sich insbesondere bei der Umsetzung europäi347  Zum Begriff im Kontext der Gemengelage der Abweichungsgesetzgebung siehe oben unter B. I. 348  In diesem Sinne Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 125. 349  Siehe oben unter Kapitel 2. B. II. 4. a). 350  Streppel, Die Rahmengesetzgebung, 2005; Grandjot, Die Rahmengesetzgebung des Bundes im Umweltrecht unter besonderer Berücksichtigung der Föderalismusdiskussion, 2007. 351  Nierhaus / Rademacher, Die große Staatsreform als Ausweg aus der Föderalismusfalle?, LKV 2006, 385, 387. 352  BT-Drs. 8 / 613.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

schen Rechts als ineffektiv erwiesen und hat sich auch im Übrigen nicht bewährt.“353 Die Besonderheit der alten Rahmengesetzgebung bestand darin, dass der Bund grundsätzlich nur die wesentlichen Fragen einer Materie regelte, und die Länder die Detailregelungen, also die Ausfüllung des Rahmens, übernahmen.354 Das Hauptproblem dieser Gesetzgebungskompetenz war, dass es mitunter schwer fiel, zu ermitteln, „was noch Rahmen ist, was schon Ausfüllung des Rahmens ist und wer dafür verantwortlich ist.“355 Zum Zwecke einer „stärkeren Entflechtung“356 der Verantwortungsbereiche zwischen Bund und Ländern wurden daher die Materien der alten Rahmengesetzgebung in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes überführt, wobei die Länder ein weitreichendes Zugriffsrecht auf diese Materien erhielten, das sie fakultativ ausüben können. Im Vergleich zur früheren Rahmengesetzgebung, bei der sich die Rechtslage also – bis auf den Fall des Art. 75 Abs. 2 GG a. F. – erst aus der „Hintereinanderschaltung zweier Rechtsetzungsebenen“ ergab,357 hat die Abweichungsgesetzgebung als Unterfall der konkurrierenden Gesetzgebung den entscheidenden Vorteil, dass bei Tätigwerden des Bundes oder der Länder die Gesetzgebung einem der bundesstaatlichen Akteure eindeutig zugeordnet werden kann, schließlich sind grundsätzlich beide Ebenen zu Vollregelungen befugt.358 Man könnte also meinen, dass mit dieser „doppelten Vollkompetenz“359 ein „Mindestmaß an Vereinheitlichung“360 einhergeht. Gleichwohl haben die Länder und der Bund die Befugnis aber nicht die Pflicht zu Vollregelungen. Sie können sich auf die Regelung von Ausschnitten beschränken.361 Darüber hinaus spricht wiederum auch die Aufteilung der Materien zwischen den bundesstaatlichen Akteuren gegen eine im Vergleich zur Rahmengesetzgebung stärkere „Vereinheitlichung“362. Während bei der alten Rahmengesetzgebung der Gestaltungsspielraum für die Verfolgung eigener landesrechtlicher Re353  BT-Drs.

8 / 613, S. 8. 111, 226, 248. 355  Wieland, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, S. 64 (http: /  / starweb.hessen.de /  cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)). 356  Stock (Fn. 240), ZG 2006, 226, 230; Nierhaus / Rademacher (Fn. 351), LKV 2006, 385, 387. 357  Nierhaus / Rademacher (Fn. 351), LKV 2006, 385, 387. 358  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. 359  Ipsen, Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nach der Föderalismusnovelle, NJW 2006, 2801, 2804. 360  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. 361  Siehe oben unter B. I. 362  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. 354  BVerfGE



B. Gemengelage von Bundes- und Landesrecht207

gelungskonzeptionen für alle Länder gleichermaßen auf bestimmte Bereiche beschränkt war, können Bund und Länder bei der Abweichungsgesetzgebung grundsätzlich hinsichtlich sämtlicher Bereiche abweichende Regelungen treffen. Auch im Hinblick auf die Reichweite der Abweichung gibt es grundsätzlich keine Beschränkungen. Im Laufe der Zeit kann sich die aktuelle Rechtslage daher aus einer Vielzahl übereinander liegender „Rechtsschichten“ ergeben, die der Rechtsanwender ermitteln und voneinander abgrenzen muss.363 Bei der alten Rahmengesetzgebung ergab sich die Rechtslage hingegen, auch wenn es sich um eine doppelstöckige Gesetzgebung handelte, immer nur aus zwei „Rechtsschichten“. Im Rahmen des Vergleichs zur alten Rahmengesetzgebung wird noch ein weiterer Aspekt angeführt. Waren frühere Rahmengesetze unwirksam, weil sie den Ländern nicht ausreichend Raum zur Ausfüllung ließen,364 galt auf Grund der Formulierung des Art. 75 Abs. 1 GG nicht die Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG.365 Ein Gebrauchmachen des Bundes lag also nicht vor, so dass den Ländern eine uneingeschränkte Gesetzgebungskompetenz zukam.366 Aus dieser Konstellation heraus konnten auch diffizile Gemengelagen hinsichtlich des Normbefehls entstehen, da sich möglicherweise unwirksames Bundesrecht und landesrechtliche Regelungen gegenüberstanden und ggf. sogar widersprachen.367 Problematisch ist hierbei, dass der Norm­ unterworfene grundsätzlich auf die Gültigkeit bestehender Normen vertraut, und dies auch darf. Weiterhin kennt er in der Regel nicht die Rechtsfolgen einer eventuellen Teilnichtigkeit. Auch wenn die Gemengelage demnach schwer zu entwirren scheint, resultiert sie in dieser Konstellation im Unterschied zur Abweichungsgesetzgebung daraus, dass eine verfassungswidrige Norm den Anschein erweckt, gültig zu sein. Eine auf diesem Anschein beruhende Unsicherheit über den aktuellen Normbefehl wohnt aber jeder verfassungswidrigen Norm inne. Diesem Umstand kann daher kein besonderes Gewicht beigemessen werden. Folglich kann die beschriebene Gemengelage auch nicht als schwerwiegender im Vergleich zur drohenden bei der Abweichungsgesetzgebung gesehen werden.

363  Siehe

oben unter B. II. 111, 226 ff.; 112, 226 ff. 365  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126 unter Verweis auf März, in: v.  Mangoldt /  Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 5. Auflage, 2005, Art. 31 Rn. 69. 366  März (Fn. 365), Art. 31 Rn. 69. 367  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. 364  BVerfGE

208

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

3. Vorteil der Abweichungsgesetzgebung gegenüber früherem Recht? Vereinzelt wird angeführt, die Ermittlung der Rechtslage gestalte sich bei der Abweichungsgesetzgebung im Vergleich zur alten Rahmen- und konkurrierenden Gesetzgebung deshalb weniger schwierig, weil „die Vorrangfrage (…) in Zukunft nicht mehr durch eine inhaltliche Prüfung der Vereinbarkeit der Regelungen, sondern nach dem rein formalen Kriterium der zeitlichen Abfolge zu klären (sei)“.368 Diese Annahme trifft zu, wenn sich Bund und Länder immer mittels sogenannter Vollregelungen gegenseitig ablösen. Hierfür könnte bereits der Wortlaut des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG sprechen, der den Anwendungsvorrang für „das jeweils spätere Gesetz“ angeordnet. Bei einer gegenseitigen Ablösung mittels Vollregelungen würde der lexposterior-Grundsatz weiterhin eine einfache und klare Handhabe für das Verhältnis Bundes- und Landesrecht bereitstellen.369 Dennoch kann dieser Passus in der Verfassung insbesondere auf Grund des Wesens der Abweichung nur so verstanden werden, dass damit die jeweils abweichende Vorschrift gemeint ist.370 Auch die Erfahrung, die es bis dato mit der Abweichungsgesetzgebung gibt, zeigt, dass die Länder eher zu punktuellen Abweichungen neigen.371 Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, ist doch ein Vorteil der Abweichungsgesetzgebung, dass keine Regelungslücken entstehen, wenn die Länder untätig bleiben oder nur partiell abweichend regeln. Angesichts der in einem Gesetzgebungsverfahren zu erbringenden Aufwendungen erscheint es aus Sicht der Länder auch sinnvoll, nur an solchen Stellen vom Bundesrecht abzuweichen, bei denen sie sich einen echten Mehrwert versprechen. Werden folglich nur punktuelle Abweichungen getroffen, bedarf es zur Ermittlung der Rechtslage gerade auch einer inhalt­ lichen Auseinandersetzung mit den getroffenen Regelungen.372 Diese inhaltliche Auseinandersetzung bezieht sich insbesondere auf die Frage, ob überhaupt eine Abweichung vorliegt, und wenn dies zu bejahen ist, in welcher Hinsicht und Reichweite ist sie gegeben.373

368  Oeter 369  Das

S. 11.

(Fn. 265), Art. 72 Rn. 126. war wohl auch die Intention des Gesetzgebers vgl. BT-Drs. 16 / 813,

370  Für die Perspektive des Bundes, der Länder und weitere Argumente siehe oben Fn. 250 und Fn. 252. 371  Siehe oben unter B. I. 372  Callies (Fn. 335), S. 28. 373  Siehe oben unter B. II. 2.



C. Folgerung für die Abweichungsgesetzgebung209

4. Ergebnis Auch wenn es somit auf Grund des Zuschnitts der Gesetzgebungskompetenzen schon vor der Föderalismusreform im Jahr 2006 Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht gab, war das Verhältnis der Ebenen zueinander zuvor immer von Hierarchie und lediglich zwei sich gegenüberstehenden Konzeptionen geprägt. Die landesrechtlichen Spielräume waren für alle Länder stets die Gleichen. Auch Bundesgesetze galten in allen Ländern gleichermaßen. Nun ist es denkbar, dass Bundesrecht „nur noch in einigen, nicht abweichenden Ländern und damit regional begrenzt gilt.“374 Die bisherige, in einem einzelnen Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Kompetenztypik, wird bildhaft gesprochen „auf den Kopf gestellt“375. Denn nun kann eine Vielzahl von Gegenseitigkeitsverhältnissen entstehen, die allesamt für die Ermittlung der Rechtslage von Bedeutung sind. Abgrenzungsfragen zwischen Bundesund Landesrecht sind historisch betrachtet folglich nicht neu, sie erlangen mit der Abweichungsgesetzgebung aber „eine neue Qualität“.376 Diese Entwicklung findet nicht zuletzt auch in der Abkehr von Art. 31 GG ihren Ausdruck, die im lex-posterior-Grundsatz des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG verankert ist.

C. Folgerung eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung Aus der normativ angelegten Gemengelage zwischen Bundes- und Landesrecht resultiert ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich zulässige Maß normativer Komplexität.377 Aus diesem Grund muss für die Abweichungsgesetzgebung eine Kompensation mitgedacht werden. Hierfür bietet sich ein Zitiergebot an. Dessen Notwendigkeit wurde bereits im Gesetzgebungsverfahren der Föderalismusreform 2006 diskutiert.378 Insbesondere die Sachverständigen Huber und Pestalozza plädierten in ihren Stellungnahmen in der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags für die Einführung einer Zitierpflicht in Art. 72 Abs. 3 GG.379 Auf Grund zu be374  Mayen (Fn. 256), DRiZ 2007, 51, 54; Ipsen (Fn. 359), NJW 2006, 2801, 2804; Häde (Fn. 240), JZ 2006, 930, 933. 375  Stock (Fn. 240), ZG 2006, 226, 234. 376  Louis (Fn. 268), ZUR 2006, 340, 343. 377  Siehe oben B. II. 2 und B. II. 3. 378  Voigt, Das Raumordnungsgesetz 2009 und das Bayrische Landesplanungsgesetz 2012, in: Manssen (Hrsg.), Regensburger Beiträge zum Staats- und Verwaltungsrecht, 2013, S. 8. Siehe dazu oben Kapitel 1. B. VII. 379  Huber, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in der Anlage 2 zum

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

fürchtender Rechtsunübersichtlichkeit sei eine Abweichung im entsprechenden Gesetz kenntlich zu machen.380 Huber sprach sich zusätzlich für eine explizite wechselseitige Notifizierungspflicht gegenüber dem Bund oder dem betroffenen Land aus, „damit klar ist, von welchen Vorschriften des Bundes- bzw. des Landesrechts abgewichen wird“.381 Auch wenn diese Anmerkungen den Eindruck erwecken, die Abweichungsgesetzgebung mit ihren spezifischen Besonderheiten sei eine Erfindung der Föderalismuskommission aus dem Jahr 2006, stammen die entscheidenden Impulse für den „neuen“ Kompetenztyp wie auch für ein entsprechendes Zitiergebot nicht aus dieser Zeit.382 Vielmehr gilt als eigentlicher Vater der Abweichungsgesetzgebung im heutigen Sinne der frühere Hamburgische Senator für Bundesangelegenheiten Ernst Heinsen, der einen entsprechenden Vorschlag in seinem Sondervotum zum Schlussbericht der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ im Jahr 1976 unterbreitete.383 Nach einem neuen Art. 72a GG (E) sollten die Länder im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Möglichkeit erhalten, eine bundesgesetzliche Regelung durch Landesrecht zu ersetzen und zu ergänzen.384 Dabei sollten die Länder nach Art. 72a Abs. 2 S. 2 GG (E) die Bundesvorschriften, von denen abgewichen wird oder die ergänzt werden, ausdrücklich nennen.385 Außerdem sollte das Landesrecht nach Art. 72a Abs. 2 S. 1 GG (E) dem Bundestag und der Bundesregierung zugeleitet werden.386 Diesen „alten“ Vorschlag des ehemaligen Stenografischen Protokoll der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 15. / 16.05.2006, S. 219, 231; ders., Stenografischer Bericht der 12.  Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006,(http: /  / starweb.hessen.de /  cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)) S. 40; Pestalozza, ebd., S. 51, vgl. v. Stackelberg (Fn. 3) S. 39, Fn. 232. Siehe oben Kapitel 1. B. VII. 380  Pestalozza (Fn. 379), S. 51; Huber (Fn. 379), S. 231: „(Konflikte und Rechtsunsicherheit) könnten deutlich entschärft werden, wenn das Grundgesetz in Art. 72 Abs. 3 (Entwurf) eine Verpflichtung statuieren würde, eine Abweichung im Gesetz kenntlich zu machen und sie dem Bund bzw. dem betroffenen Land zu notifizieren. Sie sollte im BGBl. veröffentlicht werden und der Bund dazu verpflichtet werden, ein Register zu führen, aus dem sich sämtliche Abweichungen ergeben. Im Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 GG sowie in der vor einigen Jahren etablierten Praxis, in den Gesetzen die Richtlinien und EG-Verordnungen anzugeben, deren Umsetzung ein Gesetz dienen soll, fände diese Verpflichtung in gewisser Hinsicht auch Vorläufer.“ Vgl. auch v. Stackelberg (Fn. 3), S. 39, Fn. 233. Siehe oben Kapitel 1. B. VII. 381  Huber (Fn. 379), Anlage 2 zum Stenografischen Protokoll, S. 219, 231; ders, (Fn. 379), Stenografischer Bericht, S. 40. 382  Siehe oben Kapitel 1. B. I. 383  Siehe oben Kapitel 1. B. I. 4. 384  Siehe oben Kapitel 1. B. I. 4. 385  Siehe oben Kapitel 1. B. I. 4. 386  Siehe oben Kapitel 1. B. I. 4.



C. Folgerung für die Abweichungsgesetzgebung211

Senators Heinsen nahmen die Sachverständigen in der Föderalismuskommission 2006 zwar auf.387 Letztendlich konnte sich aber weder 1976 noch 2006 eine explizite Zitier- und Notifizierungspflicht der Länder trotz zum Teil leidenschaftlicher Debatten durchsetzen. Beide Gebote sind nicht expressis verbis Teil des Verfassungstextes geworden.388 Gleichwohl plädieren nicht wenige für ein ungeschriebenes Zitiergebot im Bereich der Abweichungsgesetzgebung, wobei die Verbindlichkeit eines solchen Gebots ganz unterschiedlich gesehen wird. Degenhart hält es für ein „verfassungsrecht­ liches Desiderat, wenn nicht (für) ein zwingendes Verfassungsgebot“.389 „Die ausdrückliche Benennung der Abweichungsnorm (könne) „wesentlich beitragen zu rechtsstaatlich gebotener Rechtsklarheit und zu demokratischer Transparenz.“390 „Angesichts der unterschiedlichen und komplexen Abweichungskonstellationen (sei) eine Bezeichnung der Abweichungsnorm rechtsstaatlich geboten.“391 Andere halten es für zu weitgehend, eine Pflicht aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten.392 „Der Gesetzgeber (dürfe) in seiner Gestaltungsbefugnis nicht vorschnell beschränkt werden.“393 Die Länder sollten lediglich „im Interesse der Vollzugsfähigkeit im Gesetzestext deutlich auf die Abweichung hinweisen“.394 Wenn überhaupt, handele es sich 387  Scharpf, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform am 15. / 16.05.2006, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung, S. 57 (http: /  / starweb.hessen.de / cache / bund / foederalismus_ 01_Protokoll_Allgemeiner_Teil.pdf (08.05.13)) und Münch, ebd., S. 302. Siehe oben Kapitel 1. B. 388  Siehe oben Kapitel 1. B. VII. 389  Degenhart, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Abweichungsgesetzgebung, DÖV 2010, 422, 424; ebenso Franzius (Fn. 257), NVwZ 2008, 492, 495; Gerstenberg (Fn. 252), S. 260; Meyer, Die Föderalismusreform 2006, S. 172; v. Stackelberg (Fn. 3), S. 38 ff.; Schulze-Fielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, 249, 255; Fischer-Hüftle (Fn. 252), NuR 2007, 78, 80; Mammen, Der neue Typus der konkurrierenden Gesetzgebung mit Abweichungsrecht, DÖV 2007, 376, 378; Köck / Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz – Sind Eingriffsregelung und Landschaftsplanung allgemeine Grundsätze des Naturschutzes?, NVwZ 2008, 353, 357; Callies (Fn. 335), S. 28. 390  Degenhart (Fn. 389), DÖV 2010, 422, 424. 391  Degenhart (Fn. 389), DÖV 2010, 422, 427. 392  Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31, 34; Classen (Fn. 1), S. 13; Schulze Harling (Fn. 250), S. 119 spricht sich auf Grund eines fehlenden Nutzens gegen eine Zitierpflicht aus. Zu ihren Hauptargumenten siehe unten D. V. 393  Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31, 34. 394  Müggenborg / Hentschel, Neues Wasser- und Naturschutzrecht, NJW 2010, 961, 967; ebenso Reinhardt (Fn. 262), AöR 135 (2010), S. 459, 484; Louis (Fn. 268), ZUR 2006, 340, 343; Haug, Die Abweichungsgesetzgebung – ein Kuckucksei der Föderalismusreform?, DÖV 2008, 851, 854.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

bei dem Zitiergebot um einen „verfassungspolitischen Wunsch (nach) bür­ gerfreundliche(r) Gesetzgebungskultur“.395

I. Zitiergebot für Landes- und Bundesrecht Wie die vorangehenden Zitate verdeutlichen, werden Zitiergebote für unterschiedliche Akteure und zum Teil unterschiedliche Zwecke vorgeschlagen.396 Autoren, die im Abweichungsrecht in erster Linie eine Kompetenz der Länder sehen, sind der Auffassung, dass bei landesrechtlichen Abweichungen aus Gründen der Rechtssicherheit die Bundesregelung zu nennen sei.397 Wohingegen andere Autoren, die beim Abweichungsrecht eher auf den eventuellen Wechsel der bundesstaatlichen Akteure abstellen, verlangen, dass sowohl das abweichende Landes- wie auch das überregelnde Bundesrecht die Normen benennen, von denen abgewichen wird.398 Eine dritte Möglichkeit der Zitierung besteht darin, dass der Bund in seinen Gesetzen expressis verbis die Normen benennt, die nach seiner Meinung – den Klammerzusätzen in Art. 72 Abs. 3 GG entsprechend – abweichungsfest sind.399 Diese drei Arten der Zitierung werden im Anschluss auf ihre Validität hin untersucht.

395  Hager

(Fn. 255), BauR 2012, 31, 34. oben Kapitel 1. B. VII. 397  Meyer (Fn. 389), S. 172; Fischer-Hüftle (Fn.  252), NuR 2007, 78, 79  f.; Franzius (Fn. 257), NVwZ 2008, 492, 495; Becker (Fn. 282), DVBl 2010, 754, 756; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG-Kommentar, 14. Auflage, 2016, Art. 72 Rn. 30; Windhorst, in: Studienkommentar GG, 2. Auflage, 2015, Art. 72 Rn. 30; Stettner, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Supplementum 2007, Bd. II, 2. Auflage, 2007, Art. 72 Rn. 51; Gerstenberg (Fn. 252), S. 260; Foerst, Die Abweichungskompetenz der Länder gemäß Art. 72 III GG im Bereich des Wasserhaushaltsrechts, 2012, S. 84. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 38 stellt bei seiner Begründung eines Zitiergebots für das Landesrecht insbesondere auf ein Wortlautargument ab: Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG spreche von „hiervon“ abweichenden Regelungen, somit müssten „Bezüge zum Bundesrecht hergestellt und Abweichungen hiervon verdeutlicht werden“. Aus der Formulierung des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG allerdings lediglich auf eine Zitierpflicht der Länder zu schließen, greift zu kurz, bedenkt man nur, dass sich das Abweichungsrecht des Bundes aus Art. 72 Abs. 1 GG ergibt und somit in Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG zu einem Zitiergebot des Bundes auch nichts stehen kann, siehe unten C. I. 1. 398  Pestalozza (Fn. 379), S. 51; Huber (Fn. 379), S. 231; Degenhart (Fn. 389), DÖV 2010, 422, 424; Für den Fall des formellen Abweichungsrechts in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG bejahend Trute, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. III, 6. Auflage, 2010, Art. 84 Rn. 31 und Hermes, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. III, 2. Auflage, 2008, Art. 84 Rn. 59. 399  Hierfür plädiert Meyer (Fn. 389), S. 172. 396  Siehe



C. Folgerung für die Abweichungsgesetzgebung213

1. Offenlegung der gezielten Betätigung des Abweichungsrechts Macht der Bund von seiner originären konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 72 Abs. 1 GG nicht erschöpfend Gebrauch, können die Länder den verbleibenden Teil – auch auf dem Feld der abweichungsfesten Kerne – umfänglich regeln und machen dabei von ihrer Kompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch.400 Füllt der Bund hingegen die Materien auch auf dem Gebiet der abweichungsfesten Kerne umfassend aus, bleibt den Ländern die Abweichungsbefugnis aus Art. 72 Abs. 3 GG, dann aber mit der Einschränkung, dass sie die abweichungsfesten Kerne nicht regeln dürfen.401 Das selbstständige Regelungsrecht der Länder nach Art. 72 Abs. 1 GG und ihr Abweichungsrecht aus Art.  72 Abs.  3 GG sind folglich von „unterschiedliche(r) Qualität“.402 Das erste ist in seiner Ausübung unbeschränkt, zumindest solange der Bund von seiner Kompetenz nicht erschöpfend Gebrauch macht, das zweite ist hingegen von vornherein beschränkt.403 Dieser kompetentielle Unterschied wäre durch eine landesrechtliche Zitierung der bundesgesetzlichen Vorgängernorm verdeutlicht, denn sie würde klarstellen, ob das Land seine primäre konkurrierende Gesetzgebungskompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG oder sein Abweichungsrecht aus Art. 72 Abs. 3 GG ausüben will. Eine Zitierung hätte in diesem Zusammenhang also den Zweck, die gezielte Betätigung des Abweichungsrechts offenzulegen.404 Wird der Bund im Anschluss an die Länder auf dem Feld der Abweichungsmaterien tätig, macht er hinsichtlich all seiner Regelungen von der Befugnis in Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch, unabhängig davon ob er „überregelnd“ oder ohne Verdrängung des jeweiligen Landesrechts tätig wird.405 Aus diesem Grund könnte man meinen, dass ein Zitat des Bundes zur mittelbaren Klarstellung, von welcher Kompetenz er Gebrauch machen will, unnötig sei.406 Ist ein Land zuvor allerdings abgewichen, möglicherweise auch nur punktuell, macht der Bund bei einer Folgeregelung zwar formal von Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch, inhaltlich liegt aber hinsichtlich des überregelnden Teils – das ist der Teil, der sich vom Hauptpfad der Vorgängernorm auf Tatbestands- und / oder Rechtsfolgenseite unterscheidet407 – eine Abwei400  Meyer

(Fn. 389), S. 172. (Fn. 389), S. 172. 402  Meyer (Fn. 389), S. 172. 403  Meyer (Fn. 389), S. 172. 404  Zu diesem Zweck siehe Fischer-Hüftle (Fn. 252), NuR 2007, 78, 80. 405  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 406  So Pieroth (Fn. 397), Art. 72 Rn. 30 und Windhorst (Fn. 397), Art. 72 Rn. 30. Allerdings impliziert nicht die Gesetzgebungskompetenz, sondern der Anwendungsvorrang des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG, der für Bundes- und Landesrecht gleichermaßen gilt, die Zitierpflicht. 401  Meyer

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

chung vor.408 Für diesen vom Landesrecht abweichenden Teil gilt die lexposterior-Regelung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG. Eine Zitierung des Bundes auf diesem Feld würde also klarstellen, welche landesrechtliche Norm auf Grund der bundesgesetzlichen Überregelung ihren Anwendungsvorrang verloren hat, bei einem späteren Wegfall des Bundesrechts eventuell aber wieder aufleben kann. Zweck einer Zitierung des Bundes ist in diesem Zusammenhang folglich die Verdrängungswirkung des lex-posterior-Grundsatzes nach außen erkennbar zu machen – die Reversibilität des Rechts inbegriffen.409 Im Übrigen gilt für die Zitierung der Länder nichts anderes. Auch ihr Zitat verdeutlicht, welche Bundesregelung ihren Anwendungsvorrang verloren hat. Für den Rechtsunterworfenen, „der sich bei einer Abweichung zweier Geltung beanspruchender Rechtsquellen mit gegenläufigen Wertungen, Befehlen und Erlaubnissen gegenübersieht“,410 hat eine Zitierung des Vorgängerrechts den großen Vorteil, dass er erkennen kann, welche Norm, die ihrem Anschein nach uneingeschränkt Geltung beansprucht, in ihrer Wirkung gehemmt ist. 2. „Einfärbung“ des Art. 72 Abs. 1 GG mit den Vorgaben des Art. 72 Abs. 3 GG Auch wenn der Bund auf dem Feld der Abweichungsmaterien also immer von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 72 Abs. 1 GG Gebrauch macht und für diese originäre Kompetenz anerkanntermaßen ­keine Zitierpflicht besteht,411 muss bei Ausübung der Befugnis durch den Bund unterschieden werden zwischen seiner herkömmlichen Gesetzgebungskompetenz und der Ausübung seines „Rückhol-“ bzw. Abweichungsrechts. Letzteres ergibt sich zwar auch aus Art. 72 Abs. 1 GG, dennoch erfährt Art. 72 Abs. 1 GG für diesen Fall eine „Einfärbung“ mit den Vorgaben des Art. 72 Abs. 3 GG. Dies ist schon an der Fristenregelung in Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG und am lex-posterior-Grundsatz des Abs. 3 S. 3 erkennbar. Beide Regelungen treffen Vorgaben für „überregelndes“ Bundesrecht, obwohl sie in einem anderen Absatz stehen und obwohl es sich kompetentiell um die Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes aus Art. 72 407  Siehe

oben Kapitel 2. B. I. 2. diesem Grund wird in dieser Arbeit nicht nur vom Abweichungsrecht der Länder, sondern auch dem des Bundes gesprochen. Gemeint ist damit die Kompetenz des Bundes, abweichendes Landesrecht zu überregeln. Andernorts wird beispielsweise der Begriff des „Rückholrechts“ des Bundes verwendet. Vgl. Stock (Fn. 240), ZG 2006, 226, 235. 409  Zu diesem Zweck siehe Fischer-Hüftle (Fn. 252), NuR 2007, 78, 80. 410  Meyer (Fn. 389), S. 172. 411  Pieroth (Fn. 397), Art. 72 Rn. 30 und Windhorst (Fn. 397), Art. 72 Rn. 30. 408  Aus



C. Folgerung für die Abweichungsgesetzgebung215

Abs. 1 GG handelt.412 Dann kann aber auch für ein ungeschriebenes Zitiergebot in Art. 72 Abs. 3 GG nichts anderes gelten. Es muss gleichermaßen für die Länder und den Bund bestehen. Denn die Zitierpflicht betrifft ausschließlich den Fall einer Abweichungskonstellation zwischen den bundesstaatlichen Akteuren und versucht den besonderen Herausforderungen, die sich daraus für den Rechtsunterworfenen ergeben, gerecht zu werden. Ist auf dem Feld der Abweichungsmaterien somit das herkömmliche Prinzip der Hierarchie dem der Gleichrangigkeit gewichen, soll zwischen Bund und Ländern also eine „echte Konkurrenz“ bestehen, dann müssen Bund und Länder auch gleichermaßen zitieren.413 3. Entwirrung sich überlappender Rechtsschichten Auf dem Feld des Abweichungsrechts droht im Laufe der Zeit, wie bereits beschrieben, ein „Rechtsdickicht“ von „unregelmäßig übereinander liegenden Rechtsschichten von Bundes- und Landesrecht“.414 Für den Rechtsunterworfenen bedeutet dies, dass er zur Ermittlung seiner Rechtslage diese Schichten auseinander dividieren muss.415 Dies fällt ihm umso leichter, je eindeutiger er die Rechtsschichten auseinander halten kann. Letzteres wird am ehesten gelingen, wenn die überregelte Norm, sei es nun Bundesoder Landesrecht, benannt wird, denn dies hat zur Folge, dass das zeitliche und inhaltliche Verhältnis der Rechtsschichten zueinander leichter bestimmt werden kann. Bildhaft gesprochen erlangen die Grenzen der Rechtsschichten bei einer Zitierung sichtbare Ränder bzw. stärkere Konturen. Zeitlich gesehen würde allein die Tatsache, dass das Vorgängerrecht überhaupt benannt wird, die Ermittlung seines Inkrafttretens bedeutend vereinfachen. Sodann könnte der Abgleich des Inkrafttretens des Vorgängerrechts mit dem des subsequenten Rechts erfolgen, wobei die lex-posterior-Regelung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG das Rangverhältnis beider festlegt. Im Falle einer nur punktuellen Überregelung des Vorgängerrechts hätte eine Zitierung ebenfalls aus zeitlicher Sicht den Vorteil, dass der Abgleich der Vorgängermit der subsequenten Norm insoweit leichter fallen würde, als zumindest nachvollziehbarer wäre, welcher Teil der darauffolgenden Norm ab welchem Zeitpunkt Anwendungsvorrang nach Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG genießt. Eine Zitierung wäre aber nicht nur für den zeitlichen Abgleich der Regelungen 412  Siehe

oben Kapitel 2. B. II. 2. Foerst (Fn. 397), S. 89, der meint, es sei „dem Bund nicht zuzumuten, vor jeder Novellierung seines Gesetzes bis zu 16 Landesgesetze nach möglichen Verdrängungseffekten zu durchforsten.“ 414  Siehe oben B. II. 415  Siehe oben B. II. 413  A. A.

216

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

von Vorteil. Auch die Rückverfolgung der inhaltlichen Bezugnahmen der Regelungen zueinander – deren jeweilige materielle Reichweite inbegriffen – würde leichter fallen, wenn immer genau benannt wäre, von welcher Regelung abgewichen werden sollte. Hinzukommt, dass die inhaltliche Reichweite z. B. des überregelnden Bundesrechts von Land zu Land verschieden sein kann, je nachdem wie die Länder zuvor von ihrem Abweichungsrecht in Art. 72 Abs. 3 GG Gebrauch gemacht haben.416 Die Bestimmung der ggf. unterschiedlichen inhaltlichen Reichweite des aktuellen Bundesrechts im jeweiligen Land hätte mehr Aussicht auf Erfolg, wenn die Bundesnorm die jeweils überregelte Landesnorm explizit benennen würde. 4. Zitierung abweichungsfester Kerne im Bundesrecht? Neben der Zitierung der Vorgängernorm in abweichendem Landes- oder Bundesrecht wird mitunter auch eine Zitierung abweichungsfester Kerne in Bundesgesetzen gefordert.417 In diesem Bereich komme es auf Grund der „vagen Beschreibung der abweichungsfesten Materien in der Verfassung wie bei den allgemeinen Grundsätzen des Naturschutzes (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG) oder bei den stoff- und anlagenbezogenen Regelungen (Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 5 GG) zu Unsicherheiten (…), weil auch bei ihnen der Bund weder zu einer Vollregelung verpflichtet ist noch das Grundgesetz es ihm untersagt, diese Bereiche landesrechtlichen Regelungen zu öffnen.“418 Diese Forderung nach der Zitierung abweichungsfester Kerne hat aber weniger mit der oben beschriebenen Gemengelage also mit der gegenseitigen Ablösung der bundesstaatlichen Akteure zu tun, als vielmehr mit der mit jedem unbestimmten Rechtsbegriff einhergehenden Rechtsunsicherheit über dessen inhaltliche Reichweite. Das ergibt sich schon daraus, dass als Ausgangspunkt dieser Problematik die Vagheit der im Grundgesetz verwandten Begrifflichkeiten ausgemacht wird. Wie bei jedem unbestimmten Rechtsbegriff werden aber auch bei diesen die Konturen im Laufe der Zeit durch die Befassung von Rechtsprechung und Literatur mit ihnen deutlicher werden.419 Zur Bestimmung ihrer Reichweite bedarf es daher keines Zitiergebots.

II. Funktionen des Zitiergebots Unter Berücksichtigung der voranstehenden Erwägungen erfolgt im Anschluss der Vorschlag einer Funktionslehre für das ungeschriebene Zitierge416  Hager

(Fn. 255), BauR 2012, 31, 34. (Fn. 389), S. 172. 418  Meyer (Fn. 389), S. 172. 419  Im Ergebnis ebenso Foerst (Fn. 397), S. 87. 417  Meyer



C. Folgerung für die Abweichungsgesetzgebung217

bot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung. Diese Funktionslehre orientiert sich an jener der geschriebenen Zitiergebote des Grundgesetzes in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG.420 Wie bei den geschriebenen sind auch beim ungeschriebenen Zitiergebot zwei Perspektiven zu unterscheiden: die des Gesetzgebers bzw. des Gesetzgebungsverfahrens421 und die des Rechtsanwenders bzw. Rechtsunterworfenen. Über den Vergleich hinaus verfolgt das ungeschriebene Zitiergebot ganz eigene Funktionen in Anbetracht der besonderen Konstellation der Abweichungsgesetzgebung. 1. Besinnungs- und Offenlegungsfunktion Das ungeschriebene Zitiergebot richtet sich zunächst an den jeweils abweichenden Gesetzgeber. Dies kann sowohl der Landes- wie auch der Bundesgesetzgeber sein. Durch den „Zwang zum Bekenntnis“422, der mit einer Zitierpflicht einhergeht, wird er veranlasst, intensiv zu überlegen, ob und von welchen Normen er abweichen will.423 Darüber hinaus wird er angehalten, den abweichenden Charakter einer subsequenten Regelung offenzulegen, damit deutlich wird, dass die jeweilige Norm als Betätigung des Abweichungsrechts gemeint ist.424 Auf diese Weise wird ihm und nicht dem Rechtsunterworfenen die Verantwortung für die Feststellung einer Abweichung zugeschrieben. Über das Gesetzgebungsverfahren hinaus besteht Publizität dahingehend, dass eine Abweichungsbefugnis existiert, diese betätigt werden sollte und ihre Schranken nach der Intention des Gesetzgebers eingehalten worden sind. Im Wesentlichen dient das Zitiergebot damit – in Analogie zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG – der Selbstbesinnung des Gesetzgebers, im Grunde aber der Verantwortungsübernahme der demokratisch legitimierten Legislativgewalt.425 Was das Spezifikum der Abweichungsgesetzgebung, die drohende Gemengelage zwischen Bundes- und Landesrecht, angeht, soll durch ein Zitiergebot vermieden werden, dass dem bisherigen Recht fremde Möglichkeiten der Verwobenheit von Normebenen geschaffen werden, ohne dass sich der jeweilige Gesetzgeber darüber Rechenschaft 420  Siehe

oben Kapitel 3. A. II. und B. II. Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG ist allerdings nicht die Legislative, sondern die Exekutive der Normgeber. 422  Siehe zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung oben unter Kapitel 3. A. II. 4. a). 423  Vgl. zur Kontrollfunktion des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG oben unter Kapitel 3. B. II. 2. 424  Siehe oben unter C. I. 1. 425  Zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 1. 421  Bei

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

ablegt und dies ausdrücklich zu erkennen gibt.426 Die Zitierung dient in diesem Zusammenhang also dazu, einer „Verwischung politischer Verantwortlichkeiten“427 entgegenzuwirken. Während die vorangehenden Erwägungen für die Ebene der Länder und die des Bundes gleichermaßen gelten, ist speziell für die Länder, die im eigentlichen Fokus der Abweichungsgesetzgebung stehen, ein weiterer Aspekt zu beachten. Sie beschreiten mit einer Abweichung immer einen Sonderweg zu einer bundeseinheitlichen Regelung. Wenn das Grundgesetz somit „dem Landesgesetzgeber erlaubt, aus dem bundeseinheitlichen Rechtsrahmen auszuscheren, so setzt dieser bedeutsame Akt eine bewusste politische Entscheidung darüber vo­ raus, ob das Landesrecht sich dem jeweils aktuellen bundesrechtlichen Rahmen einordnen oder abseits stehen will“.428 Der Landesgesetzgeber gibt mit der Zitierung der an sich auf Einheitlichkeit bedachten Bundesnorm folglich zu erkennen, dass er sich der Tatsache eines Sonderwegs mit all seinen Konsequenzen bewusst ist, diesen Weg beschreiten will und dafür die parlamentarische Verantwortung übernimmt. Mithin kann als Adressat einer Zitierpflicht nicht nur der Normuntworfene gesehen werden, sondern bei landesrechtlichen Abweichungen auch der Bund. Ihm verdeutlicht ein Zitat seines Bundesgesetzes, dass sein bundesstaatlicher Gegenspieler kompetenzgemäß eigene Wege geht und aus diesem Grund seine Bundesregelung in dem jeweiligen Land verdrängt wird. In dieser Hinsicht steht das Zitiergebot also im Dienste einer bundesstaatlichen Kompetenzklarheit, denn es ermöglicht eine transparente Kompetenzzuordnung im Sinne einer rechtsstaatlichen „Verantwortungsklarheit“ im föderalen System.429 2. Warnfunktion Das ungeschriebene Zitiergebot hat nicht nur eine den jeweiligen Gesetzgeber betreffende Besinnungs- und Offenlegungsfunktion, sondern soll auch 426  Vgl. zur Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oben unter Kapitel 3. A. II. 1. 427  Dieses Risiko für die Abweichungsgesetzgebung beschwörend Rengeling (Fn. 241), DVBl 2006, 1537, 1549. 428  Kesper, Reform des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland, NdsVBl 2006, 145, 150. 429  BVerfGE 119, 331, 366; Trute (Fn. 231), § 6 Rn. 57; Burgi, Vom „Verbot der Mischverwaltung“ zur Dogmatik der vertikalen Kooperation im Bundesstaat, in: Butzer / Kaltenborn / Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat, Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S. 15, 25; Wahlen, Maritime Sicherheit im Bundesstaat, 2012, S. 143 f.; Germelmann, Kultur und staatliches Handeln, 2013, S. 319. Zur demokratischer Verantwortungsklarheit siehe unten Kapitel 5. A. I. 1.



C. Folgerung für die Abweichungsgesetzgebung219

das Parlament, den einzelnen Abgeordneten und die Öffentlichkeit davor warnen, dass ein landesrechtlicher Sonderweg beschritten werden soll.430 Diese Funktion betrifft in erster Linie die Länder und dabei insbesondere ihren Gesetzgebungsprozess. In diesem Prozess geht die Initiative häufig – sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene – von der Regierung aus. Sie ist in der Regel das Organ, das die Gesetzesentwürfe in das Parlament einbringt.431 Im Plenum wird dann – einer parlamentarischen Demokratie entsprechend – über die Entwürfe gemeinhin ausgiebig diskutiert. Im Rahmen dieses parlamentarischen Diskurses kann angesichts der Fülle und Ausdifferenziertheit moderner Gesetzgebungstätigkeit432 realistischer Weise nicht von jedem Abgeordneten erwartet werden, dass er sich des vielleicht auch nur punktuell abweichenden Charakters eines Gesetzgebungsentwurfs ohne ausdrücklichen Hinweis immer vollends bewusst ist.433 Eine Zitierung hat in diesem Zusammenhang also die Funktion, dass der einzelne Abgeordnete schon bei einer groben Durchsicht des Entwurfs erkennen kann, dass das Land – vielleicht auch nur in einzelnen Punkten – seinen eigenen Weg gehen will. Der Abgeordnete wird mithin in transparenter Weise über diesen Umstand aufgeklärt, ohne dass es für diese Erkenntnis eines inhaltlichen Abgleichs von Bundes- und Landesrecht seinerseits bedarf. Der inhaltliche Abgleich ist ihm trotz Zitierung selbstverständlich nicht verwehrt, im Gegenteil sogar geboten, damit er sich ein eigenes Urteil darüber bilden kann, „ob ein zulässiger Abweichungsfall vorliegt“.434 Weiterhin betrifft die Warnfunktion der Zitierpflicht im Gesetzgebungsprozess nicht nur das Parlament und seine Mitglieder. Auch die nichtparlamentarische Öffentlichkeit wird mit einer Zitierung auf transparente Weise davor gewarnt, dass im eigenen Land vom Bund abweichende Lösungen gesucht werden. Die Einführung einer landesüblichen Praxis der Zitierung der Abweichung in dem jedermann zugänglichen Gesetzesentwurf würde jedenfalls den öffentlichen Vorwurf einer Verschleierung der Abweichung – wie sie für den Eingriff in Grundrechte zu Zeiten der Weimarer Republik noch möglich war435 – verhindern. Denn das Parlament scheut mit einer Zitierung augenscheinlich nicht den öffentlichen Diskurs, vielmehr setzt es sich diesem aus und über430  So auch Meyer (Fn. 389), S. 172. Zu den demokratischen Aspekten des Zitiergebots siehe unten Kapitel 5. 431  Meyer (Fn. 389), S. 172. 432  Vgl. zur Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oben unter Kapitel 3. A. II. 2. 433  Vgl. zur Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oben unter Kapitel 3. A. II. 1. 434  Meyer (Fn. 389), S. 172. 435  Vgl. zum geschichtlichen Hintergrund des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oben unter Kapitel 3. A. I.

220

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

nimmt damit Verantwortung gegenüber dem von ihm repräsentierten Wahlvolk. Abschließend lässt sich sagen, dass insofern als die Warnfunktion des Zitiergebots den Entstehungsprozess einer Norm betrifft, durchaus von einer „Vorwirkung des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Normenklarheit“436 gesprochen werden kann. 3. Informations- und Rechtsschutzfunktion Das Zitiergebot hat eine über den Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens hinausreichende subjektiv schützende Wirkung für den Rechtsbetroffenen.437 Denn durch die Zitierung gibt der Gesetzgeber zu erkennen, dass nach seinem Willen die von ihm ins Leben gerufene Regelung abweichend ist.438 Dies erleichtert die Bestimmung der aktuellen Rechtslage ungemein, wird doch damit die vom Anwendungsvorrang des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG verdrängte Norm offengelegt.439 Davon profitiert nicht nur die Rechtsanwendung, insofern als verdrängtes und nicht verdrängtes Recht auseinander gehalten werden können, sondern auch der Rechtsbetroffene wird auf diese Weise darüber informiert, welche von zwei sich widersprechenden Normen auf ihn Anwendung findet. Über diese Informationsfunktion hinaus hat das Zitiergebot eine damit einhergehende Rechtsschutzfunktion, insofern als dem Rechtsunterworfenen die mit einer abweichenden Regelung intendierten normativen Ableitungszusammenhänge und Wechselbezüglichkeiten offengelegt werden.440 Zum einen wird ihm damit aufgezeigt, dass der Gesetzgeber überhaupt von seinem Abweichungsrecht Gebrauch machen wollte. Zum anderen wird ihm die Prüfung erleichtert, ob sich der Gesetzgeber an den zitierten Rahmen seiner Befugnis gehalten hat, ob also ein zulässiger Abweichungsfall vorliegt.441 Dies hat entscheidenden Einfluss auf die Nachprüfbar- und Angreifbarkeit der einschlägigen Normen und damit 436  So und zu den allgemeinen Anforderungen an Gesetzesvorlagen Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG-Kommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 76 Rn. 4. An der Warnfunk­ tion im Allgemeinen wie auch hier im Besonderen wird deutlich, dass demokratische und rechtsstaatliche Aspekte der Zitierpflicht für die Abweichungsgesetzgebung nicht strikt voneinander trennbar sind. Vielmehr gehen sie an bestimmten Stellen in einander über und bilden eine Symbiose. Zu den demokratischen Aspekten siehe unten Kapitel 5. 437  Vgl. zur Klarstellungs-, Hinweis- und Informationsfunktion des Art.  19 Abs. 1 S. 2 GG oben Kapitel 3. A. II. 2. Das BVerfG verneint allerdings einen subjektiven Einschlag für Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, siehe oben Kapitel 3. A. II. 2. 438  Ähnlich bei Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG siehe oben Kapitel 3. A. II. 2. 439  Zu diesem Zweck siehe Fischer-Hüftle (Fn. 252), NuR 2007, 78, 80. 440  Vgl. zur Rechtsschutzfunktion des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG oben Kapitel 3. B. II. 3. 441  Zu diesem Zweck siehe Fischer-Hüftle (Fn. 252), NuR 2007, 78, 80.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot221

auf die Rechtsschutzmöglichkeiten des Rechtsunterworfenen, bedenkt man, dass sich der Betroffene generell leichter und besser gegen eine Norm wehren kann, wenn er ihren Ursprung und ihre Eigenschaften kennt.442 Das ungeschriebene Zitiergebot steht folglich nicht nur in enger Verbundenheit, sondern auch im Dienste der Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG.443 Denn letztere kann ihre Wirkung nur dann vollständig entfalten, wenn der Betroffene in die Lage versetzt wird, seine Rechtsansprüche sachgerecht zu verfolgen. Dies wird ihm nur gelingen, wenn er einschätzen kann, ob und mit welcher Argumentation ein Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat.444 Mit dem Zitiergebot wird folglich auch eine nach außen zu kehrende Begründungs- und Rechtfertigungslast auferlegt, die verlangt, dass alle relevanten Faktoren einer Regelung, vor allem ihrer Existenz transparent und nachvollziehbar dargelegt werden.445

D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung Gleichwohl gibt es kritische Stimmen, die ein ungeschriebenes Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung für bedenklich halten.446 Die vorgetragenen Gründe könnten unterschiedlicher kaum sein, sie reichen von rechtspraktischen Erwägungen wie beispielsweise einer Dokumentation des Gesetzgebungsverlaufs bei juris als Kompensation für die unübersichtliche Gemengelage bis hin zu Fragen der Gewaltenteilung.

I. Zitiergebot nur für bereits bestehende Gemengelagen? Ein allgemein gültiges Zitiergebot wird zum einen mit der Begründung abgelehnt, dies könne „allenfalls für solche Situationen gelten, in denen (bereits) besondere Probleme bestehen, etwa, weil es eine schwer zu überschauende Gemengelage aus Bundes- und Landesrecht gibt, weil Sanktionen drohen o. ä., vor allem wenn eine landesrechtliche Norm ein bestimmtes Prob442  Vgl. zur Rechtsschutzfunktion des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG B. II. 3. 443  Vgl. zur Rechtsschutzfunktion des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG B. II. 3. 444  Vgl. zur Rechtsschutzfunktion des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG B. II. 3. 445  Vgl. zur Rechtsschutzfunktion des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG B. II. 3. 446  Schulze Harling (Fn. 250), S. 119 ff.; Hager (Fn. 255), BauR diesem Sinne auch Classen (Fn. 1), S. 13.

oben Kapitel 3. oben Kapitel 3. oben Kapitel 3. oben Kapitel 3. 2012, 31, 34; in

222

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

lem nur teilweise und mit vom Bundesrecht abweichender Gesetzessystematik regelt mit der Folge, dass es für einen Bürger nur schwer zu erkennen ist, was gilt“.447 Diese Betrachtung lehnt ein Zitiergebot nicht von vornherein ab, will es aber nur zur Anwendung kommen lassen, wenn konkrete Gefahren bereits eingetreten sind, etwa wenn eine unübersichtliche Gemengelage schon entstanden ist. Eine solche Sichtweise ist mit dem Wesen von Rechtsnormen als abstrakt-generelle Regelungen nicht vereinbar. Auch die Verfassung, deren Teil ein ungeschriebenes Zitiergebot ist, gehört als oberste Rechtsquelle auf nationaler Ebene zu den Rechtsnormen.448 Rechtsnormen regeln nicht den Einzelfall, also etwa die eingetretene Situation einer nach bestimmten Maßstäben schwer überschaubaren Gemengelage von Bundes- und Landesrecht, sondern treffen allgemeinverbindlich vorab für eine unbestimmte Zahl von Fällen Regelungen.449 Bei Schaffung einer Norm muss der Gesetzgeber mithin die Zukunft antizipieren.450 Wie bereits ausgeführt, ist bei der Abweichungsgesetzgebung eine Gemengelage jedenfalls normativ angelegt.451 Denn das kompetentielle Gefüge der Abweichungsgesetzgebung ist von vornherein auf die Möglichkeit abweichenden Landes- und Bundesrechts ausgerichtet.452 Für den Normunterworfenen heißt dies, dass er auf den Bestand des Bundesrechts z. B. nicht blind vertrauen kann und darf, sondern auf dem Feld der Abweichungsmaterien immer damit rechnen muss, dass das Bundesrecht durch landesrechtliche Regelungen verdrängt worden ist. Allein dieser Umstand verursacht bei ihm Rechtsunsicherheit,453 denn er muss sich immer darauf einstellen, dass auf Ebene des Bundes und der Länder eventuell Vorschriften nebeneinander existieren, ohne dass er ihnen bei Fehlen einer Zitierung ansehen kann, welche Norm Anwendungsvorrang genießt.454 Überdies können bereits bei der ersten Abweichung durch die Länder Rechtsunsicherheiten dahingehend eintreten, welches der gültige Normbefehl ist. Außerdem soll die Zitierpflicht den Normunterworfenen in die Lage versetzen, das eventuell im Laufe der Zeit entstandene Normgeflecht bis zu seinem zeitlichen und normativen Ursprung hin zurückzuverfolgen. Ein späteres Eingreifen der Zitierpflicht erscheint somit wenig sinnvoll. Im Übrigen wirkt der Vorschlag einer Reaktion auf eine eingetretene unübersichtliche Gemengelage nicht nur wenig sinnvoll, sondern auch impraktikabel: Ab wann soll denn 447  Classen

(Fn. 1), S. 14. Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage, 2011, § 4 Rn. 7. 449  Maurer (Fn. 448), § 9 Rn. 14. 450  In diesem Sinne Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 465. 451  Siehe oben B. I. 452  Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. Siehe oben unter B. II. 453  Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147. 454  Papier (Fn. 258), NJW 2007, 2145, 2147; v. Stackelberg (Fn. 3), S. 140. 448  Maurer,



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot223

die Gemengelage derart unübersichtlich sein, dass es einer Zitierung bedarf? Mit anderen Worten: Welches Ausmaß muss die Unübersichtlichkeit annehmen und vor allem wie soll der Mechanismus, der das Zitiergebot auslöst, rechtlich konstruiert werden? Für das beschriebene Szenario einer unübersichtlichen Gemengelage muss folglich bereits vorausschauend eine Kompensation in Form eines Zitiergebots mitgedacht werden.

II. Zitiergebot nur für bestimmte Kompetenztitel? Weiterhin wird vorgeschlagen, ein ungeschriebenes Zitiergebot – wenn überhaupt – nur für die Abweichungskompetenz aus Art. 72 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GG also für „Naturschutz und Landschaftspflege“ zur Anwendung kommen zu lassen. Denn auf Grund der vagen Formulierung des abweichungsfesten Kerns als „allgemeine Grundsätze des Naturschutzes“ werfe „die Nutzung des Abweichungsrechts (nur) in diesem Bereich (…) besondere Rechtsfragen auf“.455 Der Feststellung, dass das Naturschutzrecht mit seinem abweichungsfesten Kern im Vergleich zu den anderen Kompetenztiteln der Abweichungskompetenz mehr Fragen aufwirft,456 kann durchaus beigepflichtet werden. Davon legen schon die relativ vielen, zu diesem Thema veröffentlichten Abhandlungen Zeugnis ab.457 Allerdings geht es bei der viel diskutierten Frage zu den „allgemeinen Grundsätzen des Naturschutzes“ im Grunde darum, die Grenzen des an sich dem Bund458 zugewiesenen abweichungsfesten Kerns im Zuge einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung fest zu umreißen. Materien, die eigentlich einer bundeseinheitlichen Regelung bedürfen, damit im gesamten Bundesgebiet etwa dasselbe Niveau an Naturschutz herrscht,459 sollen dem Bund klarer zugeordnet 455  Classen

(Fn. 1), S. 12. auch Degenhart (Fn. 389), DÖV 2010, 422, 430. 457  U. a. Gellermann, Naturschutzrecht nach der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes, NVwZ 2010, 73, 75; Schütte / Kattau (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 354; Müggenborg / Hentschel (Fn. 394), NJW 2010, 961, 964; Krings, Neues Naturschutzrecht in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, NordÖR 2010, 181 ff.; Köck / Wolf (Fn. 389), NVwZ 2008, 353 ff.; Wolf, Das neue Sächsische Naturschutzrecht, SächsVBl 2010, 160 ff.; Cancik (Fn. 281), NdsVBl 2011, 177 ff.; v. Stackelberg (Fn. 3); Becker (Fn. 282), DVBl 2010, 754 ff.; Louis (Fn. 268), ZUR 2006, 340 ff.; Baum, Das Hessische Ausführungsgesetz zum Bundesnaturschutzgesetz, LKRZ 2011, 401  ff.; Franzius (Fn. 278), ZUR 2010, 346 ff; Degenhart (Fn. 389), DÖV 2010, 422, 430. 458  Wenn der Bund von seiner originären, konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis in Art. 72 Abs. 1 GG keinen erschöpfenden Gebrauch macht, können die Länder auf Grund ihrer Kompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG auch auf die abweichungsfesten Kerne zugreifen. Siehe oben C. I. 1. 459  Degenhart (Fn. 389), DÖV 2010, 422, 430. 456  So

224

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

werden können. Es handelt sich bei dieser Problematik also wiederum um die Ermittlung der inhaltlichen Reichweite eines unbestimmten Rechtsbegriffs.460 Hauptaufgabe des in dieser Arbeit vorgeschlagenen Zitiergebots ist es aber gerade nicht, ein Instrument bereitzustellen, mit dem der Inhalt unbestimmter Rechtsbegriffe klarer gefasst werden kann,461 sondern es geht darum, ein Mittel der Kompensation anzubieten, mit dem sich die aus der eventuellen Gemengelage von Bundes- und Landesrecht resultierenden Unsicherheiten reduzieren lassen. Erklärtes Ziel der Abweichungsbefugnis ist es, den Ländern ein weitreichendes Zugriffsrecht auf die in Art. 72 Abs. 3 GG genannten Materien zuzuweisen,462 daher können sich bei allen dort aufgeführten Materien im Laufe der Zeit unübersichtliche Gemengelagen einstellen, unabhängig davon, ob abweichungsfeste Kerne überhaupt existieren463 oder wie stark sie ggf. bereits konturiert sind. Somit erscheint der Vorschlag eines Zitiergebots nur für bestimmte Kompetenztitel des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG bei Licht besehen wenig tauglich.

III. Transparenz durch Notifikation? Als milderes Mittel gegenüber einer Zitierpflicht wird eine Notifikation des jeweils abweichenden Rechts gegenüber dem Bund bzw. gegenüber den Ländern ins Feld geführt.464 Nach dem Vorbild des Art. 193 S. 3 AEUV müssten demzufolge dem Bund und im umgekehrten Fall den Ländern der „Erlass und die Aufhebung“ abweichenden Rechts angezeigt werden.465 460  Siehe

oben C. I. 4. handelt es sich dabei um einen willkommenen Nebeneffekt. Siehe oben B. II. 2. 462  Siehe oben Kapitel 2. B. II. 2. 463  Für die Materien der Bodenverteilung und der Raumordnung in Art.  72 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 und 4 GG bestehen keine abweichungsfesten Kerne. 464  So Kloepfer, Die neue Abweichungsgesetzgebung der Länder und ihre Auswirkungen auf den Umweltbereich, in: Pitschas (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 651, 661 unter Verweis auf Ruthig, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung Föderalismusreform am 18.05.2006, S. 2 und 12 (http: /  / webarchiv.bundestag.de / cgi / show.ph p?fileToLoad=1373&id=1136(28.02.13)), der unter dem Stichwort „Transparenz durch Notifikationsverfahren“ vorschlägt, dass die Länder dem Bund ihre Abweichungen anzeigen. Huber hingegen (Fn. 379), S. 60 meint: „Sie sollten unbedingt mehr Klarheit und Rechtssicherheit in den Punkten schaffen, in denen der Bund oder die Länder abweichen. Ich würde nicht nur in einem Ausführungsgesetz, sondern in der Verfassung selbst die Notifizierungspflicht, die den Gesetzgeber zwingt, Farbe zu bekennen, von welchen Regelungen er wirklich abweichen will, kodifizieren“ (…). 465  So Kloepfer (Fn. 464), S. 651, 661 unter Verweis auf Ruthig (Fn. 464), S. 12. Auch Heinsens Vorschlag eines Zugriffsrechts der Länder von 1976 enthielt neben 461  Allerdings



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot225

Um ein milderes Mittel gegenüber einer Zitierpflicht handelt es sich hierbei, weil der Gesetzgeber erst nach erfolgter Abweichung tätig werden müsste, um diese dem bundesstaatlichen Gegenspieler anzuzeigen. Er müsste sich mithin nicht wie bei einer Zitierpflicht bereits im Gesetzgebungsverfahren Gedanken über eine eventuell erfolgende Abweichung machen,466 sondern könnte sie hinterher – vielleicht auch etwas überrascht – feststellen und anzeigen. Von noch entscheidenderer Bedeutung für die Zweck-Mittel-Relation einer Notifikation ist, dass es sich bei dieser lediglich um ein „bundesstaatliches Internum“ handelt, d. h. der jeweilige Gesetzgeber muss nur ­gegenüber dem Gesetzgeber der anderen Ebene Farbe bekennen und nicht etwa auch außenwirksam gegenüber dem Rechtsunterworfenen.467 Damit ist aber auch schon angesprochen, warum es sich bei der Notifizierung zwar um ein milderes aber nicht gleich wirksames Mittel gegenüber der Zitierpflicht handelt. Sie sorgt als ledigliches „Internum“ nicht für ausreichend Transparenz gegenüber dem Rechtsbetroffenen. Zwar würde auch mit ihr eine gewisse Besinnung des Gesetzgebers – vielleicht auch erst nach Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens – einhergehen. Der Informations- und Rechtsschutzfunktion, die ein Zitiergebot verfolgt,468 könnte eine Notifikation aber keineswegs Rechnung tragen. Somit sind die Wirkungen einer nach außen gerichteten Zitier- und – aus Perspektive des Normunterworfenen – lediglich nach innen gerichteten Notifikationspflicht nicht miteinander vergleichbar. Außerdem hat das Institut der Notifikation in Hinblick auf Transparenz nur einen geringen Mehrwert, steht es doch eigentlich im Dienste einer anschließenden Dokumentation469 der jeweiligen Abweichung in eigens für diesen Zweck einzurichtenden Datenbanken auf Bundes- und Länderebene.470 Die Notifikation stellt mithin „lediglich ein Sicherungsinstrument für die Umsetzung der Dokumentation dar, ohne dass ihr eine eigenständige Funktion in Hinblick auf Transparenz und Rechtssicherheit zukäme“.471

IV. Kompensation durch Dokumentation? Wiederum als milderes Mittel gegenüber einer verfassungsrechtlich verankerten Zitierpflicht kommt eine Dokumentation des Gesetzgebungsvereiner Zitier- eine Notifikationspflicht in Art. 72 a Abs. 2 S. 1 GG (E). Siehe oben Kapitel 1. B. I. 4. 466  Zur Besinnungsfunktion des ungeschriebenen Zitiergebots siehe oben unter C. II. 1. 467  Zur konkreten Ausgestaltung der Zitierpflicht siehe unten E. 468  Siehe oben C. II. 3. 469  Zur Dokumentation als Kompensation siehe unten D. IV. 470  Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31, 32 / 33. 471  Schulze Harling (Fn. 250), S. 118.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

laufs bzw. des aktuell gültigen Normenbestands in einer für jedermann zugänglichen Weise in Betracht.472 Reicht diese aus, um die drohenden Unübersichtlichkeiten bei der Abweichungsgesetzgebung zu kompensieren, bedarf es keines Zitiergebots. Über Möglichkeiten der Kompensation der drohenden Gemengelage bei der Abweichungsgesetzgebung haben sich Bundestag und Bundesrat schon im Jahr 2006 Gedanken gemacht.473 Im Zuge dessen fassten sie folgende, im Wortlaut identische Beschlüsse:474 „Bund und Länder gewährleisten gemeinsam, dass abweichendes Landesrecht (Artikel 72 Abs. 3, Artikel 84 Abs. 1 GG) fortlaufend gemeinsam mit dem Bundesrecht, von dem abgewichen wird, in einer für die Rechtsanwender zugänglichen Weise dokumentiert wird. Die gemeinsame Dokumentation von Bundes- und abweichendem Landesrecht – gedacht ist an das Dokumentationssystem ‚juris‘ – soll dem Rechtsanwender auf einen Blick und an einem Ort Klarheit über das jeweils geltende Recht geben (unabhängig von der jeweils getrennten Veröffentlichung von Bundes- und Landesrecht in den jeweiligen Gesetzblättern).“475 Diese wortgleichen Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat bilden die Grundlage für die bereits heute existierende, bundesweite Dokumentation abweichenden Landesrechts.476 Bund und Länder kommen ihrer Dokumentationspflicht auf drei verschiedene Arten nach:477 Erstens werden Hinweise der Länder auf abweichende Vorschriften im Bundesgesetzblatt veröffentlicht (1).478 Zweitens werden diese Hinweise in Onlineinformationssystemen etwa bei „juris“ oder „beck-online“ publiziert (2).479 Drittens sind die abweichenden Vorschriften in einer Bundesrechtsdatenbank online abrufbar (3).480 Diese Datenbank resultiert aus einer Kooperation des Bundesministeriums der Justiz und der Juris GmbH.481 472  Dazu Mayen (Fn. 256), DRiZ 2007, 51, 55; v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168 ff.; Schulze Harling (Fn. 250), S. 120 ff.; Stock (Fn. 240), ZG 2006, 226, 235 Fn. 53; Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31, 32 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 255; Huber (Fn. 379), S. 231. 473  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168. 474  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168. 475  Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU / CSU und SPD am 28.06.2006, BT-Drs. 16 / 2052, S. 9; Entschließungsantrag des Bundesrats vom 07.07.2006, BRDrs. 462 / 06, S. 15; vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168. 476  v. Stackelberg (Fn.  3), S. 168. Überregelndes Bundesrecht existiert noch nicht; aus diesem Grund erfolgt auch noch keine Dokumentation. 477  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168. 478  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168 und 169 ff. 479  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 171 ff. 480  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 173 ff. 481  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 168 / 173.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot227

1. Veröffentlichung der Abweichung im Bundesgesetzblatt Ausgangspunkt der bundesweiten Dokumentation abweichenden Landesrechts ist zunächst eine Veröffentlichung entsprechender Hinweise im Bundesgesetzblatt.482 Auf dem Feld des Naturschutzrechts haben bisher beispielsweise nahezu alle Länder von ihrer Abweichungsgesetzgebungs­ kompetenz Gebrauch gemacht, folglich wurden entsprechende Hinweise – zumeist der Landesjustizministerien483 – bereits im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.484 Nachteil dieser Art der Veröffentlichung ist zunächst deren tatsächliche Fehleranfälligkeit.485 Offenbar erfolgt nicht unbedingt eine Abstimmung zwischen den Landesparlamenten und den für die Hinweise zuständigen Stellen.486 So werden in den ministerialen Hinweisen landesrechtliche Abweichungen von Bundesnormen nicht nur unvollständig wiedergegeben.487 Zum Teil wird auch die falsche Bundesnorm als Anknüpfungspunkt einer landesrechtlichen Abweichung gewählt.488 Bereits diese tatsächliche Fehleranfälligkeit der Dokumentation spricht gegen ihre Zweckmäßigkeit zur Entwirrung einer ggf. eingetretenen Gemengelage von Bundes- und Landesrecht. Weiterhin werden die Hinweise im Bundesgesetzblatt für jedes Land einzeln mitgeteilt.489 Sämtliche Abweichungen der Länder vom jeweiligen Bundesgesetz sind somit nicht auf einen Blick erkennbar.490 Das mag 482  v. Stackelberg

(Fn. 3), S. 168. Hamburg müsste die Justizbehörde zuständig sein. 484  BGBl. I 2010, S. 275 und BGBl. 2011 I, S. 365 (Bayern), S. 450 (SchleswigHolstein), S. 970 (Niedersachsen), S. 1621 (Mecklenburg-Vorpommern), BGBl. I 2011, S. 30 (Sachsen-Anhalt), S. 93 (Hamburg), S. 365 (Bayern), S. 663 (Hessen), S. 842 (Sachsen), S. 1979 (Schleswig-Holstein); vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 169. Weiterhin wurden die Hinweise von Berlin mitgeteilt in BGBl. I 2013, 2829. 485  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 170. 486  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 170. In Hamburg müsste die Justizbehörde zuständig sein; siehe Fn. 483. 487  Beispielsweise wird im Bundesgesetzblatt (BGBl. I 2011, S. 93) § 6 Abs. 3 HmbBNatSchAG lediglich als Abweichung von § 15 Abs. 2 BNatSchG mitgeteilt, obwohl der Gesetzeswortlaut in § 6 Abs. 3 S. 2 HmbBNatSchAG ausdrücklich auch § 15 Abs. 6 BNatSchG als Bundesnorm, von der abgewichen wird, benennt. Die Abweichung in § 6 Abs. 3 S. 2 HmbBNatSchAG kann sich auch nicht auf die bundesrechtliche Öffnungsklausel in § 15 Abs. 7 S. 2 BNatSchG stützen, da bereits ein Widerspruch zu § 15 Abs. 6 BNatSchG besteht. Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 170 Fn. 471 und S. 216 Fn. 745. 488  Beispielsweise wird im Bundesgesetzblatt (BGBl. I 2011, S. 842) § 9 Abs. 3 S. 1 SächsNatSchG fehlerhaft als Abweichung von § 15 Abs. 2 S. 2 BNatSchG gekennzeichnet, da die Norm tatsächlich von § 15 Abs. 2 S. 3 BNatSchG abweicht. Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 170 Fn. 471. 489  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 171. 483  In

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

für den einzelnen Bürger, der in der Regel lediglich die Rechtslage in seinem eigenen Bundesland kennen will, noch verträglich sein. Für überregional agierende Unternehmen stellt sich die Situation aber schon anders dar.491 Der entscheidende Nachteil dieser Art der Dokumentation ist aber in ihrer fehlenden Verbindlichkeit zu sehen.492 Die Veröffentlichung erfolgt zwar im Bundesgesetzblatt, dem als Verkündungsorgan von Gesetzen im Sinne des Art. 82 Abs. 1 GG grundsätzlich verbindliche Wirkung zugeschrieben wird.493 Allerdings gilt zu bedenken, dass die Auslegung von Gesetzen in einem Rechtsstaat nach Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 97 Abs. 1 GG Aufgabe der Gerichte ist.494 Sie stellen verbindlich fest, ob und in welchem Maße von Bundesrecht abweichendes Landesrecht vorliegt, wobei das Bundesverfassungsgericht mit seinem Verwerfungsmonopol das Letztentscheidungsrecht über diese Frage hat.495 Diesen Umstand greifen die bereits veröffentlichten Abweichungen im Bundesgesetzblatt auch auf, indem sie lediglich von „Hinweisen der Länder“ sprechen, die „mitgeteilt“ werden.496 In den Hinweisen kann somit keine „amtliche Bekanntmachung der Landesnorm“497 gesehen werden, sie sind vielmehr als „unverbindliche Verwaltungsansicht“498 oder aus Sicht des Rechtsanwenders als „unverbindliche Arbeitshilfe“499 einzuordnen. Der Normunterworfene kann sich folglich auf die Hinweise im Bundesgesetzblatt nicht verlassen, für fehlerhafte Angaben würde auch nicht gehaftet.500 Vorteil eines praktizierten Zitiergebots gegenüber einer Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt wäre hingegen für den Rechtsunterworfenen, dass das Land bzw. bei Überregelung der Bund seine Abweichungsintention jedenfalls klargestellt hätte. Dieser Abweichungswille würde im Rahmen der historischen Gesichtspunkte schon auf Grund der Publizität der Zitierung im Gesetz selbst501 mit bedeutsamem 490  v. Stackelberg 491  Zu

(Fn. 3), S. 171. den Transaktionskosten überregional agierender Unternehmen siehe oben

B. II. 4. 492  So auch v. Stackelberg (Fn.  3), S. 170  f. und Schulze Harling (Fn. 250), S. 120. 493  Guckelberger, Übergang zur elektronischen Gesetzesverkündung?, DVBl 2007, 985, 986. 494  BVerfGE 65, 196, 215; 111, 54, 107; 126, 396, 392; BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013  – 1 BvL 5 / 08  – juris Rn. 48 ff. 495  Schulze Harling (Fn. 250), S. 120. 496  Vgl. Schulze Harling (Fn. 250), S. 120. 497  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 171. 498  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 171. 499  Schulze Harling (Fn. 250), S. 120. 500  Schulze Harling (Fn. 250), S. 120. 501  Zur konkreten Ausgestaltung des Zitiergebots siehe unten E.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot229

Gewicht in die insbesondere von der Rechtsprechung502 angewandte und auch hier favorisierte objektive Auslegung des Gerichts hineinfließen. Vergleicht man daher eine Veröffentlichung der Abweichung im Bundesgesetzblatt mit der Publizitätswirkung eines Zitiergebots, kann nur die Zitierung die „hermeneutischen Probleme des Gesetzesverständnisses“503 in gewissem Maße kompensieren, nicht hingegen eine Form der Bekanntmachung, die lediglich unverbindlich Unterschiede zwischen Bundes- und Landesrecht sichtbar macht.504 2. Hinweis auf abweichendes Recht in juristischen Datenbanken etwa bei „juris“ und „beck-online“ Auch in den Datenbanken von „juris“ und „beck-online“ wird abweichendes Recht dokumentiert. Diese elektronische Form der Dokumentation beruht auf den Hinweisen im Bundesgesetzblatt. Sind die Hinweise fehlerhaft, setzt sich der Fehler in dem elektronischen Medium folglich entsprechend fort.505 In den angesprochenen Datenbanken werden jeweils in einer Fußnote zur Bundesnorm die vorhandenen landesrechtlichen Abweichungen aufgeführt.506 „Juris“ bietet den „besonderen Service“ einer tabellarischen Auflistung der abweichenden Landesnormen im Anschluss an jede Bundesnorm.507 Diese tabellarische Darstellung ist zur Bestimmung der Rechtslage allerdings wenig hilfreich wenn nicht sogar irreführend.508 Jede Tabelle trägt zunächst die

502  BVerfGE 1, 299, 312; 34, 269, 288  f.; 96, 375, 394; BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013  – 1 BvL 5 / 08  – Absatz-Nr. 48 „Es besteht keine Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation gesetzlicher Vorschriften.“ ebenso Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999; Kiefer, Zur Gesetzeskompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern bei der Lärmbekämpfung, DÖV 2011, 515, 522 und Kirchhof, Höchstrichterliche Rechtsfindung und Auslegung gerichtlicher Entscheidungen, DVBl 2011, 1068, 1074; a.  A. z. B. Rüthers, Rechtsdogmatik und Rechtspolitik unter dem Einfluß des Richterrechts, 2003 ebenso Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, 53 ff.; Hillgruber, „Neue Methodik“ – Ein Beitrag zur Geschichte der richterlichen Rechtsfortbildung in Deutschland, JZ 2008, 745, 746; kritisch bzgl. BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5 / 08 Lepsius, Zur Neubegründung des Rückwirkungsverbots aus der Gewaltenteilung, JZ 2014, 488 ff. 503  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 255. 504  Vgl. Entschließungsantrag von CDU / CSU und SPD vom 28.06.2006, BTDrs. 16 / 2052, S. 9; vgl. Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 255. Im Ergebnis ebenso Foerst (Fn. 397), S. 84. 505  Für die juristische Datenbank „juris“ v. Stackelberg (Fn. 3), S. 171. 506  Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 171. 507  Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172. 508  Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Überschrift: „Dieses Gesetz ändert die nachfolgend aufgeführten Normen.“509 Innerhalb der Tabelle werden dann die abweichenden Normen als „geänderte Normen“ klassifiziert.510 Bei einem juristisch nicht vorgebildeten Adressaten muss bei dieser Art der Darstellung eigentlich der Eindruck entstehen, die jeweilige Bundesnorm ändere das Landesrecht.511 In dem derzeit noch ersten Stadium der Abweichungsgesetzgebung ist aber – um in der Terminologie der „Änderung“ zu bleiben – genau das Gegenteil der Fall. Indem die Länder von Bundesrecht abweichen, „ändert“ sich sozusagen das eigentlich bundesweit geltende Bundesrecht in dem jeweiligen Bundesland. Außerdem tritt nicht wirklich eine Änderung des Bundesrechts ein, vielmehr wird das Bundesrecht lediglich in seinem Anwendungsvorrang gemäß Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG verdrängt.512 Die tabellarische Übersicht gibt somit die Rechtsfolgen der Abweichungsgesetzgebung nicht nur falsch wieder, sondern verkehrt sie auch noch in ihr Gegenteil.513 Mit dieser Irreführung muss der Aufbereitung bei „juris“ bereits jeglicher Nutzen zur Entwirrung eines eventuell zustande kommenden Normgeflechts bei der Abweichungsgesetzgebung abgesprochen werden.514 Der entscheidende Nachteil einer Dokumentation in einem Rechtsinformationssystem wie „juris“ oder „beck-online“ im Vergleich zu einer Zitierung besteht aber wiederum in der fehlenden Verbindlichkeit.515 Die Datenbanken verfolgen – was die Veröffentlichung von Normtexten anbelangt – lediglich den Zweck, die Gesetzestexte sowohl des Bundes wie auch der Länder zu sammeln und dem Nutzer elektronisch aufzubereiten. Während der Papierausgabe des Bundesgesetzblatts verbindliche Wirkung zugeschrieben wird,516 fehlt einer elektronischen Dokumentation jegliche „vergleichbare Verbindlichkeitsfunktion“517. Abschließend wird hinsichtlich des eingangs erwähnten Vorschlags von Bundestag und Bundesrat518 noch auf einen anderen, die Lebenswirklichkeit wiedergebenden Aspekt hingewiesen: Selbst der kostenlose Bereich des Landesrechts bei „juris“ wird in erster Linie wohl vom Fachpublikum genutzt.519 Aus diesem Grund wurde der Vorschlag einer bürgerfreundlichen, elektronischen Dokumentation des Gesetzesrechts bei

v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172. 511  Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 712. 512  Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172. 513  Vermutlich steht „Juris“ keine andere Maske zur Verfügung. 514  So auch v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172. 515  Siehe oben unter Kapitel 4. D. IV. 1. 516  Guckelberger (Fn. 493), DVBl 2007, 985, 986. 517  Mayen (Fn. 256), DRiZ 2007, 51, 55. 518  Siehe Fn. 475. 519  Schulze Harling (Fn. 250), S. 121. 509  Vgl. 510  Vgl.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot231

„juris“520 von der Fraktion BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN bereits 2006 als „Realsatire“521 bezeichnet.522 3. Bundesrechtsdatenbank im Internet Die Bundesrechtsdatenbank, abrufbar unter www.gesetze-im-internet. de523, wird in Kooperation des Bundesjustizministeriums und der Juris GmbH betrieben.524 Grundlage ihrer Daten sind wiederum die mitgeteilten Hinweise im Bundesgesetzblatt525. Großer Vorteil der Aufbereitung in der Bundesrechtsdatenbank im Vergleich zu den anderen elektronischen Datenbanken ist die dort realisierte Verlinkungslösung auf das abweichende Landesrecht.526 Wird die von Abweichungen betroffene Bundesnorm aufgerufen, führt ein Link in der Fußnote der Norm direkt zum Text der abweichenden Landesvorschrift.527 Anhand dieser durchaus praktikablen Lösung kann der Adressat die inhaltliche Reichweite der abweichenden Landesnorm vielleicht leichter bestimmen, allein schon weil Bundes- und Landesnorm nur einen Klick voneinander entfernt sind, dennoch führt kein Weg daran vorbei, dass es auch dieser Form der Dokumentation an jeglicher Verbindlichkeit mangelt, und sie somit gegenüber dem Rechtsunterworfenen ebenfalls keine Verlässlichkeit generieren kann.528 4. Zwischenergebnis Die Dokumentation des Gesetzgebungsverlaufs bzw. des aktuell geltenden Normbestands stellt kein milderes Mittel gegenüber einer verfassungsrechtlich verankerten Zitierpflicht dar. Dies folgt in erster Linie aus der fehlenden Verbindlichkeit der in Betracht kommenden Dokumentationsformen.

520  Vgl.

Fn. 475. 16 / 2069, S. 34. 522  Vgl. Schulze Harling (Fn. 250), S. 122. Stock (Fn. 240), ZG 2006, 226, 235 spricht von „hilflos wirkenden Bemühungen“. Ablehnend auch Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 255. 523  Zuletzt abgerufen am 09.06.15. 524  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 173. 525  Siehe oben D. IV. 1. Eventuelle Fehler im BGBl. setzen sich folglich auch hier wieder fort. Vgl. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 172. 526  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 173. 527  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 173. Bei „juris“ und „beck-online“ wird die abweichende Landesnorm nur genannt, ihr Text ist nicht verlinkt. 528  Siehe oben D. IV. 1. und D. IV. 2. 521  BT-Drs.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

V. Problem der nachträglichen Veränderung von Bundes- oder Landesnormen Der „spürbare Gewinn an Rechtssicherheit“ durch ein Zitiergebot wird noch auf andere Weise in Frage gestellt.529 Falls sich das Ausgangsgesetz nach erfolgter Zitierung im abweichenden Gesetz ändert, ohne dass eine Verdrängung nach Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG stattfindet, kann es passieren, dass Zitierungen in Abweichungsgesetzen dadurch „nachträglich unrichtig“ werden.530 Dies kann beispielsweise auf Grund „der Einfügung neuer Paragraphen, Absätze, Sätze“531 oder Nummern erfolgen oder auf Grund deren Streichung. Dieser Zustand nachträglicher Unrichtigkeit des abweichenden Gesetzes sei für die Rechtssicherheit „eher abträglich als nützlich“.532 Diesem Befund kann aus folgenden Gründen nicht gefolgt werden. Eine Zitierung bildet jedenfalls im Zeitpunkt des Normerlasses die Rechtslage klar ab. Bei nachträglichen Veränderungen stellt dieser Zeitpunkt einen verlässlichen Anknüpfungspunkt zur Orientierung und Rückverfolgung des Gesetzgebungsverlaufs dar.533 Außerdem gehört es zu den wesentlichen Eigenschaften von Gesetzen, dass sie immer nur den Zustand im Zeitpunkt ihres Erlasses abbilden können. Darüber hinaus ist die Erstellung von Änderungsgesetzen zur Angleichung von Paragraphen, falls Verschiebungen aufgetreten sind, keine Ungewöhnlichkeit. Dass dies im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung vielleicht häufiger erforderlich sein wird, liegt in der Natur der Sache. Denn ein wesentliches Merkmal dieser Gesetzgebungskompetenz ist das „Rückholrecht“ beider bundesstaatlicher Akteure. Überdies haben auf Grund der Sechs-Monats-Frist in Art. 72 Abs. 3 S. 2 GG zumindest die Landtage etwas Zeit, um noch vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes Änderungsgesetze auszuarbeiten. Auf diese Weise können absehbare Unabgestimmtheiten vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes behoben werden. Während der sechsmonatigen Schonfrist kann ohnehin keine Unrichtigkeit des zitierenden Landesgesetzes eintreten, da das Bundesgesetz noch nicht in Kraft ist. Somit stellen nachträgliche Änderungen des Ausgangs­ gesetzes die Wirkung eines Zitiergebots im Sinne der Generierung von Rechtssicherheit nicht in Frage.534 529  Schulze

Harling (Fn. 250), S. 119. Harling (Fn. 250), S. 119. 531  Schulze Harling (Fn. 250), S. 119. 532  Schulze Harling (Fn. 250), S. 119. 533  Ebenso v. Stackelberg (Fn. 3), S. 41. Zur nachträglichen Unrichtigkeit des Zitats in einer Rechtsverordnung siehe oben Kapitel 3. B. III. 2. 534  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 41 führt in diesem Zusammenhang an, dass eine Unrichtigkeit von Zitaten nicht auftreten könne, da das überregelnde Gesetz das abweichende Gesetz ohnehin nach Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG verdränge. Dieser Ein530  Schulze



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot233

VI. Vertikale Kooperation im bundesstaatlichen Gefüge Die Notwendigkeit eines verfassungsrechtlich verankerten Zitiergebots könnte auch mit dem Einwand bestritten werden, auf Grund im Voraus koordinierter Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern komme es kaum zur Betätigung der Abweichungsbefugnis durch die Länder.535 Somit würden Unübersichtlichkeiten gar nicht erst entstehen. Ein Zitiergebot wäre also unnötig. Dem ist insofern zuzustimmen, als mit der Abweichungsgesetzgebungskompetenz durchaus eine „politische Prozeduralisierung der Kompetenzverteilung im Bundesstaat“ einhergeht.536 Das liegt nicht zuletzt an dem verfassungsrechtlichen Novum der „doppelten Vollkompetenz“ von Bund und Ländern.537 Man kann demnach durchaus davon ausgehen, dass die Länder auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien ihre „politische Taktik“ bei der Gesetzgebung verändern werden.538 Haben sie vor Einführung der Abweichungsbefugnisse eher über die Verweigerung der Zustimmung im Bundesrat Einfluss auf die Bundesgesetzgebung genommen, ist jetzt ohne weiteres vorstellbar, dass bereits die bloße Andeutung oder Drohung mit abweichenden Landesregelungen den politischen Druck auf den Bund erhöhen wird.539 Der Gesetzgebungsprozess auf diesem Gebiet wird demnach möglicherweise wie folgt ablaufen: Der Bund wird zur Wahrung bundesstaatlicher Einheit versuchen, in den Gesprächen mit den Ländern seine Grenzen auszureizen, ohne landesrechtliche Abweichungen heraufzubeschwören.540 Umgekehrt werden die Länder ein Interesse daran haben, ihre Vorstellungen so weit wie möglich zu realisieren, ohne eine überregelnde Replik des Bundes zu kassieren.541 Dieses „Verfahren wechselseitiger Antizipation kompetentieller Ansprüche“542, begleitet von „faktischen VetoPositionen“543, wird nicht unbedingt im parlamentarischen bzw. öffentlichen Diskurs stattfinden, sondern in „exekutivische Koordinationsgremien“544 schätzung kann nur im Falle abweichender Vollgesetze gefolgt werden. Zur Problematik, ob mit dem Gesetz in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG das neue Gesetz als Einheit oder das jeweils abweichende Recht gemeint ist, siehe oben Fn. 250 und Fn. 252. 535  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 253; Meyer (Fn. 389), S. 165. 536  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 253. 537  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 253. Zur „doppelten Vollkompetenz“ siehe oben unter B. III. 2. 538  Ginzky / Rechenberg, Der Gewässerschutz in der Föderalismusreform, ZUR 2006, 344, 349. 539  Ginzky / Rechenberg (Fn. 538), ZUR 2006, 344, 349. 540  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 254. 541  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 254. 542  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 254. 543  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 254. 544  Meyer (Fn. 389), S. 165.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

abwandern. Aus diesem Grund fürchtet man auf dem Gebiet der Abweichungsgesetzgebung bereits jetzt eine stärkere Politikverflechtung, Intransparenz und letztendlich einen von der Föderalismusreform kaum bezweckten „Demokratieverlust“.545 Eine stärker als zuvor von „politischen Abhängig­ keiten“546 geprägte Gesetzgebung auf dem Feld der Abweichungsmaterien kann kein erstrebenswertes Ziel sein. Inwieweit Andeutungen bzw. Absprachen schon jetzt in „politischen Hinterzimmer(n)“547 getroffen werden, lässt sich auf Grund ihres „informellen Charakters“548 kaum eruieren. Allerdings zeigt die bisherige Erfahrung, dass die Länder von ihren Abweichungsbefugnissen durchaus regen Gebrauch machen.549 Somit spricht die Evidenz des Faktischen550 gegen die Annahme, Bund und Länder würden ausschließlich in außerparlamentarischen, vertikalen Kooperationsformen Gesetzgebung betreiben, wobei sie sich auf Grund der Kompromisshaftigkeit der Situation immer nur auf den „kleinsten gemeinsamer Nenner“551 einigen könnten. Somit ist die Behauptung, die Länder würden auf Grund vertikaler Kooperation mit dem Bund von ihrer Abweichungsbefugnis keinen Gebrauch machen, jedenfalls entkräftet.

VII. Horizontale Kooperationsformen zwischen den Ländern Nicht nur die vertikale Kooperation zwischen Bund und Ländern stellt kein milderes Mittel gegenüber einer verfassungsrechtlich verankerten Zitierpflicht dar, sondern auch horizontale Kooperationsformen zwischen den Ländern552 können Unübersichtlichkeiten nicht gleich wirksam verhindern. Das breite Spektrum horizontaler Kooperationsformen im Bundesstaat reicht von rein informellen Gesprächen ohne rechtliche Bindungswirkung bis hin zu vertraglichen Vereinbarungen in Form von z. B. Staatsverträgen oder Verwaltungsabkommen.553 Mitunter wird mit Blick auf die Abweichungsge545  Meyer (Fn. 389), S. 165; Stock, Föderalismusreform: Mit der großen Koali­tion ins Abenteuer?, ZUR 2006, 113,118; Ginzky / Rechenberg (Fn. 538), ZUR 2006, 344, 349. 546  Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 254. 547  Ginzky / Rechenberg (Fn. 538), ZUR 2006, 344, 349. 548  Köck / Ziehm, Editorial: Föderalismusreform: Chance für das Umweltrecht vertan, ZUR 2006, 337, 338. 549  Siehe oben B. I. 550  Siehe oben B. I. 551  Oeter, Die Änderungen im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen, in: Starck (Hrsg.), Föderalismusreform, 2007, Rn. 29. 552  Oeter (Fn. 265), Art. 72 Rn. 126 spricht von einer durch „Zwischenländerabsprachen koordinierten Landesgesetzgebung“. 553  Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. VI, 3. Auflage, 2008, § 141 Rn. 31 ff.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot235

setzgebung behauptet, die Länder würden z. B. „im Hochschulrecht (…) wohl wie gehabt auf das Instrument der Selbstkoordination zurückgreifen, um im Bedarfsfall zu gemeinsamen Regelungen zu langen.“554 Diese Annahme konsequent zu Ende gedacht, bedeutet, dass die Länder von ihrer Abweichungsbefugnis keinen Gebrauch machen werden. Dann bedarf es aber auch keines Zitiergebots. Die Ausgangsthese wird im Folgenden näher untersucht. Mit dem erwähnten „Instrument der Selbstkoordination“ im Hochschulrecht555 ist wohl die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) gemeint. Hierbei handelt es sich um eine Fachministerkonferenz, die zur freiwilligen Zusammenarbeit der Länder eingerichtet wurde.556 Für einen Vergleich mit dem oben vorgestellten Zitiergebot557 ist die Verbindlichkeit dieses „Arrangements“ maßgebend, also insbesondere die Rechtsnatur der in dem Kreis der Kultusminister getroffenen Entscheidungen. Die Kultusministerkonferenz fasst in erster Linie Beschlüsse, die grundsätzlich „nichts als eine Absichtserklärung ohne rechtliche Bindungswirkung“558 sind. Sie bedürfen der Umsetzung in den einzelnen Bundesländern um rechtliche Verbindlichkeit zu erlangen.559 In der Regel handelt es sich bei ihnen lediglich um gemeinsame politische Absichtserklärungen, „die vor allem als Empfehlungen an die Länder gedacht sind, deren verfassungsrechtliche Kompetenz dadurch aber nicht berührt wird“.560 Somit spricht schon die fehlende rechtliche Verbindlichkeit der Beschlüsse gegen ihre Vergleichbarkeit mit den Wirkungen des Zitiergebots.561 Außerdem zeigen abermals die bereits gemachten Erfahrungen 554  Decker

(Fn. 260), S. 205, 222. (Fn. 260), S. 205, 222. 556  Handbuch der Kultusministerkonferenz, Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.), 1990, S. 9. Im Umweltbereich ist etwa an Institutionen wie die Bund / Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) zu denken, die ein Arbeitsgremium der Umweltministerkonferenz (UMK) darstellt. (www.lawa.de (30.06.15)). Zwar ist der Bund vertreten durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit seit 2005 auch ständiges Mitglied der LAWA. Ursprünglich wurde die Länderarbeitsgemeinschaft Wasser 1956 aber als Zusammenschluss der für die Wasserwirtschaft und das Wasserrecht zuständigen Ministerien der Bundesländer der Bundesre­ publik Deutschland gebildet. (http: /  / www.lawa.de / Ueber-die-LAWA.html (30.06. 15)). 557  Siehe unter C. 558  Quapp, Akkreditierung: Ein Abgesang auf die Wissenschaftsfreiheit?, DÖV 2011, 68, 72. 559  BVerfG, Beschl. v. 02.05.2006  – 1 BvR 698 / 06  – juris Rn. 10. 560  Trute (Fn. 280), S. 59. 561  Zur fehlenden rechtlichen Verbindlichkeit der Hinweise im Bundesgesetzblatt und den daraus folgenden Konsequenzen für den Vergleich mit dem Zitiergebot siehe oben D. IV. 1. Auch in der Bund / Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) 555  Decker

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

mit der Abweichungsgesetzgebung z. B. im Hochschulbereich, dass selbst wenn Mechanismen der Koordination zwischen den Ländern eingerichtet wurden, sich nicht unbedingt alle daran halten. So hat beispielsweise das Land Mecklenburg-Vorpommern einem Beschluss der KMK562 zugestimmt, in dem eine strukturelle Vermischung von Diplom- und Bachelor / MasterStudiengängen ausgeschlossen wurde, um im Anschluss in § 41 Abs. 1 S. 3 LHG M-V563 von dieser Übereinkunft und dem Hochschulrahmengesetz564 abzuweichen.565 Neben den unverbindlichen, horizontalen Kooperationsformen gibt es auch solche, die wie etwa Staatsverträge und Verwaltungsabkommen für die Vertragsparteien rechtlich bindend sind.566 Diese verbindlichen Koopera­ tionsformen stehen einem Zitiergebot in ihrer Geltungskraft nicht nach. Soll allerdings die mit der Abweichungsgesetzgebung einhergehende Unübersichtlichkeit verhindert werden, müssen alle 16 Bundesländer einer vertraglichen Vereinbarung zustimmen. Ist nur ein Bundesland nicht einverstanden und weicht von der Bundesregelung ab, können bereits bei der ersten Abweichung Unübersichtlichkeiten auftreten,567 die durch eine Zitierpflicht kompensiert würden. Bedenkt man, dass sich insbesondere die finanzstarken Länder für Abweichungsrechte im Rahmen der Föderalismusreform 2006 stark gemacht haben, ist realistischerweise nicht davon auszugehen, dass alle 16 Bundesländer einem föderalen Vertrag zustimmen, würden sie auf diesem Wege doch ihre zuvor erlangten Befugnisse wieder verlieren. Außerdem würden föderale Verträge den ausgewiesenen Zweck der Abweichungsgesetzgebung auf regionale Eigenheiten568 wie beispielsweise das Hamburger Hafenprivileg stärker eingehen zu können, konterkarieren. Somit macht auch das Institut der horizontalen Kooperationsformen den Gebrauch der Abweichungsrechte nicht überflüssig.

(Fn. 556) werden lediglich Empfehlungen zur Umsetzung erarbeitet (http: /  / www. lawa.de / Ueber-die-LAWA.html (30.06.15)). 562  Ländergemeinsame Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelorund Masterstudiengängen, Beschluss der KMK v. 10.10.2003 i. d. F.v. 04.02.2010. 563  Landeshochschulgesetz MV v. 25.01.2011, GVBl. 2011, S. 18. 564  §§ 18, 19 Hochschulrahmengesetz; BGBl I 1999, 18. 565  Trute (Fn. 280), S. 59. 566  Rudolf (Fn. 553), § 141 Rn. 65. 567  Siehe oben D. I. 568  Siehe oben Einführung. A.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot237

VIII. Bundestreue als Grenze der Abweichungsgesetzgebung? Das aus dem Bundesstaatsprinzip fließende Gebot der Bundestreue569 bildet ebenfalls keine Schranke für die Ausübung der Abweichungsgesetzgebungsbefugnis.570 Das auch als „Grundsatz bundesfreundlichen Ver­ haltens“571 bezeichnete Gebot572 beruht zunächst auf der Entscheidung des Verfassungsgebers für eine vertikale Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern.573 Diese getrennte Kompetenzverteilung zwischen den bundesstaatlichen Akteuren kann allerdings nicht immer reibungslos funktionieren. Nicht alle Kompetenzfragen können antizipiert werden.574 Daher bedarf es eines Korrektivs, welches die Funktionsfähigkeit des gesamten „Organismus Bundesstaat“ in den Blick nimmt.575 Bund und Länder haben folglich bei der Wahrnehmung ihrer Befugnisse „die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaats und auf die Belange der Länder (zu) nehmen“.576 Das Gebot der Bundestreue ist mit anderen Worten „das Schmieröl im Getriebe der Bundesstaatsmechanik“, welches „Reibungsverluste“ und Koordinationsprobleme im bundesstaat­ lichen Gefüge beheben soll, wenn keine konkreteren Mechanismen zur Verfügung stehen.577 Im Kontext der Abweichungsgesetzgebung könnte nun aus der Befürchtung, Bund und Länder verfallen womöglich in einen gesetzgeberischen Wettlauf, gefolgert werden, dass zur Abwehr „kurzfristig wechselnder Rechtsbefehle“578 das Korrektiv der Bundestreue herangezogen werden müsse.579 Dies darf aber nur bemüht werden, wenn die Verfassung für eine bestimmte Frage keine Antwort bereithält.580 Mit der Abweichungsgesetzgebung und der damit einhergehenden „doppelten Vollkompetenz“581 hat der Verfassungsgeber aber bewusst ein „echtes 569  Bauer, Die Bundestreue, 1992; Jestaedt, Bundesstaat als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 3. Auflage, 2004, § 29 Rn. 73. 570  Trute (Fn. 280), S. 57 f.; Beck (Fn. 250), S. 94 ff.; Schulze Harling (Fn. 250), S.  220 f.; a. A. Schulze-Fielitz (Fn. 389), NVwZ 2007, 249, 254, der pauschal auf europa- und verfassungsrechtliche Grenzen für die Abweichungsgesetzgebung verweist, zu denen auch die Bundestreue gehören soll. 571  BVerfGE 81, 310, 337 f. 572  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 73. 573  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 73. 574  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 73. 575  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 73. 576  BVerfGE 92, 203, 230. 577  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 73. 578  BT-Drs. 16 / 813, S. 11. 579  Diese Idee aufwerfend Beck (Fn. 250), S. 95. 580  Beck (Fn. 250), S. 95. 581  Siehe oben B. I.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Konkurrenzverhältnis“582 zwischen Bund und Ländern geschaffen.583 Eine Beschränkung darf also keinesfalls soweit gehen, dass der Grundgedanke dieser Kompetenzart unterlaufen wird.584 Genau das wäre aber die Konsequenz einer Einschränkung der Abweichungsbefugnisse auf Grund der Furcht vor einer „Ping-Pong-Gesetzgebung“585. Das Gebot der Bundestreue fragt nicht, wie der Bundesstaat am besten funktionieren könnte, sondern will lediglich sicherstellen, dass sich Bund und Länder in ihrer Kompetenz­ ausübung nicht gegenseitig blockieren.586 Auch das Bundesverfassungsgericht reduziert seine Prüfung in Hinblick auf das Prinzip der Bundestreue auf eine bloße Evidenzkontrolle, demnach auf die Prüfung „der Einhaltung äußerster Grenzen“587.588 Nur im Falle einer offensichtlich zweckwidrigen Inanspruchnahme der Abweichungsgesetzgebungsbefugnis kann folglich aus dem Gebot der Bundestreue eine Schranke für die Kompetenzausübung hergeleitet werden.589

IX. Synopsen Auch die von einigen Landesministerien veröffentlichten Synopsen590 stellen kein milderes Mittel gegenüber einer verfassungsrechtlich verankerten Zitierpflicht dar. Erklärtes Anliegen dieser Synopsen etwa in Form einer Broschüre ist es, die in dem jeweiligen Bundesland geltenden „Normen verständlich und lesbar“ darzustellen, um so „Hilfestellung für den interessierten Rechtsanwender und Bürger“ zu leisten.591 Die Darstellung von Bundes- und Landesrecht erfolgt in den genannten Broschüren592 ganz un582  Siehe

oben Kapitel 2. B. II. 4. a). auch Beck (Fn. 250), S. 95. 584  Trute (Fn. 280), S. 58. 585  Zur Begrifflichkeit siehe oben unter B. I. und Fn. 262. 586  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 74. 587  BVerfGE 4, 115, 141; 81, 310, 337; 104, 249, 270. 588  Jestaedt (Fn. 569), § 29 Rn. 77. 589  Trute (Fn. 280), S. 58. 590  Vgl. etwa Bayrisches Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit, Bayrisches Naturschutzrecht 2011 (http: /  / www.regierung.mittelfranken.bayern.de / aufg_ abt / abt8 / SG51_Bayerisches_Naturschutzrecht.pdf (07.10.16)); Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft Sachsen, Naturschutzrecht in Sachsen 2014, (https: /  / pu blikationen.sachsen.de / bdb / artikel / 10792 (09.06. 15)); Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein, Naturschutzrecht für Schleswig-Holstein, Juli 2010, (http: /  / www.schleswigholstein.de / DE / Lan desregierung / V / Service / Broschueren / Broschueren_V / Umwelt / pdf / Naturschutz recht_SH.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (09.06.15)). 591  Vgl. Bayrisches Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit (Fn. 590), S. 3. 592  Siehe Fn. 590. 583  So



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot239

terschiedlich. In der Synopse zum sächsischen Naturschutzrecht wird beispielsweise auf dem auch in Sachsen geltenden Bundesnaturschutzgesetz aufgesetzt.593 „Beim anschließenden Lesen der Kapitel ist mit der jeweiligen Regelung im Bundesnaturschutzgesetz zu beginnen. Die sich auf diese ­Regelung beziehenden Bestimmungen des Landesnaturschutzgesetzes sind farblich abgesetzt nach den entsprechenden Bundesvorschriften aufgeführt. Auf diese Weise wird das ergänzende oder abweichende Landesrecht dargestellt.“594 Selbst wenn diese Darstellungen für die Erfassung des Zusammenwirkens von Bundes- und Landesrecht tatsächlich dienlich sind, bieten sie nichts weiter als eine bloße „Orientierungshilfe für Adressaten und Rechtsanwender“595. Sie können als Verwaltungsansicht der sie ausarbeitenden Behörde qualifiziert werden und verhalten sich lediglich zur „Anwendbarkeit“ hingegen nicht zur konkreten Auslegung des jeweiligen Gesetzes.596 Dies verwundert kaum, ist doch die Auslegung von Gesetzen Aufgabe der Gerichte.597 Die Synopsen erlangen mithin keine verbindliche Außenwirkung.598 Der Bürger kann sich auf ihren Inhalt nicht berufen. Eine im jeweiligen Gesetz erfolgende Zitierung599 macht dagegen den Willen des Parlaments zur Abweichung außenverbindlich erkennbar. Dieser in der Zitierung manifestierte Wille des Parlaments geht mit bedeutsamem Gewicht in die objektive Auslegung eines Gerichts mit ein.600

X. Mehr Unklarheit durch ein Zitiergebot? Einem Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung wird weiterhin entgegengehalten, es sorge im Zusammenwirken mit Regelungsvorbehalten des Bundes entgegen seinem verfassungsrechtlichen Auftrag, für mehr Klarheit zu sorgen, für noch mehr Unsicherheit.601 So weicht beispielsweise § 8 593  Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft Sachsen (Fn. 590), S. 4. Seit der Föderalismusreform 2006 hat der Bund gemäß Art. 72 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG eine konkurrierende Vollgesetzgebungskompetenz für ­„Naturschutz und Landschaftspflege“. 594  Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft Sachsen (Fn. 590), S. 4. 595  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 165. 596  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 165. 597  Siehe oben D. IV. 1. 598  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 165. 599  Zur Ausgestaltung der Zitierpflicht siehe unten E. 600  Ähnlich zu den Mitteilungen im Bundesgesetzblatt siehe oben D. IV. 1. 601  In diese Richtung weisend Kirchhof (Fn. 300), S. 67, der allerdings lediglich auf die Problematik der Bestimmung der Art der Abweichung abstellt. „Wenn zum Beispiel ein Bundesgesetz in irgendeinem Bereich vorschreibt, dass der Bund Leistungen zu gewähren hat, und in einem Landesgesetz geregelt ist, dass diese Leistung nur auf Antrag erbracht wird, dann stellt sich die Frage, ob das eine Abweichung,

240

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Abs. 1 BremNatG602 nicht von Bundesrecht im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG ab, obgleich die Vorschrift dies mit ihrem Wortlaut „Abweichend von § 17 Absatz 1 des Bundesnaturschutzgesetzes (…)“ nahelegt.603 Der Bremer Landesgesetzgeber hat vielmehr lediglich von der in § 17 Abs. 1 BNatSchG niedergelegten Möglichkeit Gebrauch gemacht, weitergehende landesrechtliche Regelungen zu treffen.604 Eventuelle Fehldeutungen des gesetzlichen Inhalts kommen indes nicht nur auf Ebene der Länder, sondern auch auf der des Bundes in Betracht. So stellt auch die Formulierung in § 66 Abs. 5  BNatSchG605 eine ungewollte Nähe zum neuen Kompetenztyp der Abweichungsgesetzgebung her.606 Diese Beispiele zeigen, dass die Kennzeichnung einer Abweichung im Landesrecht womöglich eine Verwechslung mit bundesgesetzlichen Regelungsvorbehalten und ihrer Inanspruchnahme heraufbeschwört. Die beschriebene Problematik beruht ihrem Grunde nach auf dem neu austarierten Verhältnis der Bundes- und Landesgesetzgebungskompetenzen in Art. 72 GG. Die Abweichungsgesetzgebungsbefugnis der Länder in Absatz 3 ist als Unterfall der konkurrierenden Gesetzgebung nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit Absatz 1 zu sehen.607 Solange und soweit der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz in Art. 72 Abs. 1 GG keinen erschöpfenden Gebrauch macht, können die Länder gesetzgeberisch tätig werden und üben dabei ihre Kompetenz aus Art. 72 Abs. 1 GG aus. Macht der Bund allerdings umfänglich von seiner Befugnis Gebrauch, können die Länder gemäß Art. 72 Abs. 3 GG vom Bundesrecht abweichende Regelungen treffen. Der Bund kann mithin den Umfang seines Gebrauchmachens variieren; er kann innerhalb ein und desselben Gesetzes erschöpfende und nicht erschöpfende Regelungen treffen,608 um so beiein Zusatz, eine Konkretisierung oder eine Änderung ist. Ich weiß nicht, ob diese unklaren Sachverhalte durch das Etikett irgendwie klarer werden.“ 602  Bremisches Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege v. 27.04.2010, BremGBl. 2010, 315. 603  § 8 Abs. 1 BremNatG lautet vollständig: „Abweichend von § 17 Absatz 1 des Bundesnaturschutzgesetzes trifft die zuständige Behörde bei Eingriffen, die im Sinne des § 17 Absatz 4 Sätze 3 bis 5 des Bundesnaturschutzgesetzes aufgrund eines nach öffentlichem Recht vorgesehenen Fachplans vorgenommen werden sollen, die zur Durchführung des § 15 Absatz 2 des Bundesnaturschutzgesetzes erforderlichen Entscheidungen und Maßnahmen im Einvernehmen mit der ihr gleichgeordneten Naturschutzbehörde.“ Zu diesem Beispiel vgl. Schütte / Kattau (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 355. 604  Schütte / Kattau (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 355. 605  § 66 Abs. 5 BNatSchG in der Fassung vom 29.07.2009, BGBl I 2009, 2542 lautet: „Abweichende Vorschriften der Länder bleiben unberührt.“ 606  Dazu Heinze, Die Neuregelung des § 66 BNatSchG und das Vorkaufsrecht nach § 36 a LG NRW, RNotZ 2010, 388 ff. 607  Heinze (Fn. 606) RNotZ 2010, 388, 389 f. Siehe dazu ebenso oben unter C. I. 1. 608  Heinze (Fn. 606), RNotZ 2010, 388, 390.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot241

spielsweise regionale Eigenheiten auf Landesebene zuzulassen. Die Reichweite des jeweiligen Bundesrechts wird durch Auslegung ermittelt.609 Bundesrechtliche Regelungsvorbehalte können in Form von Ermächtigungen610 oder Öffnungsklauseln611 normiert sein.612 Wird also im Landesrecht die Formulierung „abweichend von § (…)“ gewählt, kann es sich dabei um die Inanspruchnahme eines bundesrechtlichen Regelungsvorbehalts und damit um eine Kompetenzausübung des Landes nach Art. 72 Abs. 1 GG handeln, oder der Landesgesetzgeber macht von seiner Abweichungsbefugnis in Art. 72 Abs. 3 GG Gebrauch und stellt dies mittels einer Zitierung klar. Eine formale Verwechslungsgefahr besteht folglich tatsächlich. Darin allerdings eine Verwischung der „Grenzen der Verantwortungsebenen zwischen den Gesetzgebern (…) bis zur Unkenntlichkeit“613 zu sehen, erscheint nicht angemessen. Denn die Ermittlung der Rechtslage auf dem Feld der Abweichungsmaterien beginnt gedanklich immer mit der Frage, ob ein Bundesgesetz bzw. eine bundesrechtliche Regelung existiert.614 Das ergibt sich schon aus der Systematik des Art. 72 GG mit dem Zusammenspiel von Absatz 1 und Absatz 3. Erst im Anschluss wird denklogisch gefragt, ob es zu dieser 609  BVerfGE

390.

98, 265, 300; 109, 190, 229; Heinze (Fn. 606), RNotZ 2010, 388,

610  Ermächtigungen sind z. B. an den Formulierungen „werden ermächtigt“ oder „können vorsehen“ zu erkennen. Vgl. Schütte / Kattau (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 356. 611  Für Öffnungsklauseln können folgende Formulierungen gewählt werden: „richtet sich nach Landesrecht“, „soweit nicht nach Landesrecht anderweitig vorgeschrieben“ oder „die nach Landesrecht zuständige Behörde“. Vgl. Schütte / Kattau (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 356. Zu den Öffnungsklauseln siehe auch Reinhardt (Fn. 262), AöR 135 (2010), S. 459, 492 ff. und Faßbender, Das neue Wasserhaushaltsgesetz, ZUR 2010, 181, 184 ff. 612  Unberührtheitsklauseln wie „Abweichendes Landesrecht bleibt unberührt.“ betreffen nicht die Abweichungsgesetzgebungsbefugnis aus Art. 72 Abs. 3 GG, sondern bereits vor Neuerlass der Bundesgesetze als Vollregelungen bestehende Landesgesetze. Vgl. Kothe (Fn. 302), VBlBW 2012, 58, 59; Heinze (Fn. 606), RNotZ 2010, 388, 389 f.; Schütte / Kattau (Fn. 270), ZUR 2010, 353, 356. 613  So Kothe (Fn. 302), VBlBW 2012, 58, 60, der dafür plädiert in § 38 Abs. 3 S. 3 WHG (Wasserhaushaltsgesetz v. 31.07.2009, BGBl I 2009, S. 2585): „Die Länder können von den Sätzen 1 und 2 abweichende Regelungen erlassen.“ eine abschließende Regelung hinsichtlich der „Breite und den Bezugspunkt für die Festlegung des Maßes“ von Gewässerrandstreifen zu sehen. Daher könne von dieser Bundesnorm auch nur im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG abgewichen werden. A.a. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16 / 12275, S. 62 „Die Regelung stellt klar, dass der Bund insoweit die ihm zustehende Gesetzgebungszuständigkeit nicht in vollem Umfang ausschöpft (Artikel 72 Absatz 1 GG).“; ebenso Faßbender (Fn. 611), ZUR 2010, 181, 186 und Seeliger / Wrede, Zum neuen Wasserhaushaltsgesetz, NUR 2009, 679, 686. 614  Siehe oben B. II.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Bundesregelung eine landesrechtliche Abweichung gibt.615 Assoziiert demnach der Leser mit dem Adjektiv „abweichend“ im Gesetz naheliegender Weise die Abweichungsgesetzgebung aus Art. 72 Abs. 3 GG, wird er zur Ermittlung des Inhalts und der Reichweite der Abweichung das Bundesgesetz heranziehen müssen. Ist ein Blick in das Bundesgesetz somit unabdingbar, wird der versierte Leser auch erkennen, ob das Bundesrecht bestimmte Bereiche für die Länder freigegeben hat oder eben nicht, so dass es sich im letzteren Fall bei der durch ein Zitat kenntlich gemachten Abweichung auch nur um eine solche handeln kann, die auf Art. 72 Abs. 3 GG beruht. Die auf den ersten Blick bestehende Verwechslungsgefahr erweist sich also bei Licht besehen als überwindbar, bezieht man den gesamten Prozess der Ermittlung der Rechtslage mit ein. In Zukunft könnte die formale Verwechslungsgefahr beispielsweise dadurch vermieden werden, dass die Länder nach dem Vorbild des schleswig-holsteinischen Wassergesetzes616 für die Inanspruchnahme von Regelungsvorbehalten die Formulierung „zu § (…)“ und für Abweichungen die Formulierung „abweichend von § (…)“ wählen.617

XI. Gefahr der Überforderung des Gesetzgebers? Mit einem Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung gehen auch keine überzogenen Forderungen an den jeweiligen Gesetzgeber einher. 1949 wurde bei Einführung eines Zitiergebots für Grundrechtseingriffe mitunter noch behauptet, damit sei eine „sehr weitgehende Fesselung des Gesetzgebers“618 verbunden. Zwar handelt es sich bei dem Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung anders als bei Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG um ein ungeschriebenes, dennoch ebenso um ein verfassungsrechtlich verankertes Gebot. Grundlegende Bedenken, die 1949 bei Einführung der Zitiergebote in Art. 19 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG geäußert wurden, verfügen daher im Rahmen der Analyse eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung über erneute Aktualität. Ähnlich wie bei Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG müsste also der abweichende Gesetzgeber bei jedem Gesetz erwägen, ob Abweichungen vorliegen und falls dies der Fall ist, diese genau kennzeichnen619.620 Aus diesem Grund wurde bereits 1949 behauptet, Zitierpflichten würden die Arbeit des Gesetz615  Siehe

oben B. II. des Landes Schleswig-Holstein v. 11.02.2008, GVBl. 2008, 91. 617  Mohr, Wasserwirtschaft und novelliertes Wasserrecht in Schleswig-Holstein, NordÖR 2011, 474, 475. 618  Siehe oben Kapitel 3. A. I. 619  Zur Ausgestaltung des Zitiergebots siehe unter E. 620  Siehe oben zum geschichtlichen Hintergrund des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG unter Kapitel 3. A. I. 616  Wassergesetz



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot243

gebers unnötigerweise erschweren.621 Wenn der Gesetzgeber ein dringendes Gesetz mache, könne er nicht alles von vornherein übersehen.622 Wie schon 1949 kann auch den Einwänden gegen eine Zitierpflicht für die Abweichungsgesetzgebung entgegengehalten werden, dass der Gesetzgeber als Erzeuger bzw. Urheber seines eigenen Gesetzes am ehesten in der Lage ist, sein Werk auf Abweichungen hin zu überprüfen,623 schließlich stammt das Gesetz aus seiner Sphäre. Keinesfalls darf dieser Vorgang in Anbetracht der eventuell entstehenden Gemengelage von Bundes- und Landesrecht auf den Bürger abgewälzt werden.624 Weiterhin verlangt der Grundsatz der Gewaltenteilung, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber alle „wesentlichen“ Entscheidungen selbst trifft,625 und somit für diese auch die Verantwortung übernimmt. Hierzu gehört auch die Bestimmung des Inhalts eines Gesetzes, der durch eine Zitierung klargestellt wird. Der Gesetzgeber darf folglich die Benennung einer Abweichung neben dem Bürger auch nicht auf die Gerichte auslagern. Zwar entscheiden die Gerichte letztverbindlich über die Auslegung und damit über den Inhalt von Gesetzen.626 Dies geschieht allerdings auf Grund ihrer Kontrollfunktion im gewaltengeteilten Staatsgefüge.627 Über eine Gestaltungsfunktion, wie sie dem Gesetzgeber zukommt,628 verfügen die Gerichte – bis auf die Fälle richterlicher Rechtsfortbildung – grundsätzlich nicht. Außerdem würde eine Gerichtsentscheidung das Vorliegen einer Abweichung nur für den Einzelfall und nicht, wie bei der Befolgung eines Zitiergebots im Gesetz, allgemeinverbindlich klären. Schließlich ist dem Rechtsunterworfenen angesichts des drohenden „Normenwirrwarrs“629 auch nicht zuzumuten, das Ende eines gerichtlichen Prozesses abzuwarten, bis seine Rechtslage geklärt ist. Vielmehr muss er den Rechtsbefehl bereits dem Gesetz entnehmen können, damit er sein Verhalten daran auszurichten vermag. Durch das Erfordernis einer Zitierung wird der Gesetzgeber mithin stärker in die Pflicht genommen, den Inhalt seines Gesetzes zu präzisieren.630 621  Siehe oben zum geschichtlichen Hintergrund des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG unter Kapitel 3. A. I. 622  Siehe oben zum geschichtlichen Hintergrund des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG unter Kapitel 3. A. I. 623  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 3. a) aa) B. III. 2. 624  Siehe oben unter B und unter Kapitel 3. B. III. 3. 625  Di Fabio, Gewaltenteilung, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 3. Auflage, 2004, § 27 Rn. 19. 626  Siehe oben unter D. IV. 1. und unter Kapitel 3. A. II. 4. a). 627  Di Fabio (Fn. 625), § 27 Rn. 25 ff. 628  Di Fabio (Fn. 625), § 27 Rn. 18 ff. 629  Haug (Fn. 394), DÖV 2008, 851, 852. 630  Trute (Fn. 150), Die Verwaltung 2009, 85, 89 Fn. 28 unter der Überschrift „Re-Parlamentarisierung durch die Gebote der Normenbestimmtheit und Normenklarheit“.

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Schlussendlich erwächst das Problem einer eventuellen Überforderung eigentlich nicht aus der Zitierpflicht selbst, sondern beruht auf dem „neuen“ grundgesetzlichen Kompetenzgefüge, betrifft es doch das Auffinden und die Festlegung des Gesetzgebers auf Abweichungen. Eine potentielle Überforderung des Gesetzgebers mit dem Zitiergebot bringt mithin lediglich die Schwierigkeit des Umgangs mit gesetzlichen Mischlagen, die in der Abweichungsgesetzgebung angelegt sind, zu Tage.

XII. Einschränkung der Gesetzgebungskompetenz Einem Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung wird weiterhin entgegengehalten, es schränke die vom Grundgesetz eingeräumte Gesetzgebungsbefugnis unzulässiger Weise ein.631 Es komme lediglich auf die Zuweisung einer Kompetenz an.632 Ein darüber hinausgehendes Bewusstsein des Gesetzgebers über die Abweichung633 sei nicht erforderlich, werde aber über den Umweg einer Zitierpflicht eingeführt.634 Diese Ansicht will mithin lediglich den materiellen Gehalt einer Abweichung kompetentiell gedeckt wissen, die Nennung der überregelten Norm sei hierfür überflüssig. Zu diesem Ergebnis gelangt man, wenn man an die Ausübung der Abweichungsgesetzgebungskompetenz lediglich Anforderungen des Gesetzmäßigkeits- bzw. Verfassungsmäßigkeitsprinzips im Sinne von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes stellt und Rechtsschutzerwägungen dabei ausblendet. Wie allerdings schon die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Hennenhaltungsverordnung635 aus dem Jahr 1999 zeigt, reicht die Deckung des materiellen Gehalts von Rechtsetzung nicht in jedem Fall aus, sondern es bedarf darüber hinaus beispielsweise der Nennung sämtlicher Ermächtigungsnormen in einem verordnungsrechtlichen Zitat nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG, wenn Rechtsschutzerwägungen dies erfordern.636 Das Bundesverfassungsgericht führte in der erwähnten Entscheidung zu diesem Aspekt folgendes aus: 631  In diesem Sinne Classen (Fn. 1), S. 14. Ähnlich Hager (Fn. 255), BauR 2012, 31, 34: „Der Gesetzgeber darf in seiner Gestaltungsbefugnis nicht vorschnell beschränkt werden.“ 632  Classen (Fn. 1), S. 14. 633  Zur Frage, ob es sich beim Abweichungswillen um eine konstitutive Voraussetzung für die Abweichungsgesetzgebung handelt, siehe unten Kapitel 6. B. 634  Classen (Fn. 1), S. 14. 635  Verordnung zum Schutz von Legehennen bei Käfighaltung (Hennenhaltungsverordnung) vom 10. Dezember 1987, BGBl. I, S. 2622. 636  BVerfGE 101, 1, 41 ff. Zu dieser Entscheidung und ihren Anforderungen an die Angabe einer Rechtsgrundlage im Sinne des Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG siehe oben unter Kapitel 3. B. III. 3.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot245 „Das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG soll nicht nur die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage kenntlich und damit auffindbar machen. […] Es soll auch die Feststellung ermöglichen, ob der Verordnunggeber beim Erlaß der Regelungen von einer gesetzlichen Ermächtigung überhaupt Gebrauch machen wollte. Es kommt daher nicht nur darauf an, ob sie sich überhaupt im Rahmen der delegierten Rechtssetzungsgewalt bewegt, vielmehr muß sich die in Anspruch genommene Rechtssetzungsbefugnis gerade aus den von ihr selbst angeführten Vorschriften ergeben. Außerdem dient Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG der Offenlegung des Ermächtigungsrahmens gegenüber dem Adressaten der Verordnung. Das soll ihm die Kontrolle ermöglichen, ob die Verordnung mit dem ermächtigenden Gesetz übereinstimmt. Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG statuiert insoweit ein rechtsstaatliches Formerfordernis, das die Prüfung erleichtern soll, ob sich der Verordnunggeber beim Erlaß der Verordnung im Rahmen der ihm erteilten Ermächtigung gehalten hat […] Hiervon ausgehend muß eine Verordnung, die auf mehreren Ermächtigungsgrundlagen beruht, diese vollständig zitieren und bei inhaltlicher Überschneidung mehrerer Ermächtigungsgrundlagen diese gemeinsam ange­ben.“637

Bei der in Rede stehenden Hennenhaltungsverordnung handelt es sich zwar um den Verordnungsgeber, mithin um die Exekutive, die nach Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG einer umfassenden Klarstellungspflicht unterzogen wird, wohingegen sich eine Zitierpflicht für die Abweichungsgesetzgebung an den unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgeber richtet. Dennoch beruhen Verordnungen auf delegierter Legislativgewalt, so dass eine Vergleichbarkeit nicht von der Hand zu weisen ist. Wie bereits mehrfach erwähnt wurde, sind im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung unübersichtliche Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht jedenfalls normativ angelegt.638 Diese Gemengelagen können ein solches Ausmaß annehmen, dass es für den Rechtsunterworfenen nahezu unmöglich sein dürfte, seine Rechtslage zu bestimmen.639 Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips verlangt aber, dass der Betroffene seine Rechtsansprüche sachgerecht verfolgen können muss.640 Dies wird ihm nur gelingen, wenn er einschätzen kann, ob und mit welcher Argumentation ein Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat.641 Er muss mithin nicht nur den Inhalt einer Regelung erkennen können, sondern auch ihren kompetentiellen Ursprung, um überprüfen zu können, ob sich die jeweilige Norm an den Rahmen ihrer Ermächtigung gehalten hat.642 Angesichts des normativen Angelegtseins der Abweichungsgesetzgebung zu unübersichtlichen Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht ist dies bei dieser Kompetenzart nur 637  BVerfGE

101, 1, 42. oben unter B. I. 639  Siehe oben unter B. II. 2. 640  Siehe oben Kapitel 3. B. II. 3. 641  Siehe oben Kapitel 3. B. II. 3. 642  Vgl. BVerfGE 101, 1, 42 für das Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG. 638  Siehe

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

möglich, wenn für ihre Ausübung eine weitgehende Kompensation mitgedacht wird.643 Als Mittel der Kompensation wird in dieser Arbeit ein Zitiergebot vorgeschlagen. Es dient in diesem speziellen Zusammenhang der Offenlegung der gezielten Betätigung einer grundgesetzlichen Kompetenznorm und ihres Ermächtigungsrahmens gegenüber dem Rechtsunterworfenen644. Dass eine abweichende Regelung somit überhaupt von einer grundgesetzlichen Kompetenz gedeckt ist, genügt rechtsstaatlichen Anforderungen nicht.645 Vielmehr stellt auch das vorgeschlagene Zitiergebot „ein notwendiges Korrelat des Gesetzmäßigkeitsprinzips, der Rechtsschutzgarantie sowie der gerichtlichen Gewaltenkontrolle dar“646.

XIII. Problem der Gewaltenteilung In Anlehnung an die Diskussion um die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG647 könnte auch einem Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung entgegengehalten werden, es verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, denn der Gesetzgeber binde mit dem Zitat die anderen Gewalten.648 Insbesondere Befürworter einer authentischen Interpretation gesetzlicher Regelungen649 würden zu der Einschätzung gelangen, die auf Grund des Zitats klargestellte Interpretation des Gesetzgebers sei für die anderen Gewalten verbindlich. Das Institut „authentischer Interpretation“ hat bis heute weder eine einheitliche Definition erfahren,650 noch kommt es nur in einem speziellen Kontext vor.651 Vielmehr wird es auf vielfältige Weise verwendet, etwa im Völker-652 und Tarifvertragsrecht653, 643  Siehe

oben unter B. II. 2. oben unter C. I. 1. und BVerfGE 101, 1, 42. 645  Für das Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Bartelsperger, Zur Konkretisierung verfassungsrechtlicher Strukturprinzipien, VerwArch 58 (1967), 249, 271 / 272. 646  Für das Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG Bartelsperger (Fn. 645), Verw­ Arch 58 (1967), 249, 272. 647  Siehe oben Kapitel 3. A. II. 4. a). 648  Zu dieser Problematik für das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG siehe Bethge, Probleme des Zitiergebots in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, DVBl 1972, 365, 366. 649  Droste-Lehnen, Die authentische Interpretation, 1990; Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR 119 (1994), S. 61 ff.; Besprechung beider bei Meyer, Authentische Interpretation oder Rückbewirkung von Rechtsfolgen, in: v.  Wulffen / Krasney (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundessozialgericht, 2004, S. 221, 232 ff. 650  Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 288 ff. 651  Meyer (Fn. 649), S. 221. 652  Z. B. Schöneweiß, Die Parlamentarische Kontrolle der authentischen Vertragsauslegung im Völkerrecht, 2002. 653  Z. B. Houben, Die Rückwirkung von Tarifverträgen, 2006. 644  Siehe



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot247

wenn sich Vertragsparteien auf eine bestimmte Interpretation ihrer Vereinbarung einigen.654 „Von einer juristischen, authentischen Interpretation im weitesten Sinne kann man sprechen, wenn der Verfasser eines Normtextes oder der Urheber einer rechtserheblichen Handlung erklärt, er stelle den rechtlichen Sinn seines Textes oder seiner Handlung klar.“655 In nicht wenigen Fällen, in denen eine authentische Interpretation des Gesetzgebers in Rede steht, häufig auf dem Feld des Sozialrechts, stellt eine spätere Norm den Inhalt einer Ursprungsnorm klar, und löst damit eine Rückwirkungsproblematik aus.656 Dem Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung wird dagegen bereits in der Ursprungsnorm Folge geleistet,657 so dass es an der Vergleichbarkeit beider Situationen mangeln könnte. Dennoch handelt es sich auch bei dem Zitat der überregelten Norm um eine Art Nachschub des Gesetzgebers, in dem er den Inhalt einer Norm präzisiert.658 Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit bereits mehrfach betont, der Gesetzgeber habe keinen Anspruch auf authentische Interpretation seiner Regelungen.659 Dies auch nicht ohne Grund, handelt es sich bei dem Institut doch um „ein Kind des Absolutismus“660, das in Zeiten von Gewaltenteilung und parlamentarischen Volksvertretungen nicht mehr ohne weiteres zur Anwendung gelangen kann.661 Dennoch gibt es auch heute noch Befürwor654  Meyer

(Fn. 649), S. 221 / 222. (Fn. 649), S. 221. In diesem Sinne auch Schnapp, Unbegrenzte Nachbesserung von Gesetzen bei unklarer und verworrener Rechtslage?, JZ 2011, 1125, 1128. 656  U. a. BVerfGE 18, 429 ff.; 126, 369, 392; 131, 20, 37, BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013  – 1 BvL 5 / 08  – juris Rn. 48 ff.; Meyer (Fn. 649), S. 221, 226; Grabau, Über die Normen zur Gesetzes- und Vertragsinterpretation, 1990, S. 142 ff.; Schnapp (Fn. 655), JZ 2011, 1125, 1128. In der Entscheidung des BVerfG zum Fremdrentengesetz (BVerfGE 126, 369, 392) heißt es: „Die in Anspruch genommene Befugnis des Gesetzgebers zur authentische Interpretation ist für die rechtsprechende Gewalt nicht verbindlich. Sie schränkt weder die Kontrollrechte und -pflichten der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichtes ein noch relativiert sie die verfassungsrechtlichen Maßstäbe.“ 657  Zur Ausgestaltung des Zitiergebots siehe unten E. 658  Trute (Fn. 150), Die Verwaltung 2009, 85, 89 Fn. 28. 659  U. a. BVerfGE 126, 369, 392; 131, 20, 37, BVerfG, Beschl. v. 17.12.2013 – 1  BvL 5 / 08  – juris Rn. 48 ff. Kritisch zur letztgenannten Entscheidung Lepsius (Fn. 502), JZ 2014, 488 ff. 660  Zitat bei Lukas, Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Festschrift für Paul Laband, Bd. I, 1908, S. 397, 406; Droste-Lehnen (Fn. 649), S. 35 ff.; Meyer (Fn. 649), S. 221, 234; Schnapp (Fn. 655), JZ 2011, 1125, 1128. 661  Schnapp (Fn. 655), JZ 2011, 1125, 1128. Thoma, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung, in: Anschütz / Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, § 76 S. 222 / 235; Schneider, Zur authentischen Interpretation von Gesetzen, in: Bern655  Meyer

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

ter einer authentischen Interpretation,662 deren Argumente an überkommene Herrschaftsformen anknüpfen.663 In Anlehnung an den Monarchen als „Quelle allen Rechts“664 gehen sie von einer „Souveränität“665 der Legislativgewalt aus, die die anderen Gewalten übertrumpfe.666 Die „Letztentscheidungskompetenz über den Sinngehalt von Gesetzen liege immer“ beim Gesetzgeber.667 Begründet wird diese „Parlamentssuprematie“668 u. a. mit dem Vorrang des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG669, mitunter auch mit der unmittelbar, demokratischen Legitimation der Legislativgewalt670. Wie bereits angedeutet wurde, ist diese Einschätzung allerdings mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung nicht vereinbar, verkennt sie doch mit der Emporhebung einer Gewalt das ausbalancierte Zusammenspiel von Demokratie und Rechtsstaat, wie es etwa in den Aufgaben- und Kompetenzzuweisungen der Art. 30, 72 f., 83 ff., 92 ff. GG seinen Niederschlag gefunden hat.671 Die Kompetenzen des Parlaments ergeben sich mithin – wie die der anderen hardt / Geck / Jaenicke / Steinberger (Hrsg.), Völkerrecht als Rechtsordnung, internatio­ nale Gerichtsbarkeit, Menschenrechte, Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S. 849, 854. 662  Siehe Fn. 649. 663  Meyer (Fn. 649), S. 221, 233; Schnapp (Fn. 655), JZ 2011, 1125, 1128; Z. B. Grabau, Der Gesetzgeber als Norminterpret, Rechtstheorie 23 (1992), S. 343, 344 ff.: „Bekanntlich waren im 17. und 18. Jahrhundert die absolutistisch regierenden Mo­ narchen alleinige Inhaber der Rechtssetzungsbefugnis (potestas legislatoria) sowie gleichzeitig höchste Verwaltungsbeamte und oberste Richter in einer Person. Die Zeitgenossen sahen in ihnen vielfach die einzige und ausschließliche Quelle allen Rechts, denen auch die Bestimmung der gesetzlichen Bindungwirkung wie die Feststelllung der ratio legis zu überlassen war. Die Gerichte sprachen zudem nicht nur formell im Namen des absolutistischen Monarchen Recht, sie übten die Rechtsprechung vielmehr stets nach dem Ermessen und im Auftrag des Regenten aus. Auch konnte der Landesherr kraft der ihm zustehenden höchsten Gerichtsgewalt jederzeit in die Ausübung der Gerichtsbarkeit eingreifen, den Richtern Anweisungen erteilen oder selbst Entscheidungen fällen.“ 664  Ancillon, Über den Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung, 1825, S. 43. 665  Zum Begriff der Souveränität Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970, S. 400. Dazu auch Schnapp, Der Verwaltungsvorbehalt, VVDStRL 43 (1985), S. 172, 181. 666  Jesch, Gesetz und Verwaltung, 2. Auflage, 1968, S. 205 spricht von einer „Führungsrolle des Parlamentes“. 667  Butzer (Fn. 649), AöR 119 (1994), S. 61, 93. 668  Schnapp (Fn. 655), JZ 2011, 1125, 1129; Schnapp (Fn. 665), VVDStRL 43 (1985), S. 172, 182. 669  Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1982, S. 265 / 266. 670  Butzer (Fn. 649), AöR 119 (1994), S. 61, 96 / 97. 671  Schnapp (Fn. 655), JZ 2011, 1125, 1128 und 1129; Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 112.



D. Bedenken gegen ein ungeschriebenes Zitiergebot249

Gewalten auch – aus dem Grundgesetz672 und nicht wie etwa die des Monarchen „aus sich heraus“673 bzw. „von Gottes Gnaden“ oder aus der Nähe der Abgeordneten zum „Volkswillen“.674 Es ist mithin ausgeschlossen, „aus dem Grundsatz der parlamentarischen Demokratie einen Vorrang des Parlaments und seiner Entscheidungen gegenüber den anderen Gewalten als einen alle konkreten Kompetenzzuordnungen überspielenden Auslegungsgrundsatz herzuleiten“.675 Parlamentarische Gesetze haben keinen „Verbindlichkeitsanspruch“ gegenüber den anderen beiden Gewalten.676 Die Ausgangsfrage, ob der Gesetzgeber im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung mit einem Zitat der Vorgängernorm die anderen Gewalten an die von ihm gefundene Interpretation der Norm bindet, lässt sich nun also in Anlehnung an die Diskussion um das Zitiergebot in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG677 wie folgt beantworten: Mit einem Zitat manifestiert der Gesetzgeber seinen Willen und seine Einschätzung bzgl. einer Abweichung. Dieser Wille bzw. diese Interpretation sind im Verhältnis zur Exekutive und Judikative aber nicht bindend. Die Deutung des Gesetzgebers unterliegt vielmehr ihrer Rechtskontrolle.678 Denn die Auslegung von Gesetzen ist in einem Rechtsstaat nach Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 97 Abs. 1 GG Aufgabe der Gerichte.679 Sie haben ein uneingeschränktes richterliches Prüfungsrecht, wobei lediglich das Bundesverfassungsgericht zur „Kassation“ von Gesetzen befugt ist.680 Auch die Verwaltung kann das von ihr anzuwendende Gesetz auf seine materielle Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen, eine „Aussetzungs-“ oder gar „Verwerfungskompetenz“ geht mit diesem „exekutivischen Normprüfungsrecht“ gleichwohl nicht einher.681 Macht der Gesetzgeber also eine Abweichung mittels eines Zitats kenntlich, können die anderen Gewalten dennoch zu der gegenteiligen Auffassung gelangen, dass keine Abweichung vorliegt. Im umgekehrten Fall, wenn also der Gesetzgeber hinsichtlich einer Abweichung schweigt,682 dementsprechend auch kein Zitat verwendet, kön672  Meyer

(Fn. 649), S. 235. (Fn. 649), S. 234. 674  St. Rspr. etwa BVerfGE 49, 89, 125. Meyer (Fn. 649), S. 221, 235. 675  BVerfGE 49, 89, 126. 676  Schnapp (Fn. 665), VVDStRL 43 (1985), S. 172, 182. 677  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 4. a). 678  Meyer (Fn. 649), S. 221, 236. 679  Siehe oben unter D. IV. 1. 680  Bethge (Fn.  648), DVBl 1972, 365, 366. Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 4. a). 681  Bethge (Fn. 648), DVBl 1972, 365, 366. Siehe dazu oben unter Kapitel 3. A. II. 4. a). 682  Zum Schweigen des Gesetzgebers in Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG siehe oben Kapitel 3. A. II. 2. 673  Meyer

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Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

nen Verwaltung und Gerichte gleichwohl zu der Einschätzung gelangen, dass eine Abweichung besteht. Auch wenn die anderen beiden Gewalten also nicht an das Bekenntnis des Gesetzgebers zu einer Abweichung gebunden sind, fließt der durch ein Zitat manifestierte Wille des Gesetzgebers im Rahmen der historischen Gesichtspunkte schon auf Grund der Publizität der Zitierung mit beträchtlichem Gewicht in die vom Gericht nach objektiven Kriterien vorgenommene Auslegung mit ein.683 Der Gesetzgeber als die Gewalt, die im gewaltengeteilten System für die Schaffung von Gesetzen zuständig ist, erfährt etwa über die Instrumente der verfassungskonformen Auslegung oder teleologischen Reduktion ausreichenden Schutz. Die Zahl der Fälle, in denen die Gerichte bzw. die Verwaltung zu einer gegenteiligen Auffassung gelangen, dürfte auf Grund der genannten Sicherungsinstrumente, die der Achtung des demokratisch legimierten Gesetzgebers dienen, recht gering sein. Ausgeschlossen sind diese Fälle allerdings nicht. Auch wenn das Zitat des Gesetzgebers somit gegenüber Exekutive und Judikative nicht bindend ist, ist das Zitiergebot „als Direktive des Grundgesetzes an den Gesetzgeber“684 verbindlich, ergibt es sich doch aus den verfassungsrecht­ lichen Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie685. Schlussendlich bleibt festzuhalten, dass die Zitierpflicht mit keinem Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung einhergeht.

E. Konkrete Ausgestaltung eines Zitiergebots Seit Einführung der Abweichungsgesetzgebungskompetenz im Jahr 2006 haben die Länder von ihrem Zugriffsrecht auf einigen Gebieten regen, auf anderen eher geringeren Gebrauch gemacht. Insbesondere auf dem Feld des Naturschutzrechts hat es bereits Gesetzgebungstätigkeiten von fast allen Ländern gegeben.686 Aber auch hinsichtlich der anderen Materien nutzen die Länder bereits ihre „neuen“ Möglichkeiten zur Gesetzgebung.687 Auffällig ist dabei, dass die Länder – auch ohne ein im Grundgesetz verschriftlichtes Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung – ein solches bereits weitgehend befolgen. So erfolgt ein Hinweis auf die überregelte Bundesnorm entweder in 683  Siehe

oben D. IV. 1. (Fn. 648), DVBl 1972, 365, 366. 685  Zum Demokratieprinzip siehe Kapitel 5. 686  Dazu v. Stackelberg (Fn. 3), S. 139 ff. 687  Bayrisches Landesplanungsgesetz v. 25.06.2012, BayLplG, GVBl. 2012 S. 254; Niedersächsisches Wassergesetz v. 19.02.2010, GVBl. 2010, S. 64; Bayrisches Wassergesetz v. 25.02.2010, GVBl. 2010, S. 66; Landeshochschulgesetz MV v. 25.01.2011, GVBl. 2011, S. 18; Landesjagdgesetz SH v. 13.10.1999, GVBl. 1999, S. 300. 684  Bethge



E. Konkrete Ausgestaltung eines Zitiergebots251

der jeweiligen Paragraphenüberschrift688 oder auch im eigentlichen Normtext689. Allerdings gibt es auch abweichendes Landesrecht, das jeglichen Hinweis auf das überregelte Bundesrecht vermissen lässt.690 Dabei ist zu unterscheiden zwischen solchem Landesrecht, das zumindest in der Gesetzesbegründung auf Abweichungen hinweist691 und jenem, bei dem selbst der Gesetzesbegründung nicht zu entnehmen ist, dass es sich bei bestimmten landesrechtlichen Vorschriften um Abweichungen im Sinne des Art. 72 Abs. 3 GG handelt.692 Theoretisch denkbar – in der Praxis jedoch, soweit ersichtlich, nicht im Einsatz – sind außerdem Sammelzitate oder sogenannte salvatorische Klauseln. Letztere bestimmen pauschal, dass insoweit, als Regelungen des Landesrechts „nicht mit dem Bundesrecht übereinstimmen, vom Abweichungsrecht Gebrauch gemacht wird“.693 Welche dieser Gestalungsformen mit dem oben entfalteten Zitiergebot694 vereinbar sind, hängt, wie bei den geschriebenen Zitiergeboten in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG695 auch, davon ab, ob sie den geschilderten Funktionen696 des ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung gerecht werden.

I. Ort der Zitierung Hinsichtlich der Platzierung des Zitats gelten für das Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung dieselben Maßstäbe wie für die geschriebenen Zitiergebote in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 3 688  Bayrisches Naturschutzgesetz v. 23.02.2011, BayNatSchG, GVBl. 2011, S. 82; Bayrisches Wassergesetz v. 25.02.2010, BayWG, GVBl. 2010, S. 66; Hessisches Ausführungsgesetz zum Bundesnaturschutzgesetz v. 20.12.2010, HAGB­ NatSchG, GVBl. I 2010, S. 629. 689  Hamburgisches Gesetz zur Ausführung des Bundesnaturschutzgesetzes v. 11.05.2010, HmbBNatSchAG, HmbGVBl. 2010, S. 350; Gesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Ausführung des Bundesnaturschutzgesetzes, v. 23.02.2010, NatSchAG M-V, GVBl. M-V 2010, S. 66; Niedersächsisches Ausführungsgesetz zum Bundesnaturschutzgesetz, v. 19.02.2010, NAGBNatSchG, Nds. GVBl. 2010, S. 104; Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege im Freistaat Sachsen, v. 06.06.2013, SächsNatSchG, SächsGVBl. 2013, S. 451. 690  Vgl. etwa Gesetz zur Sicherung des Naturhaushalts und zur Entwicklung der Landschaft Nordrhein-Westfalen, v. 21.07.2000, LG NW, GV. NRW. 2000, S. 568; Landeshochschulgesetz Mecklenburg-Vorpommern v. 25.01.2011, LHG M-V, GVBl. 2011, S. 18. 691  Vgl. etwa LG NRW, LT-NRW, Drs. 14 / 10149, S. 49, 52. 692  So z. B. für § 41 LHG-MV in LT-Drs. 5 / 3981, S. 131, 156. 693  Fischer-Hüftle (Fn. 252), NuR 2007, 78, 80. Dazu auch Franzius (Fn. 257), NVwZ 2008, 492, 495 und Kirchhof (Fn. 300), S. 67. 694  Siehe oben unter C. 695  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 3 und B. III. 696  Siehe dazu oben unter C. II.

252

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

GG.697 Hinweise auf eine Abweichung in der Gesetzesbegründung, Verkündungsformel oder lediglich im Änderungsgesetz trügen zwar der Besinnungsfunktion698 des Zitiergebots Rechnung, schließlich hätte der Gesetzgeber den Nachweis erbracht, dass er sich mit dem abweichenden Charakter der Norm auseinandergesetzt hat. Der Rechtsschutz- und Informationsfunktion699 würden diese Platzierungen aber nicht gerecht werden, denn der Normunterworfene könnte dem konsolidierten Stammgesetz zur Bestimmung seiner eigenen Rechtslage nicht entnehmen, welche Norm durch die abweichende Vorschrift suspendiert wird, schließlich werden die Verkündungsformel und die Gesetzesbegründung nicht Teil des nach Art. 82 Abs. 1 S. 2 GG im Bundesgesetzblatt verkündeten Textes.700 Anderes gilt für die Präambel, sie ist Teil der Rechtsetzung.701 In der Regel betrifft die Abweichung aber, wie bei Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG auch, einzelne und verschiedene Normen eines Gesetzes, und nicht wie bei Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG die Rechtsetzung in ihrer Gesamtheit, so dass einem vorangestellten Hinweis lediglich in der Präambel die notwendige Eindeutigkeit für die Zuordenbarkeit von verdrängter und verdrängender Norm fehlen würde. Daher bedarf es der genauen Zitierung der suspendierten Norm in unmittelbarer Nähe der abweichenden Norm, damit der Normunterworfene zwecks inhaltlichen Abgleichs beider Normen die Verbindung zwischen ihnen hergestellen kann.

II. Sammelzitate und salvatorische Klauseln Sammelzitate sind in der Weise vorstellbar, dass der Gesetzgeber am Anfang, am Ende oder mitten im Gesetz in einer Bestimmung alle Abweichungen, die im Gesetz vorkommen, gebündelt aufführt.702 Dabei kann durchaus nicht nur die abweichende, sondern auch die entsprechende suspendierte Vorschrift mitgenannt werden. Die notwendige Verbindung zwischen beiden Normen, die für die Überprüfung der korrekten Ausübung der Gesetzgebungskompetenz erforderlich ist, wäre auf diese Weise eigentlich hergestellt. Gleichwohl könnte eine solche sammelnde Vorschrift bei einer groben Durchsicht des Gesetzes nicht nur übersehen werden, sondern auf diese Weise würde die abweichende Norm ihre Eigenschaften auch nicht selbst offenlegen. 697  Zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 3. a). Zu Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG siehe oben unter Kapitel 3. B. III. 4. 698  Siehe dazu oben unter C. II. 1. 699  Siehe dazu oben unter C. II. 3. 700  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 3. a). 701  Siehe oben unter Kapitel 3. B. III. 4. 702  Vgl. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 3. a) aa).



E. Konkrete Ausgestaltung eines Zitiergebots253

Vergleichbar mit den Sammelzitaten sind die salvatorischen Klauseln. In beiden Fällen werden die Hinweise auf Abweichungen an einer Stelle im Gesetz gebündelt. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Gestaltungsformen. Salvatorische Klauseln verweisen pauschal auf das gesamte Gesetzeswerk und bestimmen, dass insofern, als Abweichungen vorliegen, der Gesetzgeber von seinem Recht zur Abweichung Gebrauch gemacht hat.703 Mit diesen Klauseln weist der Gesetzgeber mithin jegliche Verantwortung für die Bestimmung einer Abweichung von sich, so dass bereits der Offenlegungsfunktion704 nicht entsprochen wird. Wie bei den grundrechtlichen Sammelzitaten auch705 bieten salvatorische Klauseln außerdem keine Gewähr dafür, dass sich der Gesetzgeber tatsächlich mit dem abweichenden Inhalt einer einzelnen Norm befasst hat, so dass auf diese Weise auch der Besinnungsfunktion706 des Zitiergebots keine Rechnung getragen wird. Außerdem erkennt der Normunterworfene bei salvatorischen Klauseln weder die verdrängte noch die verdrängende Vorschrift, so dass auch die Informations- und Rechtsschutzfunktion707 nicht gewährleistet ist. Ein pauschaler Hinweis auf die Abweichung kommt – wie bei den Grundrechten auch708 – nur in Betracht, wenn das gesamte Gesetz lediglich eine punktuelle Abweichung darstellt.

III. Zitierdichte In Hinblick auf die Zitierdichte ist der pauschale Hinweis auf die gesamte suspendierte Norm in der Überschrift der abweichenden Norm (zu § …)709 mit dem Gebot rechtsstaatlicher Publizität nicht vereinbar, wenn nur ein Teil der suspendierten Norm verdrängt wird. Diese Art der Zitierung stellt zwar zweifellos eine Bezugnahme auf das von einer Abweichung betroffene Recht dar. Sie macht aber nicht deutlich, von welchem Teil der 703  Siehe

oben unter E. oben unter C. II. 1. 705  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 3. a) aa). 706  Siehe dazu oben unter C. II. 1. 707  Siehe oben unter C. II. 3. 708  Siehe zu Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oben unter Kapitel 3. A. II. 3. a) aa). 709  So geschah es im bis zum 27.05.15 gültigen § 22 Landesjagdgesetz NRW (GVBl. NRW. 1995, S. 2). Laut BGBl. 2009, S. 500 wich § 22 Abs. 14 Landesjagdgesetz NRW a. F. von § 21 Abs. 2 Bundesjagdgesetz ab und wies auf diesen Umstand nur in der Überschrift der Norm mit dem Klammerzusatz: (Zu § 21 BJG) hin. Zum aktuellen Landesjagdgesetz NRW v. 12.05.2015 (GVBl. NRW. S. 448) Dünchheim, Das ökologische Jagdgesetz und dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgsetz, Rechtsgutachten, März 2015 (http: /  / gruene-fraktion-nrw.de / fileadmin / user_upload /  ltf / Newsletter / EndfassungJagdgutachten.pdf (28.09.16)). 704  Siehe

254

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Bestimmung in welchem Maße abgewichen wurde. Fragen des Abgleichs und damit auch der Auslegung beider Normen können auf diese Weise nicht ausreichend geklärt werden. Vielmehr bedarf es der präzisen Bezeichnung der von einer Abweichung betroffenen Vorschrift mit Paragraph, Absatz, Satz, Halbsatz, Nummer und Variante,710 vorzugsweise im fortlaufenden Gesetzestext selbst, in unmittelbarer Nähe zum abweichenden Regelungs­ inhalt (Abweichend von § … wird bestimmt, dass …)711. Nur so kann der Normunterworfene erkennen, welcher Teil der überregelten Norm durch die abweichende Vorschrift verdrängt werden soll, und ob sich der Gesetzgeber an den Rahmen seiner Ermächtigung zur Abweichung gehalten hat. Im Falle einer späteren Änderung des überregelten Rechts wird auf diesem Wege auch deutlich, welche abweichende Norm durch das spätere Recht ihre Anwendbarkeit verliert. Auch wenn damit ein pauschaler Hinweis auf die gesamte überregelte Norm in der Überschrift der abweichenden Norm als mögliche Zitiervariante entfällt, muss die Zitierung nicht notwendigerweise im Gesetzestext selbst erfolgen, sondern kann auch in der Überschrift platziert werden, wenn sie den Zusammenhang zwischen suspendierter und abweichender Norm eindeutig herstellt. So heißt es beispielsweise in der Überschrift zu Art. 5 BayNatSchG „Art. 5 Abs. 2 abweichend von § 3 Abs. 4 BNatSchG“.712 Die Bezugnahme ist damit eindeutig klargestellt, eines weiteren genauen Zitats im Gesetzestext bedarf es nicht, wobei dies sicherlich auch nicht schädlich wäre.713 In der Überschrift zu Art. 1 BayNatSchG heißt es lediglich: „abweichend von § 2 Abs. 4 BNatSchG“. Es fehlt also die Angabe des überregelnden Teils des BayNatSchG, wie er in der Überschrift zu Art. 5 BayNatSchG erfolgt. Das ist aber nicht weiter abträglich, da der gesamte Art. 1 BayNatSchG mit seinen 5 Sätzen als Abweichung von § 2 Abs. 4 BNatSchG zu qualifizieren ist. Falls sich Art. 1 BayNatSchG in Zukunft aber verändert und ein nicht abweichender Normteil hinzutritt, ist fraglos eine entsprechende Anpassung des Hinweises notwendig.

710  In diesem Sinne auch Trute (Fn. 398), Art. 84 Rn. 31, der für die Abweichung in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG fordert, „dass der Bund bei subsequenter Regelung sowohl das Land bzw. die Länder, als auch die abweichenden landesrechtlichen Regelungen in dem Bundesgesetz anführt“. Die Anführung von Regelungen ist als präzise Kennzeichung zu verstehen. 711  So das Gesetz zum Schutz der Natur Schleswig-Holsteins, v. 24.02.2010, GVBl. 2010, S. 301. In § 3 Abs. 1 LNatSchG SH heißt es beispielsweise: „Abweichend von § 5 Abs. 2 BNatSchG …“. 712  In der Überschrift zu § 3 HAGBNatSchG heißt es beispielsweise: „§ 3 Abs. 1 Satz 1 abweichend von § 3 Abs. 3 des Bundesnaturschutzgesetzes“. 713  So geschieht es in den in Fn. 689 genannten Gesetzen.



E. Konkrete Ausgestaltung eines Zitiergebots255

IV. Angabe der amtlichen Fundstelle? Einer Angabe der amtlichen Fundstelle des suspendierten Rechts714 bedarf es zur Wahrung der Funktionen des Zitiergebots nicht.715 Zwar könnte auf diese Weise der Verkündungsort des überregelten Rechts den abweichenden Vorschriften selbst entnommen werden, allerdings hat das Oberverwaltungsgericht Hamburg bereits 1979 für das Zitiergebot in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG entschieden, dass es dem Rechtsadressaten zumindest bei bekannten Gesetzen möglich ist, sich ohne weitere Schwierigkeiten Kenntnis über den maßgebenden Gesetzestext zu verschaffen, so dass es zur Wahrung der ­Zitierpflicht keiner Angabe der amtlichen Fundstelle des Gesetzblattes bedarf.716 Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Rechtsprechung bestätigt: Es sei „Sache der regierungsinternen Geschäftsordnungsbefugnis zu regeln, in welchem Ausmaß der Gesetzesadressat durch den Hinweis auf die maßgebliche Fundstelle im Gesetzblatt zum Text des ermächtigenden Gesetzes hingeführt wird, eine verfassungsrechtliche Pflicht, dem Staatsbürger das Auffinden der Ermächtigungsregelung durch die Angabe der Fundstelle zu erleichtern, besteht nicht“.717 Es ist kein Grund ersichtlich, das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung in dieser Hinsicht anders zu behandeln als das in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG.

V. Entstehungdaten einzelner Vorschriften? Mitunter wird auch vorgeschlagen, die „Entstehungsdaten“ der einzelnen suspendierten Vorschriften in das Zitat mitaufzunehmen.718 Dadurch werde „zumindest die zeitlich jüngere Regelung erkennbar“.719 Dieses postulierte 714  So erfolgt es in § 1 HmbBNatSchAG: „Die Vorschriften dieses Gesetzes ergänzen das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2542) in der jeweils geltenden Fassung oder weichen von diesem Gesetz im Sinne von Artikel 72 Absatz 3 Satz 1 Nummer 2 des Grundgesetzes ab.“ In dieser Vorschrift wird auch – ähnlich wie in § 1 Abs. 1 S. 1 LNatSchG SH – die Abweichungsintention des Landesgesetzgebers zum Ausdruck gebracht. Diese vorangestellte Regelung allein würde dem beschriebenen Zitiergebot allerdings nicht Rechnung tragen, da sie nicht erkennen lässt, welche Einzelvorschrift in welcher Reichweite vom BNatSchG abweicht. Ähnlich v. Stackelberg (Fn. 3), S. 153. 715  A. A. v. Stackelberg (Fn. 3), S. 152 / 153, der sich auf die Rechtsprechung des BVerfG zu Verweisungen stützt (BVerfGE 5, 25, 31), dazu siehe oben unter A. I. 3. d) aa) (1). 716  OVG Hamburg, Urt. v. 12.12.1978  – Bf III 84 / 78, 2. Leitsatz (abgedruckt in GewArch 1979, 85 ff.). Siehe dazu oben Kapitel 3. B. III. 2. 717  BVerwG NJW 1983, 1922. 718  Mammen (Fn. 389), DÖV 2007, 376, 378. 719  Mammen (Fn. 389), DÖV 2007, 376, 378.

256

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

Erfordernis soll mithin die Anwendung des lex-posterior-Grundsatzes in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG erleichtern. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass bereits aus der Art der Formulierung des Zitats „abweichend von § (…)“ das Verhältnis beider Normen zueinander erkennbar wird. Denn es wird deutlich, welche Norm durch welche andere Norm verdrängt wird, welche also älter und welche jünger ist. Der Normunterworfene ist zur Bestimmung seiner Rechtslage nur auf diese Information angewiesen. Er will lediglich wissen, was geltendes Recht ist. Hierfür muss er nur erkennen, welche Norm durch welche andere Norm inwieweit verdrängt wird. Zur Anwendung des lex-posterior-Grundsatzes ist der Normunterworfene mithin nicht auf die exakten Entstehungdaten der suspendierten Vorschriften angewiesen.

VI. Zitierung durch den Bund Falls der Bund zukünftig von seinem Recht zur Überregelung des abweichenden Landesrechts Gebrauch macht, muss er ebenso wie die Länder die suspendierten Landesregelungen in seinem Gesetz, in unmittelbarer Nähe zur abweichenden Bundesregelung, anführen.720 Dies folgt schon aus dem mit Einführung der Abweichungsgesetzgebung erstmals in das Grundgesetz aufgenommenen „echten Konkurrenzverhältnis“721 zwischen Bund und Ländern. Das eigentlich von Hierarchie geprägte Stufenverhältnis zwischen den bundesstaatlichen Akteuren ist auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien ihrer Gleichrangigkeit gewichen.722 Mithin müssen Bund und Länder in Hinblick auf das Erfordernis einer Zitierung gleichbehandelt werden. Dennoch gilt für die Zitierung des Bundes eine zusätzliche Besonderheit. Er muss nicht nur die suspendierten Landesregelungen anführen, sondern auch das jeweilige Land bzw. die Länder benennen.723 Der Grund für diese erweiterte Zitierweise liegt darin, dass nicht jedes Landesgesetz die Landesbezeichnung im offiziellen Titel mitführt.724 Weitere Fragen wirft der Umstand auf, dass der Bund bei seiner Zitierung ggf. lange Ketten von landesrechtlichen Regelungen bilden muss. Im äußersten Fall muss er in einem Zitat 16 suspendierte Landesregelungen nennen. Dass dies nicht unbedingt 720  Ebenso Trute (Fn. 398), Art. 84 Rn. 31 für die Abweichung in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG siehe Fn. 710. Zu den Hintergründen der Zitierpflicht des Bundes siehe oben unter C. I. 721  Siehe dazu oben unter Kapitel 2. B. II. 4. a). 722  Siehe oben unter C. I. 2. 723  So Trute (Fn. 398), Art. 84 Rn. 31 für die Abweichung in Art. 84 Abs. 1 S. 2 GG. 724  So das Schleswig-Holsteinische Landesnaturschutzgesetz, das im offiziellen Titel lediglich die Bezeichnung trägt: Gesetz zum Schutz der Natur (Landesnaturschutzgesetz – LNatSchG), v. 24.02.2010, GVBl. 2010, S. 301.



F. Zusammenfassung257

zur Übersichtlichkeit des Bundesrechts beiträgt, liegt auf der Hand. Verlangt man aber neben dem Zitat der abweichenden Länder auch ein Zitat des abweichenden Bundes,725 dann ist damit auch unumgänglich die Möglichkeit von langen Normketten verbunden. Gleichwohl ist der Gewinn an Klarheit über die Rechtslage, der aus einem ggf. langen Zitat des Bundes resultiert, immernoch als höher einzustufen, als die Unübersichtlichkeit, die mit langen Normenketten einhergeht.

VII. Ergebnis Dem Zitiergebot wird nur durch eine eindeutige und mit diesem Erfordernis korrespondierende, präzise Bezeichnung der überregelten Norm, sei es im fortlaufenden Gesetzestext selbst oder in der Paragraphenüberschrift, entsprochen.

F. Zusammenfassung Das ungeschriebene Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung leitet sich u. a. aus dem Rechtsstaatsprinzip ab. Normenklarheit und Normenbestimmtheit sind Subelemente des rechtsstaatlichen Gebots der Rechtssicherheit. Während sich das Bestimmtheitsgebot in erster Linie dem Gesetzes­ inhalt widmet, befasst sich das Klarheitsgebot vor allem mit der formalen Gesetzestechnik. Von besonderer Bedeutung für das Klarheitsgebot ist der Aspekt der Übersichtlichkeit. Dieser verlangt, dass soweit sich eine gesetzliche Regelung aus dem Zusammenspiel von Normen ganz unterschiedlicher Regelungsbereiche ergibt, muss die Klarheit des Normeninhalts und die Voraussehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch im Hinblick auf dieses Zusammenwirken gesichert sein. Das Übersichtlichkeitsgebot dient mithin als „Komplexitätskontrolle“ zur Überprüfung des Ausmaßes der Wechselbezüglichkeiten von Normen. Maßstab für die Beurteilung der Übersichtlichkeit sind die Erkenntnismöglichkeiten des typischerweise von der Regelungsmaterie betroffenen Adressaten. Ausgangspunkt für das Erfordernis eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung ist zunächst die Tatsache, dass die 2006 neu in das Grundgesetz aufgenommene Kompetenzart auf unübersichtliche Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht jedenfalls normativ angelegt ist. Allein auf Grund der Möglichkeit abweichenden Landes- bzw. Bundesrechts entsteht beim Rezipienten Unsicherheit dahingehend, wie der für ihn gültige Normbefehl lautet. Sowohl seine kognitiven wie auch seine Informationsbe725  Zu

den Gründen siehe oben unter C. I.

258

Kap. 4: Aspekte der Rechtsstaatlichkeit

schaffungskosten belegen seine – aus der formalen Überkomplexität der Rechtslage folgende – Rechtsunsicherheit. Auch wenn es auf Grund des Zuschnitts der Gesetzgebungskompetenzen schon vor der Föderalismusreform im Jahr 2006 Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht etwa auf den Gebieten der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung gab, war das Verhältnis der Ebenen zueinander zuvor immer von Hierarchie und lediglich zwei sich gegenüberstehenden Konzeptionen geprägt. Die landesrechtlichen Spielräume waren für alle Länder stets die Gleichen. Auch Bundesgesetze galten in allen Ländern gleichermaßen. Nun ist es denkbar, dass Bundesrecht nur noch in einigen, nicht abweichenden Ländern und damit regional begrenzt gilt. Die bisherige, in einem einzelnen Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Kompetenztypik, wird bildhaft gesprochen „auf den Kopf gestellt“. Denn nun kann eine Vielzahl von Gegenseitigkeitsverhältnissen entstehen, die allesamt für die Ermittlung der Rechtslage von Bedeutung sind. Abgrenzungsfragen zwischen Bundes- und Landesrecht sind historisch betrachtet folglich nicht neu, sie erlangen mit der Abweichungsgesetzgebung aber „eine neue Qualität“. Angesichts des normativ angelegten Szenarios einer Verwobenheit der Gesetzgebung auf Bundes- und Landesebene ist bei der Abweichungsgesetzgebung die verfassungsrechtlich zulässige Grenze normativer Komplexität überschritten. Die Komplexität ergibt sich – auch was die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen anbelangt – nicht aus der Sachgesetzlichkeit des Regelungsbereichs, sondern aus den formalen Umständen der Gesetzgebungskompetenz. Die Erfassung der Begriffe fällt schwer, weil sich ihr Inhalt aus der Bezugnahme zu Begriffen im „überholten“ Gesetz ergibt. Aber nicht nur der Inhalt des „überholten“ Gesetzes ist maßgebend, sondern auch der der vorangehenden Gesetze, denn ersteres steht wiederum in einer inhaltlichen Beziehung zum davor maßgeblichen Gesetz usw. Der „aktuelle“ Rechtsbegriff lässt sich also erst aus einer „Rückverfolgung“ der vorangehenden Inhalte erschließen. Auch hinsichtlich der Rechtsbegriffe, die eigentlich weniger den formalen Aufbau als den Inhalt der Gesetze betreffen, führt also im Kern ein formaler Aspekt zur Komplexitätssteigerung. Diese Form der Komplexität ist weniger hinnehmbar, denn auf unbestimmte Rechtsbegriffe kann der Gesetzgeber bei der Gestaltung seiner Gesetze nicht immer verzichten, um einen möglichst übersichtlichen Aufbau hat er sich aber zu bemühen. Mithin muss für diese Situation eine weitgehende Kompensation in Form eines Zitiergebots mitgedacht werden. Dieses ungeschriebene Zitiergebot gilt sowohl für die abweichenden Länder wie auch für den überregelnden Bund. Es hat in Anlehnung an die geschriebenen Zitiergebote in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG eine Besinnungs- und Offenlegungsfunktion, eine Warnfunktion und



F. Zusammenfassung259

eine Informations- und Rechtsschutzfunktion. Obgleich einige Einwände gegen das Zitiergebot erhoben werden, etwa in Form milderer Mittel zur Eindämmung der unübersichtlichen Gemengelage, verfügt keines der in Betracht kommenden Instrumente über das Maß an Rechtssicherheit spendender Verbindlichkeit des Zitiergebots. Zwar sind die Verwaltung und die Gerichte an den durch ein Zitat manifestierten Willen des Gesetzgebers nicht unüberwindbar gebunden, sie können also theoretisch zu einer anderen Einschätzung als der Gesetzgeber hinsichtlich des Bestehens einer Abweichung gelangen. Dennoch fließt der Wille des Gesetzgebers mit beträcht­ lichem Gewicht in die von Verwaltung und Gerichten nach objektiven Kriterien vorgenommene Auslegung des Gesetzes ein – vor allem auf Grund der Publizität des Zitats –, so dass auf diese Weise gleichwohl starke Bindungen entstehen. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Zitiergebots gilt, dass nur die präzise Bezeichnung der suspendierten Norm im abweichenden Gesetz – sei es das Landes- oder das Bundesgesetz – den Funktionen des ungeschriebenen Zitiergebots gerecht wird. Da somit die Existenz eines ungeschriebenen Zitiergebots im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung auf Grund des Rechtsstaatsprinzips nachgewiesen ist, bedarf es der weitergehenden Untersuchung, ob sich diese Kennzeichnungspflicht auch aus anderen Staatsstrukturprinzipien, etwa dem der Demokratie, ergibt.

Kapitel 5

Aspekte der Demokratie Das folgende Kapitel befasst sich mit den demokratischen Aspekten eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung. Wie bereits dem rechtsstaatlichen Ansatz wird auch diesem demokratischen ein ausreichender Konkretisierungsgrad abgesprochen.1 Diese Argumentation ist bereits widerlegt worden,2 daher bedarf es keiner weitergehenden Auseinandersetzung. Im demokratischen Kontext lassen sich Parallelen u. a. zur Zitierpflicht aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG ziehen. Auch dort soll insbesondere der einzelne Abgeordnete, der an der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen in der Regel nicht persönlich beteiligt war und daher deren Konsequenzen nicht umfänglich überblicken kann, in die Lage versetzt werden, die Grundrechtsrelevanz der zu beschließenden Regelung zu erkennen.3 Dieses Kapitel zeigt auf, dass das in dieser Arbeit vorgeschlagene ungeschriebene Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung neben rechtsstaatlichen auch von demokratischen Anforderungen getragen wird, denn es sorgt für transparente Gesetzgebung.4

A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie als Staats- und Regierungsform5 Mit dem Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG bekennt sich das Grundgesetz an prominenter Stelle zum Prinzip 1  Classen, Gutachten zu Problemen der Neuregelung des Erwerbs des Diplomgrades gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 und 4 LHG Mecklenburg-Vorpommern, 2011 (http: / / spdfraktion-mv.de / images / Flyer / AkkreditierungMVGutachten.pdf (28.09.16)), S. 13. 2  Siehe oben unter Kapitel 4. Einführung. 3  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 1. 4  Zum demokratischen Aspekt eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung Degenhart, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Abweichungsgesetzgebung, DÖV 2010, 422, 424 und Trute, Rechtsfragen der Vergabe des Diplomtitels für Masterstudiengänge in Mecklenburg-Vorpommern, 2011 (http: /  / www.vumv.org / aktuelles / aktuelle-meldungen / details / news / aktuelles-gutach ten-bezeifelt-diplom-vergabe-in-mecklenburg-vorpommern.html (28.09.16)), S. 54. 5  Von Demokratie als Staats- und Regierungsform spricht auch Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. I, 1987, § 22 Rn. 9.



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie261

der Volkssouveränität und erhebt es zum Kerngedanken staatlicher Herrschaft.6 Jedes staatliche Handeln muss demnach auf eine Entscheidung des Volkes zurückführbar sein.7 Die Ausübung von Staatsgewalt lediglich „im Interesse“ oder „zum Wohle“ des Volkes reicht nicht aus.8 Im Übrigen würden diesem Erfordernis bereits „aufgeklärte Monarchien“ Rechnung tragen.9 Für das Prinzip der Volkssouveränität10 ist vielmehr die „Trägerschaft der Staatsgewalt“ entscheidend.11 Die Konstituierung von Staatsgewalt muss vom Volk selbst ausgehen, wobei damit keine „Identität von Herrschern und Beherrschten“12 gemeint ist, sondern lediglich eine Rückbindung der Staatsgewalt an das Volk.13 Auch wenn also der Zusammenschluss eines Volkes unter dem Dach eines Staates notwendigerweise mit der „Herrschaft von Menschen über Menschen“14 verbunden ist,15 bedarf es einer „rechtfertigenden Herleitung“ dieser Herrschaft.16 Schließlich basiert das Prinzip der Volkssouveränität „geistes- und ideengeschichtlich“ auf dem der Autono­ 6  Böckenförde

(Fn. 5), § 22 Rn. 2. 47, 253, 275; 83, 60, 71 f.; 93, 37, 66; 107, 59, 87; Badura, Die parlamentarische Demokratie, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 2004, § 25 Rn. 27; Maus, Sinn und Bedeutung von Volkssouveränität in der modernen Gesellschaft, KJ 1991, 137 ff. hält dies angesichts der zunehmenden Vernetzung politischer Entscheidungsprozesse für ein Wunschdenken. 8  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 5. 9  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 5. 10  Boutmy, Zur Frage der Volkssouveränität, in: Kurz (Hrsg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, 1970, S. 49 ff.; Maus, Über Volkssouveränität: Elemente einer Demokratietheorie, 2011; Kurz, Volkssouveränität und Volksrepräsentation, 1965; Nullmeier, Was kann Volkssouveränität angesichts globalen Regierens noch bedeuten?, in: Niesen (Hrsg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, 2012, S. 161 ff. 11  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 5. 12  Badura (Fn.  7), § 25 Rn. 35. Dazu Böckenförde, Mittelbare / repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, in: Müller / Rhinow / Schmid / Wildhaber (Hrsg.), Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger, 1982, S. 301, 303 ff. 13  Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Die Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Auflage, 2012, § 6 Rn. 1. 14  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 3. 15  Badura (Fn. 7), § 25 Rn. 35. Laut Badura (a. a. O. Rn. 35) ist die Ausübung von Staatsgewalt stets „unmittelbar“ durch das Volk etwa in Form von „Abstimmungen“ oder „Beschlüssen einer Volksversammlung“ praktisch nicht umsetzbar. Laut Veil, Volkssouveränität und Völkersouveränität in der EU, 2007, S. 63 „bleibt (aber) die nie zu erreichende Identität von Herrschern und Beherrschten das Ideal demokratischer Herrschaft. Sie bleibt ‚regulative Idee‘ und ‚Prüfstein der Vernunft‘ “; letzteres unter Verweis auf Blanke, Antidemokratische Effekte der verfassungsgerichtlichen Demokratietheorie, KJ 1998, 452, 457. 16  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 3. 7  BVerfGE

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

mie,17 nach dem der Einzelne über eine „ursprüngliche, außergesellschaft­ liche Autonomie“18 verfügt, die als ein „uneingeschränkte(s), allen gesellschaftlichen Abhängigkeiten vorausgehende(s) Verfügungsrecht eines jeden Menschen über sich selbst“ verstanden werden kann.19 „In der Idee der Souveränität des Volkes wandelt sich die ursprüngliche, außergesellschaft­ liche Autonomie eines jeden Einzelnen in das gesellschaftliche Verfügungsrecht aller über alle.“20 Mit anderen Worten ist „Volkssouveränität die gesellschaftliche Erscheinungsform jener ursprünglichen Autonomie“21. Der Einzelne verzichtet auf seine „natürliche Freiheit“22 im „vorgesellschaft­ lichen Urzustand“23, um „politische Freiheit“24 im gesellschaftlichen Verband zu erlangen.25 Aus seiner „individuellen“26 wird „kollektive Selbstbe­ stimmung“.27 Leitet sich staatliche Herrschaft somit ihrem Ursprung nach von der Autonomie des Einzelnen ab, kann die Ausübung von Staatsgewalt nur die „Herrschaft des Volkes“28 sein.29 Es besteht mithin ein „logischer Zusammenhang zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Souveränität des Ganzen“30. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG erhebt das Prinzip der Volkssouveränität zur Leitlinie staatlicher Herrschaft.31 Die Bedeutung dieser verfassungsrechtlichen Regelung kann kaum überschätzt werden. Die Vorschrift genießt einen unabdingbaren „Geltungsanspruch“ gegenüber anderen Verfassungsprinzi­ ­ pien.32 Sie gilt als „wichtigste Unantastbarkeitsnorm“ im Rahmen des 17  Veil

(Fn. 15), S. 52. der Politikwissenschaftler Kielmannsegg, Volkssouveränität, 1977, S. 230. 19  Kielmannsegg (Fn. 18), S. 230. 20  Kielmannsegg (Fn. 18), S. 230 ebenso Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 506; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1963, S. 4 ff. spricht etwa von „Bedeutungswandel“, „Denaturierung“ bzw. „Metamorphose“ des Freiheitsgedankens, vgl. Veil (Fn. 15), S. 47. 21  Kielmannsegg (Fn. 18), S. 230. 22  Kelsen (Fn. 20), S. 4. 23  Kielmannsegg (Fn. 18), S. 230. 24  Kelsen (Fn. 20), S. 4. 25  Veil (Fn. 15), S. 52. 26  Veil (Fn. 15), S. 52. 27  Diesen Begriff im Kontext der europäischen Integration aufgreifend BVerfGE 123, 267, 346. 28  Kelsen (Fn. 20), S. 14. 29  Kielmannsegg (Fn. 18), S. 230. 30  Kielmannsegg (Fn. 18), S. 230. 31  Siehe oben. 32  Herzog, in: Maunz / Dürig, Komm. z. GG, Art. 20 II. Rn. 33 (zitiert nach Veil [Fn. 15], S. 54 Fn. 222). 18  So



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie263

Art. 79 Abs. 3 GG.33 Inhaltlich „besagt“ das Prinzip der Volkssouveränität, dass „Ursprung und letzter Träger der politischen Herrschaftsgewalt“ das Volk sein muss.34 Dieser Anspruch kann prinzipiell auf unterschiedliche Weise realisiert werden.35 Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG konkretisiert ihn für das Grundgesetz, indem er näher bestimmt, auf welche Weise das deutsche Volk die von ihm ausgehende Staatsgewalt selbst ausübt.36 Ein Teil der Herrschaftsgewalt wird unmittelbar „in Wahlen und Abstimmungen“, der andere Teil mittelbar „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung“ ausgeübt.37 In Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG ist mithin die Entscheidung des Verfassungsgebers für die repräsentative Demokratie als Staats- und Regierungsform verankert.38 Das Prinzip der Volkssouveränität und das Demokratiemodell des Grundgesetzes sind folglich nicht identisch.39 Während Ersteres das Volk als „Ursprung und letzten Träger der politischen Herrschaftsgewalt“ sieht, verlangt Letzteres, dass das Volk „die politische Herrschaftsgewalt auch selbst ausübt“, demnach nicht nur „herrscht“, sondern auch „regiert“.40 Festzuhalten bleibt, dass das Prinzip der Volkssouveränität keine bestimmte Staatsorganisationsstruktur vorschreibt.41 Allerdings kann das Demokratiemodell des Grundgesetzes als 33  Maunz / Dürig, in: Maunz / Dürig, Komm. z. GG, Art. 79 IV. Rn. 47 (zitiert nach Veil [Fn. 15]. S. 54 Fn. 224). Dazu auch Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL 29 (1971), S. 46, 47; Schmitt-Glaeser, Der Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 des GG, DÖV 1965, 433, 437; Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002. 34  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 8. 35  Beispielsweise kann die Frage, ob ausschließlich das Parlament ein „unbegrenztes Gesetzgebungsrecht“ haben oder der „Schwerpunkt politischer Initiativen“ sowohl beim Parlament wie auch der Regierung liegen sollte, unterschiedlich beantwortet werden; vgl. Veil (Fn. 15), S. 63 und 55 unter Verweis auf Sternberger, Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, 1971, S. 112. 36  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 8. 37  Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 40; dazu auch Böckenförde (Fn. 12), S. 301, 314. 38  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 8; Thoma, Der Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Palyi (Hrsg.), Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. II, 1923, S. 39 ff.; ders., Über Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, 1948; Kelsen (Fn. 20); Kriele (Fn. 33), VVDStRL 29 (1971), S. 46, 47; Bracher, Staatsbegriff und Demokratie in Deutschland, PVS 9 (1968), S.  2 ff.; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Neuausgabe der 3. erweiterten Auflage, 1974; Fetscher, Die Demokratie. Grundfragen und Erscheinungsformen, 1970; Bleckmann, Vom Sinn und Zweck des Demokratieprinzips, 1998; Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008. 39  Veil (Fn. 15), S. 55. 40  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 9. 41  Veil (Fn. 15), S. 63.

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

eines seiner möglichen Ausprägungen verstanden werden.42 Es beschreibt ein bestimmtes „Organisationsprinzip für die Innehabung und Ausübung von Staatsgewalt“43. Genauer gesagt wird die Staatsgewalt „in einer Weise organisiert, daß ihre Ausübung vom Volk und damit von den Bürgern kons­ tituiert, legitimiert und kontrolliert wird und darin als Form der Selbstbestimmung und Selbstregierung des Volkes erscheint“44.

I. Demokratische Legitimation Knüpft die repräsentative Demokratie als Ausfluss der Volkssouveränität an die Autonomie des Einzelnen an,45 bedarf die Ausübung von Staatsgewalt einer sie „rechtfertigenden Herleitung“46, mit anderen Worten der demokratischen Legitimation. Sowohl für die Einrichtung staatlicher Institutionen wie auch für die Ausübung von Herrschaftsgewalt ist also eine „juristisch ausgeformte“ Rechtfertigung bzw. „Autorisation“ durch das Volk notwendig.47 Diese legitimationsstiftende Handlung des Einzelnen als Teil des Volkes besteht in seiner „Stimmabgabe (…) bei der Parlaments­ wahl“.48 Dieser Akt darf nicht „einmalig“ und für alle Zeiten „entäußernd“49 sein, sondern muss sich stetig erneuern,50 geht er doch auf den „Ursprung der Demokratie“, die Freiheit des Einzelnen, zurück.51 Teil dieser Freiheit ist die „demokratische Korrigierbarkeit der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt“.52 42  Veil

(Fn. 15), S. 55. Zu anderen „Varianten“ der Demokratie siehe Fn. 35. (Fn. 5), § 22 Rn. 9. In diesem Sinne auch Emde (Fn. 37), S. 41. 44  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 9. In diesem Sinne auch Kirchhof, Das Parlament als Mitte der Demokratie, in: Brenner / Huber / Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 237, 260. 45  Siehe oben unter A. 46  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 3. Siehe oben unter A. 47  Böckenförde (Fn. 12), S. 301, 317; ebenso Bredt, Die demokratische Legitimation unabhängiger Institutionen, 2006, S. 39 ff. 48  Badura (Fn. 7), § 25 Rn. 30; ebenso Di Fabio, Demokratie im System des Grundgesetzes, in: Brenner / Huber / Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes  – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 77, 79 f. und Kriele (Fn. 33), VVDStRL 29 (1971), S. 46, 63. 49  So aber Hobbes, Leviathan, 1651, Chapter 17 (http: /  / ebooks.adelaide.edu.au /  h / hobbes / thomas / h68l / index.html (07.10.16)). 50  Böckenförde (Fn. 12), S. 301, 317. 51  Kirchhof (Fn. 44), S. 239, 260. 52  Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. III, 3. Auflage, 2005, § 34 Rn. 16. Dazu siehe unter A. I. 1. 43  Böckenförde



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie265

Die Parlamentswahl führt zu einer unmittelbaren demokratischen Legitimation sowohl der Volksvertretung als Institution wie auch der einzelnen Abgeordneten.53 Die Legitimation betrifft alle Entscheidungen des Parlaments, in erster Linie die von ihm beschlossenen Gesetze.54 Indem diese Gesetze „Maßstab für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“55 sind, entsteht – trotz der Distanz zum legitimationsstiftenden Ursprungsakt der Wahl – ein ununterbrochener „Zurechnungszusammenhang“ zwischen dem Volk und jeglicher staatlichen Herrschaft.56 Zusätzlich sorgen der parlamentarische Einfluss auf die Regierung bzw. deren Kontrolle durch das Parlament57 und die „grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung“58 für die notwendigen „Rückbeziehungen“59 zwischen „Wähler, Staatsorgan und Organhandeln“60. Für die demokratische Legitimation der Staatsgewalt bedarf es mithin nicht immer eines unmittelbaren Legitimationszusammenhangs, vielmehr genügt auch die den Regelfall darstellende, mittelbare Zurechnung „vom Volk über die von diesem gewählte Volkvertretung zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern“.61 Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, ist doch der Begriff der demokratischen Legitimation im Lichte der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes zu sehen.62 Voraussetzung – auch eines mittelbaren Zusammenhangs – ist allerdings stets ein „effektiver Einfluss des Volkes auf die Ausübung von Staatsgewalt“63, mit anderen Worten ein ausreichendes „Legitimationsniveau“64. Der Begriff der demokratischen Legitimation ist folglich Teil des demokratischen Prinzips.65 Er betrifft „die Einrichtung von Verfahren (…), die die Bestellung der Herrschenden durch das Volk und die Kopplung der Ausübung ihrer Herrschaftsmacht mit dem Volk garantieren sollen. Die demokratische Legitimation bezeichnet die auf rechtlich geordnete Verfahren der Herrschaftsrechtfertigung bezogene Seite des demokratischen Prin­zips.“66 53  Badura

(Fn. 7), § 25 Rn. 30. (Fn. 7), § 25 Rn. 30. 55  Badura (Fn. 7), § 25 Rn. 30. 56  Badura (Fn. 7), § 25 Rn. 30. Zu ergänzenden Legitimationsmodi für die demokratische Legitimation der Verwaltung siehe Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 15 ff. 57  Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 49 ff. 58  Badura (Fn. 7), § 25 Rn. 30. 59  Böckenförde (Fn. 12), S. 301, 317. 60  Kirchhof (Fn. 44), S. 239, 260. 61  Badura (Fn. 7), § 25 Rn. 30. 62  Siehe oben unter A. 63  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 14. 64  Zu diesem Begriff siehe Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 14. 65  Emde (Fn. 37), S. 41. 54  Badura

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

1. Demokratische Verantwortlichkeit Beschreibt der Begriff der demokratischen Legitimation den „Zurechnungszusammenhang“ zwischen Staatsvolk, Staatsorgan und Staatshandeln,67 beinhaltet er selbstredend auch den der demokratischen Verantwortlichkeit.68 Legitimiert nämlich der Einzelne mit der Wahl der Volksvertretung staatliche Herrschaft, muss für ihn als späteres „Objekt“ des Staatshandelns69 auch erkennbar sein, von welchem Staatsorgan die ihm gegenüber ausgeübte Staatsgewalt ausgeht. Das Bundesverfassungsgericht formuliert diesen Zusammenhang wie folgt: „Der Bürger muss wissen können, wen er wofür – auch durch die Vergabe oder den Entzug seiner Wählerstimme – verantwortlich machen kann.“70 Das Gebot demokratischer Verantwortlichkeit ist somit auf den ersten Blick ein Transparenzgebot und auf den zweiten ein „Kontrollinstrument“, mit dem die Handlungen von Funktionsträgern überprüft und ggf. sanktioniert werden können.71 Letzteres geschieht im Rahmen des „periodisch wiederkehrenden Wahlakts“72; hier kann der Einzelne die Volksvertretung bestätigen oder abwählen. Dies setzt aber voraus, dass staatliche „Aufgaben (…) unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine klare Verantwortungszuordnung (…) ermöglichen“.73 Nur so kann der 66  Emde (Fn. 37), S. 41; zum Aspekt des Verfahrens Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969. 67  Siehe oben unter A. I. 68  Dazu etwa Schulze Harling, Das materielle Abweichungsrecht der Länder, 2011, S.  26 f., Sanden, Die Weiterentwicklung der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland, 2005, S. 680 und Huber, Das Bund-Länder-Verhältnis de constitutione ferenda, in: Blanke / Schwanengel (Hrsg.), Zustand und Perspektiven des deutschen Bundesstaates, 2005, S. 21, 24 unter Verweis auf Dolzer, Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat – Entwicklungsstand und Reformbedarf, VVDStRL 58 (1999), S. 7, 30 und Kirchhof (Fn. 44), S. 237, 250. 69  Emde (Fn, 37), S. 42 spricht vom sog. „Legitimationskreislauf“: „Es beginnt beim Volk als Ursprung der staatlichen Herrschaft und führt über die von ihm gewählten Repräsentanten sowie die Organe der vollziehenden Gewalt schließlich wieder zum Volk – diesmal in seiner Eigenschaft als Objekt der staatlichen Herrschaft – zurück.“ 70  BVerfGE 119, 331, 336. Dazu u. a. Worms, Verwaltung der Grundsicherung für Arbeitssuchende, 2012. 71  Veil (Fn. 15), S. 161 unter Verweis auf Steffani, Das magische Dreieck demokratischer Repräsentation: Volk, Wähler und Abgeordnete, ZParl 1999, 772, 780. 72  Heitsch, Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, 2001, S. 119. 73  BVerfGE 119, 331, 336. Fehlt es an einer klaren Verantwortungszuordnung, fällt es dem politischen Entscheidungsträger auch leichter, Missstände entweder dem politischen Gegner in die Schuhe zu schieben oder ihn für die Defizite zumindest mit in die Haftung zu nehmen. Scharpf, Die Politik-Verflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, PVS 26 (1985), 320, 326 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Diffusion der politischen Verantwor-



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie267

Bürger eine bewusste Entscheidung hinsichtlich seines Wahlakts treffen und damit gezielten Einfluss auf das Staatshandeln nehmen.74 Abwahl bzw. Abberufung bilden mithin „die Kehrseite des erforderlichen Zustimmungszusammenhangs“ zwischen der Ausübung von Staatsgewalt und dem Volk.75 Die Wahrnehmung staatlicher Befugnisse darf sich also nicht vom Volkswillen lösen und in diesem Sinne autonom werden, sondern muss sich stets auf diesen zurückführen lassen und ihm gegenüber auch verantwortet werden.76 Daran mangelt es beispielsweise, wenn zwischen verschiedenen Organen „Kompetenzüberschneidungen und Verschränkungen“ bestehen.77 Eine Ableitung staatlichen Handelns vom Volkswillen ist aber auch dann nicht möglich, wenn „Gesetzgebungsentscheidungen unübersichtlich verschiedenen Rechtsetzern zugewiesen sind“.78 Diese letztgenannte Problematik hängt mit dem föderalen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland zusammen. Da Bund und Länder jeweils eigene Staaten mit jeweils eigenen Völkern sind, „kann demokratische Legitimation grundsätzlich nur durch das Bundesbzw. Landesvolk für den jeweils eigenen Bereich vermittelt werden“.79 Wenn also nicht erkennbar ist, welcher staatlichen Ebene ein Staatshandeln zuzuordnen ist, kann auch „sein demokratischer Legitimationsursprung“80 nicht geklärt werden, mithin die Frage, welches Volk das Staatshandeln autorisiert hat. Das Gebot demokratischer Legitimation bzw. Verantwortlichkeit verlangt aber gerade nach der Identifizierbarkeit dieses Zusammenhangs, „bedeutet doch Demokratie nicht die Herrschaft irgendeines Volkes, sondern desjenigen Volkes, das verfassungsmäßig die Herrschaft über einen Staat“ innehat.81

tung für Fehlschläge und für unpopuläre Entscheidungen“ und sieht darin den „poli­ tisch-bürokratischen Nutzen der Politikverflechtung“, vgl. Schulze Harling (Fn. 68), S. 27 Fn. 42. 74  Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, 2010, S. 140. 75  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 50. Ebenso Veil (Fn. 15), S. 160 / 161. 76  Böckenförde (Fn. 5), § 22 Rn. 11. 77  Kirchhof (Fn. 44), S. 237, 251. 78  Kirchhof (Fn. 40), S. 237, 255; Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 57 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Legitimationsstörung“, wenn eine „unzureichende Abstimmung unterschiedlicher Legitimationsstränge pluraler Legitimationssubjekte“ dazu führt, dass „eine Verantwortungszurechnung nicht oder nicht mehr zureichend möglich ist“. 79  BVerfGE 119, 331, 336 unter Verweis auf Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 5. 80  Küchenhoff (Fn. 74), S. 139. 81  Küchenhoff (Fn. 74), S. 139.

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

a) Verantwortungsklarheit durch das parlamentarische Gesetz Beinhaltet das Gebot demokratischer Legitimation somit auch das der demokratischen Verantwortlichkeit, müssen bei der Ausübung von Staatsgewalt Verantwortungsbereiche klar benannt und voneinander abgegrenzt werden.82 Diese Aufgabe der Erzeugung von Verantwortungsklarheit übernimmt vor allem das parlamentarische Gesetz.83 Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, bildet es doch den „Maßstab für die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung“ und ist damit der Hauptmittler demokratischer Legitimation.84 Verantwortungsklarheit erzeugt das parlamentarische Gesetz, indem es – in der Regel vorangehend – die Ziele des Staatshandelns beschreibt, Aufgaben und Befugnisse der Organe benennt und damit Zuständigkeiten innerhalb des Staatsaufbaus zuweist.85 Auf diese Weise sorgt es für „die erforderliche Transparenz administrativer Entscheidungsbildung“86. Denn es „identifiziert Verantwortlichkeiten und macht sie für den Wähler sichtbar“.87 Damit „offenbart“ es sie „für Kontrolle und Korrektur in den Wahlen“.88 Abschließend lässt sich somit sagen, dass „das Demokratieprinzip“ auf „jeden Gesetzgebungsakt“ Einfluss nimmt, indem es Anforderungen wie „Sichtbarkeit, Verantwortlichkeit, Rechtfertigungsbedürftigkeit, Kontrollierund Korrigierbarkeit“ an staatliches Handeln stellt.89 b) Mangel an demokratischer Verantwortungsklarheit bei der Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG Vor Einführung der Abweichungsgesetzgebung in Art. 72 Abs. 3 GG bestand die „Ratio des grundgesetzlichen Gesetzgebungssystems“ darin, jeweils einem Gesetzgeber – dem Bund oder den Ländern – eine Gesetzgebungsmaterie möglichst umfassend zuzuweisen, damit der jeweilige Gesetzgeber u. a. die „Gesamtverantwortung“ für den betreffenden Regelungsbe-

82  Kirchhof

(Fn. 44), S. 237, 261. (Fn. 44), S. 237, 261. 84  Siehe oben unter A. I. Dazu auch Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Auflage, 2006, S. 183. 85  Kirchhof (Fn. 44), S. 237, 262. 86  Schmidt-Aßmann (Fn. 84), S. 184 unter Verweis auf Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 461 ff. 87  Kirchhof (Fn. 44), S. 237, 262. 88  Kirchhof (Fn. 44), S. 237, 262. 89  Kirchhof (Fn. 44), S. 237, 262. 83  Kirchhof



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie269

reich übernahm.90 Seit 2006 besteht nun die Möglichkeit einer zuvor noch nie da gewesenen gleichgeordneten politischen Verantwortung von Bund und Ländern für einige Teilbereiche von Gesetzgebungsmaterien. Bund und Länder begegnen sich jetzt auf einigen Regelungsgebieten auf Augenhöhe. Erstmals in der Geschichte des Grundgesetzes kommt es zu „strukturell gleichgeordneten Gesetzgeber(n)“.91 Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, lässt die Gleichrangigkeit und gegenseitige Ablösbarkeit der bundesstaatlichen Akteure auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien unübersichtliche Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht befürchten.92 Gesetzgeberische Mischlagen sind in der „neuen“ Gesetzgebungskompetenz jedenfalls normativ angelegt.93 Im Laufe der Zeit könnte auf dem Feld der Abweichungsmaterien ein „Rechts­dickicht“94 von unregelmäßig übereinanderliegenden „Rechtsschichten“ von Bundes- und Landesrecht entstehen.95 Diese „Verflechtung ineinandergreifender Regelungsebenen“ lässt ein „Maß an Verunklarung gesetzgeberischer Verantwortlichkeit befürchten“,96 das mit dem Demokratieprinzip nicht mehr zu vereinbaren ist.97 Setzt sich ein Regelungsinhalt aus Beiträgen des Bundes wie der Länder zusammen, ist – ohne Kenntlichmachung – irgendwann nicht mehr nachvollziehbar, von welchem bundesstaatlichen Akteur welcher Beitrag zur Gesetzgebung stammt, bedenkt man nur, dass es sich bei den Beiträgen sowohl um ältere wie jüngere, wie auch inhaltlich prinzipiell unbeschränkte beider Ebenen handeln kann. Ist für den Bürger mithin nicht erkennbar, welcher Ebene welcher Beitrag zur Gesetzgebung zuzuordnen ist, kann er auch sein Stimmrecht bei der Parlamentswahl weder bewusst noch gezielt ausüben. Auch die Möglichkeit der nachträglichen Korrektur seiner ursprünglichen Wahlentscheidung wird ihm auf diese Weise erschwert. Letztendlich wird er in seiner Freiheit der „demokratischen Korrigierbarkeit 90  Nierhaus / Rademacher, Die große Staatsreform als Ausweg aus der Föderalismusfalle?, LKV 2006, 385, 390 unter Verweis auf Möstl, Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern, ZG 2003, 297, 304. 91  Klein / Schneider, Art. 72 GG n. F. im Kompetenzgefüge der Föderalismusreform, DVBl 2006, 1549, 1553. 92  Siehe oben unter Kapitel 4. B. 93  Siehe oben unter Kapitel 4. B. I. 94  Kment, Raumplanung unter Ungewissheit, ZUR 2011, 127, 128. 95  Siehe oben unter Kapitel 4. B. II. 96  Möstl (Fn. 90), ZG 2003, 297, 304. 97  So auch Möllers, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006, S. 58 / 59 (http: /  / starweb. hessen.de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)).

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt“98 beschnitten. Hinzukommt, dass bei dem beschriebenen „Rechtsdickicht“99 von Bundes- und Landesrecht nicht klar ist, welches Volk welchen Teil der Gesetzgebung legitimiert hat. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien beide bundesstaatlichen Akteure hinsichtlich desselben Regelungsbereichs gesetzgeberisch tätig werden dürfen, so dass der Bürger mit seiner Wahl auf diesem Gebiet von vornherein beide bundesstaatlichen Akteure legitimiere und somit ausnahmsweise auf demokratische Verantwortungsklarheit verzichtet werden könne. Denn der Bürger legitimiert mit seiner Wahl auf Bundesebene den Bundestag, Bundesgesetze auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien zu erlassen, wohingegen er mit seiner Wahl auf Landesebene das jeweilige Landesparlament legitimiert, vom Bundesrecht abweichende landesrechtliche Regelungen zu treffen. Mit seiner jeweiligen Wahlentscheidung legitimiert er mithin bewusst verschiedene Gesetzgeber, womit auch eine unterschiedliche Intention hinsichtlich des Gesetzgebungsinhalts einhergehen kann. Womöglich will er dem Bund die Legitimation erteilen, ein umfängliches Bundesgesetz zu erlassen, wobei es ihm bei seiner Wahl auf Landesebene vielleicht gerade darauf ankommt, dass auf Grund landesspezifischer Besonderheiten abweichende Regelungen getroffen werden. Auch wenn Bund und Länder somit auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien gleichermaßen gesetzgeberisch tätig werden dürfen, geht damit keinesfalls ein Verzicht auf das Gebot demokratischer Verantwortungsklarheit einher. 2. Ungeschriebenes Zitiergebot als Kompensation für den Mangel an demokratischer Verantwortungsklarheit bei der Abweichungsgesetzgebung Für die Abweichungsgesetzgebung und die damit verbundene Gemengelage muss somit auch auf Grund fehlender demokratischer Verantwortungsklarheit eine Kompensation in Form eines ungeschriebenen Zitiergebots mitgedacht werden.100 Dieses Zitiergebot verfolgt gerade den Zweck, die Vorgängernorm exakt zu benennen und den inhaltlichen Unterschied der subsequenten Norm zu dieser offenzulegen.101 Damit sorgt das Zitiergebot für stärkere Klarheit in Hinblick auf die zeitliche Ablöse und das Ausmaß des inhaltlichen 98  Siehe

dazu oben unter A. I. oben unter Kapitel 4. B. II. 100  Folglich verlangt nicht nur das Rechtsstaatsprinzip (siehe dazu oben unter Kapitel 4. C.), sondern auch das der Demokratie nach einer Kompensation der durch die Gemengelage entstehenden Unübersichtlichkeit. 101  Siehe oben unter Kapitel 4. C. I. 1. 99  Siehe



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie271

Unterschieds zur überregelten Norm. Die Beiträge der jeweiligen Gesetzgeber zur Entstehung des Regelungszusammenhangs und -inhalts werden so auf transparente und nachvollziehbare Weise kundgetan. Ist weiterhin das Instrument zur Herstellung demokratischer Verantwortungsklarheit in erster Linie das parlamentarische Gesetz,102 spricht auch das Demokratieprinzip dafür, die Zitierung innerhalb des Gesetzes und nicht beispielsweise in der Gesetzesbegründung vorzunehmen.103 Denn das Gesetz formuliert die Aufgaben und Befugnisse der einzelnen Organe und legt somit bei Kenntlichmachung einer Abweichung durch ein Zitat offen, dass eventuell ganz andere Organe handeln oder die Aufgaben auf verschiedene Weise wahrgenommen werden. Darüber hinaus muss die Zitierung im Gesetz auch aus demokratischer Sicht exakt erfolgen.104 Nur so können die Beiträge des Bundes und der Länder zur Entstehung der Rechtslage klar voneinander abgegrenzt werden.

II. Demokratische Repräsentation Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG bezeichnet die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als „Vertreter des ganzen Volkes“. Im Schrifttum ist man sich dahingehend einig, dass dieser Artikel den sogenannten „Repräsentationsgedanken“ bzw. die „Repräsentationsfunktion“105 beinhaltet.106 Die Abgeordneten sind somit auch mit der Bezeichnung „Repräsentanten des Volkes“ adäquat umschrieben.107 Trotz dieser ersten unproblematischen Annäherung an die Idee der „Repräsentation“108 ist die vollständige Erfassung ihres Inhalts ein schwieriges Unterfangen,109 denn es zeigt sich eine „verwirrende Vielfalt an Kontexten“110, in denen der Begriff verwendet wird, so dass ihm 102  Siehe

oben unter A. I. 1. a). oben unter Kapitel 4. E. I. 104  Siehe oben unter Kapitel 4. E. 105  Trute, in: v.  Münch / Kunig, GG Kommentar, Bd. I, 6. Auflage, 2012, Art. 38 Rn. 73. 106  Heinz, Der Schleier des Nichtwissens im Gesetzgebungsverfahren, 2009, S. 404. 107  Achterberg / Schulte, in: v.  Mangoldt / Klein / Starck, GG-Kommentar, Bd. II, 6. Auflage, 2010, Art. 38 Abs. 1 Rn. 27. 108  Zum Begriff der Repräsentation insbesondere aus historischer Sicht Podlech, in: Brunner / Conze / Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S.  509 ff.; Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, Festschrift für Hans Huber, 1961, S.  222 ff.; Suhr, Repräsentation in Staatslehre und Sozialpsychologie, Der Staat 20 (1981), 517 ff. 109  Heinz (Fn. 106), S. 404. 110  Diese reichen etwa von der Neurobiologie über die Kognitionswissenschaften, die Rechtsphilosophie, die Ästhetik, die Philosophie bis hin zur Erkenntnistheo­ 103  Siehe

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

eine „wissenschaftsübergreifende und auch inhaltliche Deutungsvielfalt“111 beigemessen werden muss. Auch der Begriff der Volksrepräsentation kann damit als ein „Vexierbegriff“112 bezeichnet werden, schließlich kann man sich ihm aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Richtungen nähern, wobei er eigentlich keinen typischen „Rechtsordnungsbegriff, sondern (…) einen idealtypischen Erkenntnisbegriff“113 darstellt. Da es sich bei dieser Arbeit um eine juristische Analyse handelt, wird anschließend der rechtswissenschaftliche Begriff der Repräsentation zu Grunde gelegt.114 Grundsätzlich versteht man unter Repräsentation „alle indirekte Herrschaftsausübung durch das Volk“.115 Damit „bedeutet Repräsentation zunächst nicht mehr als die vergegenwärtigende Darstellung einer als Einheit zwar betrachteten, aber nicht präsenten Personenmenge durch eine Person oder Personengruppe, die im Namen jener zu handeln befugt ist und deren Handlungen den Repräsentierten zugerechnet werden“.116 Während Repräsentation somit auf Einheit angelegt und nach außen gerichtet ist, weil sie stets ein Gegenüber braucht, hat „die Demokratie mit der Innenansicht zu tun und diese wird durch Vielfalt, nicht durch Einheit bestimmt“.117 Bedeutet Repräsentation somit die Zurechnung des Handelns der Repräsentanten zu den Repräsentierten, bedarf es zunächst der Legitimation der Volksvertretung durch das Volk.118 Diese Legitimation wird durch die Parlamentsrie, siehe Hofmann, Repräsentation, Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 4. Auflage, 2003, Einleitung zitiert nach Stolleis, Im Namen des Gesetzes, in: Dreier (Hrsg.) Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 33. 111  Heinz (Fn. 106), S. 404 unter Verweis auf Lang, Gesetzgebung in eigener Sache, 2007, S. 353. 112  Zu diesem Begriff im Kontext der demokratischen Legitimation Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 1. 113  Achterberg / Schulte (Fn. 107), Art. 38 Abs. 1 Rn. 27 unter Verweis auf Hartmann, Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland, 1979; Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 3. Auflage, 1966; Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991; Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, in: Rausch (Hrsg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, 1968, S. 260, 292. 114  Allein auf den rechtswissenschaftlichen Begriff abstellend Lang (Fn. 111), S. 315. 115  Achterberg / Schulte (Fn. 107), Art. 38 Abs. 1 Rn. 29. 116  Trute (Fn. 105), Art. 38 Rn. 75 unter Verweis auf Grimm, Artikel zur Repräsentation, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 4, 7. Auflage, 1995, S. 878 r. Sp. 117  Meyer, Repräsentation und Demokratie, in: Dreier (Hrsg.) Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit, 2005, S. 99, 100, 103. 118  Achterberg / Schulte (Fn. 107), Art. 38 Abs. 1 Rn. 29.



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie273

wahl hergestellt.119 Damit drängt sich geradezu die Frage nach der Abgrenzung von Legitimation und Repräsentation auf. Beide Begrifflichkeiten wurden in der Vergangenheit in der Repräsentationsdiskussion nicht streng genug auseinander gehalten.120 Würde man bei einer weiten Auffassung alle Staatsorgane für Repräsentationsorgane halten, einfach weil sie Teil eines demokratischen Staates sind, wäre die Idee der Repräsentation überflüssig, denn sie würde sich mit dem Begriff der demokratischen Legitimation121 decken.122 Vorzugswürdig erscheint es daher, nur die vom Volk gewählten Volksvertreter als Repräsentanten zu betrachten.123 Es bedarf mithin einer „spezifischen Relation zwischen Volk und Organ, die von der – allen Staatsorganen zukommenden – demokratischen Legitimation zu unterscheiden ist“.124 Repräsentation kann in diesem Kontext „als spezifische Erscheinungsform der Legitimation“ eingeordnet werden.125 Demokratisch legitimiert sind alle Staatsorgane, über eine Repräsentationsfunktion verfügen hingegen nur die gewählten Volksvertreter.126 Der Wahlakt als der „rechtlich umfassend normierbare Legitimationsakt“ macht die Gewählten noch nicht zu „Repräsentanten des Volkswillens“, sondern räumt ihnen lediglich die Chance ein, solche zu werden.127 Er stellt den „maßgeblichen Zurechnungsgrund der demokratischen Repräsentation“ dar.128 Repräsentation kann man 119  Achterberg / Schulte

(Fn. 107), Art. 38 Abs. 1 Rn. 29. Kimme, Das Repräsentativsystem, 1988, S. 146. 121  Zum Begriff siehe oben unter A. I. 122  Gusy, Demokratische Repräsentation, ZfP 1989, 264, 266. 123  Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 267. 124  Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 267. 125  Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 267. 126  Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 271. 127  So Kimme (Fn. 120), S. 146. Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 28 / 29 unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der formalen und inhaltlichen Repräsen­ tation des Volkswillens. Erstere fällt seiner Auffassung nach mit dem legitima­ tionsstiftenden Wahlakt zusammen, wobei es bei letzterer darauf ankommt, ob sich „die Bürger in dem Handeln der Leitungsorgane wiederfinden können“. Böckenförde bildet mithin den Oberbegriff der Repräsentation und unterscheidet innerhalb dieses Oberbegriffs zwischen der formalen Repräsentation, die nach dem hiesigen Verständnis der Legitimation entspricht und der materiellen Repräsentation, die nach dem hier vorgestellten Konzept den Begriff der Repräsentation umfasst. Auch Heinz (Fn. 106), S. 408 ff. stellt formelle und materielle Repräsentationstheorien in seinem Werk vor. Nach der formellen Repräsentationstheorie handelt es sich bei der Repräsentation lediglich um einen „rein technischen Zurechnungsmodus“, um das Verhältnis zwischen Abgeordneten und Volk zu beschreiben. Die von Heinz (Fn. 106), S. 409 vorgestellten materiellen Repräsentationstheorien beschreiben hingegen einen geisteswissenschaftlichen Begriff. Er geht insbesondere auf die Modelle von Leibholz (Fn. 113) und Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, ein. 128  Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 275. Ebenso Badura (Fn. 7), § 24 Rn. 31. 120  So

274

Kap. 5: Aspekte der Demokratie

hingegen als die dynamische Spiegelung des Volkswillens bezeichnen, die „durch einen (öffentlichen) Dialog während der Wahlperiode garantiert“ wird.129 Erst die Verbindung beider Grundsätze führt zu einem „Maximum an Verwirklichungsmöglichkeit des demokratischen Volkswillens“.130 Mit der Wahl tritt die Legitimation der Abgeordneten und damit der „Befolgungsanspruch ihrer Entscheidungen“131 ein. Doch erst der Repräsentationsdialog mit der Öffentlichkeit führt zu einer tatsächlichen „Verwirklichung des Gemeinwohls“.132 Daher kann der „Repräsentationsdialog auch als das Immunsystem des Staatskörpers“ bezeichnet werden.133 1. Vorgang demokratischer Repräsentation134 Ziel demokratischer Repräsentation ist das „Wiedererkennen der Repräsentierten im Repräsentanten“135, mithin die „Identifikation“136 beider Personengruppen miteinander. Hierfür bedarf es eines Systems, kraft dessen die Repräsentierten gegen sich gelten lassen können, was die Repräsentanten beschlossen haben.137 Dies geschieht nur durch weitreichende Akzeptanz138 bzw. Rezeption staatlichen Handelns, so dass selbst die Beschlüsse, die gegen den Willen der Mehrheit getroffen werden, z. B. Steuerbeschlüsse, befolgt werden.139 Nicht der staatliche Befolgungsanspruch an sich, sondern die reale Rezeption und Akzeptanz staatlichen Handelns kraft Repräsenta­ tion sind somit für ein funktionierendes Gemeinwesen entscheidend.140 Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang zumindest auf den ersten Blick, dass das Gemeinwesen von „gesellschaftlicher Vielheit und Gegensätzlichkeit“ geprägt ist.141 Widerstreitende Aufgabe des Staates ist es, für 129  Kimme

(Fn. 120), S. 146 / 147. (Fn. 120), S. 147. 131  Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 267. 132  Kimme (Fn. 120), S. 147. So auch Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 29 und Badura (Fn. 7), § 24 Rn. 31. 133  Kimme (Fn. 120), S. 147. 134  Die Überschriftenbezeichnung folgt Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 35. 135  Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 35. 136  Drath (Fn. 113), S. 260, 296. Zur Entstehung von Identifikation aus sozialpsychologischer Sicht siehe Suhr (Fn. 108), Der Staat 20 (1981), 517 ff. 137  Drath (Fn. 113), S. 260, 296. 138  Drath (Fn. 113), S. 260, 296. Zur Akzeptanz im Rahmen demokratischer Repräsentation Gusy (Fn. 122), ZfP 1989, 264, 276 sowie zur Akzeptanz im Rahmen des demokratischen Prinzips Trute (Fn. 13), § 6 Rn. 48. 139  Drath (Fn. 113), S. 260, 296. 140  Drath (Fn. 113), S. 260, 295. 141  Drath (Fn. 113), S. 260, 295. 130  Kimme



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie275

Einheit zu sorgen.142 Tatsächlich besteht zwischen diesen beiden zunächst gegensätzlich wirkenden Kräften aber kein Widerspruch, wenn die bereits angesprochene Akzeptanz und Rezeption in der Bevölkerung so weit ausgeprägt ist, dass sich staatliches Handeln selbst für Opponenten „im Rahmen des Vorstellbaren und Akzeptablen“ bewegt und sie somit in der Lage sind, es zu integrieren.143 „Erst dieses Verhältnis zwischen der Minderheit und der Mehrheit der Volksvertretung ermöglicht eine Repräsentation des ganzen Volkes, das also durch wirklich repräsentatives Handeln zugleich zur Einheit integriert und nicht nur zusammengezwungen wird.144 Es ermöglicht auch, daß das Volk ein einheitliches Subjekt der Volkssouveränität sei und bleiben kann.“145 Es bedarf mithin eines funktionierenden Systems von „politischen Voraussetzungen, sozialen Verhaltensweisen, adäquaten Normen und einer entsprechenden Rechtswirklichkeit“, damit der freiwillige Gehorsam der Bevölkerung von vornherein gesichert ist und nicht zwangsweise durchgesetzt werden muss.146 Dies geschieht nur, wenn sich das Volk mit seinen Repräsentanten tatsächlich identifiziert. Hierfür bedarf es neben der Akzeptanz und Rezeption staatlichen Handelns vor allem auch des Vertrauens der Repräsentierten in das Handeln der Repräsentanten.147 Das Verhältnis zwischen Repräsentierten und Repräsentanten kann demnach auch als eine „Vertrauensbeziehung auf Gegenseitigkeit“ bezeichnet werden, ist doch den Repräsentanten die staatliche Herrschaft nur auf Zeit, „stellvertretend und zu treuen Händen übertragen“.148 Konsequenterweise muss staatliches Handeln hinreichend kontrollierbar sein.149

142  Drath

(Fn. 113), S. 260, 295. (Fn. 113), S. 260, 295. 144  Drath (Fn. 113), S. 260, 295. 145  Drath (Fn. 113), S. 260, 295. 146  Drath (Fn. 113), S. 260, 296. 147  BVerfGE 123, 39, 68, Besprechung dieser Entscheidung u. a. bei Volkmann, Rechtsgewinnung aus Bildern – Beobachtungen über den Einfluss dirigierender Hintergrundvorstellungen auf die Auslegung des heutigen Verfassungsrechts, in: Krüper / Merten / Morlok (Hrsg.), An den Grenzen der Rechtsdogmatik, 2010, S. 77, 82, der in Fn. 19 auf die „zentrale Kategorie ‚Trust‘ in der angelsächsischen Demokratietheorie“ verweist, vgl. Warren (Hrsg.), Democracy and Trust, 1999 und Andrain / Smith, Political Democracy, Trust and Social Justice, 2005. 148  Volkmann (Fn. 147), S. 77, 82. 149  Volkmann (Fn.  147), S. 77, 82. Zur „demokratischen Korrigierbarkeit der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt“ siehe oben unter A. I. Mit dem Erfordernis der Kontrollierbarkeit staatlichen Handelns schließt sich der Kreis vom Begriff der Repräsentation zu dem der demokratischen Legitimation. 143  Drath

276

Kap. 5: Aspekte der Demokratie

2. Gefährdung demokratischer Repräsentation durch das Defizit an eigener Urteilsbildung und Überschaubarkeit politischer Entscheidungsfragen bei den Repräsentanten150 Versteht man unter demokratischer Repräsentation die „dynamische Spiegelung des Volkswillens“151, so kann es sich dabei nicht um einen statischen Zustand, sondern nur um einen stets aufgegebenen152 Prozess handeln.153 Dieser Prozess kann erheblich gefährdet sein, wenn die Repräsentanten den Eindruck erwecken bzw. tatsächlich nicht wissen, worüber sie im parlamentarischen Prozess abstimmen.154 Dieses Problem betrifft auch die Abweichungsgesetzgebung. Ohne Kenntlichmachung ist nicht unbedingt klar, dass beispielsweise ein landesrechtlicher Sonderweg bestritten werden soll. Auch die Verdrängungswirkung des lex-posterior-Grundsatzes in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG, deren Kenntlichmachung bei einer bundesrechtlichen Abweichung insbesondere im Vordergrund steht, wird ohne Zitat möglicherweise verÜberschriftenbezeichnung folgt Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 36. dazu oben unter A. II. 152  Der demokratische Prozess ist an sich nicht etwas Vorgegebenes, sondern stets etwas Aufgegebenes, vgl. Trute (Fn. 139), § 6 Rn. 2. 153  Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 36. 154  Vgl. etwa Marco Bülow (Bundestagsmitglied), Düstere Aussichten, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 41 / 2007 vom 12.  Oktober 2007 (http: /  / sz-magazin.sued deutsche.de / texte / anzeigen / 3658 / 3 / 1 (24.06.15)): „Wenn ich mir anschaue, wie dick der Stapel der Vorlagen ist, der jede Woche auf dem Tisch vor dem Plenarsaal liegt – nur zum Lesen allein bräuchte ich schon eine Woche. Das führt dazu, dass ich bei vielen Abstimmungen weder den Gesetzestext kenne noch wirklich weiß, worum es geht. Wenn es sich um Entscheidungen handelt, die nichts mit meinem Fachgebiet zu tun haben, muss ich mich auf die jeweiligen Experten verlassen. Gibt es im Vorfeld keine großen Streitigkeiten oder Einwände aus meinem Wahlkreis, dann kümmere ich mich nicht weiter um den genauen Inhalt der Entscheidung, sondern stimme ab, wie die Fraktion will. Als Abgeordneter bin ich oft ein gefährlich Halbwissender.“, vgl. Towfigh, Komplexität und Normenklarheit – oder: Gesetze sind für Juristen gemacht, Der Staat 48 (2009), 29, 61 Fn. 174. Towfigh führt a. a. O. weiter aus: „Es ist kein Geheimnis, dass die Parlamentarier viele der Gesetzesvorlagen, über die sie abstimmen, nicht kennen oder nicht verstehen. Schon die schiere Menge der Gesetzesvorgänge macht eine Arbeitsteilung auch in den Parlamenten unumgänglich. Darüber hinaus gibt es Vorgänge, bei denen auch die beteiligten Fachpolitiker die vorgeschlagene lex ferenda oder etwa die Spielräume, die ihnen das bestehende Recht für die neue Gesetzgebung eröffnet, nicht durchschauen. Bisweilen verhindert Zeitdruck eine sachangemessene Befassung mit einem Gesetzgebungsvorschlag. Nach dem heute vorherrschenden Verständnis des grundgesetzlichen Demokratiebegriffs führt eine Überforderung der Abgeordneten durch die Komplexität des jeweils zu setzenden Rechts und der vielfältigen zu diesem führenden Verfahren allenfalls zu einer Verringerung der demokratischen Legitimation, jedoch nicht zu einer Verletzung des Demokratieprinzips.“ Übereinstimmend wird in dieser Arbeit auch nur von einer Gefährdung demokratischer Repräsentation gesprochen. 150  Die

151  Siehe



A. Volkssouveränität und repräsentative Demokratie277

kannt. Angesichts der Fülle und Ausdifferenziertheit moderner Gesetzgebungstätigkeit kann außerdem realistischerweise nicht von jedem Abgeordneten erwartet werden, dass er sich des vielleicht auch nur punktuell abweichenden Charakters eines Gesetzgebungsentwurfs ohne ausdrücklichen Hinweis immer vollends bewusst ist.155 Das System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie setzt aber voraus, dass dem Abgeordneten alle Informationen, die er für eine eigenverantwortliche Entscheidung über das Gesetzgebungsvorhaben benötigt, bereitgestellt werden.156 „So wird er in die Lage versetzt, sich ein eigenes Urteil von den parlamentarischen Vorgängen zu bilden. Parlamentarische Verfahren und die mit ihnen verfolgten Ziele müssen folglich für den Abgeordneten verstehbar und transparent sein.“157 Ist dies nicht gewährleistet, ist sein Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung158 gefährdet.159 Dieses Recht geht zurück auf den status activus des Bürgers, der in Art. 38 Abs. 1 S. 1 155  Vgl. zur Warn- und Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG oben unter Kapitel 3. A. II. 1. Zur Unkenntnis der Abgeordneten im Gesetzgebungsverfahren siehe Karpen, Gesetzescheck (2005–2007): Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Gesetzen, ZRP 2008, 97, 98. Zur „asymmetrischen Verteilung des Wissens“ zwischen Parlament und Exekutive siehe Trute, Parlamentarische Kontrolle in einem veränderten Umfeld – am Beispiel der Informationsrechte der Abgeordneten, in: Die Verfassungsgerichte der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (Hrsg.), 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014, S. 167, 173. 156  SächsVerfGH, NVwZ 2011, 936; siehe dazu auch Trute (Fn. 155), S. 167 ff. Mengel, Gesetzgebung und Verfahren, 1997, S. 280 f. spricht in diesem Zusammenhang von der „Entscheidungsfreiheit der Entscheidungsträger“ und meint damit die Möglichkeit des Abgeordneten, „sich zwischen gegebenen Alternativen entscheiden“ zu können. (S. 281) Neben der Kenntnis über mögliche Alternativen gehören zur Entscheidungsfreiheit seiner Ansicht nach weiterhin „die Kenntnis über die Motive gesetzgeberischer Entscheidungsfindung, die Auslöser des Entscheidungsprojektes, die Zielrichtung, die Folgen, die Kosten für die Gesamtgesellschaft, die Stellungnahmen der Betroffenen, die Einflussnahme von Interessengruppen, die Regelungen, die in anderen Ländern zu gleichen Problemen schon existieren und die gemachten Erfahrungen (und) ausreichende Zeit zur Entscheidungsfindung.“ (S. 282) Zum Status des Abgeordneten allgemein Röper, Parlamentarier und Parlament, 1998. 157  SächsVerfGH, NVwZ 2011, 936. Ausführlich dazu Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988. 158  BVerfGE 2, 143, 164. 159  SächsVerfGH, NVwZ 2011, 936. Das freie Mandat schützt nicht nur die Entscheidung selbst, sondern auch den Prozess der Entscheidungsfindung, etwa durch parlamentarische Informations- und Teilnahmerechte. Vgl. Towfigh (Fn. 154), Der Staat 48 (2009), 29, 61 Fn. 178 unter Verweis auf Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GGKommentar, Bd. II, 3. Auflage, 2015, Art. 38 Rn. 149. Zum „Wissen als Voraussetzung für die Inanspruchnahme politischer Teilhaberechte und als Voraussetzung von Entscheidungen“, Trute, Wissen – Einleitende Bemerkungen, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 11, 36.

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

GG als grundrechtsgleiches Recht verbürgt ist.160 Zu diesem Recht zählt vor allem die Gleichheit der Wahl.161 Auf Bundes- bzw. Landesebene setzt es sich durch die Wahl der Abgeordneten des jeweiligen Parlaments fort.162 Das Bundesverfassungsgericht meint hierzu weiter wie folgt: „Aus diesem Grund ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Wahlgleichheit nicht nach dem Wahlakt sogleich wieder verloren geht. Sie muss auf der zweiten Stufe der Entfaltung demokratischer Willensbildung, das heißt im Status und der Tätigkeit des Abgeordneten fortwirken. Zu dem Status der Abgeordneten gehört deshalb das in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistete Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung. […] So setzt sich insbesondere die Gleichheit der Wahl in der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten fort und hält damit auch in den Verzweigungen staatlich-repräsentativer Willensbildungsprozesse die demokratische Quelle offen, die aus der ursprünglichen, im Wahlakt liegenden Willensbetätigung jedes einzelnen Bürgers fließt. Das freie Mandat „schließt die Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk nicht aus, sondern ganz bewusst ein und schafft durch den Zwang zur Rechtfertigung Verantwortlichkeit.“163

Merken die Repräsentierten somit bei fehlender Kenntlichmachung einer Abweichung das „Defizit an eigener Urteilsbildung und Überschaubarkeit politischer Entscheidungsfragen bei den Repräsentanten“, kann ihr Vertrauen darauf, dass die Repräsentanten in der Lage sind, für die Bürger also die Repräsentierten zu handeln, erheblich erschüttert werden.164 3. Ungeschriebenes Zitiergebot als Kompensation für die Gefährdung demokratischer Repräsentation Für die Abweichungsgesetzgebung und die damit verbundene Gemengelage muss somit auch auf Grund der sonst bestehenden Gefährdung demokratischer Repräsentation eine Kompensation in Form eines ungeschriebenen Zitiergebots mitgedacht werden. Eine Zitierung hat in diesem Zusammenhang also die Funktion, dem einzelnen Abgeordneten schon bei einer groben Durchsicht des Entwurfs erkennbar zu machen, dass Sonderwege beschritten werden sollen bzw. die Verdrängungswirkung des lex-posterior-Grundsatzes eintritt. Der Abgeordnete wird mithin in transparenter Weise über diesen Umstand aufgeklärt, ohne dass es für diese Erkenntnis eines inhaltlichen Abgleichs von Bundes- und Landesrecht seinerseits bedarf. Der inhaltliche Abgleich ist ihm trotz Zitierung selbstverständlich nicht verwehrt, im Ge160  BVerfG

NJW 2005, 203, 204. NJW 2005, 203, 204. 162  BVerfG NJW 2005, 203, 204. 163  BVerfG NJW 2005, 203, 204. 164  Böckenförde (Fn. 52), § 34 Rn. 36. 161  BVerfG



B. Zusammenfassung279

genteil sogar geboten, damit er sich ein eigenes Urteil darüber bilden kann, „ob ein zulässiger Abweichungsfall vorliegt“.165 Das Zitiergebot wird mithin zum Hauptakteur innerhalb eines mehrstufigen Prozesses der Wissensgenerierung166 und -kommunikation. Bei Erstellung der Gesetzesentwürfe – zumeist innerhalb der Regierung – sorgt es für die Generierung von Wissen167 in Hinlick darauf, ob der Gesetzesentwurf eine Abweichung von Bundes- oder Landesrecht darstellt. Dieses Wissen über den Bestand einer Abweichung wird mit dem Zitat im Entwurf den Angeordneten im Plenum mitgeteilt bzw. kommuniziert. Über den parlamentarischen Prozess hinaus wird das Wissen über den Bestand einer Abweichung mit Erlass des Gesetzes in die Rechtsordnung eingespeist. Vergegenwärtigt man sich mithin die „asymmetrische Verteilung des Wissens“ zwischen Parlament und Regierung schon allein auf Grund der höheren Sachkunde der Exekutive168, sorgt das Zitiergebot für eine Verkürzung des Wissensvorsprungs der Exekutive gegenüber dem Parlament. Auch der parlamentarischen Kontrolle der Regierung169 wird demnach mittels eines Zitiergebots Rechnung getragen, so dass die Gefährdung des Repräsentationsprinzips auch auf Grund mangelnder Kontrollierbarkeit eine Einschränkung erfährt.

B. Zusammenfassung Somit bedarf es auch aus Gründen demokratischer Verantwortungsklarheit und Repräsentation eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung. Die Gleichrangigkeit und gegenseitige Ablösbarkeit der bundesstaatlichen Akteure auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien kann zu unübersichtlichen Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht führen. Die Verflechtung ineinandergreifender Regelungsebenen lässt ein Maß an Verunklarung gesetzgeberischer Verantwortlichkeit befürchten, das mit dem Demokratieprinzip nicht mehr zu vereinbaren ist. Setzt sich ein Regelungsinhalt aus Beiträgen des Bundes wie der Länder zusammen, ist – ohne Kenntlichma165  Siehe

dazu oben unter Kapitel 4. C. II. 2. Trute (Fn. 159), S. 11, 26. 167  Schmidt-Aßmann, Die Ambivalenz des Wissens und Ordnungaufgaben des Rechts, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 39 ff.; Röhl, Der rechtliche Kontext der Wissenserzeugung, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 65 ff.; Möllers, Kognitive Gewaltengliederung, Die Verwaltung, Beiheft 9, 2010, S. 113 ff.; Trute (Fn. 159), S.  11 Fn.  3 m. w. N. 168  Dazu Trute (Fn. 155), S. 173. 169  Dazu Trute (Fn. 155), S. 167 ff. 166  Dazu

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Kap. 5: Aspekte der Demokratie

chung – irgendwann nicht mehr nachvollziehbar, von welchem bundesstaatlichen Akteur welcher Beitrag zur Gesetzgebung stammt, bedenkt man nur, dass es sich bei den Beiträgen sowohl um ältere wie jüngere, wie auch inhaltlich prinzipiell unbeschränkte beider Ebenen handeln kann. Ist für den Bürger mithin nicht erkennbar, welcher Ebene welcher Beitrag zur Gesetzgebung zuzuordnen ist, kann er auch sein Stimmrecht bei der Parlamentswahl weder bewusst noch gezielt ausüben. Auch die Möglichkeit der nachträglichen Korrektur seiner ursprünglichen Wahlentscheidung wird ihm auf diese Weise erschwert. Letztendlich wird er in seiner Freiheit der „demokratischen Korrigierbarkeit der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt“ beschnitten. Ein Zitiergebot sorgt für stärkere Klarheit in Hinblick auf die zeitliche Ablöse und das Ausmaß des inhaltlichen Unterschieds der subsequenten zur überregelten Norm. Die Beiträge der jeweiligen Gesetzgeber zur Entstehung des Regelungszusammenhangs und -inhalts werden auf transparente und nachvollziehbare Weise kundgetan. Da weiterhin das Instrument zur Herstellung demokratischer Verantwortungsklarheit in erster Linie das parlamentarische Gesetz ist, spricht auch das Demokratieprinzip dafür, die Zitierung innerhalb des Gesetzes und nicht beispielsweise in der Gesetzesbegründung vorzunehmen. Darüber hinaus muss die Zitierung im Gesetz auch aus demokratischer Sicht exakt erfolgen. Nur so können die Beiträge des Bundes und der Länder zur Entstehung der Rechtslage klar voneinander abgegrenzt werden. Für die Abweichungsgesetzgebung und die damit verbundene Gemengelage muss auch auf Grund der sonst bestehenden Gefährdung demokratischer Repräsentation eine Kompensation in Form eines ungeschriebenen Zitiergebots mitgedacht werden. Das Zitat kann dem einzelnen Abgeordneten schon bei einer groben Durchsicht des Entwurfs erkennbar machen, dass Sonderwege beschritten werden sollen bzw. die Verdrängungswirkung des lex-posterior-Grundsatzes eintritt. Angesichts der Fülle und Ausdifferenziertheit moderner Gesetzgebungstätigkeit kann realistischer Weise nicht von jedem Abgeordneten erwartet werden, dass er sich des vielleicht auch nur punktuell abweichenden Charakters eines Gesetzgebungsentwurfs ohne ausdrücklichen Hinweis immer vollends bewusst ist. Das System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie setzt aber voraus, dass dem Abgeordneten alle Informationen, die er für eine eigenverantwortliche Entscheidung über das Gesetzgebungsvorhaben benötigt, bereitgestellt werden. Ist dies nicht gewährleistet, ist sein Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung gefährdet. Das Zitiergebot wird mithin zum Hauptakteur innerhalb eines mehrstufigen Prozesses der Wissensgenerierung und -kommunikation zwischen Re-



B. Zusammenfassung281

gierung und Parlament. Bei Erstellung der Gesetzesentwürfe – zumeist innerhalb der Regierung – sorgt es für die Generierung von Wissen in Hinlick darauf, ob der Gesetzesentwurf eine Abweichung von Bundes- oder Landesrecht darstellt. Dieses Wissen über den Bestand einer Abweichung wird mit dem Zitat im Entwurf den Angeordneten im Plenum mitgeteilt bzw. kommuniziert. Über den parlamentarischen Prozess hinaus wird das Wissen über den Bestand einer Abweichung mit Erlass des Gesetzes in die Rechtsordnung eingespeist. Vergegenwärtigt man sich mithin die „asymmetrische Verteilung des Wissens“ zwischen Parlament und Regierung schon allein auf Grund der höheren Sachkunde der Exekutive, sorgt das Zitiergebot für eine Verkürzung des Wissensvorsprungs der Exekutive gegenüber dem Parlament. Auch der parlamentarischen Kontrolle der Regierung wird demnach mittels eines Zitiergebots Rechnung getragen, so dass die Gefährdung des Repräsentationsprinzips auch auf Grund mangelnder Kontrollierbarkeit eine Einschränkung erfährt. Nachdem somit die verfassungsrechtliche Begründung eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung basierend auf den Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie erfolgt ist, bedarf es abschließend der Klärung der Folgen eines Verstoßes gegen das Zitiergebot.

Kapitel 6

Konsequenzen eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung Das Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats.1 Die Nichtbeachtung dieses Gebots stellt damit einen Verfassungsverstoß dar. Wie mit diesem umzugehen ist und welche weiteren Konsequenzen etwa für die prozessuale Geltendmachung bestehen, wird in diesem Kapitel beleuchtet.

A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot Nachdem die Existenz eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung basierend auf den Geboten rechtsstaatlicher Klarheit und demokratischer Transparenz2 nachgewiesen ist, stellt sich anschließend die Frage nach den Folgen der Nichtbeachtung dieses Gebots. Art. 72 Abs. 3 GG enthält zu dieser Frage keine Angaben. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, handelt es sich bei dem Zitiergebot doch um ein ungeschriebenes, so dass auch die Folgen seiner Missachtung keine positive Verankerung im Grundgesetz gefunden haben können.3 In Betracht kommt in diesem Zusammenhang allerdings ein Analogieschluss zu den geschriebenen Zitiergeboten in Art. 19 Abs. 1 S. 2 und Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG. Einem Verstoß gegen diese beiden Gebote folgt prinzipiell das Verdikt der Nichtigkeit.4 Einem Analogieschluss auf die Rechtsfolge der Missachtung der beiden 1  Siehe

dazu Kapitel 4 und 5. dazu Kapitel 4 und 5. 3  Wenn v. Stackelberg, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder im Naturschutzrecht, 2012, S. 41 allerdings aus dem Umstand der fehlenden positiv-recht­ lichen Verankerung des Zitiergebots und notwendigerweise auch der Rechtsfolge seiner Missachtung folgert, dass die Nichtbeachtung keinesfalls die formelle Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Norm zur Folge haben darf, ist dies zu weit gegriffen, denn auch ein ungeschriebenes Zitiergebot ist Teil der Verfassung. An seine Missachtung sind grundsätzlich dieselben Rechtsfolgen wie an jeden anderen Verfassungsverstoß zu knüpfen. 4  Siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 4. c). 2  Siehe



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot283

geschriebenen Gebote wird aber entgegengehalten, bei der Frage nach der Rechtsfolge der Missachtung des ungeschriebenen Zitiergebots handele es sich „nicht um eine planwidrige Regelungslücke“5, schließlich habe „der verfassungsändernde Gesetzgeber bewusst von einer Regelung abgesehen“6. Dem kann nicht gefolgt werden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat sich 2006 zwar durchaus bewusst gegen die Aufnahme eines geschriebenen – und aus seiner Sicht „konstitutiven“7 – Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung entschieden.8 Allerdings geht bereits die planwidrige Regelungslücke als Voraussetzung einer Analogie nicht immer mit einem unbewussten Handeln des Gesetzgebers einher. Vielmehr kann die Lücke vom Gesetzgeber bewusst oder unbewusst gelassen werden.9 Mitunter lässt der Gesetzgeber bewusst eine Lücke, damit beispielsweise Rechtsprechung und / oder Wissenschaft die Rechtsfrage klären.10 „Planwidrig“ ist mithin nicht mit „unbewusst“ gleichzusetzen.11 Vielmehr stellt sich in Hinblick auf die „Planwidrigkeit“ die Frage, ob ein bestimmter Bereich eigentlich gesetzlich geregelt sein müsste.12 Der oben genannten Auffassung ist allerdings einzuräumen, dass im Falle des „beredten Schweigens“13 des Gesetzgebers eine Lückenfüllung über einen Analogieschluss versperrt ist. Fraglich ist daher, ob sich der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 2006 tatsächlich bewusst gegen das in dieser Arbeit vorgeschlagene Zitiergebot – die Rechtsfolgen seiner Missachtung inbegriffen – entschieden hat. 2006 hat der Gesetzgeber zwar auf die positive Normierung eines Zitiergebots verzichtet. Allerdings war er sich nicht im Klaren darüber, dass die Einführung der Abweichungsgesetzgebungskompetenz in das Grundgesetz nach einem Zi5  v. Stackelberg

(Fn. 3), S. 41. (Fn. 3), S. 41. 7  Konstitutiv meint in diesem Zusammenhang „erstmalig, überhaupt erst in das Grundgesetz einführend“. 8  Siehe oben unter Kapitel 1. B. VII. 9  Zu bewussten und unbewussten Lücken im Gesetz Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, 8. Auflage, 2015, Rn. 851 und 852. 10  Rüthers / Fischer / Birk (Fn. 9), Rn. 835. 11  Rüthers / Fischer / Birk (Fn. 9), Rn. 835. 12  BVerfGE 25, 167, 183; entscheidend ist nicht ein Gesamtplan der Rechtsordnung, vielmehr muss der jeweilige Plan im Kleinen gefunden werden. Dazu auch Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 11. Auflage, 2013, Rn. 371 ff.; Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, 1995, S. 196; Rüthers / Fischer / Birk (Fn. 9), Rn. 889; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Auflage, 2006, S. 67; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage, 1999, Rn. 476 ff.; Sauer, Juristische Methodenlehre, Neudruck der Ausgabe von 1940, 1970, S. 288; Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, 118 ff. 13  BVerfGE 69, 315, 372; Rüthers / Fischer / Birk (Fn. 9), Rn. 838. 6  v. Stackelberg

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

tiergebot auf Grund der Prinzipien des Rechtsstaats14 und der Demokratie15 verlangt. Dafür spricht bereits, dass 2006 die Einführung des Zitiergebots nur aus Gründen rechtsstaatlicher Klarheit diskutiert wurde.16 Demokratische Erwägungen wurden nicht angestellt.17 Somit hat der Gesetzgeber mit seinem Verhalten im Jahre 2006 auch keine Aussagen über ein bereits in der Verfassung angelegtes Zitiergebot und schon gar nicht über die Rechtsfolgen seiner Missachtung getroffen. Mithin hat der Gesetzgeber die damals schon bestehende Rechtslage verkannt, er handelte in Hinblick auf das Erfordernis eines Zitiergebots unbewusst. Bei seiner Entscheidung gegen ein geschriebenes Zitiergebot kann es sich somit auch nicht um einen Fall „beredten Schweigens“ des Gesetzgebers handeln. Eine planwidrige Regelungslücke ist zweifelsohne gegeben. Ein Analogieschluss auf die Rechtsfolge der Missachtung der geschriebenen Zitiergebote im Grundgesetz ist nicht von vornherein verwehrt. Dieser Analogieschluss ist allerdings nicht notwendig, wenn schon das allgemeine Prinzip der Nichtigkeit als Folge von Verfassungsverstößen greift.

I. Das hergebrachte Nichtigkeitsdogma Überlegungen zu den Folgen eines fehlerhaften Rechtsaktes finden ihren Ausgangspunkt grundsätzlich im sogenannten Nichtigkeitsdogma.18 „Danach sind fehlerhafte Normen – im Gegensatz zu Verwaltungsakten – prinzipiell ipso iure nichtig.“19 Rechtshistorisch wird das Nichtigkeitsdogma als 14  Siehe

dazu Kapitel 4. dazu Kapitel 5. 16  Siehe oben unter Kapitel 1. B. VII. 17  Lediglich Meyer, Die Föderalismusreform 2006, 2008, S. 172, machte auf demokratische Probleme der Abweichungsgesetzgebung aufmerksam, dies allerdings nicht im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestags im Jahr 2006, sondern in seiner Monographie zum Thema „Föderalismusreform“ aus dem Jahr 2008. Dort heißt es: „Das Zitiergebot schützt nicht nur den Rechtsunterworfenen, der sich bei einer Abweichung zweier Geltung beanspruchender Rechtsquellen mit gegenläufigen Wertungen, Befehlen oder Erlaubnis gegenübersieht, es eröffnet auch dem Landesgesetzgeber bei der normalen Gesetzesinitiative durch die Regierung ein eigenes Urteil, ob ein zulässige Abweichungsfall vorliegt.“ Auch diese Ausführungen standen allerdings unter der Überschrift: „Rechtsstaatliches Zitiergebot“. Somit misst auch Meyer, a. a. O., der rechtsstaatlichen Begründung eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung ein höheres Gewicht bei. 18  Baars, Rechtsfolgen fehlerhafter Verwaltungsvorschriften, 2010, S. 173. 19  Ossenbühl, Eine Fehlerlehre für untergesetzliche Normen, NJW 1986, 2805, 2807; Menzel, Kompetenzkonflikt zwischen Bund und Land in der Gesetzgebung, DVBl 1997, 640, 642 ff.; Hartmann, Verfassungswidrige und doch wirksame Rechtsnormen, DVBl 1997, 1264 ff.; Pietzcker, Zur Inzidentverwerfung untergesetzlicher Rechtsnormen durch die vollziehende Gewalt, AöR 101 (1976), S. 374, 381. 15  Siehe



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot285

gewachsene Tradition der deutschen Rechtsordnung gesehen.20 Bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Zeit der Weimarer Reichsverfassung hinaus dient es zur Erklärung und Legitimierung der richter­ lichen Prüfungskompetenz.21 Denn eigentlich ist der Richter als Judikativ­ organ nach Art. 97 Abs. 1 GG dem Gesetz unterworfen, d. h. er verstößt an sich gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung, wenn er ein von der Legislative erlassenes Gesetz nicht anwendet. Ist das Gesetz jedoch nichtig, braucht er es nicht anzuwenden. „Die Nichtbindung des Richters ist somit Prämisse für seine Prüfungskompetenz.“22 „Darf das Gericht einen Rechtsakt überprüfen, so kann es nicht an diesen gebunden sein.“23 Bis weit in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde das Prinzip der ipso-iure-Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze nicht ernsthaft in Frage gestellt.24 Erst Anfang der 60er Jahre wurden erste Zweifel an diesem Institut laut.25 Seitdem kommt Streit über die Existenz des Nichtigkeitsdogmas im Hinblick auf gesetzliche Normen immer dann auf, wenn „legislative Veränderungen“ 20  Schnelle, Eine Fehlerfolgenlehre für Rechtsverordnungen, 2007, S. 98; Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 24 ff.; Brinckmann, Das entscheidungserhebliche Gesetz, 1970, S. 23; Hein, Die Unvereinbarerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht, 1988, S. 95; Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 21  Das Reichsgericht führt in seiner Entscheidung zur richterlichen Prüfungskompetenz (RGZ 111, 322, 323) folgendes aus: „Die Reichsverfassung hat im Art. 102 den in § 1 GVG aufgestellten Grundsatz aufgenommen, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen seien. Diese letzte Bestimmung schließt nicht aus, daß einem Reichsgesetz oder einzelnen seiner Bestimmungen vom Richter die Gültigkeit insoweit aberkannt werden kann, als sie mit anderen, vom Richter zu beachtenden Vorschriften, die ihn vorgehen, im Widerspruch stehen. Das ist der Fall, wenn ein Gesetz einem in der Reichsverfassung aufgestellten Rechtssatz widerspricht und bei seinem Erlaß die durch Art. 76 RV für eine Verfassungsänderung vorgeschriebenen Erfordernisse nicht vorgelegen haben. Denn die Vorschriften der Reichsverfassung können nur durch ein ordnungsgemäß zustande gekommenes, verfassungsänderndes Gesetz außer Kraft gesetzt werden. Sie bleiben daher auch gegenüber abweichenden Bestimmungen eines später, ohne Beobachtung der Erfordernisse des Art. 76 erlassenen Reichsgesetzes verbindlich und nötigen ihn, die widersprechenden Bestimmungen des späteren Gesetzes außer Anwendung zu lassen.“, vgl. Otto, Nichtigkeitsdogma und Fehlerbehebung im Städtebaurecht, 2000, S.  18 ff.; ebenso Korioth, in: Schlaich / Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Auflage, 2015, Rn. 379. 22  Schnelle (Fn. 20), S. 99; Ipsen (Fn. 20), S. 23 ff., 24, 27; Frowein, Zur vorgeschlagenen Änderung von § 79 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, DÖV 1970, 591, 592; Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807; Korioth (Fn. 21), Rn. 379. 23  Schnelle (Fn. 20), S. 100. 24  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807 unter Verweis auf Böckenförde, Die sogenannte Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, 1966, S. 15 Fn. 9. 25  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2808.

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

drohen.26 Sowohl hinsichtlich einer etwaigen Verankerung des Nichtigkeitsdogmas in der Verfassung wie auch bejahendenfalls hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen Verortung herrscht nach wie vor Streit.27 Das Grundgesetz enthält auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten, mangelt es doch schon an einer expliziten Nennung des Dogmas innerhalb der Verfassung.28 Gleichwohl wird ihm nach verbreiteter Auffassung „Verfassungsrang“ zugesprochen.29 Dies lässt sich aus Anmerkungen wie im Nichtigkeitsdogma seien „verfassungsschwere Gehalte“30 zu finden oder das Dogma werde von „fundamentalen Verfassungsaussagen“31 gestützt, die ihm „verfassungsrechtlichen Glanz verleihen“32 schließen.33 Bei der Begründung des Dogmas34 stützt man sich insbesondere auf den Gedanken des Vorrangs der Verfassung, aber auch auf Art. 1 Abs. 3, 19 Abs. 435, 20 Abs. 3, 100 Abs. 136 26  Ossenbühl

(Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 28  Korioth (Fn. 21), Rn. 379; Otto (Fn. 21), S. 17; Böckenförde (Fn. 24), S. 21; Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S.  583 f.; Söhn, Anwendungspflicht oder Aussetzungspflicht bei festgestellter Verfassungswidrigkeit von Gesetzen?, 1974, S. 6. 29  Korioth (Fn. 21), Rn. 379; Hoppe / Henke, Der Grundsatz der Planerhaltung im neuen Städtebaurecht, DVBl 1997, 1407, 1411; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdBStR, Bd. II, 2. Auflage, 1998, § 56 Rn. 100. 30  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 31  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 32  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 33  Otto (Fn. 21), S. 17. 34  Eine ausführliche Besprechung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Normen findet sich bei Schnelle (Fn. 20), S. 101 ff. Aus diesem Grund wird in den anschließenden Fußnoten auf ihn Bezug genommen. Ebenso aufschlussreiche Darstellungen zum Nichtigkeitsdogma jüngeren Datums finden sich u. a. bei Baars (Fn. 18), S. 173 ff. und Engelbrecht, Die Kollisionsregel im föderalen Ordnungsverbund, 2010, S. 79 ff. 35  Schnelle (Fn. 20), S. 107 führt hierzu aus: „Art. 19 Abs. 4 GG ist jedoch bereits von seinem Anwendungsbereich her nicht geeignet, die Nichtigkeitsfolge zu fordern. Art. 19 Abs. 4 GG enthält eine Rechtsschutz- und damit eine rein prozessuale Garantie. Damit kann Art. 19 Abs. 4 GG nicht selbst bestimmte Rechtsfolgen eines Rechtsverstoßes anordnen, sondern nur garantieren, dass durch andere Normen herbeigeführte Rechtsfolgen effektiv auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden können. Er folgt gewissermaßen akzessorisch der materiellen Rechtslage und öffnet den Weg zum Richter, gleichgültig ob dieser dann eine Norm vernichtet oder deren Nichtigkeit rein deklaratorisch feststellt.“; ebenso Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807 und Schwerdtfeger, Rechtsfolgen von Abwägungsdefiziten in der Bauleitplanung – BVerwGE 64, 33, JuS 1983, 270, 272. 36  Auch mit den Aussagen zu Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG hat sich Schnelle (Fn. 20), S. 104 ff. ausgiebig befasst und hierbei ebenfalls auf die Vernichtbarkeitslehre Bezug genommen. Einer ausführlichen Wiedergabe der Argumente beider Lehren bedarf es 27  Dazu



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot287

und 123 Abs. 1 GG37.38 Aus all diesen Verfassungsbestimmungen lässt sich die Anordnung eines Nichtigkeitsdogmas gleichwohl nicht herleiten.39 Auch der Grundsatz vom Vorrang der Verfassung, der in Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG verankert ist, trifft keine Aussage über die Fehlerfolge eines verfassungswidrigen Rechtsaktes.40 Diese kann sowohl in der ipso-iureNichtigkeit wie in der Vernichtbarkeit des entsprechenden Rechtsaktes be-

daher an dieser Stelle nicht. Es soll lediglich auf das Resümee von Schnelle (Fn. 20), S. 106 verwiesen werden: „Nicht überzeugend ist jedoch auch der Versuch beider Lehren, sich auf die ratio des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG zu stützen. Richtig ist, dass Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG die Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht monopolisiert. Richtig ist ebenfalls, dass der einfache Richter die Verwerfung durch seine Vorlage initiiert, was seine Prüfungskompetenz voraussetzt. Mit dieser Erkenntnis wird aber nichts anderes beschrieben als Kompetenzfragen. Die Entscheidungskompetenz ist aber streng zu trennen von der Frage der ipso iure eintretenden Rechtsfolge der Fehlerhaftigkeit von Normen, über deren Geltung oder Nichtgeltung sagt Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG somit nichts aus. Damit kann Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG nicht für die Rechtsfolgen verfassungswidriger Gesetze (…) fruchtbar gemacht werden.“ 37  Schnelle (Fn. 20), S. 102 f. führt zu diesem Artikel folgendes aus: „Teilweise wird in der Existenz des Art. 123 Abs. 1 GG bereits ein Nachweis für die Verankerung des Nichtigkeitsdogmas in der Verfassung gesehen. So zeige Art. 123 Abs. 1 GG deutlich, dass eine Normgeltungsbeendigung ipso iure möglich und dem Grundgesetz bekannt sei. Wenn aber die Geltungsversagung bei vorkonstitutionellem Recht derart deutlich zu Tage trete, so sei nicht nachzuvollziehen, weshalb das Nichtigkeitsdogma bei nachkonstitutionellem Recht überhaupt angezweifelt wird. Zumindest bedürfe diese Andersbehandlung besonderer Rechtfertigung (Ipsen [Fn. 20], S. 161 ff.). Jedoch führt dieser Ansatz nicht weiter. Genauso gut wie man Art. 123 GG als Ausdruck eines allgemein anerkannten Rechtsgedankens ansehen kann, könnte man aus der Anordnung der Geltungsbeendigung für vorkonstitutionelles Recht im Umkehrschluss ableiten, dass dann, wenn eine solche Anordnung nicht ausdrücklich getroffen wird, die ipso-iure-Nichtigkeit auch nicht eintritt, zumal Art. 123 Abs. 1 GG den Sonderfall zweier aufeinander folgender Rechtsordnungen geregelt und nichts über das Verhältnis rangverschiedener Normen aussagt.“ 38  Einfachgesetzlich ist das Nichtigkeitsdogma u.  a. in §§ 78 S. 1, 95 Abs. 3 BVerfGG verankert. Auch mit den einfachgesetzlichen Vorgaben hat sich Schnelle (Fn. 20), S. 107 ff. befasst. Auf seine umfänglichen Ausführungen sei an dieser Stelle verwiesen. 39  Ebenso Schnelle (Fn. 20), S. 107. 40  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. Der Grundsatz vom Vorrang der Verfassung beruft sich auf die Lehre vom Stufenaufbau der Rechtsordnung. Danach gelte jede Norm aufgrund der Geltungsanordnung einer ranghöheren Norm. Wenn die rangniedere Norm also die Voraussetzungen der ranghöheren Norm nicht erfüllt, könne sie keine Geltung beanspruchen. Befürworter der Begründung der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze mittels der Normenhierarchie sind u. a. Ipsen (Fn. 20), S. 37; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977, S. 99; Graßhof, Die Vollstreckung von Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 2003, S. 75; Schilling (Fn. 28), S. 557 und Arndt, Die Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, DÖV 1959, 81, 84.

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

stehen.41 Die zuvor bereits erwähnte Anknüpfung an die richterliche Prüfungskompetenz zeigt allerdings, dass die Frage der Nichtigkeit eines Rechtsaktes eng verbunden ist mit der Möglichkeit des Betroffenen, effektiven Rechtsschutz zu erlangen.42 Dies lässt sich an der Entwicklung der Folgen der Fehlerhaftigkeit eines Verwaltungsaktes gut erkennen.43 Ging man zu Zeiten frühkonstitutioneller Staatsrechtslehre noch davon aus, die rechtswidrige Verwaltungsverfügung ereile dasselbe Schicksal wie verfassungswidrige Gesetze,44 wandelte sich diese Haltung im Spätkonstitutionalismus grundlegend.45 In diese Zeit fundamentaler Veränderungen fällt auch die Entstehung der Figur des Verwaltungsaktes46, welcher im Grunde heute

41  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807 unter Verweis auf Böckenförde (Fn. 24), S. 16, 55; Papier, Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt, 1973; Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), 485 ff.; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 51 ff.; Heußner, Folgen der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne Nichtigerklärung, NJW 1982, 257 ff. Diese Alternativität zwischen Nichtigkeit und Vernichtbarkeit von Rechtsnormen zeigt bereits die österreichische Rechtsentwicklung (zu dieser Rechtsentwicklung siehe Ipsen [Fn. 20], S. 49 ff.). Nach Art. 140 Abs. 1 des Bundesverfassungsgesetzes (StF: BGBl. Nr. 1 / 1930 [WV] idF BGBl. I Nr. 194 / 1999 [DFB]) erkennt der Österreichische Verfassungsgerichtshof über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen. Gemäß Art. 140 Abs. 3 Bundesverfassungsgesetz hebt der VerfGH verfassungswidrige Gesetze auf. Nach Art. 140 Abs. 5 Bundesverfassungsgesetz tritt die Aufhebung grundsätzlich mit ihrer Kundmachung, also ex nunc, in Kraft. Für das Außerkrafttreten kann der VerfGH auch eine Frist bestimmen, die 18 Monate nicht überschreiten darf. Wesentlich beeinflusst wurde diese Rechtsentwicklung in Österreich von Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Auflage, 1934, 2. Auflage 1960. Dieser vertrat in Hinblick auf die damalige Norm im Bundesverfassungsgesetz die These, dass die Verfassung auch den verfassungswidrigen Akt „wolle“, schließlich sehe sie für ihr widersprechende Akte eine Alternative in Form der Aufhebung vor. (Ipsen [Fn. 20], S. 54); „Die Vorschriften der Verfassung betreffend die Aufhebung von Gesetzen, die den direkten, die Gesetzgebung regelnden Bestimmungen der Verfassung nicht entsprechen, haben den Sinn: daß auch Gesetze, die diesen Bestimmungen nicht entsprechen, gelten sollen, soweit sie nicht und solange sie nicht in der von der Verfassung vorgeschriebenen Weise aufgehoben werden.“ (Kelsen, a. a. O., 2. Auflage, S. 278) „Die sogenannten ‚verfassungswidrigen‘ Gesetze sind verfassungsmäßige, aber in einem besonderen Verfahren aufhebbare Gesetze.“ (Kelsen, a. a. O., 2. Auflage, S. 278). 42  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807 unter Verweis auf Winkler, Die absolute Nichtigkeit von Verwaltungsakten, 1960, S. 34 f. 43  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 44  Schmid, Lehrbuch des gemeinen deutschen Staatsrechts, 1821, S. 126. 45  Ipsen (Fn. 20), S. 44. 46  Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1.  Auflage, 1895. Mayer definiert den Verwaltungsakt als einen „der Verwaltung zugehörigen obrigkeitlichen Ausspruch, der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn rechtens sein soll“; vgl. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 2. Auflage, Bd. I, 1914, S. 95. Zuvor sprach



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot289

noch in jener damals entwickelten Gestalt fortbesteht.47 Teil der von Otto Mayer begründeten Lehre vom Verwaltungsakt sind auch die Folgen seiner Fehlerhaftigkeit.48 In Anbetracht der „Bedürfnisse einer zugleich rechtsstaatlichen und effektiven Verwaltung“49 konstruierte er die regelmäßige Gültigbzw. Wirksamkeit und nur ausnahmsweise bestehende Nichtigkeit von Verwaltungsakten.50 „In Parallele zum gerichtlichen Urteil muss der gewaltunterworfene Bürger demnach dem obrigkeitlichen Ausspruch, auch wenn er rechtswidrig ist, zunächst einmal gehorchen.“51 Mit dieser Konstruktion war aber auch die Möglichkeit der verwaltungsgerichtlichen Anfechtung des Verwaltungsaktes geschaffen.52 „Der Pflicht zum provisorischen Gehorsam – und der Beschränkung des Widerstands auf evident rechtswidriges Verwaltungshandeln – entsprach nun das Recht, den in seiner Rechtmäßigkeit angezweifelten Hoheitsakt vor den Gerichten anzufechten.“53 Neben der gerichtlichen Angreifbarkeit des Verwaltungsakts bestand von nun an auch ein untrennbarer „Zusammenhang zwischen Rechtsfolgendogmatik und Rechtsschutzgedanken“.54 Denn in dem Maße wie eine gerichtliche Angreifbarkeit fehlerhafter Verwaltungsakte eingeführt wurde, sank das Erfordernis der Nichtigkeit von Verwaltungsakten.55 Dieses neue Verhältnis von materieller Richtigkeit und Rechtsschutz wird als „ein kennzeichnendes Merkmal des modernen Rechtsstaats“ bezeichnet.56 Auf den ersten Blick scheint auf diese Weise der Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Richtigkeit bzw.

man beispielsweise von „obrigkeitlicher Verfügung“, vgl. Loening, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, 1884, S. 240. 47  Bumke, Verwaltungsakte, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Auflage, 2012, § 35 Rn. 6. 48  Ipsen (Fn. 20), S. 47. 49  Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II, 1992, S. 405 / 406. 50  Zur geschichtlichen Entwicklung siehe Ipsen (Fn. 20), S. 48; dieser Doktrin der Rechtsfolgen fehlerhafter Verwaltungsakte folgten im Anschluss u. a. Jellinek, Der fehlerhafte Staatsakt und seine Wirkungen, 1908 und Kormann, System der rechtsgeschäftlichen Staatsakte, 1910. 51  Bumke (Fn. 47), S. 406. 52  Bumke (Fn. 47), S. 406. Im Frühkonstitutionalismus hatte der Bürger lediglich ein Beschwerderecht gegen Verwaltungsverfügungen, vgl. Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß, 1971, S. 207 ff. 53  So bereits Zöpfl, Grundsätze des allgemeinen und constitutionell-monarchischen Staatsrechts, 1. Auflage, 1841 und Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht, 1. Auflage, 1842. 54  Ipsen (Fn. 20), S. 43. 55  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 56  Winkler (Fn. 42), S. 33.

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

Gerechtigkeit ein höheres Gewicht beigemessen zu werden.57 Denn die Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes soll nicht – wie bei Geltung des Nichtigkeitsdogmas – von der Einschätzung eines Einzelnen abhängen.58 Vielmehr bleibt der Rechtsakt bis zu einer gerichtlichen Entscheidung beachtlich, er muss befolgt werden.59 Dieser Zustand ist allerdings nur ein vorübergehender, denn er kann mit Rechtsmitteln verändert werden.60 Letztendlich stellt der Richter mit seiner Entscheidung also den Zustand materieller Richtigkeit wieder her.61 Somit wird der materiellen Richtigkeit und Rechtssicherheit schließlich gleichermaßen genüge getan.62 Diese geschichtliche Entwicklung zu den Fehlerfolgen des Verwaltungsaktes zeigt das enge Verhältnis zwischen Rechtsschutz und Nichtigkeit von Rechtsakten auf. In dem Maße wie der Rechtsschutz ausgedehnt wird, kann die Nichtigkeit begrenzt werden.63 Daran wird aber auch „die rechtsstaatliche Funktion der Nichtigkeit“ erkennbar.64 Hat der betroffene Bürger bei fehlerhaftem staatlichen Handeln keine Möglichkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes, kommt der Nichtigkeit dieser Akte die entsprechende „Rechtsschutzfunktion“ zu.65 Kann er sich hingegen gerichtlich zur Wehr setzen, muss er die vorübergehende Beachtlichkeit des Rechtsaktes gegen sich gelten lassen. Die Grenze der Nichtigkeit liegt also in der Aufhebbarkeit.66 „Die absolute Nichtigkeit ist somit ein letztes Bollwerk des Einzelnen gegen das Staatsunrecht auch im Rechtsstaat.“67 Abschließend lässt sich festhalten, dass sich das hergebrachte Nichtigkeitsdogma auf Grund seiner nachgewiesenen Rechtsschutzfunktion aus dem Rechtsstaatsprinzip68 des Grundgesetzes ergibt.

57  Winkler

(Fn. 42), S. 34. (Fn. 42), S. 34. 59  Winkler (Fn. 42), S. 34. 60  Winkler (Fn. 42), S. 34. 61  Winkler (Fn. 42), S. 34. 62  Winkler (Fn. 42), S. 34. 63  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807; Imboden, Der nichtige Staatsakt 1944, S.  81 ff. 64  Winkler (Fn. 42), S. 33. 65  Ossenbühl (Fn. 19), NJW 1986, 2805, 2807. 66  Winkler (Fn. 42), S. 34; ebenso Imboden (Fn. 63), S. 81 ff. 67  Winkler (Fn. 42), S. 35 mit wörtlicher Wiedergabe von Kelsen, Über Staatsunrecht, GrünhutsZ 40 (1914), S. 4 f. 68  Zur Verankerung des Rechtsstaatsprinzips im Grundgesetz siehe oben Kapitel 4. A. 58  Winkler



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot291

II. Zwischenergebnis Da der Einzelne gegen gesetzliche Normen – anders als gegen Verwaltungsakte – bis auf den Fall einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde grundsätzlich nicht direkt vorgehen kann, der Rechtsschutz gegen gesetzliche Normen im Vergleich also geringer ist, greift in diesem Fall die Rechtsschutzfunktion der Nichtigkeit, d. h. verfassungswidrige Gesetze sind in der Regel nichtig.

III. Abkehr von der Nichtigkeit bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung Das Erfordernis der Zitierung der überregelten Norm im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung ergibt sich aus den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats und somit unmittelbar aus der Verfassung.69 Bei Nichtbeachtung des Zitiergebots liegt folglich ein Verfassungsverstoß vor. Dieser wird bei gesetzlichen Normen grundsätzlich mit dem Verdikt der Nichtigkeit geahndet.70 Naheliegend ist es somit auch bei Nichtbeachtung des verfassungsrechtlich verankerten Zitiergebots von der Verfassungswidrigkeit und damit ex-tunc-Nichtigkeit der jeweiligen Regelung auszugehen.71 Gleichwohl werden hinsichtlich dieser Frage auch andere Auffassungen vertreten.72 69  Siehe

dazu Kapitel 4 und 5. dazu oben unter A. I. 71  So Meyer, Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006 (http: /  / star web.hessen.de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)), S. 64 und Foerst, Die Abweichungskompetenz der Länder gemäß Art. 72 III GG im Bereich des Wasserhaushaltsrechts, 2012, S. 85. Foerst, a. a. O., zitiert Kloepfer, Die neue Abweichungsgesetzgebung der Länder und ihre Auswirkungen auf den Umweltbereich, in: Pitschas (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik: Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, S. 651, 661 als jemanden, der an den Verstoß gegen das Zitiergebot keinerlei Konsequenzen knüpfen will. Hierbei scheint es sich um ein Missverständnis zu handeln, denn Kloepfer bespricht a. a. O. nur die Möglichkeit der Einführung einer Notifizierungspflicht, nicht die einer Zitierpflicht. Zur Notifizierungspflicht siehe oben unter Kapitel 4. D. III. 72  Reinhardt, Gesetzgebungskompetenzen im Wasserrecht, AöR 135 (2010), S. 459, 484 lehnt beispielsweise sowohl die Unanwendbarkeit als auch die Nichtigkeit der betreffenden Regelung ab, schließlich stünde das Zitiergebot nicht im Grundgesetz. Dieser Begründung kann auf Grund der Erkenntnisse in Kapiteln 4 und 5 nicht gefolgt werden. 70  Siehe

292

Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

Degenhart will „aus Gründen der Rechtssicherheit, insbesondere der Normenklarheit, jedenfalls die Rechtsfolgen aus dem Abweichungsrecht nicht eintreten“73 lassen. „Die landesgesetzliche Norm muss also nicht notwendig nichtig sein – doch dürften im Fall einer Normenkollision jedenfalls die allgemeinen Kollisionsregeln unter Einbeziehung des Art. 31 GG zur Geltung kommen, nicht also dürfte vom Anwendungsvorrang des Landesrechts auszugehen sein.“74 Franzius hingegen ist der Meinung, dass „die versteckte Abweichung keinen Fall der Abweichungsgesetzgebung bildet“.75 Beide Autoren haben zunächst gemein, dass ihre Lösungen nur den Fall abweichenden Landesrechts betreffen. Mit abweichendem Bundesrecht – wie auch einer entsprechenden Zitierung – befassen sie sich nicht.76 Im direkten Vergleich fällt allerdings auf, dass Degenhart das Problem der fehlenden Zitierung sozusagen im Nachhinein löst, indem er die Rechtsfolge aus dem Abweichungsrecht nicht eintreten lässt, wohingegen Franzius die Problembewältigung auf die Ebene der Gesetzgebungskompetenz verlagert. Nach dem Vorschlag von Degenhart entsteht das Abweichungsrecht also, auch wenn dem verfassungsrechtlich verankerten Zitaterfordernis nicht Folge geleistet wurde. Das jeweilige Gesetz kommt wirksam zu Stande. Wie sich Degenhart allerdings darüber hinaus die rechtliche Konstruktion der Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot konkret vorstellt, wird aus seinen Ausführungen nicht eindeutig erkennbar.77 Diese könnte man dahingehend deuten, dass im Falle eines Verstoßes gegen das Zitiergebot die eigentlich überregelnde Norm suspendiert wird, denn Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG mit seiner Anordnung des Anwendungsvorrangs soll nicht gelten. Laut Franzius kommt bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot das Gesetz schon nicht wirksam zu Stande, weil nach seiner Auffassung für ein solches Vorgehen bereits keine Gesetzgebungskompetenz besteht.78 Der Zweck dieser letztgenannten – von Franzius vorgestellten79 – Konstruktion der Folgen bei einem 73  Degenhart, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Abweichungsgesetzgebung, DÖV 2010, 422, 427. 74  Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427. 75  Franzius, Die Abweichungsgesetzgebung, NVwZ 2008, 492, 495 so im Ergebnis auch Haug, Die Abweichungsgesetzgebung – ein Kuckucksei der Föderalismusreform?, DÖV 2008, 851, 854: „Ist diese grundgesetzliche Vorgabe nicht eingehalten, kann sich das Abweichungsgesetz nicht auf Art. 72 Abs. 3 GG – mit der Folge der formellen Verfassungswidrigkeit – stützen.“ 76  Anders der Vorschlag in dieser Arbeit siehe oben unter Kapitel 4. C. I. 77  Was hat z. B. die allgemeine Kollisionsregel des Art. 31 GG unmittelbar mit dem Anwendungsvorrang des Landesrechts zu tun? 78  Da nach dieser Auffassung Art. 72 Abs. 3 GG nicht greift, müssten sich die Länder an Art. 72 Abs. 1 GG messen lassen und würden dort an der Sperrwirkung des Bundes scheitern. 79  Franzius (Fn. 75), NVwZ 2008, 492, 495.



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot293

Verstoß gegen das Zitiergebot liegt wohl darin, die Rechtsfolge unmittelbar aus Art. 72 Abs. 3 GG herleiten zu können. Gegen eine Anknüpfung an die entsprechende Kompetenznorm spricht zunächst wenig, allerdings kann nicht jeder Verfassungsverstoß als Kompetenzwidrigkeit gewertet werden. Dazu würde aber die Ansicht von Franzius – zu Ende gedacht – führen. Jedes gesetzes- und damit verfassungswidrige Organhandeln würde bereits an der Kompetenz scheitern. Bei verfassungswidrigen Gesetzen würde sich die Rechtsfolge nicht aus dem rechtsstaatlichen Nichtigkeitsdogma, sondern stets aus den Art. 70 ff. GG ergeben. Damit erhielten die Vorschriften des Abschnitts VII zu den Gesetzgebungskompetenzen eine ganz neue Rolle im Gefüge des Grundgesetzes. Nur wenn man einer Art Ultra-vires-Lehre folgen würde, ließe sich womöglich ein solch kurzer Schluss vom Fehler auf die Kompetenzlosigkeit rechtfertigen, sind doch nach einer deutschen Ultravires-Lehre80 alle „Handlungen außerhalb des Wirkungskreises als nicht existent anzusehen“81. Mit dieser Doktrin nach angloamerikanischem Vorbild82 wird dem deutschen Recht eine grundsätzlich unbekannte Fehlerfolge vorgestellt, die über die Nichtigkeit hinausreicht,83 denn der jeweilige Akt soll schon auf Grund von Kompetenzwidrigkeit nicht wirksam zu Stande 80  Dazu Eggert, Die deutsche ultra-vires-Lehre, 1977. Auch der Erste Senat des Bundesgerichtshofs hat 1956 für juristische Personen des öffentlichen Rechts folgendes entschieden: Diese seien „… jedenfalls grundsätzlich nur im Rahmen des ihnen durch Gesetz oder Satzung zugewiesenen Aufgaben- und Wirkungsbereichs zu e­ inem rechtswirksamen Handeln befugt (…)“ und deshalb könnten sie „(…) nur innerhalb des durch ihre Zwecke und Aufgaben bestimmten sachlich und räumlich beschränkten Lebenskreises handeln“ (BGHZ 20, 119, 124). 81  Ehlers, Die Lehre von der Teilrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts und die Ultra-vires-Doktrin des öffentlichen Rechts, 2000, S. 79. 82  Sehr aufschlussreich ist die Beschreibung des historischen Hintergrunds der ultra-vires-Lehre im angloamerikanischen Raum bei Mußgnug, Das Recht auf den gesetzlichen Verwaltungsbeamten?, 1970, S. 33 unter Verweis auf Street, Liability of the State for Illegal Conduct of its Organs, in: Mosler (Hrsg.), Haftung des Staates für rechtswidriges Verhalten seiner Organe, 1967, S. 229, 230 f., 235: Jahrhundertelang bildete die ultra-vires-Lehre „im angloamerikanischen Rechtskreis (…) das dogmatische Fundament für den Ausschluß jeder Haftung des Staates für fehlsames Handeln seiner Bediensteten (…). Man ging dort davon aus, daß das Handeln der öffentlichen Amtsträger nur dann dem Staat zuzurechnen sei, wenn diese die Grenzen ihres amtlichen Auftrags wahren. Sprengte ein Amtsträger diese Grenzen, handelte er also pflichtwidrig oder auch nur inkompetent, so betätigte er sich ultra vires, also jenseits seiner Amtsgewalt. Sein Handeln war reines Privathandeln, für das ihm der Staat keine Vollmacht gegeben hatte. Daher brauchte der Staat dafür nicht zu haften. Für die Folgen hatte der Amtsträger selbst gerade zu stehen, und zwar wie jede andere schadensstiftende Person nach den zivilrechtlichen Vorschriften des law of torts, des Rechts über die unerlaubte Handlung.“ Die ultra-vires-Lehre diente also der Begrenzung der staatlichen Haftung. 83  Ehlers (Fn. 81), S. 79.

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

kommen und damit nicht existent sein. Dass diese Doktrin mit der deutschen Verfassung, insbesondere mit dem Rechtsstaatsprinzip,84 unvereinbar ist, liegt auf der Hand.85 Die Frage nach der Kompetenz ist daher nur ein Aspekt der formellen Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns.86 Somit spricht gegen die Lösung von Franzius87 seine Verlagerung der Problembewältigung auf die Ebene der Gesetzgebungskompetenz. 1. Verfassungsrechtlich verankerte Abkehr von der Nichtigkeitsfolge des Art. 31 GG für die Abweichungsgesetzgebung Für die aus den Ausführungen Degenharts88 gedeutete Lösung könnte sprechen, dass sich der Verfassungsgeber bei der Abweichungsgesetzgebung im Kollisionsfall zwischen Bundes- und Landesrecht für eine dem Grundgesetz bis dahin unbekannte Rechtsfolge entschieden hat.89 Der sogenannte „lex-posterior-Grundsatz“ in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG statuiert einen Anwendungsvorrang des späteren Gesetzes. Das zeitlich später erlassene Gesetz geht also dem früheren in seiner Anwendung vor, unabhängig davon, ob es sich bei dem späteren Gesetz um Bundes- oder Landesrecht handelt. Das ist der große Unterschied zu Art. 31 GG, der einen generellen Geltungsvorrang des Bundesrechts vorschreibt. Außerdem wird bei Art. 31 GG das entgegenstehende Landesrecht gebrochen, d. h. es wird für die Zukunft aufgehoben, mithin ex nunc nichtig. Im Fall der Abweichungsgesetzgebung wird das frühere Recht hingegen nicht außer Kraft gesetzt, sondern lediglich in seiner Anwendung gehemmt. Die verdrängte Norm wird suspendiert, sie lebt also wieder auf, falls das spätere Gesetz irgendwann aufgehoben wird.90 Bei Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG handelt es sich somit auf Grund der Anordnung 84  Ehlers (Fn. 81), S. 68. Fehlernormen wie §§ 44, 59 VwVfG wären beispielsweise überflüssig, so Ehlers, a. a. O., S. 69. Nicht umsonst wurde die ultra-viresLehre in der Vergangenheit schon als „monströse petitio principii“ bezeichnet, so Mußgnug (Fn. 82), S. 36. Ablehnend auch Hufeld, Die Vertretung der Behörde, 2003, S. 390. 85  Allenfalls lässt sich diese Lehre für das Institut der Verbandskompetenz heranziehen, dort wird die Kompetenz aber auch nur als ein Element der formellen Rechtmäßigkeit gesehen. Vgl. Becker, Die Bedeutung der ultra-vires-Lehre als Maßstab richterlicher Kontrolle öffentlicher Gewalt in England, ZaöRV 2001, 85. 86  So auch Becker (Fn. 85), ZaöRV 2001, 85. 87  Franzius (Fn. 75), NVwZ 2008, 492, 495. 88  Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427. 89  Dazu bereits sehr ausführlich unter Kapitel 2. B. II. 4. b). 90  Siehe dazu oben unter Kapitel 2. B. II. 4. a).



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot295

unterschiedlicher Rechtsfolgen um eine lex specialis zu Art. 31 GG.91 Zu Gunsten der Ausführungen von Degenhart92 könnte man auf Grund dieser verfassungsrechtlich verankerten Abkehr von der Nichtigkeitsfolge des Art. 31 GG argumentieren, dass das Bild der neuen Abweichungsgesetzgebung gerade darin bestehe, dass „fehlerhafte“ Gesetze lediglich suspendiert und nicht derogiert werden. Die oben vorgestellte Lösung, das Gesetz, welches das Zitiergebot nicht beachtet, zu suspendieren,93 würde dann genau in dieses Bild passen. Mit Einführung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 in das Grundgesetz wurde aber weder der Nichtigkeitsfolge aus Art. 31 GG noch dem allgemeinen Nichtigkeitsgebot bei Fehlerhaftigkeit von Rechtsnormen eine generelle Absage erteilt. Lediglich für den Spezialfall der Abweichungsgesetzgebung gilt im Falle einer Kollision von Bundes- und Landesrecht auf der Rechtsfolgenseite eine Sonderregelung. Über die Rechtsfolge bei Fehlerhaftigkeit gesetzlicher Normen sagt die Vorschrift des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG überhaupt nichts aus. Im Gegenteil könnte man womöglich sogar argumentieren, dass der Gesetzgeber die alternative Rechtsfolge ­bewusst restriktiv einsetzen wollte, schließlich hat er sich schon bei den Anwendungsgebieten der Abweichungsgesetzgebung auf einzelne wenige ­ Felder beschränkt. 2. Rechtsschutzfunktion des Zitiergebots Da somit sowohl gegen die Lösung von Franzius94 wie auch gegen die gedeutete von Degenhart95 Einwände erhoben werden können, bedarf es einer abstrakteren Betrachtung mit Blick auf die Funktionen96 des verfassungsrechtlich verankerten Zitiergebots. Eine dieser Funktionen ist die Informations- und Rechtsschutzfunktion97. Durch das Zitat der überregelten Norm soll der Rechtsbetroffene darüber informiert werden, welche Regelung Anwendungsvorrang genießt und daher für ihn Geltung beansprucht, so dass er sich ggf. gegen sie zur Wehr setzen kann. Diese Funktion steht im besonderen Dienste des aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Gebots der Normenklarheit.98 In Anbetracht dieser Funktion erscheint der gedeutete Vorschlag von Degenhart99, trotz Verstoßes gegen das Zitiergebot der feh91  Siehe

dazu oben unter Kapitel 2. B. II. 4. b). (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427. 93  Siehe dazu oben unter A. III. 94  Franzius (Fn. 75), NVwZ 2008, 492, 495. 95  Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427. 96  Siehe dazu oben unter Kapitel 4. C. II. 97  Siehe dazu oben unter Kapitel 4. C. II. 3. 98  Zum Gebot der Normenklarheit siehe oben unter Kapitel 4. A. I. 99  Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427. 92  Degenhart

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

lerhaften Norm ihre Wirksamkeit zu belassen, sie in ihrer Anwendung aber zu hemmen, kontraindiziert. Denn auf diese Weise bestünde neben dem unbeschränkt gültigen weil nicht erfolgreich überregelten auch wirksames, aber suspendiertes Recht. Letzteres existente Recht würde also den Anschein erwecken, gültig zu sein, und damit dem Rechtsunterworfenen die Ermittlung seiner Rechtslage erschweren.100 In der Konsequenz würde also die aus Degenharts101 Ausführungen gedeutete Rechtsfolge für den Verstoß gegen das Zitiergebot genau die Unsicherheit heraufbeschworen,102 die das Zitiergebot eigentlich beseitigen will. In Anbetracht der Rechtsschutzfunktion des Zitiergebots müsste man somit von einer ex-tunc-Nichtigkeit103 der „fehlerhaften“ Norm ausgehen. Denn auf diese Nichtigkeit könnte sich der Einzelne jederzeit berufen, die Norm würde von Anfang an nicht gelten, daher bräuchte sie auch niemand befolgen. 3. Gesamtnichtigkeit bzw. Gesamtunanwendbarkeit einer Bundesregelung bei Verstoß gegen das Zitiergebot? Gleichwohl bleibt zu beachten, dass das in dieser Arbeit vorgeschlagene Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung sowohl für die Länder wie auch für den Bund gilt.104 Auch der Bund muss seine Abweichung vom jeweiligen Landesrecht durch ein Zitat kenntlich machen. Denkbar wäre nun der Fall, dass der Bund bei einer Überregelung einzelnes Landesrecht korrekt zitiert, weil er seine Abweichung richtig erkannt hat, anderes Landesrecht hingegen nicht angibt, da ihm die eigene Abweichung verborgen geblieben ist.105 Nach der Nichtigkeitslösung wäre die Bundesregelung in diesem Fall komplett, also auch in den Bundesländern, die der Bund korrekt zitiert hat, nichtig. Denn das Bundesrecht wird zum Zeitpunkt seines Erlasses für das gesamte Bundesgebiet geschaffen. Verfassungsverstöße wirken sich auf die Bundesregelung in Gänze aus, auch wenn sie in dieser speziellen Konstellation eine lokale Begrenzung erfahren. In den vom Bund korrekt zitierten Ländern würde das Bundesrecht also nicht gelten, obwohl es auf Grund des Zitats gerade diesen Anschein erweckt. Bürger dieser Länder dürften auf das korrekte Zitat nicht vertrauen, vielmehr müssten sie sich zur Meyer (Fn. 71), S. 64. (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427. 102  Ebenso v. Stackelberg (Fn. 3), S. 42. 103  So auch Meyer und Foerst (Fn. 71). 104  Siehe dazu oben unter Kapitel 4. C. I. 105  In Anbetracht der weiten inhaltlichen Spielräume bei der Abweichung (siehe dazu oben unter Kapitel 4. B. I.) ist dieser Fall durchaus denkbar. 100  Ebenso

101  Degenhart



A. Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot297

Ermittlung ihrer Rechtslage auch immer mit „fremdem“ Landesrecht befassen, um herauszufinden, ob der Bund bundesweit korrekt überregelt hat. Äußerstenfalls müsste hierbei ein Abgleich mit 15 anderen Bundesländern erfolgen. Würde man in Parallele zur Gesamtnichtigkeit an einen Verstoß gegen das Zitiergebot lediglich die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit der Norm knüpfen, würde sich die Situation ähnlich unangemessen darstellen. Anders als bei der Gesamtnichtigkeit wäre die Bundesregelung zwar trotz Verstoßes weiterhin wirksam, hätte aber auch keine Geltung in den Bundesländern, deren Vorgängernorm der Bund korrekt zitiert hat. 4. „Föderale Teilnichtigkeit“ von Bundesrecht? Auf Grund der gefundenen – unzufriedenstellenden Ergebnisse106 könnte über eine Art „föderale Teilnichtigkeit“ der Bundesnorm nachgedacht werden, die nicht alle Landesregelungen korrekt zitiert. Danach wäre das Bundesrecht in den Bundesländern, deren Landesrecht korrekt zitiert wurde, vollumfänglich gültig, wohingegen es in anderen Bundesländern, deren vorangehendes Landesrecht nicht korrekt angegeben wurde, nichtig wäre. Dasselbe Bundesrecht wäre also in einem Land nichtig in einem anderen hingegen vollumfänglich gültig. Dieser Umstand ist mit dem Begriff der Nichtigkeit, der ein rechtliches Nichts, sozusagen ein Nullum, beschreibt,107 nicht vereinbar. „Der nichtige Akt ist rechtlich nicht vorhanden und kann zu keiner Zeit irgendwelche Rechtswirkungen hervorbringen.“108 Auch die in der Abweichungsgesetzgebung verankerte Idee des Wettbewerbsföderalismus kann zu diesem Grundsatz kein gegenläufiges Prinzip bilden. 5. „Föderale Teilunanwendbarkeit“ von Bundesrecht Ist eine „föderale Teilnichtigkeit“ mit dem Begriff der Nichtigkeit nicht vereinbar,109 bleibt die Möglichkeit einer Parallelkonstruktion in Form einer Teilunanwendbarkeit. Danach ist die jeweilige Bundesregelung in dem Bundesland unanwendbar, dessen Landesrecht sie unkorrekterweise nicht zitiert hat. Der Vorteil dieser Lösung besteht darin, dass für den Rechtsbetroffenen genau die Rechtslage gilt, die in der überregelnden Bundesvorschrift abgebildet wird. Der Bürger braucht sich beispielsweise nicht mit 106  Siehe

dazu oben unter A. III. 3. (Fn. 42), S. 9; Baars (Fn. 18), S. 173; Ipsen (Fn. 20), S. 149 f. 108  Böckenförde (Fn. 24), S. 23. 109  Siehe dazu oben unter A. III. 4. 107  Winkler

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

„fremdem“ Landesrecht zu befassen.110 Benennt die Bundesregelung eine Abweichung vom Landesrecht, dann gilt das abweichende Bundesrecht – vorausgesetzt es liegen keine anderen Fehler vor. Benennt die Bundesregelung hingegen korrekter- oder unkorrekterweise keine Abweichung, kann sich der Bürger auch darauf verlassen, dass in seinem Bundesland dieses Bundesrecht nicht gilt. Abstrakter gefasst handelt es sich bei dieser Rechtsfolge der Teilunanwendbarkeit von Bundesrecht bei Verstoß gegen das Zitiergebot um einen Ausgleich innerhalb des Rechtsstaatsprinzips. Denn eigentlich verlangt das aus diesem Prinzip fließende Gebot der Nichtigkeit nach einer inter omnes Ungültigkeit der jeweiligen Bundesregelung. Das Gebot der Normenklarheit streitet hingegen für eine eindeutige Erkenn­ barkeit der eigenen Rechtslage aus dem Normengefüge. Die entwickelte Rechtsfolge stellt eine praktische Konkordanz innerhalb der widerstreitenden Gebote des Rechtsstaatsprinzips her. Weiterhin wahrt sie im Vergleich zur Nichtigkeitslösung eher das Werk des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, indem sie die von ihm geschaffene Norm nicht vernichtet, sondern lediglich suspendiert. Somit hat die gefundene Rechtsfolge auch einen demokratischen Gehalt. 6. Ergebnis Bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot wäre die ex-tunc-Nichtigkeit einer betreffenden Landesnorm eine durchaus angemessene Lösung.111 Werden Bund und Länder im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung allerdings als gleichberechtigte Partner wahrgenommen, so dass beide Ebenen gleichermaßen zitieren müssen, dann muss bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot grundsätzlich beide bundesstaatlichen Akteure dieselbe Rechtsfolge treffen. Der Lösung der Unanwendbarkeit einer gegen dieses Gebot verstoßenden Regelung112 ist der Vorzug zu geben, denn sie vermeidet u. a. einen andernfalls eintretenden Widerspruch zwischen dem Begriff der Nichtigkeit und den Besonderheiten der Abweichungsgesetzgebung. Weiterhin ist sie in der Lage, eine praktische Konkordanz innerhalb widerstreitender Gebote des Rechtsstaatsprinzips herzustellen, namentlich des Nichtigkeitsgebots und des Gebots der Normenklarheit. Darüber hinaus hat die Lösung auch einen demokratischen Gehalt, denn sie achtet eher das Werk des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot gilt somit eine zur Nichtigkeit alternative Rechtsfolge in Form der Suspen110  Anders bei Gesamtnichtigkeit bzw. Gesamtunanwendbarkeit siehe oben unter A. III. 3. 111  Siehe dazu oben unter A. III. 2. 112  So wohl auch Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427.



B. Abweichungswille299

dierung des „fehlerhaften“ Rechts. Im Falle „fehlerhaften“ Bundesrechts ist auch eine Teilunanwendbarkeit möglich. Trotz Verstoßes gegen das Zitiergebot wird also die Wirksamkeit der jeweiligen Norm nicht angetastet. Faktisch führt hingegen auch diese Lösung zur Nichtigkeit der gegen das Zitiergebot verstoßenden Norm. Die Regelung bleibt zwar existent, hat aber aktuell keine weitere Bedeutung. Allerdings ist bei einem späteren Wegfall der vorangehenden Regelung der „Fehler“ des mangelnden Zitats behoben, so dass die ursprünglich „fehlerhafte“ Norm „gesundet“ wieder aufleben kann. Das ist der große Unterschied zur Nichtigkeitslösung. Nach dem hier vorgestellten Lösungsvorschlag der lediglichen Unanwendbarkeit ist ein Wiederaufleben der „fehlerhaften“ Regelung möglich. Da somit eine zur Nichtigkeit alternative Rechtsfolge besteht, bedarf es auch keines Analogieschlusses auf die Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung der anderen Zitiergebote im Grundgesetz.113

B. Abweichungswille Im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung wird diskutiert, ob es für das Zustandekommen von Gesetzen auf diesem Feld eines subjektiven Elements im Sinne eines Abweichungswillens bedarf.114 Gemeint ist damit ein Bewusstsein und die entsprechende Intention des jeweiligen Gesetzgebers, von dieser Kompetenzart Gebrauch zu machen. Das in dieser Arbeit vorgeschlagene Zitiergebot stellt die deutlichste Form eines solchen Abweichungswillens dar,115 wird mit diesem Instrument doch der Wille unmissverständlich nach außen gekehrt. Nach der hier gefundenen Lösung ist ein Abweichungswille somit denklogisch notwendig. Obgleich sich also die Frage nach dem Abweichungswillen auf Grund der vorangehenden Ergebnisse schnell beantworten lässt, bedarf es einer genaueren Verortung des Lösungsvorschlags für die Rechtsfolge der Missachtung des Zitiergebots116 innerhalb der Diskussion 113  Siehe

dazu oben unter A. u. a. Köck / Wolf, Grenzen der Abweichungsgesetzgebung im Naturschutz – Sind Eingriffsregelung und Landschaftsplanung allgemeine Grundsätze des Naturschutzes?, NVwZ 2008, 353, 357; Schulze-Fielitz, Umweltschutz im Föderalismus – Europa, Bund und Länder, NVwZ 2007, 249, 255; Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427; Franzius (Fn. 75), NVwZ 2008, 492, 495 und Classen, Gutachten zu Problemen der Neuregelung des Erwerbs des Diplomgrades gemäß § 41 Abs. 1 S. 3 und 4 LHG Mecklenburg-Vorpommern, 2011 (http: /  / spd-fraktion-mv.de / ima ges / Flyer / AkkreditierungMVGutachten.pdf (28.09.16)), S. 14. 115  So auch v. Stackelberg (Fn. 3), S. 53 und Degenhart (Fn. 73), DÖV 2010, 422, 427, der „eine Bezeichnung der Abweichungsnorm rechtsstaatlich (für) geboten (hält) – nicht zuletzt auch im Hinblick auf das in seiner Bedeutung nicht eindeutig geklärte subjektive Element.“ 116  Siehe dazu unter A. III. 6. 114  Dazu

300

Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

um das Erfordernis eines Abweichungswillens. Classen meint, für das Zustandekommen von Abweichungsgesetzgebung komme es lediglich auf das Vorliegen einer Kompetenz an. Ein darüber hinausgehendes Bewusstsein des Gesetzgebers über die Abweichung sei nicht erforderlich, werde aber über den Umweg einer Zitierpflicht eingeführt.117 In eine entgegengesetzte Richtung lassen sich die Ausführungen von von Stackelberg118 deuten. Seiner Argumentation nach handelt es sich bei dem Abweichungswillen um eine kons­ titutive Voraussetzung für die Entstehung von Abweichungsgesetzgebung. Fehle der Abweichungswille, „so müsse eine solche „ungewollte“ Abweichung (…) so behandelt werden, als ob sie nicht auf die Kompetenzvorschrift des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG gestützt werden könnte“.119 Auf den ersten Blick scheint diese Auffassung mit der von Franzius vorgeschlagenen Lösung bei Nichtbeachtung des Zitiergebots120 d’accord zu gehen. Franzius spricht aber ausdrücklich von einer „versteckten Abweichung“.121 Das Verb „verstecken“ impliziert ein bewusstes Handeln. Mithin meint Franzius wohl den Fall einer gewollten aber nicht offengelegten Abweichung. In diese Richtung weist auch sein Nachsatz: „Eine solche Publizität122 lässt den Abweichungswillen des Landesgesetzgebers unberührt.“123 In dieser Arbeit wird die Nichtbeachtung des Zitiergebots als Verfassungsverstoß geahndet, indem das „fehlerhafte“ Recht keinen Anwendungsvorrang genießt.124 Folglich handelt es sich bei dem Abweichungswillen nur um eine Art deklaratorische Voraussetzung für die Entstehung von Abweichungsgesetzgebung. Auch unbewusste und damit nicht von einem entsprechenden Willen getragene Abweichungsgesetzgebung stellt somit, wenn sie die inhaltlichen Maßstäbe an eine Abweichung erfüllt,125 eine wirksame Kompetenzausübung dar. Während also die Lösung von von Stackelberg dem Willen des Gesetzgebers absolute Bedeutung im Sinne einer subjektiven Auslegung beimisst, wird in dieser Arbeit eine objektive Betrachtung vorgezogen, d. h. auch ohne gesetzgeberische Intention kann materiell abweichendes Recht vorliegen.126 Allerdings fließt im Rahmen der historischen Gesichtspunkte die Intention des Gesetzgebers mit bedeutsamem Gewicht in die objektive Auslegung eines Gerichts ein.127 117  Classen

(Fn. 114), S. 14. Siehe dazu bereits oben unter Kapitel 4. D. XII. (Fn. 3), S. 50 ff. 119  v. Stackelberg (Fn. 3), S. 50. 120  Siehe dazu oben unter A. III. 121  Franzius (Fn. 75), NVwZ 2008, 492, 495. 122  Gemeint ist damit die Publizität der Zitierung. 123  Franzius (Fn. 75), NVwZ 2008, 492, 495. 124  Siehe dazu oben unter A. III. 6. 125  Siehe dazu oben unter Kapitel 2. B. I. 2. 126  Siehe dazu oben unter Kapitel 4. D. XIII. 127  Siehe dazu oben unter Kapitel 4. D. XIII. 118  v. Stackelberg



C. Prozessuale Geltendmachung301

Hinsichtlich des Erfordernisses eines subjektiven Elements für die Abweichungsgesetzgebung ordnet sich die vorliegende Arbeit damit als Mittelweg zwischen einer konstitutiven und nicht bestehenden Voraussetzung ein.

C. Prozessuale Geltendmachung Bei dem Verstoß gegen das Zitiergebot handelt es sich um einen Verfassungsverstoß.128 Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer in Frage stehenden Norm obliegt grundsätzlich dem Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung.129 Zur prozessualen Geltendmachung eines Verstoßes kommen insbesondere die Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG, der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG und der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG in Betracht. Im Hinblick auf Landesrecht, das gegen das Zitiergebot verstößt, sind auch Verfahren vor den entsprechenden Landesverfassungsgerichten möglich, wenn die Prinzipien des Rechtsstaats und der Demokratie mit ihren für das Zitiergebot relevanten Aspekten in der jeweiligen Landesverfassung inhaltsgleich mit dem Grundgesetz geregelt sind.130 Problematisch mit Blick auf die prozessuale Geltendmachung ist allerdings, dass ein Verstoß gegen das Zitiergebot zur Unanwendbarkeit der entsprechenden Regelung führt, die drei vorangehend genannten Verfahren aber auf eine Nichtigkeits- bzw. Unvereinbarkeitserklärung131 von Gesetzen gerichtet sind.132 Dieses „Minus“ an Rechtsfolge bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot könnte dafür sprechen, dass der Verstoß nicht vor den Verfassungsgerichten, sondern vor den Fachgerichten geltend zu machen ist, wird doch in einer ähnlichen Konstellation jedenfalls die Vorlagepflicht nach Art. 100 GG verneint und eine fachgerichtliche Zuständigkeit angenommen.133 Die ähnliche Konstellation betrifft die Kollision von einfachem Bundesrecht und Landesverfassungsrecht.134 Rein formal kommt 128  Siehe

dazu Kapitel 4 und 5 bzw. oben unter A. III. 1, 184, 197 f.; 2, 124, 129; Detterbeck, in: Sachs (Hrsg.), GGKommentar, 7. Auflage, 2014, Art. 100 Rn. 1. 130  Lechner / Zuck, in: BVerfGG- Kommentar, 7. Auflage, 2015, Vor §§ 76 ff. Rn. 5. 131  Zur Unvereinbarkeitserklärung siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 4. c). 132  §§ 78, 81, 95 BVerfGG und für die Unvereinbarkeitserklärung §§ 31, 79 BVerfGG. 133  So Heckmann (Fn. 41), S. 322, der allerdings inkonsequenterweise bei einer Kollision von einfachem Bundesrecht und Landesverfassungsrecht das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle für zulässig erachtet, da es nicht den Einzelfall betreffe, und auf Grund „herrschender Rechtsunsicherheit“ die Notwendigkeit einer „Außerkraftsetzung“ der Landesverfassungsnorm bestehe. 134  Dazu v. Olshausen, Landesverfassungsbeschwerde und Bundesrecht, 1980, S.  124 ff.; Sacksofsky, Landesverfassung und Grundgesetz – am Beispiel der Verfas129  BVerfGE

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

in diesem Fall Art. 31 GG, der „nicht zwischen einfachem Landesrecht und Landesverfassungsrecht“ unterscheidet, mit seiner Nichtigkeitsfolge zur Anwendung.135 Gleichwohl wird in diesem Zusammenhang diskutiert, ob diese Rechtsfolge angemessen sein kann. Verfechter einer differenzierten Lösung, die die Verfassungsautonomie der Länder achten soll, gehen im Kollisions­ fall zwischen einfachem Bundesrecht und Landesverfassungsrecht auf der Rechtsfolgenseite lediglich von einer Überlagerung des Landesverfassungsrechts aus.136 Konsequenterweise könne das Landesverfassungsrecht wieder aufleben, falls das schnelllebige Bundesrecht einmal außer Kraft tritt.137 Prozessual komme bei einem lediglichen Anwendungsvorrang beispielsweise das Verfahren nach Art. 100 GG angesichts des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts nicht in Betracht, denn dieses Verfahren sei notwendigerweise auf eine „Geltungsbeendigung“ der entsprechenden Regelung angelegt.138 Diese Erwägungen können gleichwohl nicht unbesehen auf die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Zitiergebot übertragen werden, auch wenn es in beiden Fällen um die prozessuale Geltendmachung suspendierten Rechts geht. In dem herangezogenen Beispiel steht Art. 31 GG, der den Kollisionsfall zwischen Bundes- und Landesrecht regelt, mit seiner Nichtigkeitsfolge im Raum. Der Verfassungsverstoß besteht in einer Kollision von höherrangigem und niederrangigem Recht, wohingegen bei einer fehlenden Zitierung im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung gegen die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats verstoßen wird. Zwar löst auch im letzteren – hier untersuchten – Fall eine Kollision zwischen Bundes- und Landesrecht die Zitierpflicht aus, dennoch wirkt sich diese nur mittelbar auf den Verfassungsverstoß aus. Weiterhin spricht Art. 100 GG von der „Gültigkeit“ des in Frage stehenden Gesetzes.139 Auch wenn diese Grundsung der neuen Bundesländer, NVwZ 1993, 235, 239; Endter, Zum Verhältnis von Bundesrecht und Landesverfassungsrecht und zur Reichweite der Prüfungskompetenz der Landesverfassungsgerichte, EuGRZ 1995, 227, 228; Erbguth / Wiegand, Über Möglichkeiten und Grenzen von Landesverfassung im Bundesstaat, DÖV 1992, 770, 778; Badura, Supranationalität und Bundesstaatlichkeit durch Rangordnung des Rechts, in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 107, 112 ff.; Heckmann (Fn. 41), S. 319. 135  Endter (Fn. 134), EuGRZ 1995, 227, 228. 136  So v. Olshausen (Fn. 134), S. 124 ff.; Sacksofsky (Fn. 134), NVwZ 1993, 235, 239; Badura (Fn. 134), S. 113 und Heckmann (Fn. 41), S. 319 dagegen allerdings Jutzi, Landesverfassungsrecht und Bundesrecht, 1982, S. 25 ff. und Dietlein, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, S. 56 f. 137  Heckmann (Fn. 41), S. 320. 138  Heckmann (Fn. 41), S. 322. 139  Art. 100 GG mit seiner Vorlagepflicht regelt das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichten und Fachgerichten. Exemplarisch wird hier daher nur das Verfahren nach Art. 100 GG betrachtet, obwohl auch – wie gesehen – die Verfahren der Verfassungsbeschwerde und der abstrakten Normenkontrolle einschlägig sein können.



C. Prozessuale Geltendmachung303

gesetzbestimmung nach ihrem bisherigen Verständnis die Nichtanwendung von Gesetzen nicht im Blick hat, erfasst sie ihrem Wortlaut nach auch den Fall suspendierten Rechts, denn dieses Recht ist nicht vollumfänglich „gültig“ im Sinne der Vorschrift. Die in Frage stehende Regelung ist auch entscheidungserheblich im Sinne des Art. 100 GG. Bei Anwendbarkeit der entsprechenden Norm würde der Einzelfall anders entschieden werden als bei ihrer Nichtanwendbarkeit, denn das abweichende Recht hätte entscheidenden Einfluss auf die Rechtslage. Darüber hinaus sind die Zwecke der Vorlagepflicht nach Art. 100 GG in die Überlegungen mit einzubeziehen. Über die Frage, ob abgewichen wurde und dementsprechend hätte zitiert werden müssen, sollte zum Schutz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers140 nicht jedes Fachgericht entscheiden dürfen. Bei fachgerichtlicher Zuständigkeit sind divergierende Entscheidungen141 bereits innerhalb eines Bundeslandes denkbar. Zusätzlich erfolgt der Ausspruch der Unanwendbarkeit beim Fachgericht nur inter partes, hingegen beim Verfassungsgericht inter omnes. Eine verfassungsgerichtliche Zuständigkeit schützt somit auch vor Rechtszersplitterung. Weiterhin ist zu bedenken, dass das Verfassungsgericht neben der Nichtigkeit auch die Unvereinbarkeit einer Norm mit Verfassungsrecht feststellt. Im letzteren Fall erfolgt in der Regel ein Auftrag an den Gesetzgeber, für Abhilfe zu sorgen.142 Eine wesentliche Aufgabe des Verfassungsgerichts besteht mithin darin, die Verfassungswidrigkeit von Normen festzustellen und eine adäquate Rechtsfolge für den Verfassungsverstoß festzulegen. Die Unanwendbarkeit einer Norm mit der Möglichkeit des Wiederauflebens stellt eine solche Rechtsfolge dar und sollte somit gleichsam vom Verfassungsgericht festgestellt werden. Schlussendlich wurde bereits oben gezeigt, dass bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot grundsätzlich von einer ex-tunc-Nichtigkeit der „fehlerhaften“ Regelung auszugehen wäre.143 Nur auf Grund der Uneinheitlichkeit innerhalb der Länder bei Verstoß von Bundesrecht gegen das Zitiergebot wird als Rechtsfolge eine Unanwendbarkeit angenommen. Außerdem führt auch die Unanwendbarkeit der Norm de facto zu ihrer Nichtigkeit, auch wenn sie wieder aufleben kann. All dies spricht ebenfalls dafür, dass die Verfassungsgerichte, die im Rechtsstaat für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Normen zuständig sind, neben der Nichtigkeit auch die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit bei Verstoß von abweichendem Recht gegen das Zitiergebot aussprechen sollten.144 140  Zu

diesem Zweck siehe BVerfGE 68, 337, 344 f.; 86, 71, 77; 97, 117, 122. Aspekt des Schutzes vor Rechtszersplitterung siehe BVerfGE 54, 47, 51; 58, 300, 322; 63, 131, 141. 142  Zur Unvereinbarkeitserklärung siehe oben unter Kapitel 3. A. II. 4. c). 143  Siehe dazu oben unter A. III. 6. 141  Zum

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Kap. 6: Konsequenzen eines Zitiergebots

D. Hinreichende Sanktionswirkung der Unanwendbarkeit Kritiker eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung könnten der hier entwickelten Lösung vorhalten, es sei inkonsequent, wenn zunächst ein Zitiergebot auf Grund verfassungsrechtlicher Prinzipien angenommen und dann das „stumpfe Schwert“ der Unanwendbarkeit als Rechtsfolge eines Verstoßes anstelle der Nichtigkeit eingeführt wird. Bleibe die Wirksamkeit der abweichenden Norm trotz Verstoßes gegen das Zitiergebot unangetastet, mangele es dem Zitiergebot auch an Durchsetzungskraft. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Frage der Existenz eines Zitiergebots von der Rechtsfolge eines Verstoßes zu trennen ist. Der Schluss von der vermeintlich „stumpfschwertigen“ Rechtsfolge auf den Bestand eines Zitiergebots ist nicht erlaubt. Die unanwendbare Norm hat gegenwärtig keinen Einfluss auf die Rechtslage, auch wenn sie später wieder aufleben kann, somit wirkt die eingeführte Rechtsfolge aktuell faktisch wie die Nichtigkeit. Die Rechtsfolge der Unanwendbarkeit stellt somit keine Inkonsequenz innerhalb dieser Arbeit dar.

E. Zusammenfassung Das Erfordernis der Zitierung der überregelten Norm im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung ergibt sich aus den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats und somit unmittelbar aus der Verfassung. Bei Nichtbeachtung des Zitiergebots liegt folglich ein Verfassungsverstoß vor. Dieser wird bei gesetzlichen Normen grundsätzlich mit dem Verdikt der Nichtigkeit geahndet. Der Verstoß gegen das Zitiergebot hat abweichend von dieser Regel die Unanwendbarkeit der betreffenden Regelung zur Folge. Diese Rechtsfolge vermeidet u. a. einen andernfalls eintretenden Widerspruch zwi144  Kirchhof mahnte 2006 an, dass „man das Bundesverfassungsgericht (mit einer Zuständigkeit in diesen Fällen) volumenmäßig nicht überfordern“ sollte. Er führte jedoch ebenfalls an, dass es „für Verfassungsbeschwerden und für Gehörsrügen nach Art. 103 des Grundgesetzes (…) mittlerweile besondere Verfahren (gibt), um die Flut von Anträgen an das Gericht zu bremsen.“ (Stellungnahme zur gemeinsamen öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages und des Ausschusses für Innere Angelegenheiten des Bundesrates zur Föderalismusreform, abgedruckt in Stenografischer Bericht der 12. Sitzung des Rechtsausschusses am 15. / 16.05.2006 (http: /  / starweb.hessen.de / cache / bund / foederalismus_01_Protokoll_ Allgemeiner_Teil_pdf. (07.02.13)), S. 67) Das Problem einer womöglichen Überlastung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich somit auch für das Zitiergebot im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung durch sogenannte vorgeschaltete Annahmeverfahren lösen.



E. Zusammenfassung305

schen dem Begriff der Nichtigkeit und den Besonderheiten der Abweichungsgesetzgebung. Weiterhin ist diese Rechtsfolge in der Lage, eine praktische Konkordanz innerhalb widerstreitender Gebote des Rechtsstaatsprinzips herzustellen, namentlich des Nichtigkeitsgebots und des Gebots der Normenklarheit. Bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot gilt somit eine zur Nichtigkeit alternative Rechtsfolge in Form der Suspendierung des „fehlerhaften“ Rechts. Im Falle „fehlerhaften“ Bundesrechts ist auch eine Teil­ unanwendbarkeit möglich. Trotz Verstoßes gegen das Zitiergebot wird die Wirksamkeit der jeweiligen Norm nicht angetastet. Allerdings führt die Unanwendbarkeit zur faktischen Nichtigkeit der gegen das Zitiergebot verstoßenden Norm. Die Regelung bleibt zwar existent, hat aber aktuell keine weitere Bedeutung. Bei einem späteren Wegfall der vorangehenden Regelung ist der „Fehler“ des mangelnden Zitats allerdings behoben, so dass die ursprünglich „fehlerhafte“ Norm „gesundet“ wieder aufleben kann. Prozessual entscheiden die Verfassungsgerichte über die Verfassungswidrigkeit und sprechen die Rechtsfolge aus.

Zusammenfassung Der deutsche Föderalismus hat – ähnlich wie das Staatsstrukturprinzip der Demokratie – durch den weitreichenden Gebrauch als politisches Schlagwort und die vielen wissenschaftlichen Analysen zur seiner wahren Ausprägung zahlreiche Bedeutungsfacetten erlangt. Gemeinhin bezeichnet Föderalismus ein organisationsrechtliches Prinzip, nach dem sich kleinere politische Einheiten unter Beibehaltung hoheitlicher Befugnisse zu einem übergeordneten selbstständigen politischen Gebilde zusammenschließen und mit der oberen Einheit in einer kompetenziellen Wechselwirkung stehen. Betrachtet man die jüngere deutsche Geschichte, so entpuppt sich der Föderalismus als ein dynamisches Organisationsprinzip, hält er doch eine beträchtliche Toleranzbreite für Entwicklungen bereit. Jedenfalls in ihrer föderalen Dimension kann die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Entstehungszeitpunkt 1949 mit den Stichworten des „Wandels“ und der „Entwicklung“ umschrieben werden. Die hohe Anpassungsfähigkeit des bundesdeutschen Föderalismus sorgte stets dafür, dass ein zeitgemäß empfundenes Verständnis des Bundesstaats ausgebildet wurde. Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wird für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern bzw. den Ländern untereinander das Prinzip eines kompetitiven Föderalismus (Konkurrenzföderalismus, Wettbewerbsföderalismus) verfolgt. Danach sollen den Ländern gegenüber dem Bund eigene Gestaltungsspielräume geschaffen werden, damit ein innovativer und leistungssteigernder Wettbewerb um die besten Lösungen im Bundesstaat in Gang gesetzt werden kann. Die Länder sollen in die Lage versetzt werden, eigene, an ihren Präferenzen orientierte und bei positiver Entwicklung auch für andere Regionen adaptierbare politische Lösungen, zu erproben. Beim kompetitiven Föderalismus handelt es sich nicht um ein eigenständiges Rechtsprinzip, an dem die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ausgerichtet werden könnte. Vielmehr soll der Wettbewerb lediglich ein zentrales Leitmotiv und politisches Gestaltungsprinzip des Föderalismus sein.

Zusammenfassung307

Der im Leitbild enthaltene Wettbewerbsgedanke streitet für eine „echte“ Gleichrangigkeit von Bund und Ländern. Dieser Grundgedanke kann bei Fragen, die das Bund-Länder-Verhältnis bei der Abweichungsgesetzgebung betreffen, fruchtbar gemacht werden. Beispielsweise spricht er für eine Gleichbehandlung der bundesstaatlichen Akteure in Hinblick auf das Bestehen einer Kennzeichnungspflicht. In die Zeit des kompetitiven Föderalismus fällt die 2006 in Kraft getretene „Föderalismusreform I“. Ausweislich der Begründung zum Entwurf des Föderalismusreformgesetzes soll die Reform „demokratie- und effizienzhinderliche Verflechtungen zwischen Bund und Ländern abbauen und wieder klarere Verantwortlichkeiten schaffen und so die föderalen Elemente der Solidarität und Kooperation einerseits und des Wettbewerbs andererseits neu ausbalancieren. Insgesamt geht es um eine nachhaltige Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sowohl des Bundes als auch der Länder.“ Im Rahmen der „Föderalismusreform I“ wurde der neue Typus der Abweichungsgesetzgebung geschaffen und damit ein wesentlicher Bereich des Bund-Länder-Verhältnisses, namentlich der der konkurrierenden Gesetzgebung, maßgebend verändert. Zugriffs- bzw. Abweichungsbefugnisse der Länder sind gleichwohl keine Erfindung der Föderalismuskommission aus dem Jahr 2006. Der erste ernsthaft mit der Ausgestaltung der heutigen Abweichungsgesetzgebung vergleichbare Vorschlag stammt von dem früheren Hamburgischen Senator für Bundesangelegenheiten Ernst Heinsen, den er im Rahmen eines Sondervotums innerhalb der Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ von 1976 geäußert hat. Auf diesen „alten Vorschlag“ des Senators Heinsen wurde in den Debatten der Föderalismuskommission 2006 auch rekurriert. Heinsen gilt damit als „Erfinder“ der Abweichungsgesetzgebung, auch wenn der Grundgedanke der Zugriffsgesetzgebung bereits zu Zeiten der Weimarer Republik bzw. noch früher entstanden ist. Heinsens Vorschlag beinhaltete eine Regelungsmöglichkeit für die Länder im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes, die selbst dann noch Bestand haben sollte, wenn der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht auf dem betreffenden Gebiet bereits Gebrauch gemacht hatte. Abweichende Landesgesetze sollten die Bundesnorm, von der sie abweichen, ausdrücklich benennen. Das Landesrecht sollte außerdem dem Bundestag und der Bundesregierung zugeleitet werden. Die Zitierung sollte also nicht nur auf Grund rechtsstaatlicher Anforderungen erfolgen, sondern auch der besseren Orientierung der Abgeordneten im demokratischen Prozess durch ein transparentes Verfahren dienen. Das Sondervotum Heinsens ist auf Grund fehlender verfassungsändernder Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nicht umgesetzt worden.

308 Zusammenfassung

Über die Notwendigkeit einer expliziten Zitierpflicht für die Abweichungsgesetzgebung wurde auch im Gesetzgebungsverfahren der Föderalismusreform 2006 diskutiert. Entsprechende Anregungen kamen von den Sachverständigen Huber und Pestalozza in ihren Stellungnahmen in der 12. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags. Beide machten den Vorschlag, dass in Art. 72 Abs. 3 des Grundgesetzes eine Verpflichtung statuiert werden müsste, wonach auf Grund zu befürchtender Rechts­ unübersichtlichkeit eine Abweichung im entsprechenden Gesetz kenntlich zu machen wäre. Huber sprach sich zusätzlich für eine explizite wechselseitige Notifizierungspflicht gegenüber dem Bund oder dem betroffenen Land aus, „damit klar ist, von welchen Vorschriften des Bundes- bzw. des Landesrechts abgewichen wird.“ Trotz zum Teil leidenschaftlicher Stellungnahmen einiger Sachverständiger konnte sich 2006 weder eine explizite Zitiernoch Notifizierungspflicht der Länder durchsetzen. Beide Gebote sind nicht expressis verbis Teil des Verfassungstextes geworden. Dieser Umstand stellt ein ungeschriebenes Zitiergebot hergeleitet aus Staatsstrukturprinzipien dennoch nicht in Abrede. Inhaltlich setzt Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG eine „abweichende“ Regelung voraus. Das altgermanische Stammverb „weichen“ hat zunächst einen räumlich zu verstehenden Vorstellungsinhalt, dem das Präfix „ab“ vorangestellt wird. Eng verwandt ist es mit den Worten „Wechsel“ (eigentlich „Weichen, Platzmachen“) und „Woche“ (eigentlich „Wechsel, Reihenfolge“). Als Syno­ nyme für diesen örtlichen Vorstellungsinhalt kommen in Betracht: „sich abkehren“, „beiseitetreten“, „distanzieren“, „seiner Wege gehen“, „Abstand nehmen“ oder sprichwörtlich gewendet „vom Pfad der Tugend abweichen“. Das „Abweichen“ bezieht sich nach diesem lokalen Vorstellungsinhalt immer auf einen Hauptpfad, der verlassen wird. Dieser Hauptpfad ist der Maßstab für die Existenz und das Ausmaß einer Abweichung. Die Übertragung dieser philologischen Erkenntnisse auf Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG lässt den Schluss zu, dass das zu suspendierende Gesetz im Sinne eines Hauptpfades den Maßstab für die Abweichung darstellt. Dieses Bundes- oder Landesgesetz gibt demnach eine bestimmte Richtung vor, die durch sein Finalprogramm zum Ausdruck gebracht wird. Zumindest in diese Richtung muss sich auch das Abweichungsgesetz bewegen, andernfalls handelt es sich nicht mehr um eine Abweichung vom Hauptpfad, sondern um einen völlig anderen Rechtssatz, mithin um ein „aliud“, dessen Wirksamkeit sich allgemein an den Kompetenznormen des Grundgesetzes bzw. an der jeweiligen Landesverfassung und ebenfalls an Art. 31 GG misst. Eine ausreichende Bezugnahme auf die Vorgängernorm ist sowohl bei Tatbestandsverschiedenheit und Rechtsfolgengleichheit der subsequenten Norm wie auch im umgekehrten Fall gegeben. Darüber hinaus kann aber

Zusammenfassung309

auch bei Tatbestands- und Rechtsfolgenverschiedenheit eine Abweichung vorliegen, wenn beispielsweise der Tatbestand im Vergleich zur Vorgängernorm lediglich erweitert und zusätzlich eine andere Rechtsfolge gewählt wird. Maßgebend bleibt, ob eine „Abweichung“ vom Hauptpfad der Vorgängernorm vorliegt. Nicht nur die Länder haben das Recht zur Abweichung. Auch der Bund hat ein auf den gleichen Gegenstand bezogenes Gesetzgebungsrecht aus Art. 72 Abs. 1 GG. Denkbar ist folglich, dass es zu abweichenden Landesgesetzen und diese wieder überregelnden späteren Bundesgesetzen kommt. Beide Abweichungen können auch nur Ausschnitte des vorangehenden Gesetzes betreffen. Die Ausübung des Rückholrechts kann sich, „wenn die Akteure hartnäckig bleiben (…) ad infinitum fortsetzen“, weshalb die Abweichungsgesetzgebung auch als „Ping-Pong-Gesetzgebung“ bezeichnet wird. Die dogmatischen Konsequenzen der Abweichungsgesetzgebung stehen in unmittelbarem Zusammenhang zur fundamentalen bundesstaatlichen Kollisionsnorm des Art. 31 GG. Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG ist wie Art. 31 GG auch eine sogenannte Kollisionsentscheidungsnorm, d. h. der Konflikt zwischen den Rechtsetzungsebenen von Bund und Ländern wird nicht bereits durch die Kompetenzordnung gelöst, sondern erst im Nachhinein wird der Widerspruch zu Gunsten der einen und zu Lasten der anderen Ebene entschieden. Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG ordnet im Kollisionsfall den Vorrang des späteren, d. h. jüngeren Gesetzes an. Er verdrängt damit lediglich im Anwendungsbereich des Art. 72 Abs. 3 S. 1 GG die sonst generelle Rechtsfolge des Vorrangs des Bundesrechts und tauscht damit den im deutschen Föderalismus bisher geltenden Maßstab der Normenhierarchie gegen den formalen der Zeit. Das jeweils spätere Recht profitiert gleichermaßen vom juvenilen Mehrwert der lex-posterior-Regelung. Die Aufgabe eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung liegt nicht etwa darin, Normwidersprüche wie bei Kollisionsvermeidungsnormen zu vermeiden oder wie bei Kollisionsentscheidungsnormen aufzulösen. Das Zitiergebot steht vielmehr im Dienste der lex-posterior-Regelung und soll die Entscheidung des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG für die Außenwelt transparent und nachvollziehbar machen. Bereits in der Föderalismuskommission im Jahr 2006 wurde über die Notwendigkeit eines Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung diskutiert. Dabei wurden insbesondere Vergleiche zu den ausdrücklichen Zitierpflichten in Art. 19 und 80 GG gezogen. Der Blick ging indes auch über die nationale Ebene hinaus, wobei die seit etwa 1990 etablierte Praxis, in den nationalen Bestimmungen die europäischen Richtlinien anzugeben, de-

310 Zusammenfassung

ren Umsetzung ein Gesetz dienen soll, als Vorläufer eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung ausgemacht wurde. Die ausdrücklichen Zitiergebote in Art. 19 und 80 GG haben ähnliche Funktionen. Durch die Warn- und Besinnungsfunktion der Zitierpflicht in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG soll vermieden werden, dass neue, dem bisherigen Recht unbekannte Möglichkeiten des Eingriffs in Grundrechte geschaffen werden, ohne dass sich der Gesetzgeber darüber Rechenschaft legt und dies ausdrücklich zu erkennen gibt. Durch die Pflicht zur Angabe der Ermächtigungsgrundlage einer Rechtsverordnung in Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG soll sich die Exekutive – vergleichbar mit der Besinnungsfunktion des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG – des ihr aufgegebenen Normensetzungsprogramms vergewissern und sich auf dieses beschränken. In beiden Fällen geht es im Grunde also darum, dass sich die Rechtsetzungsebenen ihr eigenes Handeln mit all seinen Konsequenzen bewusst machen und die Verantwortung dafür übernehmen. Beide Zitiergebote haben daneben auch eine Rechtsschutzkomponente, zum einen in der Form, dass der Grundrechtsträger über die gesetzliche Einschränkung bzw. Einschränkbarkeit seines Grundrechts informiert wird, zum anderen in der Gestalt, dass für den Rechtsbetroffenen nachvollziehbar ist, ob sich der Verordnungsgeber an den gesetzlich gezogenen Rahmen der Ermächtigungsgrundlage gehalten hat. In beiden Fällen geht es mithin um legitimatorische Ableitungszusammenhänge, die durch das Zitat kenntlich gemacht werden sollen, damit der Bürger bei erkannter Unterbrechung der Legitimationskette gegen den Rechtsakt vorgehen kann. Das Zitat muss jeweils in einer Art erfolgen, die den Funktionen des Zitiergebots am ehesten gerecht wird. Bei beiden Zitiergeboten handelt es sich nicht – auch wenn die höchstrichterliche Handhabe in der Vergangenheit zum Teil eine andere gewesen sein mag – um bloße Ordnungs- oder Sollvorschriften. Vielmehr statuieren beide Zitiergebote zwingende Wirksamkeitsvoraussetzungen. Ihre Nichtbeachtung hat die ex-tunc-Nichtigkeit der jeweiligen Norm zur Folge. Das ungeschriebene Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung leitet sich u. a. aus dem Rechtsstaatsprinzip ab. Normenklarheit und Normenbestimmtheit sind Subelemente des rechtsstaatlichen Gebots der Rechtssicherheit. Während sich das Bestimmtheitsgebot in erster Linie dem Gesetzes­ inhalt widmet, befasst sich das Klarheitsgebot vor allem mit der formalen Gesetzestechnik. Von besonderer Bedeutung für das Klarheitsgebot ist der Aspekt der Übersichtlichkeit. Dieser verlangt, dass soweit sich eine gesetzliche Regelung aus dem Zusammenspiel von Normen ganz unterschiedlicher Regelungsbereiche ergibt, die Klarheit des Normeninhalts und die Voraus-

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sehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch im Hinblick auf dieses Zusammenwirken gesichert sein muss. Das Übersichtlichkeitsgebot dient mithin als „Komplexitätskontrolle“ zur Überprüfung des Ausmaßes der Wechselbezüglichkeiten von Normen. Maßstab für die Beurteilung der Übersichtlichkeit sind die Erkenntnismöglichkeiten des typischerweise von der Regelungsmaterie betroffenen Adressaten. Ausgangspunkt für das Erfordernis eines ungeschriebenen Zitiergebots für die Abweichungsgesetzgebung ist zunächst die Tatsache, dass die 2006 neu in das Grundgesetz aufgenommene Kompetenzart auf unübersichtliche Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht jedenfalls normativ angelegt ist. Allein auf Grund der Möglichkeit abweichenden Landes- bzw. Bundesrechts entsteht beim Rezipienten Unsicherheit dahingehend, wie der für ihn gültige Normbefehl lautet. Sowohl seine kognitiven wie auch seine Informationsbeschaffungskosten belegen seine – aus der formalen Überkomplexität der Rechtslage folgende – Rechtsunsicherheit. Auch wenn es auf Grund des Zuschnitts der Gesetzgebungskompetenzen schon vor der Föderalismusreform im Jahr 2006 Gemengelagen von Bundes- und Landesrecht etwa auf den Gebieten der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung gab, war das Verhältnis der Ebenen zueinander zuvor immer von Hierarchie und lediglich zwei sich gegenüberstehenden Konzeptionen geprägt. Die landesrechtlichen Spielräume waren für alle Länder stets die Gleichen. Auch Bundesgesetze galten in allen Ländern gleichermaßen. Nun ist es denkbar, dass Bundesrecht nur noch in einigen, nicht abweichenden Ländern und damit regional begrenzt gilt. Die bisherige, in einem einzelnen Gegenseitigkeitsverhältnis stehende Kompetenztypik, wird bildhaft gesprochen „auf den Kopf gestellt“. Denn nun kann eine Vielzahl von Gegenseitigkeitsverhältnissen entstehen, die allesamt für die Ermittlung der Rechtslage von Bedeutung sind. Abgrenzungsfragen zwischen Bundes- und Landesrecht sind historisch betrachtet folglich nicht neu, sie erlangen mit der Abweichungsgesetzgebung aber „eine neue Qualität“. Angesichts des normativ angelegten Szenarios einer Verwobenheit der Gesetzgebung auf Bundes- und Landesebene ist bei der Abweichungsgesetzgebung die verfassungsrechtlich zulässige Grenze normativer Komplexität überschritten. Die Komplexität ergibt sich – auch was die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen anbelangt – nicht aus der Sachgesetzlichkeit des Regelungsbereichs, sondern aus den formalen Umständen der Gesetzgebungskompetenz. Die Erfassung der Begriffe fällt schwer, weil sich ihr Inhalt aus der Bezugnahme zu Begriffen im „überholten“ Gesetz ergibt. Aber nicht nur der Inhalt des „überholten“ Gesetzes ist maßgebend, sondern auch der der vorangehenden Gesetze, denn ersteres steht wiederum in einer inhaltlichen Beziehung zum davor maßgeblichen Gesetz usw. Der „aktuelle“

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Rechtsbegriff lässt sich also erst aus einer „Rückverfolgung“ der vorangehenden Inhalte erschließen. Auch hinsichtlich der Rechtsbegriffe, die eigentlich weniger den formalen Aufbau als den Inhalt der Gesetze betreffen, führt also im Kern ein formaler Aspekt zur Komplexitätssteigerung. Diese Form der Komplexität ist weniger hinnehmbar, denn auf unbestimmte Rechtsbegriffe kann der Gesetzgeber bei der Gestaltung seiner Gesetze nicht immer verzichten, um einen möglichst übersichtlichen Aufbau hat er sich aber zu bemühen. Mithin muss für diese Situation eine weitgehende Kompensation in Form eines Zitiergebots mitgedacht werden. Dieses ungeschriebene Zitiergebot gilt sowohl für die abweichenden Länder wie auch für den überregelnden Bund. Es hat in Anlehnung an die geschriebenen Zitiergebote in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG eine Besinnungs- und Offenlegungsfunktion, eine Warnfunktion und eine Informations- und Rechtsschutzfunktion. Obgleich einige Einwände gegen das Zitiergebot erhoben werden, etwa in Form milderer Mittel zur Eindämmung der unübersichtlichen Gemengelage, verfügt keines der in Betracht kommenden Instrumente über das Maß an Rechtssicherheit spendender Verbindlichkeit des Zitiergebots. Zwar sind die Verwaltung und die Gerichte an den durch ein Zitat manifestierten Willen des Gesetzgebers nicht unüberwindbar gebunden, sie können also theoretisch zu einer anderen Einschätzung als der Gesetzgeber hinsichtlich des Bestehens einer Abweichung gelangen. Dennoch fließt der Wille des Gesetzgebers mit beträchtlichem Gewicht in die von Verwaltung und Gerichten nach objektiven Kriterien vorgenommene Auslegung des Gesetzes ein – vor allem auf Grund der Publizität des Zitats –, so dass auf diese Weise gleichwohl starke Bindungen entstehen. Hinsichtlich der Ausgestaltung des Zitiergebots gilt, dass nur die präzise Bezeichnung der suspendierten Norm im abweichenden Gesetz – sei es das Landes- oder das Bundesgesetz – den Funktionen des ungeschriebenen Zitiergebots gerecht wird. Das ungeschriebene Zitiergebot für die Abweichungsgesetzgebung leitet sich auch aus dem Demokratieprinzip ab. Die Gleichrangigkeit und gegenseitige Ablösbarkeit der bundesstaatlichen Akteure auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien kann zu unübersichtlichen Gemengelagen von Bundesund Landesrecht führen. Die Verflechtung ineinandergreifender Regelungsebenen lässt ein Maß an Verunklarung gesetzgeberischer Verantwortlichkeit befürchten, das mit dem Demokratieprinzip nicht mehr zu vereinbaren ist. Setzt sich ein Regelungsinhalt aus Beiträgen des Bundes wie der Länder zusammen, ist – ohne Kenntlichmachung – irgendwann nicht mehr nachvollziehbar, von welchem bundesstaatlichen Akteur welcher Beitrag zur Gesetzgebung stammt, bedenkt man nur, dass es sich bei den Beiträgen sowohl um ältere wie jüngere, wie auch inhaltlich prinzipiell unbeschränkte

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beider Ebenen handeln kann. Ist für den Bürger mithin nicht erkennbar, welcher Ebene welcher Beitrag zur Gesetzgebung zuzuordnen ist, kann er auch sein Stimmrecht bei der Parlamentswahl weder bewusst noch gezielt ausüben. Auch die Möglichkeit der nachträglichen Korrektur seiner ursprünglichen Wahlentscheidung wird ihm auf diese Weise erschwert. Letztendlich wird er in seiner Freiheit der „demokratischen Korrigierbarkeit der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt“ beschnitten. Hinzukommt, dass bei dem eventuellen „Rechtsdickicht“ von Bundes- und Landesrecht nicht klar ist, welches Volk welchen Teil der Gesetzgebung legitimiert hat. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien beide bundesstaatlichen Akteure hinsichtlich desselben Regelungsbereichs gesetzgeberisch tätig werden dürfen, so dass der Bürger mit seiner Wahl auf diesem Gebiet von vornherein beide bundesstaatlichen Akteure legitimiere und somit ausnahmsweise auf demokratische Verantwortungsklarheit verzichtet werden könne. Denn der Bürger legitimiert mit seiner Wahl auf Bundesebene den Bundestag, Bundesgesetze auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien zu erlassen, wohingegen er mit seiner Wahl auf Landesebene das jeweilige Landesparlament legitimiert, vom Bundesrecht abweichende landesrechtliche Regelungen zu treffen. Mit seiner jeweiligen Wahlentscheidung legitimiert er mithin bewusst verschiedene Gesetzgeber, womit auch eine unterschiedliche Intention hinsichtlich des Gesetzgebungsinhalts einhergehen kann. Womöglich will er dem Bund die Legitimation erteilen, ein umfängliches Bundesgesetz zu erlassen, wobei es ihm bei seiner Wahl auf Landesebene vielleicht gerade darauf ankommt, dass auf Grund landesspezifischer Besonderheiten abweichende Regelungen getroffen werden. Auch wenn Bund und Länder somit auf dem Gebiet der Abweichungsmaterien gleichermaßen gesetzgeberisch tätig werden dürfen, geht damit keinesfalls ein Verzicht auf das Gebot demokratischer Verantwortungsklarheit einher. Für die Abweichungsgesetzgebung und die damit verbundene Gemengelage muss somit auch auf Grund fehlender demokratischer Verantwortungsklarheit eine Kompensation in Form eines ungeschriebenen Zitiergebots mitgedacht werden. Das Zitiergebot sorgt für stärkere Klarheit in Hinblick auf die zeitliche Ablöse und das Ausmaß des inhaltlichen Unterschieds der subsequenten zur überregelten Norm. Die Beiträge der jeweiligen Gesetzgeber zur Entstehung des Regelungszusammenhangs und -inhalts werden auf transparente und nachvollziehbare Weise kundgetan. Da weiterhin das Ins­ trument zur Herstellung demokratischer Verantwortungsklarheit in erster Linie das parlamentarische Gesetz ist, spricht auch das Demokratieprinzip dafür, die Zitierung innerhalb des Gesetzes und nicht beispielsweise in der Gesetzesbegründung vorzunehmen. Darüber hinaus muss die Zitierung im Gesetz auch aus demokratischer Sicht exakt erfolgen. Nur so können die

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Beiträge des Bundes und der Länder zur Entstehung der Rechtslage klar voneinander abgegrenzt werden. Versteht man unter demokratischer Repräsentation die „dynamische Spiegelung des Volkswillens“, so kann es sich dabei nicht um einen statischen Zustand, sondern nur um einen stets aufgegebenen Prozess handeln. Dieser Prozess kann erheblich gefährdet sein, wenn die Repräsentanten den Eindruck erwecken bzw. tatsächlich nicht wissen, worüber sie im parlamentarischen Prozess abstimmen. Dieses Problem betrifft auch die Abweichungsgesetzgebung. Ohne Kenntlichmachung ist nicht unbedingt klar, dass beispielsweise ein landesrechtlicher Sonderweg bestritten werden soll. Auch die Verdrängungswirkung des lex-posterior-Grundsatzes in Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG, deren Kenntlichmachung bei einer bundesrechtlichen Abweichung insbesondere im Vordergrund steht, wird ohne Zitat möglicherweise verkannt. Angesichts der Fülle und Ausdifferenziertheit moderner Gesetzgebungstätigkeit kann außerdem realistischer Weise nicht von jedem Abgeordneten erwartet werden, dass er sich des vielleicht auch nur punktuell abweichenden Charakters eines Gesetzgebungsentwurfs ohne ausdrücklichen Hinweis immer vollends bewusst ist. Das System der repräsentativen parlamentarischen Demokratie setzt aber voraus, dass dem Abgeordneten alle Informationen, die er für eine eigenverantwortliche Entscheidung über das Gesetzgebungsvorhaben benötigt, bereitgestellt werden. Nur „so wird er in die Lage versetzt, sich ein eigenes Urteil von den parlamentarischen Vorgängen zu bilden. Parlamentarische Verfahren und die mit ihnen verfolgten Ziele müssen folglich für den Abgeordneten verstehbar und transparent sein.“ Ist dies nicht gewährleistet, ist sein Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung gefährdet. Für die Abweichungsgesetzgebung und die damit verbundene Gemengelage muss somit auch auf Grund der sonst bestehenden Gefährdung demokratischer Repräsentation eine Kompensation in Form eines ungeschriebenen Zitiergebots mitgedacht werden. Eine Zitierung hat in diesem Zusammenhang die Funktion, dem einzelnen Abgeordneten schon bei einer groben Durchsicht des Entwurfs erkennbar zu machen, dass Sonderwege beschritten werden sollen bzw. die Verdrängungswirkung des lex-posterior-Grundsatzes eintritt. Der Abgeordnete wird mithin in transparenter Weise über diesen Umstand aufgeklärt, ohne dass es für diese Erkenntnis eines inhaltlichen Abgleichs von Bundes- und Landesrecht seinerseits bedarf. Der inhaltliche Abgleich ist ihm trotz Zitierung selbstverständlich nicht verwehrt, im Gegenteil sogar geboten, damit er sich ein eigenes Urteil darüber bilden kann, „ob ein zulässiger Abweichungsfall vorliegt“. Das Zitiergebot wird mithin zum Hauptakteur innerhalb eines mehrstufigen Prozesses der Wissensgenerierung und -kommunikation. Bei Erstellung

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der Gesetzesentwürfe – zumeist innerhalb der Regierung – sorgt es für die Generierung von Wissen in Hinlick darauf, ob der Gesetzesentwurf eine Abweichung von Bundes- oder Landesrecht darstellt. Dieses Wissen über den Bestand einer Abweichung wird mit dem Zitat im Entwurf den Angeordneten im Plenum mitgeteilt bzw. kommuniziert. Über den parlamentarischen Prozess hinaus wird das Wissen über den Bestand einer Abweichung mit Erlass des Gesetzes in die Rechtsordnung eingespeist. Vergegenwärtigt man sich mithin die „asymmetrische Verteilung des Wissens“ zwischen Parlament und Regierung schon allein auf Grund der höheren Sachkunde der Exekutive, sorgt das Zitiergebot für eine Verkürzung des Wissensvorsprungs der Exekutive gegenüber dem Parlament. Auch der parlamentarischen Kontrolle der Regierung wird demnach mittels eines Zitiergebots Rechnung getragen, so dass die Gefährdung des Repräsentationsprinzips auch auf Grund mangelnder Kontrollierbarkeit eine Einschränkung erfährt. Das Erfordernis der Zitierung der überregelten Norm im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung ergibt sich aus den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaats und somit unmittelbar aus der Verfassung. Bei Nichtbeachtung des Zitiergebots liegt folglich ein Verfassungsverstoß vor. Dieser wird bei gesetzlichen Normen grundsätzlich mit dem Verdikt der Nichtigkeit geahndet. Der Verstoß gegen das Zitiergebot hat abweichend von dieser Regel die Unanwendbarkeit der betreffenden Regelung zur Folge. Diese Rechtsfolge vermeidet u. a. einen andernfalls eintretenden Widerspruch zwischen dem Begriff der Nichtigkeit und den Besonderheiten der Abweichungsgesetzgebung. Weiterhin ist diese Rechtsfolge in der Lage, eine praktische Konkordanz innerhalb widerstreitender Gebote des Rechtsstaatsprinzips herzustellen, namentlich des Nichtigkeitsgebots und des Gebots der Normenklarheit. Darüber hinaus hat sie auch einen demokratischen Gehalt, denn sie achtet im Vergleich zur ex-tunc-Nichtigkeit eher das Werk des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Bei einem Verstoß gegen das Zitiergebot gilt somit eine zur Nichtigkeit alternative Rechtsfolge in Form der Suspendierung des „fehlerhaften“ Rechts. Im Falle „fehlerhaften“ Bundesrechts ist auch eine Teilunanwendbarkeit möglich. Trotz Verstoßes gegen das Zitiergebot wird die Wirksamkeit der jeweiligen Norm nicht angetastet. Allerdings führt die Unanwendbarkeit zur faktischen Nichtigkeit der gegen das Zitiergebot verstoßenden Norm. Die Regelung bleibt zwar existent, hat aber aktuell keine weitere Bedeutung. Bei einem späteren Wegfall der vorangehenden Regelung ist der „Fehler“ des mangelnden Zitats allerdings behoben, so dass die ursprünglich „fehlerhafte“ Norm „gesundet“ wieder aufleben kann. Prozessual entscheiden die Verfassungsgerichte über die Verfassungswidrigkeit und sprechen die Rechtsfolge aus.

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Sachverzeichnis Abweichungsgedanke  siehe Zugriffsgedanke Abweichungsgesetzgebungskompetenz –– abweichungsfeste Kerne  102, 216, 223 –– Art. 72 Abs. 3 GG als lex specialis zu Art. 72 Abs. 1 GG  98 –– Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG als lex specialis zu Art. 31 GG  107 –– Begriff der Abweichung  93 –– Ermessensentscheidung der Länder und des Bundes  99 –– experimenteller Charakter  89 –– Gestaltungswettbewerb  89 –– Inhaltsgleichheit  96 –– Lex-posterior-Regel des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG  103 –– Negativgesetzgebung  95 –– Normqualität der abweichenden Norm  91 –– regulatorischer Wettbewerb  89 –– ungeschriebenes Zitiergebot  209 Abweichungswille  299 Adressatenfrage  184 Amtliche Fundstelle –– Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  146 –– Richtlinie  158 –– ungeschriebenes Zitiergebot  255 Änderungsgesetz Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  126 Anwendungsvorrang  94, 101, 105, 106, 109 asymmetrische Verteilung des Wissens  279 authentische Interpretation  246 Autonomie des Einzelnen  262

Besinnungs- und Offenlegungsfunktion des ungeschriebenen Zitiergebots  217 Bundesgesetzblatt  227 Bundesrechtsdatenbank  231 Bundesstaatsprinzip  28 Bundestreue  237 chunks  183 demokratische Korrigierbarkeit der repräsentativen Leitungs- und Entscheidungsgewalt  269 demokratische Legitimation  264 demokratische Repräsentation  271 demokratische Verantwortlichkeit  266 demokratische Verantwortungsklarheit  268 Dokumentation  225 Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  136 effet utile  157 Einzelzitat Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  123 Ermächtigungsgesetze  139 europarechtliches Zitiergebot  156 flexible Rechtsfolgenlösung Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  135 Flickenteppich  189, 205 föderale Teilunanwendbarkeit von Bundesrecht  297 Föderalismus  26 –– Abgrenzung zum Bundesstaatsprinzip  28 –– Entstehung und Bedeutung föderalistischer Leitbilder  45 –– Erschütterter Bundesstaat  41

Sachverzeichnis351 –– Kompetitiver ~  42 –– Kooperativer ~  40 –– Reföderalisierter Bundesstaat  40 –– Separativer ~  38 –– Unitarischer Bundesstaat  39 –– Ziele der Föderalismusreform –– Klare Verantwortlichkeiten  56 –– Rationale Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen  58 –– Stärkung der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Bund und Ländern  58

Leitbilder  siehe Föderalismus Lex-posterior-Regel des Art. 72 Abs. 3 S. 3 GG  siehe Abweichungsgesetzgebungskompetenz Mosaik  20, 196

Geltungsvorrang  107 Gemengelage  188, 209 Gesetzmäßigkeit  149, 246 Gesetzmäßigkeitsprinzip  144 Gestaltungswettbewerb.  siehe Abweichungsgesetzgebungskompetenz Gewaltenteilung  28, 86, 131, 140, 148, 243, 246, 285 gubernative Selbstkontrolle Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  142

Negativgesetzgebung  siehe Abweichungsgesetzgebungskompetenz Nichtigkeit –– der Rechtsverordnung Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  137, 155 Nichtigkeitsdogma  133, 290 normative Komplexität  179, 198 Normdichte  182 Normenhierarchie  109 Normenkontrolle –– abstrakte  301 –– konkrete  301 Normenwirrwarr  191, 243 Normklarheit  167 Notifikation  224

Interdependenz  180

Öffnungsklauseln  23, 75, 241

juristische Datenbanken  229

parlamentarische Kontrolle der Regierung  277 Ping-Pong-Gesetzgebung  20, 101, 192, 238 praktische Konkordanz  298 praktische Relevanz von Rechtsverordnungen  138

Klarstellungs-, Hinweis- und Informa­ tionsfunktion Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  119 Kognitionswissenschaft  182 Kollisionsentscheidungsnormen  103 Kollisionsvermeidungsnormen  103 Komplexitätskontrolle  179 konkurrierende Gesetzgebungskompetenz  85, 204 Konzentrationswirkung Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  143 Kooperation –– horizontale ~  234 –– vertikale ~  233 legitimatorische Ableitungszusammenhänge  143, 145, 152, 220

Qualifikationshilfe Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  141 Rahmengesetzgebung  88, 99, 205 Recht auf gleiche Teilhabe am Prozess der parlamentarischen Willensbildung  277 Rechtsdickicht  19, 195, 215, 269 Rechtspuzzle  191 Rechtsschichten  19, 191, 195, 205, 207, 215, 269

352 Sachverzeichnis Rechtsschutzfunktion Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  143, 149 Rechtssicherheit  162 Rechtsunsicherheit  195 Rechtsweggarantie  144, 245 Regelungsverzicht des Bundes  siehe Abweichungsgesetzgebungskompetenz repräsentative Demokratie  264 Rückholrecht  101, 190 Rückwirkung  247 salvatorische Klauseln  252 Sammelverordnungen Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  151 Sammelzitat –– Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  123 –– ungeschriebenes Zitiergebot  252 Stammgesetz Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  126 Synopsen  238 Systemgerechtigkeit  171 Transaktionskosten  198, 201 Transparenz  21, 41, 81, 143, 166, 171, 211, 225, 266, 268, 282 Übersichtlichkeit  171 Ultra-vires-Lehre  293 Umweltrecht  197 Unanwendbarkeit  298, 304 Unvereinbarkeitserklärung des Bundesverfassungsgerichts  134 Verfassungsbeschwerde  301 Verfassungsgerichte  301 Verständlichkeit  168 Verweisungen  180 –– dynamische ~  177 –– Generalverweis  175 –– Verweisungsketten  179

Volkssouveränität  260 Warnfunktion des ungeschriebenen Zitiergebots  218 Warn- und Besinnungsfunktion Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG  118 Weimarer Republik  60, 139 Wettbewerbsföderalismus  42, 56, 71, 189, 297 Wettbewerbsgedanke  23, 55 Widerspruchsfreiheit  169 Wissensgenerierung und -kommunika­ tion  279 Wissens- und Informationsgesellschaft  138, 184 Zitierdichte –– Art. 80 Abs. 1 S. 3 GG  145 –– ungeschriebenes Zitiergebot  253 Zugriffsgedanke –– Bertelsmann-Kommission „Verfassungspolitik & Regierungsfähigkeit“ 2000  69 –– Enquete-Kommission des Bayerischen Landtags 2002  70 –– Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ 1976  64 –– Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat 1992  68 –– Hans Dichgans  62 –– Koalitionsvertrag 2005  78 –– Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente 2003  71 –– Martin-Kommission  66 –– Paulskirchen-Verfassung  61 –– Rückholverfahren für die Länder nach Carl Otto Lenz  63 –– „Subsidiäre Bundesgesetzgebung“ für die Weimarer Republik  60 –– van Nes Ziegler-Kommission  67