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German Pages 262 Year 2009
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1145
Das Untermaßverbot in der Diskussion Untersuchung einer umstrittenen Rechtsfigur Von Lars Peter Störring
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
LARS PETER STÖRRING
Das Untermaßverbot in der Diskussion
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1145
Das Untermaßverbot in der Diskussion Untersuchung einer umstrittenen Rechtsfigur
Von Lars Peter Störring
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.
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Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: CAP Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-13042-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
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Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Januar 2009 berücksichtigt werden. Mein besonderer und herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Bundesjustizminister a.D. Prof. Dr. Schmidt-Jortzig, der die Anregung für dieses Thema gab, dessen Vielgestaltigkeit und grundsätzliche Ausrichtung mir viel Freude bereitet hat. Bei allem wissenschaftlichen Anspruch ließ Herr Prof. Dr. Schmidt-Jortzig keinen Zweifel daran aufkommen, dass man als Doktorand sein Thema in aller akademischen Freiheit bearbeiten konnte. Gleichzeitig war ich mir stets sicher, bei Fragen auf weit geöffnete Türen zu stoßen. Unvergessen bleiben auch Herrn Prof. Dr. Schmidt-Jortzigs interessante und anregende Doktorandenseminare in ungezwungener und persönlicher Atmosphäre. Herrn Prof. Dr. Proelß danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ganz besonders herzlich möchte ich schließlich meinen lieben Eltern danken, ohne deren von innerer Großzügigkeit geprägten Haltung das Werk nicht hätte entstehen können. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Bonn im April 2009
Lars Peter Störring
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
17
I. Einleitung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Entwicklung, Akzeptanz und Verbreitung des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . 21 III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Dreieckskonstellation als Charakteristikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Ausdrückliche Schutzpflichten im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Herleitung der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 a) Herleitung aus objektiv-rechtlichem Gehalt der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . 29 b) Schutzpflichten gründen auf Staatszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 c) Schutzpflichtbegrenzung auf den Kern der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . 32 d) Schutzpflicht und Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 e) Die abwehrrechtliche Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 f) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot: Begriffsklärung und Begriffsschärfung 38 1. Untermaßverbot zielt nur auf staatliche Inaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Justitiabilität des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3. Problem: Reichweite des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4. Anwendungsfelder des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Klassische Schutzrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Soziale Leistungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 c) Kein Ausschluß bei Naturgefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 d) Untermaßverbot und Art. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
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Inhaltsverzeichnis e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 f) Anwendungsbereich des Untermaßverbotes außerhalb grundrechtlicher Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 g) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 V. Adressaten von Schutzpflicht und Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Judikative und Legislative als Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
VI. Die zwei Grundprobleme des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Schwächung der klassischen Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Objektiv-rechtlicher Gehalt, Untermaßverbot und Gestaltungsspielraum . . . . . 55 a) Das besondere Grundproblem der Kontrolle von Schutzpflichten . . . . . . . . . 55 b) Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VII. Exkurs: Subjektives Recht auf Einhaltung des grundrechtlichen Untermaßverbotes? 60 1. Rechtsprechung des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Ablehnende Haltung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Kritische bis zurückhaltende Ansicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 4. Zustimmende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) G. Robbers: Primat des subjektiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Herrschende Meinung: Subjektives Recht folgt aus individualistischem Charakter der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Zweiter Teil Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes Zur Diskussion konkreter Verstöße der Verletzungsgrenze in Rechtsprechung und Literatur
73
I. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Verletzungsgrenze von Schutzpflichten und zum Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Inhaltsverzeichnis
11
1. Die Entwicklung des Prüfungsmaßstabes in Schutzrechtsfällen . . . . . . . . . . . . . 73 2. Erste Abtreibungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Zweite Abtreibungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5. Aufnahme in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 6. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 7. Die Behandlung des Untermaßverbotes in der weiteren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 a) Das Untermaßverbot als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 b) Das Untermaßverbot als Argumentationsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 c) Bloße Erwähnung des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 8. Weitere Verfassungsrechtsprechung zur Verletzungsgrenze von Schutzpflichten 87 a) Korrektur des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 aa) Vaterschaftstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 bb) Berücksichtigung von Prämienzahlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Keine Korrektur des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Überprüfung der Fachgerichtsbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht in Schutzpflichtenkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 9. Schlußfolgerungen für das Untermaßverbot und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
II. Konkrete Diskussionsfelder des Untermaßverbotes in der Literatur . . . . . . . . . . . . . 100 1. Lebens- und Gesundheitsschutz, Umwelt- und Tierschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Persönlichkeitsrecht, Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Frauenförderung, Nichtdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
12
Inhaltsverzeichnis 5. Ehe, Familie, Kinder, Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6. Wirtschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 7. Gewerberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 8. Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 9. Innere Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 10. Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Dritter Teil Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
123
I. Untermaßverbot integraler Bestandteil des Übermaßverbotes? . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Kongruenzthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Gegenthese: Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Keine Deckungsgleichheit von Unter- und Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Bestätigung durch Gewaltenteilungsaspekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 c) Keine andere Bewertung bei Kollision mit vorbehaltslosen Grundrechten . . 130 II. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 III. Unmöglichkeit der Kollision von Unter- und Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 IV. Engerer Spielraum in zugespitzten Konfliktlagen möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 V. Fazit: Entweder Unter- oder Übermaßproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 VI. Streit über die Eigenbedeutung des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Ansicht: Kein eigenständiger Bedeutungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Gegenansicht: Mehrwert des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Bedeutungsgehalt und Mehrwert des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Konsequenz: Untermaßverbot ist Kontrollnorm und nicht Handlungsnorm . 140 c) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Inhaltsverzeichnis
13
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 1. Eine Ansicht: Unter- und Übermaßverbot sind symmetrisch . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Keine Begünstigung des Stärkeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Abwehrrecht und Schutzpflicht sind zwei Seiten derselben Medaille . . . . . . 145 c) Notwendiger Gestaltungsspielraum kein Spezifikum von Schutzpflichten . . 146 2. Herrschende Meinung: Verhältnis von Unter- und Übermaßverbot ist asymmetrisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Vorrang der Bürgergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Strukturelle Unterschiede von Schutz und Abwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Diskussion und eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Gefahr der Verdichtung auf bestimmte Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Verpflichtung zur Aktivität bedeutet höheren Aufwand . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 c) Relevanz von Prognosen und Tatsacheneinschätzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 d) Liberale Ausrichtung der Verfassung als weitere Determinante . . . . . . . . . . . 156 aa) Keine Bevorzugung des Stärkeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 bb) Anderes Ausmaß an Freiheitsbedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 cc) Geringere grundrechtliche Notwendigkeit der Freiheitsabsicherung . . . . 160
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Untermaßverbot entspricht Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Streit über Gewährleistungsniveau und Wirkung von Art. 19 II GG . . . . . . . . . 163 3. Eigene Bewertung zum Verhältnis von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4. Untermaßverbot wurzelt im Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 5. Mögliche Auswirkung des niedrigeren Gewährleistungsgehaltes . . . . . . . . . . . . 169
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Das Grundmodell nach Alexy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Kritik an der Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
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Inhaltsverzeichnis 3. Dogmatik der Spielräume als Lösungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Strukturelle Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Erkenntnisspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 a) Zur Dogmatik der Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 aa) Schlußfolgerungen für Unter- und Übermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 bb) Betrachtung des von Erkenntnisproblemen befreiten, originären Verfassungswillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (1) Verfassungsinternes Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (2) Demokratieprinzip und struktureller Abwägungsspielraum . . . . . . . . 182 (3) Die Problematik von reinen Abwägungsentscheidungen in der Schutzpflichtendimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 b) Zur Kritik an der Prinzipientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Zur Kritik an Abwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5. Das Optimierungskonzept von Borowski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 6. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
X. Das Untermaßverbot als Mittel zum Ausgleich von Grundrechtskollisionen? . . . . . 191 1. Insbesondere: Die Konzeptionen von Calliess und Tzemos . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Eigene Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Vierter Teil Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
199
I. Die Doppelfunktion von Prüfungsmaßstäben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 II. Problem der Vereinbarkeit von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und geringem Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 III. Negativabgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Keine Überprüfung begehrter oder denkbarer Schutzmittel . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Inhaltsverzeichnis
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3. Keine Aufspaltung von Prüfungsmaßstab und Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . 203 IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . 204 1. Strukturierung nach dreischrittiger Übermaßverbotsprüfung? . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Verfassungslegitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 aa) Ausrichtung der Prüfung auf Schutz- oder Freiheitsverwirklichung? . . . 206 bb) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 c) Effektivität statt Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 d) Kritik an einer Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen staatlichen Unterlassens 209 e) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Isolierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . 212 a) Ablehnung einer bereichsspezifischen Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Abwägungsformeln, die eine engere Prüfung vorsehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 aa) Bestmöglicher Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 bb) Untermaßverbot als angemessener und wirksamer Schutz . . . . . . . . . . . . 215 cc) Angemessenheitsmaßstab in allen Fälle des Lebens- und Gesundheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 c) Abwägungsformeln, die einen weiten Spielraum belassen . . . . . . . . . . . . . . . 216 V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages zur Bestimmung des Untermaßverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1. Anforderung an den Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Empirische Erkenntnisspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 b) Normative Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Vergleich von verfassungsgerichtlicher und gesetzgeberischer Abwägung . . . . 221 a) Möglichkeiten der Umsetzung des Gestaltungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . 221 b) Unterschiede von enger und weiter Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Übergang zur Unvertretbarkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 4. Vorteile und Erläuterung des Prüfungsmaßstabes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5. Konstanter Prüfungsmaßstab nicht völlig fremd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
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Inhaltsverzeichnis 6. Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 a) Schutz der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 b) Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 7. Kein Einfluß des Untermaßverbotes auf intensivere Gefahrenabwehr . . . . . . . . 229 8. Verbleibende Fälle der Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Ermessensreduzierung auf Null . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 b) Nichtgrundrechtliches Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Erster Teil
Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes I. Einleitung und Gang der Untersuchung Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat. Sie sollen dem Bürger eine freie, möglichst vom Staat unbeeinflußte Lebensgestaltung ermöglichen.1 Diese Kernaussagen des Bundesverfassungsgerichts beanspruchen nicht nur nach wie vor Gültigkeit, sondern es ist unumstritten, daß die Begrenzung staatlicher Macht das wesentliche Merkmal des liberalen Verfassungsstaates ist.2 Die Grundrechtsdogmatik ist jedoch seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht stehengeblieben. Zunehmend wurde auch als ein Grundrechtsproblem erkannt, daß die Freiheit des Bürgers nicht nur durch einen übermächtigen Staat, sondern auch durch Übergriffe anderer Bürger, also durch nichtstaatliche Eingriffe bedroht werden kann. Daß dem Staat insofern Schutzpflichten zukommen, war zwar seit jeher anerkannt,3 jedoch wurde das Schutzbedürfnis des einzelnen seit der grundlegenden LüthEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch zunehmend in den Grundrechten verankert. Konsequenz dieser Einordnung ist die Erweiterung der Grundrechte um die sogenannte objektiv-rechtliche Dimension. Danach kommt den Grundrechten auch die Aufgabe zu, Bedingungen für die Ausübung realer Freiheit sicherzustellen. Inzwischen ist es ganz überwiegende Meinung, daß sich Grundrechte nicht nur durch eine Zurückhaltung, sondern auch durch aktive Schutzmaßnahmen des Staates verwirklichen.4 Die potentiellen Anwendungsbereiche von Schutzpflichten sind vielfältig. Sie reichen – nicht annähernd abschließend – von der Kriminalitätsbekämpfung über die Abwehr von Gesundheitsgefahren bis hin zum Schutz vor neuen Technologien, wie etwa der Gentechnologie.5
1
Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 24, 367 (389); 50, 290 (337). Vgl. E. Klein, NJW 1989, S. 1633 (1633); Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (238, 239). 3 Murswiek, in: Sachs, GG-Kommentar I, Art. 2, Rn. 24; Calliess, ZRP 2002, S. 1 (2); Canaris, JuS 1989, S. 161 (163); einen Überblick über die historische Entwicklung gibt Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (227 – 229). 4 Vgl. zur Kritik an dieser Grundrechtsfunktion Teil 1, VI. 3. 5 Zur Geltung des Untermaßverbotes im Bereich der Gentechnologie Wahl, in: Landmann/ Romer Umweltrecht, § 1 GenTG, 26. EL, Rn. 11. 2
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
Mit der Anerkennung von grundrechtlichen Schutzpflichten stellt sich zwangsläufig die Frage, auf welchem Niveau diese wahrgenommen werden müssen. Insofern war es wohl eine Frage der Zeit, wann danach gefragt wurde, ob dem Staat bei der Erfüllung dieser Schutzpflichten ein Untermaßverbot aufgegeben ist, das er in ähnlicher Weise zu beachten hat wie das bekannte Übermaßverbot. Seit dem 2. Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 19936, in dem das zuvor nur vereinzelt diskutierte Untermaßverbot verfassungsrechtliche Aufmerksamkeit erlangt hat, beschäftigt sich die Literatur zunehmend mit dieser Frage. Mit der Anlehnung an den Begriff des justitiablen Übermaßverbotes hat sich die Problematik verschärft, daß das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber Vorgaben nicht nur aufgrund der grundrechtlichen Abwehrrechte machen kann, sondern auch aufgrund von grundrechtlichen Schutzpflichten. Gelangt man nämlich zu dem Ergebnis, daß Grundrechte einen intensiveren Schutz vorsehen, muß der Gesetzgeber dieser verfassungsrechtlichen Anordnung Folge leisten. Dieser Umstand eröffnet politischen Wunschvorstellungen breiten Raum. Da sich das Untermaßverbot gegen ein Unterlassen wendet, mit ihm also ein Mehr an staatlicher Aktivität eingefordert werden kann, ist die Liste an möglichen Forderungen nahezu unerschöpflich. Die Versuchung liegt somit nahe, das Untermaßverbot – je nach politischem Standpunkt – jeweils für einen besseren Schutz vor Terrorismus, Kriminalität, Umweltverschmutzung, Gesundheitsgefahren, Armut, Diskriminierung, Arbeitsplatzverlust, Klimawandel etc. in Anspruch zu nehmen.7 Auch wenn sich viele Forderungen verfassungsrechtlich nicht begründen lassen werden, wird doch offensichtlich, daß die große Gefahr des Untermaßverbotes darin liegt, daß rechtspolitische Vorstellungen mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts an der gewählten Parlamentsmehrheit vorbei durchgesetzt werden. Mit dem Untermaßverbot sind demnach eine Reihe von Fragen verbunden. Wie kann verhindert werden, daß das Untermaßverbot ausufert und der Politik zu weitgehende Vorgaben macht? Welche Bedeutung und welcher dogmatische Gehalt kommt dem Untermaßverbot zu? Inwiefern ist es mit dem Übermaßverbot vergleichbar? Und welche Konsequenzen hat das Untermaßverbot für die klassischen Abwehrrechte? Die Antworten darauf sind in der Rechtsprechung und Literatur vielstimmig. Einigkeit besteht allerdings darin, daß das Untermaßverbot sehr viel schwerer zu ermitteln ist als das Übermaßverbot.8 So wird etwa in der Literatur angemerkt, daß für die Rechtsfigur nicht annähernd methodische Klarheit bestehe9, bzw. die Untermaßgrenze noch kaum geklärt sei.10 Dogmatisch befinde
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BVerfGE 88, 203 ff. Die Notwendigkeit, einer politischen Aufladung von Grundrechten entgegenzutreten, betont: Schmidt-Jortzig, in: Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 39. 8 Vgl. Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 113; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 215; Lee, in: FS für Starck, S. 297 (315, 316). 9 Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 19; Blanke, AuR 2003, S. 401 (404); Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 164. 7
I. Einleitung und Gang der Untersuchung
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sich noch vieles im Fluß.11 Zudem wird angemerkt, daß sich aufgrund der Kollision von Schutzinteressen mit Freiheitsrechten Dritter schwierige Anschlußfragen stellten.12 Gleichzeitig wird jedoch eine Schlüsselposition des Untermaßverbotes für die gesamte Schutzpflichtendimension hervorgehoben. So unterstreichen Calliess und Ruffert, daß mit der Überzeugungskraft des Untermaßverbotes die gesamte Schutzpflichtendogmatik stehe und falle.13 Cremer merkt in dem Zusammenhang kritisch an, daß es sich die Literatur mit der bloßen Feststellung der Existenz von Schutzpflichten bisher zu leicht gemacht habe. Denn die Forderung, wonach der Gesetzgeber ein bestimmtes Schutzniveau nicht unterschreiten dürfe, mache noch nicht deutlich, nach welchen Maßstäben das Unterschreiten dieses Niveaus zu ermitteln sei.14 Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die Anerkennung einer Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und eine nur begrenzte Justitiabilität würden oftmals nur gefordert, ohne über die Anordnung dieser Kriterien und ihr Verhältnis zueinander präzise Auskunft zu geben.15 Jenseits von Schutzpflichtenadressat, Gefahrenquelle, personalem Schutzbereich und Gefahrenschwelle begännen die eigentlich schwierigen Probleme der Konturierung schutzrechtlicher Feinstrukturen. Auf der anderen Seite gibt es auch eine verbreitete Skepsis, ob das Untermaßverbot eine schlüssige Antwort auf diese Fragen liefern kann. Nach Ansicht von Lindner nimmt durch das Untermaßverbot die dogmatische Unschärfe der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension sogar noch an Brisanz zu.16 Das Untermaßverbot sei lediglich eine „schillernde Figur“. Andere Autoren bezeichnen das Untermaßverbot als sprachlich holprigen Begriff, der zur Grundrechtsdiskussion keinen Beitrag liefern könne,17 oder als gänzlich überflüssige Schöpfung.18
10 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (961); Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 103; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 452; Ders., in: FS für Starck, S. 201 (211); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 215; Rassow, ZG 2005, S. 262 (262); Dietrich, RdA 2001, S. 112 (116); Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, S. 68. 11 Vgl. Richter/Schuppert/Bumke, Casebook Verfassungsrecht, S. 33; Krebs, Handbuch der Grundrechte II, § 31, Rn. 117. 12 Dietrich, in: Erfurter Kommentar, Einleitung, Rn. 42. 13 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 220; Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (201). 14 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 273. 15 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 269, Fn. 500; O. Klein, JuS 2006, S. 960 (961) gibt zu Bedenken, daß es angesichts der zentralen Bedeutung der Schutzpflichten bemerkenswert sei, daß es bis heute nicht gelungen sei, einen Konsens über die Qualität und Tiefe der allfälligen Erfüllungskontrolle zu erzielen. 16 Lindner, RdA 2005, S. 166 (167). 17 Schmidt, in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, S. 188 (225). 18 Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 437.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
Der aufgeworfenen Problematik soll im Rahmen der Arbeit ausführlich nachgegangen werden. Der Gang der Untersuchung stellt sich dabei in Grundzügen wie folgt dar: Zunächst wird im Rahmen des ersten Teils kurz auf die Schutzpflichtenlehre eingegangen, da sich das Untermaßverbot aus der Schutzpflichtendimension entwickelt hat und weitgehend mit dieser verbunden ist. Hierbei soll auch untersucht werden, welche Unterschiede zwischen den Schutzpflichten und dem Untermaßverbot bestehen. Sodann werden die Definition des Untermaßverbotes genauer festgelegt und die verschiedenen Anwendungsfelder der Figur besprochen. Nach einer kurzen Beleuchtung der Bindung der drei Staatsgewalten an das Untermaßverbot werden die beiden Hauptprobleme des Untermaßverbotes und der objektiv-rechtlichen Dimension erörtert, die in einer möglichen Beschneidung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und der liberalen Freiheitsrechte bestehen. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit den bisherigen konkreten Auswirkungen des Untermaßverbotes. Es wird dargestellt, in welchen Fällen das Bundesverfassungsgericht und die Literatur bisher, gestützt auf das Untermaßverbot, den handfesten Vorwurf von verfassungswidrigen Schutzlücken erhoben haben, und welche Forderungen in diesem Zusammenhang an den Gesetzgeber gestellt werden. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich anschließend der Beleuchtung des dogmatischen Gehalts des Untermaßverbotes. Dabei werden die großen Streitpunkte in der Literatur diskutiert. Dazu gehören insbesondere die Fragen, ob das Untermaßverbot bereits Bestandteil des Übermaßverbotes ist, inwieweit ihm überhaupt eine Eigenbedeutung zugesprochen werden kann, und wie sich sein Verhältnis zum Übermaßverbot näher bestimmen läßt. In diesem Zusammenhang spielt insbesondere die Frage eine wichtige Rolle, ob Unter- und Übermaßverbot der gleiche Gewährleistungsgehalt zukommt. Anschließend wird geprüft, ob das Untermaßverbot von Anfang an auf den Mindestgehalt der Wesensgehaltsgarantie zu reduzieren, oder ob es als Ausfluß des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu betrachten ist. Als Folge des Ergebnisses, daß das Untermaßverbot durch Abwägung zu bestimmen ist, wird die Beziehung des Untermaßverbotes zur Prinzipientheorie näher untersucht. Dabei wird der in der Literatur aufgestellten These nachgegangen, ob dem Untermaßverbot sogar eine Optimierungsfunktion zukommt. Im Rahmen der Prinzipientheorie wird dann auch die von Alexy entwickelte Dogmatik der Spielräume näher besprochen, die insofern grundlegend für das Unter- und Übermaßverbot ist, als daß die beiden Verbote genau die Grenzen der Spielräume des Gesetzgebers darstellen. Zum Schluß des Kapitels wird untersucht, ob das Untermaßverbot Bestandteil der Auflösung von Grundrechtskollisionen sein kann. Im vierten Teil geht es um die Entwicklung eines konkreten Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot. Nach einer Beleuchtung der Funktion von verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstäben wird der Frage nachgegangen, ob das Untermaßverbot parallel zum Übermaßverbot mit den drei Teilschritten der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i. e.S ermittelt werden kann, wie dies ein Teil der
II. Entwicklung des Untermaßverbotes
21
Literatur vorschlägt. Anschließend wird das Problem erörtert, ob das Untermaßverbot je nach der Sachmaterie mit einem jeweils unterschiedlichen Prüfungsmaßstab geprüft werden sollte. Nach der Diskussion von Prüfungsformeln der Literatur für das Untermaßverbot endet die Arbeit mit der Vorstellung eines eigenen Prüfungsmaßstabes und dessen Erläuterung.
II. Entwicklung, Akzeptanz und Verbreitung des Untermaßverbotes In der Literatur hat V. Tzemos zutreffend herausgearbeitet, daß der Begriff „Untermaßverbot“ erstmalig bei Schuppert Erwähnung findet.19 In der 1980 erschienen Monographie zu den funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit stellt Schuppert bei der Frage, inwieweit Grundrechte zum Rechtsgüterschutz verpflichten, fest, daß im ersten Abtreibungsurteil20 das Bundesverfassungsgericht in neuartiger Weise geprüft habe, ob das Parlament gegen ein aus einer wertentscheidenden Grundsatznorm abgeleitetes Untermaßverbot verstoßen habe.21 Bei dieser Feststellung handelte es sich um eine pointierte Schlußfolgerung von Schuppert, da das Urteil selbst den Begriff „Untermaßverbot“ nicht enthält. In der weiteren Abhandlung wird allerdings der Begriff des Untermaßverbotes nicht weiter vertieft und auch nicht noch einmal erwähnt.22 Auf der Staatsrechtslehrertagung 1980 kommt Schuppert aber wieder auf den Begriff zurück, indem er in einem Wortbeitrag schon frühzeitig zu Bedenken gibt, daß ein Untermaßverbot ganz andere Implikationen für die funktionelle Grenzziehung zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber habe als das Übermaßverbot.23 Drei Jahre später erwähnt auch W. Canaris in einem vielzitierten Beitrag zu Grundrechten im Privatrecht das Untermaßverbot als verfassungsrechtliche Figur.24 Im Zusammenhang mit der Frage, wann der Staat durch das Unterlassen von Schutzanordnungen die Verfassung verletzt, führt Canaris aus: „Verfassungswidrig ist das Fehlen von Schutzvorschriften dann, wenn das verfassungsrechtlich gebotene Schutzminimum unterschritten ist. Wann das der Fall ist, läßt sich nicht generell sagen, sondern hängt wesentlich von der Art des betroffenen Rechtsguts und der Möglichkeit zu privatautonomem Selbstschutz ab. Ein dem Übermaßverbot entsprechendes handliches 19
Tzemos, Untermaßverbot, S. 4. BVerfGE, 39, 1 ff. 21 Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 15. 22 Allerdings findet sich in der Abhandlung eine ausführliche Begründung für eine geringere Justitiabilität bei mehrdimensionalen Freiheitsproblemen, die nach Schuppert typisch für die objektiv-rechtliche Dimension sind. Vgl. hierzu S. 38 ff. Daraus läßt sich eine Zurückhaltung Schupperts gegenüber der Justitiabilität eines Untermaßverbotes ableiten. 23 Schuppert, VVDStRL 38 (1981), S. 193. 24 Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (228). 20
22
1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
Untermaßverbot ist bisher als generelles Instrument nicht entwickelt worden.“25 In späteren Veröffentlichungen hat Canaris seine Überlegungen zum Untermaßverbot vertieft und ausgebaut.26 Schon früh schreibt er der Figur einen eigenständigen Bedeutungsgehalt zu und postuliert insbesondere eine Spanne zwischen Unter- und Übermaßverbot, innerhalb derer der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulässig handeln kann. Aufgrund der systematischen Beschäftigung mit der Figur gilt Canaris nicht zu Unrecht als eigentlicher Urheber des Untermaßverbotes.27 Im Zusammenhang mit einer frühen Erörterung des Untermaßverbotes sind darüber hinaus auch Jarass und Scherzberg zu nennen. In einem Beitrag aus dem Jahre 1985 greift Jarass das Untermaßverbot auf und äußert dabei ebenfalls die Auffassung, daß der Gesetzgeber über das Untermaßverbot, bis hin zur Herstellung praktischer Konkordanz, hinausgehen kann.28 In seiner Dissertation aus dem Jahre 1989 erörtert Scherzberg dann das Untermaßverbot als Mindeststandard für die Wahrnehmung „realer Freiheit“ und ordnet die Figur erstmals Art. 19 II GG zu.29 Einen weiteren Schritt in Richtung einer größeren Bekanntheit stellte dann die Erwähnung des Untermaßverbotes bei Götz30 und Isensee31 in dem bekannten Nachschlagewerk „Handbuch des Staatsrechts“ dar. In seiner Abhandlung zur Schutzpflicht hat Isensee die vielfach übernommene These geprägt, daß die Schutzpflicht dem Gestaltungsermessen ein Untermaßverbot aufrichte, das mit dem Übermaßverbot des Abwehrrechts korreliere.32 Auch Isensee wird in der Literatur aufgrund dieser Passage als Schöpfer des Untermaßverbotes betrachtet.33 In den Blickpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion ist das Untermaßverbot jedoch erst durch das zweite Urteil des Verfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch34 aus dem Jahre 1993 gerückt.35 In dem Urteil stellte das Gericht ausdrücklich 25
Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (228). Canaris, JuS 1989, S. 161(163); Ders., Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 43 f., 55 f., 71 ff. Mit Verweis auf Canaris hat auch Medicus, AcP 192 (1992), S. 35 (52), den Begriff „Untermaßverbot“ aufgegriffen. 27 Vgl. Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (202); Schmidt-Jortzig, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 45, Fn. 52; Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie S. 63; Lee, in: FS für Starck, S. 297 (300, Fn. 23); Grigoleit/Hager/Heldrich/Hey/Koller/Langenbucher/Neuner/Petersen/Prölls/Singer, NJW 2007, S. 2025 (2025). 28 Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 (382 f.). 29 Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 208 f. 30 Götz, Handbuch des Staatsrechts III, § 79, Rn. 30. 31 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 165. 32 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 165. 33 Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 485; Bethge, in: Sachs, GGKommentar, Art. 5, Rn. 152; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 298. Auch das 2. Abtreibungsurteil, BVerfGE 88, 203 (254), verweist in Klammern hinter dem Begriff „Untermaßverbot“ auf Isensee. 34 BVerfGE 88, 203 (254). 35 Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (204), spricht in diesem Zusammenhang von „Dornröschenschlaf“ des Untermaßverbotes. 26
II. Entwicklung des Untermaßverbotes
23
fest, daß der Gesetzgeber bei der jeweiligen Ausgestaltung des von der Verfassung geforderten Schutzzieles das Untermaßverbot zu beachten habe und insofern der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliege.36 Notwendig sei ein angemessener Schutz, der als solcher wirksam sein müsse.37 Bis zu dem Urteil war das Untermaßverbot weitgehend unbekannt und wurde von den erwähnten Autoren in meist nur wenigen Zeilen behandelt. Zwar hat sich die Literatur auch zuvor vielfach mit den Schutzpflichten und der objektiv-rechtlichen Dimension beschäftigt. Jedoch wurde erst mit dem viel beachteten und gesellschaftspolitisch brisanten zweiten Schwangerschaftsurteil die Diskussion über ein justitiables Untermaßverbot angestoßen.38 Erst das Bundesverfassungsgericht hat das Untermaßverbot auf die verfassungsrechtliche Bühne gehoben. In der Literatur wurde der Begriff zunächst überwiegend mit Skepsis oder Ablehnung aufgenommen.39 Die Diskussion war dabei von Anfang an von der Frage bestimmt, inwieweit dem Untermaßverbot neben den Schutzpflichten und dem Übermaßverbot eine eigenständige Bedeutung zukommt.40 Ebenfalls wurden die Konsequenzen für die liberalen Abwehrrechte41 und den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers frühzeitig kritisch hinterfragt42 und bilden bis heute die strittigen Kernthemen des Untermaßverbotes.Die Debatte blieb jedoch zunächst auf wenige Teilnehmerbegrenzt und ebbte mit dem Austausch der Argumente auch wieder ab. In der Folgezeit ebnete sich das Untermaßverbot zwar kontinuierlich, aber langsam den Weg in das verfassungsrechtliche Schrifttum.43 Tiefgehende Erörterungen bleiben nach dem ersten großen Streit über die eigenständige Funktion des Untermaß-
36
BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (254). 38 Ebenso: Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 50. 39 Stern, Staatsrecht, III/2, S. 813, 814; Ders., in: FS für Kriele, S. 411 (422); Schmidt, in: Simon, Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, S. 188 (225); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 83 f.; Dietlein, ZG 1995, S. 131 (132, 133); Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (566 f.); Hain, DVBl 1993, S. 982 (984); Ders., ZG 1996, S. 75 (83); Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 88, 89; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, 1996, Vorb., Rn. 64; Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 ff. Bereits befürwortend: Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, Speyerer Vorträge, Heft 27, 1994, S. 15 ff.; Hoffmann-Riem, DVBl 1994, S. 1381(1384, 1385). 40 Vgl. Hain, DVBl 1993, S. 982 ff.; Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 88, 89; Ders., JZ 1993, S. 816 (817); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 84 f.; Dietlein, ZG 1995, S. 131 ff.; Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88). 41 Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 ff. 42 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (565 f.); Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, 1996, Art. 2, Rn. 53. 43 Vgl. insbesondere: Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88); Möstl, DÖV 1998, S. (1038, 1039); Sodan, NVwZ 2000, S. 601 (605); Michael, JuS 2001, S. 148 (151). 37
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
verbotes allerdings die Ausnahme.44 Nach wie vor fielen die Stellungnahmen in den bekannten Werken überwiegend knapp aus. Zumeist wurde das Untermaßverbot im Zusammenhang mit der objektiv-rechtlichen Verpflichtung des Staates erwähnt, die Gesundheit und das Leben seiner Bürger zu schützen.45 Das Untermaßverbot war zwar aus dem Schattendasein befreit und wurde zur Kenntnis genommen, hatte jedoch noch keinen etablierten Platz im Verfassungsrecht eingenommen. Eine Wende zeichnete sich dann nach dem Jahre 2000 ab. In den Jahren 2001 – 2003 erschienen Habilitationsschriften, die das Untermaßverbot nicht nur ausführlich behandelten, sondern es auch zu einem wichtigen Thema der Untersuchung machten.46 In den letzten Jahren kamen weitere Veröffentlichungen, hinzu, die der Diskussion um das Untermaßverbot weiteren Anschub verliehen haben.47 Viele von ihnen behandeln nicht ein primär verfassungsrechtliches, sondern ein privatrechtliches Thema48, was die Bedeutung des Untermaßverbotes für die mittelbare Drittwirkung
44 Diese bildeten vor allem die Arbeiten von Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 43 f., 55 f., 71 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998, S. 119 ff., 151 ff., 252 ff. und Nitz, Private und öffentliche Sicherheit, 2000, S. 368 ff. 45 Bleckmann, Staatsrecht II, 4. Auflage 1997, § 14, Rn. 6; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, 1996, Art. 2, Rn. 53; Windthorst, Verfassungsrecht I, 1994, § 2, Rn. 59, § 4, Rn. 33, § 5, Rn. 51, § 10 Rn. 13. 46 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002; Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003. Das Untermaßverbot ablehnend: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000. Weniger ausführlich, aber ebenfalls zum Untermaßverbot Stellung nehmend: Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte 2000, S. 271 f. 47 Im Bereich Aufsätze und Beiträge: Vosgerau, Zur Kollision von Grundrechtsfunktionen, AöR 2008, S. 346 ff.; Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, 2005, S. 227 ff. Rassow, Zur Konkretisierung des Untermaßverbotes, ZG 2005, S. 262 ff.; Schlink, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band II, 2001, S. 445 (462 f.). Für den Bereich der Dissertationen: Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, 2006, S. 81, 292 ff.; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 297 ff.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003, S. 485 f. Aus dem Bereich der Habilitationsschriften: Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 512 ff. 48 So für den Bereich der Dissertationen etwa: Rassow, Staatliche Schutzpflichten für geistiges Eigentum, 2006, S. 92 ff.; Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte in der öffentlichen Hand, 2005, S. 132 ff., 155 f.; 239 ff.; Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz, 2005, S. 86 ff., S. 108, 109, 223; Schubert, Der Schutz der arbeitnehmerähnlichen Personen, 2004, S. 114 f.; Eggert, Sperrabreden unter Arbeitgebern, 2001, S. 254 ff.; Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, 2001, S. 54 ff.; Endres, Schwellenwertregelungen im Arbeitsrecht, S. 27 f.; Brecht, Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene, 2003, S. 271, 277 f.; Von Finckenstein, Freie Unternehmerentscheidung und dringende betriebliche Erfordernisse bei der betriebsbedingten Kündigung, 2005, S. 171, 191 f.; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, 2008, S. 242, 300, 348.
II. Entwicklung des Untermaßverbotes
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bzw. Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht zeigt.49 In diese Zeit fällt auch die erste Dissertation, die sich ausschließlich mit dem Untermaßverbot beschäftigt,50 inhaltlich jedoch zu fast vollständig anderen Ergebnissen gelangt als die hier vorliegende Arbeit. Bis heute hat die beschleunigte Verbreitung des Untermaßverbotes angehalten.51 Mittlerweile gibt es kaum noch ein grundrechtliches Lehrbuch jüngeren Datums, in dem das Untermaßverbot nicht erwähnt wird.52 Alle bekannten Grundgesetzkommentare sowie verfassungsrechtliche Standard- bzw. Nachschlagewerke behandeln heute zumindest kurz das Untermaßverbot. Beispielhaft läßt sich dies an dem neuen Staatsrechtsband IV/1 von Stern deutlich machen. Während das Untermaßverbot in dem Band III/2, in dem die Schutzpflichten behandelt werden, an 5 Stellen Erwähnung findet und dort noch kritisch beurteilt wird53, wird es in dem neuen Band IV/ 1 aus dem Jahre 2006 an 10 Stellen thematisiert und durchweg bejaht.54 Darüber hinaus wird das Untermaßverbot auch in zivilrechtlichen Kommentaren55, hauptsächlich zum Arbeitsrecht56, erwähnt. Des weiteren ist, wie sich aus veröffentlichten Vorle49 Grundlegend: Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999; vgl.auch Augsberg/Viellechner, JuS 2008, S. 406, (411, 412). 50 Tzemos, Das Untermaßverbot, 2004. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch die Dissertation von Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, 2005, die sich zwar auch mit dem Untermaßverbot auseinandersetzt, jedoch den Schwerpunkt insgesamt auf die Betrachtung des Gestaltungsspielraums der Politik bei der Bindung an Schutz- und abwehrrechtliche Grundrechtsgehalte legt. 51 Zuletzt: Clrico, Verhältnismäßigkeit und Untermaßverbot, in: Sieckmann, die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007, S. 151 ff.; Lee, Grundrechtsschutz unter Untermaßverbot?, in: FS für Starck, 2007, S. 297 ff.; Calliess, Die Leistungsfähigkeit des Untermaßverbotes als Kontrollmaßstab grundrechtlicher Schutzpflichten, in: FS für Starck, S. 201 ff.; O. Klein, Das Untermaßverbot – Über die Justitiabilität grundrechtlicher Schutzpflichterfüllung, JuS 2006, S. 960 ff.; Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror, 2007, S. 42 ff.; Couzinet, Die Zulässigkeit von Immissionen im anlagebezogenen Immissionsschutzrecht, 2007, S. 115 f.; Dähne, Forschung zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit, 2007, S. 274 f.; Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt und Kindesabgabe, 2007, S. 263 f.; Werres, Grundrechtsschutz in der Insolvenz, 2007, S. Kapitel 3, C.; Stettner, Zwischenruf: Der flächendeckende Schutz gegen Passivrauchen ist Kompetenz und Pflicht des Bundes!, ZG 2007, S. 156 (161, 162); Augsberg/Viellechner, JuS 2008, S. 406, (411, 412); Voßkuhle, JuS 2007, S. 429 (430); Kahl/Zimmermann, JA 2007, S. 783 (787); Butzer, Sicherstellungsauftrag, Handbuch des Staatsrechts IV, 2006, § 74, Rn. 42, 51. 52 Zu den Ausnahmen gehört das Lehrbuch von Pieroth/Schlink, Grundrechte, 20. Auflage, 2004. 53 Stern, Staatsrecht III/1, S. 620, 627 f., 813 f., 1705, 1806. 54 Stern, Staatsrecht IV/1, S. 65, 67, 69, 98, 454, 548, 617 f., 930, 1913, 2176. 55 Junker, in: Münchener Kommentar zum BGB, Art. 40 EGBGB, Rn. 219; Ehman, in: Erman, § 12, Anhang, Rn. 12; Giesberts, in: Kölner Kommentar zum WpÜG, § 4, Rn. 72; Fuchs, in: Beckscher Online-Kommentar, § 620 BGB, Rn. 29, Stand: 01.03.2007. 56 Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, GG, Einleitung, Rn. 34, 35, 38, 42, 50, 72, Art. 2 GG, Rn. 14, 28, Art. 9 GG, Rn. 9, 11, 83, Art. 5 GG, Rn. 72, Art. 12 GG, Rn. 21, 30, 35; § 1 KSchG, Rn. 5; Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1, § 55, Rn. 26, § 57, Rn. 61;
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
sungsplänen im Internet ergibt, das Untermaßverbot nunmehr auch in Universitätsvorlesungen Bestandteil des Unterrichtsstoffs.57 Bei der Verwaltungsfachhochschule in Wiesbaden gehört es im Fachbereich Polizei zum theoretischen Ausbildungsteil.58 Nicht zuletzt hat das Untermaßverbot längst auch auf den nichtjuristischen Bereich übergegriffen. Verschiedene politische Gruppierungen und Bürgerinitiativen haben sich bereits auf das Untermaßverbot berufen, um ihren jeweiligen Forderungen Nachdruck zu verleihen.59 Es läßt sich damit festhalten, daß sich das Untermaßverbot nach langen Anlaufschwierigkeiten nunmehr zumindest in der Literatur etabliert60 hat und auch in der Rechtsprechung der Fachgrichte zunehmend begrifflich Fuß faßt.61 Es ist ein Bestandteil der Grundrechtsdogmatik geworden. Zumindest bei einer tieferen Beschäftigung mit der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension und den Schutzpflichten führt kein Weg mehr an dem Untermaßverbot vorbei. Das hat jedoch, wie bereits erwähnt, nicht zu einem Konsens über das Untermaßverbot geführt. Denn neben der überwiegenden Meinung,62 die die Figur oftmals auch ohne nähere Begründung beBand 3, § 286, Rn. 2, 25; Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, A., Rn. 24, § 1 KschG, Rn. 444, 448 – 449; Löwisch/Rieble, Tarifvertragsgesetz, § 1 TVG, Rn. 222. 57 Exemplarisch: Kluth, Wiederholungs- und Vertiefungsfragen zur Allgemeinen Grundrechtslehre, Rn. 15., abrufbar unter: http://wcms-neu1.urz.uni-halle.de/download.php?dow n=1713&elem=1047043; Fröschle, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Skript Wintersemester 2006/07, S. 4, abrufbar unter: www.uni-siegen.de > Fachbereiche > Fachbereich 5 > Wirtschaftsrecht > Prof. Fröschle > Downloads > Skripte; Prof. Frenz, Skript Öffentliches Recht und Europarecht, abrufbar unter: www.bur.rwth-aachen.de/download/Skript_OeRecht_EUR.pdf; Prof. Grimm, Grundrechte, Vorlesungsgliederung, abrufbar unter: www.rewi. huberlin.de/jura/ex/grm/GKIIVorlesungsgliederung.pdf; Prof. Höfling, Examenskurs Grundrechte, abrufbar unter: www.uni-koeln.de/jur-fak/inststaa/examenskurs/vorlesungsskript.pdf; Prof. Heintzen, Vertiefungsveranstaltung Grundrechte, Sommersemester, 2004, abrufbar unter www.fu-berlin.de > Einrichtungen > Fachbereiche > Rechtswissenschaft > Öffentliches Recht > Homepage > Lehrstuhl Prof. Heintzen > Lehrveranstaltungsarchiv. 58 Vgl. Bäuerle, Polizei- und Verwaltungsrecht, Verwaltungsfachhochschule Wiesbaden, S. 12 f., abrufbar unter: www.uni-giessen.de/~g11003/giauszug.pdf. 59 Dazu unter Teil 2, II. 60 Ebenso Rassow, ZG 2005, S. 262 (262). 61 Dies gilt in vollem Umfang für die Rechtsprechung der Arbeits- und Sozialgerichte. Vgl. dazu ausführlich Teil 2, II., 2. und 4. Vgl. für die übrige Verwaltungsrechtsprechung aus jüngerer Zeit: VGH München, Urteil vom 05.12.2007, Az: 22 N 05.194, BeckRS 2008, 30078, S. 11 zum Untermaßverbot und Wasserschutzgebiet; OVG Münster, Urteil vom 22.11.2007, Az: 20 D 38/05, Beck RS 2008, 33204, S. 2, 5, zum Untermaßverbot und Flughafenkontrollen. Bei den Zivilgerichten ist das Untermaßverbot dagegen bisher nur im Ausnahmefall anzutreffen. 62 Eine vollständige Auflistung all jener, die das Untermaßverbot alleine dadurch befürworten, daß sie es als Prüfungsmaßstab verwenden, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Vgl. aber insbesondere: Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 99 ff.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 574 ff.; Ders., in: FS für Starck, S. 201 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 215 f.; O. Klein, JuS 2006, S. 960 ff.; Rassow, ZG 2005, S. 262 ff.; Clrico, in: Sieckmann, die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 310 f.; Isensee, Handbuch des
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre
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jaht, steht nach wie vor ein erheblicher Teil der Literatur dem Untermaßverbot skeptisch63 oder gar ablehnend gegenüber.64 Das Untermaßverbot ist also nach wie vor umstritten. Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag leisten das Untermaßverbot zu konturieren, seinen dogmatischen Gehalt weiter zu ergründen, und einen Lösungsansatz für einen Prüfungsmaßstab zu liefern.
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre Es ist bereits deutlich geworden, daß das Untermaßverbot in den Fällen fehlenden staatlichen Schutzes Anwendung findet. Fraglich ist jedoch, ob und inwieweit Unterschiede zwischen den Schutzpflichten und dem Untermaßverbot bestehen. Klärungsbedürftig ist also, ob das Untermaßverbot eine reine Kategorie der Schutzpflichten darstellt oder auch noch auf anderen Gebieten Anwendung findet. Um die Konturen des Untermaßverbotes deutlich zu machen, bedarf es zunächst also eines kurzen Blickes auf die allgemeine Schutzpflichtenlehre.65 Da es jedoch zu den Schutzpflichten und ihren spezifischen Anwendungsproblemen mittlerweile eine ganze Reihe von Untersuchungen gibt66, soll dieser Blick bewußt kurz gehalten werden. Staatsrechts V, § 111, Rn. 165; Götz, Handbuch des Staatsrechts III § 79, Rn. 30; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 ff.; Tzemos, Das Untermaßverbot, 2004; Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 63 f.; Schmidt-Jortzig, in: Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 45; Schmitt Glaeser, in: FS für Isensee, S. 507 (519, 522); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 297 f.; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 173 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 53, Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, S. 161, 162 ; Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 208 f.; Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte in der öffentlichen Hand, 2005, S. 132 ff., Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror, 2007, S. 42 ff.; Epping, Grundrechte, Rn. 115 f. 63 Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 147; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Vorb., Rn. 103; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 198; Maurer, Staatsrecht, § 8, Rn. 58; Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (566 f.); Schlink, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 445 (462 f.); Stern, Staatsrecht III/2, S. 813 f., 1805 f.; Dietlein, ZG 1995, 131 ff.; Hain, ZG 1996, 75 ff., Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88); Starck, JZ 1983, S. 816 (817); Unruh, Zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, S. 83 f.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 94; Lindner, RdA 2005, S. 166 (167); Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, S. 68; Blomeyer/Huep, Arbeitsrechts-Blattei, Nr. 17, 460.3, S. 7 (12 f.); Faller, Staatsziel Tierschutz, S. 169 f.; Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88). 64 Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 ff.; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 347 f. 65 Wenn das Untermaßverbot hauptsächlich einen Mindeststandard bei der Wahrnehmung von Schutzpflichten markiert, kann es sinnvoll nur unter Einbeziehung der Schutzpflichtendogmatik erschlossen werden. 66 Calliess, Schutzpflichten, Handbuch der Grundrechte, § 44, S. 963 ff.; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht 2001; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
1. Dreieckskonstellation als Charakteristikum Die charakteristische Konstellation, in der Schutzpflichten zur Anwendung kommen, ist eine „Dreieckskonstellation“: Die Rechtsgüter eines Privaten werden durch den Übergriff eines ebenfalls privaten Dritten gefährdet, was der Staat wiederum durch einen Eingriff in die Sphäre des Störers verhindert bzw. verhindern soll.67 Die staatlichen Schutzpflichten stellen allerdings selbst keine Eingriffstitel dar. Nach dem rechtstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes bedarf der Eingriff in die Rechte des Störes grundsätzlich einer Ermächtigungsgrundlage. Schutzpflichten bedürfen deshalb der Umsetzung durch Gesetz.68
2. Ausdrückliche Schutzpflichten im GG Schutzpflichten sind an mehreren Stellen im Grundgesetz ausdrücklich normiert. Einen besonderen Stellenwert nimmt dabei der Würdeschutz aus Art. 1 I 2 GG ein. Die Verpflichtung des Staates, Vorschriften zum Schutz der Menschenwürde zu erlassen, ist unbestritten.69 Fraglich ist allein, wie weit das Schutzgut der Menschenwürde im Einzelfall reicht. Verschiedene Schutz- und Förderverpflichtungen enthält darüber hinaus Art. 6 GG. In Art. 6 I GG ist zunächst ein ausdrücklicher Schutzauftrag normiert, indem dort Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates gestellt werden. Art. 6 I GG ist sowohl ein Abwehrrecht gegen schädigende, störende oder sonst beeinträchtigende Maßnahmen des Staates als auch ein Leistungsrecht. Durch geeignete Maßnahmen müssen Ehe und Familie aktiv gefördert werden.70 Zudem ist die Beeinträchtigung des Instituts durch Dritte möglich.71
im deutschen und europäischen Recht, 2000; Unruh, Zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, 1996; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten 1991; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Isensee Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 86 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, S. 931 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987. 67 Jarass, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (40); Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 f; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 447; Stern, Staatsrecht III/1, S. 946; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 204 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 124; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (237). 68 Vgl. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit S. 70; Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1036); Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 (374); Isensee, Handbuch des Staatsrechts, § 111, Rn. 151, 152. Kritisch dazu Vosgerau, AöR 2008, S. 368 f. 69 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 153. 70 BVerfGE 6, 55 (76); Robbers in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 6 Abs. 1, Rn. 8; Von Münch in: Von Münch/Kunig, GG-Kommentar I, Art. 6, Rn. 19. 71 BVerfGE 87, 1 (35); 105, 313 (346); Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 6, Rn. 9.
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre
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Eine Schutzpflicht für den Fall, daß die Eltern bei ihrer Erziehungsaufgabe versagen und dadurch das Kindeswohl gefährdet wird, enthält Art. 6 II 2 GG. Die Norm überträgt dem Staat insoweit ein Wächteramt. Schließlich bestimmt Art. 6 IV GG, daß jede Mutter einen Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft hat.72 Die Norm verlangt, daß die Sozialordnung so ausgestaltet wird, daß den besonderen Belastungen aus der Mutterschaft angemessen Rechnung getragen wird.73 Im Visier dieser Norm liegt insbesondere das Sozial- und Arbeitsrecht.74 Die Analyse der entsprechenden Passagen ergibt demnach, daß zwar grundrechtliche Schutzpflichten dem Verfassungssystem nicht fremd, jedoch textlich nur auf einzelne Grundrechte beschränkt sind. Allerdings gehen nach herrschender Meinung Schutzpflichten weit über diesen kodifizierten Bereich hinaus.75 Das ist auch folgerichtig, weil letztlich in alle Freiheiten von privater Seite eingegriffen werden kann. Umstritten ist allerdings, woraus diese Schutzpflichten abzuleiten sind.
3. Herleitung der Schutzpflichten Zur Begründung staatlicher Schutzpflichten werden verschiedene Ansätze vertreten. a) Herleitung aus objektiv-rechtlichem Gehalt der Grundrechte Die herrschende Meinung und insbesondere das Bundesverfassungsgericht leiten die staatlichen Schutzpflichten in erster Linie aus dem objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt – und flankierend auch aus der Menschenwürdegarantie76 – ab. Die objektiv-rechtliche Dimension wurde erstmals in der bekannten Lüth-Entscheidung77 vom Bundesverfassungsgericht entwickelt und ist seitdem fester Bestandteil der ständigen Rechtsprechung.78 Exemplarisch soll hier eine Passage aus dem Urteil zur Fri72 Nach allgemeiner Auffassung in der Literatur lassen sich dabei Schutz und Fürsorge kaum voneinander trennen. Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 154. 73 Robbers, in: Von Mangoldt/Klein/Strack, GG-Kommentar I, Art. 6 Abs. 4, Rn. 283. 74 Stern, Staatsrecht III/1, S. 935 75 Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Vorb., Rn. 104; Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 86; Stern, III/1, S. 944; Erichsen, Jura 1997, S.85 (86); Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 (380). 76 BVerfGE 39, 1 (41); 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 88, 203 (251); Stern, Staatsrecht III/1, S. 931; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 187 f.; Rassow, ZG 2005, S. 262 (264). Gegen einen dualistischen Begründungsansatz von Menschenwürde und objektivem Grundrechtsgehalt: Braczyk, Rechtsgrund und Grundrecht, S. 140. 77 BVerfGE 7, 198 ff. 78 BVerfGE 39, 1 (41); 46 160 (164); 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56 , 54 (73); 77, 170 (214); 85, 191 (212); 88, 203 (251); 92, 26 (46).
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
stenregelung79 aus dem Jahre 1975 zitiert werden, die sich sinngemäß in vielen weiteren Urteilen findet. Dort heißt es: „…die Grundrechtsnormen enthalten nicht nur subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, sondern verkörpern zugleich eine objektive Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung gibt. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Staat zu rechtlichem Schutz des werdenden Lebens verpflichtet ist, kann deshalb schon aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der grundrechtlichen Normen erschlossen werden.“80
Der objektiv-rechtlichen Dimension liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Grundrechte nicht nur den Staat in Schach halten wollen, sondern daß ihnen auch objektive Aussagen darüber zu entnehmen sind, welche Grundwerte jenseits staatlicher Bedrohungen in einer Gesellschaft gelten sollen.Diese neue Grundrechtsfunktion ist eine Reaktion darauf, daß der einzelne nicht nur vom Staat, sondern auch durch private und gesellschaftliche Akteure derart in die Defensive geraten kann, daß eine Wahrnehmung von Freiheiten, die ihm nach der Vorstellung der Grundrechte gerade zukommen soll, nicht mehr möglich ist.81 Daraus wird gefolgert, daß, wenn Grundrechte Freiheit sichern wollen, sie diese nach allen Seiten absichern müssen. Dieses erweiterte Grundrechtsverständnis hat kaum zu überschätzende Auswirkungen.82 Mit ihm wird nicht nur der Staat, sondern auch die Gesellschaft zum Regelungsgegenstand der Verfassung.83 Da die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte ebenfalls an der Grundrechtsbindung des Art. 1 III GG teilnehmen, wird der Staat verpflichtet, auf eine umfassende Grundrechtsrealisierung hinzuwirken.84 Die Grundrechte werden so zu Höchstnormen, an denen sich die gesamte Rechtsordnung messen lassen muß. Konkret hat das zur Folge, daß Rechtssätze dort, wo sie feststellbar der objektiv-rechtlichen Dimension widersprechen, verfassungswidrig sind. Darüber hinaus werden Wertungsmöglichkeiten, die einfachrechtliche Regelungen etwa in Form von Generalklauseln belassen, anhand grundrechtlicher Leitlinien vorgenommen. Für das öffentliche Recht läßt sich insofern von grundrechtskonformer Auslegung und für das Privatrecht von mittelbarer Drittwirkung bzw. Ausstrahlungswirkung85 79 BVerfGE 39, 1 ff. in deutlicher Rückkopplung an das grundlegende Lüth – Urteil, BVerfGE 7, 198 (205). 80 BVerfGE 39, 1 (41). 81 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 227 ff.; Wahl/Masing, JZ 1990, S. 552 (563). 82 Grundlegend: Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: Handbuch der Grundrechte I, S. 745 ff. 83 Wahl, Handbuch der Grundrechte I, § 19, Rn. 4, 7. 84 Pietrzak, JuS 1994, S. 748 (748). 85 Zunehmend wird allerdings die Ausstrahlungswirkung bzw. mittelbare Drittwirkung als Unterfall der Schutzpflichten begriffen. Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 252 f.; Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (252); Stern, Staatsrecht III/ 1, S. 1572. Ebenfalls Jarass, in: 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (41), der jedoch wegen der praktischen Bedeutung an den bisherigen Begrifflichkeiten festhalten.
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre
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sprechen. Aufgrund seiner breiten Wirkung erschöpft sich die objektiv-rechtliche Funktion nicht darin, klassische Schutzpflichten auszulösen, sondern erstreckt sich neben der Ausstrahlungswirkungauch auf Leistungs- und Teilhabegehalte86, Verfahrensgarantien87 und institutionelle Bedeutungsaspekte.88 Neben weit verbreiteter Zustimmung hat diese grundlegende Erweiterung der Grundrechtsgehalte auch viel Kritik erfahren. Auf diese Kritik soll jedoch erst später im Zusammenhang mit dem Untermaßverbot eingegangen werden. Zur Begriffsklärung sei an dieser Stelle angefügt, daß der Begriff „objektiv-rechtliche Grundrechtsfunktion“ mißverständlich sein kann. Auch die Abwehrrechte stellen zunächst objektives Verfassungsrecht dar, nur sollen die Grundrechte in dieser klassischen Funktion unstreitig zugleich dem einzelnen ein subjektives Recht verleihen.89 Objektives und subjektives Recht fallen hier also zusammen. Dagegen wurde zunächst angenommen, daß den nicht-abwehrrechtlichen Grundrechtsgehalten keine subjektive Rechtsposition des einzelnen zu entnehmen ist. Mittlerweile geht die herrschende Meinung jedoch davon aus, daß auch die grundrechtlichen Schutzpflichten subjektive Rechtspositionen verleihen.90 Allerdings hat sich der Begriff „objektivrechtliche Grundrechtsdimension“ als Beschreibung für die nicht-abwehrrechtlichen Grundrechtsgehalte eingebürgert. Obwohl auch diese Arbeit zu dem Ergebnis gelangt, daß ebenfalls den nicht-abwehrrechtlichen Gehalten ein subjektives Recht zuzuschreiben ist,91 soll an der herkömmlichen Terminologie aus Gründen einer klareren Unterscheidung und Zuordnung festgehalten werden.
b) Schutzpflichten gründen auf Staatszweck Eine andere Ansicht vertritt die These, daß sich Schutzpflichten ohne weitergehende besondere Ableitung schon aus dem grundlegenden Zweck des Staates ergeben, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen.92 Die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte hätten demzufolge lediglich deklaratorischen Charakter und konkretisierten die Schutzpflicht, sie seien aber für die Existenz staatlicher Schutzpflichten nicht konstitutiv. Der Staatszweck der Sicherheit, der zugleich das Gewaltmonopol 86 BVerfGE 35, 79 (114 f); 88, 129 (137); 94, 268 (285); Jarass, in: 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (44) 87 Dazu Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; Grimm, NVwZ 1985, S. 865 ff.; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsinterpretation, S. 73 ff.; Bethge, NJW 1982, S. 11 ff. 88 Wahl, Handbuch der Grundrechte I, § 19, Rn. 5. 89 Drews, Wesensgehaltsgarantie, S. 78, die richtigerweise darauf hinweist, daß alle Rechtssätze dem objektiven Recht zuzurechnen sind. Ebenso: Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 444. 90 Dazu ausführlich unter Teil 1, VII. 91 Siehe Teil 1, VII. 92 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 32 f.; E. Klein, NJW 1989, S.1633 (1635); H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (492 f.); O. Klein, JuS 2006, S. 960 (960).
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
und die Friedenspflicht der Bürger begründe, verpflichte die Staatsgewalt, die Rechte der Unterworfenen aktiv zu schützen. Dieser Verantwortung für den inneren und äußeren Frieden müsse der Staat gerecht werden, da andernfalls die Bürger sich ihrerseits an ihre Friedenspflicht nicht mehr gebunden fühlten und ihren Schutz wieder selbst in die Hand nähmen. Dies hätte wiederum zur Folge, daß die Befriedigungsfunktion des Staates untergraben werde. Daß sich die Funktion des liberalen Verfassungsstaats nicht darin erschöpfe, Freiheit durch eigenes Unterlassen zu ermöglichen, sondern gerade darin bestehe, die Freiheit der Bürger aktiv zu schützen, belege auch die moderne Verfassungsgeschichte. So nähmen etwa die Virginia Bill of Rights von 1776, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 sowie die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung vom 26. August 1789 einen direkten Bezug zu der Aufgabe des Staates, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten.93 An dieser Ansicht wird kritisiert, daß – sofern eine geschriebene Verfassung wie das Grundgesetz existiere – die Pflichten und Aufgaben des Staates aus diesem Verfassungstext konkret abgleitet werden müßten.94 Erforderlich seien konkrete Anhaltspunkte im Grundgesetz selbst, aus denen sich die Erweiterung der Grundrechtsfunktion ergäbe. Die Begründung der Schutzpflicht könne jedenfalls ein bloßer Rekurs auf die Staatstheorie und Staatszwecklehre allein nicht liefern.95 c) Schutzpflichtbegrenzung auf den Kern der Menschenwürde Eine weitere Ansicht sieht in den einzelnen Grundrechten keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Ableitung von Schutzpflichten.96 Der staatliche Schutzauftrag müsse aus diesem Grund auf den Würdekern des jeweils einzelnen Grundrechts beschränkt bleiben.97 Der Würdekern sei dabei im Wege der Grundrechtsinterpretation herauszuisolieren. d) Schutzpflicht und Sozialstaatsprinzip Eine wiederum andere Auffassung möchte die staatliche Schutzpflicht aus dem Sozialstaatsprinzip ableiten. Aus diesem ergäben sich „soziale Schutzansprüche“ dahingehend, daß der Staat die soziale Ordnung als System zwischenbürgerlicher Beziehungen so umzugestalten habe, daß die Rechtspositionen schutzbedürftiger Bürger zu Lasten anderer Bürger gestärkt würden.98 In diesem Zusammenhang wird auch vertreten, daß sich zusätzlich in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip eine Schutz93 94 95 96 97 98
Stern, Staatsrecht III/1, S. 932, 933. Unruh, Zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten S. 40. Unruh, Zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten S. 40. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung S. 70 ff. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung S.71. Roßnagel, Grundrechte und Kernkraftwerke, S. 51 f.
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre
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verpflichtung auch aus den Grundrechtsschranken ableiten lasse.99 Qualifizierte Grundrechtsschranken enthielten nicht nur Ermächtigungen zu Grundrechtseingriffen, sondern auch begünstigende Rechtswirkungen zugunsten der dort genannten Rechtsgüter.100 e) Die abwehrrechtliche Konzeption Einen grundlegend anderen Ansatz wählt hingegen eine weitere Meinung, die Schutzanspruch und Abwehrrechte gleichsetzt.101 Der Staat, so die These, müsse sich Eingriffe von Dritten in den Grundrechtsbereich des Opfers als eigene Eingriffe zurechnen lassen, wenn er das belastende Verhalten des Dritten nicht ausdrücklich verboten habe. Denn aus der mit dem staatlichen Gewaltmonopol korrespondierenden Friedenspflicht des Bürgers folge die Verpflichtung, „rechtlich erlaubte“ Beeinträchtigungen Dritter hinzunehmen. Der staatliche Eingriff bestünde demzufolge in der Auferlegung dieser Duldungspflicht,102 so daß diese Eingriffe ebenfalls an der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte zu messen seien; eine eigenständige dogmatische Fundierung der Schutzpflichtenlehre sei insoweit überflüssig.Nach dieser Ansicht wäre also auch das Untermaßverbot überflüssig, da die Auferlegung der Duldungspflichten staatliche Eingriffe darstellten, die am Übermaßverbot zu messen wären.103 Die Ansicht ist ganz überwiegend auf Kritik gestoßen.104 Von den Kritikern wird vorgebracht, daß eine dogmatische Gleichbehandlung von Schutz- und Abwehrinteressen dem Begriff des staatlichen Eingriffs jegliche Kontur nehme.105 Die Verletzungs- und Gefährdungshandlungen resultierten gerade nicht aus einem Handeln des Staates, sondern bestenfalls daraus, daß er es unterlassen habe, seine Schutzfunk99
Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 79 ff., 141 ff. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, S. 80. 101 Vgl. Schwabe, Probleme der Grundrechtdogmatik, S. 213 ff.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 88 ff.; Ders., WiVerw 1986, S. 179 (182 f); Szczekalla, die sogenannten Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 404 ff.; Poscher, Grundrechte als Abehrrechte, S. 87 f., der jedoch erhebliche Einschränkungen bei der Justitiabilität vornimmt. Für die Konstruktion einer Eingriffsabwehr für schutzrechtliche Sachverhalte, die bereits eine einfachrechtliche Normierung erfahren haben, Lübbe-Wolf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff., 118 f. 136 ff. 102 Murswiek, die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 91; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213. Mit sehr viel Sympathie für diese Position Ekardt/ Susnjar, ZG 2007, S. 135 (145 f.). 103 Vgl. Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte in der öffentlichen Hand, S. 136. 104 Vgl. Krings, Grund und Grenzen staatlicher Schutzansprüche, S. 105 f.; Ehlers, in: FS für Lukes, S. 337 (339 f.); Stern, Staatsrecht III/1, S. 947 f.; Schmidt-Aßmann, AÖR 106 (1981), S. 205 (215); Brüning/Helios, Jura 2001, S. 155 (161); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 77 ff.; Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 118 f.; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), S. 57 (81); Lenz, Vorbehaltslose Freiheitsrechte, S. 14. 105 Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), S. 205 (215 f.). 100
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
tion zu erfüllen.106 Die bloße Tatsache, daß eine Handlung nicht verboten und deshalb erlaubt ist, begründe weder eine Beteiligung des Staates an ihrem Vollzug noch eine Zurechnung ihres Vollzugs zum Staat.107 Zudem könne der Einzelne den Gefährdungen ausweichen, weshalb er gerade vom Staat nicht gezwungen werde, die Belastung tatsächlich zu dulden.108 Die Konzeption mißachte, daß Freiheit nicht vom Staat zugeteilt werde, sondern vorstaatlich dem Individuum vorgegeben sei. Freiheit sei also nicht vom Staat in dem Sinne abgeleitet, daß er die Wahrnehmung von Freiheit erst erlaube und damit auch jeweils die vollständige Verantwortung für die Folgen dieser Freiheitsausübung übernehmen müsse.Vielmehr sei der einzelne auch bei staatlichen Erlaubnissen für die Ausübung seiner Freiheit selbst verantwortlich. Zudem sei die vorgebrachte Argumentation auch zirkulär. Die Frage, ob der Staat einzuschreiten habe, sei nämlich der Prämisse, warum sich der Staat eine Handlung zurechnen lassen müsse, logisch vorgelagert.109 Die Schutzpflicht, die erst begründet werden solle, werde damit bereits zu ihrer Begründung unterstellt. Die Existenz einer staatlichen Schutzpflicht müsse aber zuerst festgestellt werden, bevor Handlungen Privater dem Staat zugerechnet werden könnten.110 Insgesamt bliebe demnach der Übergriff eines Privaten ein nichtstaatlicher Eingriff. f) Stellungnahme Zunächst ist auf die letztgenannte abwehrrechtliche Lösung einzugehen. Der Konzeption ist insofern zuzustimmen, als daß der Staat durch seine konkreten Regelungen tatsächlich eine Freiheitsverteilung vornimmt, an die der einzelne gebunden ist. Insofern ist der Gedanke einer auf dem Gewaltmonopol basierenden Duldungspflicht keineswegs abwegig.111 Denn auch wenn der einzelne rein faktisch der privaten Handlung aus dem Wege gehen kann, so wird ihm doch eine rechtliche Duldungspflicht auferlegt. Den Staat trifft demnach eine Verantwortung für das Handeln Privater. Lehnte man sein solche Verantwortung des Staates ab, würde sich übrigens auch die Schutzpflicht nicht begründen lassen. Entscheidend ist aber, daß ihm diese Verantwortung nicht in Form eines eigenen Eingriffs zuzurechnen ist, sondern lediglich als ein Unterlassen. Der Staat veranlaßt nicht selbst den privaten Übergriff, sondern verhindert ihn nur nicht. Er ist deshalb nur 106
Vgl. Pietrzak, JuS 1994, S. 748 (749). Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417; Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror, S. 16, 17. 108 Sachs, in: Stern Staatsrecht III/1, S. 730. 109 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 125 f.; Stern, Staatsrecht III/1, S. 947 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 96, 97; Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74. 110 Stern, Staatsrecht III/1, S. 947 f.; E. Klein, NJW 1989, S. 1633 (1639); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 47. 111 Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror, S. 16. 107
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre
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in zweiter Linie verantwortlich. Dieser Umstand erlaubt es nicht, die Konstellation mit Fällen gleichzusetzen, in denen der Staat selbst handelt. Der richtige Anknüpfungspunkt für die staatliche Verantwortung ist nicht die Freiheitsbetätigung des Störers, sondern das nicht weiterreichende staatliche Verbot. Wenn der Staat nicht verbietet, unterläßt er einen weitergehenden Schutz. Das ist genau die Konstellation der Schutzpflicht und nicht die des Eingriffs. Im Ergebnis ist dem Störer zwar die Handlung dann erlaubt. Diese Freiheit wird ihm aber nicht vom Staat zugewiesen, sondern ist Teil seiner ursprünglichen und umfassenden individuellen Freiheit, die nur nicht staatlich weiter eingeschränkt wird.112 Bei dieser Sichtweise handelt es sich nicht lediglich um eine Frage der präzisen Zurechnung von Verantwortung. Abzulehnen ist die Meinung vor allem, weil sie private und staatliche Freiheitsbedrohung gleichsetzt.113 Folge einer solchen Gleichsetzung wäre, daß Private über den Umweg des Gesetzgebers und der staatlichen Organe im Ergebnis ebenso an die Grundrechte gebunden wären wie der Staat selbst. Das wäre jedoch mit der individuelle Freiheit und einem Vorrang der Bürgergesellschaft nicht vereinbar.Auf dieses Problem wird noch ausführlich bei der parallelen Fragestellung zurückzukommen sein, ob Unter- und Übermaßverbot symmetrisch gelagert sind.114 Der gegen die abwehrrechtliche Konzeption erhobene Vorwurf der zirkulären Argumentation erscheint dagegen unberechtigt.115 Die Schutzpflicht ist einer Zurechnung privaten Handelns zum Staat nicht zwingend logisch vorgelagert. Es ist nicht erkennbar, warum eine Schutzpflicht nicht auch umgekehrt aus einer generellen Zurechnung des privaten Handelns zum Staat entstehen sollte. Der Anknüpfungspunkt für diese Zurechnung ist die staatliche Verantwortung für die Regelungen der Gesellschaft. Der Verweis auf diese Verantwortung führt nicht zu einer zirkulären Argumentation. Ansonsten würde dieser Vorwurf die herkömmlichen Schutzpflichtenbegründungen ebenso treffen. Denn auch diese Schutzpflichten lassen sich nur mit einer Verantwortung des Staates für die Zustände in der Gesellschaft erklären. Würde man diese Verantwortung bereits mit der Schutzpflicht gleichsetzen, resultierte die Schutzpflicht (ebenfalls) aus einer Schutzpflicht. Es handelte sich dann also auch hier um eine zirkuläre Argumentation. 112 Eine andere Beurteilung der Zurechnung mag in den Fällen gerechtfertigt sein, in denen der Staat einen Erlaubnis-VA erteilt, da hier eine besondere Nähe zu der Handlung des Privaten vorliegen kann. Gleiches gilt für eine besondere staatliche Mitverantwortung bei Handlungen Privater, die wertungsgemäß nicht mehr als Ausfluß bürgerlicher Freiheit, sondern im wesentlichen als staatlich veranlaßt erscheinen. Vgl. dazu: Pietzker, in: FS für Dürig, S. 345 (355, 359 f.) Schwetzel, Freiheit, Sicherheit Terror, S. 17; ablehnend mit ausführlicher Begründung: Krings, Grund und Grenzen grundrechtlichter Schutzansprüche, S. 111 f.; zurückhaltend auch: Jarass, NJW 1983, S. 2844 (2847). 113 Ein Untermaßverbot wäre dann überflüssig und das Übermaßverbot in allen Fällen des grundrechtsberührenden staatlichen Unterlassens anwendbar. 114 Siehe dazu unter Teil 3,VII. 115 Im Ergebnis auch Schwetzel, Freiheit, Sicherheit Terror, S. 16.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
Hinsichtlich der anderen Begründungsansätze ist zu konstatieren, daß die Ableitung zumindest einer generellen Schutzpflicht aus dem Gewaltmonopol und der korrespondierenden Friedenspflicht des Bürgers überzeugend ist. Wenn nur der Staat Gewalt ausüben darf, liegt es auf der Hand, daß ihn im Gegenzug eine Verpflichtung zum Schutz trifft. Dies schließt jedoch, wie auch die Vertreter dieser Position nicht bestreiten, eine zusätzliche Herleitung konkreterer Schutzpflichten aus grundrechtlichen Gehalten keineswegs aus. Der deutliche Vorteil einer solchen Herleitung besteht darin, daß nur so die Schutzpflichten an dem höheren Gewährleistungsgehalt der Grundrechte teilnehmen und nicht lediglich Bestandteil einer inkonkreteren Staatsaufgabe sind. Aus grundrechtlichen Schutzpflichten ergeben sich handfestere Verpflichtungen als aus der allgemeinen Verpflichtung des Staates, für Sicherheit zu sorgen. Akzeptiert man eine objektive Wertedimension der Grundrechte, ist es zudem nur folgerichtig, auch die Schutzpflichten dort zu verorten. Wenn Grundrechte (über die Verpflichtung des Staates) Einfluß auf das Bürger-Bürger Verhältnis haben, dann muß dies gerade auch für den Schutz voreinander gelten. Problematisch an einer grundrechtlichen Verankerung ist allerdings, daß Schutzpflichten dadurch einen sehr weitreichenden Bedeutungsgehalt erhalten können. Die Herausforderung besteht demnach darin, grundrechtliche Schutzpflichten nicht ausufern zu lassen, da ansonsten die Vergrundrechtlichung aller Lebensbereiche droht. Dagegen ist es von vornherein zu eng, im Verfassungstext nicht ausdrücklich erwähnte Schutzpflichten lediglich aus Art. 1 I GG herleiten und hinsichtlich der einzelnen Grundrechte auf den jeweiligen Menschenwürdekern reduzieren zu wollen.116 Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß es sich bei dem Menschenwürdekern um den gemäß Art. 79 III GG absolut geschützten Mindestgehalt eines Grundrechts handelt, worüber allgemeine Schutzpflichten hinausreichen.117 Es ist verfehlt, die Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten an einen Bereich der Grundrechte anzuknüpfen, dessen alleiniger Zweck es ist, dem verfassungsändernden Gesetzgeber eine äußerste Grenze zu setzen.118 Hinzu kommt, daß zumindest bisher keine verläßlichen Kriterien und Maßstäbe entwickelt worden sind, um den sogenannten Würdekern der einzelnen Grundrechte herauszufiltern.119 Gegen eine Herleitung von Schutzpflichten aus den Grundrechtsschranken i.V.m. mit dem Sozialstaatsprinzip wird berechtigterweise eingewendet, daß aus einer Eingriffsermächtigung keine Eingriffsverpflichtung abgeleitet werden könne.120 Auch wenn die Erwähnung bestimmter Rechtsgüter in Grundrechtsschranken eine besondere Schutzintention zu erkennen gibt, läßt sich diese nicht zu einer Verpflichtung verdichten. 116
Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 161; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 44 f. 117 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 161. 118 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 161. 119 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 161. 120 Vgl. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 49.
III. Blick auf die Schutzpflichtenlehre
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In der Literatur wird darüber hinaus ganz überwiegend die Ableitung von Schutzpflichten aus dem Sozialstaatsprinzip abgelehnt.121 Die Ablehnung verdient Zustimmung. Zwar geht es bei den Schutzpflichten auch um ein Tätigwerden des Staates, so daß eine gewisse Nähe der klassischen Schutzpflichten zu den sozialen Leistungsrechten nicht verneint werden kann.122 Entscheidend gegen eine Herleitung aus dem Sozialstaatsprinzip spricht aber, daß es bei den staatlichen Schutzpflichten in erster Linie nicht um eine Verbesserung der materiellen Lebensumstände, sondern um die Gewährleistung und Sicherung von bestehenden Rechtsgütern geht. Schon diese unterschiedliche Zielrichtung verhindert, das Sozialstaatsprinzip als Quelle der Schutzpflichten anzusehen. Als Ergebnis läßt sich damit festhalten, daß konkretisierbare Schutzpflichten ihre Begründung in der objektiven-rechtlichen Dimension der Grundrechte haben.123 Den Schutzpflichten liegen also regelmäßig Grundrechtskollisionen zugrunde, die in den unterschiedlichsten Variationen zutage treten können.124 Nur beispielhaft seien hier als Konflikte genannt: Wirtschaftsfreiheit gegen Arbeitsplatzsicherheit oder Umweltschutz, Sicherung von Beschuldigtenrechten gegen effektive Strafverfolgung, Interesse am medizinischen Fortschritt gegen Embryonenschutz, Persönlichkeitsrecht gegen Freiheit der Berichterstattung, Diskriminierungsschutz gegen Vertragsfreiheit etc. Dabei stellt die aufgrund der Schutzmaßnahme erfolgte Grundrechtsbelastung des Störers auf Seiten des Opfers eine Grundrechtsstärkung dar. So wird der Staat vom potentiellen Grundrechtsgegner zum Grundrechtsschützer. Stern schreibt in diesem Zusammenhang, daß das Verblüffendste an der Schutzpflichtenargumentation sei, daß die Staatsgewalten in die Position eines Grundrechtsfreundes einrückten.125 Grundrechtliche Schutzpflichten führen jedoch nicht zu einer unmittelbaren Wirkung von Grundrechten unter Privaten. Adressat der Schutzpflichten und der gesamten objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion bleibt allein der Staat.126 Deshalb wird im Privatrecht auch nur von einer sogenannten mittelbaren Grundrechtswirkung gesprochen.127 121
Unruh, zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 49; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts S. 165. 122 Vgl. Jarass, AöR 120 (1995), S. 345 (351); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 350. 123 Damit kommt für eine derartige Ableitung zumindest jedes Freiheitsrecht in Betracht. Vgl. Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 86, 93; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Vor Art. 1 Rn. 35; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (233). 124 Vgl. Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (232). 125 Vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 946. 126 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 5; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 7 ff.; Jarass, in: 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (41); Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 ( 236). 127 Lee, in: FS für Starck, S. 297 (301, 302); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 61 ff.; Calliess, JZ 2006, S. 321 (326); Jarass, in: 50 Jahre
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot: Begriffsklärung und Begriffsschärfung Vor dem Hintergrund der Schutzpflicht bedarf es nunmehr einer genaueren Begriffsbestimmung des Untermaßverbotes. Von Interesse ist dabei unter anderem, ob das Untermaßverbot nur die Verletzungsgrenze von Schutzpflichten markiert, oder ob ihm ein darüber hinausreichender Aussagegehalt zukommt. In der Literatur und Rechtsprechung ist die Figur bisher fast ausschließlich im Zusammenhang mit den Schutzpflichten erläutert worden.
1. Untermaßverbot zielt nur auf staatliche Inaktivität Zunächst einmal steht fest, daß sich das Untermaßverbot auf staatliche Inaktivität bezieht, mit ihm also ein staatliches Handeln aktiviert werden soll. Neben der Begrifflichkeit, die eindeutig auf das Verbot eines Unterlassens zielt, kann dem Untermaßverbot auch nur durch diese Kategorisierung ein sinnvoller Platz neben Übermaßverbot und Abwehrdimension zugewiesen werden. Das ist in der Literatur und Rechtsprechung nahezu unstreitig.128 Soweit ersichtlich wendet sich vor allem Tzemos gegen diese Einordnung. In seiner Arbeit zum Untermaßverbot plädiert er für eine Anwendbarkeit des Untermaßverbotes auch in der Abwehrdimension.129 Das Untermaßverbot beträfe generell das Verbot des untermäßigen Grundrechtsschutzes bzw. der Grundrechtssicherung. Davon würden begrifflich auch die Abwehrrechte erfaßt.130 Auch die staatliche Nichteinmischung und damit ein Nichthandeln könne als staatliche Leistung verstanden werden.131 Das Untermaßverbot sei folglich auch ein Verbot der untermäßigen abwehrrechtlichen Grundrechtssicherung. Der Staat dürfe nicht untermäßig seine Nichteingriffspflichten wahrnehmen. Das klassische Übermaßverbot stelle demnach lediglich eine Unterkategorie des Untermaßverbotes dar und konkretisiere es in der abwehrrechtlichen Dimension.132 Mit dieser Erweiterung des Untermaßverbotes stellt Tzemos allerdings die bisherige Systematik und Terminologie auf den Kopf. Gegen die Konzeption spricht, daß sich das Untermaßverbot dann gegen jedes verfassungswidrige Verhalten des Staates wenden würde. Damit würde es jede Kontur und stringenten dogmatischen Gehalt verlieren. Eine sinnvolle und allgemeingültige Einordnung des Untermaßverbotes wäre nicht mehr möglich. Auch würde die Konstruktion bedeuten, daß Abwehr-, BVerfG, Band II, S. 35 (41) der darauf hinweist, daß der Begriff nicht im Sinne einer unmittelbaren Grundrechtsgeltung mißverstanden werden dürfe. 128 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 271. 129 Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 165 f. 130 Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 166. 131 Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 167. 132 Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 167.
IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot
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Schutz- und Förderfunktion gleichgestellt und gleichbehandelt würden. Dies ist aus den bereits aufgezeigten133 und noch weiter zu vertiefenden Gründen abzulehnen. Nicht zuletzt ist mit der Aufhebung des terminologischen Gegensatzes von Unterund Übermaßverbot außer einer sprachlichen Verwirrung auch inhaltlich nichts gewonnen. Denn die Beschreibung der Abwehrdimension als Pflicht, die Aufgabe, sich staatlicherseits zurückzunehmen, nicht untermäßig wahrzunehmen,134 erscheint nicht nur kompliziert „um die Ecke gedacht“, sondern läßt sich auch umdrehen. Auf diesem Wege ließe sich umgekehrt mit dem Übermaßverbot nämlich auch eine Verpflichtung zum staatlichen Handeln begründen. Das Übermaßverbot begründete dann eine Pflicht, sich als Staat nicht übermäßig zurückzuhalten, also nicht übermäßig nichts oder zu wenig zu tun. Die Konzeption von Tzemos ist aus diesen Gründen abzulehnen. An der Voraussetzung eines staatlichen Unterlassens scheitert auch die Anwendung des Untermaßverbotes auf Institutsgarantien.135 Zwar trifft die Vorstellung der Institutsgarantie von einem notwendig einzuhaltenden Mindestmaß auch auf das Untermaßverbot zu.136 Jedoch beziehen sich die Institutsgarantien gerade auch auf staatliche Eingriffe und knüpfen demzufolge an die Abwehrfunktion an137, was beim Untermaßverbot aus den genannten systematischen Gründen abzulehnen ist. Eine Verbindung zu den grundrechtlichen Schutzpflichten wird dementsprechend auch in der Literatur verneint.138 Es bleibt daher insgesamt bei der Rollenverteilung von Unter- und Übermaßverbot. Mit dem Untermaßverbot will der Bürger den Staat herbeirufen. Mit dem Übermaßverbot will der einzelne Bürger den Staat auf Distanz halten und Eingriffe verhindern, die durch staatliche Aktivität entstehen.
2. Justitiabilität des Untermaßverbotes Ferner setzt das Untermaßverbot voraus, daß ein Verstoß gegen die Figur justitiabel sein muß. Das läßt sich zum einen recht eindeutig aus dem Begriff „Verbot“ schlie133
Siehe unter Teil 1, III. 3. e) und f). Tzemos fordert hier also das Übermaßverbot nicht untermäßig zu beachten. 135 Vgl. ausführlich zu den Einrichtungsgarantien: Mager, Einrichtungsgarantien 2003; Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung 1979; Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, 2003. 136 So verwenden Depenheuer, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 14, Rn. 222 und Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 211 (216), den Begriff „Untermaßverbot“ für das notwendig einzuhaltende Maß der Eigentumsgarantie. 137 Bäuerle, Vertragsfreiheit und Grundgesetz, S. 337; Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 136. 138 Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Vorb., Rn. 107; Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (17); Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 136; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 79 ff. 134
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
ßen. Insofern ist eben nicht nur von einem bloßen Untermaßappell oder einer bloßen Untermaßdirektive die Rede. Zum anderen spricht für diese Einordnung auch der Parallelbegriff des Übermaßverbotes, der ebenfalls durchweg justitiabel ist. Demnach ist das Untermaßverbot dann nicht einschlägig, wenn seine Verletzung nicht gerichtlich festgestellt werden kann. Rein sprachlich deutet der Begriff zudem auf eine bloße Gewährleistung eines Mindeststandards hin.
3. Problem: Reichweite des Untermaßverbotes Problematisch bei der konkreten Bestimmung des Untermaßverbotes ist, daß mangelnde staatliche Aktivität in zahllosen Konstellationen und Zusammenhängen denkbar ist. So ist ein vielfältiges Unterschreiten von staatlichen Mindeststandards gegenüber dem Bürger ebenso möglich wie ein Unterschreiten bestimmter Mindestverpflichtungen von staatlichen Organen gegenüber anderen staatlichen Organen. Knüpfte man also für die Definition des Untermaßverbotes nur an das staatliche Unterlassen an, würde dies zu einer enormen Anzahl potentieller Untermaßverbotsfälle führen. Das Untermaßverbot würde dann jede Kontur verlieren und in verschiedene, nicht vergleichbare Kategorien zerfallen. Nach der hier vertretenen Konzeption wird das Untermaßverbot deshalb in Anlehnung an die Schutzpflichtenlehre zunächst an zwei grundlegende Voraussetzungen geknüpft. Zum einen gilt es nur im Staat-Bürger-Verhältnis und betrifft nicht innerstaatliche Verpflichtungen. Demzufolge scheidet das Untermaßverbot zum Beispiel bei den Mitwirkungs- und Informationsrechten der Länder nach Art. 23 GG, beim Länderfinanzausgleich nach Art. 107 II GG oder bei der Sicherung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gemäß Art. 109 II GG von vornherein aus.139 Die zweite grundlegende Voraussetzung ist, daß das Untermaßverbot nur dort einschlägig ist, wo eine Gefährdung der Interessen des Bürgers nicht vom Staat, sondern von anderen Bürgern ausgeht bzw. ihre Ursachen in der Gesellschaft hat.140 Aus diesem Grunde scheitert die Anwendung des Untermaßverbotes auf die Prozeßgrundrechte der Art. 19 IV GG,141 Art. 101 GG und 103 I GG, da hier potentielle Beeinträchtigungen unmittelbar vom Staat selbst ausgehen.142 Zwar kann auch bei diesen Normen ein Unterlassen des Staates aktuell werden. Dieses ist aber der Sache nach der Kategorie der Abwehrrechte zuzuschlagen. Es handelt sich bei diesen Beispielen um 139 Anders, aber insoweit jedoch eine Mindermeinung vertretend: Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 107, Rn. 51, der den Begriff Untermaßverbot auch auf den Länderfinanzausgleich bezieht. 140 Vgl. Merten in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (236); Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 728. 141 A.A. Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG- Kommentar I, Art. 19 Abs. 4, Rn. 355, der das Untermaßverbot für einschlägig hält. 142 Erichsen, Jura 1997, S. 85 (78); differenzierend Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (233, 234).
IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot
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ein Unterschreiten von Mindeststandards, die nicht mit dem Untermaßverbot, das auf gesellschaftliche Bedrohungslagen zugeschnitten ist, gleichzusetzen sind. Die Unterscheidung nach der Quelle der Freiheitsgefährdung ist wichtig. Die Abwehr von Belastungen, die vom Staat selbst ausgehen, ist nach anderen Maßstäben zu behandeln als Bedrohungen, die ihre Ursache in der Gesellschaft haben.143 Ein Grund dafür liegt darin, daß eine verfassungsrechtlich veranlaßte Reaktion des Staates auf gesellschaftliche Zustände in der Regel zu Grundrechtseingriffen bei anderen Bürgern, zumindest aber zu einer Umverteilung von Freiheit und Gütern führt.
4. Anwendungsfelder des Untermaßverbotes Bei der bisher vorgenommenen Einordnung des Untermaßverbotes handelt es sich um eine erste Abgrenzung. Welche konkreten Schutzgüter von dem Untermaßverbot erfaßt werden, ist im Einzelfall umstritten und soll nunmehr genauer untersucht werden. Dabei steht fest, daß das Untermaßverbot sowohl die Fälle des echten als auch unechten Unterlassens erfaßt. Ein echtes Unterlassen liegt vor, wenn der Staat seinem Handlungsgebot überhaupt nicht nachgekommen ist. Ein unechtes Unterlassen zeichnet sich dadurch aus, daß zwar bereits (Schutz)-Regelungen existieren, diese aber nicht ausreichend sind. a) Klassische Schutzrechte Hauptanwendungsfall des Untermaßverbotes sind die klassischen grundrechtlichen Schutzpflichten. Hier handelt es sich um die typische Dreieckskonstellation. Das Untermaßverbot markiert demnach die justitiable Mindestgrenze bei der Wahrnehmung von Schutzpflichten. In dieser Konstellation stellt es auch den genauen Komplementärbegriff zum Übermaßverbot dar. Das Übermaßverbot richtet sich gegen staatliche Aktivität. Mit ihm sollen Grundrechtseingriffe abgewehrt werden. Das Untermaßverbot richtet sich gegen staatliche Passivität.144 Mit ihm sollen, wenn auch mit grundrechtlicher Absegnung, im Ergebnis stärkere Eingriffe in Grundrechte anderer Bürger vorgenommen werden.145 Zudem bezieht sich das Untermaßverbot auch auf die aus objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten abgeleiteten Rechte auf Organisation und Verfahren, sofern eine nicht-staatliche Bedrohungslage gegeben ist. Die Beachtung dieser Rechte kann im Einzelfall auch den klassischen Schutzpflichten zuzuordnen sein.146
143 144
Dazu ausführlich: Teil 3, VII. Lee, in: FS für Starck, S, 297 (309); Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227
(239). 145
Vgl. Pietrzak, JuS 1994, S. 748 (753). Dreier, in Dreier, GG-Kommentar I, Vorb., Rn. 105, spricht davon, daß sich diese Grundrechtskomponente sowohl mit der Schutz-, Leistungs- als auch Abwehrdimension 146
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
b) Soziale Leistungsrechte Problematisch ist, ob auch das Unterlassen von grundrechtlich fundierten sozialen Leistungsrechten147 von dem Untermaßverbot erfaßt wird.148 Zweifellos handelt es sich hierbei zunächst um keine staatliche Bedrohung von Freiheit. Fraglich ist aber, wie es sich auswirkt, daß eine gezielte wirtschaftliche Förderung nur noch entfernt als eine Reaktion auf Handlungen bzw. Bedrohungen von Seiten privater Akteure verstanden werden kann. So wird in der Literatur die Anwendung von Schutzpflichten auf soziale Leistungsrechte zu einem beachtlichen Teil abgelehnt.149 Mit den Schutzpflichten solle nur der bestehende Rechtskreis gegen Bedrohungen geschützt werden. Soziale Leistungsrechte zielten dagegen auf eine Erweiterung des Rechtskreises.150 Die Schutzpflichten seien deshalb auf den Schutz vor Übergriffen Dritter beschränkt. Sie sollten nicht die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür schaffen, daß der einzelne seine Grundrechte auch wahrnehmen könne.151 Für Leistungsrechte sei der einzelne auf die übrige objektiv-rechtliche Dimension bzw. auf das Sozialstaatsprinzip verwiesen.152 Die Argumentation mag im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte und dem eigentlichen Bedeutungsgehalt der Schutzpflichten zutreffen. Zu beachten ist aber, daß das Untermaßverbot eine Kategorie des staatlichen Unterlassens darstellt und mit den „verbünden“ könne. Vgl. zum Ganzen: Schmidt-Aßmann, Handbuch der Grundrechte II, § 45, S. 993 ff.; Denninger, Handbuch des Staatsrechts V, § 113, S. 291 ff. 147 Dazu: Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Vorb., Rn. 89 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 454 ff. 148 Brosius-Gersdorf, NJW 2007, S. 177 (182). Ausdrücklich für einen solchen Anwendungsbereich des Untermaßverbotes: Clrico, in Sieckmann, die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (153); Arango, der Begriff der sozialen Grundrechte, S. 79 ff. 149 Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 257, 258; Dreier in: Dreier GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 89; Isensee, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (266 – 268); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 49; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 113 ff.; Klein, NJW 1989, S. 1633 (1639); Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 126; Langner, Die Problematik der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, S. 87. Für die Gegenansicht BVerfG 81, 242 (255); 89, 214 (232); Luthe Optimierende Sozialgestaltung, S. 55 ff.; Scholz, JuS 1976, S. 232 (234); Jarass, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (50); Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror, S. 19; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 28 f.; differenzierend: Ruffert Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 199, 200; Schoch, VVDStRL 57 (1998), S. 58 (207, 208). 150 Vgl. Stern, Staatsrecht III/1, S. 948, der darauf hinweist, daß sich Schutzpflichten in einem Dreiecksverhältnis, und Leistungsrechte in einem bipolaren Verhältnis relevant würden. Kritisch dazu: Schwetzel, Freiheit, Sicherheit, Terror, S. 19. 151 Isensee, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (266); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 119. Für einen solchen Grundrechtsvoraussetzungsschutz, Murswiek, Die Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 228 f. 152 Isensee, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (266); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 258.
IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot
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Schutzpflichten nicht identisch sein muß. Ein staatliches Unterlassen als ein wesentliches Charakteristikum des Untermaßverbotes trifft jedoch ebenso auf ein Unterlassen von Förderungen zu. Im Gegensatz zu den Schutzpflichten impliziert das Untermaßverbot begrifflich und historisch keine Begrenzung auf den klassischen Schutz. Zwar handelt es sich bei der Grundrechtsförderung nicht um eine typische Dreieckskonstellation, in der der Staat unmittelbar gegen einen Störer durch Grundrechtseingriffe vorgeht. Entscheidender für das Untermaßverbot ist jedoch, daß das staatliche Unterlassen nicht die eigentliche Quelle der Freiheitsbedrohung darstellt. Das Untermaßverbot erstreckt sich demnach im Grundsatz auch auf die grundrechtlichen Leistungsrechte. Zu beachten ist zudem, daß in der abstrakten Perspektive die wirtschaftlichen Förderungen des einen ebenfalls Grundrechtseingriffe bei anderen in Form von Steuer- und Abgaben nach sich ziehen, so daß sich im Ergebnis auch hier ein typisches grundrechtsberührendes Verteilungsproblem stellt.153 Mit der Feststellung, daß das Untermaßverbot auch auf grundrechtliche Leistungsrechte Anwendung findet, ist noch nichts darüber gesagt, in welchen Fallkonstellationen diese einschlägig sind. Gegen eine zu weitgehende Mobilisierung des objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts zur Unterstützung wirtschaftlich und sozial schwächerer Gruppierungen werden in der Literatur zu Recht Bedenken laut.154 Denn die Frage, wie sozialer Schutz umzusetzen ist, ist in allererster Linie eine politische Frage. Das Problem, welche Fälle von dem leistungsrechtlichen Grundrechtsgehalt erfaßt werden, oder ob insofern nur das weniger justitiable Sozialstaatsprinzip in Betracht kommt,155 ist an dieser Stelle jedoch nicht weiter zu vertiefen, da es das Untermaßverbot nur mittelbar betrifft. Eigenständig kann das Untermaßverbot solche Pflichten nämlich nicht begründen, da es lediglich ein Mindestniveau bei der Wahrnehmung von Pflichten sichert. Nur soweit bestimmte Leistungspflichten überhaupt aus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion abgeleitet werden können, ist auch das Untermaßverbot anwendbar. Das Untermaßverbot setzt also eine zunächst bestehende Pflicht voraus. c) Kein Ausschluß bei Naturgefahren Vor dem Hintergrund ist ebenso fraglich, ob das Untermaßverbot auch bei Bedrohungen durch Naturgewalten Anwendung findet.156 Schließlich geht die Bedrohung 153
In diese Richtung ebenfalls Brosius-Gersdorf, NJW 2007, S. 177 (182); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 200; Lee, in: FS für Starck, S. 297 (305), sieht hierin lediglich ein unechtes Dreiecksverhältnis zwischen Staat, Opfer und Opfer. 154 Vgl. Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 132; Maurer, Staatsrecht, § 9, Rn. 39; Stern, in: Stern Staatsrecht IV/1, S. 839, 935. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 229; Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 141, 142; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 199, 200; Bryde, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rn. 54. 155 So Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 104 f. 156 Zu Bedrohungen, die vom Ausland ausgehen, vgl. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 194 f.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
hier auf überhaupt keine gesellschaftliche Ursache mehr zurück. Dementsprechend geht eine Meinung davon aus, daß Gefahren aus der Natur, wie Seuchen, Sturmfluten oder Waldbrände, schon begriffsanalytisch zumindest außerhalb des Geltungsbereichs von Schutzpflichten lägen.157 Da der Staat Naturgewalten nicht beherrschen könne, fehle ihm die für Schutzpflichten typische Rechtssetzungs- und Zwangsgewalt.158 Zwar sei der Staat in diesem Falle ebenfalls gefordert, für Vorsorge und Abhilfe zu sorgen. Der Staat werde hier aber nicht in seiner spezifisch grundrechtlichen Funktion als Koordinator von Freiheitssphären tätig, sondern nur in seiner faktischtechnischen Abwehrmacht.159 Von R. Rassow wird dieser Gedankengang explizit auf das Untermaßverbot übertragen. Bei Naturkatastrophen sei das Untermaßverbot nicht anwendbar, weil es zwingend kollidierende und abwägbare Positionen voraussetze.160 Dazu ist zunächst anzumerken, daß es auch bei dem Schutz vor Naturkatastrophen nicht völlig ausgeschlossen ist, daß den Schutzbelangen Interessen Dritter gegenüber stehen, die gegen einen intensiveren Schutz sprechen. Diese gegenläufigen Interessen werden zumeist, aber nicht zwingend, fiskalischer Natur sein. Zu denken ist an eine Umverteilung zugunsten von Schutzbedürftigen, von der auch andere Grundrechtsträger betroffen sein können. Abwägungen sind demnach auch hier nicht völlig unmöglich. Zuzugeben ist jedoch, daß sich diese Situationen aber regelmäßig nicht mehr als klassische Dreieckskonstellationen ansehen lassen. Allerdings besteht auch insoweit ein Unterschied zwischen der engeren Auslegung der Schutzpflichten und dem Untermaßverbot. Das wesentliche Merkmal des staatlichen Unterlassens, auf das sich das Untermaßverbot bezieht, überspielt auch hier die fehlende typische Dreieckskonstellation. Zwar ist die Einordnung in ein grundrechtliches Spannungsverhältnis von Störer und Opfer hilfreich, um einen einheitlichen Gewährleistungsgehalt und stringenten Prüfungsmaßstab für das Untermaßverbot entwickeln zu können. Das Kriterium ist jedoch nicht unverzichtbar. Entscheidend ist vielmehr, daß die Bedrohung nicht vom Staat selbst ausgeht, da andernfalls ein abwehrrechtlicher Maßstab herangezogen werden müßte.161 Das Untermaßverbot ist demnach auch bei natürlichen Bedrohungen anwendbar.162
157 Vgl. Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 112; E. Klein, NJW 1989, S. 1633(1633); Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (237); Rassow, ZG 2005, S. 262 (270); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 88. A.A. Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar I, vor Art. 1, Rn. 38. 158 Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (237). 159 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 112. 160 Rassow, ZG 2005, S. 262 (270). 161 Für eine Vereinfachung der Grundrechtsdogmatik durch Aufteilung der Grundrechte in Leistungs- und Abwehrrechte vgl. Krebs, Handbuch der Grundrechte II, Rn. 72 ff. 162 Abgesehen davon, ist es auch hinsichtlich der klassischen Schutzpflichten nicht überzeugend, diese bei Naturgefahren für unanwendbar zu halten. Denn anders als bei den sozialen Leistungsrechten geht es hier ja nicht um Förderung, sondern ebenfalls um klassischen Schutz.
IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot
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d) Untermaßverbot und Art. 3 GG Da eine Nicht-Gleichbehandlung auch als Unterlassen einer Gleichbehandlung bezeichnet werden kann, ist zu erörtern, inwieweit das Untermaßverbot auch im Rahmen des Art. 3 GG Anwendung findet. Nach der vorzugswürdigeren Auffassung werden von dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG jedoch nur Benachteiligungen erfaßt, die ausschließlich vom Staat selbst ausgehen.163 Die Norm bezieht sicht darauf, daß der Staat entweder die Rechtsanwendungs- oder die Rechtssetzungsgleichheit verletzt.164 Rechtliche Gleichheit kann aber nur von dem Staat selbst bedroht werden. Für die Herstellung sozialer oder sogenannter faktischer Gleichheit wird in der Literatur insoweit auf das Sozialstaatsprinzip verwiesen.165 Und in der Tat läßt die eindeutige Formulierung „vor dem Gesetz“ in Art 3 I GG vergleichsweise wenig Raum für objektiv-rechtliche Deutungen dahingehend zu, daß der Norm auch Verpflichtungen zu entnehmen sind, in der Gesellschaft bestehende faktische Ungleichheiten abzubauen.166 Insoweit kommt das Untermaßverbot nach der obigen Definition (nichtstaatliche Beeinträchtigung) nicht zum Zuge. Soweit Stimmen in der Literatur dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG auch eine weitergehende objektiv-rechtliche Schutzpflicht des Staates entnehmen wollen, auf den Abbau von Ungleichbehandlungen in der Gesellschaft hinzuwirken167, wäre das Untermaßverbot dann allerdings anwendbar. Den Absätzen zwei und drei sind demgegenüber unstreitig objektiv-rechtliche Schutz- und Förderaufträge des Staates zu entnehmen, gesellschaftlichen Benachteiligungen entgegenwirken.168 Das Untermaßverbot ist im Blick auf diese Diskriminierungsverbote folglich unproblematisch anwendbar. 163 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 84; Rassow, Staatliche Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 110; Starck, in: Von Mangoldt/Klein/ Starck, GG-Kommentar I, Art. 3, Rn. 3 f., unklar jedoch in Rn. 266; dezidiert gegen eine Anwendung der Schutzpflichten auf den Gleichheitssatz: Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 96. 164 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 428. 165 Vgl. Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Strack, GG-Kommentar I, Art. 3, Rn. 3 f. 166 Dietlein a.a.O. und Rassow a.a.O., verweisen darauf, daß Art. 3 I GG vor allem kein abstrakter Wert zu entnehmen sei, sondern die Norm ihre Wertigkeit erst mit Blick auf die Ausübung staatlicher Macht erhalte, worin sie sich gerade von den Freiheitsrechten unterscheide. Ausdrücklich gegen die Verneinung einer objektiven Wertaussage: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 174, 175; Heun, in: Dreier, GGKommentar I, Art. 3 Rn. 66. 167 So Heun, in; Dreier, GG-Kommentar I, Art. 3, Rn. 66; Dietrich, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, Einleitung, Rn. 41; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 174, 175, der jedoch im Privatrecht die angenommene objektiv-rechtliche Wirkung der Gleichheitssätze durch die Freiheitsrechte überlagert sieht. 168 Vgl. BVerfGE 17, 1 (27); 37, 17 (259 f.); 89, 276 (285); Sachs, in: Handbuch des Staatsrechts V, § 126, Rn. 22; Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 3, Rn. 347; Osterloh, in: Sachs, GG-Kommentar I, Art. 3, Rn. 233 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 84, 85; ausführlich zu den jeweiligen Schutzpflichten-
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
e) Zwischenergebnis Nach den bisherigen Ausführungen zeigt sich, daß der objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalt zwar keine Voraussetzung, jedoch einen wesentlichen Pfeiler des Untermaßverbotes darstellt. Das liegt daran, daß die objektiv-rechtliche Dimension die Funktion übernimmt, Handlungsverpflichtungen des Staates auszulösen. Das Untermaßverbot selbst ist lediglich Mindestgewährleistung einer Pflicht, die zuerst bestehen muß. Zudem ist die objektiv-rechtliche Dimension mit ihren wertgeleiteten Grundsatzvorstellungen auf die Fälle der gesellschaftlichen Bedrohungslagen zugeschnitten, da andernfalls ja gerade der Abwehrcharakter der Grundrechte einschlägig ist. Genau diese Fälle werden von dem Untermaßverbot erfaßt. Insbesondere durch die grundsätzliche Anwendbarkeit des Untermaßverbotes bei den sozialen Leistungsrechten und den Gleichbehandlungsgrundsätzen wird deutlich, daß das Untermaßverbot als justitiables Korrektiv erhebliche Einschränkungen für die freie Selbstorganisation der Gesellschaft haben kann. Die entscheidende Frage lautet demnach, ob dem Untermaßverbot ein kleiner oder größerer Gewährleistungsgehalt beizumessen ist. In letzterem Fall wäre das Untermaßverbot in der Lage, in verfassungsrechtlichem Auftrag gesellschaftliche Zustände in beachtlichem Ausmaß umzugestalten. f) Anwendungsbereich des Untermaßverbotes außerhalb grundrechtlicher Gewährleistungen Noch nicht beantwortet wurde die Frage, auf welchen Gebieten außerhalb der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte das Untermaßverbot noch zur Anwendung gelangt. Zunächst fallen in diesem Zusammenhang die Staatszielbestimmungen der Art. 20 I GG und Art. 20 a GG ins Auge. Trotz ihres hohen Abstraktionsgrades entfalten die für alle Staatsgewalten verbindlichen Staatszielbeststimmungen Bindungswirkung.169 Zwar besteht weitgehend Einigkeit, daß eine verfassungswidrige Umsetzung nur in wenigen Ausnahmefällen angenommen werden kann.170 Die Staatszielbestimmungen enthalten jedoch einen justitiablen Kern.171 Dieses justitiable Mini-
komponenten der beiden Absätze: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 177 f. 169 Sommermann, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar II, Art. 20 Abs.1, Rn. 118. 170 BVerfGE 22, 180, (204); 94, 241 (263); 110, 412 ( 445); Sommermann in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar II, Art. 20 Abs.1, Rn. 120,121,123; Ders., Staatsziele, S. 427 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 113; Gröschner, in: Dreier GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 32; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20 a, Rn. 71. 171 Oftmals wird sich jedoch eine Anknüpfung an Grundrechte finden lassen, so daß dann die Staatszielbestimmung an der Gewährleistung der Grundrechte teilnimmt und diese zusätzlich unterstützt, vgl. dazu: Gröschner in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 20, 21; Sommermann in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, Art. 20 Abs.1, Rn. 130.
IV. Von der Schutzpflicht zum Untermaßverbot
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mum ist mit dem Untermaßverbot identisch.172 Im Bereich des Sozialstaatsprinzips handelt es sich dabei um das Existenzminimum, das in Verbindung mit Art. 1 I GG gewährleistet wird.173 Ebenso erstreckt sich das Untermaßverbot auf die Mindestgewährleistung des Umweltschutzes sowie des Tierschutzes in Art. 20 a GG. Darüber hinaus fallen nach obiger Definition in den Anwendungsbereich des Untermaßverbotes auch die Artikel 87 e IV und 87 f I GG. Beide Vorschriften verpflichten nur den Staat und nicht die privatisierten Unternehmen Deutsche Bahn, Deutsche Post und Deutsche Telekom.174 Nach Art. 87 I GG hat der Bund im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation flächendeckende, angemessene und ausreichende Dienstleistungen zu gewährleisten. Diese Grundversorgung entspricht dem Untermaßverbot.175 Da aus der ursprünglich staatlichen Post mittlerweile private Unternehmen hervorgegangen sind, erfolgt eine Gefährdung dieser Versorgung nicht mehr durch den Staat. Aus der Erfüllungsverantwortlichkeit des Staates wurde eine Gewährleistungs- bzw. Überwachungsverantwortlichkeit.176 In der Literatur wird die Vorschrift einhellig lediglich als Staatsziel angesehen.177 Bei der Umsetzung dieses Auftrages kommt dem Gesetzgeber daher ein erheblicher Spielraum zu.178 Gleiches gilt für Art. 87 e IV GG. Die Vorschrift verpflichtet den Bund ebenfalls zum Wohle der Allgemeinheit für eine Grundversorgung bei der Eisenbahninfrastruktur und bei Eisenbahnverkehrsdienstleistungen zu sorgen. Auch für diese Mindestgewährleistung gilt das Untermaßverbot.179 Im Hinblick auf die Staatszielquali-
172 Für eine Anwendung des Untermaßverbotes auf Staatsziele ausdrücklich auch Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 576, 577; Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1991); speziell für die Anwendung auf das republikanische Prinzip Huster/Rux, in: Beckscher Online-Kommentar, Art. 20 GG, Rn. 174. 173 BVerfGE, 82, 60 (80, 85) Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 158; Hain, Grundsätze des Grundgesetzes, S. 256 ff.; Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 40; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 361. 174 Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 f Abs. 1, Rn. 30; Ders., a.a.O, Art. 87 e Abs. 4, Rn. 68. 175 Vgl. Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen im Gewährleistungsstaat, S. 196; Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 f Abs. 1, Rn. 30. 176 Windthorst, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 87 f, Rn. 8. 177 Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, Bundestags-Drs. 12/7269, S. 5; Ebenso: Badura, in: Bonner Kommentar, Art. 87 f, Rn. 26, 28; Lerche, in: Maunz/Dürig, GGKommentar, Art. 87 f, Rn. 80; Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 f Abs. 1, Rn. 30; Stern, DVBl, 1997, 309 (313 ff.); Windthorst, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 87 f, Rn. 14. 178 Eifert, Grundversorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen im Gewährleistungsstaat, S. 198; Lerche, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 87 f, Rn. 80; Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 f Abs. 1, Rn. 31; Windthorst, in: Sachs, GG-Kommentar III, Art. 87 f, Rn. 19. 179 Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 e Abs. 4, Rn. 72.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
tät180 und den damit verbundenen großen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers181 bestehen ebenfalls keine Unterschiede zu dem zuvor erörterten Post- und Telekommunikationssektor. Schließlich findet das Untermaßverbot auch noch Anwendung auf den Feiertagsschutz des Art. 140 GG i.V.m Art. 139 WRV.182 g) Ergebnis Es läßt sich damit festhalten, daß zwar die Schutzpflichten Hauptanwendungsfall des Untermaßverbotes sind. Je nachdem, wie weit man die Schutzpflichten definiert, geht das Untermaßverbot aber auch über diese hinaus. In jedem Fall geht das Untermaßverbot über die rein objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension hinaus, indem es in relevanten Fällen der staatlichen Untätigkeit auch den justitiablen Kern von Staatszielbestimmungen erfaßt. Es besteht damit ein grundrechtliches und ein nicht-grundrechtliches Untermaßverbot, wobei das grundrechtliche Untermaßverbot die ganz überwiegende Zahl der Untermaßverbotsfälle darstellt. Zusammenfassend läßt sich damit sagen, daß das Untermaßverbot in Fällen in Betracht kommt, in denen der einzelne durch private Akteure oder gesellschaftliche Zustände (ausnahmsweise auch durch Naturgefahren) in eine erhebliche Defensivlage gerät, der durch justitiabel feststellbaren Handlungsgeboten des Staates begegnet werden kann. Von diesem „Schutzbereich“ des Untermaßverbotes ist jedoch die Frage zu trennen, wann eine Verletzung konkret angenommen werden kann. Das ist eine Frage des Kontrollumfangs bzw. Gewährleistungsgehalts des Untermaßverbotes.
V. Adressaten von Schutzpflicht und Untermaßverbot 1. Exekutive Gemäß Art. 1 III GG sind Adressaten der grundrechtlichen Schutzpflichten alle drei Gewalten.183 Für die Verwaltung bedeutet dies, Schutznormen zu vollziehen sowie Schutzpflichten bei der Auslegung und Anwendung des Verwaltungsrechts,
180 Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 e Abs. 4, Rn. 69; Windthorst, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 87 e, Rn. 50. 181 Vgl. Gersdorf, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 87 e Abs. 4, Rn. 70; Windthorst, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 87 e, Rn. 51 a; Schmidt-Aßmann/Röhl, DÖV 1994, S. 577 (585). 182 Möstl, GewArch 2006, S. 9 f. Dazu ausführlich unter Teil 2, II. 6. 183 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 139; Stern, Staatsrecht III/1, S. 950; Rassow, ZG 2005 S. 262 (277); Pietrzak, JuS 1994, S. 748 (753).
V. Adressaten von Schutzpflicht und Untermaßverbot
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insbesondere bei der Ausübung des Ermessens, zu beachten.184 An dieser Stelle entscheidet sich, ob und inwieweit der Staat Schutzmöglichkeiten, die ihm durch die bereits bestehenden Gesetze eingeräumt sind, auch effektiv wahrnimmt. J. Isensee weist insofern zu Recht darauf hin, daß es bei dem effektiven Schutz für die Bürger nicht so sehr auf das „law in the books“ als auf das „law in action“ ankommt.185 Das Untermaßverbot kommt hierbei zum Tragen, wenn der gewährleistete Schutzstandard so gering ausfällt, daß er nicht mehr durch das Ermessen der Verwaltung gedeckt ist, bzw. ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt.Im Verwaltungsrecht handelt es sich bei dem Untermaßverbot demnach weniger um eine neue dogmatische Figur als vielmehr nur um eine neue Terminologie.186 Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null wird angenommnen, wenn eine Gefahr oder Störung für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung sich als besonders schädlich erweist und die Grenze der von der Polizei noch tolerierbaren Schädlichkeit überschreitet.187 Für das Untermaßverbot wird daraus abgeleitet, daß jedenfalls dort, wo eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter drohe, ein strikter Rechtsanspruch auf ein polizeiliches Einschreiten bestehe.188 Als Beispiel hiefür nennt Schenke den Fall, eines gefährlichen Hundes, gegen dessen Halter die Polizei nicht einschreite (zum Beispiel durch Anordnung einer Maulkorbpflicht), obwohl sie wisse, das dieser schon mehreren Personen schwere Bißverletzungen beigebracht hat.189 Die Verwaltungsrechtsprechung hat im Hinblick auf staatliche Schutzpflichten entschieden, daß die Polizei ihre Handlungspflicht verkannt habe, indem sie es etwa unterließ, vor einer 5 km langen Ölspur zu warnen190, es versäumte, Minen in einem Garten zu beseitigen191, oder es unterließ, unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes einem Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen.192 In der Literatur wird darüber hinaus angenommen, daß eine Verpflichtung zum Tätigwerden auch bei der Beeinträchtigung bedeutender Vermögenswerte besteht.193
184
Vgl. Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11, Rn. 15; Di Fabio, VerwArch 86 (1995), S. 214, (220 – 222). 185 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 166; vgl. auch Groß, JZ 1999, S. 326 (331). 186 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 100; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (243). 187 Di Fabio, VerwArch 86 (1995), S. 214 (220 – 222). 188 Götz, Handbuch des Staatsrechts IV (2006), § 85, Rn. 30; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Fußnote 192 zu § 3. 189 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 97. 190 BGH, VersR 7, S. 87 ff. 191 BGH, VerwRspr 5, S. 319 ff. 192 OVG, Lüneburg, NVwZ, 1992, S. 502 f.; OVG Berlin, NJW 1980 S. 2484. 193 Ob die Pflicht zum Tätigwerden der Verwaltungsbehörden noch enger zu ziehen ist, ist umstritten. Vgl. dazu: Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 100.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
2. Judikative und Legislative als Adressaten Die Rechtsprechung kommt ihrer Schutzpflicht nach, indem sie grundrechtliche Schutzpflichtengehalte bei der Auslegung und Anwendung des Rechts berücksichtigt.194 Schranken judikativer Schutzpflichten werden insbesondere durch die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung gezogen.195 Kommt der Richter zu der Überzeugung, daß das durch Auslegung zu erreichende Schutzniveau dem Untermaßverbot nicht gerecht wird, bleibt ihm nur die Möglichkeit, das Gesetz im Wege einer konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.196 Der Umstand, daß alle staatlichen Gewalten Schutzpflichten erfüllen können, hat erhebliche Bedeutung für die Frage, wann gerade gegen den Gesetzgeber ein Schutzpflichtanspruch geltend gemacht werden kann. Wenn nämlich Verwaltung und Rechtsprechung auf der Basis der vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Rechtsordnung bereits ein hinreichendes Schutzniveau gewährleisten, also die staatliche Schutzpflicht erfüllen, kann kein Anspruch auf Tätigwerden des Gesetzgebers mehr bestehen.197 So muß also eine gegen den Gesetzgeber gerichtete Verfassungsbeschwerde auf Normerlaß immer dann scheitern, wenn Normen vorhanden sind, die bei schutzpflichtkonformer Auslegung und Anwendung durch Rechtsprechung und Verwaltung ein hinreichendes Schutzniveau gewährleisten, was bei der Entwicklung der heutigen Rechtsprechung sehr häufig der Fall ist.198 Folgerichtig berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht vor einer Inpflichtnahme des Gesetzgebers regelmäßig die Schutzmaßnahmen aller anderen Staatsfunktionen.199Aus legislativer Sicht komme es mithin auf die Frage an, ob das vorhandene Gesetzesmaterial ausreicht, insbesondere der Exekutive im Falle ernsthafter Gefährdungslagen ein Schutz gewährendes Eingreifen im konkreten Einzelfall zu ermöglichen oder nicht.200 Gleichwohl liegen in der Fragestellung, wann der Gesetzgeber das Untermaßverbot verletzt, die schwierigen Probleme der Schutzpflichtendogmatik.Denn während jedenfalls Verwaltung und Rechtsprechung das Untermaßverbot mit ihren üblichen Anwendungs- und Auslegungsmethoden einigermaßen verläßlich bestimmen können, besteht über die Prüfungskriterien der Verletzung von Schutzpflichten durch den Gesetzgeber noch keine Klarheit, was vor allem daran liegt, daß bei allen Überlegungen in dieser Hinsicht der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum miteinbezogen werden muß. Die Beachtung eines ausreichenden politischen Gestaltungsspiel194 BVerfGE 73, 261 (269); 81, 40 (52); 84, 192 (194); Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1036); Jarass, in: 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (41); Stern, Staatsrecht III/1, S. 951. 195 Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1036). 196 Preu, JZ 1991, S. 265 (270). 197 Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1036); Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 185. 198 Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1036). 199 Vgl. BVerfGE 56, 54 (82 ff.); BVerfG NJW 1983, S. 2931 (2932); BVerfG NJW 1998, S. 3264 (3265 f.). 200 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 113.
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raums stellt eines der beiden nun näher zu erläuternden Grundprobleme des Untermaßverbotes dar, die auch bei den weiteren Ausführungen immer wieder eine wesentliche Rolle spielen werden.
VI. Die zwei Grundprobleme des Untermaßverbotes Bei den beiden Grundproblemen des Untermaßverbotes handelt es sich zum einen um das Problem, daß mit seiner Annahme regelmäßig Grundrechtseingriffe bei Dritten verbunden sind, und zum anderen um die Tatsache, daß das Verfassungsgericht den Gesetzgeber mithilfe des Untermaßverbotes zu Aktivitäten zwingen kann, die er selbst nicht will. Kurzum: Das Untermaßverbot ist geeignet, klassisch liberale Abwehrrechte zu bedrohen, als auch die auf dem Demokratiegedanken basierende Entscheidungsfreiheit des Parlaments einzuengen.201 Die Auswirkungen des Untermaßverbotes auf die Abwehrechte betreffen allerdings nicht nur den Gesetzgeber, sondern alle staatlichen Gewalten. Da das Untermaßverbot die Verletzungsgrenze und den Mindestgehalt der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension darstellt, handelt es sich bei der Grundsatzkritik an dem Untermaßverbot um dieselben Bedenken, die gegen die objektiv-rechtliche Schutzfunktion der Grundrechte erhoben werden.202
1. Schwächung der klassischen Freiheitsrechte Zunächst ist dem Vorwurf nachzugehen, die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension sei geeignet, die am status negativus orientierte Grundrechtsdogmatik zu konterkarieren.203 Von den Kritikern wird insbesondere befürchtet, daß eine Mutation der ursprünglichen Intention der Grundrechte drohe, wenn Grundrechtsgehalte in Form von Schutzpflichten dazu verpflichteten, andere Grundrechte zu beschränken.204 Sinn der Grundrechte sei es, dem Staat Grenzen zu ziehen und nicht, ihn zu aktivieren.205 Um individuelle Freiheit sicherzustellen, sei es nach wie vor die vor201 Stern, Staatsrecht III/2, S. 1773 – 1775; Schoch, VVDStRL 57 (1997), S. 158 (206); Lee, in: FS für Starck, S. 297 (315); Medicus, AcP 192 (1992) S. 35 (54 f.). 202 Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte in der öffentlichen Hand, S. 134. 203 Vgl. das Minderheitenvotum der Richter Rupp-von Brünneck und Simon in: BVerfGE 39, 63 (73); Preu, JZ 1991, S. 265 (266); zumindest die Gefahrenanalyse teilen ebenfalls JeandHeur, JZ 2005, S. 161 (164, 165); Stern, Staatsrecht III/2, S. 1773. 204 Vgl. H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (494); Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 ff.; Gusy, Polizeirecht, Rn. 74.; kritisch auch JeandHeur, JZ 1995, S. 161 (164); Lee, in: FS für Starck, S. 297 (313, 314), der einen verfassungsrechtlich einklagbaren Anspruch darauf, in Grundrechte anderer einzugreifen als merkwürdig und aus der Sicht der Abwehrrechte überraschend bezeichnet. 205 Vgl. das Minderheitenvotum der Richter Rupp-von Brünneck und Simon in: BVerfGE 39, 63 (73); Gusy, Polizeirecht, Rn. 74; Ridder, DuR 1978, S. 42 ff.
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dringlichste Aufgabe der Grundrechte, den Staat auf Distanz zu halten.206 Die neue Grundrechtsfunktion drohe eine Eigendynamik zu entwickeln, die zwangsläufig auf Kosten der herkömmlichen Freiheitsrechte gehen müsse.207 Zudem würden die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte die Verläßlichkeit der Rechtsordnung in Frage stellen, da bisherige Rechtsauslegungen durch die Schutzpflichtenrechtsprechung kaum vorhersehbar umgestaltet werden könnten. Die Anerkennung zweier aufeinander stoßender Grundrechtsdimensionen habe zudem zwangsläufig die Durchführung von Abwägungen zur Folge, deren Ergebnisse im wesentlichen vom Standpunkt des Betrachters abhingen und einer klaren juristischen Methodik nicht zugänglich seien.208 Auch diese fehlende Objektivierbarkeit gefährde grundrechtliche Freiheit. Letztlich könne nur die klare Systematik der Grundrechte als Abwehrrechte individuelle Freiheit dauerhaft gewährleisten.209
2. Diskussion Zwar sind einzelne Bedenken gegenüber der Ausdehnung staatlicher Freiheitseingriffe durchaus berechtigt und nachzuvollziehen; gleichwohl verdient die objektivrechtliche Grundrechtsdimension im Grundsatz Zustimmung. Als Argument hierfür ist zunächst die entscheidende Tatsache anzuführen, daß Freiheit eben nicht nur durch den Staat, sondern auch von Privaten bedroht werden kann.210 Wenn der einzelne Bürger durch Kriminalität, Terrorismus oder Gesundheitsbeeinträchtigungen aufgrund von Immissionen einer benachbarten Industrieanlage beeinträchtigt wird, handelt es sich hierbei um eine unter Umständen sogar erhebliche Einbuße an Freiheit. Grundrechte würden unglaubwürdig, wenn ihnen nicht auch die Vorstellung einer Freiheitsabsicherung gegenüber solchen Gefährdungen zugeschrieben werden könnte. Ziel der Grundrechte ist damit auch die Wahrnehmung „realer Freiheit“211. Freiheit läßt sich nicht auf die reine Abwesenheit des Staates reduzieren. Die objektiv-rechtliche Grundrechtsfunktion ist eine Folge dieser Erkenntnis. Ohne sie würde nicht ausreichend berücksichtigt, daß es sich bei der nichtstaatlichen Beeinträchtigung des Opfers ebenfalls um einen Verlust bzw. eine Einschränkung von Frei-
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Denninger, AK-GG I, Vor Art. 1, Rn. 34; Goerlich, JR 1975, S. 177 (178). Vgl. Preu, JZ 1991, S. 265 (266); Sachs, Grundrechte, A 4, Rn. 31; zumindest die Gefahreinschätzung teilt ebenfalls Stern, Staatsrecht III/2, S. 1773. 208 Gusy, Polizeirecht, Rn. 76.. 209 Windel, Der Staat 37 (1998), S. 385 (392). 210 Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 227 ff.; Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (141, 142); Wahl/Masing, JZ 1990, S. 552 (563); Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 160. 211 So der Begriff von Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 209; Ders., Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 351 f.; Schmidt-Jortzig, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 48 spricht von „realem Erlebtwerdenkönnen“ von Freiheit. Grundlegend: Krebs, Rechtliche und reale Freiheit, in: Handbuch der Grundrechte II, § 31, S. 291 ff. 207
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heit handelt.212 Andernfalls würde die Grundrechtsdogmatik in eine Schieflage zurückfallen.213 Auf der Seite des Störers stünde dann ein Grundrecht, das zu optimieren ist, und auf Seite des Opfers lediglich ein vom Gesetzgeber beabsichtigter oder bereits existierender einfachrechtlicher Schutz als Grundrechtsschranke, der sich zudem durch die Wechselwirkungsthese relativieren lassen müßte.214 Der Konflikt von Schutz und Abwehrinteressen ist am besten zu erfassen, wenn davon ausgegangen wird, daß nicht Abwehrgrundrechte gegen einfache Gesetze streiten, sondern Grundrecht gegen Grundrecht.215 Dafür, Freiheit sowohl gegenüber Gefährdungen des Staates als auch gegenüber Gefährdungen von Seiten privater Dritter grundrechtlich abzusichern, spricht auch, daß die beiden Freiheitssphären unmittelbar miteinander zusammenhängen.216 Es handelt sich nämlich stets um Konflikte, wie Freiheit verteilt werden soll. Freiheit ist nicht beliebig vermehrbar.217 Freiheitsräume, die dem einen zugesprochen werden, müssen zwangsläufig die Freiheit des anderen beschneiden.218 Möglichst viel Freiraum vor staatlichen Regelungen ermöglicht auch eine Ausübung von Freiheit, von der andere nachteilig betroffen sein können. Staatliche Eingriffe zur Absicherung von Freiheitsräumen Schutzbedürftiger wiederum engen die Freiheit der Eingriffsbelasteten ein.219 Dieser Wechselwirkung ist am besten dadurch Rechnung zu tragen, daß den Freiheitseinbußen auf beiden Seiten eine grundrechtliche Relevanz zugesprochen und damit die Freiheitsverteilung als insgesamt grundrechtliches Problem angesehen wird. Als Folge stellen sich dann in der Tat schwierige grundrechtliche Abwägungsfragen, die der Gesetzgeber aufzulösen hat. Die Abwägung gegeneinander stehender Grundrechtsgehalte reflektiert darüber hinaus das schwierige Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit. So ist Sicherheit zugleich eine Voraussetzung und eine Gefahr für die Freiheit. Ohne Sicherheit gibt es für den einzelnen nicht die Vielzahl an Handlungsoptionen, die Freiheit gerade auszeichnet. Sicherheit ist eine Voraussetzung dafür, Freiheit auch wahrnehmen zu
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Kritisch: Gusy, Polizeirecht, Rn. 74. Isensee, in: FS für Kriele, S. 5 (30). 214 Isensee, in: FS für Kriele, S. 5 (30). 215 Isensee, in: FS für Kriele, S. 5 (30); Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), S. 203 (209). 216 Vgl. Schmidt-Jortzig, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 46 – 48; H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495). 217 Würtenberger, in: Rill (Hrsg.) Grundrechte- Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung, S. 20. 218 Vgl. Isensee, in: FS für Kriele, S. 5 (31); Stern, Staatsrecht III/1, S. 945 f.; SchmidtJortzig, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 47; Hesse, in: FS für Mahrenholz S. 541 (546); Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 94; Schoch, VVDStrL, 57 (1998), S. 158 (206); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 202; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (232). 219 Genau dem entspricht es, daß objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte zur Folge haben können, daß abwehrrechtliche Freiheit eingeschränkt wird, und umgekehrt. 213
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können.220 Insofern ist die Verankerung von Schutz in den Grundrechten nur folgerichtig. Erst Gesetze und damit auch Grundrechtseingriffe gewährleisten die Berechenbarkeit und Verläßlichkeit des Gemeinwesens. Das dadurch bewirkte Vertrauen ist Grundlage jeder funktionierenden Sozial- und Wirtschaftsordnung. Wer wollte schon in einem Flugzeug sitzen, das nicht durch staatliche Regelungen ausreichend überwacht wird, oder sich von einem Arzt operieren lassen, der seine Qualifikation nicht in zumindest staatlich überwachten Prüfungen nachgewiesen hat. Indem Gesetze und damit auch Grundrechtseingriffe anarchische Zustände verhindern, sind sie Voraussetzung für Freiheit schlechthin. Auf der anderen Seite stellt Sicherheit ab einem bestimmten Punkt einen Gegner und sogar Feind von Freiheit dar. Übermäßige Sicherheit führt nicht mehr nur zu einer bloßen Freiheitsverschiebung, sondern zu insgesamt weniger Freiheit. Der Freiheitsgewinn in Form größerer Sicherheit steht dann zu dem Freiheitsverlust nicht mehr in Relation. Wer Freiheit erhalten will, muß deshalb gewisse Risiken hinnehmen. Hinzu kommt, daß das Modell der Freiheitsverschiebung zwischen Bevorzugtem und Störer nur im Grundsatz gilt. Insbesondere im Hinblick auf soziale Leistungen, aber auch im Hinblick auf sonstige Gefährdungen durch Private (beispielsweise in Form von Kriminalität), muß die Freiheitseinschränkung des einen nicht zu nachhaltig mehr Freiheit oder einer Verbesserung der Lebensumstände des anderen führen. Die Freiheitsverteilung des gutmeinenden und fürsorgenden Staates kann also ineffektiv sein.221 So können durch staatliche Umverteilung wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik abgebremst oder Eigenverantwortung verhindert und dadurch Abhängigkeiten erst produziert werden. Ebenso besteht grundsätzlich die Gefahr, daß der Staat komplexe technologische oder gesellschaftliche Wirkungen falsch einschätzt, so daß die erhofften Verbesserungen ausbleiben. Der chronisch überforderte Sozialstaat ist das beste Beispiel dafür, daß der Freiheitsverlust des einen dauerhaft nicht zu mehr Freiheitsgewinn der anderen führen muß. Bei aller Notwendigkeit von staatlichen Regelungen bleibt es deshalb dabei, daß es sich bei Grundrechtseingriffen zugleich um eine sensible Begrenzung von Freiheit handelt.222 Diese Erkenntnis steht jedoch einer Anerkennung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension nicht im Wege. Harte Steuerungswirkung, die zu einer Umgestaltung der Rechtsordnung und staatlichen Eingriffen führen kann, entfaltet nur das justitiable Untermaßverbot.223 Die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte gehen zwar auch über diese Verletzungsgrenze hinaus.224 Jenseits des Untermaßverbotes entfalten sie jedoch keine einschneidende Wirkung. In diesem Bereich wirken 220 Schmidt-Jortzig, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 48; Schmitt Glaeser, in: FS für Isensee S. 507 (518); Von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 95. 221 Vgl. Schmidt-Jortzig, Handbuch der Grundrechte I, § 10, Rn. 43, 44. 222 Zu weitgehend daher Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehalt, S. 79, der von einem starren Festhalten an dem alten Freiheitsverständnis und dem Erfordernis einer grundsätzlichen Neubestimmung spricht. 223 Vgl. Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffintensität, S. 221, 222. 224 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 75 ff.
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sie als reine Zielvorgaben bzw. Interpretationsrichtlinien, die etwa bei Abwägungen im Rahmen des Übermaßverbotes oder bei der Auslegung des einfachen Rechts eine Rolle spielen können. Entscheidend ist daher weniger, ob objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte anerkannt werden, sondern wo das Untermaßverbot als Verletzungsgrenze dieser Grundrechtsdimension anzusiedeln ist. In diesem Zusammenhang ist auch der Umstand zu berücksichtigen, daß sich das Untermaßverbot nach einer ersten Analyse auf ein Mindestmaß beschränkt. Der Gesetzgeber könnte also strengere Eingriffe vornehmen, als dies durch das Untermaßverbot angeordnet wird. Dadurch wird zwar einerseits die Bedrohung der Abwehrrechte durch das Untermaßverbot relativiert. Andererseits sind die klassisch liberalen Abwehrrechte aber insofern in ihrem Charakter betroffen, als daß viel dafür spricht, daß die Verfassung auch weniger intensiv wirkende Freiheitseingriffe nur in einem geringeren Maße selbst veranlassen will, weil Grundrechtseingriffe durch eine freie, das heißt nicht-verfassungsdeterminierte Mehrheitsentscheidung der Politik legitimiert werden sollen.225 Die letzte Fragestellung leitet zu dem zweiten Grundproblem des Untermaßverbotes.
3. Objektiv-rechtlicher Gehalt, Untermaßverbot und Gestaltungsspielraum a) Das besondere Grundproblem der Kontrolle von Schutzpflichten Bei der genauen Bestimmung des Untermaßverbots tritt ein grundsätzliches Problem auf, das es beim Übermaßverbot in der Form nicht gibt.Im Gegensatz zu den Abwehrrechten, bei denen ein stets konkretisierbares Unterlassen des Staates gefordert wird, können Schutzpflichten nicht nur durch eine bestimmte Handlung erfüllt werden.226 Vielmehr stehen regelmäßig mehrere Möglichkeiten mit unterschiedlichen Wirkungen zur Pflichterfüllung zur Auswahl.227 Mit anderen Worten: Es gibt nicht nur ein verfassungsmäßiges Gegenteil, das einzig in der Zurücknahme des übermäßigen Eingriffs besteht, sondern Schutzpflichten können durch eine unbestimmte Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen erfüllt werden.228 Aus diesem Grund wird 225
Formal müssen Grundrechtseingriffe ohnehin durch den Gesetzgeber legitimiert werden. Gleichwohl kann die Veranlassung zu einem solchen Eingriff auf eine festgestellte Verletzung des Untermaßverbotes zurückzuführen sein. 226 Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 (113 f.), der eingehend den strukturellen Unterschied zwischen staatlichem Tun und Unterlassen herausarbeitet; Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (156); Fluck, UPR 1990, S. 81 (83); Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 436. 227 Alexy, Theorie der Grundrechte S. 420, 421; Ders., in: Sieckmann, die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 108; Unruh, Zur Dogmatik grundrechtlicher Schutzpflichten, S. 79; Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsinterpretation, S. 67; Fluck, UPR 1990, S. 81 (83); Schink, in: Schliesky/Ernst (Hrsg.), Recht und Politik, S. 69 (82). 228 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 421, verwendet in diesem Zusammenhang das Beispiel, daß die gegenüber einem Ertrinkenden bestehende Schutzpflicht sowohl durch einen
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die gesamte objektiv-rechtliche Dimension für weitmaschiger, inkonkreter und weniger justitiabel gehalten.229 Die Auswahl unter einer Mehrzahl von Alternativen zu treffen, sei originäre Aufgabe der Politik. Entscheidet das Verfassungsgericht nun, daß bestimmte Schutzpflichten zu erfüllen sind, besteht die Gefahr, daß es dem Gesetzgeber ein Mittel in die Hand drückt, das er selbst möglicherweise zur Erfüllung des Schutzauftrages gar nicht gewählt hätte. Die besondere Brisanz der Bestimmung des Untermaßverbotes liegt also in der Konsequenz für den Gesetzgeber. Je nachdem, wo die Verletzungsgrenze angesiedelt ist, kann sie die Handlungsspielräume der Legislative erheblich beschränken, indem das Bundesverfassungsgericht in weitem Maße die Kontrolle über die Pflichterfüllung an sich zieht.230 b) Kritik in der Literatur Entsprechend kritisch wird die objektiv-rechtliche Grundrechtsfunktion unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips und der Gewaltenteilung von Teilen der Literatur beurteilt.231 Mit der neuen Grundrechtsfunktion werde der grundrechtliche Himmel voll,232 was aufgrund der Bindungswirkung des Art. 1 III GG insbesondere zu einer problematischen Beschränkung von Spielräumen des Gesetzgebers führen könne. Die Politik dürfe jedoch nicht zum Verfassungsvollzug degradiert werden. Konkret in Bezug auf das Untermaßverbot wird kritisiert, daß diesem in der Literatur immer häufiger eine Optimierungsfunktion beigemessen werde.233 Dadurch werde die Schutzpflichtenkategorie der Grundrechte zu einer Art grundrechtstheoretischem Weltenei verwässert, aus dem sich grundrechtspolitisch Gewünschtes als grundrechtlich Gebotenes entnehmen lasse.234
Rettungsschwimmer, den Zuwurf eines Rettungsringes als auch durch Rettung mittels Bootes erfüllt werden kann. 229 Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 48; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GGKommentar,Vor Art. 1, Rn. 6; Ders., in: 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (49); SteinbeißWinkelmann, DVBl 1998, S. 809 (812); Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffintensität, S. 183; Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1998), S. 57 (78); Volkmann, NVwZ, 1999, S. 225 (229); Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, S. 133, 134; Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 991. 230 Vgl. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 79; Bryde, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rn. 61; O. Klein, JuS 2006, S. 960 (964); Medicus, AcP 192 (1992) S. 35 (54 f.); Casper, ZRP 2002, S. 214 (216). 231 Vgl. Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 53 ff.; Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74; Preu, JZ 1991, S. 265 (266); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 201; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 96; Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 43, 49 f.; Casper, ZRP 2002, S. 214 (216, 217). 232 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 96. 233 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 349. 234 Lindner, RdA 2005, S. 166 (167); vgl. auch die Kritik von Hain, DVBl 1993, S. 982 (984); Ders., ZG 1996, S. 75 (83).
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Vereinzelt wird die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension in der Literatur sogar ganz abgelehnt. So hält Böckenförde einklagbare Schutzpflichten des Gesetzgebers für grundsätzlich nicht vereinbar mit dem von der Verfassung vorgesehenen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Gestaltung und Schaffung von Normen.235 Der Gegensatz von verfassungsgerichtlicher Schutzverpflichtung und verfassungsrechtlichem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sei auch nicht etwa durch die Formulierung eines Mittelweges auflösbar. Somit müsse man sich entweder für objektiv-rechtlich fundierte Schutzpflichten oder für den erforderlichen Spielraum des Gesetzgebers entscheiden.236 Grundsätzlich ließe sich aus der Verfassung als Rahmenordnung kein konkretisiertes Schutzpflichtensubstrat herausfiltern. Denn die Konkretisierung der Verfassung sei – anders als ihre Interpretation – nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, sondern der Politik.237 Andernfalls würde sich aus der Verfassung, die lediglich als Grundlage der Rechtsordnung gedacht sei, zunehmend die Rechtsordnung selbst ergeben. Erforderlich sei deshalb eine Rückkehr zu dem rein abwehrrechtlichen Verständnis der Grundrechte. Erkenne man den Grundrechten eine objektiv-rechtliche Funktion zu, sei die Tendenz der Ausbreitung dieser Funktion nicht mehr aufzuhalten.238 Der Weg in den demokratisch nicht legitimierten Jurisdiktionsstaat sei dann vorgezeichnet.239 In der Literatur wird zudem zu Bedenken gegeben, daß von dieser Entwicklung nicht nur der Gesetzgeber betroffen sei. Auch die Fachgerichte müßten bei ihrer Auslegung des einfachen Rechts die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension berücksichtigen und könnten diesbezüglich vom Verfassungsgericht korrigiert werden, so daß zunehmend auch die Auslegung des einfachen Rechts zur Disposition des Verfassungsgerichts stünde.240 Damit bestünde die Gefahr einer weitgehenden Konstitutionalisierung der gesamten Rechtsordnung.241 235 Böckenförde, Der Staat, 29 (1990), S. 1 (25 f.); Ders., Grundrechtsdogmatik S. 63 ff. Dem folgt weitgehend Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 54 ff.; 66 ff.; 84; vgl. auch Rauschning, DVBl 1980, 831 (833), der der Ansicht ist, die Grundrechtskonstruktion der Schutzpflichten sei dogmatisch und praktisch geeignet, das Grundrechtssystem zu sprengen. 236 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1(28). 237 Vgl. Böckenförde, Der Staat, 29 (1990), S. 1 (22). 238 Böckenförde, Der Staat, 29 (1990), S. 1 (29). 239 Böckenförde, Der Staat, 29 (1990), S. 1 (29). Auch Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, befürchtet diese Entwicklung. Nur macht er dafür nicht die objektivrechtliche Grundrechtsdimension verantwortlich, sondern die Kontrolle von Unter- und Übermaßverbot durch das Bundesverfassungsgericht, weshalb er vorschlägt, Abwägungsentscheidungen des Gesetzgebers sowohl in Abwehr- als auch Schutzrechtsfällen nur noch anhand von Art. 19 II GG vorzunehmen. Vgl. a.a.O., S. 76 – 77. 240 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 82 f., 96; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 239; In der Literatur wird deshalb gefordert, die Kontrolle der Fachgerichte durch das Bundesverfassungsgericht auf eine bloße Willkürkontrolle zu reduzieren. Vgl. dazu Groß, JZ 1999, S. 326 (332); Diederichsen, AcP 198 (1999), S. 171 (242); Windel, der Staat 37 (1998), S. 385 (408 f.).
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c) Stellungnahme Zunächst einmal ist auf die Notwendigkeit eines ausreichenden Gestaltungsspielraums der Politik einzugehen.242 (Der Begriff Gestaltungsspielraum soll aus Gründen der Vereinfachung im folgenden auch den Einschätzungs- und Wertungsspielraum umfassen, also alle Komponenten einer freien gesetzgeberischen Entscheidung beinhalten.) Zwar ist es gemäß Art. 93 GG Aufgabe des Verfassungsgerichts, den Gesetzgeber zu kontrollieren. Diese Aufgabe ist zweifellos auch wichtig, weil eine Grundrechtseinschränkung der Politik oftmals als zu einfache Lösung erscheint. Aus diesem Grunde bedarf es zur Sicherung der Grundrechte eines Kontrollorgans. Jedoch darf diese Kontrolle nicht selbst zu weit in den politischen Raum eindringen. Da die Grenze zwischen Politik und Verfassungsinterpretation nur schwer zu ziehen ist243, geht es nicht ohne das Bewußtsein des Verfassungsgerichts, sich bei originär politischen Fragen zurückzuhalten.244 Deshalb ist kurz auf die Hauptgesichtspunkte einzugehen, die eine politische Zurückhaltung des Verfassungsgerichts notwendig machen: Nur das Parlament hat die Legitimationskraft, sich auf die Mehrheit des Wahlvolkes unmittelbar stützen zu können.245 Dieser Gesichtspunkt des Demokratieprinzips ist von überragender Bedeutung.246 Mit der Wahl der Abgeordneten ist die Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht nicht annähernd vergleichbar. Insbesondere bei Entscheidungen, bei denen die Verfassungswidrigkeit auch unter Experten umstritten ist, fällt der Gesichtspunkt der Legitimationskraft parlamentarischer Entscheidungen besonders ins Gewicht. Jedes Verfassungsgerichtsurteil, das sich gegen Gesetze wendet oder solche fordert, entzieht die für verfassungswidrig erklär241 Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 43, 49, 50; grundlegend: Schuppert/ Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2002. 242 Vgl. auch Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 32, 33, S. 116 – 117, S. 122 ff. 243 Hoffmann-Riem, JZ 2003, S. 269 (274); Geiger, EuGRZ 1985, S. 401 (401 f.); Voßkuhle, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar III, Art. 93, Rn. 31, 32; Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, S. 39 (42); Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32 (41 f.). 244 Kritisch gegenüber dem Appell an die richterliche Zurückhaltung: Schneider, NJW 1980, S. 2103 (2103 f.), mit dem Argument, daß sich eine solche Zurückhaltung aus den Grundrechtsnormen selbst ergeben müsse; ebenso Schuppert, DVBl 1988, S. 1191 f.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 170 ff. Die Frage, wie weit die Kontrolle des Verfassungsgerichts normativ reicht, ist aber gerade umstritten und eine Frage der Gewichtung unterschiedlicher Verfassungsprinzipien. Mit „Bewußtsein“ ist hier deshalb die Erkenntnis der besonderen Bedeutung der Prinzipien gemeint, aus denen sich die gebotene Zurückhaltung ergibt. Bejahend ebenfalls: Bullinger, JZ 2004, S. 209 (213); Hillgruber, AöR 127 (2002), S. 460 (473). 245 Vgl. Kokott, Handbuch der Grundrechte I, § 22, Rn. 113; Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 34, der von einer stärkeren Legitimation des Parlaments und einem damit verbundenen Mandat spricht. 246 A.A. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 124 m. w. N. für die Auffassung, daß die demokratische Legitimation kein entscheidender Aspekt sei.
VI. Die zwei Grundprobleme des Untermaßverbotes
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ten Gegenstände einer demokratischen Mehrheitsentscheidung. Eine Reaktion des Parlaments, der verfassungsgerichtlichen Entscheidung mit einer Verfassungsänderung entgegenzuwirken, ist nicht nur angesichts der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit politisch unrealistisch. Damit wird der Politik aber die Möglichkeit genommen, in einer sich schnell wandelnden Welt flexibel auf dynamische Prozesse und Veränderungen zu reagieren. Darüber hinaus wird die in der Demokratie notwendige klare politische Verantwortlichkeit relativiert.247 Die Regierung kann in dem von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts erfaßten Streitpunkt bei den nächsten Wahlen weder positiv noch negativ zur Verantwortung gezogen werden. Für die Bevölkerung sind Verfassungsgerichtsurteile zudem schwerer nachvollziehbar als Entscheidungen, die nach einer intensiven Debatte im Parlament gefällt werden. Überdies ist der Gesetzgebungsprozeß das richtige Verfahren, um die unterschiedlichen Vorstellungen der Bevölkerung zu debattieren und einzubringen.248 Urteile des Verfassungsgerichts haben, wie kritische Stimmen der letzten Jahre zeigen,249 dann keine befriedigende Wirkung, wenn sie sich zu weit auf dem Gebiet der Politik bewegen. Die fehlende Akzeptanz ist in diesen Fällen damit zu erklären, daß Gerichtsurteile, anders als politische Programme, nicht im Gewande einer abänderbaren politischen Meinung, sondern als endgültige rechtliche Wahrheit daherkommen. Das wirkt dann provozierend, wenn nicht ein breiter Konsens darüber besteht, daß die Entscheidung zumindest gut vertretbar war. Mit einer pluralistischen Demokratie ist untrennbar die Notwendigkeit verbunden, daß Streitfragen in einer offenen Auseinandersetzung ausgetragen werden. Diese offene Debatte wird aber gehemmt, wenn die Gegenpositionen nicht mehr abänderbar und mit dem Makel der Verfassungswidrigkeit behaftet sind.250 Dies kann bei der Bevölkerung durchaus auch zu einer Zunahme von Politikverdrossenheit führen, weil das Gefühl bestärkt wird, es bestünden jenseits von gerade gewählten Mehrheiten ohnehin verfestigte Strukturen, die nicht überwunden werden können. Aus diesen Gründen muß es sich bei Verfassungsgerichtsentscheidungen in Abgrenzung zur Politik um deutliche Fragen des Verfassungsrechts handeln.251 Allerdings gelten die angeführten Argumente auch dann, wenn der Gesetzgeber bei Eingriffen in Abwehrrechte korrigiert wird und beschränken sich nicht auf die ob-
247
Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 356. Vgl. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 28; Eberle, DÖV 1984, S. 485 (489 f.); Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (365, 366). 249 Vgl. Großfeld, Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1719 ff.; Schneider, Acht an der Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb“ des Parlamentarismus?, NJW 1999, S. 1303 ff.; Isensee, Bundesverfassungsgericht – quo vadis?, JZ 1996, S. 1085 ff.; Vogel Gewaltenvermischung statt Gewaltenteilung?, NJW 1996, S. 1505 ff.; Stern, in: FS für Kriele, S. 411 ff., zusammenfassend S. 428, 429. 250 Casper, ZRP 2002, S. 214 (216, 217). 251 Hillgruber, AöR 127 (2002), S. 460 (473), spricht diesbezüglich von einem Kernbereich des Unabstimmbaren. 248
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
jektiv-rechtliche Dimension.252 Es ist also genau zu untersuchen, ob die behaupteten Gründe für die Notwendigkeit eines erweiterten Spielraums in der Schutzpflichtendimension bestehen. Zu diesen Gründen kann allerdings nicht vordringlich das pragmatische Argument zählen, daß mit der Erweiterung der Grundrechtsfunktion die Zahl potentieller durch das Verfassungsgericht zu entscheidender Grundrechtsfälle vergrößert wird. Dieses Faktum kann zwar nicht von der Hand gewiesen werden. Eine eingeschränkte Justitiabilität oder gar Ablehnung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension muß jedoch in erster Linie inhaltlich begründet werden. Dabei fällt der strukturelle Unterschied zur Abwehrdimension, daß Schutzpflichten durch mehrere Mittel und Wege erfüllt werden können, zwar ins Gewicht. Gleichwohl ist noch näher zu untersuchen, inwieweit das Untermaßverbot tatsächlich dem Gesetzgeber Schutzmittel verordnen kann, die er selbst nicht gewählt hätte, oder ob das handfeste Untermaßverbot nicht auch ein Teil der Lösung dieses Problems darstellen kann. Darüber hinaus könnte dem Erfordernis eines ausreichenden Gestaltungsspielraums auch bei der Ausgestaltung des Prüfungsmaßstabes des Untermaßverbotes in besonderer Weise Rechnung getragen werden.253 Entscheidend ist also auch hinsichtlich des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers, wo die Verletzungsgrenze des Untermaßverbotes anzusiedeln ist. Es ist demnach keine unmögliche Aufgabe, sowohl einen ausreichenden Schutz verfassungsgerichtlich zu gewährleisten, als auch dem notwendigen Spielraum gerecht zu werden. Aus diesem Grunde ist eine vollständige Ablehnung der objektiv-rechtlichen Funktion, wie sie Böckenförde für notwendig hält, zu weitgehend.254
VII. Exkurs: Subjektives Recht auf Einhaltung des grundrechtlichen Untermaßverbotes? Noch nicht näher besprochen wurde die bereits aufgeworfene Fragestellung, ob neben der objektiven Wirkung auch ein subjektives Recht auf staatliches Schutzhandeln aus den Grundrechten abgeleitet werden kann. Mit der Entscheidung hierüber steht und fällt vor allem die bedeutende Frage, ob das Untermaßverbot auch mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.
252
Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 160. Trotz der Kritik an dem Begriff „Untermaßverbot“ im Ergebnis ebenfalls Bryde, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rn. 61. 254 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 73; Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte in der öffentlichen Hand, S. 134, 135. 253
VII. Exkurs
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1. Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht ein allein auf Grundrechte gestütztes subjektives Recht auf Schutz anerkennt, wird von Teilen der Literatur als nach wie vor offen bezeichnet.255 Das Verfassungsgericht habe sich diesbezüglich noch nicht festgelegt.256 Diese Einschätzung ist jedoch zu kritisch. Nimmt man nämlich die gesamte Verfassungsrechtsprechung zu den Schutzpflichten bzw. objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten in den Blick, so darf als einigermaßen gesichert gelten, daß das Verfassungsgericht mittlerweile von einem subjektiven Recht auf Einhaltung des justitiablen Teils der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte ausgeht. Bestehende Zweifel an der Position des Bundesverfassungsgerichts müßten sich mit den Entscheidungen zu den heimlichen Vaterschaftstests257 aus dem Jahre 2007 und der Berücksichtigung von Prämienzahlungen bei Lebensversicherungen aus dem Jahre 2005258 weitgehend erledigt haben. Hatte das Bundesverfassungsgericht bis dahin das Problem der Ableitung individueller Schutzansprüche aus objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten und die damit verbundene Frage nach der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde (oftmals auch ohne auf die Frage überhaupt einzugehen) dahinstehen lassen (können), weil die Beschwerden in der Begründetheit sämtlich gescheitert waren,259 hat das Gericht in den erwähnten Urteilen nun erstmals Verfassungsbeschwerden insoweit für begründet erklärt, als daß der Gesetzgeber es unterlassen hat, bestimmten, sich aus den objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten ergebenden Schutzverpflichtungen nachzukommen. Die Entscheidungen spiegeln einen kontinuierlichen Prozeß, in dem sich das Bundesverfassungsgericht schrittweise auf die Annahme subjektiver grundrechtlicher Schutzrechte zubewegt hat. So hatte das Bundesverfassungsgericht in älteren Entscheidungen noch die Position eingenommen, daß eine Verfassungsbeschwerde gegen ein gesetzgeberisches Unterlassen nur dann als zulässig anzusehen sei, wenn sich der Beschwerdeführer auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen könne, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im wesentlichen bestimme.260 Auf diese Anforderung kam das Gericht in späteren Entscheidungen aber nur noch ausnahmsweise zu-
255
Stern, in: Stern Staatsrecht IV/1, S. 68. Stern, in: Stern Staatsrecht IV/1, S. 68. 257 BVerfG, NJW 2007, S. 753 f. 258 BVerfG, NJW 2005, S. 2363 f.; NJW 2005, S. 2376 f. 259 BVerfG, NJW 1983, S. 2931 (2932); BVerfG, NJW 1987, S. 2287 (2287); BVerfG, KLV 1994, S. 25; BVerfG, NVwZ 1994, S. 886 f.; BVerfG, NJW 1995, S. 2343; BVerfG, NJW 1998, S. 975 – 976; BVerfG, NJW-VHR 1998, S. 45; BVerfG, NJW 1998, S. 2961 (2961); BVerfG, NJW 2001, S. 3323 (3323). Ebenfalls scheiterten die Verfassungsbeschwerden, in denen das Bundesverfassungsgericht grundrechtliche Schutzrechte des einzelnen konkludent angenommen hatte. Vgl. BVerfGE 77, 170 (214); 79, 174 (201, 202); BVerfG, NJW 1997, S. 2509 (2509); BVerfG, NJW 1997, S. 3085 (3085); BVerfG, NJW 1998, S. 975 (976); BVerfG, NVwZ 2000, S. 309 (310). 260 BVerfG, NJW 1983, S. 2931 (2932); BVerfG, NJW 1987, S. 2287 (2287). 256
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rück261 und verwendete seit den Chemiewaffen-262 und Verkehrslärmentscheidungen263 in den meisten einschlägigen Verfassungsbeschwerdeverfahren die gleichbleibende Formel, daß sich aus den Grundrechten nicht nur subjektive Abwehransprüche ergäben, sondern aus ihnen auch Schutzpflichten des Staates und seiner Organe für das geschützte Rechtsgut abzuleiten seien, „deren Vernachlässigung von dem Betroffenen mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.“264 Bereits diese Formel konnte eigentlich nur so gedeutet werden, daß auch das Bundesverfassungsgericht damit von einem bestehenden Individualanspruch auf Schutz ausging, da ein subjektives Recht des einzelnen Voraussetzung für die Zulassung einer Verfassungsbeschwerde ist.265 Zwischenzeitlich machte das Bundesverfassungsgericht dann aber wieder – ein wenig überraschend – darauf aufmerksam, daß es speziell die Frage, ob dem einzelnen auch gegenüber dem Gesetzgeber ein Anspruch auf legislative Schutzmaßnahmen zukomme, noch nicht entschieden habe.266 Allerdings hat es die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden in den betreffenden Fällen unterstellt.267 Auch sonst hat das Gericht in keinem Fall eine Beschwerde in der Zulässigkeit an einem fehlenden Individualbezug objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte scheitern lassen, sondern ist stets in die inhaltliche Prüfung eingestiegen, was die bereits in der Vergangenheit bestehende Offenheit des Gerichts gegenüber subjektiven Schutzrechten deutlich zeigt.268 In den Entscheidungen zu den heimlichen Vaterschaftstests und den Prämienzahlungen bei Lebensversicherungen wurde die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden – auf die es jetzt wegen des Erfolges in der Begründetheit ankam – nunmehr ohne jede Erörterung etwaiger problematischer subjektiver Rechte auf Schutz angenommen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht auch in diesen Urteilen eine ausdrückliche Anerkennung von grundrechtlichen Schutzansprüchen des einzelnen un261
BVerfG, NJW 1998, S. 3264 (3265); BVerfG, NJW 2001, S. 3323 (3323). BVerfGE 77, 170 (214). 263 BVerfGE 79, 174 (201, 202). 264 BVerfG, NJW 1997, S. 2509 (2509); BVerfG, NJW 1997, S. 3085 (3085); BVerfG, NJW 1998, S. 975 (976); BVerfG, NVwZ 2000, S. 309 (310). 265 Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 35 mit Fußnote 100; Calliess, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 7. Zu weitgehend jedoch Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 91, der davon spricht, daß das Bundesverfassungsgericht diesbezüglich niemals Zweifel geäußert habe. 266 BVerfG, NJW 1998, S. 3264 (3265); BVerfG, NJW 2001, S. 3323 (3323). In dem erstgenannten Kammerbeschluß, in dem es um eine Ersatzpflicht des Staates für Waldschäden ging, die durch Umweltverschmutzung entstanden sind, führte das Gericht aus: „Ungeachtet dessen kann aber schon fraglich sein und ist vom BVerfG (Hervorhebung im Original) noch nicht entscheiden, ob der Staatsbürger in solchen Fällen das BVerfG mit einer gegen gesetzgeberisches Unterlassen gerichteten Verfassungsbeschwerde unmittelbar anrufen kann. […] Die Frage der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde braucht insoweit jedoch nicht abschließend beurteilt zu werden. Denn sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.“ 267 BVerfG, NJW 1995, S. 2343; BVerfG, NJW 1998, S. 2961 (2961). 268 Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 35. Im Ergebnis auch Dreier, in: Dreier GG-Kommentar I, Vorbemerkung, Rn. 95. 262
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terlassen. Möglicherweise wollte es damit zu weitgehende Erwartungen vermeiden, die naturgemäß mit einer solchen Klarstellung verbunden wären, kommt doch für das Bundesverfassungsgericht ein justitiabel feststellbarer Verstoß gegen objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte und damit ein subjektives Recht regelmäßig nur bei evidenten Schutzdefiziten in Betracht.
2. Ablehnende Haltung in der Literatur In der älteren Literatur269 und heute von den jeweiligen Autoren so nicht mehr vertretenen Meinung270, finden sich Stimmen, die etwaige aus den Grundrechten fließende subjektive Rechte auf Schutz vollständig ablehnen. So wurde früher geltend gemacht, daß der Bürger keinerlei Anspruch darauf habe, daß der Gesetzgeber in Sachen Schutzpflicht überhaupt tätig werde, der Gesetzgeber schulde dem Bürger nur das verfassungsmäßige Gesetz. Die gesetzgeberische Verhaltenspflicht, Recht zu überprüfen und „verfassungsmäßig zu halten“ finde ihre Basis jedenfalls nur in der ausdrücklich objektiv-rechtlich konzipierten Schutzpflichtenjudikatur; entsprechende Forderungsrechte des einzelnen könnten aber auf dieser Grundlage nicht entstehen.271
3. Kritische bis zurückhaltende Ansicht Auch wenn grundrechtsgestützte subjektive Rechte auf ein staatliches Tätigwerden inzwischen nicht mehr vollständig ausgeschlossen werden, steht ihnen auch heute noch ein Teil der Literatur kritisch gegenüber. Insbesondere Starck wendet sich entsprechend der von ihm befürworteten Begrenzung der Schutzpflichtendimension ausführlich gegen weitreichende Ansprüche auf Schutzmaßnahmen.272 Nur soweit das Grundgesetz selbst in seinem Verfassungstext ausdrücklich von „Schützen“ spreche oder der jeweilige Würdekern betroffen sei, könne ausnahmsweise ein subjektives Recht auf Schutz angenommen werden.273 Diejenigen, die weitergehende Ansprüche auf Schutz aus den einzelnen Grundrechten ableiten wollten, hätten bisher 269 Löwer, Handbuch des Staatsrechts II (1987), § 56, Rn. 152; Schmidt, Einführung in das Umweltrecht, 3. Auflage 1992, § 2, Rn. 9; Steinberg, Der Staat 26 (1987), S. 161 (182). 270 In der neuen, 3. Auflage des Handbuchs des Staatsrechts III aus dem Jahre 2005, § 70, Rn. 189, vertritt Löwer nicht mehr eine Ablehnung grundrechtlicher Schutzansprüche. Ab der 4. Auflage (1995) ist diese Position auch bei Schmidt, Einführung in das Umweltrecht, § 2, Rn. 9 nicht mehr zu finden. 271 Löwer, Handbuch des Staatsrechts II, § 56, Rn. 152. 272 Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 64 ff.; Ders., in: Von Mangoldt/Klein/ Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 195. Restriktiv ebenfalls Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 97; Badura, in: FS für Eichenberger, S. 481 (491, 492) Windel, Der Staat 37 (1998), S. 385 (390, 391); Steinbeiß-Winkelmann, DVBl 1998, S. 809 (812). 273 Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 70, 71. Siehe zur Ablehnung dieser These bereits unter Teil 1, III. 3. f).
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nicht schlüssig erklärt, woher diese subjektiven Rechte eigentlich stammen sollten. Soweit sie aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte geschlossen würden, könne diese Umwandlung nur als unbegründbare Mutation bezeichnet werden.274 Denn ein solches Konzept bleibe jeden Beweis dafür schuldig, warum aus der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte neben den Abwehrechten nun nochmals wiederum subjektive Rechte folgen sollten.275 Darüber hinaus wird von den Kritikern vorgebracht, daß gegen individuelle Schutzrechte auch die damit verbundene Einschränkung des politischen Gestaltungsermessens des Gesetzgebers spreche.276 Dieses Argument falle besonders dann ins Gewicht, wenn die verfassungsrechtlichen Maßstäbe wenig bestimmbar und weitmaschig seien, was für die Frage, wie zu schützen sei, in besonderem Maße gelte.277 Auch deshalb dürften nicht leichtfertig der Schutzpflichtendimension der Grundrechte subjektive Ansprüche zugeordnet werden.278 Mit der Ablehnung eines subjektiven Schutzrechts solle aber keineswegs die essentielle freiheitssichernde Bedeutung der Staatsaufgabe, die innere Sicherheit zu gewährleisten, in Frage gestellt werden. Die besondere innere Verbindung zwischen Freiheitsschutz und Gewährleistung von innerer Sicherheit komme schließlich in den Grundrechtsschranken klar zum Ausdruck.279 Nur lasse sich aus dieser Verbindung und Systematik für den einzelnen Bürger gerade kein ungeschriebenes Grundrecht auf Sicherheit ableiten. Ein solches Grundrecht könne schon von seiner Struktur her auf der Verfassungsebene nicht in derselben unmittelbaren Weise wie die klassischen Abwehrrechte gewährleistet werden.280 Denn der Eingriff in ein klassisches Grundrecht stehe unter Gesetzesvorbehalt. Freiheit gelte somit rechtlich, solange sie nicht eingeschränkt werde. Dagegen könne ein etwaiger Schutz erst durch Gesetz, Verwaltung und Rechtsprechung garantiert und verwirklicht werden. Insofern könnte ein Recht auf Schutz auch keine unmittelbare Geltung beanspruchen.281 Andere Autoren lehnen über den Verfassungstext hinausreichende individuelle Schutzrechte zwar nicht grundsätzlich ab, wollen aber gleichwohl solche nur mit Vorsicht bejahen.282 Aufgrund der heterogenen und einzelgrundrechtsspezifischen Aus274
Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 66, 72, 73. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 73. 276 Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 989, 990; Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 64, 74, 79; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 95, 97. 277 Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 74; Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 990, 991; Steinbeiß-Winkelmann, DVBl 1998, S. 809 (812). 278 In diesem Sinne ebenfalls Stern, in Stern, Staatsrecht III/1, S. 989 f. 279 Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 76. 280 Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 76. 281 Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 77. 282 Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Vorbemerkung, Rn. 95; Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 988, 989, 991; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 168 f. 275
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prägung283sowie aufgrund der geistesgeschichtlichen Bestimmung der Grundrechte als liberale Abwehrrechte könne keine pauschale subjektive Begünstigungsfunktion der objektiven Grundrechtsseite angenommen werden.284 Zudem dürfe der notwendig abstrakt-generelle Charakter der Gesetzgebung nicht durch individuelle Ansprüche auf bestimmte Gesetzesverbesserungen in Frage gestellt werden.285 Eine Ableitung von subjektiven Rechten aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte bedürfe stets einer besonderen Begründung.286 Andererseits könne aber den auf individuelle Entfaltung angelegten Grundrechten auch in der Schutzdimension nicht jeder individualschützende Charakter abgesprochen werden.287 Kern der Problematik sei, jenen Punkt zu bestimmen, an dem der einzelne Grundrechtsträger durch ein ausbleibendes staatliches Schutzhandeln individuell und nicht bloß als Teil der Allgemeinheit betroffen sei.288 Da dem Unterlassen des Staates eine bestimmte Zielrichtung fehle, könne ein subjektives Recht erst dort angenommen werden, wo dem Nichthandeln des Staates ein konkret nachzuweisender individueller Bezug innewohne.289 Ein grundrechtlicher Schutzanspruch des einzelnen sei jedenfalls dann anzunehmen, wenn der grundrechtliche Status durch die konkrete Bedrohung schlechthin in Frage gestellt werde. Dies sei regelmäßig bei den elementaren Lebenspositionen wie dem Leben oder der körperlichen Unversehrtheit und Freiheit der Person der Fall.290 Abschließend geben Vertreter der kritischen Position noch zu bedenken, daß die Annahme einer Subjektivierung der objektiv-rechtlichen Dimension zudem erhebliche Konsequenzen für die Auslegung des einfachen Rechts haben könne, indem etwa ursprünglich rein objektives Gesetzrecht dann gegebenenfalls auch subjektiv ausgelegt werden müsse.291
4. Zustimmende Literatur Die ganz überwiegende Literatur nimmt dagegen ein sich aus den Grundrechten ergebendes subjektives Recht auf Schutz an.
283
Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 170. Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 989 f.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 159. 285 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 170, 171; Windel, Der Staat 37 (1998), S. 385 (390, 391). 286 Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 979; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 159, 169. 287 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 171. 288 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 171. 289 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 171, 172. 290 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 172. 291 Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 208 f., Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 174 f. 284
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
a) G. Robbers: Primat des subjektiven Rechts Für G. Robbers ergibt sich ein umfassendes subjektives Recht auf Schutz aus einem postulierten Primat des subjektiven gegenüber dem objektiven Recht.292 Anders als die herrschende Lehre annehme, habe das subjektive Recht nicht seinen zwingend-logischen Grund in einem Rechtssatz des objektiven Rechts, sondern vielmehr sei es ein Abbild eines umfassenderen subjektiven Rechts, das bereits naturrechtlich der staatlichen Ordnung vorgegeben sei.293 Das subjektive Recht des einzelnen konstituiere damit das objektive Recht, und nicht umgekehrt. Demgegenüber entspringe das subjektive Recht nach herrschender Lehre nicht aus der originären Position des einzelnen, sondern werde vom objektiven Recht lediglich verliehen. Damit bliebe aber auch die Stellung des einzelnen im Staat stets abgeleitet und unselbständig. Da der Gesetzgeber über das objektive Recht entscheide, sei auch das subjektive Recht demnach stets von der Entscheidung des Gesetzgebers abhängig.294 Dieser Umstand ist aber nach Robbers mit dem Menschenbild des Grundgesetzes unvereinbar, da individuelle Interessen nach dieser Konstruktion erst dann entscheidende rechtliche Relevanz erhielten, wenn ein Satz des objektiven Rechts gefunden sei, der diese Interessen zu einem subjektiven Recht erstarken ließe.295 Allerdings gilt auch für Robbers der Primat des subjektiven Rechts nicht unbeschränkt, sondern Robbers nimmt nach eigener Aussage bei der Beurteilung der Frage, ob ein subjektives Recht vorliegt, zunächst lediglich eine Beweislastumkehr vor.296 Demnach sei nicht danach zu suchen, ob ein Satz des objektiven Rechts eine Angelegenheit eines Einzelnen zu einem subjektiven Recht erstarken lasse, sondern ob ein Satz des objektiven Rechts ein subjektives Recht ausschließe.
b) Herrschende Meinung: Subjektives Recht folgt aus individualistischem Charakter der Grundrechte Die inzwischen ganz herrschende Ansicht folgert mit Differenzierungen die Anerkennung eines subjektiven Rechts auf Schutz aus dem individualistischen Charakter der Grundrechte.297 Soweit objektiv-rechtliche Schutzverpflichtungen des Staates 292
Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 146 ff. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 148. 294 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 147, 148. 295 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 150. 296 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 153. 297 Calliess, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 23, 24; Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 36; Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (141 – 143); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 63 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 219; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 241, 242; E. Klein, NJW 1989, S. 1633 (1637); Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61); Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 386; H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (493); Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 241, 242; Scherzberg, 293
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justitiabel seien, korrespondierten ihnen jeweils auch subjektive Rechte des einzelnen.298 Entscheidend für die Bejahung eines grundrechtlichen Schutzanspruchs sei, daß der Sinn und Leitgedanke der Grundrechte gerade darin bestehe, den Interessen des einzelnen zu dienen.299Nehme man diese Funktion ernst, so spräche schon eine Vermutung dafür, daß die dem Staat auferlegten Verpflichtungen dann auch Gegenstand subjektiver Rechte seien.300 Darüber hinaus wird argumentiert, daß die Synthese zwischen der objektiven Bindung der staatlichen Gewalt und der subjektiven Durchsetzbarkeit mittels individueller Ansprüche den modernen Verfassungsstaat präge.301 Dagegen werde der einzelne bei einer ausschließlich objektiv-rechtlichen Gewährleistung des staatlichen Schutzes als Rechtspersönlichkeit verdrängt und zu einem bloßen Empfänger obrigkeitlicher Interessenwahrnehmung ohne eigene Durchsetzungsmacht herabgestuft.302 Ein solches Konzept übergehe aber, daß es Aufgabe der Grundrechte sei, individuelle Freiheit zu gewährleisten, und nicht bloß eine objektive vom einzelnen unabhängige Werteordnung zu garantieren.303 Alexy führt zudem an, daß ein subjektives Schutzrecht auch dem in den Grundrechten angelegten Drang zur Optimierung entspreche.304 Denn ganz allgemein gelte, daß die Zuerkennung subjektiver Rechte ein höheres Maß an Realisierung bedeutete als die Statuierung inhaltsgleicher, bloß objektiver Pflichten.305 Jedoch sage die Subjektivierungsthese als solche nicht, wie weit die Grundrechte über den abwehrrechtlichen Bereich ausgedehnt werden sollen. Mit ihr werde lediglich behauptet, daß dann, wenn eine Ausdehnung erfolgt, diese grundsätzlich zu entsprechenden subjektiven Rechten führen müsse.306 Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 214 f.; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 88, 89; Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 184; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 60. 298 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 241, 242; Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 37. 299 Vgl. Calliess, Handbuch der Grundrechte II, § 44, Rn. 23, 24; Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (141 – 143); Lenz, Vorbehaltlose Freiheitsrechte, S. 92; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 386; Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 184. 300 H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (493); Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61). Kritisch zu dem Argument Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 978, 979. Scherzberg, Grundrechtschutz und Eingriffsintensität, S. 215 f., nimmt in diesem Zusammenhang an, daß Grundrechte dem Individuum einen personalen Status verliehen, der nicht nur die Begrenzung der Staatsgewalt und damit deren Abwehr zum Gegenstand habe, sondern darüber hinaus ein rechtliches Dürfen des Bürgers beinhalte, also eine Ausübungsbefugnis zur Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit, woraus sich zwangsläufig ein subjektives Recht auf Schutz ergebe. Ablehnend dazu Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 158 f.; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 364. 301 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 210. 302 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 210. 303 Vgl. Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61); Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (143). 304 Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61). 305 Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61). 306 Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61).
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
Zwar wird innerhalb der herrschenden Meinung auch das Problem der Re-Subjektivierung von objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten gesehen, die zuvor von der subjektiven Abwehrwirkung der Grundrechte getrennt worden seien.307 Diese Fragestellung harre nach wie vor einer überzeugenden dogmatischen Klärung.308 Das Problem löst ein Teil der Literatur dadurch, daß sie den Schutzanspruch nunmehr ohne Umweg über den objektiv-rechtlichen Gehalt von vornherein direkt der subjektiven Wirkung der Grundrechte zuordnet.309 Angesichts der dogmatischen Entwicklung der Schutzpflichten, die erhebliche Weiterungen und Konkretisierungen mit einer ungebrochenen Tendenz zur Subjektivierung erfahren hätten, sei ein solcher Schritt gerechtfertigt. Möstl unterteilt dabei grundrechtliche Schutzpflichten in zwei Stufen unterschiedlicher Wirkkraft.310 Neben den herkömmlichen Schutzpflichten, die bloß mindere normative Wirkkraft aufwiesen, habe insbesondere das Untermaßverbot eine zweite Gruppe von Schutzpflichten hervorgebracht, die einen verbindlichen und justitiablen Maßstab darstellten, an dem sich staatliches Handeln messen lassen müsse. Zur Verwirklichung dieser Gewährleistung verleihe die Gruppe an Normen größerer Verbindlichkeit dann auch entsprechende subjektive Rechte.311 Jedoch besteht Einigkeit darin, daß das subjektive Recht nicht weiter reichen kann als die objektiv-rechtliche Verpflichtung.312 Stünden „harte“, zu Verhaltensgeboten verdichtungsfähige objektiv-rechtliche Maßstäbe nicht zur Verfügung, könne auch kein subjektivrechtlicher Schutzanspruch angenommen werden. Erst die Verletzung des grundrechtlichen Untermaßverbotes könne die subjektive Rechtsschutzfunktion der Grundrechte auslösen.313
5. Diskussion Die Ableitung subjektiver Rechte auf Schutz aus der individualbezogenen Zweckbestimmung der Grundrechte ist überzeugend. P. Unruh trifft den Punkt, wenn er schreibt: „Das entscheidende Argument für die Subjektivierungsthese lautet: Wenn die Grundrechte als Anknüpfungspunkt der Schutzpflichtenlehre angesehen werden, so muß diesen Pflichten auch der allen Grundrechten eigene Status des sub-
307
Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 237 f. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 237; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 86, 87. 309 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 87. 310 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 86 f. 311 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 85 – 87. 312 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 184; Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 220 – 222; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 241, 242. 313 Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 222; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 241, 242. 308
VII. Exkurs
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jektiven Rechts zukommen.314 Auch vor dem Hintergrund einer noch zu erörternden, eventuell geringeren Justitiabilität ist nicht einzusehen, warum dieser Status den Schutzpflichten vorenthalten werden soll. Allein die unterschiedlichen Konsequenzen – hier: Abwehr, dort: Tätigkeit – können diese grundsätzliche Ungleichbehandlung im Anspruchscharakter zwischen Abwehr- und objektiv-rechtlicher Dimension nicht tragen.“315 Soweit von der Gegenauffassung kritisiert wird, daß aus dem vom Grundrecht gerade erst abstrahierten objektiven Gehalt nicht erneut eine Subjektivierung erfolgen könne, erscheint diese Kritik nur insoweit berechtigt, als daß der grundrechtlichen Schutzpflicht zuvor eine subjektive Dimension abgesprochen wurde. Aus dem dann übrig gebliebenen objektiven „Rest- Gehalt“ kann dann in der Tat kaum noch ein subjektives Recht gewonnen werden. Das problematische an der „Resubjektivierung“ ist also nicht die Ableitung aus der objektiven Grundrechtsaussage, sondern daß eine Subjektivierung in der Schutzpflichtendimension lange ausgeschlossen wurde. Sofern man allerdings diese Blockade löst, spricht nichts dagegen, auch den objektiven Grundrechtsgehalten subjektive Rechte hinzuzufügen. Schließlich handelt es sich bei dem Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht nicht um ein „Entweder-Oder-Verhältnis“, sondern um ein „Zusatzverhältnis“. Das subjektive Recht stellt eine zusätzliche normative Wirkungsweise dar, indem es dem Betroffenen die Möglichkeit verleiht, das Recht als eigenes Recht geltend zu machen.316 Streng genommen handelt es sich bei der kritisierten Subjektivierung ohnehin nicht um eine „Resubjektivierung“, da subjektive Rechte der objektiven Grundrechtsfunktion vorher nicht zugeordnet (und dann wieder abgesprochen) wurden. Vielmehr handelt es sich bei der Subjektivierung der grundrechtlichen Schutzpflichten um einen kontinuierlichen Prozeß der Grundrechtserweiterung. Aus den Grundrechten wurden über den reinen Abwehrcharakter hinaus zunächst lediglich objektive Wertaussagen entwickelt, denen nun konsequenterweise subjektive Rechte zur Seite gestellt werden. Auch die Befürchtung, eine Ausdehnung der subjektiven Rechte würde eine Einschränkung der politischen Gestaltungsfreiheit der Legislative bedeuten, erscheint nicht folgerichtig. Zwar ist der zuzugeben, daß die Anerkennung eines subjektiven Rechts eine Aufwertung und Verstärkung der objektiv-rechtlichen Gehalte bedeutet und dies auch eine gewisse Dynamik in Richtung einer inhaltlichen Ausdehnung von Schutzrechten hervorrufen kann. Streng dogmatisch ist die Befürchtung jedoch nicht gerechtfertigt. Zu Recht wird nämlich in der Literatur darauf hingewiesen, daß sich das Problem der Gewaltenteilung bereits bei der Frage stellt, ob überhaupt eine justitiable Verletzung der objektiv-rechtlichen Schutzpflicht vorliegt, weil bereits eine 314 So auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 241, der darauf hinweist, daß die Entscheidung für eine subjektiv-rechtliche Orientierung im Prinzip schon mit der Anknüpfung an die Grundrechte gefallen sei. 315 Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 64, 65. 316 Vgl. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 386.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
solche in objektiven Verfahrensarten vor dem Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann.317 Mit anderen Worten: Schon die objektive Schutzpflicht entscheidet über die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.318 Bei dem subjektiven Recht handelt es sich dagegen um die Zuerkennung individueller Rechtsmacht zur Durchsetzung dieses bestehenden Rechts.319 Demnach ließe sich mit der Ablehnung von subjektiven Schutzrechten allenfalls die Zahl der Verfassungsbeschwerden reduzieren.320 Gleiches gilt für die Annahme, mit dem mangelnden Konkretisierungsgrad der Schutzpflicht sei regelmäßig ein subjektives Recht nicht in Einklang zu bringen. Dieser Einwand müßte sich nämlich in gleicher Weise gegen eine justitiable objektive Schutzpflicht wenden, da sich bereits dort das Problem stellt, daß ihre Verletzung schwerer feststellbar ist.321 Die Frage, ob sich eine Schutzaufgabe zu einer justitiablen Pflicht verdichten läßt, ist also kein Problem des subjektiven, sondern bereits des objektiven Rechts.322 Insofern geht es stets nur um ein subjektives Recht auf Einhaltung des Untermaßverbotes. Darüber hinaus greift der Hinweis darauf nicht durch, daß mit dem staatlichen Unterlassen keine Zielrichtung verbunden sei und es deshalb an einer Vergleichbarkeit des staatlichen Unterlassens mit einem Eingriff fehle. Denn auch wenn dem staatlichen Unterlassen die Zielrichtung fehlt, heißt das nicht, daß niemand von dem Unterlassen in seinen Grundrechten betroffen ist.323 Ist der einzelne nah genug an der Gefahrenquelle oder ist er bereits konkret beeinträchtigt, ist er nicht bloß als Teil der Allgemeinheit betroffen.324 Daß mehrere Personen betroffen sind, schließt nämlich ein individuelles Betroffensein nicht aus.325 Hermes weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Unterscheidung von subjektivem und objektivem Recht parallel zu der bekannten Unterscheidung von konkret-individueller und abstrakt-genereller Ebene laufe: Der objektive Gehalt eines Grundrechts zielt auf generell wirken317 Vgl. Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (63); Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 37; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 176; Hermes, Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit, S. 212; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 65. 318 Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 37; Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (63); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 176. 319 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten S. 176; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit S. 212. 320 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 212. 321 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 213, 214. 322 Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 37; Schmidt-Aßmann, AÖR 106 (1981), S. 205 (217). 323 Ungeachtet dessen ist aber auch zu bezweifeln, ob dem Unterlassen des Staates immer jegliche Zielrichtung fehlt. Denn zum Teil nimmt der Staat fehlenden Schutz aufgrund von kollidierenden Schutzgütern auch bewußt in Kauf. 324 Vgl. Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (66). 325 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 217, mit dem treffenden Hinweis, daß individuelles Betroffensein nicht alleiniges Betroffensein heiße. Vgl. auch Alexy, Der Staat 29 (1990), S. 49 (61).
VII. Exkurs
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de unzulässige Schutzbeeinträchtigungen, ein korrespondierendes subjektives Recht besteht erst dann, wenn durch staatliches Verhalten bestimmte oder bestimmbare Individuen konkret betroffen sind.326 Schließlich ist noch auf die Kritik einzugehen, daß grundrechtliche Schutzrechte die einfache Rechtsordnung überwölben und somit zunächst rein objektiv wirkendes einfaches Gesetzesrecht entgegen der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers „zwangssubjektiviert“ werden könne. Richtig an der Kritik ist, daß es nicht ohne Auswirkungen auf die Auslegung einfachen Rechts bleibt, wenn grundrechtlicher Schutz auch subjektiv wirkt. Zu berücksichtigen ist jedoch, daß sich ein Anspruch auf eine „Subjektivierung“ einer unstreitig rein objektiv-rechtlich formulierten Norm des einfachen Rechts nur aus einem Unterschreiten des Untermaßverbotes als Mindestschutz ergeben kann.327 Oberhalb dieser Schwelle kann eine subjektive Auslegung objektiven Gesetzesrechts nur dort angenommen werden, wo entsprechende Interpretationsspielräume bestehen. Eine solche Subjektivierung aufgrund von Auslegung, entspricht jedoch lediglich einer Fortbildung des Rechts und kann überdies (bis zur Grenze des Untermaßverbotes) vom einfachen Gesetzgeber gesteuert werden. Letztere Möglichkeit muß dem Gesetzgeber allerdings tatsächlich zugestanden werden. Deshalb ist der von Robbers postulierte Primat des subjektiven Rechts problematisch. Daß die jeweilige politische Mehrheit die Ausgestaltung der individuellen Rechtsposition im Rahmen des Grundgesetzes bestimmen können muß, ist lediglich eine natürliche Folge des Demokratieprinzips und macht den einzelnen nicht zu einem bloßen Objekt328 der Rechtsordnung.329 Würde ein naturrechtlich vorgegebenes subjektives Recht tatsächlich die objektive Rechtsordnung konstituieren, hätte dieses auch einen Mangel an Rechtsklarheit zur Folge. Im Mittelpunkt der Rechtsauslegung stünde dann nicht nur das Grundgesetz und die unter ihm stehenden Normen, sondern zudem noch eine kaum greifbare und zugleich höhere naturrechtliche Ordnung, auf die sich jeder beliebig berufen könnte. In der Literatur wird mit einiger Berechtigung zudem darauf verwiesen, daß selbst dann, wenn man von einem vorstaatlichen überpositiven Status des einzelnen ausgehen würde, dieser erst der Transformation in den staatlichen Rechtsstatus bedürfte.330 Die Lösungen von Rechtsfragen müssen also innerhalb der staatlichen Rechtsordnung gefunden werden. Das einfache Gesetzesrecht muß demnach in seiner Auslegung (bis zur Grenze des grundrechtli-
326 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 215. Dagegen Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 356, der argumentiert, daß ein bloß faktisches Element wie die Betroffenheit Rechtsmacht nicht erzeugen könne. Die Ermittlung des subjektiven Rechts sei vielmehr ausschließlich eine Aufgabe der Rechtssatzinterpretation; ebenso Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 153. 327 Eine Verletzung des Untermaßverbotes würde dann bedeuten, daß eine subjektive Auslegung, notfalls durch Gesetzesänderung zwingend erforderlich ist. 328 Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 147. 329 Vgl. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 358. 330 Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 357, 358.
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1. Teil: Die Grundkoordinaten des Untermaßverbotes
chen Untermaßverbotes) Raum dafür lassen, daß ein subjektives Recht angenommen werden kann.331
331 Vgl. Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 212; Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 355.
Zweiter Teil
Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes Zur Diskussion konkreter Verstöße der Verletzungsgrenze in Rechtsprechung und Literatur
I. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Verletzungsgrenze von Schutzpflichten und zum Untermaßverbot 1. Die Entwicklung des Prüfungsmaßstabes in Schutzrechtsfällen Vor allem aufgrund der aufgezeigten Konsequenzen für den Gesetzgeber geht auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß der Spielraum der Politik in der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension besondere Beachtung finden muß. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts kommt dem Gesetzgeber deshalb bei der Erfüllung von Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu, der auch Raum lasse, konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen.1 So führt das Gericht in fast allen Entscheidungen zu Schutzpflichten aus, daß über die Art und die Weise, wie Schutzpflichten zu erfüllen seien, in erster Linie die staatlichen Organe in eigener Verantwortung zu entscheiden hätten. Sie befänden darüber, welche Maßnahmen zweckdienlich und geboten seien, um einen wirksamen Schutz zu gewährleisten.2 Eine Begrenzung des Prüfungsumfangs sei deshalb geboten, weil es, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Fluglärmentscheidung erstmals ausführt, „regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive staatliche Schutz- und Handlungspflicht, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundentscheidungen hergeleitet wird, durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist.“3 Je nach Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse, der konkreten Zielsetzung und ihrer Priorität sowie der Eignung der denkbaren Mittel und Wege seien verschiedene Lösungen möglich.4 Nur unter ganz bestimmten Umständen könne sich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Weise verengen, daß allein durch eine bestimmte Maßnahme 1 2 3 4
BVerfGE 77, 170 (214); 77, 381 (402); 79, 174 (202). BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164); 56, 54 (81). BVerfGE 56, 54 (81). BVerfGE 56, 54 (81).
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
der Schutzpflicht genüge getan werden könne.5 Entscheidungen über die richtigen Schutzmaßnahmen gehörten nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem demokratischen Prinzip in die Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers und könnten vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt nachgeprüft werden, sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiel stünden.6 In Anlehnung an diese Rechtsprechung entwickelte dann das Bundesverfassungsgericht in seinem C-Waffen-Urteil die Formel, daß eine Verletzung der Schutzpflicht grundsätzlich nur festgestellt werden kann, „wenn die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat, oder offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen.“7 Anhand dieses Prüfungsmaßstabes verwarf das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde gegen die Stationierung von Chemiewaffen als unzulässig und die Verfassungsbeschwerden zum Fluglärm8 sowie Verkehrslärm9, mit deren Hilfe der Staat zu umfangreicheren Schutzmaßnahme verpflichtet werden sollte, als unbegründet.10 Von der Beschränkung auf eine bloße Evidenzkontrolle ist das Bundesverfassungsgericht allerdings zunächst in den beiden Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, in denen es um das elementare Rechtsgut „Leben“ aus Art. 2 II 1 GG ging, abgewichen.
2. Erste Abtreibungsentscheidung So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Abtreibungsentscheidung11 aus dem Jahre 1975 die Regelungen des Gesetzgebers einer intensiven richterlichen Kontrolle unterzogen und infolgedessen die Fristenlösung zu Fall gebracht. Diese sah vor, den Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer 12-Wochen-Frist grundsätzlich straflos zu stellen. Begründet wurde die Entscheidung mit der überragenden Bedeutung des Lebensrechts, das zusammen mit der Menschwürde den Höchstwert der Verfassung darstelle. Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung seien die Schutzinteressen des Embryos mit dem Persönlichkeitsrecht der Frau abzuwägen. Angesichts der Tatsache, daß ein Schwangerschaftsabbruch immer die Vernichtung des ungeborenen Lebens bedeute, müsse nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen unter Berücksichtigung des Grundgedan5
BVerfGE 77, 170 ( 214). BVerfGE 56, 54 (81). 7 BVerfGE 56, 54 (81); 77, 170 (215); 79, 174 (202). 8 BVerfGE 56, 54 ff. 9 BVerfGE 79, 174 ff. 10 BVerfGE 79, 174 (202); 56, 54 (81). 11 BVerfGE 39, 1 ff. 6
I. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts
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kens aus Art. 19 Abs. 2 GG dem Nasciturus der Vorzug gegeben werden.12 Ein umfassender Verzicht auf das Strafrecht sei dabei in Fällen des Schwangerschaftsabbruchs mit einem effektiven Lebensschutz nicht vereinbar.13 Der Staat sei deshalb verpflichtet, das generelle Unwerturteil im Hinblick auf die Tötung des werdenden Lebens durch Strafnormen aufrecht zu erhalten.14 Ganz entgegen zu seiner sonstigen Prognoserechtsprechung stellte das Gericht die gesetzgeberische Prognose, wonach sich durch die Fristenlösung die Zahl der Abtreibungen verringern werde, in Frage.15 Insofern hat hier die Eigenart des Sachbereichs, nämlich der Schutz des menschlichen Lebens, sowohl die generelle Zurückhaltung im Bereich der Schutzpflichtenrechtsprechung als auch die Tatsache überspielt, daß es sich nach den vom Gericht zuvor selbst aufgestellten Kontrollkriterien bei der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs um einen komplexen Sachverhalt handelt, bei dem das Gericht durchaus auf Schwierigkeiten stieß, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden.
3. Kritik Das Urteil ist in der Literatur zum Teil auf erhebliche Ablehnung gestoßen. Insbesondere wurde kritisiert, das Bundesverfassungsgericht habe die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte zu Lasten der klassischen Abwehrrechte der Frau überbewertet und damit die traditionelle, überwiegend am abwehrrechtlichen Charakter des status negativus orientierte Grundrechtsdogmatik auf den Kopf gestellt.16 Aufgrund des engen Prüfungsmaßstabes habe das Gericht zudem die ihm durch die Verfassung und seine eigene Entscheidungspraxis gezogenen Grenzen in einer Materie durchbrochen, bei der dem Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum hätte zukommen müssen.17 Diese Kritik kommt vor allem in dem Sondervotum der Richter Rupp-von Brünneck und Simon zum Ausdruck, indem es dort heißt: „Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers zu annullieren, erfordert einen sparsamen Gebrauch, wenn eine Verschiebung der Gewichte zwischen den Verfassungsorganen vermieden werden soll. Das Gebot richterlicher Selbstbeschränkung (judicial-self-restraint), das als das „Lebenselixier“ der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet worden ist, gilt vor allem, wenn es sich nicht um die Abwehr von Übergriffen der staatlichen Gewalt handelt, sondern wenn dem vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgeber im Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Vorschriften für die positive Gestaltung der Sozialordnung gemacht werden sollen. Hier darf das Bundesverfassungsgericht nicht der Versuchung erliegen, selbst die Funktion 12
BVerfGE 39, 1 (43). BVerfGE 39, 1 (47). 14 Vgl. BVerfGE 39, 1 (51 ff.). 15 BVerfGE 39, 1 (59 f.). 16 Rau, Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts, S. 200. 17 Rau, a.a.O. 13
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes des zu kontrollierenden Organs zu übernehmen, soll nicht auf lange Sicht die Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet werden.“18
4. Zweite Abtreibungsentscheidung In seiner zweiten Abtreibungsentscheidung19 hat das Bundesverfassungsgericht dann das Untermaßverbot als Verletzungsgrenze von Schutzpflichten verfassungsrechtlich anerkannt. Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Art und Umfang des Schutzes im einzelnen zu bestimmen, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im einzelnen. Allerdings hat der Gesetzgeber das Untermaßverbot20 zu beachten; insofern unterliegt er der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Notwendig ist ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener Schutz; entscheidend ist, daß er als solcher wirksam ist. Die Vorkehrungen, die der Gesetzgeber trifft, müssen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein und zudem auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen.21 Soll das Untermaßverbot nicht verletzt werden, muß die Ausgestaltung des Schutzes durch die Rechtsprechung Mindestanforderungen entsprechen.“22
Diesen Mindestanforderungen sei noch nicht dadurch genügt, daß überhaupt Schutzvorkehrungen irgendeiner Art getroffen worden seien. Die Reichweite der Schutzpflicht sei vielmehr im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts – hier des ungeborenen menschlichen Lebens – und mit ihm kollidierender Rechtsgüter anderseits zu bestimmen.Als vom Lebensrecht des Ungeborenen berührte Rechtsgüter kämen dabei – ausgehend vom Anspruch der schwangeren Frau auf Schutz und Achtung ihrer Menschwürde (Art. 1 I GG) – vor allem ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht des Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG in Betracht.23 Diese Abwägung ergäbe jedoch, daß die Grundrechte der Frau gegenüber dem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nicht durchgriffen. Unbestritten handele es sich zwar bei den Rechten der Frau ebenfalls um hohe Verfassungswerte.24 Diese reichten aber nicht so weit, daß die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes generell aufgehoben wäre.25 Nur in Ausnahmefällen, in denen der Frau das Austragen nicht zumutbar sei, könne diese Rechtspflicht entfallen.26 In diesem Zusammenhang 18 19 20 21 22 23 24 25 26
BVerfGE 39, 1 (69 f.). BVerfGE 88, 203 (254). Hervorhebung im Original. BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (254, 255). BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (263). BVerfGE 88, 203 (255). BVerfGE 88, 203 (255).
I. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts
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stellte das Gericht klar, daß Schwangerschaftsabbrüche, die nach der vom Gesetzgeber vorgesehenen Beratungsregelung vorgenommen würden, nicht für rechtmäßig erklärt werden dürften.27 Anders als noch in seiner ersten Abtreibungsentscheidung fordert das Gericht zum Schutz des Embryos aber nicht mehr zwingend den Einsatz des Strafrechts. Zwar sei das Strafrecht regelmäßig der Ort, das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die darin enthaltene grundsätzliche Rechtspflicht der Frau zum Austragen des Kindes gesetzlich zu verankern. Sofern allerdings verfassungsrechtlich ausreichende Schutzmaßnahmen anderer Art getroffen würden, könne es auch genügen, das Verbot rechtswidriger Schwangerschaftsabbrüche auf andere Weise in der Rechtsordnung klar zum Ausdruck zu bringen.28 Des weiteren ging das Verfassungsgericht in dem Urteil auch noch einmal grundsätzlich auf den Kontrollumfang bei der Überprüfung von gesetzgeberischen Schutzpflichten ein. Diese viel beachtete Passage war insofern auch erforderlich, als daß das Gericht interessanterweise das Untermaßverbot bereits bestimmt hatte, ohne zumindest ausführlich die anderen Kontrollkriterien, insbesondere den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, einzubeziehen. So heißt es in diesem Teil des Urteils: „Ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum kommt dem Gesetzgeber auch dann zu, wenn er – wie hier – verfassungsrechtlich verpflichtet ist, wirksame und ausreichende Maßnahmen zum Schutz des Rechtsguts zu ergreifen. Der Umfang dieses Spielraums hängt von Faktoren verschiedener Art ab, im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter.“29 Insoweit bestätigt das Gericht zunächst lediglich das erste Abtreibungsurteil. Im darauf folgenden Satz vollzieht das Gericht jedoch im Hinblick auf die bisher praktizierten Kontrollmaßstäbe eine interessante Wendung, indem es ausführt: „Ob sich hieraus für die verfassungsrechtliche Überprüfung drei voneinander unterscheidbare Kontrollmaßstäbe herleiten lassen30, bedarf keiner Erörterung. Die verfassungsrechtliche Prüfung erstreckt sich in jedem Fall darauf, ob der Gesetzgeber die genannten Faktoren ausreichend berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat.31 Die im Beschluß des Senats vom 29. Oktober 198732 enthaltenen Ausführungen zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen staatliches Unterlassen dürfen nicht dahin verstanden werden, als genügten der Erfüllung der Schutzpflicht des Staates gegenüber menschlichem Leben schon Maßnahmen, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind.“33
27
BVerfGE 88, Leitsätze S. 204, 205. BVerfGE 88, 203 (258). 29 BVerfGE 88, 203 (262); ebenso: 50, 290 (332); 76, 1 (51 f.); 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202); BVerfG, NJW 1996, S. 651. 30 Vgl. BVerfGE 50, 290 (333). 31 BVerfGE 88, 203 (262). 32 BVerfGE 77, 170 (214 f.). 33 BVerfGE 88, 203 (263). 28
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
Das Gericht hat hier also nach seinem eigenen Bekunden eine Vertretbarkeitskontrolle zugrunde gelegt, gleichzeitig aber offen gelassen, ob es weiterhin an seinen bisher praktizierten drei Kontrollmaßstäben festhält.
5. Aufnahme in der Literatur Wie schon das erste Abtreibungsurteil ist auch dieses Urteil in der Literatur auf Kritik gestoßen.34 Im Hinblick auf die Gewaltenteilungsproblematik wird insbesondere kritisiert, daß das Gericht mit seinen teilweise bis ins Detail gehenden Vorgaben35 in den originären Gestaltungsbereich der Politik eingedrungen sei und damit den bisher im Bereich der Schutzpflicht anerkannten weiten Spielraum des Gesetzgebers unzulässig verengt habe.Somit habe es das Gericht versäumt, dem Gesetzgeber ausdrücklich das Interpretationsprimat zu überlassen. Welche Schutzvorkehrungen angemessen und wirksam seien, müsse der Gesetzgeber in einem weitgesteckten Rahmen selbst bestimmen, andernfalls verlöre der politisch-demokratische Prozeß seinen Sinn.36 Denn grundsätzlich entzöge sich, was zum Schutz des Grundrechts, hier des ungeborenen Lebens getan werden müsse, richterlicher, auch verfassungsgerichtlicher Erkenntnis.37 Der zweite Senat habe die normstrukturelle Situation, daß nämlich inhaltlich genau bestimmte Handlungspflichten über eine bloße allgemeine Zielbestimmung hinaus schlechterdings aus der Verfassung nicht ableitbar seien, nur im Ansatz zutreffend erkannt.38 Dies beträfe auch den Gehalt des neuen, mit Verfassungsrang ausgestatteten Untermaßverbotes. Denn die Forderung nach einem wirksamen und angemessenen Schutz sowie nach vertretbaren Einschätzungen sei zunächst ebenso plausibel wie unbestimmt.39 Dem Untermaßverbot komme nach der rechtstheoretischen Unterscheidung von Prinzip und Regel allenfalls der Charakter eines durch weitere normative Prämissen zu konkretisierenden Prinzips zu.40 Die schwierige Aufgabe, zwischen Über- und Untermaß das richtige Maß zu finden, könne das Gericht jedenfalls nicht im Wege einer bloßen Verfassungsinterpretation leisten.
34 Schmidt, in: Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, S.188 , (225 f); Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (360); Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2337 ff.; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 538; Hesse, in: FS für Mahrenholz S. 541 (552, 553); Hain, DVBl 1993, S. 982 (983); Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (565 f.); Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 21; vgl. zur der weiteren Kritik an dem Urteil Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 105. 35 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (562). 36 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (567). 37 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (567). 38 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (567). 39 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (568). 40 Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (567).
I. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts
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Andere Kritiker41 wiederum sehen gerade in dem für das Untermaßverbot gewählten Prüfungsmaßstab das eigentliche Problem. Dieser sei sehr wohl konkretisierbar, aber mit seiner Forderung nach einem wirksamen und angemessenen Schutz zu weitgehend. Diese Anforderungen brächten das Bundesverfassungsgericht jedenfalls bei der Prüfung von Gesetzen, die dem Schutz des Lebens dienen, im Verhältnis zum Gesetzgeber in eine Kontrollfunktion, die sich kaum von derjenigen eines Verwaltungsgerichts gegenüber einer Planfeststellungsbehörde unterscheide.42 Mit dieser engen Prüfungsdichte sei die Grundlage dafür geschaffen, dem Gesetzgeber die Freiheit zu nehmen, zwischen mehreren, gemessen an ihrer tatsächlichen Wirksamkeit, gleichwertigen Mitteln des Schutzes zu wählen.43 Im übrigen werde das Gericht auch seinen eigenen Anforderungen an das Untermaßverbot nicht gerecht. Denn das Untermaßverbot solle lediglich ein unteres Limit und Mindestanforderungen festlegen. Dann sei aber nicht einzusehen, daß das Gericht ein komplettes Normprogramm für das Beratungsverfahren und das ärztliche Berufsfeld einschließlich des Betrugsstrafrechts vorgegeben – und zudem noch darüber hinausgehend – auch Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, des Versicherungsrechts sowie des Sozialhilferechts entwickelt habe.44 Darüber hinaus hätte der Grundrechtseingriff gegenüber der Frau durch das ihr auferlegte grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs genau am Maßstab des Übermaßverbotes geprüft werden müssen, weil dieses Verbot für die Frau die existentielle Verpflichtung bedeute, das Kind auszutragen und zugleich weitreichende Handlungs-, Einstands- und Sorgepflichten über viele Jahre zu übernehmen.45 Ungeachtet der vorgebrachten Bedenken, sei das Urteil aber nicht zuletzt auch unter prüfungssystematischen Gründen nicht überzeugend.46 So sei vor allem unklar, ob das Gericht mit einer Entscheidung seine bisherigen Maßstäbe der Kontrolldichte abgelehnt oder abgeschafft hat (Evidenz, Vertretbarkeit, intensivierte inhaltliche Kontrolle). Angesichts der bisherigen Rechtsprechung hätte das einer Erörterung bedurft.47 Zudem lasse die Prüfung auch keine stringente Linie erkennen, wenn das Gericht einmal fordert, die Prognosen des Gesetzgebers müßten verläßlich sein, und wenig später aber von vertretbaren Einschätzungen spreche48. Die Anforderungen an eine verläßliche Prognose bedürften nämlich einer intensiveren Prüfung als die Forderung nach einer vertretbaren Einschätzung; die beiden Maßstäbe lägen daher
41 42 43 44 45 46 47 48
Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2337 (2340). Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2337 (2340). Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2337 (2340). Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (568); Hain, DVBl 1993, S. 982 (983). Hermes/ Walther, NJW 1993, S. 2337 (2339). Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 538. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 538. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 538.
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
nicht auf derselben Stufe der Kontrolldichte.49 Auch dieser Umstand hätte eine Erörterung notwendig gemacht.
6. Stellungnahme Zunächst ist anzumerken, daß das Gericht in seinem Urteil nicht, wie von Kritikern behauptet, wesentlich von seiner bisher vertretenen Linie in der Schutzpflichtenrechtsprechung abgerückt ist. Denn bereits in vorherigen Entscheidungen hat es festgestellt, daß bei einer elementaren Gefahr für das Rechtsgut „Leben“ der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ausnahmsweise eingeengt werden könne. So entschied das Gericht zum Beispiel, daß im Hinblick auf die Nutzung der Kernenergie, bei der die Gefahr der Verletzung von Leben und Gesundheit zumindest theoretisch nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden könne, bereits eine entfernte Wahrscheinlichkeit des Eintrittes dieser Gefahr genüge, um die Schutzpflicht des Gesetzgebers auszulösen.50 Die darüber hinaus vorgebrachte Kritik, daß sich das Untermaßverbot erst aus weiteren Ableitungen erschließen lasse, ist zwar im Grundsatz nicht zu bestreiten, jedoch handelt es sich dabei um eine genuin juristische Aufgabenstellung, wie sie auch in anderen Fällen zu leisten ist. Auch handelt es sich bei dem Untermaßverbot nicht lediglich um ein konkretisierungsbedürftiges Prinzip.51 Eine solche Einstufung wäre mit seinem Charakter als konkrete und justitiable Verletzungsgrenze staatlicher Schutzpflichten nicht vereinbar. Das Untermaßverbot beschreibt das definitiv Gesollte. Zwar mag das Untermaßverbot schwerer zu bestimmen sein, das ändert jedoch nichts daran, daß es als Ergebnis dieser Bestimmung eine konkrete und handhabbare Grenze markiert. Kritikwürdig an der Entscheidung ist allerdings, daß das Bundesverfassungsgericht den Eindruck erweckt, als sei das Erfordernis eines „angemessenen und wirksamen Schutzes“ der allgemeingültige Inhalt des Untermaßverbotes. Dies ist nicht der Fall: Diese Anforderungen waren lediglich ein fallbezogener Prüfungsmaßstab, um in dem konkreten Fall der Bedrohung des elementaren Lebensrechts das Untermaßverbot zu bestimmen.
7. Die Behandlung des Untermaßverbotes in der weiteren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat seit der zweiten Abtreibungsentscheidung bis heute zahlreiche weitere Entscheidungen gefällt, in denen Schutzpflichten eine zentrale Rolle gespielt haben. Interessant ist jedoch, daß das Untermaßverbot nur in zwei 49 50 51
Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 538. BVerfGE 49, 89 (142). So auch Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1038).
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weiteren Entscheidungen als Prüfungsmaßstab verwendet wird und nur im Rahmen von sieben weiteren Entscheidungen überhaupt Erwähnung findet.52 a) Das Untermaßverbot als Prüfungsmaßstab In den beiden Kammerbeschlüssen, in denen das Untermaßverbot noch einmal als Prüfungsmaßstab verwendet wurde, ging es in der ersten Entscheidung aus dem Jahre 1995 um das mit der Verfassungsbeschwerde verfolgte Begehren eines Beschwerdeführers, durch ein Urteil des Verfassungsgerichts den Gesetzgeber dazu zu verpflichten, den Alkoholgrenzwert im Straßenverkehr von damals 0,8 auf 0,5 Promille abzusenken.53 Durch die damalige Regelung sah sich der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt, da jeder Bürger potentielles Opfer eines alkoholbedingten Verkehrsunfalls werden könne. In dem zweiten Kammerbeschluß zwei Jahre später ging es dann um das Verlangen eines Beschwerdeführers, den Gesetzgeber gerichtlich zu verpflichten, die Ozongrenzwerte, die zu einem zwingenden Fahrverbot führen, durch eine Gesetzesänderung herabzusetzen.54 Die bestehenden Werte hielt der Beschwerdeführer für zu hoch und sah sich dadurch ebenfalls in seinem Grundrecht aus Art. 2 II 1 GG verletzt. Beide Verfassungsbeschwerden wurden gemäß § 93 a II BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen. Begründet wurde die Ablehnung mit der Feststellung, daß die Frage nach dem Umfang der aus Art. 2 II 1 GG folgenden staatlichen Schutzpflichten durch die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt sei und die Beschwerden in der Sache keine Aussicht auf Erfolg hätten. Interessanterweise greift das Bundesverfassungsgericht in den Begründungen zunächst wieder auf die vor der zweiten Abtreibungsentscheidung im wesentlichen verwandte Evidenzkontrolle zurück. So wiederholen die Beschlüsse die bereits bekannte Formel, daß das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung staatlicher Schutzpflichten nur annehmen könne, wenn die staatlichen Organe entweder gänzlich untätig geblieben seien, oder wenn die bisher getroffenen Maßnahmen evident unzureichend seien.55 Auch fehlt nicht der Hinweis darauf, daß die Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Schutzpflicht auf eine Evidenzkontrolle geboten sei, weil es regelmäßig eine höchst komplexe Frage sei, wie eine positive staatliche Schutzpflicht durch aktive Maßnahmen zu verwirklichen sei.56 52
Entscheidungen des Verfassungsgerichts, die relevante Schutzpflichtenkonstellationen betreffen, liegen dagegen bei über 60 Entscheidungen. 53 BVerfG, NJW 1995, S. 2343. 54 BVerfG, NJW 1996, S. 651; kritisch zu dem Beschluß: Steinberg, in: Van Oyen/Möllers, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 419 (426, 427). 55 BVerfG, NJW 1998, S. 2961 (2962); BVerfGE 79, 174 (201); 77, 170 (214); 56, 54 (80 f.). 56 BVerfG, NVwZ 2000, S. 309 (310), mit den weiteren Hinweisen auf die früheren Entscheidungen.
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Gleichzeitig verwendet das Verfassungsgericht aber auch den Prüfungsmaßstab, den es in der 2. Abtreibungsentscheidung für das Untermaßverbot zugrunde gelegt hat, indem es ausführt: „Der Staat muß allerdings Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art treffen, die dazu führen, daß ein unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter angemessener und wirksamer Schutz erreicht wird (Untermaßverbot)“.57 Damit hat das Verfassungsgericht an der Definition des Untermaßverbots aus der Abtreibungsentscheidung festgehalten, obwohl es in den nunmehr zu entscheidenden Fällen nicht um die existentielle Frage des Lebensschutzes ging. Die Forderung nach einem erforderlichen und „angemessenen Schutz“ in einem Atemzug mit staatlichen Maßnahmen aufzustellen, die nur nicht „evident unzureichend“ sein dürften, ist jedoch widersprüchlich.58 Dies mag dazu beigetragen haben, daß das Verfassungsgericht das Untermaßverbot in allen folgenden Entscheidungen nicht mehr herangezogen hat. Auch wenn man über die Gründe, das Untermaßverbot nicht mehr als Prüfungsmaßstab zu verwenden, hier nur mutmaßen kann, erscheint es nicht unwahrscheinlich, daß das Verfassungsgericht dabei auch an „die Geister“ gedacht hat, die es mit dem Untermaßverbot rief. Denn bei dem Untermaßverbot liegt es nahe, dieses wie das Übermaßverbot zu prüfen und ihm den gleichen Gewährleistungsgehalt zuzuschreiben. Vor dieser weitreichenden Entwicklung der objektiv-rechtlichen Dimension, vor allem gegenüber dem Gesetzgeber, schreckt das Verfassungsgericht anscheinend zurück, indem es in den allermeisten Schutzrechtsfällen die alte Evidenzkontrolle zugrunde legt.59 Zudem sind Schutzpflichten weniger handfest als das Untermaßverbot und erlauben damit auch eine größere Flexibilität des Verfassungsgerichts. Die Rückkehr zu dem alten Prüfungsmaßstab bei gleichzeitiger Nichterwähnung des Untermaßverbotes hat in der Literatur zu dem Vorwurf geführt, daß das Bundesverfassungsgericht seine Prüfungsmaßstäbe im Bereich der Schutzpflichten nur ergebnisorientiert anwende.60 Nach dem zweiten § 218-Urteil hätte das Gericht in seinen Entscheidungen der Frage nachgehen müssen, ob der Gesetzgeber dem Untermaßverbot entsprechende, wirksame Schutzmaßnahmen auf der Basis des verfügbaren Tatsachenwissens und im Rahmen einer verläßlichen Prognose getroffen habe.61 Auf dieser Grundlage hätte das Verfassungsgericht eine Vertretbarkeitskontrolle vor-
57
BVerfG, NJW 1995, S. 2343; BVerfG, NJW 1996, S. 651. Kritisch auch Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (209); Rassow, ZG 2005, S. 262 (267). 59 Eine Rückkehr des Verfassungsgerichts zur einer bloßen Evidenzkontrolle in Schutzrechtsfällen ist in der neueren Literatur unstreitig. Vgl. Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (244); Kämmerer, JZ 1996, S. 1042 (1049, 1050); Poscher Grundrechte als Abwehrrechte, S. 305, 399; Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1037); Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, S. 113, 114; Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, S. 133; Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (207); Gusy, Polizeirecht, Rn. 76. 60 Steinberg, in: Van Oyen/Möllers, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 419 (426). 61 Steinberg, in: Van Oyen/Möllers, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 419 (427). 58
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nehmen müssen.62 Die Anwendung der Evidenzkontrolle gewährleiste jedenfalls keinen effektiven Grundrechtsschutz.63 b) Das Untermaßverbot als Argumentationsfigur Nach den beiden Beschlüssen spielt das Untermaßverbot bei Verfassungsgerichtsentscheidungen nur noch im Rahmen von drei abweichenden Meinungen zu Urteilen der Senatsmehrheit eine Rolle. So wurde es von den Richtern Broß und Gerhardt sowie der Richterin Osterloh als Argument gegen die Entscheidungen der Senatsmehrheit zum bayerischen und sachsen-anhaltinischen Straftäterunterbringungsgesetz in Stellung gebracht. In dem betreffenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte die Senatsmehrheit zwar eine auf landesrechtlichen Regelungen basierende Freiheitsentziehung von besonders gefährlichen Straftätern nach Verbüßung ihrer Haft für verfassungswidrig erklärt, da allein dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für die Regelung des Strafrechts zukäme. Jedoch hat es die Gesetze nicht für nichtig, sondern lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt und die Regelung aufgrund der besonderen Gefährlichkeit der betreffenden Straftäter für ein halbes Jahr weiter bestehen lassen. Dagegen äußern die erwähnten Richter in ihrem Minderheitenvotum64 die Überzeugung, daß die entsprechenden Normen hätten für nichtig erklärt werden müssen. Eine Weitergeltungsanordnung einer verfassungswidrigen Regelung sei nur ausnahmsweise möglich und setze voraus, daß sie aus verfassungsrechtlichen Gründen unabdingbar sei.65 Ein solch unabdingbarer Grund könne in dem vorliegenden Fall allein in der Verletzung des Untermaßverbotes liegen. Daß eine Inhaftierung von Straftätern, die ihre Straftaten verbüßt hätten, von dem verfassungsrechtlichen Untermaßverbot gefordert sei, habe aber auch die Senatsmehrheit nicht annehmen wollen.66 Vielmehr halte das geltende Recht hinreichende Instrumente zur Gefahrenabwehr auch besonders gefährlicher Täter bereit.67 Sodann verweisen die Richter darauf, daß eine Schutzpflichtverletzung von dem Bundesverfassungsgericht nur festgestellt werden könne, wenn der Staat Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen habe oder diese völlig ungeeignet oder unzulänglich seien, das gebotene Schutzziel zu erreichen.68 Das zweite Verfassungsgerichtsurteil, in dem das Untermaßverbot Bestandteil einer abweichenden Meinung war, stellt das Urteil zum Bayerischen Schwangeren62
Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1988 f.). Steinberg, in: Van Oyen/ Möllers, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 419 (426); Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (244 ff., 262 f. m. w. N); im Ergebnis ebenfalls Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (241). 64 BVerfG, NJW 2004, S. 750 (759 ff.). 65 BVerfG, NJW 2004, S. 750 (759, 760). 66 BVerfG, NJW 2004, S. 750 (759, 760); ebenso kritisch Gärditz, NVwZ 2004, S. 693 (694); SZ vom 11. 03. 2004, S. 4. 67 BVerfG, NJW 2004, S. 750 (760). 68 BVerfG, NJW 2004, S. 750 (760). 63
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hilfeergänzungsgesetz dar.69 Mit dem Gesetz hatte das Land Bayern versucht, die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen für Ärzte zu erschweren. So bedurften Ärzte nach dem Gesetz für die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen grundsätzlich einer Erlaubnis. Schwangerschaftsabbrüche ohne eine solche Erlaubnis waren mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht. Zudem sahen die Vorschriften vor, daß nur Fachärzte berechtigt sind, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Durch die Vorgabe, daß nur ein bestimmter Anteil an den Gesamteinnahmen der Praxen aus Schwangerschaftsabbrüchen resultieren durfte (25 % der Gesamteinnahmen), sollte verhindert werden, daß sogenannte Spezialkliniken entstehen. Darüber hinaus bestimmte das Gesetz, daß Ärzte dann nicht eine Abtreibung vornehmen dürfen, wenn ihnen die Frau ihre Gründe für den Abbruch nicht dargelegt hatte. Ergänzt wurde die Vorschriften durch Mitteilungs- und Offenbarungspflichten, die der Kontrolle und Überwachung der vorstehenden Verpflichtung dienten. Die Senatsmehrheit hat das Gesetz überwiegend für verfassungswidrig erklärt und die Nichtigkeit der betreffenden Regelungen festgestellt. Für die Strafvorschriften und die Einnahmequotierung sowie für die Erkundigungspflicht der Ärzte fehle dem Land Bayern die Gesetzgebungskompetenz, da die bundesgesetzliche Regelung zu Schwangerschaftsabbrüchen eine Sperrwirkung entfalte. Zudem bedürfe die Begrenzung auf Fachärzte der Frauenheilkunde einer Übergangsregelung, weil andernfalls die Norm gegen Art. 12 I GG verstoße. Gegen die Auffassung ziehen die Richterinnen Graßhof und Haas sowie Vizepräsident Papier in ihrer abweichenden Meinung70 unter anderem das Untermaßverbot heran. Wörtlich führen die Richter aus: „Es drängt sich auf, daß die von der Senatsmehrheit in § 13 II SchKG hineingelesene bundesrechtliche Anordnung, die Länder dürften Spezialkliniken nicht durch eine Quotenregelung entgegenwirken, das Untermaßverbot verletzt, das der Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten zu beachten hat […]. Eine gesetzliche Regelung, die es untersagt, derartigen Spezialeinrichtungen entgegenzuwirken, verhindert damit, daß jedem Ungeborenen eine annähernd gleiche Chance des Schutzes gegeben werden kann. Ob […] das bei Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu beachtende Untermaßverbot noch gewahrt ist, wenn ein Gesetzgeber keinerlei gesetzliche Regelungen zu Spezialkliniken vorsieht und diese damit duldet, ist hier nicht zu entscheiden. Dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß eines Schutzes wird der Bundesgesetzgeber aber ersichtlich dann nicht mehr gerecht, wenn er – ohne Feststellung sachgerechter Gründe – andere zuständige Hoheitsträger daran hindert, im Rahmen der auch ihnen auferlegten Schutzpflicht und des auch ihnen zukommenden Einschätzungsraums Schutzmaßnahmen zu ergreifen, welche die ordnungsgemäße, ärztliche Beratung der schwangeren Frau sicher gewährleisten […]. Dabei kommt es selbstverständlich nicht – wie im Urteil angedeutet wird – darauf an, ob die Mehrheit, die im Gesetzgebungsverfahren den Kompromiß gefunden hat, ihr Gesetz für verfassungsgemäß hielt, und sie die von ihr angeordneten Schutzmaßnahmen so einschätzt, daß sie sich im Rah-
69 70
BVerfG, NJW 1999, S. 841 ff. BVerfG, NJW, 1999, S. 841 (850 ff.).
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men des Untermaßverbotes halten. Die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit dieser Einschätzung des Gesetzgebers unterliegt verfassungsgerichtlicher Kontrolle.“71
Gleichzeitig wenden sich die Richter auch gegen die für nichtig erklärte Verpflichtung der Ärzte, sich vor dem Eingriff nach den Motiven der Frau für den Schwangerschaftsabbruch erkundigen zu müssen.72 Damit werde ein Schutz zurückgenommen, der berufsrechtlich bisher bei Abbrüchen praktiziert worden sei. In der Lebenswirklichkeit würden sich dann künftig Ärzte finden lassen, welche die von Rechts wegen angebotene Erleichterung annehmen würden.73 Die Annahme, daß es dem Schutz des ungeborenen Leben zuwiderlaufe, wenn auf abtreibungswillige Frauen Druck ausgeübt werde, ihre Motive für den Abbruch offen zu legen, sei untragbar. Es könne nicht zweifelhaft sein, daß die Zurücknahme ärztlicher Berufspflichten das Untermaßverbot verletze. Die Verfassungswidrigkeit einer solchen Regelung dränge sich geradezu auf.74 Schließlich erwähnt der Verfassungsrichter Bryde das Untermaßverbot im Rahmen seiner abweichenden Meinung zu dem Urteil des BVerfG75 zum Nichtraucherschutz in Gaststätten und Diskotheken.76 Insbesondere bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Gesetzen, die dem Schutz von Leben und Gesundheit sowie anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern dienten, müsse beachtet werden, dass der Gesetzgeber ohnehin schon zwischen Unter- und Übermaßverbot eingeklemmt sei. Die Mehrheit des Senats habe verkannt, dass das BVerfG bisher bei der Regelung der Berufsausübung der Politik zu Recht einen besonders weiten Spielraum zugebilligt habe. Ein Gesetz zum Nichraucherschutz, das gegen wichtige Lobbyinterssen durchgesetzt werden müsse, müsse zwangsläufig einen Kompromiss darstellen. Mit der Feststellung der Senatsmehrheit, dass der Gesetzgeber aufgrund der Ausnahmeregelungen vom Rauchverbot, den Gesundheitsschutz selbst relativiert habe und sich dies im Rahmen der Abwägung bei Art. 12 GG entgegenhalten lassen müsse, werde der Politik eine strenge Systemreinheit und Folgerichtigkeit auferlegt, die diese nicht leisten könne. Eine Verfassungsauslegung, die die gesetzlichen Ausnahmen und Unvollkommenheiten dazu benutze, die erreichten Fortschritte zu kassieren, gefährde die Reformfähigkeit von Politik.
c) Bloße Erwähnung des Untermaßverbotes In den übrigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts, in denen das Untermaßverbot vorkommt, wird es nur im Rahmen von Rechtsauffassungen von Verfahrensbeteiligten erwähnt. 71 72 73 74 75 76
BVerfG, NJW 1999, S. 841 (855). BVerfG, NJW 1999, S. 841 (855). BVerfG, NJW 1999, S. 841 (855). BVerfG, NJW 1999, S. 841 (856). BVerfG, NJW 2008, S. 2409 ff. BVerfG, NJW 2008, S. 2409 (2440).
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So zitiert das Bundesverfassungsgericht in dem jüngst ergangenen Rundfunkurteil vom September 2007 das Untermaßverbot, bei der Wiedergabe der Auffassung der Länderregierungen, die sich unter anderem auf die Figur berufen hatten, um zu verdeutlichen, daß der erhebliche Spielraum, der den demokratisch gewählten Länderparlamenten bei der Festlegung der Rundfunkgebühren zukomme, nur durch verfassungsrechtliche Mindestanforderungen begrenzt werde.77 Das Gericht ist dem jedoch nicht gefolgt und hat die Kürzung der Rundunkgebühren gegenüber dem Vorschlag der unabhängigen Gebührenkommission um monatlich 28 Cent pro Empfänger78 vor allem wegen einer mangelnden Begründung für diese Abweichung für unvereinbar mit Art. 5 I 2 GG erklärt.79 Darüber hinaus erwähnt das Verfassungsgericht in einem Beschluß aus dem Jahre 2004 das Untermaßverbot bei der Darstellung der Auffassung des Bundessozialgerichts80, das angenommen hatte, daß das Untermaßverbot die Begrenzung bestimmter Sozialleistungen auf bestimmte Berechtigtenkreise nicht ausschließt.81 In dem Fall ging es um die Nichtgewährung von Erziehungsgeld an Ausländer, die lediglich über eine Aufenthaltsbefugnis verfügen. Auch das Bundesverfassungsgericht nahm keine Schutzpflichtverletzung an, hielt aber die Regelung für nicht vereinbar mit Art. 3 I GG.82 Ebenfalls im Rahmen der Darstellung einer Rechtsauffassung findet das Untermaßverbot dann noch einmal Erwähnung in einem Beschluß des Verfassungsgerichts aus dem Jahre 2001. In dem Bund-Länder Streit wandte sich Bayern erfolglos gegen die Entscheidung der damaligen Bundesregierung, die Erkundungsarbeiten in dem geplanten Endlager Gorleben einzustellen,83 und berief sich dabei auf die Grundrechtsverbürgung des Art. 2 II 1 GG.84 Aus dem Grundrecht folge eine Pflicht des Staates, die Bevölkerung vor radioaktiver Strahlung zu bewahren, wozu auch eine kontinuierliche und zügige Erkundung des Salzstocks als Endlager gehöre. Insoweit seien das Untermaßverbot und ein Optimierungsgebot zu beachten.85 Das Bundesverfassungsgericht lehnte den Antrag ab, ohne auf das Untermaßverbot einzugehen.
77
BVerfG, Urteil vom 11. 09. 2007, BeckRS 2007, 25951, A. IV. 1. a). Nach der unabhängigen Gebührenkommission KEF hätte das für die gesamte Gebührenperiode 440 Millionen Euro Mindereinnahmen bedeutet. Vgl. 15. Bericht der KEF, Band 1, S. 77, zitiert nach BVerfG, Urteil vom 11. 09. 2007, BeckRS 2007, 25951, A. II. 3. a) 79 BVerfG, Urteil vom 11. 09. 2007, BeckRS 2007, 25951, C. V. 80 BSG, SozR 3 – 7833, § 1 Nr. 16. 81 BVerfGE 111, 176 (183). 82 BVerfGE 111, 176 (184 f.). 83 BVerfGE 104, 238 f. 84 BVerfGE 104, 238 (242). 85 BVerfGE 104, 238 (242). 78
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8. Weitere Verfassungsrechtsprechung zur Verletzungsgrenze von Schutzpflichten Die weitere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu den auf der objektivrechtlichen Dimension basierenden Schutzpflichten ist mittlerweile sehr umfangreich. Dabei ist auffällig, daß der Gesetzgeber nach den beiden Schwangerschaftsentscheidungen in einer Schutzpflichtenkonstellation nur noch zwei weitere Male vom Verfassungsgericht korrigiert wurde.86 Dagegen wurden Urteile von Fachgerichten sehr häufig aufgrund der objektiv-rechtlichen Dimension durch das Verfassungsgericht aufgehoben. a) Korrektur des Gesetzgebers aa) Vaterschaftstests In dem ersten der beiden Urteile, in denen der Gesetzgeber in einer klassischen Schutzpflichtenkonstellation korrigiert wurde, ging es um die Frage, inwieweit heimliche Vaterschaftstests vor Gericht verwertet werden können.87 Das Verfassungsgericht lehnte eine solche Verwertung als Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht ab, gab aber dem Gesetzgeber auf, ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, in dem Väter isoliert ohne Verlust der Stellung als rechtlicher Vater und ohne die Einhaltung bestimmter Fristen feststellen lassen können, ob sie der genetische Vater des Kindes sind. Dem Vater komme aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Persönlichkeitsrechts ein Recht auf Kenntnis der Abstammung seines Kindes zu.88 Bei der Herleitung dieses Anspruchs bediente sich das Verfassungsgericht zunächst der Standardformel, daß die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte, sondern zugleich Wertentscheidungen darstellten, aus der sich Schutzpflichten für die staatlichen Organe ergäben.89 Zwar wies das Gericht, wie bei jeder Schutzpflichtenprüfung, die den Gesetzgeber betrifft, darauf hin, daß diesem bei der Umsetzung der Schutzpflicht ein weiter Spielraum zustünde. Interessanterweise greift das Gericht dann aber nach längerer Zeit wieder auf den Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes zurück, indem es ausführt, daß jedoch ein angemessener Schutz notwendig sei, der auch wirksam sein müsse. Ohne das Untermaßverbot selbst zu erwähnen, bedient sich das Gericht hier also des engeren Maßstabes, den es in der Vergangenheit nicht mehr verwen86 Über die beiden Entscheidungen hinaus wurde der Gesetzgeber in jüngerer Zeit noch in zwei weiteren Fällen korrigiert, in denen auch Schutzpflichten des Staates eine Rolle spielten. In der Entscheidung zur Nichtigkeit des europäischen Haftbefehlsgesetzes (BVerfG, NJW 2005, S. 2289 ff.) handelt es sich aber der Sache nach um eine abwehrrechtliche Konstellation und bei der vom Verfassungsgericht angeordneten steuerlichen Gleichstellung von Ehepaaren mit nichtverheirateten Paaren bei der Geltendmachung von Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfreibeträgen (BVerfGE 99, 216 ff.) war der besondere Gleichheitssatz des Art. 6 I GG ebenfalls durch den Staat selbst verletzt. 87 BVerfG, NJW 2007, S. 753 ff. 88 BVerfG, NJW 2007, S. 753 (754). 89 BVerfG, NJW 2007, S. 753 (754).
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det hatte, und der sogar im Widerspruch zu der üblichen Formulierung steht, daß die staatlichen Maßnahmen nur nicht völlig unzureichend oder unzulänglich sein dürften. Unter Zugrundelegung dieses engeren Prüfungsmaßstabes führt das Gericht dann eine sorgfältige Verhältnismäßigkeitskontrolle durch und gelangt zu dem Ergebnis, daß die Gesetzeslage keinen angemessenen Schutz der Väter gewährleiste. Im Rahmen von Abwägungen stellt das Gericht zwar fest, daß ebenfalls das Persönlichkeitsrecht des Kindes auf Geheimhaltung seiner genetischen Daten bzw. auf Nichtkenntnis seiner Abstammung90 und bei der Mutter das Persönlichkeitsrecht auf Geheimhaltung ihres bisherigen Privatlebens91 betroffen seien. Jedoch seien diese Persönlichkeitsrechte nicht schrankenlos gewährt. Im Ergebnis überwögen die Schutzinteressen des Vaters die Geheimhaltungsinteressen der Mutter und des Kindes.92 Demzufolge habe der Gesetzgeber das Schutzdefizit zu beheben.
bb) Berücksichtigung von Prämienzahlungen Das zweite Urteil, in dem ein Schutzdefizit des Gesetzgebers festgestellt wurde, betraf die Frage, inwieweit bei einem vorläufigen Vertragsende bei Lebensversicherungen bereits eingezahlte Prämienzahlungen zu berücksichtigen sind, und welche Rechnungsposten die Lebensversicherungsgesellschaften von der Auszahlungssumme des Versicherten abziehen dürfen.93 Die zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerden richteten sich dagegen, daß bei einer vorzeitigen Auflösung des Vertrages die eingezahlten Prämien nur wenig Rendite erwirtschaftet hatten, und die Auszahlungssumme bei Auflösung nach nur wenigen Jahren sogar geringer als die eingezahlte Summe sein konnte. Auch in diesem Fall legte das Verfassungsgericht einen engeren Prüfungsmaßstab an die gesetzliche Regelung an, indem es prüfte, ob der Gesetzgeber einen hinreichenden Schutz gewährleistet habe. Das Bundesverfassungsgericht verneinte diese Frage mit der Begründung, daß die gesetzlichen Regelungen einer kapitalbildenden Lebensversicherung mit Überschußbeteiligung nicht den objektiv-rechtlichen Schutzanforderungen aus Art. 2 I und 14 I GG genügen würden.94 Es fehlten hinreichende rechtliche Vorkehrungen dafür, daß bei der Berechnung des bei Vertragsende zu zahlenden Schlußüberschusses die Vermögenswerte angemessen berücksichtigt würden, die bei den Versicherungsunternehmen mit den gezahlten Versicherungsprämien gebildet worden seien. Dieses gelte insbesondere, soweit geltend gemacht werde, die Grundrechte seien dadurch verletzt, daß es für die Beschwerdeführer keine Möglichkeit der Klärung gegeben habe, ob der Schlußüberschuß, insbesondere durch die Be90 91 92 93 94
BVerfG, NJW 2007, S. 753 (755). BVerfG, NJW 2007, S. 753 (756). BVerfG, NJW 2007, S. 753 (755 – 757). BVerfG, NJW 2005, S. 2476 ff. BVerfG, NJW 2005, S. 2476 (2377).
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rücksichtigung stiller Reserven und durch nicht gerechtfertigte Querverrechnungen von Kosten mit positiven Ergebnissen – etwa bei der Risikoentwicklung oder den Kapitalanlagen – zu gering festgesetzt worden sei.95 Da die staatliche Versicherungsaufsicht diesen Fragen nur sehr allgemein nachgehe, nicht aber im individuellen Einzelfall prüfe, genüge auch die staatliche Aufsicht nicht den Anforderungen der grundrechtlichen Schutzpflicht. In einer Parallelentscheidung96 entschied das Gericht zudem, daß es die Schutzpflichten aus Art. 2 I GG und 14 I GG erforderten, daß bei der Übertragung von ganzen Beständen von Lebensversicherungen von einem Unternehmen auf ein Anderes die durch die Prämienzahlungen geschaffenen Vermögenswerte als Quellen für die Erwirtschaftung von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten in gleichem Umfang zugute kommen müßten wie ohne Austausch des Schuldners.97 Insofern träfe die staatliche Aufsichtsbehörde, die für die Genehmigung solcher Bestandsübertragungen zuständig sei, die Schutzpflicht, die Belange der Versicherten umfassend festzustellen und in die Abwägung über die Genehmigung ungeschmälert einzubringen.98 Das Schutzdefizit lasse sich nicht durch eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Auslegung beheben, so daß der Gesetzgeber gefordert sei, angemessene Regelungen zu erlassen. Mit dem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber das erste Mal allein auf grundrechtlichen Schutzpflichten basierende Vorgaben für den Wirtschaftsverkehr gemacht.
b) Keine Korrektur des Gesetzgebers In den ganz überwiegenden Schutzpflichtenkonstellationen wurde der Gesetzgeber, wie bereits erwähnt, nicht korrigiert. In allen einschlägigen Entscheidungen weist das Gericht auf den weiten Spielraum hin, der dem Gesetzgeber bei der Erfüllung der Schutzpflicht zustehe. Auch hält das Gericht in den ganz überwiegenden Fällen an einer bloße Evidenzkontrolle fest und verwendet den üblichen Maßstab, nach dem Schutzpflichten nur bei völlig unzulänglichen Maßnahmen des Staates verletzt seien.99 Nur in diesen engen Grenzen könne das Verfassungsgericht die Erfüllung der Schutzpflicht überprüfen. Gleichwohl variiert und ergänzt das Verfassungsgericht seinen Prüfungsmaßstab. So betont das Verfassungsgericht den Spielraum des Gesetzgebers, indem es darauf hinweist, daß es bei Schutzpflichten oftmals darum 95
BVerfG, NJW 2005, S. 2476 (2377). BVerfG, NJW 2005, S. 2363 ff. 97 BVerfG, NJW 2005, S. 2363 (2366). 98 BVerfG, NJW 2005, S. 2363 (2365, 2366). 99 BVerfG, NJW 1997, S. 3085; BVerfG, NVwZ 2000, S. 309 (310); BVerfG, NJW 1998, S. 975 (976); BVerfG, NJW 2002, S. 1638 (1639); BVerfG, NJW 1997, S. 2509 (2510); BVerfG, NJW 2001, S. 3323 – 3324; BVerfG, NJW 2000; S. 418 (419); BVerfG, NVwZ 2001, S. 908; BVerfG, NJW 1997, S. 3085. 96
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
gehe, gegensätzliche Grundrechtspositionen auszugleichen, wofür das Grundgesetz nur den Rahmen, nicht aber bestimmte Lösungen vorsehe.100 Dem Gesetzgeber obliege es, den Rahmen des rechtlich und tatsächlich möglichen auszufüllen.101 Nur ausnahmsweise ließen sich aus den Grundrechten konkrete Regelungspflichten ableiten.102 Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers bestünden vor allem dort, wo es um die Berücksichtigung widerstreitender Grundrechte ginge.103 Das gelte auch dann, wenn der Schutz einer grundrechtlichen Position zwangsläufig die Beeinträchtigung des Grundrechts einer anderen Person zur Folge habe, weil die Abwägung in erster Linie den jeweils zuständigen staatlichen Organen zukomme.104 In Fällen, in denen eine Gefährdung wissenschaftlich schwer einzuordnen ist, hat das Verfassungsgericht seine Evidenzkontrolle in einer Entscheidung zur Zulässigkeit von Mobilfunkanlagen aus dem Jahre 2007 folgendermaßen ergänzt: “Die geltenden Grenzwerte können nur dann verfassungsrechtlich beanstandet werden, wenn erkennbar ist, daß sie die menschliche Gesundheit völlig unzureichend schützen. Liegen noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über komplexe Gefährdungen […] vor, verlangt die staatliche Schutzpflicht auch von den Gerichten nicht, ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen mit Hilfe des Prozeßrechts durch Beweisaufnahmen zur Durchsetzung zu verhelfen, oder die Vorsorgeentscheidung des Verordnungsgebers unter Kontrolle zu halten und die Schutzeignung der Grenzwerte jeweils nach dem aktuellen Stand der Forschung zu beurteilen. Es ist vielmehr Sache des Verordnungsgebers, den Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft mit geeigneten Mitteln nach allen Seiten zu beobachten und zu bewerten, um gegebenenfalls weitergehende Schutzmaßnahmen treffen zu können. Eine Verletzung der Nachbesserungspflicht durch den Verordnungsgeber kann gerichtlich erst festgestellt werden, wenn evident ist, daß eine ursprünglich rechtmäßige Regelung zum Schutz der Gesundheit aufgrund neuer Erkenntnisse oder einer veränderten Situation verfassungsrechtlich untragbar geworden ist.“105
In seinen Entscheidungen unterstreicht das Gericht zudem, daß es den staatlichen Organen keine Vorgaben machen könne, wie sie die grundrechtliche Schutzpflicht umzusetzen hätten. Die Entscheidung darüber hänge von vielen wirtschaftlichen, politischen und haushaltsrechtlichen Gegebenheiten ab, die sich richterlicher Überprüfung im Allgemeinen entzögen.106 Diese Linie vertritt das Verfassungsgericht nicht nur bei Schutz-, sondern prinzipiell auch bei den Förderpflichten. So führt das Gericht aus, daß etwa der Verfassungsauftrag aus Art. 6 I und IV GG dem Staat eine Aufgabe zuweise, aber nichts darüber sage, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen sei.107 Im Hinblick auf finanzwirksame Förder- und Schutzaufträge hat das Verfas100 101 102 103 104 105 106 107
BVerfGE 92, 26 (46). BVerfG, NVwZ 1997, S. 54 (55). BVerfGE 96, 56 (64). BVerfGE 96, 56 (64). BVerfGE 96, 56 (65). BVerfG, NVwZ 2007, S. 805 (805). BVerfG, NJW 1998, S. 3264 (3266). BVerfG, NVwZ 1997, S. 54 (55).
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sungsgericht zudem klargestellt, daß den Staat eine Verpflichtung zum Schutz nur im Rahmen seiner Verantwortung für den Staatshaushalt als Ganzes treffe.108 Allerdings hebt das Gericht in letzter Zeit verstärkt auch hervor, daß es dem Gesetzgeber obliege, eine Güterabwägung vorzunehmen und den schonendsten Ausgleich zwischen den Verfassungsprinzipien zu finden. Für den Gesetzgeber stelle sich diesbezüglich ein Problem der praktischen Konkordanz.109 Die kollidierenden Grundrechtspositionen seien in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam würden.110 Diese Ausführungen können als eine Relativierung der großzügigeren Evidenzkontrolle verstanden werden. Freilich spricht das Gericht jedoch nicht aus, daß es diesen schonendsten Ausgleich auch überprüfen will und hat dies in den entsprechenden Entscheidungen – bis auf die bereits erwähnten Ausnahmen – auch nicht getan. Im einzelnen hat das Verfassungsgericht in den folgenden Fällen eine Verletzung der Schutzpflicht verneint111 und es in diesem Zusammenhang abgelehnt, den Gesetzbzw. Verordnungsgeber oder die Regierung dazu zu verpflichten - den Nichtraucherschutz zu verbessern,112 - geringere Grenzwerte für Mobilfunkanlagen113 bzw. Trafo-Stationen114 zu verordnen,
108
BVerfG, NJW 1995, S. 2339 (2341). BVerfGE 97, 169 (176). 110 BVerfGE 89, 214 (232). 111 In diesem Zusammenhang ist aber zu konstatieren, daß das Verfassungsgericht, selbst in den Nichtannahmeentscheidungen eingehend prüft, warum die Maßnahmen im einzelnen nicht evident unzureichend sind. So zählt das Gericht in seinem „Nichtraucher-Beschluß“ sämtliche Verordnungen auf, die zum Schutz von Nichtrauchern erlassen wurden. Die aufgezählten Vorschriften reichen von der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV), die unter anderem bestimmt, daß Arbeitnehmer und Mitarbeiter in Betrieben ausreichend vor Belästigung durch Tabakrauch geschützt werden müssen, über die Verordnung über den Bau und Betrieb von Straßenbahnen (BOStrab), die das Rauchen in den entsprechenden Nichtraucher-Wagen verbietet, bis über die Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen im Personenverkehr (BO-Kraft), die in Taxen und Mietwagen das Rauchen nur gestattet, wenn die Fahrgäste zustimmen. In anderen Entscheidungen haben die Kammern unter anderem umfangreiche Vergleiche zu Belastungswerten in anderen Industrieländern gezogen, sind auf Gutachten von Expertenkommissionen eingegangen, haben die Haushaltsansätze für Schutzmaßnahmen in den Bundes- und Länderhaushalten untersucht sowie Stellungnahmen der Bundesregierung eingefordert und berücksichtigt. Zudem läßt sich feststellen, daß ungeachtet der Tatsache, daß das Gericht in den hier erwähnten Fällen lediglich eine bloße Evidenzkontrolle zugrunde gelegt hat, die zum Teil aufwendigen Begründungen auch einer Vertretbarkeitskontrolle stand gehalten hätten. 112 BVerfG, NJW 1998, S. 2961. 113 BVerfG, NVwZ 2007, S. 805 f.; BVerfG, NJW 2002, S. 1638 f. 114 BVerfG, NJW 1997, S. 2509 – 2510. 109
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- gesetzliche Regelungen zu erlassen, nach denen Waldeigentümer Ausgleichsansprüche gegen Emittenten geltend machen können,115 - die im Einigungsvertrag geregelte Genehmigung für das Atom-Endlager Morsleben auf dem Gebiet der ehemaligen DDR aufzuheben,116 - im Rahmen der Sanierung des DDR-Uranbergbaus einen höheren Strahlenschutzstandard zu gewährleisten,117 - sich aufgrund befürchteter Strahlenfreisetzung beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre nicht am Forschungsflug zum Planeten Saturn zu beteiligen,118 - das Arzthaftungsrecht zu verschärfen,119 - gesetzliche Erleichterungen zu verhindern, nach denen auf deutschen Handelsschiffen vermehrt arbeitsrechtliche Vereinbarungen nach Maßgabe ausländischen Rechts geschlossen werden können,120 - Vorgaben aus dem Lebenspartnerschaftsgesetz zügiger in Bayern umzusetzen,121 - bei Verurteilung durch ein DDR-Gericht wegen Fahnenflucht einen gesetzlichen Anspruch auf Rehabilitierung nach dem Strafrechtsrehabilitationsgesetz (StrRehaG) vorzusehen,122 - Regelungen zu erlassen, wonach ein besserer Schutz vor Meinungsäußerungen von etablierten Kirchen gegen andere Religionsgemeinschaften gewährleistet werde,123 - das Leistungsprinzip zugunsten des Ausgleiches schwangerschaftsbedingter Nachteile einzuschränken,124 - Kleinbetriebe nicht noch weiter vom Kündigungsschutz auszunehmen.125
115 BVerfG, NJW 1998, S. 3264 (3265 – 3266). Kritisch zu der Entscheidung: Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (254 f.); Von Hippel, NJW 1998, S. 3254 – 3255. 116 BVerfG, LKV 1994, S. 25. 117 BVerfG, NVwZ 2000, S. 309 f. 118 BVerfG, NJW 1998, S. 975. 119 BVerfG, NJWE-VHR 1998, S. 45. 120 BVerfGE 92, 26 ff. 121 BVerfG, NJW 2001, S. 3323 – 3324. 122 BVerfG, NJW 2000, S. 418 f. 123 BVerfG, NVwZ 2001, S. 908 – 909. 124 BVerfG, NVwZ 1997, S. 54 – 55. 125 BVerfGE 97, 169 f.
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c) Fazit Insgesamt bleibt nach der Auswertung der neueren Rechtsprechung festzuhalten, daß die befürchtete Kompetenzanmaßung des Verfassungsgerichts zulasten des Gesetzgebers im Bereich der staatlichen Schutzpflichten jedenfalls unterblieben ist. Die nach dem zweiten Abtreibungsurteil engsten Prüfungsmaßstäbe hat das Verfassungsgericht in den Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit der Kleinbetriebsklausel, zu der Zulässigkeit von heimlichen Vaterschaftstests sowie zu den gesetzlichen Anforderungen an kapitalbildende Lebensversicherungen angewendet, indem es kontrollierte, ob noch von einem angemessenen bzw. hinreichenden Ausgleich der Interessen gesprochen werden könne.126 In den beiden letzteren Fällen kam es dann tatsächlich auch zu einer Korrektur des Gesetzgebers. Umgekehrt hat das Bundesverfassungsgericht immer dann Nachbesserungspflichten verneint, wenn es, wie in der großen Mehrzahl geschehen, die übliche großzügige Kontrolle im Bereich der Schutzpflichten zugrunde gelegt hat. Dies belegt die Bedeutung des gewählten Prüfungsmaßstabes für den Ausgang des jeweiligen Falles.
d) Überprüfung der Fachgerichtsbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht in Schutzpflichtenkonstellationen Auch bei der Überprüfung der Fachgerichte läßt sich ein Standard- Prüfungsmaßstab feststellen, den das Verfassungsgericht in der Mehrzahl der Fälle zugrunde legt. Nach dieser Formel kann das Gericht einen Verfassungsverstoß nur dann feststellen, wenn bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts der Einfluß der Grundrechte durch das Fachgericht grundlegend verkannt wurde.127 Häufig spricht das Verfassungsgericht insoweit auch von einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte.128 Gleichzeitig hebt das Verfassungsgericht hervor, daß dagegen Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie Auslegung und Anwendung der Norm Sache der Fachgerichte blieben.129 Im Hinblick auf grundrechtliche Schutzpflichten führt das Gericht aus: „Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, damit vor allem auch die zivilrechtlichen Generalklauseln. Der Staat hat auch insoweit die Grundrechte des einzelnen zu schützen und vor Verletzungen durch andere zu bewahren. Den Gerichten obliegt es, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren. Ihrer Beurteilung und Abwägung von Grundrechtspositionen im Verhältnis zueinander kann das Bundesverfassungsgericht nur dann entgegentreten, wenn eine angegriffene Entscheidung 126
BVerfG, NJW 2007, S. 753 (754); NJW 2005, S. 2376 (2379); BVerfGE 97, 169 f. BVerfGE 18, 85 (92 f., 96); 85, 284 (257 f.). 128 BVerfG, NJW 1999, S. 631 (633); BVerfGE 18, 85 (92 f.); 30, 173 (188); 86, 122 (128 f.). 129 BVerfGE 108, 351 (365) = FPR 2004, S. 41 (43). 127
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen.“130
Auch wenn dieser Maßstab in den meisten Entscheidungen zu finden ist, wendet das Verfassungsgericht bei der Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit ungleich mehr Variationen und Kombinationen der Prüfungsmaßstäbe an, als dies bei der Kontrolle des Gesetzgebers der Fall ist. So dehnte das Gericht in einer Entscheidung die Evidenzkontrolle auf die Überprüfung der Rechtsprechung aus und setzte diese damit bei der Erfüllung von Schutzpflichten mit dem Gesetzgeber gleich.131 Das betreffende Urteil des BGH, in dem es um das Persönlichkeitsrecht einer Mutter ging, ihrem Kind nicht mitteilen zu müssen, welche potentiellen biologischen Väter in Betracht kommen könnten, wurde seitens des Verfassungsgerichts mit der Begründung aufgehoben, der BGH habe den großen Abwägungsspielraum, der ihm bei Schutzpflichten zukomme, zulasten der Mutter als zu gering eingeschätzt.132 In einer anderen Entscheidung stellte das Gericht demgegenüber fest, daß die Überprüfung des Verfassungsgerichts nicht auf die offensichtliche Verletzung einer Schutzpflicht beschränkt sei.133 In den letzten Jahren wurde von Seiten des Verfassungsgerichts vereinzelt sogar eine Optimierung der gegenläufigen Grundrechtsgehalte gefordert. In den entsprechenden Entscheidungen heißt es, die kollidierenden Grundrechtspositionen seien in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden.134 In anderen Entscheidungen ist von der Erforderlichkeit eines „wirksamen Schutzes“135 oder davon die Rede, ob eine Auslegung dem Schutzzweck gerecht werde136, oder ob die gegenseitigen Belange angemessen zugeordnet wurden, wozu es einer umfassenden Abwägung bedürfe.137 Zunehmend hält das Gericht auch einen variablen Maßstab für erforderlich. So führt es in einer weiteren Entscheidung aus, daß sich die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht starr und gleichbleibend ziehen ließen.138 Dem Gericht müsse ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermögliche.139 Von Bedeutung sei dabei namentlich die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung: Je mehr eine zivilgerichtliche Entscheidung grundrechtsgeschützte Voraussetzungen freiheitlicher Existenz und BVerfGE 103, 89 (100) = FPR 2001, S. 137 (137). BVerfGE 96, 56 (64). 132 BVerfGE 96, 56 (64). 133 BVerfG, FPR 2002, S. 452 (453). 134 BVerfG, NZA 2006, S. 913 (913); BVerfG vom 22. 10. 2004, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 134 zu Art. 12 GG, II. 1. a); BVerfG vom 30. 07. 2003, Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 49 zu § 9 KSchG, II. 1.; BVerfGE 89, 214 (232); 97, 169 (176). 135 BVerfG, NJW 2007, S. 137 (138); BVerfGE, 89, 276 (276, 286, 288). 136 BVerfG, FPR 2003, S. 199 (200); BVerfGE, 89, 276 (288). 137 BVerfG, BeckRS 2007, 22130, II. 1. b); BVerfG, MMR 2007, S. 93 (94) = BVerfG, EuGRZ 2006, S. 695 (698). 138 BVerfGK 3, 112 (118, 119). 139 BVerfGK 3, 112 (118). 130 131
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Betätigung verkürze, desto eingehender müsse die verfassungsgerichtliche Prüfung sein.140 Im Hinblick auf die Schutzpflicht des Staates aus Art. 6 I GG hat das Gericht in diesem Zusammenhang festgestellt, daß die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Bedeutung entspräche, die das Grundgesetz der Familie bemesse.141 Interessanterweise werden die zusätzlichen Prüfungsmaßstäbe neben der fast ausnahmslos auftauchenden Standardformel angewendet, nach der das Verfassungsgericht nur eine grundlegende Verkennung der Grundrechte überprüft, obwohl die gerade erwähnten Anforderungen erkennbar über diese Kontrolldichte hinausgehen.142 Das macht die Überprüfung der Fachgerichte uneinheitlich und kaum verläßlich. Hätte sich das Verfassungsgericht konsequent an die selbst bekundete Begrenzung der Kontrolle gegenüber den Fachgerichten gehalten, hätte es die Zivilgerichte nicht in derart vielen Fällen korrigieren dürfen.143 In diesem Zusammenhang hat das Verfassungsgericht auch in zahlreichen klassischen Schutzpflichtenkonstellationen, in denen es um einen Bürger-Bürger-Konflikt ging, die Fachgerichte mit der Begründung korrigiert, daß sie bei der Auslegung des Rechts die objektiv-rechtlichen Dimension des einschlägigen Grundrechts nicht ausreichend beachtet bzw. grundlegend verkannt hätten. So hat das Gericht beispielsweise entgegen der Urteile der Fachgerichte entschieden, daß - aus Art. 10 GG folge, daß Anbieter von Prepaid-Karten144 die Verbindungsdaten auch entgegen der vertraglichen Regelung sofort löschen müssen, wenn der Kunde dieses verlange, sofern das technisch möglich und zumutbar sei, was in dem zugrunde liegenden Fall allerdings seitens des Unternehmens bestritten wurde,145 - Art. 6 I GG die Wertentscheidung beinhalte, das eine Testamentsklausel sittenwidrig sei, wonach im Hause Hohenzollern nur derjenige erbwürdig ist, der eine protestantische Frau aus dem Hochadel heiratet,146
140
BVerfGK 3, 112 (119) mit Verweis auf BVerfGE 18, 85 (93); 42, 163 (168). BVerfG, FPR 2002, S. 452 (453). 142 Zu positiv daher die Beurteilung der bisher praktizierten Kontrolldichte bei Mayer, Untermaß, Übermaß, Wesensgehaltsgarantie, S. 102, 103. 143 Kritisch gegenüber einer zu engen Kontrolle der Fachgerichte durch das Bundesverfassungsgericht: Isensee in: FS für Kriele, S. 5 (42 f.); Groß, JZ 1999, S. 326 (332); Diederichsen, AcP 198 (1999) S. 171 (242); Windel, Der Staat 37 1998, S. 385, (408 f.); Kenntner, DÖV 2005, S. 269 ff. 144 Hierbei handelt es sich um ein Geschäftsmodell, bei dem der Kunde ohne feste Vertragsbindung im Voraus dem Anbieter eine beliebige Summe überweist, die er dann abtelefonieren kann. 145 BVerfG, Beschluß vom 27. 10. 2006, MMR 2007, S. 308 f. = BeckRS 22130. 146 BVerfGK 3, 112 f. = BVerfG, DnotZ 2004, S. 798 f. Sehr kritisch zu diesem Urteil: Isensee, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (265, Fn. 65), der von „grotesken Zügen“ des Urteils spricht. 141
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- es Art. 3 II GG gebiete, daß der Arbeitgeber auch einen von ihm eingeschalteten Arbeitsvermittler darauf hin überwachen müsse, daß die Stelle geschlechtsneutral ausgeschrieben werde,147 - aus Art. 2 I, 6 IV und 6 II GG folge, daß bei einem Verzicht auf Unterhaltsansprüche in Eheverträgen die Hürde der Sittenwidrigkeit dann niedriger anzusetzen sei, wenn die Frau schwanger ist, weil sie sich durch die Schwangerschaft in einer Position der Unterlegenheit befände, und ihr Selbstbestimmungsrecht dadurch nicht in dem erforderlichen Umfang gewährleistet sein könne,148 - es mit Art. 6 I GG unvereinbar sei, daß der finanzielle Vorteil aus dem Ehegattensplitting, der einem verheirateten Paar zugute komme, dazu führe, daß sich die Unterhaltsansprüche des geschiedenen früheren Ehepartners erhöhten, und dadurch der finanziellen Vorteil aus der Ehe den neuen Eheleuten (zum Teil) wieder entzogen werde,149 - es mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 I i.V.m. 1 I GG nicht vereinbar sei, in Geschäftsbedingungen zu Berufsunfähigkeitsversicherung eine generelle Verpflichtung des Versicherungsnehmers vorzusehen, alle relevanten Stellen von der Schweigepflicht zu entbinden; die Versicherung müßten insoweit Alternativen, wie zum Beispiel Einzelermächtigungen, anbieten,150 - dem objektiv-rechtlichen Gehalt von Art. 12 I GG die Annahme entgegenstehen könne, eine weiterhin dienliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (§ 9 I 2 KSchG) sei nicht mehr zu erwarten, wenn eine Mitarbeiterin aus nichtigem Anlaß ein Strafanzeige gegen ihren Chef gestellt hat,151 - es das Persönlichkeitsrecht von Herrn Stolpe gebiete, daß nicht behauptet werden darf, er sei „IM Sekretär“ und sei über 20 Jahre für den Staatssicherheitsdienst der DDR tätig gewesen,152 - es die staatliche Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit erfordere, in besonders gelagerten Fällen, wie zum Beispiel einer Suizidgefahr des Mieters, die Vollstreckung einer Wohnungsräumung für einen längeren Zeitraum, und – in absoluten Ausnahmefällen – auf unbestimmte Zeit einzustellen,153 - es mit den Grundrechten aus Art. 2 I und 2 II 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar sei, einen gesetzlich Krankenversicherten bei lebensbedrohlicher Erkrankung von einer medizinisch anerkannten Behandlung auszuschließen, 147
BVerfG, NJW 2007, S. 137 – 138. BVerfGE 103, 89 ff. 149 BVerfGE 108, 351 f. = FPR, 2004, S. 41 f. 150 BVerfG, MMR, 2007, S. 93 f. = BVerfG, EuGRZ 2006, S. 695 f. 151 BVerfG, NZA 2005, S. 41 f. 152 BVerfGE 114, 338 f. = BVerfG, NJW 2006, S. 207 f. Vgl. zu den Grenzen der Kritik an dem österreichischen Künstler Helnwein, der nachweisbar Kontakte zu Scientology gehabt hat, BVerfG, NJW 1999, S. 1322 f. 153 BVerfGK 6, 5 f. = BVerfG, NJW 2005, S. 3414 f.; BVerfG, NZM, 2005, S. 657 f. 148
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wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bestehe.154
9. Schlußfolgerungen für das Untermaßverbot und Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß das Verfassungsgericht die Einhaltung von Schutzpflichten durch den Gesetzgeber erheblich großzügiger überprüft als deren Erfüllung durch die Fachgerichtsbarkeit. Dies stellt einen identischen Prüfungsmaßstab für die Überprüfung der beiden Gewalten in Frage. Auch ist problematisch, inwieweit die Fachgerichte überhaupt selbst auf das Untermaßverbot als Prüfungsmaßstab zurückgreifen können. Denn das Untermaßverbot paßt nur dort, wo ein Spielraum anerkannt ist.155 Damit das Untermaßverbot anwendbar ist, muß es sich also um Materien handeln, die einen Ermessensfreiraum vorsehen, für den dann das Untermaßverbot die notwendig einzuhaltende Untergrenze markiert. Das paßt zwar noch zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle einer grundlegenden Verkennung der Grundrechte oder zu der Ausübung des Ermessens durch die Verwaltung bzw. deren richterlicher Überprüfung. Fraglich ist allerdings, von welchem Spielraum der Fachrichter selbst ausgehen darf und muß, wenn ein solches Ermessen nicht ausdrücklich vorgesehen ist, wie dies zum Beispiel bei der Auslegung zivilrechtlicher Generalklauseln der Fall ist. Auch wenn man dem Richter bei der Kontrolle seiner Entscheidung einen Spielraum zugesteht, wird er selbst die Perspektive einnehmen, daß er bei der Auslegung von wertungsgbedürftigen Normen (Generalklauseln) nicht ein Mindestmaß, sondern das unter Berücksichtigung der entgegenstehenden Belange richtige Maß an Schutz zugrunde zu legen hat. Normativ folgt diese Bindung aus Art. 20 III GG sowie aus Art. 1 III GG. Aus der Perspektive des Zivilrichters geht es deshalb bei der Auslegung des einfachen Rechts weniger um ein Untermaßverbot als vielmehr um die richtige Auslegung.156 Zudem wird oftmals auch der einfachrechtliche Schutz nach der hergebrachten zivilrechtlichen Auslegung den verfassungsrechtlichen Mindestschutz überschreiten. Diese Annahme wird auch durch die 154 BVerfGE 115, 25 f. = BVerfG, NZS 2006, S. 84 f. Zustimmend Goecke, NZS 2006, S. 291 (294), der geltend macht, daß das Untermaßverbot immer dann verletzt sei, wenn dem Versicherten Leistungen verweigert würden, die sich als erfolgsversprechend oder wirksam erweisen würden. 155 Das Untermaßverbot beinhaltet, daß es neben dem unteren Maß auch noch ein mittleres oder hohes Maß an Erfüllung geben muß. Dahingehend auch Rassow, ZG 2005, S. 262 (278). 156 Ebenfalls Preis, NZA 1997, S. 1256 (1257): „Das einfache Recht soll möglichst gewährleisten, daß die widerstreitenden Grundrechtspositionen angemessen – im Sinne praktischer Konkordanz – zum Ausgleich gebracht werden. Dieser einfachgesetzliche Interessenausgleich ist zu konkretisieren.“ Vgl. auch Bryde, Handbuch der Grundrechte, § 17, Rn. 52, 53, der annimmt, daß die grundrechtliche Bindung des Richters weiter reicht als die verfassungsgerichtliche Kontrolle; ebenso Mayer, Untermaß, Übermaß, Wesensgehaltsgarantie, S. 101, 102.
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Rechtsprechung der Fachgerichte zu den Schutzpflichten gestützt. So ist etwa der Schutz vor Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsrechts durch Dritte von den Zivilgerichten deutlich über dem verfassungsrechtlichen Mindestniveau anzusiedeln.157 Im Rahmen der Auslegung von Rechtsnormen ist der Begriff der Beachtung von Schutzpflichten (die nicht auf ein Mindestmaß festgelegt sind) deshalb passender als die Bezeichnung „Untermaßverbot“.Das Untermaßverbot ist in allererster Linie ein verfassungsgerichtliches Kontrollinstrument. In der Literatur wird dagegen teilweise auch für die Auslegung der einfachen Normen des Zivilrechts ausdrücklich der Begriff „Untermaßverbot“ verwendet, um deutlich zu machen, daß grundrechtliche Schutzpflichten im Zivilrecht von vornherein auf eine Mindestwirkung beschränkt seien.158 Das Zivilrecht verfüge für Konfliktlösung in der Regel über ausreichend eigene Instrumente. Es stelle kein bloßes Subsystem der Verfassung dar, sondern beinhalte ein eigenständiges Funktionssystem, das auf die speziellen Regelungsbedürfnisse der Gesellschaft zugeschnitten sei und vor allem der bürgerlichen Freiheit diene.159 Insofern bestünde zwar ein Anwendungsvorrang des Verfassungsrechts, jedoch ein Erkenntnisvorrang des Zivilrechts.160 Dieses Argument wendet sich in erster Linie gegen eine zu intensive Kontrolle des Verfassungsgerichts, ändert jedoch nichts daran, daß der Fachrichter der mit einem Fall befaßt ist, bei interpretationsbedürftigen Normen nicht bloß das verfassungsrechtliche Mindestmaß an Schutz vor Augen hat.Für diese Annahme spricht auch, dass – bis auf die Arbeitsgerichte – vergleichsweise wenig Urteile der Fachgerichte das Untermaßverbot erwähnen.161 Angemessene Auslegungsergebnisse der Fachgerichte erfordern es, daß das grundrechtliche Abwehrinteresse gleichberechtigt gegen das grundrechtliche Schutzinteresse, die Freiheit des einen gegen die Freiheit des anderen streitet, mögen dann in die jeweilige Interessengewichtung vor allem die Wertungen und althergebrachten Beurteilungskriterien des Zivilrechts einfließen.162
157
Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, § 823, Rn. 95 ff. mit zahlreichen Nachwei-
sen. 158 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 82; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 118; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 233, 234; Zückhaltend gegenüber der Anwendung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Auslegung zivilrechtlicher Normen auch Looschelders, VersR 1999, S. 141 (144). 159 Vgl. Isensee, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (255 ff.). 160 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 51. 161 So erwähnt der Bundesgerichtshof das Untermaßverbot keinmal, das Bundesverwaltungsgericht und das Bundessozialgericht jeweils nur einmal [BVerwG, NVwZ 2006, S. 817 (820); BSG, Urteil vom 06. 09. 2005, Az: 14 REg 1/95, Juris, S. 7]. 162 Vgl. Preis, NZA 1997, S. 1256 (1257). Dagegen ist Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 233, 234 der Ansicht, daß Abwägungen im Rahmen zivilrechtlicher Generalklauseln nicht nach verfassungsrechtlichen Maßstäben, sondern lediglich nach zivilrechtlichen Maßstäben erfolgen sollen. Das Abwägungsergebnis sei nicht verfassungsdeterminiert, sondern der gerichtlichen Privatrechtsanwendung aufgegeben.
I. Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts
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Zwar schließen diese Überlegungen das Untermaßverbot als Instrument des Verfassungsgerichts zur Kontrolle der Fachgerichte nicht aus. Daß den (Zivil-) Richter bei der Auslegung von wertungsbedürftigen Normen jedoch lediglich die gleiche justitiable Bindung an die verfassungsrechtliche Schutzpflicht wie den Gesetzgeber trifft, muß allein schon deshalb bezweifelt werden, weil ihm nicht das gewichtige Demokratieprinzip zur Seite steht, und zudem die zu beantwortenden Fragen aufgrund der gesetzlichen Struktur konkreterer Natur, also erheblich weniger komplex sind.163 Gegen eine strikte Mindestgrenze spricht zudem, daß der Gesetzgeber bei Generalklauseln bewußt Einbruchstellen für grundrechtliche Wertungen zugelassen bzw. vorgesehen hat. Die Verfassung fordert in diesem Fall Schutzpflichten nur in dem rechtlichen Rahmen ein, den der Gesetzgeber bewußt offen gelassen hat.164 Damit entschärft sich aber das Problem, daß ein Mehr an Schutz und damit Eingriff von der Verfassung unmittelbar selbst veranlaßt wird. Unabhängig davon ist die genaue Reichweite von Schutzpflichten im Zivilrecht auch umstritten und stellt einen eigenständigen Problemkreis dar.165 Nicht zuletzt ist auch zu beachten, daß das Untermaßverbot ganz überwiegend unter dem Gesichtspunkt diskutiert wird, ob der Gesetzgeber zu mehr Aktivität verpflichtet wird.166 Auch die erwähnten Urteile der Fachgerichte erörtern das Untermaßverbot in fast allen Fällen im Zusammenhang damit, ob der Gesetzgeber seine Schutzpflicht ausreichend erfüllt hat.167 Damit soll nicht gesagt werden, daß von einem Untermaßverbot bei der Auslegung des einfachen Zivilrechts grundsätzlich nicht gesprochen werden kann. Jedoch ist es aufgrund der geringeren Paßgenauigkeit, des unterschiedlichen Gewährleistungsgehaltes sowie aufgrund der überwiegend definitorischen Bezugnahme auf den Gesetzgeber von dem Untermaßverbot zu trennen, Ähnlich Dietrich, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, Einleitung, Rn. 44; vgl. auch Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung S. 55, die der Ansicht sind, daß das Funktionengefüge zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten bei weitem nicht so problematisch ist wie das Verhältnis zum Gesetzgeber. 164 Kritisch zur Auslegung des einfachen Rechts im Lichte der grundrechtlichen Schutzfunktion Enders, Der Staat 35 ( 1996), S. 351 (357 f.). 165 Vgl. dazu Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 353 ff. 166 Vgl. hierzu exemplarisch die Definition des Untermaßverbotes in: Wörterbuch der Polizei/Schäfers (Hrsg.: Martin H.W. Möllers.), S. 1689, die sich ausdrücklich nur auf den Gesetzgeber bezieht. Vgl auch Dietlein, in: Stern Staatsrecht IV/1, S. 1913; Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 (267); Lee, in: FS für Starck, S. 297 (300). 167 Zur angenommenen Einhaltung des Untermaßverbotes beim Jugendschutz im Hinblick auf den bayrischen Glücksspielstaatsvertrag VGH Müchen, Beschluss vom 19. 09. 2008, Az: 10 CS 08.1831, Juris Rn. 36; im Bereich des Sozialrechts: BSG, Urteil vom 22. 04. 2008, Az: B 1KR 10/07 R, Juris, Rn. 45; BSG, Urteil vom 06. 09. 2005, Az: 14 REg 1/95, Juris, S. 7; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. 06. 2008, Az: L 1 U 3732/07, Juris, S. 9; VGH München, NVwZ 1998, S. 419 (420); LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 05. 2006, BeckRS 2006, 42908, S. 11; LSG Nordrhein-Westfalen, BeckRS 2006, 42814, S. 3; VG Bremen, ZFSH/SGB 2006, S. 481 f.; VG Bremen, Urteil vom 27. 01. 2006, Juris, S. 6; SG Chemnitz, Urteil vom 12. 01. 2006, Juris, S. 5; SG Schleswig, SAR 2005, S. 79 – 82. 163
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
das den Gesetzgeber trifft. Aus diesem Grunde beschränkt sich die vorliegende Arbeit im Folgenden auf die umstrittene Problematik, wann der Gesetzgeber gegen das Untermaßverbot verstößt.
II. Konkrete Diskussionsfelder des Untermaßverbotes in der Literatur In dem folgenden Abschnitt soll untersucht werden, bei welchen konkreten Rechtsproblemen das Untermaßverbot besondere Berücksichtigung findet. Da, wie das Bundesverfassungsgericht selbst sagt, Schutzpflichten umfassend wirken und in jedem Rechtsgebiet bedeutsam sind, kann diese Darstellung des Untermaßverbots nur einen kleinen Teil der schutzpflichtenrelevanten Fälle erfassen.168 Ziel des folgenden Abschnittes ist es vielmehr, aufzuzeigen, inwieweit sich das Untermaßverbot inzwischen in der Literatur durchgesetzt hat. Da mit ihm, anders als bei der Formulierung bloßer Schutzpflichten, automatisch der handfeste Vorwurf des verfassungswidrigen Schutzdefizits verbunden ist, soll zudem konkret aufgezeigt werden, inwieweit in der Literatur bzw. in der gesellschaftlichen Debatte versucht wird, rechtspolitische Vorstellungen anhand des Untermaßverbotes zu formulieren und durchzusetzen.
1. Lebens- und Gesundheitsschutz, Umwelt- und Tierschutz Der Schutz des Staates für Leben und Gesundheit stellt zusammen mit dem Arbeitsrecht das größte Anwendungsgebiet des Untermaßverbotes dar. Besonders umstritten ist dabei, inwieweit die neuen Möglichkeiten der Biomedizin gegen das Gebot des Lebens- und Würdeschutzes des Grundgesetzes verstoßen. Ein erheblicher Teil der Literatur geht davon aus, daß bereits schon das Grundgesetz selbst die Präimplantationsdiagnostik, die Forschung an überzähligen Embryonen169 oder den Import von embryonalen Stammzellen verbietet.170 Umstritten sind außerdem derzeit noch nicht mögliche Behandlungsformen wie das therapeutische Klonen171 oder die Genthera168 Auch mag es Fälle geben, in denen die Literatur einen Verstoß gegen Schutzpflichten annimmt, ohne jedoch das Untermaßverbot zu nennen. 169 Weitgehend Einigkeit besteht dagegen darin, daß die gezielte Herstellung von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken verfassungswidrig ist. A.A. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 98. 170 So Hillgruber, in: FS für Link, S. 637 (647); Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 95 ff.; Stern, in: Stern, Staatsrecht IV, S. 38 f. Kritisch dazu: Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art.1, Rn. 92 – 115; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GGKommentar I, Art. 1, Rn. 93 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 21. 171 Ablehnend Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 100; Höfling, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 25; Stern, in: Stern, Staatsrecht IV, S. 38 f. Aufgeschlossen dagegen: Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 21; Dreier, in:
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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pie172. Auch wenn diesbezüglich vergleichsweise selten direkt vom Untermaßverbot die Rede ist, stellt jedoch die Behauptung, daß das Grundgesetz diesbezügliche Verbote verlange, in der Sache nichts anderes dar, als die Behauptung eines Verstoßes gegen das Untermaßverbot. Soweit in der Literatur direkt auf das Untermaßverbot Bezug genommen wird, wird es überwiegend dazu verwendet, die proklamierten verfassungsrechtlichen Verbote zu begründen.173 Nur vereinzelt wird dagegen auf das Untermaßverbot als eine äußerste Grenze des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums verweisen.174 In diesem Sinne äußern sich etwa bei der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik die Vertreter des Minderheitenvotums175 der Enquete-Kommission des Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin“. Paare, die einen Kinderwunsch hegten, gleichzeitig aber mit einem besonders hohen genetischen Risiko belastet seien, befänden sich in einer besonderen Konfliktsituation. Für solche Risikopaare sollte in eng begrenzten Ausnahmefällen deshalb die Präimplantationsdiagnostik straflos gestellt werden. Hier sei zu beachten, daß strafrechtliche Verbote, die um des Willen des Untermaßverbotes erforderlich seien, nur das ethische Minimum einer Gesellschaft sichern sollen. Nur zu diesem Zweck sei das Strafrecht als schärfste Waffe des Staates einzusetzen und nicht etwa dazu, besondere ethische Leistungen zu erzwingen.176 Darüber hinaus wird im Schrifttum177 sowie der gesellschaftlichen Debatte178 auf das Untermaßverbot zurückgegriffen, um den Vorwurf zu untermauern, die jetzige Dreier, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 112 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 99. 172 Überwiegend kritisch aber differenzierend: Stern, in: Stern, Staatsrecht IV, S. 41; Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 101; Positiver: Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 107; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 102. 173 So für die Präimplantationsdiagnostik: Faßbender, NJW 2001, S. 2745 (2751); im Ergebnis auch Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 95 – 96,117 – 118, 131 f; Position der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. zur Präimplantationsdiagnostik vom 4. Dezember 2001, S. 25, abrufbar unter www.Lebenhilfe.de; hinsichtlich des Imports embryonaler Stammzellen, Haltern/Viellechner, JuS 2002, S. 1197 (1203). 174 In diese Richtung Suerbaum, NJW 2000, S. 849 (851); Hufen, in: Bericht der BioethikKommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 23. August 2002, S. 70, abrufbar unter www.justiz.rlp.de . 175 Von Renesse/Schmidt-Jortzig/Tanner, Votum A der Minderheit zur eingeschränkten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9020, S. 107 f. 176 Von Renesse/Schmidt-Jortzig/Tanner, Votum A der Minderheit zur eingeschränkten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, Deutscher Bundestag, Drucksache 14/9020, S. 109. 177 Tröndle, NJW 1995, S. 3009 (3012). 178 Erklärung des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz vom 26. Januar 1998 zur Diskussion um die kirchlichen Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen im Zusammenhang des Schreibens von Papst Johannes Paul II. vom 11. Januar 1998, S. 2, abrufbar unter www.uni-tuebingen.de/kirchenrecht; Büchner, Vorsitzender der Juristenvereinigung Lebensrecht auf der CDL-Landesversammlung NRW am 18. 05. 1996 in Köln, S. 2 der Abschrift des
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
Regelung des § 218 StGB zum Schwangerschaftsabbruch sei verfassungswidrig. Angesichts der nach wie vor hohen Abtreibungszahl von 120.000 Abtreibungen pro Jahr179 wird vorgebracht, daß sich das derzeitige Schutzkonzept des Gesetzgebers als nicht hineichend effektiv erwiesen habe.180 In diesem Zusammenhang wird zudem die Auffassung vertreten, daß eine arzneimittelrechtliche Zulassung der Abtreibungspille Myfegyne mit dem Untermaßverbot nicht vereinbar sei.181 Von einem Verstoß gegen das Untermaßverbot ging im Ergebnis auch ein Antrag von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahre 2004 aus, der sich gegen die Vornahme von Spätabtreibungen von Föten wendete, bei denen zuvor eine zukünftige Behinderung im Rahmen einer pränatalen Diagnostik festgestellt wurde.182 Die Abgeordneten kritisierten, daß diese Fälle in der Praxis wegen der besonderen psychischen Belastung der Frau unter den Tatbestand der medizinischen Indikation gefaßt würden, und deshalb weder eine Frist für die Abtreibung noch das Erfordernis einer psychosozialen Beratung existierten.183 Auch im Bereich des Gesundheitsschutzes wird mit dem Untermaßverbot argumentiert, um defizitäre gesetzliche Regelungen, vor allem im Hinblick auf Schadstoffbelastungen geltend zu machen.184 Im einzelnen wird die Ansicht geäußert, das Untermaßverbot verlange intensiveren Schutz vor Feinstaub,185 Ozonbelastung,186 Verkehrs-187 und Fluglärm,188 Mobilfunkanlagen,189 Phyto- und Mykoöstrogenen im Ab- und Trinkwasser190 sowie vor den Gefahren des Passivrauchens.191 In Referates, abrufbar unter www.cdl-online.de/archiv/abtrei/buech.htm; Ders., in: Medizin und Ideologie 2000, S. 9 (9); Roos, in: Medizin und Ideologie 1998, S. 28 (29). 179 FAZ vom 13. 07. 2007, S. 10. 180 Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 94. 181 Starck, NJW 2000, S. 2714 (2716). 182 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/3948, S. 2. 183 Deutscher Bundestag, Drucksache 15/3948, S. 3. 184 Zunehmend wird das Untermaßverbot auch bei der Auslegung umwelrechtlicher Gesetze erwähnt. Vgl. etwa Pape, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht III, § 5 WHG, Rn. 8a. 185 Willand/Buchholz, NVwZ 2007, S. 171 (173). 186 Wollenteit/Wenzel, NuR 1997, S. 60 (63); Schlette, JZ 1996, S. 327 (330); Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (245 f.). 187 Peter C. Mohr, Schutz vor Straßenverkehrslärm – Rechtslage und Defizite – abrufbar unter www.mohrpartner.de. 188 Beckers, Überlegungen zur Verfassungskonformität der Behandlung von Fluglärmbetroffenen in Deutschland, Unterpunkt 3.1., abrufbar unter www.fluglaerm.de. 189 Kniep, Problematisches Zusammenwirken beim Grundrechtsschutz zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten, S. 16, abrufbar unter www.mobilfunk-buergerforum.de; Herkner, Mobilfunkanlagen – Gerichtliche Entscheidungen aus kommunaler Sicht, S. 8, abrufbar unter www.kanzlei-herkner.de. Vgl. ausführlich zu der verfassungsrechtlichen Würdigung von Mobilfunkanlagen, Determann, Neue gefahrverdächtige Technologien als Rechtsproblem, S. 210 ff. 190 Kienle, NVwZ, 1996, S. 871 (871). 191 Stettner, ZG 2007, S. 156 (161 f.).
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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diesem Zusammenhang wird auch vorgebracht, daß die Ausrichtung des Gesundheitsschutzes an einem Durchschnittsmenschen unzulässig sei, weil damit dem Schutzbedürfnis empfindlicher Gruppen in der Bevölkerung nicht ausreichend Rechnung getragen werde.192 Vor allem wird bemängelt, daß die vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Evidenzkontrolle dem Untermaßverbot jede effektive Steuerungswirkung nehme.193 Angesichts der unzähligen umweltrechtlichen Regelungen sei es stets möglich festzustellen, daß der Gesetzgeber eine Schutzregelung getroffen habe, die nicht gänzlich ungeeignet bzw. völlig unzulänglich ist.194 Andere Stimmen verweisen dagegen auch auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes auf den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.195 So könnten beispielsweise Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht mit dem verfassungsrechtlichen Untermaßverbot begründet werden.196 Darüber hinaus wird in der Literatur auf die Bedeutung des Untermaßverbotes bei der Bestimmung des notwendigen Umwelt-197 und Tierschutzes198 als Staatszielbestimmungen des Art. 20 a GG hingewiesen.
2. Arbeitsrecht Am verbreitetsten ist das Untermaßverbot auf dem Gebiet des Arbeitsrechts. Dies ist auch das Rechtsgebiet, in dem das Untermaßverbot von den zuständigen Fachgerichten, hier also den Arbeitsgerichten, bisher mit Abstand am meisten geprüft wurde.199 Im arbeitsrechtlichen Schrifttum ist die Thematisierung des Untermaßver192 Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen „Umwelt und Gesundheit – Risiken richtig einschätzen“ vom 15. Dezember 1999, Bundestags-Drucksache 14/2300, S. 47. 193 Steinberg, in: Van Oyen/Möllers, Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, S. 426; Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 ( 244 f., 262 f.) Apell, Staatliche Zukunftsund Entwicklungsvorsorge, S. 114 f. 194 Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1988). 195 Storost, NVwZ 2004, S. 257 ( 258, 259). 196 So Fritz Ossenbühl auf dem 11. Trierer Kolloquium zum Umwelt- und Technikrecht, zitiert nach Uwer, VersR 1995, S. 1420 (1421). 197 Czybulka, NuR 2001, S. 367 (373); Schrader NVwZ 1997, S. 943 (948). 198 Vgl. Faller, Staatsziel Tierschutz, S. 228, 229; Stelkens, NuR 2003, S. 401 (404). 199 Vgl. BAG, BB 2008, S. 2016 (2018); BAG, NJW 2008, S. 2669 (2670); BAG vom 11. 07. 2007, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 11zu § 57 a HRG, Rn. 22; BAG, NJW 2007, S. 1018 (1021, 1022); BAG, NZA 2007, S. 453 (456); BAG vom 18. 04. 2007, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 3 zu § 14 TzBfG, Rn. 18; BAG, NZA 2007, S. 871 (873); BAG, BB 2007, S. 329 (330, 331); BAG, BB 2006, S. 222 (224); BB 2005, S. 159, (161); LAG Hamm vom 03. 04. 2008, Az: 11 Sa 1918/07, BeckRS 2008, 55455, S. 5; LAG Hamm vom 23. 08. 2007, Az: 11 Sa 348/07, BeckRS 2007, 48041, S. 6; ArbG Hamburg vom 21. 05. 2007, Az: 26 Ca 241/02, BeckRS 2008, 56067, S. 8; LAG Berlin vom 14. 05. 2003, Az: 4 TaBV 236/03, Juris, Rn. 12; Hessisches LAG vom 08. 07. 1999, Az: 5 Sa 2702/98, Juris, Rn. 55; ArbG Berlin vom 06. 09. 2000, Az: 31 Ca 6027/ 00, Juris, Rn. 35. In den Entscheidungen wurde jedoch nur ausnahmsweise ein Verstoß gegen das Untermaßverbot angenommen.
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
botes mittlerweile sehr weit fortgeschritten und nicht mehr zu überschauen. Die starke Verbreitung und Akzeptanz liegt zweifellos daran, daß die Arbeitnehmer als besonders schutzwürdig angesehen werden, ist doch der Erhalt des Arbeitsplatzes für den einzelnen Arbeitnehmer existentiell und die konkrete Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen für ihn von großer Wichtigkeit. Um diesen Schutz verfassungsrechtlich zu fundieren und auszubauen, werden die objektiv-rechtlichen Schutzpflichten dankbar aufgegriffen. Das grundrechtliche Untermaßverbot bietet dabei nicht nur die Möglichkeit, den Gesetzgeber für Arbeitnehmerrechte in die Pflicht zu nehmen, sondern auch die Wertungsmöglichkeiten im Rahmen der Auslegung einfachen Rechts für einen intensiveren Arbeitnehmerschutz in Anspruch zu nehmen. Das plakative und justitiable Untermaßverbot bietet also einen handfesten Anknüpfungspunkt für Schutzforderungen.200 Freilich besteht auch im Arbeitsrecht Streit und Unklarheit darüber, welche Wirkkraft dem Untermaßverbot beizumessen ist.201 Eine beachtliche Ansicht geht dabei davon aus, daß das Untermaßverbot nicht die gleichen strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen beinhaltet wie das Übermaßverbot.202 Andere Autoren sprechen dagegen enger von einem angemessenen Schutz, der auf einer sorgfältigen Abwägung beruhen müsse203, oder von praktischer Konkordanz, bei der beide Positionen zu optimaler Wirksamkeit gelangen müßten. Konkret taucht die Frage des unterschiedlichen Gewährleistungsgehaltes der beiden Verbote etwa bei dem Streit auf, ob die Tarifvertragsparteien unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Von der früher herrschenden Meinung wurde diese Annahme darauf gestützt, daß es sich bei den Regelungen eines Tarifvertrages gemäß § 1 I TVG ausdrücklich um Rechtsnormen handelt.204 Damit seien Tarifverträge Gesetze im materiellen Sinne und unterfielen Art. 1 III GG.205 Die Regelungen des Tarifver-
200 Insoweit ist allerdings zu konstatieren, daß das Arbeitsrecht insgesamt politisch umkämpft ist, und daß das Verfassungsrecht von beiden Seiten gerne dazu benutzt wird, eigene Positionen zu untermauern oder die Gegenposition zu Fall zu bringen. 201 Vgl. Lindner, RdA 2005, S. 166 (167); Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 54; Oetker, Bestandsschutz, S. 33. 202 Vgl. Burkiczak, RDA 2007, S. 17 (19); Papier, RdA 2000, S. 1 (5); Zachert, in: Arbeitsrechtliche Praxis, § 1 TVG, Nr. 243, Unterpunkt III 1; Wolter, RdA 2002, S. 218 (223); Oetker, RdA 1997. S. 9 (19); Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 54; differenzierend: Dietrich, RdA 2001, S. 110 (116); in Bezug auf das Sonderproblem der Nachwirkung von Tarifverträgen: Klebeck, Arbeitsrechtliche Praxis, § 4 TVG, Nr. 41, Unterpunkt III. 203 Von Finckenstein, Freie Unternehmerentscheidung und dringende betriebliche Erfordernisse bei der betriebsbedingten Kündigung, S. 171. 204 BAGE 1, 258 (263); BAGE 4, 240 (250 f.); aus jüngerer Zeit BAG, RdA 2001, S. 110 ff.; Schaub, in: Schaub/Koch/Linck, Arbeitsrechts-Handbuch, § 198, Rn. 16; Waltermann, RdA 1990, S. 138 (141, 144); Wiedemann, in: Wiedemann, TVG, Einleitung, Rn. 205 ff.; Gamilscheg, Die Grundrechte im Arbeitsrecht, S. 103 – 105; Nikisch Arbeitsrecht II , § 69 IV 1, S. 227 ff. 205 BAGE 1, 258 (263).
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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trages seien folglich als Grundrechtseingriffe einer strengen abwehrrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen.206 Die Gegenansicht geht demgegenüber lediglich von einer mittelbaren Grundrechtswirkung bzw. davon aus, daß nur die grundrechtliche Schutzpflichtendimension einschlägig ist.207 Da die Tarifparteien in erster Linie als privat handelnde Vertragspartner agierten und demzufolge nur das zwischen Privaten geltende schwächere Untermaßverbot zum Zuge käme, sei der Spielraum der Tarifparteien entsprechend größer.208 Dabei wird jedoch von weiteren Stimmen betont, daß auch bei Anerkennung eines größeren Spielraumes das Untermaßverbot jedenfalls vom Gesetzgeber verlange, daß das staatliche Regelungssystem geeignet sein müsse, die strukturelle Unterlegenheit der Arbeitnehmer beim vertraglichen Aushandeln der Arbeitsbedingungen durch Kollektivverträge auszugleichen.209 Dementsprechend sei es verfassungsrechtlich nicht möglich, die Bindung der Mitglieder an Tarifverträge so abzusenken, daß die Verhandlungsposition der Tarifpartner untergraben werde.210 In diesem Zusammenhang wird auch darüber diskutiert, ob es das Untermaßverbot zulasse, § 4 III TVG dahingehend zu ergänzen, daß ein Abweichen von Tarifverträgen zugunsten des Arbeitnehmers auch dann noch vorliegt, wenn ihm von Seiten seines Arbeitgebers mit Zustimmung der Arbeitnehmerschaft ein Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen zugesagt, im Gegenzug aber tarifvertraglich vereinbarte Leistungen, wie beispielsweise der Arbeitslohn, abgesenkt würden. Entsprechende Gesetzesvorschläge hatten in der 15. Legislaturperiode die CDU- und FDP-Opposition in den Bundestag eingebracht.211 Während eine Ansicht eine solche Regelung für verfassungswidrig hält,212 geht die Gegenmeinung davon aus, daß kein Verstoß gegen das Mindestmaß an Arbeitnehmerschutz vorliege.213 Vereinzelt wird umgekehrt sogar das Untermaßverbot gegen die zwingende Geltung von Tarifabschlüssen ins Spiel gebracht. Be206
Löwisch, SAE 2001, S. 295 (297). Dagegen soll nach dem BAG und einem Teil der Literatur der Prüfungsmaßstab für Betriebsvereinbarungen wieder enger sein. Hier gelte insbesondere aufgrund des Verweises in § 77 I, II 1BetrVG nicht das großzügigere Untermaßvebot, sondern die allgemeine Verhältnismäßgkeitskontrolle. Vgl. BAG, NZA 2007, S. 453 (456); Linsenmaier, RDA 2008, S. 1 (8). 208 Vgl. Burkiczak, RDA 2007, S. 17 (19); Papier, RdA 2000, S. 1 (5); Blomeyer, EWiR 2001, S. 433 (434); Zachert, in: Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 243 zu § 1 TVG, Unterpunkt III 1.; Wolter, RdA 2002, S. 218 (222, 223); Endres, Schwellenwertregelungen im Arbeitsrecht, S. 29; differenzierend Dietrich, RdA 2001, S. 110 (116); Franzen, RdA 2005, S. 241 (243, 244). Fastrich, macht in: FS für Richa rdi, S. 130 – 132, geltend, daß das Untermaßverbot die Tarifautonomie jedoch mehr einschränke als die Privatautonomie. 209 Dietrich, RdA 2002, S. 1 (17); Blank, AuR 2003, S. 401 (405). 210 Vgl. Dietrich, RdA 2002, S. 1 (17); Brecht, Die Umsetzung von Tarifverträgen auf Betriebsebene, S. 278, 281. Dagegen Hromadka, NJW 2003, S. 1273 ff. 211 Vgl. Bundestagsdrucksachen 15/1225; 15/1182. Die Vorschläge der Opposition fanden im Bundestag (freilich) keine Mehrheit. 212 Vgl. Dietrich, RdA 2002, S. 1 (17); Söllner, Sonderbeilage zu NZA, Heft 24/2000, S. 33 (34 f.). Die beiden Stimmen sehen jedoch das Problem vorwiegend als rechtfertigungsbedürftigen Eingriff des Staates in Art. 9 III GG. 213 Höfling, NJW 2005, S. 469 (473). 207
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
gründet wird die These damit, daß der Arbeitnehmer oftmals aufgrund von Tarifabschlüssen im Ergebnis schlechter dastehe, als wenn er ohne Schutzherrn wäre.214 Demzufolge sei der Gesetzgeber keineswegs daran gehindert, den Arbeitnehmer vor denjenigen zu schützen, die ihr Dasein seinem Schutzbedürfnis verdankten.215 Ein weiteres Themenfeld im Arbeitsrecht, bei dem das Untermaßverbot häufig erörtert wird, ist das Kündigungsschutzrecht. Dabei nimmt Art. 12 I GG eine Doppelrolle ein.216 Auf der einen Seite schützt Art. 12 I GG den Arbeitgeber vor einer übermäßigen Einschränkung seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit. Darüber hinaus schützt die Norm gleichzeitig auch das Interesse des Arbeitnehmers am Bestand seines Arbeitsplatzes. Insoweit gilt das Untermaßverbot.217 Wie praktisch auf allen Gebieten des Arbeitsrechts handelt es sich auch beim Kündigungsschutz um eine typische Grundrechtskollision.218 Ganz überwiegend wird in der Rechtsprechung und Literatur dabei davon ausgegangen, daß das Kündigungsschutzrecht den verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht wird, also weder gegen das Übermaßverbot noch gegen das Untermaßverbot verstößt.219 Eine Mindermeinung hält dagegen die Nichtanwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes bei Kleinbetrieben für verfassungswidrig. Allerdings wird die Annahme der Verfassungswidrigkeit vor allem auf einen Verstoß gegen Art. 3 I GG gestützt.220 Ein darüber hinausgehender Verstoß gegen das Untermaßverbot wird nur angedeutet,221 nicht aber explizit ausgesprochen. Bei der Diskussion, inwiefern der Bestandsschutz des Arbeitsplatzes zukünftig gesetzlich zugunsten einer Abfindung gelockert werden könnte, wird in der Literatur angemerkt, daß bei deren Errechnung eine Berücksichtigung nur des Lebens- bzw. 214
Hromadka, NJW 2003, S. 1273 (1277). Hromadka, NJW 2003, S. 1273 (1277). 216 Preis, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, A. Geschichtliche Grundlagen und verfassungsrechtliche Entwicklung, Rn. 22. Ausführlich zur Prüfung des Kündigungsschutzes am Untermaßverbot: Bengsch, Der verfassungsrechtlich geforderte Mindestkündigungsschutz, S. 85 ff. 217 Hergenröder, in: Münchener Kommentar zum Arbeitsrecht, Einleitung, Rn. 20; Preis, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, A., Rn. 22. A.A. Lindner, RdA 2005, S. 166 (167), der dem Kündigungsschutz keine grundrechtliche Relevanz zusprechen will, sondern insoweit nur das Sozialstaatsprinzip für einschlägig hält. Dies belasse einen größeren Gestaltungsspielraum als die schutzpflichtendogmatische Figur des Untermaßverbotes. Für eine Begrenzung des Untermaßverbotes auf einen bloßen Mindestkündigungsschutz: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 434 f. sowie S. 460 f. 218 Vgl. Hergenröder, ZfA 2002, S. 355 (369). 219 BVerfGE 97, 169 f.; BVerfGE 92, 140 (150); 84, 133 (146); Preis, in: Ascheid/Preis/ Schmidt, Kündigungsrecht, A. Geschichtliche Grundlagen und verfassungsrechtliche Entwicklung, Rn. 24; Dietrich, in: Erfurter Kommentar, Art. 12, Rn. 34; Ascheid/Oetker, in: Erfurter Kommentar, KschG, Rn. 5; Von Finckenstein, Freie Unternehmerentscheidung und dringende betriebliche Erfordernisse bei der betriebsbedingten Kündigung, S. 193. 220 Eingehend Weigand, in: KR, Gemeinschaftskommentar, § 23 KschG, Rn. 16 – 18 m.w.N. 221 Vgl. Weigand, in: KR, Gemeinschaftskommentar, § 23 KschG, Rn. 18. 215
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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Dienstalters wohl gegen das Untermaßverbot verstoßen würde.222 Insoweit müßten auch die besonderen bei dem Arbeitnehmer gegebenen Einzelumstände berücksichtigt werden, wie dessen Unterhaltspflichten oder wirtschaftliche Lage. Einen Verstoß gegen das Untermaßverbot nimmt ein Teil der Literatur zudem bei sogenannten Sperrabreden unter Arbeitgebern an. Solche Abreden beinhalten, daß Anstellungen von Arbeitnehmern des einen Arbeitgebers bei anderen Arbeitgebern ausgeschlossen sind oder nur zum gleichen Gehalt vorgenommen werden sollen.223 In der Praxis sind Sperrabreden insbesondere zwischen Kaufhäusern im Hinblick auf Verkäuferinnen bekannt geworden.224 In der Regel erfahren die jeweiligen Arbeitnehmer nicht, daß solche Abreden existieren. Sperrabreden sind gemäß § 75 f HGB nicht ausgeschlossen, auch wenn sie gemäß § 75 f S. 2 HGB ausdrücklich rechtlich nicht durchsetzbar sind. M. Eggert ist der Ansicht, daß hier ein gesetzliches Schutzdefizit bestehe, das sich letztlich nur durch Bußgelder oder Entschädigungszahlungen für solche Abreden wirksam beheben lasse.225 Ansonsten spielt das Untermaßverbot im Arbeitsrecht, anders als in anderen Rechtsgebieten, vor allem auch bei der Auslegung des einfachen Rechts eine Rolle. Aufgrund der Begrenzung der vorliegenden Arbeit auf das den Gesetzgeber treffende Untermaßverbot ist hierauf nur kurz einzugehen. So werden etwa von Autoren eine Begrenzung der arbeitsgerichtlichen Kontrolle bei betriebsbedingten Kündigungen auf einen bloßen Willkürmaßstab,226 ein generelles Verbot jeglicher Nebentätigkeit durch den Arbeitgeber227 sowie im Einzelfall zu weitgehende Befristungen228 von Arbeitsverhältnissen für unvereinbar mit dem Untermaßverbot gehalten. Aus der darüber hinausgehenden Literatur sei zudem die Erörterung des Untermaß-
222 223 224
Kamanabrou, RdA 2006, S. 333 (334, 339). Eggert, Sperrabreden unter Arbeitgebern, S. 258 – 259. Von Hoyningen-Huene, in: Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch I, § 75 f,
Rn. 1. 225
Eggert, Sperrabreden unter Arbeitgebern, S. 258 – 259. Kühling, AuR 2003, S. 92 (95); kritisch auch Stein, BB 2000, S. 457 (463). Nach Kiel, in: Ascheid/Preis/Schmidt, Kündigungsrecht, § 1 KSchG, Rn. 448, ist die durch das Untermaßverbot gezogene Grenze verletzt, wenn das Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers unberücksichtigt oder unverhältnismäßig vernachlässigt wurde. 227 Blomeyer, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 55, Rn. 26. 228 So hat das BAG, BB 2007, S. 329 (330,331) entschieden, dass eine Auslegung von § 14 I 2 Nr. 7 TzBFG, die lediglich die Anbringung bestimmter Haushaltmittel verlange, gegen das Untermaßverbot verstößt. Insoweit bedürfe es einer konkreten Zweckbestimmung für den jeweiligen Haushaltstitel. Vgl. zum Untermaßverbot und Befristungen ebenfalls: BAG, BB 2008, S. 2016 (2017); BAG vom 11. 07. 2008, Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 11 zu § 57 a HRG, Rn. 22; BAG vom 18. 04. 2007, Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 3 zu § 14 TzBFG, Rn. 18; BAG, NZA 2007, S. 871 (873); LAG Hamm vom 03. 04. 2008, Az: 11 Sa 1918/07, BeckRS 2008, 55455, S. 5; LAG Hamm vom 23. 08. 2007, Az: 11 Sa 348/07; BeckRS 2007, 48041, S. 6; Mennemeyer/Keysers, NZA 2008, S. 670, (673); Fuchs, in: Beckscher Online-Kommentar, § 620, Rn. 29. 226
108
2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
verbotes beim Schutz von arbeitnehmerähnlichen Personen,229 bei Arbeitskämpfen230 oder bei der Begrenzung von Schadensersatzansprüchen des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer erwähnt.231
3. Persönlichkeitsrecht, Datenschutz Die Frage, ob der verfassungsrechtliche Mindestschutz des Persönlichkeitsrechts sowie der personalen Selbstbestimmung vor Eingriffen Dritter ausreichend gewährleistet ist, wird in der Literatur im wesentlichen als ein Problem der Auslegung des einfachen Rechts behandelt.232 Überlegungen, ob weitergehende gesetzliche Schutzmaßnahmen von dem Untermaßverbot gefordert werden, sind die Ausnahme und am ehesten noch im Bereich des Datenschutzes zu finden. So hinterfragt etwa M. Kloepfer die Privilegierung von Presseredaktionen bei der Einhaltung des Datenschutzes. Gemäß § 41 I BDSG sind Medien in geringerem Umfang an das Bundesdatenschutzgesetzes gebunden, um die Redaktionsarbeit, die auch das Sammeln von Daten über Personen zum Gegenstand hat, nicht über Gebühr staatlich einzuengen. Kompensiert werden soll die geringere Bindung durch eine Selbstverpflichtung zum Datenschutz gegenüber dem Deutschen Presserat, die die meisten Zeitungs- bzw. Zeitschriftenverlage unterzeichnet haben.233 Kloepfer gibt zu Bedenken, daß zwar bis jetzt noch kein Verstoß gegen das Untermaßverbot erkennbar sei, sich der Gesetzgeber jedoch seiner Gewährleistungspflicht nicht entziehen dürfe, wenn Mißstände in Redaktionen offenkundig werden sollten.234 Ferner wird von A. Roßnagel, A. Pfitzmann und H. Garstka in einem Gutachten für das Bundesinnenministerium der Vorschlag gemacht, öffentliche und nicht-öffentliche Stellen beim Datenschutz gleichzustellen.235 In Zeiten vermehrter technischer Möglichkeiten sowie zunehmender Privatisierung gehe mittlerweile die größere Gefahr einer Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung von Privaten aus.236 Zwar wird auch hier nur auf das Untermaßverbot verwiesen und nicht der hand229
Schubert, Der Schutz der arbeitnehmerähnlichen Personen, S. 117 f.; Linnenkohl, BB 2001, S. 42 (45); Kreuder, Anmerkung zu BAG vom 16. 07. 1997, Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 37 zu § 5 ArbGG 1979, Unterpunkt 3. Ablehnend: Neuvians, Anmerkung zu BAG vom 20. 01. 2004, Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 1 zu § 112 LPVG Rheinland-Pfalz, Unterpunkt 4. 230 Rieble, BB 2008, S. 1506 (1510); Otto, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band III, § 286, Rn. 2; Engels, Verfassung und Arbeitskampfrecht, S. 242, 300, 348. 231 Sandmann, Die Haftung von Arbeitnehmern, S. 120; Schlachter, Anmerkung zu BAG vom 27. 09. 2004, Arbeitsrechtliche Praxis, Nr. 103 zu § 611 BGB, Unterpunkt III. 232 Vgl. Ruffert, Vorrang des Privatrechts und Eigenständigkeit der Verfassung, S. 486; Stern, in: Stern, Band IV/1, S. 108. 233 Kloepfer, AfP 2005, S. 118 (119). 234 Kloepfer, AfP 2005, S. 118 (126). Allgemein zu Inhalt und Grenzen des Datenschutzes im Medienrecht: Calliess, AfP 2002, S. 465 ff. 235 Roßnagel/Pfitzmann Garstka, Modernisierung des Datenschutzrechts, S. 51, 52. 236 Roßnagel/Pfitzmann Garstka, Modernisierung des Datenschutzrechts, S. 51, 52.
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
109
feste Vorwurf eines Verstoßes erhoben.237 Die Ausführungen legen jedoch einen Schutzpflichtverstoß des Gesetzgebers überaus nahe.238 Gegen diese Einschätzung wendet sich ausdrücklich Ruffert mit dem Argument, daß das Persönlichkeitsrecht bei der Datenverarbeitung durch Private überbewertet werde.239 Über den grundrechtlichen Minimalschutz hinausgehende Gewährleistungen seien bei der Datenverarbeitung Privater nicht verfassungsdeterminiert.240 Der Gesetzgeber habe dem Untermaßverbot mit dem Erfordernis des überwiegenden Interesses Privater an der Datennutzung (§§ 28 ff. BDSG) ausreichend Rechnung tragen. Auch die nordrhein-westfälische Datenschutzbeauftragte teilt die Auffassung, daß die grundrechtlichen Schutzansprüche den Abwehransprüchen strukturell hinterher hinkten.241 Freilich knüpft sie an diese Analyse andere Folgerungen. Angesichts der Tatsache, daß das Grundgesetz nur wenige unverrückbare Privatisierungshemmnisse kenne, könnten sich aus diesem Umstand Schutzlücken in größerem Umfange ergeben. Für den Bereich des Fernmeldegeheimnisses habe der Staat allerdings seine Schutzpflichten mit der Schaffung der §§ 88, 44 TKG sowie § 206 StGB ausreichend erfüllt, wenn auch Verletzungen durch private Anbieter nicht ganz auszuschließen seien.242 Im Bereich des übrigen Persönlichkeitsrechtsschutzes wird ein gesetzliches Schutzdefizit seltener behauptet. In der Literatur wird insoweit vor allem die Einrichtung von sogenannten Babyklappen bzw. Zulassung anonymer Geburten als ein Verstoß gegen das Untermaßverbot gewertet, weil dadurch das Recht des Kindes auf Information über die eigene Abstammung243 sowie seine unterhalts- und erbrechtlichen Ansprüche vereitelt würden.244 Gleiches gelte für das Recht des Vaters auf Kennenlernen seines Kindes und den Umgang mit ihm.245
237
Roßnagel/Pfitzmann Garstka, Modernisierung des Datenschutzrechts, S. 48. Roßnagel/Pfitzmann Garstka, Modernisierung des Datenschutzrechts, S. 51, 52. 239 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 490. 240 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 491. 241 Sokol, Total transparent – Zukunft der informationellen Selbstbestimmung, S. 19, Düsseldorf 2006, abrufbar unter www.ldi.nrw.de; Bull, CuR 1998, S. 385 (IV 3.), verweist darauf, daß Schutzpflichten und Untermaßverbot eine bestimmte BDSG- Konstruktion nicht vorsähen. 242 Sokol, Total transparent – Zukunft der informationellen Selbstbestimmung, S. 18, 19, Düsseldorf 2006, abrufbar unter www.ldi.nrw.de. Vgl. zum Fernmeldegeheimnis nach der Privatisierung und den entsprechenden Schutzpflichten des Staates auch Groß, JZ 1999, S. 326 (330 f.). 243 Aus diesem Grund wird auch die heterologene Insemination bei Anonymität des Samenspenders überwiegend für verfassungswidrig gehalten. A.A. Dreier, in: Dreier, GGKommentar I, Art. 1, Rn. 93. 244 Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt und Kindesabgabe, S. 303, 304; Mielitz, Anonyme Kindesabgabe, S. 263 f. 245 Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt und Kindesabgabe, S, 304. 238
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
Darüber hinaus ist die Ansicht zu erwähnen, die in der Aufnahme von privaten Wohnhäusern per Satellit oder Hubschrauber durch private Unternehmen eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts erkennen will. Das Untermaßverbot lege diesbezüglich die Einführung eines gesetzlichen Verbots mit Erlaubnisvorbehalt nahe.246 In einem anderen Zusammenhang sieht Schmitt Glaeser vor dem Hintergrund des Untermaßverbotes ein Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht durch Fernsehsendungen wie „Big-Brother“.247 Daran, daß es noch nicht einmal gelänge, solche Sendungen zu verbieten, die eindeutig gegen die Menschenwürde verstießen, zeige sich die fehlende Sanktionsmöglichkeit im Medienbereich. Die Programmgrundsätze seien insoweit zu allgemein und weitmaschig formuliert.248 Ansonsten wird nach wie vor in der umfangreichen Literatur zum Persönlichkeitsrecht vorwiegend mit dem Begriff der Schutzpflicht operiert. Das liegt sicherlich daran, daß das Untermaßverbot, wie bereits erwähnt, bei der Auslegung des einfachen Rechts durch den nicht kontrollierenden Rechtsanwender weniger relevant ist, da es in allererster Linie ein verfassungsgerichtliches Kontrollinstrument darstellt. Gleichwohl wird das Untermaßverbot auch im Zusammenhang mit dem einfachrechtlichen Schutz des Persönlichkeitsrechts erwähnt.249 Insbesondere Isensee weist auf die Bedeutung des Untermaßverbotes beim Ehrschutz hin und kritisiert, daß dieser in der Vergangenheit vor allem durch das Verfassungsgericht im Konflikt mit der Meinungsfreiheit nicht ausreichend gewährleistet worden sei.250 Das Untermaßverbot verlange, daß der Schutzauftrag des Staates zwecktauglich und wirksam erfüllt werde. Diese Definition des persönlichkeitsrechtlichen Untermaßverbotes wird in der Literatur jedoch nicht durchgängig geteilt. So ist beispielsweise Wandt der Auffassung, daß sich Unternehmensvorstände bei Fragen von privaten Aktionären nach ihrem Einkommen im Rahmen von Hauptversammlungen (§ 131 AktG) nicht wirksam auf ihr Persönlichkeitsrecht berufen könnten, da ihnen in privaten Kollisionslagen nur das geringer wirkende Untermaßverbot zu Seite stünde.251 Da es sich hier um einen Konflikt über die einfachrechtliche Auslegung handelt, soll die Thematik nicht weiter vertieft werden. Hinsichtlich der Schutzpflicht des Gesetzgebers wird in diesem Zusammenhang allerdings richtigerweise darauf hingewiesen, daß das neu eingeführte Vorstandvergütungs-Offenlegungsgesetz (§ 285 Satz 1 Nr. 9 lit. a HGB) jedenfalls nicht vom Untermaßverbot verlangt wird.252 Vielmehr handelt es sich hierbei
246
Dorf, NJW 2006, S. 951 (956). Schmitt Glaeser, ZRP 2000, S. 395 (402). A.A. Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 114; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 153. 248 Schmitt Glaeser, ZRP 2000, S. 395 (402). 249 Baston-Vogt, Der sachliche Schutzbereich des zivilrechtlichen allgemeinen Persönlichkeitsrechts, S. 64 f., 302. 250 Isensee, in: FS für Kriele, S. 5 (32, 34, 46). 251 Wandt, DStR 2006, S. 1460 (1462). Wandt berief sich im Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes auf eine Vorwirkung des Vorstandvergütungs-Offenlegungsgesetzes. 252 Augsberg, ZRP 2005, S. 105 (105). 247
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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um einen rechtfertigungsbedürftigen staatlichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht und damit um ein Problem des Übermaßverbotes.253
4. Frauenförderung, Nichtdiskriminierung Um ihren Forderungen nach einer verstärkten Förderung von Frauen oder einem besseren Nichtdiskriminierungsschutz für gesellschaftlich benachteiligte Gruppen Nachdruck zu verleihen, berufen sich verschiedene Interessengruppen ebenfalls auf das Untermaßverbot. So hat etwa der hessische Landesverband des DGB sowie der Deutsche Juristinnenbund den Standpunkt eingenommen, daß die Pläne der hessischen Landesregierung, das hessische Gleichberechtigungsgesetz für den öffentliche Dienst im wesentlichen auslaufen zu lassen, nicht mit dem Untermaßverbot vereinbar sind.254 Aus Art. 3 II 2 GG folge die Verpflichtung des Staates, Maßnahmen zur Beseitigung der Unterrepräsentanz255 von Frauen im öffentlichen Dienst gesetzlich zu verankern.256 Das insofern einschlägige Untermaßverbot gestatte es nicht, bewährte gesetzliche Instrumente, worunter insbesondere auch die Frauenbeauftragten fielen, zurückzunehmen, ohne sie durch gleich effektive Mittel zu ersetzen.257 Dagegen wird vereinzelt auch von Befürwortern einer weitergehenden Frauenförderpolitik zu Bedenken gegeben, daß das Untermaßverbot einen geringeren Gewährleistungsgehalt als das Übermaßverbot aufweise.258 Im Hinblick auf eine Gleichstellung von Männern und Frauen in der Privatwirtschaft wird zudem behauptet, daß die freiwillige Vereinbarung zwischen der damaligen rot-grünen Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft ebenfalls gegen das Untermaßverbot verstoße.259 Die betreffende Erklärung, 253
Dazu Augsberg, ZRP 2005, S. 105 (106 f.). Von Schwanenflug, Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme vom 26. Januar 2006 zur bevorstehenden Novelle des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes; Stellungnahme des DGB-Landesverbandes Hessen vom 12. September 2006 zum Entwurf eines zweiten Gesetzes des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes. 255 Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft vom 02. 07. 2001, abrufbar unter www.bundesregierung.de. 256 Die ganz herrschende Meinung weist Art. 3 II 2 GG dagegen nicht eine solch weitreichende Justitiabilität zu. Ein beachtlicher Teil der Literatur sieht die Norm auch nur als Staatsziel konzipiert weshalb dem Gesetzgeber hier ein besonders weiter Spielraum zukomme. In diesem Sinne Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 3, Rn. 311 f.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 181, 182, m.w.N. 257 Von Schwanenflug, Deutscher Juristinnenbund, Stellungnahme vom 26. Januar 2006 zur bevorstehenden Novelle des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes; Stellungnahme des DGB-Landesverbandes Hessen vom 12. September 2006 zum Entwurf eines zweiten Gesetzes des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes. 258 Sacksofsky, ZRP 2001, S. 412 (415). 259 Laskowski, ZRP 2001, S. 504 (508). 254
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
in der die Wirtschaft ihren Mitgliedern lediglich empfohlen habe, die Chancengleichheit zu erhöhen sowie die Familienfreundlichkeit in ihren Unternehmen zu verbessern, sei ein offensichtlich unwirksames Steuerungsinstrument und könne nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als verfassungswidrig eingestuft werden.260 Andere Stimmen weisen darauf hin, daß ganz allgemein durch den zu beobachtenden Wandel von einer formalen zu einer materiellen Gleichheit der weite Spielraum des Gesetzgebers deutlich durch das Untermaßverbot begrenzt werde.261 Im Hinblick auf Diskriminierungen bei Einstellungen wird weiter gefolgert, daß der Gesetzgeber das Untermaßverbot verletze, wenn er keine wirkungsvollen Sanktionen für den einstellenden Arbeitgeber schaffe.262 Hier sei insbesondere an Schadensersatzansprüche zu denken.
5. Ehe, Familie, Kinder, Bildung Größere Bedeutung wird dem Untermaßverbot von Seiten der Literatur im Rahmen der Gewährleistungen des Art. 6 GG eingeräumt.263 Im Hinblick auf Art. 6 I GG wird vorgebracht, daß der dort geforderte besondere Schutz für Ehe und Familie das Untermaß erhöhe.264 In diesem Zusammenhang kritisiert Stern, daß ein Großteil der Literatur dem Gesetzgeber gleichwohl einen überaus weiten Einschätzungs- Wertungs- und Gestaltungsspielraum zubillige.265 Damit werde aber lediglich das Schutzniveau der allgemeinen grundrechtlichen Schutzpflichten zugrunde gelegt, was der geforderten Qualität des besonderen Schutzes nicht gerecht werde.266 Bei der Ermittlung des angemessenen Schutzes spiele das Untermaßverbot dann vor allem bei Abwägungen eine Rolle.267 Im Hinblick auf das neu eingeführte Elterngeld wird im Schrifttum die Auffassung geäußert, daß die Mindestzahlung von 300 E jedenfalls nicht gegen das Untermaßverbot verstoße, soweit man dieses überhaupt in der Förderdimension für anwendbar halte.268 Darüber hinaus wird bei der Forderung nach 260
Laskowski, ZRP 2001, S. 504 (508). Hermann Reichhold auf der gemeinsamen Veranstaltung der Gesellschaft für europäisches Sozialrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht am 06. und 07. 10. 2005 in Bonn, zitiert nach Große-Brockhoff, NZA 2005, S. 1284 (1284); anders Fastrich, RdA 2000, S. 65 (77). 262 Dietrich, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, Art. 12 GG, Rn. 30. 263 Vgl. Uhle, in: Beckscher Online-Kommentar, Art. 6 Abs. 1 GG, Rn. 35. 264 Kirchhof, AöR 129 (2004), S. 542 (562). In diese Richtung auch Krings, FPR 2001, S. 7 (10); Tettinger, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Band 35 (2001), S. 117 (129, 143 – 145). 265 Stern, in: Stern, Staatsrecht IV/1, S. 452. 266 Stern, in: Stern, Staatsrecht IV/1, S. 452. 267 Stern, in: Stern, Staatsrecht IV/1, S. 454. 268 Vgl. Brosius-Gersdorf, NJW 2007, S. 177 (182). Für eine nur sehr geringe Relevanz des Untermaßverbotes im Bereich des Ehe- und Familienschutzes aufgrund weitreichender zivilrechtlicher Regelungen: Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 412, 416. 261
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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der Bereitstellung von ausreichend Kindergartenplätzen auf das Untermaßverbot verwiesen.269 Thematisiert wird das Untermaßverbot des weiteren bei dem in Art. 6 IV GG verankerten Mutterschutz.270 Dabei wird von Aubel, der sich mit den Auswirkungen des Untermaßverbotes auf den zu gewährleistenden Mutterschutz grundlegend auseinander gesetzt hat, vertreten, daß das Untermaßverbot nur einen einklagbaren Mindestschutz beinhalte.271 Auch in der übrigen Literatur wird der Primat des Gesetzgebers nicht in Frage gestellt.272 Der Staat müsse nicht alle Lasten übernehmen, die aus der Mutterschaft resultierten.273 Soweit das Schrifttum das Untermaßverbot thematisiert, besteht Einigkeit darüber, daß der Staat durch das Mutterschutzgesetz die Verpflichtungen aus dem Untermaßverbot eingehalten hat.274 Aus aktuellem Anlaß berufen sich auf dem Gebiet des Jugendschutzes ebenfalls zunehmend Stimmen auf das Untermaßverbot. Die Schutzmaßnahmen zugunsten von Kindern müßten ausreichend effektiv sein.275 Es könne deshalb kein pauschaler Vorrang von Hilfen vor staatlichen Eingriffen in das Elternrecht mehr angenommen werden. Dies könne im Einzelfall auch eine schnellere staatlich verordnete Trennung des Kindes von seinen Eltern bedeuten, ohne daß zuvor ambulante Hilfen ausprobiert worden seien.276 In Bezug auf eine zur Debatte stehende gesetzliche Verpflichtung von Eltern, ihr Kind zu Vorsorgeuntersuchungen zu schicken, wird die Ansicht vertreten, daß das Untermaßverbot derzeit eine solche Verpflichtung noch nicht gebiete, eine verfassungsgestützte Anordnung zukünftig jedoch nicht auszuschließen sei.277 Auch den Bildungssektor hat das Untermaßverbot inzwischen erreicht. So wurde von F. Hufen in einem Rechtsgutachten unter ausdrücklichem Verweis auf das Untermaßverbot die Ansicht vertreten, daß die finanzielle Förderung der Waldorfschulen in
269
Henneke, in: Der Landkreis, 2004, S. 691 (692). Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 417. nimmt an, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte bei Art. 6 IV GG sogar höher liege als bei den übrigen sozialstaatsbezogenen Verbürgungen des Art. 6 GG. 271 Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 266. 272 Stern, in: Stern, Staatsrecht IV/1, S. 549. 273 Vgl. BVerfGE 37, 121 (126 f.); 60, 68 (74); Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 6, Rn. 44; Robbers, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 6, Rn. 301. 274 Vgl. mit den weiteren Nachweisen die detaillierte Prüfung des Untermaßverbotes von Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 276 ff.; Stern, in: Stern, Staatsrecht IV/1, S. 548. 275 Wiesner, FPR 2007, S. 6 (8); vgl. auch Schutz/Held, in: Hahn/Vesting, Rundfunkrecht, § 1 JMStV, Rn. 37, die darauf hinweisn, dass bei der Jugendgefähdrung duch Fim- und Fernsehen die Einbeziehung einer Selbstkontrolle der Medien zumindet nicht per se gegen das Untermaßverbot verstoße. 276 Wiesner, FPR 2007, S. 6 (8). 277 Lindner, ZRP 2006, S. 115 (117). 270
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Baden-Württemberg nicht dem erforderlichen verfassungsrechtlichen Mindestniveau des Art. 7 IV GG entspreche.278
6. Wirtschaftsrecht Insbesondere im Wirtschaftsrecht wird dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der verschiedenen Regelungen von der einschlägigen Literatur einhellig ein weitgehender Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot zugebilligt.279 Insoweit wird weitgehend auf die vom Bundesverfassungsgericht verwendete bloße Evidenzkontrolle verwiesen.280 Zudem gelte der von W. Canaris zutreffend erkannte Vorrang des Privatrechts.281 So argumentiert etwa Bauer mit dem weiten Gestaltungsspielraum der Politik bei der Frage, ob das im Jahre 2002 neu eingeführten Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Schutzdefizite aufweise.282 Das Gesetz zielt auf die Regulierung von Übernahmen, wie sie beispielsweise zwischen der Mannesmann AG und Vodafone plc. im Jahre 2000 stattgefunden hat. Ein Verstoß gegen das Untermaßverbot sei angesichts der umfangreichen Regelungen von Übernahmeverfahren und den im Gesetz enthaltenen zivilrechtlichen Ansprüchen und Ordnungswidrigkeitstatbeständen schwerlich auszumachen.283 Bereits der Rechtszustand vor Inkrafttreten des WpÜG sei verfassungsgemäß gewesen.284 Der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet, gesetzliche Regelungen für die Durchführung von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren zu schaffen. Ein grundrechtlicher Anspruch sei grundsätzlich nur darauf gerichtet, daß der Gesetzgeber nicht völlig unzulängliche oder ungeeignete Schutzvorkehrungen treffen dürfe.285 Dagegen wird von anderen an der Verfassungsmäßigkeit des § 4 II WpÜG gezweifelt.286 Die Norm schließt nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut einen Drittschutz aus, indem es dort heißt, daß die staatliche Aufsicht nur im öffentlichen Interesse wahrgenommen werde. Insoweit wird kritisiert, daß ein vollständiger Ausschluß von Ansprüchen Dritter, die aus einer fehlerhaften Wahrnehmung der staatli-
278 Hufen, Verfassungsrechtliche Grenze der Unterfinanzierung von Schulen in freier Trägerschaft, Rechtsgutachten erstattet im Auftrag der der Software AG Stiftung, Mainz, November 2004; S. 37 ff. 279 Stumpf, NJW, 2003, S. 9 (10); Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, S. 134; vgl. für den Gestaltungsspielraum im Steuerrecht: Seer, FR 1997, S. 553 (558). 280 Kämmerer/Veil, BKR 2005, S. 379 (382). 281 Reichold, WRP 1994, S. 219 (223). 282 Bauer, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, § 4 WpÜG, Rn. 43. 283 Bauer, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, § 4 WpÜG, Rn. 43. 284 Bauer, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, § 4 WpÜG, Rn. 43. 285 Bauer, in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, § 4 WpÜG, Rn. 43. 286 Giesberts, in: Kölner Kommentar zum WpÜG, § 4, Rn. 75 f.
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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chen Aufsicht resultieren könnten, mit dem verfassungsrechtlichen Mindestschutz nicht vereinbar sei.287 Darüber hinaus findet das Untermaßverbot Erwähnung bei der Frage, ob auch Finanzjournalisten den in den §§ 34 b und 34 c WpHG statuierten Bindungen von Finanzanalysten unterliegen sollten, um den Finanzmarkt vor falschen Informationen zu schützen.288 Soweit Journalisten eine den staatlichen Regelungen vergleichbare Selbstregulierung vorweisen können, sind sie gemäß §§ 34 b IV und 34 c VI WpHG von einer Anzeige ihrer Tätigkeit bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) befreit und unterliegen damit zumindest keiner staatlichen Kontrollaufsicht. Ohne in dem konkrete Fall direkt eine Verletzung des Untermaßverbotes zu behaupten, wird von A. Kämmerer und R. Veil die Meinung vertreten, daß auch bei Selbstregulierungsmodellen der Staat letztlich noch zu einer Intervention in der Lage sein müsse, um sich nicht dem Vorwurf untermäßigen Grundrechtsschutzes auszusetzen.289 Auch in anderen Bereichen des Wirtschaftsrechts werden so gut wie keine Verstöße gesetzlicher Regelungen gegen das Untermaßverbot behauptet. In seiner eingehenden Untersuchung hat R. Rassow ausführlich dargelegt, daß der derzeitige Schutz des geistigen Eigentums mit dem Untermaßverbot vereinbar ist.290 Die zwischenzeitliche Verletzung des Untermaßverbotes aufgrund des fehlenden Schutzes vor digitalen Raubkopien sei mittlerweile durch den geänderten § 53 UrhG behoben.291 Die Norm läßt Privatkopien nunmehr nur noch zu, wenn keine „offensichtlich rechtswidrig hergestellte Vorlage“ verwendet wird. Ergänzt wird diese Regelung durch den neu eingeführten § 95 a UrhG, der die Umgehung von technischen Schutzmaßnahmen verbietet. Allerdings weist Rassow darauf hin, daß angesichts der rasanten technischen Entwicklung zukünftige Verletzungen des Untermaßverbotes nicht ausgeschlossen werden könnten. Der Staat müsse deshalb auf diesem Gebiet seiner Beobachtungspflicht nachkommen.292 G. Krings gelangt in einer ebenfalls genaueren Untersuchung zu dem Ergebnis, daß auch der derzeitige Verbraucherschutz nicht gegen das Untermaßverbot verstößt.293 Allerdings hält Krings grundrechtliche Schutzpflichten im Bereich des Vertragswesens aufgrund von nicht vorhandenen Übergriffen Privater ohnehin nur in seltenen Ausnahmefällen für anwendbar.294 Schutzinteressen des schwächeren Vertrags287
Giesberts, in: Kölner Kommentar zum WpÜG, § 4, Rn. 72, 75, 76. Kämmerer/Veil, BKR 2005, S. 379 (382). 289 Kämmerer/Veil, BKR 2005, S. 379 (382). 290 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 126 ff., 144, 147, 168. 291 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 138 – 140. 292 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 169. 293 Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 349. 294 Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 343 ff.; ganz ablehnend Zöllner, AcP 196 (1996), S. 1 (35, 36); Isensee, in: Isensee (Hrsg.)Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 ff. 288
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
partners würden im Grundsatz nur durch das Sozialstaatsprinzip gewährleistet.295 Freilich ist diese verhältnismäßig strikte Einordnung nicht allgemeine Auffassung. Eine beachtliche Ansicht erstreckt die Schutzpflicht – wenn auch mit Vorsicht – ebenfalls auf die Wahrung der Privatautonomie bei Verträgen.296 Überwiegend wird dabei auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen, wonach die Privatautonomie dann nicht mehr gewährleistet ist, wenn dem einen Vertragspartner einseitig erhebliche Lasten deshalb aufgebürdet werden könnten, weil sich dieser in einer erheblich schwächeren Verhandlungsposition befindet, der stärkere Vertragspartner also ein solches Übergewicht erhält, daß er den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen kann.297 Allerdings ist in der Literatur nicht der Vorwurf erkennbar, daß der gesetzlich gewährleistete Verbraucherschutz gegen das Untermaßverbot verstößt. Vielmehr wird darauf verwiesen, daß etwa die Vorschriften der §§ 119, 123, 142 und 138 BGB dem verfassungsrechtlichen Mindestschutz genügten.298 Gleiches gelte auch für das allgemeine Deliktsrecht.299 Darüber hinaus wird ein Verstoß gegen das Untermaßverbot ebenso bei § 61 VVG verneint, der eine Leistungsverpflichtung des Versicherers bei grob fahrlässigem Handeln des Versicherungsnehmers ausschließt.300 Auf dem Gebiet des Kartellrechts unterstreicht W. Veelken, daß das Untermaßverbot dem einzelnen Mitwettbewerber allenfalls einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine staatliche Mißbrauchskontrolle einer marktbeherrschenden Stellung der Konkurrenz gebe.301 Ein weitergehender Anspruch auf die Einrichtung einer vorbeugenden Fusionskontrolle sei nicht ersichtlich. Auch bei Einführung der Fusionskontrolle sei lediglich ein Verstoß gegen das Übermaßverbot und nicht gegen grundrechtliche Schutzpflichten diskutiert worden.302 Im Vergaberecht implizieren dagegen die Ausführungen von M. Dreher, daß die jetzigen Schwellenwerte, die über die Anwendung eines Vergabeverfahrens für öffentliche Aufträge entscheiden, gegen das Untermaßverbot verstoßen.303 Gemäß der Vergabeverordnung liegen die Schwellen bei Bauaufträgen bei 5 Millionen E, bei Liefer- und Dienstleistungsaufträgen bei 200.000 E und bei Aufträgen in den Sektoren Transport, Energie- und Was295
Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 348 f. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 2, Rn. 16; vgl. Stern, in: Stern Staatsrecht IV/1, S. 930; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar I, Art. 2, Rn. 107; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 161. 297 Vgl. BVerfGE 114, 1 (34); 103, 89 (100 f.); 89, 214 (232, 235); 82, 242 (254 f.). 298 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 343; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 349. 299 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 222. 300 Lorenz, VersR 2000, S. 2 (8). Anders Canaris, JZ 1987, S. 993 (1003), der jedoch bei dieser Problematik das Übermaßverbot für einschlägig hält. 301 Veelken, WRP 2003, S. 207 (219). 302 Veelken, WRP 2003, S. 207 (219). 303 Dreher, NZBau, S. 419 ff. mit Verweisen auf das Untermaßverbot auf den S. 428 und 430. 296
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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serversorgung bei 400.000 E. Nur bei Überschreiten dieser von Dreher als zu hoch bewerteten Schwellen haben die einzelnen Unternehmen nach § 97 VII GWB einen Anspruch darauf, daß der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält. Auch bei der einfachrechtlichen Auslegung von Normen des Wirtschaftsrechts wird das Untermaßverbot vereinzelt erörtert. Im Aktienrecht weisen etwa Böttcher/Blasche darauf hin, daß bei der Frage, wie weit die Befugnis des Vorstandes zur Leitung einer Aktiengesellschaft (§ 76 I AktG) gegenüber der Hauptversammlung reiche, das Untermaßverbot nur ausnahmsweise in Betracht kommen könne. Maßnahmen des Vorstandes seien nur dann zustimmungsbedürftig, wenn bei ihrer Durchführung von einem grundrechtsadäquaten Schutz der Mitgliedschaftsrechte schlichtweg nicht mehr die Rede sein könne. Darunter seien Fälle zu subsumieren, die das Erscheinungsbild in so grundlegender Form verändern, daß das Mitgliedschaftsrecht nachhaltig entwertet werde.304 Soweit die öffentliche Hand die Mehrheit an Aktiengesellschaften hält, bezieht Wandt die Position, daß der Schutz von Minderheitsgesellschaftern vor den Beschlüssen des staatlichen Mehrheitsgesellschafters nicht an dem seiner Meinung nach geringer wirkenden Untermaßverbot, sondern an dem strengeren Übermaßverbot zu messen seien.305 Der Staat trete hier im Ergebnis als Grundrechtseingriffe auslösender Akteur auf und könne sich nicht auf den bloßen Schutz eines Untermaßverbots zurückziehen, welches nur gelte, wenn eine Bedrohungslage zwischen Privaten gegeben sei.306
7. Gewerberecht Im Gewerberecht ist das Untermaßverbot bisher vor allem unter zwei Gesichtspunkten diskutiert worden: Bei dem ersten Themenkreis geht es um Anforderungen, die an notwendige Qualifikationen von Angehörigen des privaten Bewachungsgewerbes zu stellen sind. Von einem Teil der Literatur wird diesbezüglich gefordert, daß, um Verletzungen des Untermaßverbotes zu vermeiden, der bisher regelmäßig nur erforderliche Unterrichtungsnachweis in einigen Einsatzgebieten zum Schutz von betroffenen Dritten zu einem Sachkundenachweis ausdifferenziert werden müsse.307 Letzterer wird durch eine Prüfung bei der Industrie- und Handelskammer erlangt und ist bisher nur erforderlich bei Kontrollgängen in öffentlich zugänglichen Bereichen, bei Schutz vor Ladendieben sowie bei der Einlaßkontrolle zu Diskothe-
304 305
Böttcher/Blasche, NZG 2006, S. 659 (572). Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte der öffentlichen Hand, S. 170 – 173, 241,
258. 306
Wandt, a.a.O. Brauser-Jung, in: Handbuch des Sicherheitsgewerberechts, D I, Rn. 34 f.; Rolf Stober auf dem Seminar „Wirtschaftsverwaltungsrecht und Polizeirecht“ vom 02.07.–03. 07. 1997 an der Polizei-Führungsakademie Münster, zitiert nach Brauser-Jung, NVwZ 1999, S. 274 (274). 307
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
ken.308 Demgegenüber findet bei der bloßen Unterrichtung eine derartige Prüfung von Kenntnissen nicht statt. Der andere Themenkreis, in dem das Untermaßverbot im Gewerberecht eine Rolle spielt, betrifft den Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe sowie die Aufhebung der Ladenschlußzeiten. Art. 140 GG i. V. m. 139 WRV bestimmt, daß der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt bleiben. In der Literatur wird geltend gemacht, daß insoweit ein feiertagsrechtliches Untermaßverbot zu beachten sei.309 Das bedeute, daß, ein Kernbestand an Sonntagsschutz gewährleistet werden müsse.310 Demnach müsse es dabei bleiben, daß nur ausnahmsweise gearbeitet werden dürfe.Diese verfassungsrechtliche Wertentscheidung könne weder durch ein Interesse am Konsum, noch mit dem Argument ausgehebelt werden, durch eine Liberalisierung könne die Wirtschaft belebt werden.311 Zwar verstießen einzelne Liberalisierungsschritte isoliert betrachtet nicht gegen das Untermaßverbot.312 So fielen beispielsweise großzügige Öffnungen von Videotheken und Autowaschanlagen oder vier bis sechs verkaufsoffene Sonntage313 im Ergebnis in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.314 Jedoch müsse im Ganzen der Sonntag noch eine Gestalt haben, die dem verfassungsrechtlichen Mindestschutz entspreche. Auch bei der Diskussion um die Freigabe von Ladenöffnungszeiten an Werktagen berufen sich Teile der Literatur auf das Untermaßverbot.315 Eine völlige oder weitreichende Aufhebung der Ladenöffnungszeiten verstoße gegen die verfassungsrechtliche Schutzpflicht gegenüber den Arbeitnehmern. Das Interesse an einem „Shop around the clock“ sei kein hinreichend gewichtiger Grund für eine damit verbundene längere Nachtarbeit von Arbeitnehmern.316
308 Brauser-Jung/Lange, GewArch 2003, 224 (229), sehen zwar auch eine Sachkundeprüfung als im Einzelfall von dem Untermaßverbot gefordert an, stehen jedoch gleichzeitig auf dem Standpunkt, daß die in den genannten Fallgruppen erforderliche Prüfung nicht immer gerechtfertigt sei, da nicht für jede Tätigkeit in diesem Bereich ein konfliktträchtiger Personenkontakt gegeben sein müsse. 309 Ehlers, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 139 WRV, Rn. 1; Möstl, GewArch 2006, S. 9 (11); Morlok/Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851). 310 Morlok/Heinig, NVwZ 2001, S. 846 (851); Ehlers, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 139 WRV, Rn. 1. 311 Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1225). 312 Möstl, GewArch 2006, S. 9 (12). 313 Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1225). 314 Möstl, GewArch 2006, S. 9 (13, 14). 315 Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1222). 316 Kingreen/Pieroth, NVwZ 2006, S. 1221 (1223).
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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8. Sozialrecht Bei der Frage, welches Leistungsniveau im Sozialrecht verfassungsrechtlich gefordert ist, sind die Sozialgerichte Klägern entgegen getreten, die geltend gemacht hatten, daß das derzeitige Existenzminimum,317 die Höhe des Arbeitslosengeldes II318 oder die Nichtauszahlung von Kindergeld an noch nicht geborene Kinder319 gegen das Untermaßverbot verstießen. Auch von der rechtswissenschaftlichen Literatur werden solche Forderungen, soweit ersichtlich, nicht unterstützt.320 Vielmehr wird auch dort zu Bedenken gegeben, daß angesichts des politischen Gestaltungsauftrages und knapper staatlicher Haushalte nur ganz ausnahmsweise ein Verstoß gegen das Untermaßverbot vorliegen könne.321 Allerdings ist in jüngster Zeit von Seiten der Gerichte wieder Bewegung in die Disskussion um die Gewährleitsung des Untermaßverbotes gekommen. So hat das Landsozialgericht Hessen die gesetzlichen Hartz IVRegelsätze für bedürfige Arbeitslose und ihre Kinder dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, weil es diese Sätze für zu niedrig hält.322 Und das Bundessozialgericht greift nunmher für das Untermaßverbot auf den strengeren (und überholten) Prüfungsmaßstab aus der 2. Abtreibungsentscheidung des Bundesverfssungsgerichts323 zurück und fordert bei der Austestung des Untermaßverbotes sorfältige Tatsachenermittlungen und vertretbare Einschätzungen des Gesetzgebers.324 Darüber hinaus findet das Untermaßverbot noch im Sozialversicherungsrecht Erwähnung. In Bezug auf die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß zwar die derzeitige Rentenversicherung durch das Grundgesetz nicht vorgeschrieben sei, jedoch dann das Untermaßverbot beachtet werden müsse, wenn sich der Gesetzgeber für eine Zwangsversicherung entschieden habe.325 Das Untermaßverbot verlange dann mindestens das Fürsor317 LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 05. 2006, BeckRS 2006, 42908, S. 11; VG Bremen Urteil vom 27. 01. 2006, Az: S3 K 427/05, Juris, Rn. 27; VG Bremen, Urteil vom 10. 03. 2006, ZFSH/SGB 2006, S. 481 – 487. 318 SG Chemnitz, Urteil vom 12. 01. 2006, Az: S 21 AS 491/05, Juris, Rn. 29; SG Schleswig, Beschluß vom 08. 03. 2005, SAR 2005, S. 79 (82). 319 LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. 10. 1997, BeckRS 2006, 42184, S. 3. 320 So auch Rüfner, Handbuch des Staatsrechts IV (2006), § 96, Rn. 83. Vgl. zum Meinungsstand in der Literatur, wo die verfassungsrechtliche Untergrenze des Existenzminimums liegt BSG vom 22. 04. 2008, Az: B 1 KR 10707 R, Juris, Rn. 34. 321 Vgl. Seewald, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Vor § 1 SGB I, Rn. 25. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ist keine Stimme erkennbar, die aufgrund der Höhe der gewährten Sozialleistungen ein Verstoß gegen das Untermaßverbot annimmt. 322 LSG Hessen, Az: L 6 AS 336/07; vgl. FAZ vom 30. Oktober 2008, S. 13. 323 BVerfGE 88, 203. 324 BSG vom 22. 04. 2008, Az: B 1 KR 10707 R, Juris, Rn. 45. Vgl. zu dem Urteil und der engeren Kontrolldichte bei der Prüfung des Untermaßverbotes auch die Anmerkung von Blüggel, JurisPR-SozR 22/2008, Anmerkung 3. 325 W. Meyer, auf der Tagung des Deutschen Sozialrechtsverbandes am 12. und 13. Oktober 2006, zitiert nach Pad, NZS 2007, S. 140 (141).
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
geniveau. An anderer Stelle wird als Argument gegen die Einführung einer Bürgerversicherung angeführt, daß aufgrund des besonderen Treueverhältnisses des Staates zu seinen Beamten das Untermaßverbot bei der Altersversorgung von Beamten schneller erreicht sei, wodurch die finanzielle Leistungsfähigkeit einer Bürgerversicherung gesprengt werden würde.326
9. Innere Sicherheit Nicht zuletzt wird dem Untermaßverbot bei der Diskussion um die Innere Sicherheit größere Beachtung geschenkt.327 Zunächst wird in der Literatur zu Bedenken gegeben, daß das Untermaßverbot in strafrechtlichen Zusammenhängen kein klassisches Konzept sei, da es zu dem traditionellen Verständnis der Grundrechte als Abwehrrechte quer liege.328 Es bedürfe der strafrechtstheoretischen Aufmerksamkeit, daß ein Untermaßverbot über verschlungene Wege im Strafrecht von einem Verbot zu einem Gebot von Kriminalisierung und Strafdrohung gelange. Trotz des weiten Anwendungsrahmens des Untermaßverbotes sei es gerade das Strafrecht, welches in Form von Pönalisierungsgeboten immer damit rechnen müsse, von diesem Konzept in Anspruch genommen zu werden.329 Im Schrifttum ist mittlerweile herrschende Ansicht, daß aus dem Untermaßverbot die Pflicht des Gesetzgebers folgt, bestimmte Übergriffe in die Freiheit, das Leben oder die körperliche Unversehrtheit mit Strafe zu bedrohen.330 Dies könne jedoch nur für fundamentale Bedrohungen wichtiger Schutzgüter gelten. Keinesfalls gehe das Untermaßverbot beispielsweise so weit, auch leicht fahrlässiges Handeln im Straßenverkehr mit Strafe bedrohen zu müssen.331 Abgesehen von der Sonderproblematik des § 218 StGB gibt es keine Stimmen, die behaupten, daß im Strafrecht das Untermaßverbot unterschritten sei. Bei der weiteren Bestimmung des Untermaßverbotes spielt dann offensichtlich auch die jeweilige rechtspolitische Auffassung der betreffenden Autoren eine Rolle. 326
Kirchhof, NZS 2004, S. 1 (3). Vgl. grundlegend Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 82 ff., 92 f., 103 ff., 195 ff., 336 ff., 432 ff.; Schwetzel, Freiheit Sicherheit, Terror, S. 40 ff.; Götz, in: Handbuch des Staatsrechts III, § 79 Rn. 30, 31; ablehnend: Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 ff. 328 Hassemer, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 57 (62). 329 Hassemer, in: Hefendehl/von Hirsch/Wohlers, Die Rechtsgutstheorie, S. 57 (63). 330 Stern, Staatsrecht III/1, S. 941, 949; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (242); Joecks, in: Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band I, Einleitung, Rn. 19; Götz, in: Handbuch des Staatsrechts III, § 79, Rn. 30, 31; Müller-Dietz, in: FS für Dreher, S. 97 (106 f.); Laubenthal, ZstW 116 (2004), S. 703 (745) m.w.N.; kritisch: Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 147. 331 Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, § 15, Rn. 203 a. Vgl. auch Achenbach, GA 2008, S. 1 (17), der darauf hinweist, dass es kein Verstoß gegen das Untermaßverbot darstellt, wenn der Gesetzgeber Verstöße gegen das Kartellrecht, Wertpapierhandels- oder Übernahmegesetz nicht mit Strafe, sondern lediglich mit Geldbußen nach dem OWiG ahndet. 327
II. Konkrete Diskussionsfelder in der Literatur
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Stimmen, die ein konsequentes Vorgehen des Staates gegen Straftäter befürworten, sind der Ansicht, das Untermaßverbot verlange, daß bei der Abwehr von Gefahren sowie bei der Strafverfolgung der Anspruch der Bürger auf staatlichen Schutz immer gebührend berücksichtigt werden müsse.332 Die Schutzpflicht sei dabei um so intensiver, je stärker die Gefährdungen der zentralen Bereiche von Würde und Leben seien.333 Darüber hinaus wird vereinzelt dafür plädiert, das Untermaßverbot auf dem Gebiet des Strafrechts insofern weiter zu ziehen, als daß auch der therapeutische Nutzen Berücksichtigung finden sollte, den das Opfer aus der Bestrafung des Täters ziehe.334 Zudem gelte das Untermaßverbot auch bei der Modernisierung der Einrichtung der Polizei sowie der Ausstattung mit technischen Mitteln.335 Auf dem Gebiet der Abwehr terroristischer Handlungen wird von Meyer vertreten, daß das jetzige Luftsicherheitsgesetz gegen das Untermaßverbot verstoße.336 Die Regelungen zur Kontrolle der Luftfracht sowie die Überprüfung der Flughafenmitarbeiter wiesen verfassungswidrige Schutzdefizite auf. Das OVG Münster hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass das Untermaßverbot nicht verletzt werde, wenn Flughafenbetreibern bestimmte Kontrollen von Luftfahrtbediensteten auferlegt würden.337 Der klagende Flughafen war dagegen der Ansicht, der Staat verstoße gegen seine grundrechtliche Schutzpflicht, wenn er eine derart sicherheitsrelevante Aufgabe delgiere. Zur einer effektiven Abwehr von Gefahren fehltem dem Flughafen die Befugnisse. Von den Teilen des Schrifttums, die einer Ausweitung staatlicher Kompetenzen zur Kriminalitätsbekämpfung eher kritisch gegenüberstehen, wird dagegen vornehmlich auf den Charakter des Untermaßverbotes als bloßer verfassungsrechtlicher Mindestschutz hingewiesen.338 Das Untermaßverbot stelle lediglich die äußerste Grenze staatlicher Passivität dar. Auf das Verbot könne etwa keine Politik des „Zero Tolerance“ gestützt werden.339 Vereinzelt wird das Untermaßverbot sogar für völlig unver-
332
Vgl. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, S. 1201 (1205); Ders. in: Rill, Grundrechte – Grundpflichten, S. 15 (20, 21); Götz, in: Handbuch des Staatsrechts III, § 79, Rn. 30, 31. Reichenbach, JR 2005, S. 405 (408). Für ein strafprozessuales Untermaßverbot bei einem unverhältnismäßig niedrigen Täter-Opfer-Ausgleich: Oberlies, Streit 2000, S. 99 (110). 333 Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, S. 1201 (1205). 334 Jerouschek, JZ 2000, S. 185 (193). 335 Würtenberger, in: Rill, Grundrechte – Grundpflichten, S. 15 (20, 21). 336 Meyer, ZRP 2007, S. 274 (275). 337 OVG Münster vom 22. 11. 2007, Az: 20 D 38/05, BeckRS 2008, 33204, S. 2, 5. 338 Volkmann, NVwZ 1999, S. 225 (230); Popp, NStZ 1998, S. 95 (96). 339 Volkmann, NVwZ 1999, S. 225 (230). Im Bereich der Auslegung von Strafprozeßnormen, macht Popp, NStZ 1998, S. 95 (96), geltend, daß das Untermaßverbot als Rechtfertigung für die vom BGH akzeptierte sogenannte „Hörfalle“ (BGH 42, 139 ff.) ausscheide. Eine Rechfertigung dieser Ermittlungsmethode käme nur in Betracht, wenn das Stellen einer Hörfalle die einzig denkbar mögliche Ermittlungsmaßnahme sei, was offenkundig nicht angenommen werden könne. Ansonsten sei der Staat dazu verpflichtet, einen nicht bzw. weniger freiheitsbeschränkenden Weg zu wählen.
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2. Teil: Die rechtspolitische Dimension des Untermaßverbotes
einbar mit einem liberalen Strafrechtskonzept gehalten.340 Die Figur sei Ausdruck eines freiheitsbedrohenden Sicherheitsdenkens, indem der Bürger nicht mehr als Inhaber von Freiheiten, sondern als potentielle Bedrohung der Sicherheit angesehen werde.341 Das Untermaßverbot dränge zu strafrechtlichen Maßnahmen, da die in ihm enthaltene Forderung nach einem effektiven Schutz im Zweifel nur das Strafrecht biete. Damit verkürze das Untermaßverbot jedoch notwendige Abwägungen und präjudiziere das Abwägungsergebnis.342 Das Untermaßverbot sei deshalb mit den Ideen von Freiheit, Selbstverantwortlichkeit und Toleranz nicht in Einklang zu bringen, was in der bisherigen strafrechtlichen Literatur zu wenig Beachtung gefunden habe.343
10. Analyse Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den aufgezeigten konkreten Problemen lediglich um einen kleinen Ausschnitt an Konstellationen, in denen das Untermaßverbot Anwendung finden kann. Auch wenn die auf das verfassungsrechtliche Untermaßverbot gestützten konkreten Forderungen an die Politik insgesamt noch davon entfernt sind, dramatische Züge anzunehmen, so wird doch sehr deutlich, daß die große Gefahr und Versuchung des Untermaßverbotes darin besteht, daß mit ihm versucht wird, eigene politische Vorstellungen unter Ausschaltung der demokratischen Parlamentsmehrheit per Verfassungsanordnung durchzusetzen. Darüber hinaus hat sich bestätigt, daß die Gefahr der politischen Inanspruchnahme des Untermaßverbotes entscheidend davon abhängt, welche Wirkkraft dem Untermaßverbot beigemessen wird. Vor allem, weil dem Untermaßverbot überwiegend nur eine geminderte Steuerungskraft zugesprochen wird, halten sich die bisherigen Forderungen nach entsprechenden Änderungen der Rechtsordnung in Grenzen.Dabei stellt es wohl keine bloße Spekulation dar, anzunehmen, daß diejenigen, die auf einem speziellen Gebiet, wie etwa dem Umweltschutz eine stärkere Wirkkraft des Untermaßverbotes einfordern, mit den Ergebnissen einer solchen Wirkung auf anderem Gebiet (zum Beispiel bei der Kriminalitätsbekämpfung) gerade nicht einverstanden wären. Inwieweit sich eine geminderte Steuerungskraft des Untermaßverbotes allerdings überhaupt begründen läßt und worauf sie sich dogmatisch stützen kann, ist Gegenstand des nun folgenden 3. Teils. Dabei sollen der dogmatische Gehalt und der Standort des Untermaßverbotes anhand konkreter Thesen in der Literatur untersucht werden. 340 Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 ff. 341 Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 (274). 342 Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 (273, 274). 343 Staechelin, in: Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Band 50 (1995), S. 267 (274, 278, 280).
Dritter Teil
Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes I. Untermaßverbot integraler Bestandteil des Übermaßverbotes? 1. Kongruenzthese Eine der Hauptkontroversen zum Untermaßverbot stellt die Frage dar, ob das Untermaßverbot überhaupt durch eine eigenständige Prüfung zu ermitteln ist. So stellt eine Meinung die These auf, daß das Untermaßverbot bereits integraler Bestandteil der Prüfung des Übermaßverbotes sei.1 Das Problem eines Mindestschutzes für grundrechtliche Rechtsgüter stelle keine eigenständige Prüfungskategorie dar. In den „Dreiecksfällen“, in denen der Staat zum Schutz in den Freiheitsbereich des Störers eingreife, fielen Unter- und Übermaßverbot zusammen. Was sich aus der Perspektive des Beeinträchtigten als Frage nach dem zulässigen Höchstmaß und aus dem Blickwinkel des Schutzsuchenden als Problem der Mindestschutzanforderungen darstelle, werde durch ein- und dieselbe Lösung anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips i. w. S beantwortet.2 Denn im Rahmen des Übermaßverbotes werde bereits auf der Stufe der Erforderlichkeit geprüft, ob der Eingriff in die Grundrechte das mildeste, noch wirksame Mittel zum Schutz des Rechtsguts des beeinträchtigten Dritten darstelle. Ein in diesem Sinne erforderlicher Eingriff genüge aber definitionsgemäß auch dem Untermaßverbot.3 Die erforderlichen Mittel dürften sich nämlich kaum vom notwendigen und als solchem wirksamen Schutz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts oder vom effektiven Schutz im Sinne Isensees unterscheiden lassen.4 Grundsätzlich gelte demnach, daß der Staat im Hinblick auf das tangierte Grundrecht gerade noch das tun dürfe, was er als „erforderlich“ für das schützende Rechtsgut tun müsse.5 Aber auch dann, wenn es mehrere geeignete und erforderliche Maßnahmen zum Schutz des Rechtsguts geben sollte, fände spätestens auf der Stufe der Angemessen1 Vgl. Hain, DVBl 1993, S. 982 f.; Ders., ZG (1996), S. 75 f.; Starck, JZ 1993, S. 816 (817); Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88); Szczekalla, Die sogenannten Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 437; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 85 f. 2 Hain, DVBl 1993, S. 982 (983); Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88). 3 Starck, JZ 1993, S. 816 (817); Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88). 4 Hain, DVBl 1993, S. 982 (993). 5 Starck, JZ 1993, S. 816 (817); Hain, DVBl 1993, S. 982 (983).
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
heit ein, den widerstreitenden Interessen Rechnung tragender, angemessener Ausgleich statt. Durch diesen Ausgleich decke sich dann endgültig das aus der Perspektive des Beeinträchtigten zulässige Höchstmaß mit den Mindestschutzanforderungen des Schutzsuchenden.6 Insgesamt sei das Untermaßverbot also nichts anderes als eine Erscheinungsform des Übermaßverbotes bei Vorliegen verfassungsrechtlicher Schutzpflichten, die Grundrechtseingriffe verlangen.7 Hain zieht zur Verdeutlichung dieser These den Vergleich zu dem Abwägungsvorgang von zwei Waagschalen heran, deren Gleichgewicht sich auch nicht in einem Bereich von Höchst- und Mindestmaß herstellen ließe, sondern nur in einem Punkt, in dem sich die Gewichte entsprächen.8 Zwar konstatiert die Ansicht, daß die von ihr vertretene Position auf den ersten Blick den gesetzgeberischen Spielraum weiter einzuschränken scheine, als dies der Fall wäre, wenn dem Gesetzgeber eine Bandbreite zwischen Mindeststandard und maximal zulässiger Eingriffsintensität zugebilligt werde.9 Diese Befürchtung träfe jedoch nicht zu, da allgemein anerkannt sei, daß der Gesetzgeber auch im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips i. w. S über eigene Gestaltungs- Wertungs- und Einschätzungsspielräume verfüge, die wiederum die verfassungsrechtliche Kontrolldichte beschränkten.10 Vielmehr bestehe umgekehrt die Gefahr, daß das Untermaßverbot durch verfassungsrechtliche Weiterentwicklung den legislativen Spielraum zunehmend einschränken werde. Denn dogmatische Figuren wie das Untermaßverbot beinhalteten eine Tendenz zur Verselbständigung, sofern man ihnen, wie durch das Verfassungsgericht geschehen, eine breite verfassungsrechtliche Bühne eröffne.11 Eine Modifikation der Kongruenzthese unterscheidet neuerdings danach, ob mit der Schutzpflicht ein Grundrecht mit oder ohne Gesetzesvorbehalt kollidiert.12 Nur bei einer Kollision von Schutzinteressen mit einem Grundrecht mit Gesetzesvorbehalt bestehe ein Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot, weil im Gesetzesvorbehalt zum Ausdruck komme, daß dem Gesetzgeber im Rahmen des Vorbehalts ein solcher Spielraum zugewiesen sei.13 Dagegen sei den Grundrechten ohne Vorbehalt die verfassungsrechtliche Wertung zu entnehmen, daß Grundrechtseingriffe stets unzulässig seien14, und daher die Grenzen für den eingreifenden Staat so eng wie möglich gezogen werden müßten. Ein Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot könne dem Gesetzgeber hier nicht zugebilligt werden. In diesem Fall, aber auch 6
Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88). Starck, JZ 1993, S. 816 (817). 8 Hain, DVBl 1993, S. 982 (983). 9 Hain, DVBl 1993, S. 982 (984). 10 Hain, DVBl 1993, S. 982 (984). 11 Hain, DVBl 1993, S. 982 (984). 12 Epping, Grundrechte, Rn. 88; Lenz/Leydecker, DÖV 2005, S. 841 (849); Lenz, Vorbehaltslose Freiheitsrechte, S. 307. 13 Epping, Grundrechte, Rn. 88; Lenz/Leydecker, DÖV 2005, S. 841 (849); Lenz, Vorbehaltslose Freiheitsrechte, S. 307. 14 So zuletzt ebenfalls: Hase, in: FS für Isensee, S. 549 (556 f.). 7
I. Untermaßverbot integraler Bestandteil des Übermaßverbotes?
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nur in diesem, fielen die beiden Verbote zusammen.15 Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang auch, daß ein Teil dieser Ansicht das Untermaßverbot zudem von vornherein auf den Mindestgehalt des Menschenwürdekerns eines jeden Grundrechts beschränken möchte. Trotz dieser bereits sehr engen Definition plädieren die Autoren interessanterweise aber gleichzeitig zusätzlich noch für eine bloße verfassungsgerichtliche Evidenzkontrolle des Untermaßverbotes.16 Bei dem Erfordernis einer evidenten Verletzung des Menschenwürdekerns dürfte jedoch von dem Gewährleistungsgehalt eines Untermaßverbotes nicht viel übrig bleiben.
2. Gegenthese: Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot Die Gegenposition geht hingegen davon aus, daß die jeweiligen Grenzen von Über- und Untermaßverbot nicht deckungsgleich sind.17 Dem Gesetzgeber komme zwischen der verfassungsrechtlich gebotenen Schutzpflicht und dem verfassungsrechtlich erlaubten Schutz ein mehr oder minder großer Spielraum zu.18 Der Gesetzgeber müsse dabei zumindest soweit in das Grundrecht des Dritten eingreifen, als dies die Schutzpflicht des geförderten Grundrechts gebiete. Darüber hinaus müsse der Gesetzgeber nicht gehen, könne es aber bis hin zur praktischen Konkordanz der beiden Grundrechte.19 Demzufolge sei nicht jeder Eingriff, der verfassungsgemäß ist, grundrechtlich auch geboten.20 Über- und Untermaßverbot rangierten von ihrem methodischen Ansatz her auch auf zwei unterschiedlichen Ebenen.21 So sei die Erforderlichkeit im Sinne des Übermaßverbotes gerade nicht identisch mit dem Erforderlichkeitsmaß, welches das Untermaßverbot für die Erfüllung legislativer Leistungspflichten formuliere. Denn die „Erforderlichkeit“ i. S. d. Übermaßverbotes sei eine auf ein konkretes Gesetzeswerk
15 Epping, Grundrechte, Rn. 88; Lenz/Leydecker, DÖV 2005, S. 841 (849); Lenz, Vorbehaltslose Freiheitsrechte, S. 307. 16 Lenz/Leydecker, DÖV 2005, S. 841 (849). 17 Vgl. Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1038); Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (239); Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 (383); Sodan, NVwZ 2000, S. 601 (605); Dietlein, ZG 1995, S. 131 ff.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts S. 216, 217; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 300; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 94, 95; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 313; Schmitt Glaeser, in: FS für Isensee, S. 507 (519); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 84 f.; Götz, Handbuch des Staatsrechts IV (2006), § 85, Rn. 28; Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt und Kindesabgabe, S., 265, 266. 18 Jarass, AöR 110 (1995), S. 363 (383). Ausdrücklich für das Verwaltungsrecht: Hoffmann-Riem, DVBl 1994, S. 1381(1384, 1385). 19 Jarass, AöR 110 (1995), S. 363 (384). 20 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 313; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 84. 21 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (137).
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
bezogene Größe.22 Der Gesetzgeber bestimme eigenständig den Zweck des Gesetzes sowie die zur Zielerreichung einzusetzenden Mittel. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und damit die Erforderlichkeitsprüfung kämen deshalb auch nur in dem „Innenbereich“ dieses speziellen Gesetzes zur Anwendung.23 Demgegenüber stelle die „Erforderlichkeit“ des Übermaßverbotes eine das konkrete Gesetz transzendierende, von dessen Zielkonzeption grundsätzlich unbeeinflußte und unmittelbar auf das Verfassungsrecht bezogene Größe dar.24 Der Verfassungsauftrag zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes müsse deshalb grundsätzlich nicht identisch mit dem Gesetzeszweck sein, den der einfache Gesetzgeber verfolge.25 Außerdem käme auch niemand auf die Idee, aus der festgestellten Verhältnismäßigkeit eines Gesetzes zu folgern, daß alle übrigen verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsaufträge erfüllt seien. Die Prüfung der Erfüllung solcher verfassungsrechtlicher Gesetzgebungsaufträge setze eine abstrakte verfassungsrechtliche Konturierung der geforderten Gesetzgebungsleistung voraus, die aber aus einer systemimmanenten Betrachtung eines erlassenen einfachen Gesetzeswerks heraus niemals bewirkt werden könne.26 Für die behandelte Frage nach dem Untermaßverbot bedeute dies, daß diesem eine eigenständige Existenz jedenfalls nicht unter Verweis auf einen vermeintlich umfassenden Aussagegehalt des Übermaßverbotes bestritten werden könne. Nicht zuletzt könne die Gegenansicht die Existenz des Untermaßverbotes (auch) nicht in Fällen erklären, in denen es gar nicht zu einem staatlichen Eingriff komme, wie dies etwa bei staatlichen Förderungen27, bei Naturkatastrophen, bei schlichtem staatlichem Nichthandeln oder auch bei der Rücknahme des Schutzes der Fall sei.28 In diesem Fall werde nämlich gar kein Übermaßverbot geprüft, in dem ein Untermaßverbot aufgehen könne.29 Diese Annahmen ließen sich auch an einem Beispiel aus dem Bereich der umstrittenen Verfassungsgerichtsentscheidung zum Lebensschutz des ungeborenen Kindes verdeutlichen.30 Hätte etwa der einfache Gesetzgeber, schwangeren Frauen als Voraussetzung eines Schwangerschaftsabbruchs lediglich aufgegeben, den Bezug einer Informationsbroschüre nachzuweisen, so ließe sich ein Verstoß gegen das Übermaßverbot wohl kaum annehmen. Denn bezogen auf den legitimen Zweck der Information erweise sich das vorgesehene Mittel als durchaus geeignet, erforderlich und zumutbar. Demgegenüber liege auf der Hand, daß dem von der Verfassung vorgegebenem Schutzauftrag in Form des Untermaßverbotes durch diese Regelung nicht Genüge getan würde. Für das Verhältnis von Über- und Untermaßverbot gelte demnach 22
Dietlein, ZG 1995, S. 131 (136). Dietlein, ZG 1995, S. 131 (137). 24 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (136). 25 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (136). 26 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (138). 27 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 313. 28 Lee, in: FS für Starck, S. 297 (307). 29 Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (201); Dietlein, ZG 1995, S. 131 (134, 141); Lee, in: FS für Starck, S. 297 (307); Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 313. 30 BVerfGE 88, 203 ff. 23
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folgendes: Das Übermaßverbot sage lediglich, ob der Gesetzgeber das von ihm gesetzte Ziel (Schutz des Dritten) mit verhältnismäßigen Mitteln verfolge, nicht aber, ob dieses Ziel sowie der Einsatz des gewählten Mittels verfassungsrechtlich geboten oder gar gefordert ist.31 Insgesamt ergäbe sich also aus dem Übermaßverbot keine Präjudiz für die Prüfung des Untermaßverbotes. Darüber hinaus sprächen für das Auseinanderfallen von Über- und Untermaßverbot auch noch wichtige Gründe der Gewaltenteilung. Käme man nämlich tatsächlich zu dem Ergebnis, daß Unter- und Übermaßverbot deckungsgleich sind, hieße das in der Konsequenz, daß de iure keine eigenen demokratischen Gestaltungsspielräume der Legislative bei der Umsetzung von Gesetzgebungsaufträgen existierten.32 De facto verblieben dann zugunsten des Gesetzgebers allenfalls Prognosespielräume im Sinne einer Beweislastverteilung zugunsten des Gesetzgebers, die aber eher auf schwachen Füßen stünden.33
3. Eigene Bewertung a) Keine Deckungsgleichheit von Unter- und Übermaßverbot Das Untermaßverbot ist nicht integraler Bestandteil der Prüfung des Übermaßverbots. Die Annahme, daß Über- und Untermaßverbot zusammenfallen, geht von falschen Prämissen aus. Die Kongruenzthese scheitert daran, daß das erforderliche Mittel der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Übermaßverbotes nicht zwingend identisch mit dem vom Untermaßverbot geforderten Mittel ist. Denn im Rahmen der „Erforderlichkeitsprüfung“ wird nicht das verfassungsrechtlich geforderte Mindestmaß (also ein Untermaßverbot) an Schutz in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt, sondern das Maß, das der Gesetzgeber selbst für erforderlich gehalten hat, einen bestimmten Zweck zu erreichen. Dieses vom Gesetzgeber gewählte Mittel kann aber bereits hinsichtlich des Schutzniveaus über den Anforderungen des Untermaßverbotes liegen. Ebenso wenig kann durch die Auswahl bestimmter Schutzmittel darauf geschlossen werden, daß das verfassungsrechtliche Untermaßverbot automatisch eingehalten wurde.34 Vielmehr trifft der Prüfungsinhalt der „Erforderlichkeit“ im Rahmen der Übermaßverbotsprüfung überhaupt keine Aussage über Anforderungen an einen etwaigen verfassungsrechtlichen Mindestschutz.35 Denn das Erforderlichkeitskriteri31
Dietlein, ZG 1995, S. 131 (138); Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 313. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 94; in diese Richtung auch Mayer, Untermaß, Übermaß, Wesensgehaltsgarantie, S. 82. 33 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (138). 34 Ebenso Lee, in: FS für Starck, S. 297 (307), der aber am Ende überraschenderweise in Dreieckskonstellationen doch der Kongruenzthese zustimmen will. 35 Zwar wird in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle der Gesetzgeber mit den eingesetzten Schutzmitteln auch das Niveau des Untermaßverbotes erreichen. Zwingend ist das jedoch nicht. 32
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
um bestimmt per Definition lediglich, daß ein vom Gesetzgeber eingesetztes Mittel dann erforderlich ist, wenn er „nicht ein anderes gleich wirksames, aber milderes Mittel hätte wählen können.“36 Mithin kann nicht festgestellt werden, ob das vom Gesetzgeber eingesetzte Mittel über oder auch unter dem verfassungsrechtlichen gebotenen Mindestschutz liegt. Es ergibt sich also aus der Erforderlichkeitsprüfung keine Determination des Untermaßverbotes. Aber auch die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Mittels i. e. S enthält keine Aussage über das Untermaßverbot, da hier lediglich geprüft wird, ob der Schutz ein Höchstmaß überschreitet, und nicht, ob er ein Mindestmaß gewährleistet. Zwar bestimmt das verfassungsrechtlich gebotene Untermaß letztlich das Mindestmaß an Schutz, das der Gesetzgeber bei der Auswahl seiner Mittel zu beachten hat. Das macht das Untermaßverbot jedoch noch nicht zum Bestandteil der Prüfung des Übermaßverbotes, sondern ist in einer gesonderten Prüfung beim Untermaßverbot festzustellen, da es sich in einem solchen Fall nicht mehr um eine „Übermaßproblematik“ staatlichen Handelns handelt. Damit zeigt sich, daß die These nicht haltbar ist, daß der Staat im Hinblick auf das tangierte Grundrecht gerade nur noch das tun dürfe, was er für das zu schützende Gut tun muß.37 Verfassungsrechtlich kann er nämlich mehr zum Schutz tun, ohne das Übermaßverbot zu verletzen.38 Träfen tatsächlich, wie behauptet, die Grenzen von Über- und Untermaßverbot zusammen, hätte das zur Konsequenz, daß ein Schutz des Opfers überhaupt nur in einem Untermaß denkbar und möglich wäre. Wollte man ein mehr an Schutz, wäre dieser dann stets verfassungswidrig, da sofort das Übermaßverbot verletzt wäre.Umgekehrt wäre allerdings auch kein Eingriff in das Abwehrrecht denkbar, der milder als das von dem Übermaßverbot gerade noch erlaubte Schutzmittel wäre.39 Richtigerweise ist demgegenüber das Untermaßverbot schon nicht mehr tangiert, bevor bei staatlichen Eingriffshandlungen die Grenze des Übermaßverbotes erreicht wird. Die von dem Gesetzgeber verwirklichte Schutzpflicht kann über dem geforderten Schutzniveau des Untermaßverbotes liegen, ohne daß dadurch das Übermaßverbot verletzt wird. Ebenso kann das Eingriffsniveau in die Rechte des „Störers“ unterhalb der Schwelle des Übermaßverbotes liegen, ohne daß das Untermaßverbot verletzt wird.40
36
BVerfGE 30, 292 (316); 25, 1 (17); 33, 171 (187); vgl. auch Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 285; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit S. 66 ff.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 314, spricht insofern von einem allseits konsentiertem Verständnis der Erforderlichkeitsprüfung. 37 Hain, DVBl 1993, S. 982 (983); Starck, JZ 1993, S. 816 (817). 38 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 85. 39 Im Ergebnis ebenso Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 488. 40 Dabei bleibt natürlich das Untermaßverbot das geforderte verfassungsrechtliche Minimum für den zu entfaltenden Schutz.
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b) Bestätigung durch Gewaltenteilungsaspekt Dieses Ergebnis wird vor allem durch Erfordernisse der Gewaltenteilung gestützt. Denn wer ein Zusammenfallen von Unter- und Übermaßverbot postuliert, hat nicht mehr ein Unter- oder Übermaß im Auge, sondern ein Idealmaß staatlichen Handelns. Ein solches Verfassungsverständnis beinhaltet trotz des Hinweises auf anerkannte Einschätzungs- Wertungs- und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers die Gefahr, eben diesen politischen Entscheidungsspielraum übermäßig einzuengen.41 Der vorgebrachten Kritik, daß der Gesetzgeber durch die Einführung eines Untermaßverbots in eine Klemme zwischen dem Unter- und Übermaßverbot gerate, muß entgegenhalten werden, daß die „Klemme“ am größten ist, wenn sie nur einen Punkt umfaßt, an dem Unter- und Übermaßverbot zusammenfallen sollen. Vielmehr ist erforderlich, daß die Spannbreite zwischen Unter- und Übermaßverbot von beachtlicher Breite ist. In dem Korridor müssen schließlich die gesamten verfassungsgemäßen Programmpunkte der unterschiedlichen politischen Parteien und Gruppen unterkommen. Zudem befindet sich in ihm das gesamte bisher umgesetzte einfache Recht, mit anderen Worten die gesamte verfassungsmäßige Rechtsordnung. Außerdem ist die These vom Zusammenfallen der beiden Verbote bei gleichzeitigem Hinweis auf den dennoch bestehenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch widersprüchlich. Denn wenn man einen solchen Spielraum akzeptiert, dann muß es auch Markierungen geben, die diesen Bereich abstecken. Diese Markierungen bilden aber dem Begriff und der Funktion nach das Über- und Untermaßverbot. Sie ziehen jeweils die Grenze zwischen dem politischen Entscheidungsbereich, der nicht mehr justitiabel ist, und dem verfassungswidrigen übermäßigen bzw. schutzpflichtenunterschreitenden Handeln des Staates. Der von Vertretern der Kongruenzthese selbst reklamierte Einschätzungs-, Gestaltungs- und Wertungsspielraum ist also im Ergebnis nichts anderes als die zuvor abgelehnte Bandbreite zwischen Unter- und Übermaßverbot. Wenn aber Über- und Untermaßverbot die Grenzen des justitiablen Bereichs markieren, können sie nicht in einer Idealentscheidung in der Mitte des nicht-justitiablen Bereichs aufgehen. Auch Hain scheint diesen Widerspruch letztlich zu erkennen, wenn er schreibt: „Was sich auf abstrakt-grundrechtsdogmatischer Ebene als Punkt des Zusammenfallens von Unter- und Übermaßverbot darstellt, erweitert sich unter Berücksichtigung der dem Gesetzgeber nach den Gewaltenteilungssystem zustehenden Spielräume […] zu einem Kreis von Möglichkeiten politischer Gestaltung. Daß die genaue Bestimmung der Grenzen dieses Kreises eines der schwierigsten verfassungsrechtlichen Probleme bildet, ist nicht zu leugnen.“42 41 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (138); Wandt, Die Begrenzung der Aktionärsrechte in der öffentlichen Hand, S. 140. 42 Hain, ZG 1996, S. 75 (83). Inzwischen scheint Hain noch weiter von der Kongruenzthese abgerückt zu sein. In der Kommentierung von Art. 79 GG, Rn. 62 und 50 in dem GrundgesetzKommentar von von Mangoldt/Klein/Starck, behandelt er Unter- und Übermaßverbot getrennt und plädiert für die Gewährleistung lediglich einer jeweiligen Mindestpositionen. Ders. ebenso in: Grundsätze des Grundgesetzes, S. 286 – 289.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Eine solche Maßstabsverschiebung zwischen der „abstrakt-grundrechtsdogmatischen Ebene“ und dem Spielraum des Gesetzgebers ist jedoch unzulässig.43 Da der Prüfungsmaßstab auf der grundrechtsdogmatischen Ebene unmittelbaren Einfluß auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers hat, ist es erforderlich, die beiden Ebenen im gleichen Maßstab zu betrachten. Zudem beseitigt die vorgebrachte Modifikation von Hain auch nicht die Bedenken im Hinblick auf eine angemessene Abgrenzung der Gewalten, da die Gefahr besteht, daß der eingeräumte Gestaltungsspielraum letztlich doch an dem Idealpunkt ausgerichtet wird, an dem Unter- und Übermaßverbot zusammenfallen sollen. c) Keine andere Bewertung bei Kollision mit vorbehaltslosen Grundrechten Eine andere Bewertung rechtfertigt sich auch nicht in den Fällen, in denen eine Schutzpflicht mit einem vorbehaltslosen Freiheitsrecht kollidiert. Auch in diesem Fall ist die Annahme einer Deckungsgleichheit von Unter- und Übermaßverbot nicht überzeugend. Nach der geschilderten Konzeption wird das Zusammenfallen von Unter- und Übermaßverbot nicht dadurch bewirkt, daß sich beide Verbote aufeinander zubewegen, sondern allein dadurch, daß das Übermaßverbot bis zur Grenze des Untermaßverbotes verschoben wird, da mehr als absolute Mindesteingriffe in vorbehaltslose Grundrechte nach dieser Ansicht nicht erlaubt sind.44 Es ist jedoch nicht sachgerecht, bei vorbehaltslosen Freiheitsrechten dem Gesetzgeber nur die Verwirklichung eines absoluten Mindestschutzeszu gestatten. Denn entsprechende Abwägungen können ergeben, daß ein intensiverer Schutz erforderlich ist, weshalb die herrschende Meinung zu Recht dann weiterreichende Eingriffe in vorbehaltslose Freiheitsrechte für zulässig hält, wenn sie durch kollidierendes Verfassungsrecht legitimiert sind.45 Die Gegenansicht verabsolutiert den Verfassungstext und führt zu einer zu pauschalen Bevorzugung von vorbehaltslosen Freiheitsrechten. Zudem ist die Position auch nicht ganz stringent. Denn die gleichzeitig getroffene Annahme, daß das Untermaßverbot nur durch eine großzügige Evidenzkontrolle überprüft werden kann,46 paßt nur eingeschränkt zu der angestrebten möglichst weitgehenden Gewährleistung der vorbehaltslosen Freiheitsrechte. Da Unter- und Übermaßverbot beim vorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsgrundrecht nach der Konzeption zusammenfallen, dürfte nämlich dann konsequenterweise auch das Übermaßverbot nur einer Evidenzkontrolle unterzogen werden. Dies würde aber der beabsichtigten Stärkung der vorbehaltslosen Freiheitsrechte zuwiderlaufen. 43
In diese Richtung ebenfalls Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 313. Nach dieser Meinung verstoßen also intensivere Eingriffe in vorbehaltslose Grundrechte als bloße Mindesteingriffe gegen das Übermaßverbot. 45 Vgl. BVerfGE 28, 243 (261); 49, 24 (55 f.) BVerfGE 81, 278 (292 ff.); 83, 130 (139); 84, 212 (228); Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Vorbemerkung, Rn. 88 m.w.N.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Vorb. Art. 1, Rn. 38, 45 f.; Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 120 ff. 46 Lenz/Leydecker, DÖV 2005, S. 841 (849). 44
III. Unmöglichkeit der Kollision von Unter- und Übermaßverbot
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II. Ergebnis Als Ergebnis läßt sich damit feststellen, daß das Untermaßverbot in keiner Konstellation mit dem Übermaßverbot deckungsgleich ist. Vielmehr ergibt sich eine erhebliche Bandbreite zwischen Über- und Untermaßverbot, innerhalb derer der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zulässig handeln kann. Der Staat darf nicht weniger für den Schutz tun als vom Untermaßverbot gefordert und nicht mehr als vom Übermaßverbot erlaubt. Die Spannbreite zwischen Unter- und Übermaßverbot stellt sich dabei als Anzahl der politischen Handlungsalternativen im nicht justitiablen Bereich dar. Das Untermaßverbot ergibt sich vor allem aus der Prüfung des objektiv-rechtlichen und das Übermaßverbot aus der Prüfung des subjektiv-rechtlichen Gehalts.47 Die beiden Grundrechtsdimensionen können dabei zu demselben Grundrecht oder zu verschiedenen Grundrechten gehören.
III. Unmöglichkeit der Kollision von Unter- und Übermaßverbot Unter- und Übermaßverbot sind nach den bisherigen Erkenntnissen der Arbeit durch zwei selbständige, voneinander unabhängige Prüfungen zu ermitteln. Gegen diese These wendet Tzemos in seiner Dissertation zum Untermaßverbot ein, daß in diesem Falle Unter- und Übermaßverbot zu einander widersprechenden Ergebnissen führen könnten.48 Unter- und Übermaßverbot könnten sich dann überschneiden und gleichzeitig verletzt sein.49Auch Ipsen gibt insofern zu Bedenken, daß das Bundesverfassungsgericht in das verfassungsprozessuale Dilemma geraten könnte, indem es unter Umständen über die Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen entscheiden müßte, die es selbst zuvor als verfassungsgeboten angesehen hat.50 Will man jedoch nicht zu einer völligen Umdefinition der beiden Begriffe kommen, ist eine Kollision von Unter- und Übermaßverbot bei ein- und demselben Sach47 Bei dem Schutzsuchenden bestimmt der objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalt eines Grundrechts das Mindestmaß an Schutz, während das durch den staatlichen Eingriff aktivierte Abwehr-Grundrecht (das ein völlig anderes Grundrecht sein kann) das Höchstmaß an Eingriff festlegt. Die Spannbreite könnte aber auch anhand nur eines Grundrechts in der Abwehr- oder Schutzdimension dargestellt werden. Beim Abwehrrecht läge diese Spannbreite dann zwischen einem vom Untermaßverbot geforderten Mindesteingriff und vom Übermaßverbot verbotenen Höchsteingriff desselben Grundrechts. Siehe dazu sogleich. 48 Tzemos, Das Untermaßverbot, S. 85. Entgegen Tzemos ist diese These bei Brüning, JuS 2000, S. 955 (958), nicht zu erkennen. 49 Mit seiner Argumentation wendet sich Tzemos gegen die Annahme eines Handlungsspielraums zwischen Unter- und Übermaßverbot. Im Rahmen eines Ausgleichs von Grundrechtskonflikten will er Unter- und Übermaßverbot zusammenführen. Siehe dazu unter Teil 3, X. 1. 50 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 96.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
verhalt logisch zwingend ausgeschlossen.51 R. Rassow begründet diese Unmöglichkeit mit der treffenden Kurzformel, daß in einem zu beurteilenden Fall entweder die Schutzaspekte oder die Abwehraspekte überwiegen müssen.52 Dadurch ist eine gleichzeitige Verletzung von Unter- und Übermaßverbot ausgeschlossen. Dieses läßt sich auch etwas aufwendiger anhand einer Umwandlung des Korridors zwischen Unter- und Übermaßverbot in nur eine der beiden Grundrechtsdimensionen logisch belegen.53 Der Korridor an Handlungsalternativen der Politik, der begrenzt wird durch ein Mindestmaß an notwendigem staatlichem Schutz und auf der „Störerseite“ durch das zulässige Höchstmaß an Eingriff in ein möglicherweise ganz anderes Grundrecht, läßt sich nämlich auch bei nur einem der beiden Betroffenen und damit anhand nur einer der beiden betroffenen Grundrechtsdimensionen darlegen.Denn der Nicht-Eingriff beim Störer entspricht dem Nicht-Schutz beim Schutzsuchenden. Das Untermaßverbot der grundrechtlichen Schutzdimension gebietet ein bestimmtes Mindestmaß an Eingriff in das Abwehr-Grundrecht. Die Mindestschwelle des notwendigen Schutzes stellt also die Mindestschwelle des notwendigen Eingriffes in das Freiheitsgrundrecht dar.54 Gleichzeitig bestimmt das Übermaßverbot das Höchstmaß an Eingriff in dasselbe Abwehrgrundrecht. Damit ergibt sich also ein Korridor beim Abwehrgrundrecht zwischen Mindesteingriff und Höchsteingriff. Das gleiche gilt umgekehrt für die Schutzdimension. Auch hier läßt sich der Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot ausschließlich in die Schutzdimension übersetzen. Hier bestimmt dann das Übermaßverbot das Höchstmaß an Schutz und das Untermaßverbot das Mindestmaß an Schutz. Daraus folgt eindeutig, daß der Staat nicht gleichzeitig gegen das Unter- und das Übermaßverbot verstoßen kann. Das hieße nämlich, daß der Staat gleichzeitig zu viel und zuwenig in das betreffende Abwehrgrundrecht eingreifen würde. In der Schutzdimension würde er durch eine Handlung gleichzeitig zu viel und zu wenig Schutz gewährleisten. Der Staat kann aber nicht gleichzeitig zu viel und zu wenig getan haben. Eine Kollision von Unter- und Übermaßverbot ist also nicht möglich.
51 Im Ergebnis folgt dem auch Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 263, 264. Allerdings will Aubel dazu, anders als die hier die vertretene logische Schlußfolgerung, notfalls das Untermaßverbot auf das Übermaßverbot abstimmen. 52 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 113. 53 Der bisher zugrunde gelegte Korridor ist ein Korridor der politischen Handlungsalternativen, der nach der Intensität des Schutzes zwischen Unter- und Übermaßverbot gestaffelt ist. 54 Dabei ist auch möglich, daß die Eingriffe auf verschiedene Abwehrrechte verteilt werden, da für das Untermaßverbot das gesamte Schutzpflichtenkonzept relevant ist. Aus Gründen der Einfachheit wird hier jedoch modellhaft nur der Eingriff in ein Abwehrgrundrecht dargestellt.
IV. Engerer Spielraum in zugespitzten Konfliktlagen möglich
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IV. Engerer Spielraum in zugespitzten Konfliktlagen möglich Auch wenn es unmöglich ist, daß Unter- und Übermaßverbot kollidieren, können ihre Grenzen im Einzelfall durchaus näher beieinander liegen. Dies betrifft Fälle, in denen aufgrund zugespitzter grundrechtlicher Konfliktlagen besonders intensive Eingriffe zum Schutz von Dritten erforderlich sind. Dazu gehören vor allem die Fälle des Lebensschutzes, in denen bei einem Nichthandeln des Staates eine schwere Verletzung oder gar der Tod des Schutzbedürftigen droht. Der mögliche engere Spielraum betrifft dabei alle drei Gewalten. So rückt ein staatliches Unterlassen in der plastischen Situation einer Geiselnahme in greifbare Nähe des Untermaßverbotes, wenn der Geiselnehmer durch einen Rettungsschuß unschädlich gemacht werden könnte und insbesondere Verhandlungen keinen Erfolg versprechen. Gleichzeitig liegt die Übermaßproblematik durch eine mögliche schwere Verletzung oder gar den Tod des Geiselnehmers auf der Hand. Eine besondere grundrechtliche Konfliktlage lag ebenfalls der Abtreibungsproblematik zugrunde. Bei aller Unsicherheit darüber, ab wann bereits „vollausgeprägtes“ menschliches Leben durch eine Abtreibung beendet wird,55 steht doch fest, daß jedenfalls beginnendes und zukünftiges menschliches Leben verhindert wird. Aus diesem Grunde mußte das Untermaßverbot hier auch einen intensiveren Schutz gewährleisten. Auf der anderen Seite rückt aufgrund der Besonderheit, daß eine Verpflichtung zur Austragung des Kindes einen ganz erheblichen Einschnitt in die persönliche Lebensgestaltung der Frau bedeutet, das Übermaßverbot ebenfalls in den Blickpunkt der grundrechtlichen Betrachtung. Es wird offensichtlich, daß hier der Spielraum zwischen Über- und Untermaßverbot enger wird. Das heißt jedoch keineswegs, daß in diesen Fällen nur noch ein gradueller Unterschied zwischen Unter- und Übermaßgrenze bestehen würde.Der Spielraum wird in Ausnahmelagen nur geringer. So wird man in dem erwähnten Beispiel den handelnden Polizeieinheiten vor Ort einen Einschätzungsspielraum zubilligen müssen. Im Bereich der Rechtssetzung ist der Gesetzgeber trotz enger werdender verfassungsrechtlicher Grenzen in zugespitzten grundrechtlichen Konfliktlagen nach wie vor beauftragt, eine politische Lösung zu finden, die eines verfassungsrechtlichen Spielraumes bedarf. Denn auch Entscheidungen über schwierige Konfliktfälle dürfen als ethische Grundentscheidungen nicht ohne deutliche verfassungsrechtliche Notwendigkeit der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung entzogen werden.
55 Vgl. zu dieser Unsicherheit: Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen, S. 139.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
V. Fazit: Entweder Unter- oder Übermaßproblematik Aus den obigen Feststellungen folgt, daß es sich bei den zu beurteilenden Fällen entweder um eine Untermaß- oder Übermaßproblematik handelt. Diese Unterscheidung bleibt auch dann noch erkennbar, wenn man in zugespitzten Konfliktlagen einen engen Spielraum zwischen Untermaß- und Übermaßverbot annehmen möchte.Das liegt nicht zuletzt daran, daß die vorgenommene Handlung oder Unterlassung des Staates, die angegriffen wird, einen Orientierungspunkt bildet. Nimmt der Staat das Eingriffsniveau zurück, wird automatisch das Untermaßverbot in den Blickpunkt rücken; geht es um mehr gesetzlichen Schutz, gerät unweigerlich eine Übermaßverbotsverletzung in den Fokus. Ob es sich um eine Übermaß- oder Untermaßverbotsproblematik handelt, dürfte zudem im Nachhinein einer gerichtliche Kontrolle noch deutlicher zu erkennen sein.56 Sollte sich ausnahmsweise erst bei der Prüfung des einen oder anderen Verbotes zeigen, daß das jeweils andere betroffen ist, so ergibt sich aus dem Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot allerdings, daß zur endgültigen Beantwortung der Verfassungswidrigkeit57 zwingend ein Wechsel im Prüfprogramm stattzufinden hat. Beim Übermaßverbot ist ja dann gerade eine Unterlassung bzw. ein geringeres Handeln des Staates nicht bloß gerechtfertigt, sondern gerade gefordert. Bei einer möglichen Verletzung des Untermaßverbotes ist umgekehrt nicht nur ein aktiveres Handeln gerechtfertigt, sondern verfassungsrechtlich zwingend gefordert.
VI. Streit über die Eigenbedeutung des Untermaßverbotes Von der Frage, ob Unter- und Übermaßverbot deckungsgleich sind, ist die Frage zu trennen, ob dem Untermaßverbot überhaupt ein eigenständiger Bedeutungsgehalt zukommt. So lehnen teilweise auch die Ansichten, die einen Spielraum zwischen Unterund Übermaßverbot befürworten, einen darüber hinausgehenden, eigenständigen Aussagegehalt des Untermaßverbotes ab.58 Es handelt sich bei diesem Streit um einen weiteren Kernstreitpunkt über das Untermaßverbot.
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Vgl. O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). Selbstverständlich ist es nicht schädlich, vorab festzustellen, daß das zuerst geprüfte Verbot nicht verletzt ist. Nur die Feststellung einer Verletzung würde eine gleichzeitige Verletzung des gegenüberliegenden Pols ausschließen. 58 Vgl. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 87; Dietlein, ZG 1995, S. 131 (140, 141); Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 184. 57
VI. Streit über die Eigenbedeutung des Untermaßverbotes
135
1. Ansicht: Kein eigenständiger Bedeutungsgehalt Aus dem Untermaßverbot ergeben sich nach den Kritikern keine Anforderungen, die unter Zugrundelegung staatlicher Schutzpflichten nicht ohnehin bestehen würden.59 Wenn der Staat überhaupt Schutzpflichten habe, dann müsse er diese auch erfüllen.60 So folge bereits aus der Annahme der Schutzpflicht als solcher das Gebot der Pflichterfüllung im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes, das angeblich Inhalt des Untermaßverbotes sei.61 Der Ausdruck Untermaßverbot besage also über den Begriff der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht hinaus nichts Neues.62 Der Gesetzgeber werde durch das Untermaßverbot nicht stärker oder gegenüber der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht nicht zusätzlich gebunden.63 So wenig ein Rad schneller sein könne als der ganze Wagen, sowenig könne das Untermaßverbot eine höhere Regelungsdichte aufweisen als der zugrunde liegende Gesetzgebungsauftrag.64 Die Kritiker gehen davon aus, daß sich das Untermaßverbot als integraler Bestandteil von weitmaschigen Gesetzgebungsaufträgen nicht verdichten läßt. Diese enthielten lediglich abstrakte Zielvorgaben im Sinne eines Finalprogramms. Das Untermaßverbot sei deshalb kaum operabel.65 Ausdrücklich schreibt Dietlein hierzu: „In der Logik dieser finalen Konzeption von Gesetzgebungsaufträgen liegt es, daß die Ausführung des Programms, insbesondere die Auswahl der Mittel sowie die Lösung sich ergebender Ziel- und Mittelkonflikte, grundsätzlich der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bleiben. Reduktionen des Gestaltungsermessens „auf Null“ sind dabei allenfalls theoretisch, kaum aber praktisch denkbar.66 Diese Grundstruktur verfassungsrechtlicher Gesetzgebungsaufträge […] kann durch das Untermaßverbot weder aufgehoben noch abgeändert werden. Auch das Untermaßverbot unterfällt damit – sofern man ihm überhaupt eine eigenständige Bedeutung beimessen will – der geringen Regelungsdichte eines „Finalprogramms“. Eine nähere Determination der vom Gesetzgeber im Einzelfall geschuldeten Leitung könne dementsprechend von Seiten des Untermaßverbotes nicht erwartet werden.“67 Auch Scherzberg sieht in den objektiven-grundrechtlichen Regelungsgehalten zunächst lediglich eine „wei59 Vgl. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 86; Dietlein, ZG 1995, S. 131 (132, 133); Hain, DVBl 1993, S. 982 (983); Starck, JZ 1993, S. 816 (817); Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 94; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 347 f.; Streuer, Die positiven Verpflichtungen des Staates, S. 149. 60 Hain, DVBl 1993, S. 982 (983). 61 Hain, DVBl 1993, S. 982 (983). 62 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (140); Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 94. 63 Starck, JZ 1993, S. 816 (817). 64 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (140). 65 Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 2 II, Rn. 89; Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, S. 68; ebenfalls kritisch: Lee, in: FS für Starck, S. 297 (314, 315); in Bezug auf das Unter- wie Übermaßverbot: Scherzberg, VVDStRL 63 (2003), S. 214 (243). 66 Vgl. Scherzberg, DVBl 1989, S. 1128 (1134). 67 Dietlein, ZG 1995, S. 131 (140).
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
che“ Steuerung staatlichen Handelns. Er gesteht dem Untermaßverbot jedoch insofern eine eigenständige Bedeutung zu, als daß er in ihm das einzige Instrument der objektiv-rechtlichen Dimension sieht, das eine strikte und justitiable Bindung des Staates herstellen könne. Das Untermaßverbot garantiert dabei nach Scherzberg aber nur ein Minimum an realen Freiheitschancen,68 wobei der Schutz dieses Minimums als subjektives Recht gewährleistet werde.69
2. Gegenansicht: Mehrwert des Untermaßverbotes Der inzwischen überwiegende Teil der Literatur70 geht hingegen von einem eigenständigen Bedeutungsgehalt des Untermaßverbotes aus. Das Untermaßverbot stelle eine sinnvolle, den Fortschritt der Grundrechtsdogmatik wiedergebende Ergänzung des gesetzgeberischen Konfliktschlichtungsauftrages dar. Das Instrument sei notwendig, um den Schutzpflichten konkrete Gestalt geben zu können.71 Die Schutzpflicht entscheide nämlich lediglich, ob der Staat überhaupt schützen müsse. Dagegen bestimme das Untermaßverbot, daß dieser Schutz hinreichend wahrzunehmen sei.72 Die Schutzpflicht betreffe daher die Frage, ob zu schützen sei, und das Untermaßverbot die Frage, wie zu schützen sei.73 Eingehend mit der eigenständigen Bedeutung des Untermaßverbotes gegenüber der Schutzpflicht hat sich M. Möstl in seiner Habilitationsschrift beschäftigt.74 Ausgehend von seiner These,75 daß Schutzpflichten mehrere Grade normativer Verbindlichkeit enthalten können, unterscheidet Möstl in Schutzrechtskonstellationen zwei relevante Stufen. Auf der ersten Stufe rangiere die Staatsaufgabe Sicherheit als Staatszielbestimmung.76 Angesichts ihrer Konkretisierungsbedürftigkeit und Offen68 Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 352; Ders., Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 208 ff. 69 Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 381; Ders., Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 221. 70 Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 219; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 39; Canaris, Grundrechte und Privatrechte, S. 86, 87; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 82, 83, 104; Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 266; Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 ff.; Rassow, Staatliche Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 92 f.; O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962, 964). 71 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 92. 72 Canaris, Grundrechte und Privatrechte, S. 86. 73 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 86. 74 Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, Tübingen 2002. 75 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 42 f. 76 Möstl spricht zudem von der Staatsaufgabe Sicherheit als einem Oberbegriff im Sinne von „Etwas Aufgegeben“ (S. 43 f.). Dieser Oberbegriff begründet nach Möstl aber keine normative Wirkkraft, weshalb er an dieser Stelle auch nicht weiter erläutert werden soll.
VI. Streit über die Eigenbedeutung des Untermaßverbotes
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heit erreiche diese die Bindungskraft einer Direktive. Zum Tragen komme die Staatszielbestimmung Sicherheit bei der Auslegung von Rechtsvorschriften sowie als Zielvorgabe für das Handeln des Staates. Aussagen über ein zu erreichendes Schutzniveau oder einzusetzende Mittel seien dieser Zielvorgabe nicht zu entnehmen. Dies bedeute aber nicht, daß es sich bei der Staatszielbestimmung nur um einen verfassungspolitischen Programmsatz handeln würde. Vielmehr sei auch die Staatszielbestimmung verfassungsrechtlich bindend und damit im Rahmen ihrer inhaltlichen Tragweite justitiabel. Eine Verletzung könne jedoch regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn von einer ernsthaften Zielverfolgung überhaupt nicht mehr gesprochen werden könne.77 Da mit dem Untermaßverbot dagegen ein bestimmtes Schutzniveau ermittelt werde und die dafür eingesetzten Mittel überprüft würden, sei die Verwendung dieses Begriffes auf der Stufe der Staatszielbestimmung nicht angebracht und mißverständlich. Auf einer vergleichbaren Stufe normativer Wirkkraft befinden sich nach Möstl die herkömmlichen Schutzpflichten. Diese basierten auf den Grundrechten als objektiver Werteordnung, ohne subjektive Rechte zu vermitteln. Die herkömmlichen Schutzpflichten seien nicht auf die Gewährleistungen eines bestimmten Mindestmaßes, sondern auf eine möglichst breite Gewährleistung angelegt. Ihre Wirkungsweise und Bindungskraft bestünden in erster Linie – insofern strukturell mit der Staatszielbestimmung vergleichbar – darin, als Grundentscheidungen den drei Gewalten Impulse und Richtlinien zu vermitteln. Jedoch seien die Schutzpflichten auf diesem Stand nicht stehen geblieben.78 So habe sich in der Literatur und Rechtsprechung zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, daß Grundrechte Freiheit gewährleisten, indem sie Schutz- und Abwehrrechte vermitteln, es sich also bei Freiheit und Schutzrechten um zwei komplementäre Grundrechtsfunktionen handele. Dieser Erkenntnisprozeß habe zu der Entwicklung des Untermaßverbots geführt. Mit ihm habe sich eine neue Kategorie von Schutzpflichten herausgebildet, die sich dadurch auszeichneten, daß sie zwar handfest, konkret und justitiabel seien sowie subjektive Rechte verliehen, im Gegenzug aber von Anfang an auf das Untermaß begrenzt seien.79 Damit können sich nach Möstl in der Schutzdimension eines Grundrechts zwei Wirkungsweisen mit unterschiedlicher Reichweite vereinigen. Zum einen die herkömmlichen, aber kaum justitiablen Schutzpflichten80 und zum anderen das Untermaßverbot, das zwar nicht weiter wirkt als die Gewährleistung eines Mindestmaßes, dafür aber den Rang einer justitiablen grundrechtlichen Gewährleistung und subjektiven Rechtszuweisung einnimmt.
Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 74. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 79. 79 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 82, 83. 80 Aufgrund der begrenzten Wirkungsweise der herkömmlichen Schutzpflichten, ist nach Möstl der Begriff „Schutzaufgabe“ für diese Schutzpflichten passender. 77 78
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
3. Eigene Bewertung a) Bedeutungsgehalt und Mehrwert des Untermaßverbotes Die Aufteilung der Schutzpflichten in mehrere Grade normativer Verbindlichkeit stellt einen gewinnbringenden Beitrag zur Systematisierung der bisher vagen Schutzpflichtendimension dar. Sie entspricht dem Erfordernis, zwar einerseits Rechtsschutz für Schutzbedürftige nicht ins Leere laufen, gleichzeitig jedoch justitiable Schutzpflichten auch nicht ausufern zu lassen. Der „Mehrwert“ der Unterscheidung von Untermaßverbot und sonstigen Schutzpflichten läßt sich zunächst anhand des vor dem Untermaßverbot allein verwendeten Begriffes der „Schutzpflicht“ deutlich machen. So wurde der Begriff im wesentlichen für drei unterschiedliche Konstellationen verwendet: Zum einen war mit dem Hinweis darauf, daß der Staat seine Schutzpflicht zu erfüllen habe, lediglich eine generell bestehende Handlungspflicht gemeint, die aus einer bestimmten Bedrohungslage für ein Schutzgut resultiert. Damit wurde aber weder auf ein konkretes Mindestmaß der Erfüllung hingewiesen, noch wurde damit ausgedrückt, wie der Staat diese Schutzaufgabe erfüllen solle. In diesem Sinne war die Schutzpflicht tatsächlich weitmaschig und einer weiteren Verdichtung kaum zugänglich.81 Daneben wurde, wenn auch seltener, der Begriff der Schutzpflicht auch in den Fällen verwendet, in denen eine ganz bestimmte und justitiable Handlungspflicht des Staates eingefordert wurde, wie beispielsweise die Herabsetzung konkreter Immissionswerte. Von diesem Einfordern einer ganz bestimmten Schutzpflicht unterscheidet sich das Untermaßverbot dadurch, daß es als bloßes Instrument zur Feststellung, ob das Schutzniveau in einer bestimmten Bedrohungslage ausreichend ist, bestimmte Mittel zur Behebung des Schutzdefizits an sich nicht vorgibt.82Aus diesem Grunde läßt sich das Untermaßverbot mit dem Einfordern eines bestimmten Schutzmittels streng genommen auch gar nicht einklagen.83 Denkbar wäre dies nur in dem Fall, daß alle anderen Schutzmittel als das eingeforderte gegen das Untermaßverbot verstoßen, also ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegen würde. Erst mit der Behauptung – und dritten Variante –, daß der Staat seine Schutzpflicht in einer konkreten Situation defizitär wahrgenommen hat, nähert man sich dem Aussagegehalt des Untermaßverbotes. Jedoch gibt das Untermaßverbot in diesem Fall gleichzeitig eine pointierte Antwort auf das „Warum“ der Verletzung. Die Schutzpflicht ist nämlich deshalb verletzt, weil das Schutzniveau gegen das verfassungsrechtlich geforderte Mindestmaß verstößt. Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 100. O. Klein, JuS 2006, S. 960 (961); Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 146; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 214. 83 Vgl. Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 83; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 214. 81 82
VI. Streit über die Eigenbedeutung des Untermaßverbotes
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Die Kritiker verkennen demzufolge, daß das Untermaßverbot gerade auf dem Feld der „Verdichtungsmöglichkeit von Schutzpflichten“ eine entscheidende Verbesserung darstellt.Als justitiabler Kontrollmaßstab ist es besser faßbar und besser konturierbar als die weitmaschigeren und mehrdeutigen Schutzpflichten.84 Deshalb ist das Untermaßverbot nicht nur eine inhaltlich bedeutende Erweiterung, sondern dient auch der klaren begrifflich-sprachlichen Zuordnung innerhalb des Schutzpflichtensystems. Zwar ist es richtig, daß das Untermaßverbot gegenüber der bisherigen Schutzpflicht nicht ein „Mehr“ im Sinne eines weitergehenden Schutzes beinhaltet.85 Jedoch erlaubt es die konkrete gerichtliche Feststellung eines „Zuwenig“ an Schutz. Seine Eigenständigkeit und sein Erkenntnisgewinn bestehen in der Markierung der Justitiabilitätsgrenze staatlichen Unterlassens. Darin kommt gleichzeitig auch ein weiterer Fortschritt des Untermaßverbotes zum Tragen: Es begrenzt nämlich, wie Möstl treffend herausgestellt hat, die vagen Schutzpflichten von vornherein auf ein justitiables Maß. Die Verletzungslinie wird dabei nicht abstrakt beschrieben, sondern kommt nur als Kontrollinstrument bei der Überprüfung einer konkreten Schutzpflichtenkonstellation zum Tragen. Das Untermaßverbot überprüft also nur gegebene Schutzmittel und soll nicht alternative Schutzmittel ergründen.86 Der Ergebnissatz einer Untermaßverbotsprüfung lautet deshalb, daß ein konkretes Schutzniveau entweder gegen das Untermaßverbot oder im entgegengesetzten Fall nicht gegen das Untermaßverbot verstößt. Aus diesem Grunde ist das Untermaßverbot auch etwas anderes als bloß ein „unselbständiger Teil eines bestehenden Gesetzgebungsauftrages“. Vielmehr löst es einen konkreten Gesetzgebungsauftrag erst aus, ohne dessen Bestandteil zu werden, da die Umsetzung von ihm nicht vorgegeben wird. Insofern läßt es sich auch entgegen der Ansicht der Skeptiker genauso in ein „Wenn-Dann-Schema“ einpassen wie das Übermaßverbot. Immer dann, wenn der Schutz ungenügend ist, ist das Untermaßverbot verletzt. Und wenn das Untermaßverbot verletzt ist, dann muß der Staat den Schutz anheben. Schließlich ist auch der Meinung entgegenzutreten, wonach das Untermaßverbot das „Wie“ des Schutzes beschreibt, wie dies einige Befürworter der Figur annehmen.87 Nach der hier herausgearbeiteten Aufteilung ergibt sich demgegenüber folgendes Bild: Die abstrakte Schutzpflicht als Staatsaufgabe bezieht sich auf das „Ob“ des Schutzes, das Untermaßverbot auf das „Ab wann“ einer justitiablen Schutzge-
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So wohl auch Jarass, Grundrechte als Wertentscheidung, AöR 110 (1985), S. 363 (383). Dies liegt bereits schon daran, daß eine Konkretisierung nicht weiter reichen kann als die Regelungsmaterie, aus der heraus konkretisiert wird. Vgl. dagegen für eine weitergehende Wirkkraft des Untermaßverbotes gegenüber den herkömmlichen Schutzpflichten: Sondergutachten des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen „Umwelt und Gesundheit – Risiken richtig einschätzen“ vom 15. 12. 1999, Bundestags-Drucksache 14/2300, S. 45. 86 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 105. 87 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 86; ablehnend ebenfalls, O. Klein, JuS 2006, S. 960 (961); Hesse, Gründzüge des Verfassungsrechts, Rn. 350. 85
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
währleistung und eine konkret eingeforderte Schutzpflicht auf das „Wie“ des Schutzes. Zusammenfassend läßt sich nach alldem festhalten, daß dem Untermaßverbot eine eigenständige Bedeutung zukommt. b) Konsequenz: Untermaßverbot ist Kontrollnorm und nicht Handlungsnorm Mit der getroffenen Einordnung des Untermaßverbotes steht gleichzeitig fest, daß es im Sinne der Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm als Kontrollnorm fungiert.88 Mit dieser Unterscheidung versucht ein Teil der Literatur das Problem zu lösen, daß zwar nach dem Grundgesetz der Gesetzgeber durch das Verfassungsgericht kontrolliert wird, der Politik aber gleichzeitig nicht zu viele Vorgaben gemacht werden sollen.89 Der Aufteilung liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Bindungswirkung von Verfassungsnormen über den Bereich hinausgreift, den das Verfassungsrecht kontrollieren kann.90 Grundrechtsbindung sei nicht identisch mit vollständiger Justitiabilität.91 Für die aktiv handelnden staatlichen Organe, z. B. den Bundestag, sei eine Verfassungsnorm „Handlungsnorm“ im Sinne einer Handlungsanweisung.92 Für das Verfassungsgericht sei dieselbe Verfassungsvorschrift „Kontrollnorm“, an der das Handeln der staatlichen Organe gemessen wird.93 Nach dieser Ansicht sind also materielle Norm und Kontrollnorm inkongruent. Für den Bereich der Schutzpflichten bedeutet das, daß die Schwelle der Handlungspflicht des Gesetzgebers durchaus über der Minimalmarke der nicht völligen Unzulänglichkeit staatlicher Schutzmaßnahmen liegen kann, daß sich aber die richterliche Kontrollbefugnis regelmäßig nicht über diese Marke hinaus erstreckt.94 Mit Hilfe dieser Konzeption wird nach ihren Befürwortern sowohl eine eigenständige, über ihre Verletzungsgrenze hinausgehende Bedeutung der grundrechtlichen Schutzpflichten gewährleistet als auch der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum gewahrt.95
88 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 219. 89 Vgl. Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (558); Denninger, in: FS für Mahrenholz, S. 561 (568); O. Klein, JuS 2006, S. 960 (961, 962); Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 162; Bryde, Handbuch der Grundrechte, § 17, Rn. 56 f.; Mayer, Untermaß, Übermaß, Wesensgehaltsgarantie, S. 92 f. 90 Vgl. Hesse, in: FS für Mahrenholz S. 541 (558). 91 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 304 f. 92 Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 516. 93 Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 516. 94 Vgl. Denninger, in: FS für Mahrenholz S. 561 (568); Hesse, in: FS für Mahrenholz S. 541 (558). 95 Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (558).
VI. Streit über die Eigenbedeutung des Untermaßverbotes
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Dagegen wird vorgebracht, daß eine Aufspaltung von Normen in Handlungs- und Kontrollnormen mit der Verfassung selbst nicht vereinbar sei.96 Soweit nämlich die von Art. 1 III GG statuierte Bindung aller Staatsfunktionen einschließlich der gesetzgebenden Gewalt an die Grundrechte reiche, solle diese Bindung auch gemäß Art. 93 I GG verfassungsgerichtlich einzufordern sein.97 Demnach könne der Berechtigte auch das einfordern, was der Verpflichtete schulde.98 Vor allem aber stelle sich die Frage, welche Wirkkraft denn die lediglich zur Handlung verpflichtenden Normen besäßen, wenn ihre Einhaltung nicht kontrolliert werden dürfe.99 Derartige Unklarheiten würden zur Rechtsunsicherheit führen.100 Zudem seien die „Handlungsnormen“ nur ein unverbindlicher Appell und damit ein zahn- und wirkungsloses Recht, da ein Verstoß nicht festgestellt werden könne, von der Verhängung von Sanktionen oder der Rechtsdurchsetzung ganz zu schweigen.101 c) Diskussion Die Aufteilung in Handlungs- und Kontrollnorm stellt einen tragfähigen Ausgleich zwischen dem Erfordernis ausreichender politischer Spielräume und dem Charakter der Grundrechte dar. Insbesondere ermöglicht sie eine Konstruktion, bei der die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte auch über den Mindestschutz des Untermaßverbotes hinausreichen und damit auch im nichtjustitiablen Bereich Impulse vermitteln können. Zwar könnten grundsätzlich die Grundrechte auch so ausgelegt werden, daß sie durch das Erfordernis der Gewaltenteilung begrenzt werden, so daß sich auch auf diesem Wege ein nicht-justitiabler Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot konstruieren läßt.102 Die Grundrechtsgehalte reichten dann nur soweit, wie sie auch kontrolliert würden, nämlich bis zu der Grenze der beiden Verbote. In diesem Fall bestünde aber die große Gefahr, daß dieser begrenzte Aussagegehalt der Grundrechte als unergiebig kritisiert und ein erheblicher Hang entstehen würde, den Grundrechten 96 Vgl. Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Einführung, Rn. 51; Heun, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 48 f.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 590; H. H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495); Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (27); Starck, in: Handbuch des Staatsrechts VII, § 164, Rn. 14; Brönneke, Umweltverfassungsrecht, S. 465; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 186 ff.; H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495); Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichem Gewande, S. 72 f. 97 Böckenförde, Der Staat 29 (1990), S. 1 (27); Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 72, 73. 98 H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495). 99 Heun, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit S. 48; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 193. 100 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 590. 101 Heun, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit S. 48. 102 Denn auch dann, wenn man von einer Kongruenz von Grundrechtsbindung und Kontrolle ausgehen würde, wäre der Bereich zwischen Unter- und Übermaßverbot nicht justitiabel.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
doch eine weitreichendere Bedeutung zuzuschreiben, womit dann aber automatisch auch der justitiable Bereich ausgedehnt würde. Darüber hinaus scheint die umfassende Verwirklichungsabsicht der Grundrechte einer Begrenzung ihres Gehaltes auf Unter- und Übermaßverbot nicht zu entsprechen. Andernfalls wäre der nicht-justitiable Bereich zwischen den beiden Verboten völlig frei von grundrechtlichen Intentionen und Wirkungen. Der Charakter der Grundrechte spricht jedoch eher für die Sichtweise, daß es sich bei dem Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot nicht um einen grundrechtslosen Bereich handelt, sondern hier vielmehr dem Gesetzgeber die alleinige Kompetenz zukommt, zu entscheiden, wie ein Ausgleich der unterschiedlichen Interessen am besten gestaltet werden soll. Aus diesen Gründen ist den Grundrechten also auch im nicht-justitiablen Bereich eine Appellwirkung an den Gesetzgeber zuzuschreiben. Allerdings muß insoweit Klarheit herrschen, daß die Bindungswirkung tatsächlich nur in einer Appellwirkung besteht. Diese vermag lediglich das Bemühen des Gesetzgebers um einen angemessenen Ausgleich der Interessen einzufordern.
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot Da in den vorhergehenden Kapiteln geklärt wurde, daß das Untermaßverbot nicht bereits Bestandteil der Prüfung des Übermaßverbotes ist und ihm eine eigenständige Bedeutung zukommt, kann sich nunmehr der Frage zugewandt werden, wie das nähere Verhältnis eines eigenständigen Untermaßverbotes zum Übermaßverbot zu bestimmen ist. Bedingt das Störerdreieck zwischen dem übergreifenden privaten Dritten, dem Staat und dem Schutzsuchenden ein symmetrisches Verhältnis von Unterund Übermaßverbot, wie das eine Meinungsgruppe behauptet? Bieten also Unterund Übermaßverbot den gleichen Gewährleistungsgehalt und müssen deshalb auch gleich geprüft werden? Oder steht einer solchen Gleichrangigkeit sowohl die klassische Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte als auch die Notwendigkeit eines erweiterten Gestaltungsspielraums der Politik in der objektiv-rechtlichen Dimension entgegen? Bezüglich des letztgenannten Problems des Gestaltungsspielraums ist ebenfalls zu klären, inwieweit dieses bereits dadurch gelöst wird, daß das Untermaßverbot zunächst rein feststellende Wirkung entfaltet und keine bestimmten Mittel zur Lösung von Schutzpflichtenfällen vorgibt. Dabei gelangen diejenigen Stimmen in der Literatur, die in der rechtlichen Ermöglichung eines Eingriffs eines privaten Dritten in die Interessen des Schutzsuchenden gleichzeitig eine staatlich auferlegte Duldungspflicht gegenüber dem Schutzsuchenden erblicken, bereits automatisch zu einer symmetrischen Prüfung von Abwehrrecht und Schutzanspruch.103 Denn aufgrund der angenommenen Pflicht des Einzelnen, 103
Siehe Teil 1, III. 3. e).
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
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den privaten Eingriff zu dulden, steht hier dem Schutzsuchenden nach dieser Meinung bereits das herkömmliche Abwehrrecht gegen den Staat zu. Eines Untermaßverbotes bedürfte es dann ebenso wenig wie der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte. Diese Ansicht ist allerdings aus den bereist genannten Gründen104 abzulehnen, so daß es bei der klassischen Unterscheidung von Abwehr- und Leistungsrechten bleibt. Demnach stellt sich die Frage, ob die objektiv-rechtliche Dimension einen zum Abwehrrecht gleichwertigen Grundrechtsgehalt vermittelt. Das ist in der Literatur umstritten.
1. Eine Ansicht: Unter- und Übermaßverbot sind symmetrisch So geht eine beachtliche Meinung im Schrifttum davon aus, daß zwischen Unterund Übermaßverbot eine dogmatische Balance besteht.105 Beide Verbote müßten prinzipiell gleichberechtigt angewendet werden. Besonders pointiert wird diese Position von Calliess vertreten, der eine strenge Kongruenz der beiden Prüfungsmaßstäbe immer dann annehmen will, wenn es sich um ein mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis handelt, bei dem das Abwehrrecht des Begünstigten mit dem Schutzanspruch des Betroffenen kollidieren kann.106 Sei im Rahmen der Schutzpflicht nur eine Evidenzkontrolle des Verfassungsgerichts möglich, so dürfe, so Calliess, hinsichtlich des kollidierenden Abwehrrechts nicht etwa eine Vertretbarkeits- oder intensivierte Inhaltskontrolle zugrunde gelegt werden. Vielmehr sei dann hinsichtlich des Abwehrrechts ebenfalls nur eine Durchführung einer Evidenzkontrolle geboten, selbst wenn bei isolierter Betrachtung insoweit ein strengerer Kontrollmaßstab möglich wäre, da nur so die erforderliche Balance zwischen den Grundrechtspositionen des Begünstigten und des Betroffenen im mehrpoligen Verfassungsverhältnis gewahrt werden könne.107 Begründet wird die für geboten gehaltene Symmetrie von Unter- und Übermaßverbot mit verschiedenen Argumentationslinien.
104
Siehe Teil 1, III. 3. f). Vosgerau, AöR 2008, S. 350 352, 356 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 424 f., Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 445 f., 586 f.; Dirnberger, DVBl 1992, S. 879 (881, 882); Hager, JZ 1994, S. 373, 379 f.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 119; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 89 f.; Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1989); Suhr, JZ 1980, S. 166 (168 f.); Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (141 ff.); Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 268, 269; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 254; Franz, Der Staat 45 (2006) S. 501 (506 f.); Koch der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 393 f.; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 173, 175, 186 f.; H.H. Klein, DVBl 1994, 489 (496 f.); Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S 159 f.; in diese Richtung ebenfalls Dähne, Forschung zwischen Wissenschaftsfreiheit und Wirtschaftsfreiheit, S. 275 289, 290; differenzierend zwischen materieller und prozessualer Symmetrie O. Kein, Jus 2006, S. 960 (963). 106 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 463. 107 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 463. 105
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Zunächst wird geltend gemacht, daß eine Gleichberechtigung von Abwehrrecht und Schutzpflicht bereits ihren Ursprung in vertragstheoretischen Überlegungen habe. Zu einer verstärkten Schutzgewährung sei der Staat als Kompensation dafür verpflichtet, daß er im Zuge seines Gewaltmonopols dem Bürger die Möglichkeit der Selbsthilfe weitgehend entzogen und ihm eine entsprechende Friedenspflicht auferlegt habe.108 a) Keine Begünstigung des Stärkeren Vor allem werde bei unterschiedlicher Reichweite von Unter- und Übermaßverbot derjenige bevorteilt, der in die Sphäre seines Mitbürgers eingreife.109 Die Prämisse, daß der sogenannte status positivus höhere Wirkkraft aufweise als der status negativus, sei ein bloßer status-Trick, dessen dogmatische Mechanik zu einem Grundrecht des Stärkeren und Skrupelloseren führe, der ungehemmt und dynamisch genug sei, seine Interessen durchzusetzen.110 Dagegen werde der Beeinträchtigte zu einem „grundrechtlichen Habenichts“, dem nicht mehr als eine Mindestposition zustehe.111 Der Stärkere dürfe solange seine Interessen auf Kosten anderer Privater optimieren, bis diese auf das Persönlichkeits-, Ehr-, Eigentums- oder Gesundheitsminimum des Beeinträchtigten stießen.112 Interessante Überlegungen dazu, ob eine Bevorzugung des Stärkeren nicht auch gerechtfertigt werden könnte, stellt in diesem Zusammenhang R. Poscher in seiner Habilitationsschrift an. Wörtlich führt er aus: „Sollte der Aktive eine grundrechtliche Prämie nicht deshalb erhalten, weil die Aktivität die Gesellschaft nach vorne bringt und funktions- und innovationsfähig erhält – der Aktive nicht als Außenseiter und Quelle gesellschaftlicher Störungen, sondern als Motor, der in der Mitte der markwirtschaftlichen Gesellschaft steht und sich gegenüber den bloß Passiven durchsetzen können muß, da die Gesellschaft nicht still stehen kann? Sprechen nicht dafür auch 108
Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 445, 446. Hager, JZ 1984, S. 373 (381); Suhr, JZ 1980, S. 166 (176); Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 90. 110 Suhr, JZ 1980, S. 166 (168). 111 Besonders zugespitzt kritisiert die Vorrangestellung der Abwehrrechte Suhr, in: JZ 1980, S. 166 (170): „Wir sagen Autonomie der Persönlichkeit, aber meinen die Willkür des Individuums. Wir sagen Selbstverantwortung, aber meinen die Selbstherrlichkeit. Wir sagen Entfaltung, aber meinen nichts als Belieben. Wir intonieren feierlich: Freiheit des Menschen um seiner Würde Willen, aber denken insgeheim immer nur an tun und lassen, was er will.“ 112 Vgl. Hager, JZ 1994, S. 373 (381), der geltend macht, daß sich eine solche grundrechtliche Schieflage dann konsequenterweise auch im einfachen Recht fortsetzen müsse. Demnach könnte sich der Störer dann etwa gegen das Verbot des § 823 I BGB mit dem Abwehrrecht des Art. 5 I GG verteidigen, während der Beeinträchtigte nur auf den weniger weitgehenden Schutz der Interpretation des § 823 I BGB durch den Richter verwiesen wäre. Ebenso Suhr, JZ 1980, S. 166 (168). Für eine Ausnahme von der strikten Gleichbehandlung von Schutz und Abwehr bei Verträgen: Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 394, mit der Begründung, daß andernfalls eine faktische Bindung an die Grundrechte des Vertragspartners bewirkt würde. 109
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
145
die Fakten? Ist die Welt nicht asymmetrisch zugunsten von Störern eingerichtet? Ständig wird von anderen in unseren Lebensbereich eingegriffen, ständig werden wir bedrängt und belästigt. Beruht nicht unsere ganze Wirtschaftsordnung auf dem Aktivismus dieser Asymmetrie? Eine komplexe Gesellschaft mit vielfältigen Interaktionen und Beziehungen unter dem Druck knapper Ressourcen und grenzenloser Bedürfnisse kann nicht auf die Position eines Kräutchen-rühr-mich-nicht-an gegründet werden. Bildet die Asymmetrie zwischen Abwehrrecht und Schutzpflicht diesen faktischen Zustand der Welt nicht ganz zutreffend ab?“113 Poscher lehnt diese Fragen jedoch am Ende mit dem für ihn entscheidenden Argument der grundrechtlichen Gleichheit ab. Mit den Freiheitsrechten verbände sich untrennbar die Vorstellung, daß jedermann, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, den gleichen grundrechtlichen Status genießen solle. Das schließe zwar im Ergebnis eine asymmetrische Regelung der Konflikte nicht aus, doch sei diese Asymmetrie nicht grundrechtlich vorgegeben, sondern politisch zu verantworten und finde ihre Grenze in dem, was der allgemeine freiheitsrechtliche Status jedem Bürger gleichermaßen vermittele.114 b) Abwehrrecht und Schutzpflicht sind zwei Seiten derselben Medaille Darüber hinaus wird argumentiert, daß ein geringerer Gewährleistungsgehalt der objektiv-rechtlichen Dimension auch deshalb nicht in Betracht komme, weil es sich bei Schutz und Abwehr um zwei Seiten derselben Medaille handele. Denn Gesetze, die den einen schützen würden, griffen gleichzeitig bei anderen ein.115 Es sei aber denkgesetzlich ausgeschlossen, der einen Grundrechtsfunktion eine gesetzliche Folge zuzuordnen, die der anderen Grundrechtsfunktion grundsätzlich fehlen solle.116 So sei es letztlich lediglich eine Frage der prozessualen Fallgestaltung, ob das Bundesverfassungsgericht ein bestimmtes Problem auf dem Weg über das grundrechtliche Abwehrrecht oder über das Einfordern von Schutzpflichten erörtern müsse.117 Zudem könne man vielfach ein- und denselben Sachverhalt sowohl unter einem Eingriffs- als auch unter dem Schutzaspekt betrachten.118 Das ließe sich an einer Reihe von Beispielen zeigen. So konnte etwa die Regelung des früheren § 1934 c BGB, der das Erbrecht des nichtehelichen Kindes davon abhängig machte, daß das gerichtliche Verfahren zur Vaterschaftsfeststellung zur Zeit des Todes des Erblassers schon anhängig war oder jedenfalls ein Antrag innerhalb kurzer Frist gestellt wurde, sowohl als Eingriff des Staates in das grundrechtlich garantierte Erbrecht als auch als mangelnder Schutz aus Art. 6 V GG des nichtehelichen Kindes betrachtet 113
Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 91. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 92, 93. 115 Koch, Der Grundrechtsschutz des Drittbetroffenen, S. 388; Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 150, 151. 116 Dirnberger, DVBl 1992, S. 879 (881). 117 Dirnberger, DVBl 1992, S. 879 (881). 118 Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (145 f.); Hager, JZ 1994, S. 373 (381). 114
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
werden.119 Gleiches gelte für das sehr weitgehende zivilrechtliche Vertretungsrecht der Eltern für ihr nicht volljähriges Kind. Denn die Beschränkung der rechtsgeschäftlichen Handlungsfähigkeit stelle einerseits einen Eingriff des Staates in die Grundrechte des Kindes dar, anderseits könnte aber auch die Regelung der §§ 1643, 1822 BGB, die in bestimmten vermögensbedeutenden Fällen das elterliche Vertretungsrecht von einer Zustimmung des Familiengerichts abhängig machten, als nicht ausreichend für einen effektiven Schutz der finanziellen Interessen des Kindes erachtet werden.120 Ebenso bestätigten eine Reihe von Entscheidungen der Rechtssprechung, daß Abwehr- und Schutzaspekte nicht säuberlich voneinander getrennt werden könnten, und daß die vorgenommenen Abwägungen dadurch keineswegs fehlerhaft würden.121 c) Notwendiger Gestaltungsspielraum kein Spezifikum von Schutzpflichten Zudem wird als weiteres wesentliches Argument gegen eine geringere Wirkkraft des Untermaßverbotes von dieser Meinung vorgebracht, daß die Schutzpflicht nicht die Ursache für einen erweiterten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sei; Auslöser für einen geringeren Kontrollumfang des Bundesverfassungsgericht sei vielmehr eine Einschätzungsprärogative, die der Politik ganz allgemein im Verhältnis zum Verfassungsgericht zukomme.122 Der notwendige Gestaltungsspielraum sei keine Besonderheit bei der Erfüllung von Schutzpflichten, sondern stelle ein Spezifikum politischen Handelns dar, das in der Abwehr- wie in der Leistungsfunktion der Grundrechte gleichermaßen beachtet werden müsse.123 Zwar stellten sich Prognoseprobleme in der objektiv-rechtlichen Dimension aufgrund der Zukunftsgerichtetheit von Schutzpflichten häufiger. Dieses stelle jedoch lediglich einen graduellen und keinen qualitativen Unterschied dar. In beiden Dimensionen werde das Prognoseproblem zu einem Abwägungsproblem zwischen dem materiellen Grundrecht und der Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers. Damit stellten sich bei den Schutzpflichten im Hinblick auf die Justitiabilität keine Probleme, die nicht auch bei den Abwehrrechten auftauchen würden.124 Daran ändere auch die Gestaltungsoffenheit der Schutzpflichten nichts. Daß dem Gesetzgeber bei gleich geeigneten Instrumenten die Wahl der Mittel zukomme sei unabhängig von der Frage nach der notwendigen Intensität des Schutzes. Entscheidend für den Gestaltungsspielraum der Politik 119
Hager, JZ 1994, S. 373 (381). Hager, JZ 1994, S. 373 (381). 121 Vgl. Hager, JZ 1994, S. 373 (381) mit den entsprechenden Nachweisen. 122 Dirnberger, DVBl 1992, S. 879 (881, 882). 123 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420, 426; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 119; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 462; Dirnberger, DVBl 1992, S. 879 (881); Murswiek, WiVerw 1986, S. 179 (184); Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (153); Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 87. 124 Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen, S. 136; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 426. 120
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
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seien damit nicht strukturtheoretische Unterscheidungen von Abwehr- und Schutzrecht, sondern substantielle Fragen.125
2. Herrschende Meinung: Verhältnis von Unter- und Übermaßverbot ist asymmetrisch Nach der herrschenden Meinung ist dagegen die Schutzgebotsfunktion i.V.m. dem Untermaßverbot grundsätzlich schwächer als die Eingriffsverbotsfunktion i. V. m. dem Übermaßverbot.126 Aus diesem Grunde komme eine Übertragung des strikten Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie dieses im Rahmen des Übermaßverbotes entwickelt wurde, grundsätzlich nicht in Betracht.127 Auch die herrschende Ansicht stützt sich bei dieser Annahme auf verschiedene Überlegungen. Als gewichtiges Argument für ein asymmetrisches Verhältnis von Untermaß- und Übermaßverbot wird zunächst angeführt, daß es nicht gerechtfertigt sei, dem Staat im Bereich des Unterlassens dieselbe Argumentations- und Begründungslast aufzuerlegen wie im Bereich des Eingriffshandelns.128 Denn während ihn in der Eingriffsdimension eine Begründungslast nur für eine einzige Maßnahme – nämlich diejenige, die er ergriffen habe – treffe, müsse er sich in der objektiv-rechtlichen Dimension für eine Vielzahl unterlassener Schutzmaßnahmen rechtfertigen, ja sogar dafür entlasten, daß er überhaupt untätig geblieben ist.129 Es sei deshalb systemgerecht, wenn den Schutzsuchenden selbst 125 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 f., 426 f.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 462. 126 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 43 f.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber, S. 409, 485 f.; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 159; Brüning, JuS 2000, S. 955 (958); O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962, 963); Wahl/Masing, JZ 1990, S. 553 (559); Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 (384); Ders., NJW 1983, S. 2844 (2847); Bryde, Handbuch der Grundrechte I, § 17, Rn. 61, 62; Preu, JZ 1991, S. 265 (267); Winkler, NVwZ 2006, S. 536 (537); Linke, NWVBl 2006, S. 71 (77); Starck, in: FS für Isensee, S. 215 (219); Höfling/Augsberg, NVwZ 2005, S. 1080 (1084); Oeter, AöR 119 (1994), S. 529 (558); Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), S. 205 (216); Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 357; Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 98 f.; Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (364). 127 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Vorbemerkung, Rn. 53. 128 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 43, 44; Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 38 ff. führt für eine geringere Kontrollintensität des Verfassungsgerichts in der objektiv-rechtlichen Dimension zudem an, daß hier zumeist mehrdimensionale Freiheitsprobleme auftauchten, während es sich bei der Abwehrdimension in der Regel um eindimensionale Freiheitsprobleme eine Rolle spielten.. Im ersten Fall gehe es um einen Konflikt „Grundrechtsbelang gegen Grundrechtsbelang“, den der Gesetzgeber aufzulösen habe, während Eingriffe in der Abwehrdimension auf abstrakte Gemeinwohlbelange ohne direkten Grundrechtsbezug rückführbar seien. An dieser These wird aber zu Recht kritisiert, daß auch die öffentlichen Belange auf individuelle Positionen zurückzuführen sind und die individuelle Betroffenheit nicht von der Grundrechtsfunktion abhängig ist. Vgl. ausführlich zu der Kritik: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 424, 425. 129 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 44.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
die Legitimationslast für sein Begehren treffe, während der Staat gegenüber dem Störer nach wie vor die volle Argumentationslast für sein freiheitsverkürzendes Tätigwerden trage.130 Auch rechtssystematisch passe diese Lösung ins Gesamtbild. Schließlich sei es aus dem Strafrecht oder Zivilrecht bekannt, daß im Falle des Unterlassens erst eine besondere Argumentationsschwelle überwunden werden müsse, um eine Rechtspflicht zum Handeln anzunehmen.131 a) Vorrang der Bürgergesellschaft Darüber hinaus spiegele sich in der Asymmetrie insbesondere auch das liberale Prinzip vom Vorrang der Gesellschaft gegenüber dem Staat adäquat wider, wonach der Verkehr der Bürger untereinander grundsätzlich frei sei und staatliche Eingriffe in diesen Verkehr daher einer besonderen Legitimation bedürften.132 Dem entspreche, daß der Staat bei nicht gewährtem effektiverem Schutz, dem Schutzsuchendem seinerseits keineswegs verwehre, sich gegen die Bedrohung des privaten Dritten mit legalen Mitteln zur Wehr zu setzen.133 Im übrigen sei eine geringere Wirkkraft des Untermaßverbotes auch keineswegs inkonsistent; der Symmetrieeinwand verkehre sich nämlich bei genauerem Hinsehen in sein Gegenteil. Denn die geringere Wirkkraft für den Schutzsuchenden wirke sich beim Störer als höhere Hürde für einen staatlichen Eingriff aus. Das stelle aber seinerseits insofern ein symmetrisches Schema dar, als daß sich der Staat gegenüber dem Störer nicht nur für sein Eingreifen besonders rechtfertigen müsse, sondern auch dafür, warum er meint, daß die erhöhten Hürden des Untermaßverbotes vorlägen. Der Staat unterliege also gegenüber dem Störer bei beiden Verboten einer besonderen Legitimationslast.134 Demgegenüber sei das Verhalten von Privaten untereinander nicht begründungs- und rechtfertigungsbedürftig.135 In diesem Zusammenhang wird geltend gemacht, daß, anders als der Staat, der immer nur nach pflichtgemäßem Ermessen handeln dürfe, dem Einzelnen sogar das Recht auf Willkür zustehe, welches nur durch äußere Ermessensmißbrauchsverbote begrenzt werde.136 Eine Gleichstellung von Schutz- und Abwehrrechten führe dagegen zu untragbaren Eingriffen in
130
Vgl. O. Klein, JuS 2006, S. 960 (963). Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 43. 132 Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 47. 133 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 42, der argumentiert, daß beispielsweise in Fällen, in denen ein Gericht bestimmte Meinungsäußerungen nicht als ehrabschneidend verbiete, es dem gerichtlich unterlegenen Schutzsuchenden freistehe, sich mit Gegendarstellungen, Kritik etc. gegen die Äußerung seines Kontrahenten in freier Auseinandersetzung zu wehren. 134 Vgl. Canaris, Grundrechte und Privatrecht 1999, S. 47. 135 Preu, JZ 1991, S. 265 (267); Isensee, in: Isensee, Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 239 (261 – 262). 136 Preu, JZ 1991, S. 265 (267). 131
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
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Grundrechte Dritter und zu einer Bevormundung des Staates.137 Das sei umso weniger akzeptabel, als daß umfassender Schutz schon rein faktisch gar nicht möglich sei.138 Darüber hinaus wird von Hellermann – bisher allerdings ohne größere Resonanz – zur Diskussion gestellt, ob den Abwehrrechten nicht auch deshalb ein Vorrang eingeräumt werden müsse, um den in der gesellschaftlichen Debatte Aktiven eine grundrechtliche Prämie für ihre Beiträge zum politischen Prozeß zukommen zu lassen, die von der Mehrheit als störend empfunden würden.139 Insbesondere von Preu wird zusätzlich auf die elementar freiheitssichernde Wirkung des einfachen Rechts hingewiesen140, die seiner Ansicht nach durch die Schutzpflichten bedroht wird. Denn nach wie vor sei die Reichweite der Schutzpflichten nicht geklärt, was zu einer Unsicherheit darüber führe, ob das einfache Recht gegenüber dem Untermaßverbot im Einzelfall Bestand habe. Die Freiheitsbetätigung der Bürger sei aber zwingend auf die Verläßlichkeit der Rechtsordnung angewiesen. Der Bürger müsse darauf vertrauen können, daß das, was keinem Verbot unterliege, erlaubt sei.141 Dieses elementar wichtige Vertrauen in den Bestand der Rechtsordnung dürfe nur in Ausnahmefällen per Durchgriff auf grundrechtliche Schutzpflichten entwertet werden. Zudem wird auch die Notwendigkeit einer solchen Durchbrechung in Frage gestellt. An der These von der Bevorzugung von Störern durch das einfache Recht seien erhebliche Zweifel angebracht. Zahlreiche Vorschriften des einfachen Rechts wiesen eher in eine andere Richtung. b) Strukturelle Unterschiede von Schutz und Abwehr Der zweite wesentliche Einwand gegen eine Gleichstellung von Unter- und Übermaßverbot betrifft die Notwendigkeit eines ausreichenden Gestaltungsspielraums der Politik. Bei der Annahme eines Verstoßes gegen das Untermaßverbot werde aus einem Individualrecht heraus das Repräsentationsorgan des Volkes zu kollektiver Gestaltungsentscheidung gezwungen.142 Was bei den Abwehrrechten nur ausnahmsweise als Konflikt zwischen der Freiheit der Mehrheit143 und der Minderheit empfunden werde, häufe sich drastisch in der Dogmatik der Schutzpflichten.144 Es bestehe die Gefahr der Eigendynamik dieser neuen Figur, was zwangsläufig dazu führen
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Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 47. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 44. 139 Hellermann, Die negative Seite der Grundrechte, S. 222, 231 f., 242 f. 140 Preu, JZ 1991, S. 265 (267). Indem Normen des einfachen Rechts sagten, was verboten ist und was nicht, ermöglichten sie erst die Verwirklichung von Freiheit. 141 Preu, JZ 1991, S. 265 (267). 142 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 II GG, Rn. 42. 143 Di Fabio bezeichnet diese Freiheit auch als kollektive Freiheit. 144 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 II GG, Rn. 42. 138
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
müsse, daß das Bundesverfassungsgericht der Politik mehr Vorgaben mache.145 An dieser Problematik ändere sich auch dadurch nichts, daß das Untermaßverbot zunächst keine Handlungsanweisungen an die Politik enthalte, da insoweit auch die Voraussetzungen eines verfassungsmäßigen Handelns so eng umschrieben werden könnten, daß dem Gesetzgeber eigene Gestaltungsmöglichkeiten am Ende doch versperrt blieben.146 Insbesondere hätten Schutzanspruch und Abwehrrecht eine andere Struktur, aus der sich ein unterschiedlicher Gewährleistungsumfang ergebe.147 Bei der Erfüllung einer Schutzpflicht gestalte der Gesetzgeber die Zukunft. Mit dem Übermaßverbot kontrolliere er dagegen ein bereits umgesetztes positives Tun, beseitige also Mißstände in der Gegenwart. Da der Gesetzgeber beim Untermaßverbot zwischen mehreren zukunftsbezogenen rechtmäßigen Alternativen entscheiden könne, komme ihm hier ein echtes normatives Bewertungsermessen zu.148 Der Spielraum bestehe also de iure. Dagegen sei der Prognosespielraum beim legislativen Eingriff rein tatsächlicher Art, rechtlich bestehe die präzise Vorgabe des Übermaßverbots. Der Spielraum der Politik hinsichtlich der Beurteilung des Übermaßverbotes bestehe als nur de facto.149 Die Unterscheidung von echtem normativen Bewertungsermessen und einem aus reiner Ungewißheit über Tatsachen resultierenden Prognosespielraum habe seinen Grund auch in den unterschiedlichen Zeitpunkten, in denen die beiden Kontrollmaßstäbe typischerweise zur Anwendung gelangten.Denn im Falle des Schutzbegehrens werde eine gerichtliche ex-ante-Kontrolle vorgenommen, die den Bewertungsspielraum des Gesetzgebers vollständig respektieren müsse.150 Dagegen finde bei der gerichtlichen Überprüfung eines legislativen Eingriffs die gerichtliche Kontrolle regelmäßig aus einer ex-post-Perspektive statt, da eine Klage erst dann erhoben werde, wenn schon einige Zeit vergangen sei. Die vom Gesetzgeber zuvor angestellte Prognose könne deshalb auf ihr Eintreffen überprüft werden. Im Rückblick schwinde so die Einschätzungsprärogative, und der staatliche Eingriff werde voll überprüfbar.151 Damit wirke sich der nur scheinbar fehlende Unterschied zwischen Prognose- und Bewertungsspielraum auf die Fallösung aus.152 Abweichend von dieser Einschätzung sehen andere Teile im Schrifttum die Ungewißheit über den Eintritt von Tatsachen gerade als ein besonderes Problem des Un-
145 Vgl. Preu, JZ 1991, S. 265 ( 266); Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348; Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 517. 146 Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (554). 147 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962); Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 31. 148 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). 149 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). 150 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). 151 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). 152 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962).
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
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termaßverbotes an, das den geringeren Prüfungsumfang rechtfertige.153 Die Schutzpflichtendimension sei aufgrund der schwierigen Einschätzung von Risken und der ungewissen Wirksamkeit von Schutzmitteln besonders prognoselastig. Bei der Nachprüfung der Einschätzung des Parlaments über künftige Entwicklungen fehle es aber dem Verfassungsgericht an einem normativen Maßstab.154 Denn bei allen Prognosen handele es sich um ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das sich rechtlichen Kategorien entziehe. Ein bloßes Wahrscheinlichkeitsurteil könne jedoch nicht Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung sein. Diese müßte vielmehr auf einem eindeutig festgestellten Sachverhalt beruhen.155 Daraus leite sich zwingend ab, daß eine Verletzung des Untermaßverbotes offensichtlich sein müsse. Würde das Verfassungsgericht etwa aufgrund einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle den Gesetzgeber korrigieren, so bestünde die erhebliche Gefahr, daß es eine unsichere Prognose lediglich durch eine andere unsichere Prognose ersetzt würde. Auch habe das Gericht keinen besseren Informationsstand als das Parlament, um über komplexe mehrpolige Sachverhalte zu entscheiden.156 Aus diesen Gründen müsse es bei der Entscheidung des Gesetzgebers und der geringeren Wirkkraft des Untermaßverbotes im Verhältnis zum Übermaßverbot bleiben.
3. Diskussion und eigene Bewertung Zunächst einmal ist durchaus richtig, daß es Fälle geben kann, die sowohl unter einem Schutz als auch unter einem Eingriffsblickwinkel betrachtet werden können. Dies stellt jedoch eine Trennung von Abwehr- und Schutzfunktion der Grundrechte nicht grundsätzlich in Frage. Canaris bemerkt dazu zutreffend, daß diese Grenzfälle im Zweifel über das Abwehrrecht gelöst werden müssen, um dem Bürger die Grundrechtsdimension mit der größeren Wirkkraft an die Seite zu stellen.157 Auf diesem Wege kann einer im Einzelfall bestehenden staatlichen Mitverantwortung ausreichend Rechnung getragen werden.158 Allerdings muß es sich dann tatsächlich aus der Schutz- und Abwehrperspektive um ein- und denselben Sachverhalt handeln.159
153 Vgl. Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (555); hinsichtlich der bloßen Feststellung einer höheren Erkenntnisunsicherheit in der Schutzdimension auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie, S. 469. 154 Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (555). 155 Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (556). 156 Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (555). 157 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 46. 158 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 46, schlägt zudem vor, daß schwierige Grenzbereiche von Schutz- und Abwehrfällen zudem so gelöst werden könnten, daß in den „Graubereichen“ das Untermaßverbot stärkere Wirkkraft und das Übermaßverbot geringere Wirkkraft entfalten sollten als sonst. 159 Dies ist dann nicht der Fall, wenn an einer Stelle für dieselbe Person mehr Schutz durch den Staat und an anderer Stelle mehr Freiraum gegenüber dem Staat verlangt wird.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Gelangt man jedoch zu dem Ergebnis, daß dem Schutzsuchenden nur die Schutzpflichtendimension zur Seite steht, steht diese in Dreiecksfällen mit dem jeweiligen Abwehrrecht des Störers in keinem symmetrischen Verhältnis. Die Befürworter einer kongruenten Behandlung von Unter- und Übermaßverbot haben kein Argument dafür geliefert, warum es, wie behauptet, denklogisch ausgeschlossen sein sollte, die beiden Maßstäbe mit einem unterschiedlichen Gewährleistungsgehalt auszustatten. Vielmehr sprechen sowohl das Demokratieprinzip als auch Gesichtspunkte einer liberalen Gesellschaftsordnung dafür, daß es sich bei Unter- und Übermaßverbot nicht um zwei Seiten ein- und derselben Medaille handelt. a) Gefahr der Verdichtung auf bestimmte Mittel Ob allerdings zur Begründung eines größeren Gestaltungsspielraums der Politik bei der Anwendung des Untermaßverbotes ein strukturtheoretischer Unterschied zwischen den beiden Verboten in der Form geltend gemacht werden kann, daß dem Gesetzgeber hinsichtlich des Untermaßverbotes ein echtes rechtliches Bewertungsermessen zusteht, während ihm beim Übermaßverbot dagegen lediglich ein auf Tatsachen gestützter Prognosespielraum zukommen soll, bedarf eines kritischen Hinterfragens. Denn zunächst wird mit der bloßen Feststellung, daß das Untermaßverbot in einer bestimmten Konstellation verletzt ist, kein Weg vorgeschrieben, mit welchen Mitteln das Schutzdefizit behoben werden soll.160 Im Idealfall wird also in das Bewertungsermessen der Politik über den richtigen Weg gar nicht eingegriffen. Allerdings ist der Ansicht zuzugestehen, daß die Gefahr besteht, daß das Verfassungsgericht auch die Voraussetzungen zur Erfüllung der Schutzpflicht im Einzelfall konkreter beschreibt und es insofern nicht bei einer bloßen Feststellung einer Verletzung beläßt. Darüber hinaus können sich auch in bestimmten Fällen aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten die zur Verfügung stehenden Schutzmittel auf ein oder wenige Mittel verdichten, zum Beispiel weil nur ein Mittel effektiv oder finanzierbar ist.161 So können zu hohe Immissionswerte kaum mit Aufklärungsbroschüren gesenkt werden, sondern in diesem Fall wird die Annahme eines Verstoßes gegen das Untermaßverbot letztlich nur zu einer Reduktion der zulässigen Grenzwerte führen können. An dieser Stelle besteht dann tatsächlich ein größerer struktureller Unterscheid zum Untermaßverbot. Denn während beim Übermaßverbot das Verfassungsgericht nur das Übermaß eines Mittels kappt, für das sich der Gesetzgeber frei entschieden hat, kann durch das Untermaßverbot im ungünstigsten Fall der Politik ein bestimmtes Mittel in die Hand gedrückt werden, das sie selbst überhaupt nicht gewählt hätte. Dieser Unterschied besteht allerdings nur hinsichtlich der Tiefe des Einschnitts in die politische Gestaltung, weil es auch als Folge des Übermaßverbotes möglich ist, daß die Politik ein beabsich160
Vgl. Schenke, VerwA 82 (1991), S. 307 (327). Daß sich beim Untermaßverbot insbesondere auch die Frage der finanziellen Kapazitäten des Staates stellen kann, betont auch Lee, in: FS für Starck, S. 297 (315). 161
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tigtes Vorhaben nicht wie ursprünglich geplant umsetzen kann. Das Problem der Verdichtung auf ein oder wenige Mittel stellt sich beim Untermaßverbot dabei um so stärker, desto genauer das Untermaßverbot geprüft wird. Als Zwischenergebnis läßt sich daher festhalten, daß durch die vornehmlich feststellende Wirkung des Untermaßverbotes das Problem eines ausreichenden Gestaltungsspielraums zwar entschärft, aber nicht beseitigt wird. Die Feststellung, daß das Untermaßverbot verletzt ist, entfaltet aber auch noch aus anderen Gründen regelmäßig eine breitere Folgewirkung, als dies beim Übermaßverbot der Fall ist.
b) Verpflichtung zur Aktivität bedeutet höheren Aufwand Ein solch weiterer Grund besteht darin, daß bei der Verletzung des Übermaßverbotes lediglich das konkrete Eingriffsmittel um ein bestimmtes Maß zurückgefahren werden muß, während die Feststellung eines fehlenden Schutzes zu staatlicher Aktivität verpflichtet, die schwerer zu entwickeln ist. Denn in der Regel ist staatliche Aktivität mit einem höheren Aufwand verbunden als eine verordnete Zurücknahme des Staates, die Folge des Verstoßes gegen das Übermaßverbot ist.162 So müssen im Falle einer verordneten Anhebung des Schutzniveaus oftmals, etwa aufgrund der erforderlichen Überwachung der erlassenen Regeln oder aufgrund der notwendig mit ihnen verbundenen Rechtsdurchsetzung, personelle, materielle und finanzielle Mittel erst bereitgestellt werden.163 Das kann aber für den Gesetzgeber gerade angesichts knapper finanzieller Mittel bedeuten, daß er zu einer Umverteilung der Ressourcen gezwungen sein kann.164 Damit kann der Gesetzgeber wohlmöglich auch genötigt sein, seine ursprüngliche politische Prioritätensetzung zu ändern. Es erscheint sogar nicht ausgeschlossen, daß er, um entsprechende Mittel freizumachen, auf anderem Gebiet den beabsichtigten Schutz zurückfahren müßte. Aber auch dann, wenn die Anhebung des Schutzniveaus für den Staat zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen hat, weil durch Schutzregelungen zunächst ausschließlich Private belastet werden, müssen die volkswirtschaftlichen Kosten und Auswirkungen, die sich daraus ergeben können, ebenfalls berücksichtigt werden.165 So können etwa durch Vorgaben an die Wirtschaft die Innovationsfähigkeit leiden, Arbeitsplätze abgebaut oder ins Ausland verlagert werden oder Gewinne wegbrechen, die sich dann als fehlende Steuereinnahmen wieder bemerkbar machen. Die Komplexität dynamischer volkswirtschaftlicher Prozesse ließe sich hier beliebig weiter darlegen. Als Beispiele für die wirtschaftliche und technologische Auswirkung bestimmter Schutzgesetze sei Vgl. Scherzberg, Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 350. Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 162. 164 Entgegen der Ansicht von Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 119 f., sind Schutzpflichten nicht kostenneutral; ebenso wie hier: Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161, 162. 165 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 161, 162. 162 163
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
an dieser Stelle stellvertretend die Gentechnologie genannt. Das Aufzeigen dieser Zusammenhänge soll kein Plädoyer dafür sein, aufgrund von möglichen negativen Auswirkungen auf einen bestimmten Schutz zu verzichten. So ist eine bestimmte Lebensqualität, etwa ein hoher Umweltstandard, naturgemäß mit Kosten verbunden. Darüber hinaus können gerade bestimmte Mindeststandards auch zum Innovationsmotor für die Wirtschaft werden und damit genau den entgegengesetzten Kreislauf hervorrufen. Jedoch muß man sich die komplexen Wechselwirkungen und Zusammenhänge vor Augen führen, mit denen der Gesetzgeber konfrontiert sein kann, wenn das Verfassungsgericht eine Verletzung des Untermaßverbotes annimmt. c) Relevanz von Prognosen und Tatsacheneinschätzungen Hinzu kommt, daß die gesamte Schutzpflichtendimension besonders prognoselastig ist.166 Voraussagen, wie bestimmte Schutzmittel wirken und wie sich bestehende Schutzdefizite auswirken, sind häufig unsicher und schwierig zu treffen.167 Es hängt eben auch von dem Standpunkt des Betrachters ab, inwieweit ein bestimmtes Schutzmittel als (zukünftig) wirksam oder ein Schutzdefizit als schädlich angesehen wird. Hier stellt sich dann in der Tat mit besonderer Schärfe die Frage, warum auf Prognosen beruhende und damit letztlich ungesicherte Einschätzungen gerade das Verfassungsgericht treffen soll. Zu Entscheidungen hierüber ist in allererster Linie der aus Wahlen hervorgegangene Gesetzgeber berufen. Hiergegen mag man einwenden, daß komplexe Zusammenhänge und schwierige Zukunftsprognosen nicht nur beim Untermaßverbot, sondern auch beim Übermaßverbot auftreten können, und deshalb eine unterschiedliche Behandlung des Gestaltungsspielraums bei diesen beiden Kontrollmaßstäben zumindest unter diesem Gesichtspunkt nicht gerechtfertigt ist.168 Tatsächlich gehört zur notwendigen Differenzierung, daß auch beim Übermaßverbot die Auswirkungen von staatlichen Eingriffen ungewiß sein können. Gleichwohl besteht die Unsicherheit über diese Auswirkungen in unterschiedlichem Ausmaß. Sehr häufig geht es nämlich bei der Frage, ob das Untermaßverbot die Politik zu einer besseren gesetzlichen Regelung verpflichtet, um Gefahren, die aus der Nutzung und Anwendung moderner Technik durch Private entstehen.169 Es geht deshalb im Bereich der gesetzlichen Schutznachbesserung insbesondere um den Schutz von Leben und Gesundheit aus Art. 2 II 1GG.170 Dagegen ist der Schutz vor Verletzungen, die A.A. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 165. Vgl. Würtenberger, in: Rill (Hrsg.) Grundrechte – Grundpflichten: Eine untrennbare Verbindung, S. 15 (18). 168 So Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 173. 169 Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 121; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, S. 115. 170 Mayer, Untermaß, Übermaß, Wesensgehaltsgarantie, S. 23, 25; grundlegend Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987. 166 167
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
155
Private auf anderen Rechtsgebieten begehen können, bereits weitreichend einfachrechtlich gewährleistet, so daß eine Verletzung des Untermaßverbotes hier seltener in Betracht kommt.171Das Untermaßverbot wird in diesen Fällen dann lediglich bei einer „falschen“ schutzpflichtenunterschreitenden Auslegung des einfachen Rechts relevant.172 Ebenso verhält es sich mit Gefahren, die von Straftätern ausgehen. Auch wenn in einigen Bereichen des materiellen und prozessualen Strafrechts das Übermaßverbot noch nicht ausgereizt ist, dürfte ein Verstoß gegen das Untermaßverbot – auch bei engerer Prüfung – ebenfalls nur im Ausnahmefall zu bejahen sein. Das für den Gestaltungsspielraum der Politik relevante Untermaßverbot betrifft demnach häufig die prognoselastigen naturwissenschaftlich-technischen Wirkungszusammenhänge, die möglicherweise einen weitergehenden gesetzlichen Schutz erfordern. Diese Wirkungszusammenhänge sind aber in hohem Maße auch in der Fachwelt umstritten; Schutzdefizite und Schutzmittel werden aus technischer Sicht unterschiedlich beantwortet. Beispielhaft sei hier nur der lange Streit über ein erhöhtes Auftreten von Krebserkrankungen in der Nähe von Atomkraftwerken oder über die tatsächliche Schadstoffbelastung in bestimmten Lebensmitteln erwähnt. Tendenziell anders verhält es sich dagegen bei den Abwehrrechten. Da der Staat auf allen Politikfeldern Aktivitäten entfaltet und damit seine ureigenste Aufgabe wahrnimmt, ist das Übermaßverbot weitaus mehr in der gesamten grundrechtlichen Breite betroffen. Die Kehrseite dieser vielfältigen staatlichen Aktivität ist ja gerade, daß das Untermaßverbot in vergleichsweise weniger Fällen einschlägig ist. Die Auswirkungen, die ein etwaiges Mehr an Meinungs-, Demonstrations-, Religions-, Handlungs-, Wissenschafts- oder Eigentumsfreiheit als Folge eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot haben kann, sind aber in der Regel besser abzuschätzen als naturwissenschaftliche Wirkungszusammenhänge.173 Zudem ist das Prognoseproblem beim Untermaßverbot noch einmal dadurch verschärft, daß sich dieses auch auf alle möglichen Mittel zur Behebung des Schutzdefizits beziehen kann, während in der Abwehrdimension nur das Mittel einzuschätzen ist, für das sich der Gesetzgeber bereits entschieden hat. Des weiteren mag, wie in der Literatur teilweise angenommen wird, auch eine Rolle spielen, daß die Klage wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot vor dem Verfassungsgericht erst verhandelt wird, wenn schon einige Zeit vergangen ist und die Prognosen insofern etwas besser auf ihr Eintreffen überprüfbar sind.174 Somit bleibt festzuhalten, daß regelmäßig die Problematik des Gestaltungsspielraums der Politik beim Untermaßverbot insgesamt deutlich stärker ins Gewicht fällt als beim Übermaßverbot. Damit bleibt die Frage nach dem ausreichenden Gestal171
Vgl. für das Privatrecht: Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 161 f. Vgl. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 161 f., insbesondere S. 163, 164. 173 Zwar kann die Frage nach der Wirkung moderner Technik ebenfalls bei den Abwehrrechten relevant werden. Daraus läßt sich jedoch nur der Schluß zu ziehen, daß in diesen Fällen der Gestaltungsspielraum der Politik ebenfalls beim Übermaßverbot ausreichend beachtet werden muß. 174 O. Klein, JuS 2006, S. 960 (962). 172
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
tungsspielraum des Gesetzgebers eine Grunddeterminante der Untermaßverbotsproblematik.Desto geringer dabei das Untermaßverbot durch das Bundesverfassungsgericht geprüft wird, um so mehr wird der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gewahrt. Dazu ist es allerdings nicht ausreichend, die Wirkkraft des Untermaßverbotes nur dadurch reduzieren zu wollen, daß die Argumentationslast zur Begründung eines staatlichen Tätigwerdens dem Schutzsuchenden auferlegt wird. Denn soweit der Schutzsuchende eine ausreichende Begründung von Tatsachen liefert, kann nur noch eine inhaltliche Ausgestaltung des Prüfungsmaßstabes die Wirkkraft des Untermaßverbotes herabsetzen.175 d) Liberale Ausrichtung der Verfassung als weitere Determinante Zu erörtern bleibt die Frage, inwieweit zusätzlich auch die liberale Prägung der Verfassung Einfluß auf den Gewährleistungsgehalt und damit den Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes hat. Für die Beantwortung der Frage bedarf es zunächst einer Beurteilung, inwieweit das Untermaßverbot überhaupt geeignet ist, die Freiheitsrechte zu bedrohen. Diese Bedrohung liegt vor allem darin, daß sich Eingriffe in Freiheitsrechte, die das Untermaßverbot von Verfassungs wegen fordert, nicht auf Mindesteingriffe beschränken. Dagegen ist das Untermaßverbot selbst nicht in der Lage, die Abwehrwirkung des Übermaßverbotes einzuschränken. Selbst wenn es nicht bloß Mindesteingriffe fordern würde, könnte es das höchst zulässige Eingriffsniveau in Gestalt des Übermaßverbotes nicht intensivieren, da es nicht in der Lage ist, das Übermaßverbot gleichsam zu überholen. (Eine Einschränkung der Abwehrwirkung des Übermaßverbotes könnte allenfalls im Rahmen einer Abwägung durch nicht-justitiable, objektivrechtliche Schutzpflichten erfolgen, die als Handlungsnormen über das Untermaßverbot hinausreichen.176) Konkret geht es also bei der Bedrohung der klassischen Freiheitsrechte darum, ob das Untermaßverbot ein unteres, mittleres oder hohes Maß an Schutzniveau einfordert. In letzterem Fall würde es dann tatsächlich zu einer vermehrten Durchbrechung und Korrektur des einfachen Rechts durch das Untermaßverbot kommen. Insoweit könnten dann, wie von der Symmetriethese befürchtet, die Rechtssicherheit und das Vertrauen in den Bestand des einfachen Rechts leiden.177
175 Zwar reduziert eine Auferlegung der Darlegungslast die Fälle, in denen ein Verstoß des Staates gegen das Untermaßverbot angenommen werden kann. Um ein wirksames Instrument zur Absicherung eines ausreichenden Gestaltungsspielraums der Politik handelt es sich hierbei jedoch nicht. Dieser Anforderung muß durch die Formulierung des eigentlichen Prüfungsmaßstabes des Untermaßverbotes Rechnung getragen werden. 176 Jarass, in: 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 35 (40), spricht insofern von einer legitimierenden Kraft der Schutzermächtigung. 177 Medicus, AcP 192 (1992) S. 35 (58).
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
157
aa) Keine Bevorzugung des Stärkeren Hinsichtlich der Gründe, die gegen eine Gleichstellung von Abwehrrecht und Schutzpflicht vorgebracht werden, ist den Befürwortern der Asymmetriethese zunächst einmal darin zuzustimmen, daß von der behaupteten pauschalen Bevorzugung des Störers keine Rede sein kann. Nachdem in den letzten 30 Jahren insbesondere im Umweltschutz Defizite abgebaut wurden, gibt es kaum ein Rechtsgebiet, in dem nicht flächendeckende und engmaschige Schutzregelungen existieren. Daß in einer dynamischen, sich schnell wandelnden Gesellschaftsordnung immer wieder Nischen entstehen, für die der Staat noch keine Schutzvorgaben gemacht hat, widerspricht dieser grundsätzlichen Beobachtung ebenso wenig wie die Frage, ob er angesichts drängender Probleme in einigen Bereichen noch mehr tun könnte. In vielen Lebenssituationen ist der Aktive aufgrund von staatlichen Schutzregelungen nicht in der Offensive, sondern in der Defensive. Dies macht den Störer jedoch wiederum auch nicht zu einem gesellschaftlich Unterlegenen, der auf eine stärkere Durchsetzungskraft des Abwehrrechts angewiesen ist, um sich gegen die Mehrheit behaupten zu können, wie dies behauptet wurde.178 Einer solchen Betrachtungsweise wird zu Recht entgegengehalten, daß die gesellschaftlich Aktiven mehrheitlich keineswegs zu den gesellschaftlichen Minderheiten oder Benachteiligten zählen. So sind bei der Eigentums- und Berufsfreiheit typischerweise die Aktiven die Träger gesellschaftlicher Macht und die Passiven die gesellschaftlich Schwächeren, wie beispielsweise Arbeitnehmer oder Mieter.179 Zuzustimmen ist der Gegenauffassung allerdings darin, daß der Staat, soweit er einen bestimmten Übergriff zuläßt, den zugrundeliegenden Konflikt im Bürger-Bürger- Verhältnis auch konkret regelt, also mit anderen Worten eine Freiheitsverteilung vornimmt.180 Den Schutzsuchenden, dem kein Recht gegeben wurde, gegen einen privaten Störer vorzugehen, darauf zu verweisen, daß er sich schließlich noch mit zulässigen Mitteln wie dem der Meinungsäußerung oder Demonstration gegen den priva178
Siehe unter VII. 1. a). Auch wenn es sich hier mehr um ein Problem des Übermaßverbotes handelt, ist es sich doch eine richtige Feststellung, daß die Gesellschaft auf die Aktiven angewiesen ist, weil nur diese Innovationen voran treiben. Auch könnten sicherlich mehr Konflikte durch eine Selbstorganisation der Bürger anstelle von staatlichen Eingriffen gelöst werden. Denn der durch den freien Verkehr der Bürger entstehende Markt übt einen erheblichen Druck auf die Teilnehmer aus, sich an den Standards, also an einer bestimmten Verbraucherfreundlichkeit und einem bestimmten Schutzniveau zu orientieren. Dieser durch Markttransparenz erzeugte Druck, kann bis zu einem gewissen Grade staatlichen Druck ersetzen und damit Verwaltungskosten sparen und regelungsbedingte Innovationsverluste vermeiden. Gleichzeitig liegt es jedoch auf der Hand, daß Selbstregulierungen auch an ihre Grenzen stoßen und der Staat grundlegende Ordnungsregeln erlassen muß. Wer einen Staubsauger kauft, muß ich sicher sein, daß er sich nicht in Gefahr begibt, bei Bedienung des Gerätes einen Stromschlag zu erhalten. Von einer solchen Gefahr dürfte er nicht erst von der Stiftung Warentest erfahren. In dem der Staat (durch Eingriffsreglungen) verläßliche Marktbedingungen garantiert, schafft er das essentiell wichtig Vertrauen in den Markt und fördert damit den Wirtschaftsverkehr. 180 Koch, Der Grundrechtschutz des Drittbetroffenen, S. 387. 179
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
ten Übergriff zur Wehr setzen könne, wirkt ein wenig lebensfremd. Dem Schutzsuchenden verbleibt schließlich lediglich eine schwache, weil staatlich nicht durchsetzungsfähige Position. Jedoch will die Verfassung aus sich selbst heraus diese Position nur unter engen Voraussetzungen mittels staatlicher Eingriffe auf Kosten der Abwehrrechte verbessern. Vielmehr ist der zentralen These zuzustimmen, daß das Grundgesetz den klassisch liberalen Abwehrrechten dadurch einen Vorrang einräumt, daß ihnen das Bild des selbstbestimmten Bürgers zugrunde liegt, der möglichst frei von staatlichen Interventionen in den Austausch mit anderen Bürgern treten soll. Würde das Untermaßverbot mit dem gleichen Gewährleistungsgehalt ausgestattet wie das Übermaßverbot, hätte das zur Folge, daß die Bürger faktisch ebenso stark wie der Staat an die Grundrechte gebunden wären. Zwar würden die Grundrechte nach wie vor zwischen Privaten nicht unmittelbar gelten, jedoch wäre der Staat als Grundrechtsadressat dazu verpflichtet, Schutzregelungen zu erlassen, die das Verhältnismäßigkeitsniveau erreichen müßten, wie jenes, an das er in der Abwehrdimension gebunden ist. Dies wäre aber mit der bürgerlichen Freiheit nicht vereinbar, die eben auch beinhaltet, andere Bürger aus dem eigenen Lebensbereich fern zu halten. Zwar sehen die Grundechte Einschnitte in genau diese individuellen Freiheiten vor. Entscheidend ist jedoch, daß die Verfassung Eingriffe zugunsten von Regelungen zwar zulassen will, diese aber von sich aus nicht in demselben Umfang veranlassen181 möchte, weil Freiheitseinschränkungen nicht durch die Verfassung selbst, sondern durch politische Mehrheitsentscheidungen legitimiert werden sollen. bb) Anderes Ausmaß an Freiheitsbedrohung Das Hauptargument der Befürworter einer grundrechtlichen Gleichstellung von Schutz- und Abwehrdimension ist, daß Gefahren eben nicht nur vom Staat, sondern in vielfältiger Weise auch von Privaten ausgehen können. Das ist zwar zutreffend. Die Intensität und das Ausmaß des Freiheitsverlustes können im Einzelfall sogar identisch oder höher sein.182 Gleichwohl ist in der Gesamtbetrachtung die Freiheitsbedrohung durch den Staat qualitativ und quantitativ eine andere. Der Staat wird nämlich mit einer anderen Autorität, Konsequenz und Durchsetzungskraft tätig. Dies gilt selbst noch für den rechtsstaatlich gebändigten Staat. So ist der Staat in der Lage, dem Bürger einseitig Pflichten aufzugeben und diese mit einer Vielzahl von Staatsbediensteten durchzusetzen. Hinzu kommt, daß sich auch Mitbürger an der Überwachung der Regelungen beteiligen, indem sie die zuständigen Stellen über einen Rechtsbruch informieren oder selbst durch Inanspruchnahme des Rechtssystems an der Durchsetzung der Regelungen mitwirken. 181 Formal müssen aufgrund des Gesetzesvorbehalts Grundrechtseingriffe ohnenhin durch den Gesetzgeber legitimiert werden. Dieses Eingriffe könnten aber von der objkektiv-rechtlichen Grundrechtsdimesnion durch eine Verpflichtuung zu höherem Schutz veranlasst worden sein. 182 Dem jeweiligen „Opfer“ wird es in der Regel sogar gleichgültig sein, ob er in seinen Interessen durch den Staat oder von einem anderen Bürger beeinträchtigt wird.
VII. Zur Symmetriefrage von Unter- und Übermaßverbot
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Wird der Bürger tatbestandlich von einer staatlichen Regelung erfaßt, kann er sich dieser Regelung nicht mehr entziehen, ohne mit den jeweiligen Konsequenzen rechnen zu müssen. Der jeweiligen Freiheitseinbuße kann der Bürger legal nicht mehr aus dem Wege gehen, sie wirkt absolut. Dagegen kann sich der Bürger anderen Bürgern und damit auch den mit ihnen jeweils verbundenen Gefahren entziehen. Er kann sich prinzipiell aussuchen, mit wem er in Kontakt treten will. In der freien Gesellschaft hat er die erhebliche Chance, sich sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen möglichst unabhängig von anderen einzurichten. Befürchtet der Bürger eine zu hohe Schadstoffbelastung oder Lärmbelästigung von Autos, kann er sich in einen autoarmen Landstrich zurückziehen; fürchtet er wirtschaftliche Konsequenzen, muß er sich auf bestimmte Rechtsgeschäfte nicht einlassen; lehnt er das moderne Leben ab, kann er sich mit anderen Bürgern zusammen zur Verwirklichung alternativer Lebensziele zusammenschließen etc. Daß die praktische Möglichkeit des Entziehens aus dem von anderen Bürgern veranlaßten Gefahrenbereich in der Lebensrealität der modernen Gesellschaft selbstverständlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist und man zudem gewissen Gefahren gar nicht ausweichen kann, weil sie regional, national und global wirken, soll nicht bestritten werden. Die Beispiele sollten auch weder die Schutzbedürftigkeit von Betroffenen noch die Sinnhaftigkeit von staatlichen Schutzregelungen in Frage stellen, sondern lediglich deutlich machen, daß den von Privaten ausgehenden Gefahren leichter ausgewichen werden kann, während der staatliche Freiheitseinschnitt absolut wirkt. Dies stellt einen qualitativen Unterschied von Abwehr- und Schutzdimension dar. Auch aus diesem Grunde wollen die Grundrechte Freiheitseingriffe zwar zulassen, aber in weitaus geringerem Umfang selbst veranlassen. Freiheitseingriffe sollen nicht durch die Verfassung selbst, sondern durch politische Mehrheitsentscheidungen getroffen werden. Diese Vorgehensweise hat auch für die Gesellschaft eine befriedigende Wirkung. Denn den betroffenen Bürgern werden Grundrechtseingriffe nicht von der hohen Warte der zwingenden Verfassungsauslegung präsentiert, sondern müssen politisch legitimiert werden und sich damit einer jeweiligen Mehrheitsentscheidung stellen. Die Entscheidungen werden somit für den einzelnen transparent: Er muß sich nicht einer Verfassungsauslegung beugen, die er im Zweifel weder nachvollziehen kann, noch sich selbstbewußt in der Lage sieht, sich ein juristisches Urteil hierüber zu erlauben. Im Gegensatz dazu ist der Bürger aber sehr wohl in der Lage, sich im Rahmen einer offenen und kontroversen öffentlichen Diskussion ein selbstständiges Urteil zu bilden, das er dann in einem entsprechenden Wahlverhalten auch umsetzen kann. Hinzu kommt, daß ein verfassungsrechtlich veranlaßter Schutz auch auf Dauer der politischen Debatte weitgehend entzogen ist, da er dann als Verfassungsvorgabe nicht mit einfacher Mehrheit reduziert werden darf. Dagegen ist ein Eingriff in Abwehrrechte bis zur Grenze des Untermaßverbotes jederzeit frei rücknehmbar.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
cc) Geringere grundrechtliche Notwendigkeit der Freiheitsabsicherung Gegen eine Gleichstellung von Über- und Untermaßverbot spricht auch eine fehlende Vergleichbarkeit einer notwendigen grundrechtlichen Absicherung. Die Grundrechte tragen mit dem System von Gesetzesvorbehalt und Eingriffschranken nämlich dem Umstand Rechnung, daß der Staat ohnehin auf Aktivität und nicht auf ein Unterlassen angelegt ist. Mit dieser Aktivität ist ein ständiger Eingriff in Freiheitsrechte verbunden, und sei es auch deshalb, um Dritten zu mehr faktischer Freiheit zu verhelfen. Der Schutzbedürftige hat zumindest im Grundsatz den Staat auf seiner Seite. Angesichts der ständigen staatlichen Aktivität ist die Abwehrdimension weitaus mehr gefordert als die objektiv-rechtliche Dimension. Ein Unterlassen des Staates stellt deshalb kein gleichrangiges Freiheitsproblem dar. Zum Handeln muß der Staat in aller Regel nicht erst durch Grundrechte veranlaßt werden, sondern Schutzaktivität entwickelt er bereits automatisch aus seinem ganzen Staatszweck heraus,183 da er vor allem eine Schutz- und Regelungsgemeinschaft ist.184 Dem entspricht im demokratischen Staat auch das ganze politische System. Denn sobald Schutzdefizite deutlich werden, werden diese schnell zum Gegenstand der politischen Debatte. Um die Mehrheiten für sich zu gewinnen, kann die Politik zumindest die größeren Schutzdefizite nicht ausblenden.185 Die Aufmerksamkeit für Schutzprobleme wird zudem durch die vielfältige Medienlandschaft unterstützt und verstärkt. Aus diesen Gründen wird sich die Politik früher oder später den Schutzdefiziten annehmen.Auch hier soll nicht in Abrede gestellt werden, daß es durchaus Schutzbedürftige gibt, die nicht die nötige Aufmerksamkeit erlangen und an denen politische Entscheidungen vorbeigehen. Diese Gruppe wird aber dann zumindest von dem Schutzbereich des Untermaßverbotes erfaßt. Um den Mehrheitswillen durchzusetzen, müssen Grundrechte Eingriffe zulassen. Entsprechend der Hauptaktivität des Staates ist es aber dann Hauptaufgabe der Grundrechte, einen übermäßigen Eingriff zu verhindern.186 Aus diesen Gründen bleiben Grundrechte, wie das Verfassungsgericht betont, in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat.187 Damit läßt sich festhalten, daß auch die liberale Ausrichtung der Verfassung zu einer reduzierten Kontrolldichte des Untermaßverbotes beiträgt. Die klassische Funktion der Grundrechte unterstützt und stabilisiert deshalb das Maß an reduzierter Kontrolle, das bereits aufgrund des erforderlichen Gestaltungs183
Vgl. Schmidt-Jortzig, in: 50 Jahre BVerfG, S. 505 (511); Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 101. 184 Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (229). 185 Vgl. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 101. 186 Auch wenn in den westlichen rechtsstaatlichen Demokratien wie der Bundesrepublik Deutschland nicht ansatzweise solche Bedrohungen derzeit existent sind, darf in diesem Zusammenhang als geschichtliche Lehre auch nicht völlig vergessen werden, daß die großen Katastrophen in der Menschheitsgeschichte nicht von Privaten, sondern von Staaten verursacht worden sind. 187 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205); 24, 367 (389); 50 290 (337). Siehe auch Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 46.
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß?
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spielraums der Politik in den Prüfungsmaßstab des Untermaßverbots eingebaut werden muß. Als Zwischenergebnis steht demnach fest, daß Unter- und Übermaßverbot nicht symmetrisch gelagert sind. Das Untermaßverbot weist gegenüber dem Übermaßverbot einen geringeren Gewährleistungsgehalt auf.
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß? Angesichts der soeben festgestellten besonderen Notwendigkeit eines ausreichenden gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums und aufgrund der Tatsache, daß die Schutzpflichten eine Einschränkung der klassisch liberalen Abwehrrechte zur Folge haben können, stellt sich die Frage, ob das grundrechtliche Untermaßverbot von Anfang an auf ein absolutes Mindestmaß zu reduzieren ist oder einen flexiblen Rechtsschutz gewährleisten soll. Unabhängig von der Frage, ob einer solchen Begrenzung zugestimmt werden sollte, ist zunächst fraglich, durch welches verfassungsrechtliche Instrumentarium eine solche Reduktion erreicht werden könnte. In Betracht kommen insoweit eigentlich nur eine Reduktion des Untermaßverbotes auf den Menschenwürdekern des jeweiligen objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalts oder die Anwendung der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG. Die erste Lösungsmöglichkeit wurde bereits weiter oben aus den dort genannten Gründen verworfen.188 Fraglich ist demnach, inwieweit das Untermaßverbot in der Wesensgehaltgarantie zu verankern ist.
1. Untermaßverbot entspricht Wesensgehaltsgarantie Ausdrücklich für eine Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Unter- und Übermaßverbot auf die Wesensgehaltsgarantie plädiert in seiner Untersuchung M. Mayer.189 Zwar würde für beide Verbote auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip gelten. Jedoch sei die Herstellung eines verhältnismäßigen Interessenausgleichs für den Gesetzgeber im Sinne der Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm nur eine nicht-justitiable Handlungsnorm.190 Demgegenüber sei die Wesensgehaltsgarantie der richtige Prüfungsmaßstab für das Bundesverfassungsgericht, um Abwägungen des Gesetzgebers zu kontrollieren.191 Anders ließe sich die Bedro-
188 189 190 191
Siehe unter Teil 1, III. 3. f). Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 175 ff. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 178, 179. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 179.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
hung des Gesetzgebungsspielraums, welche durch das Untermaßverbot noch einmal an Aktualität gewonnen habe, nicht sicherstellen. Auch andere Autoren192 möchten den Gedanken der Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 II GG für die Bestimmung des Untermaßverbotes fruchtbar machen.Zwischen dem Untermaßverbot und der Wesensgehaltsgarantie bestünden Verbindungslinien, wenn nicht sogar Deckungsgleichheit.193 Denn die Wesensgehaltsgarantie sichere nicht nur die Kernsubstanz der Grundrechte als Abwehrrechte, sondern stelle auch dadurch, daß sie insbesondere Institute und Institutionen vor ihrer Abschaffung bewahre, eine objektiv-rechtliche Grundrechtsgarantie dar.194 Diese objektiv-rechtliche Grundrechtsgarantie sei aber der Sache nach nichts anderes als das, was die moderne Dogmatik das Untermaßverbot nenne.195 Aubel spricht diesbezüglich von einer wechselseitigen Ergänzung von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie.196 Ebenso sieht Scherzberg eine weitgehende Übereinstimmung zwischen der Wesensgehaltsgarantie und dem Untermaßverbot. Art. 19 II GG garantiere nicht nur Mindeststandards eines rechtlichen Dürfens in der abwehrrechtlichen Dimension, sondern darüber hinaus auch ein Minimum tatsächlichen Könnens der Freiheitsverwirklichung.197 Die Norm verpflichte deshalb die staatlichen Instanzen auf die Sicherung eines Mindestmaßes „realer Freiheit“.198 Jedoch enthalte Art. 19 II GG keine handhabbaren Maßstäbe für die Bestimmung von Inhalt, Umfang und Mittel der Norm, weshalb die Anknüpfung des Untermaßverbotes an Art. 19 II GG nicht seine inhaltliche Konkretisierung erübrige.199 Auch V. Tzemos sieht das Untermaßverbot zunächst in der Wesensgehaltsgarantie verankert.Die Wesensgehaltsgarantie sei hinter den Schutzpflichten die zweite Säule des Untermaßverbotes.200 Jedoch kann nach Tzemos das Untermaßverbot auch über dem Schutzniveau der Wesensgehaltgarantie liegen. Grundrechtliches Untermaßverbot und Wesensgehaltgarantie fielen nur teilweise zusammen. Das grundrechtliche Untermaßverbot umfasse nicht nur die NichtAntastung des Wesensgehalts, sondern verbiete darüber hinaus eine ungerechtfertigte Verletzung des über den Wesensgehalt hinausgehenden Schutzbereichs eines Grund192 Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 133; Scherzberg Grundrechtsschutz und Eingriffintensität, S. 210; Dederer, Jura 1998, S. 98 (102). Die Möglichkeit einer Verbindung von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie wird darüber hinaus von Krebs, in: Von Münch/Kunig GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 26, erwähnt. 193 Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 133. 194 Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 134. Ausdrücklich für die Einbeziehung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion in die Wesensgehaltsgarantie auch Tzemos, Untermaßverbot, S. 63; zurückhaltender Dreier, in: Dreier, GGKommentar I, Art. 19 II GG, Rn. 15. 195 Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 134. 196 Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 205. 197 Scherzberg, Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 352. 198 Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 208 f. 199 Scherzberg, Öffentlichkeit der Verwaltung, S. 353. 200 Tzemos, Untermaßverbot, S. 46.
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß?
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rechts. So werde zum Beispiel durch eine defizitäre atomrechtliche Regelung das Untermaßverbot auch dann verletzt, wenn zwar dadurch der Wesensgehalt der Gesundheit der Menschen nicht angetastet werde, aber dennoch ungerechtfertigt in den Schutzbereich des durch das Untermaßverbot geschützten Grundrechts eingegriffen werde.201 Ausdrücklich gegen eine Gleichsetzung von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie wendet sich R. Rassow. Ein Instrument zur relativen Abwägung konkreter kollidierender Positionen könne nicht zur Definition eines absoluten Mindeststandards herangezogen werden.202 Dies käme dem Versuch gleich, eine Balkenwaage ohne Gegengewicht zu benutzen.203 Zudem argumentiert Rassow mit der Parallelität von Unter- und Übermaßverbot. Schließlich vermittle letzteres auch nicht nur einen Minimalstandard; dieser werde vielmehr bei Eingriffsfällen durch Art. 19 II GG gewährleistet. Ob Art. 19 II GG auch auf Schutzpflichtpflichten Anwendung finden kann, läßt Rassow zwar offen, macht jedoch gleichzeitig geltend, daß dieser Minimalstandard jedenfalls nicht daß Untermaßverbot definieren könne.204
2. Streit über Gewährleistungsniveau und Wirkung von Art. 19 II GG Die Frage, wie sich das Untermaßverbot zur Wesensgehaltsgarantie verhält, hängt allerdings zunächst einmal von der dogmatischen Einordnung der Wesensgehaltsgarantie selbst ab. So bestehen über die Frage des Gewährleistungsniveaus und der Wirkungen von Art. 19 II GG gleich mehrere Streitigkeiten in der Literatur. Nicht geklärt ist zunächst die Frage, ob die Wesensgehaltsgarantie überhaupt in der schutz- bzw. leistungsrechtlichen Dimension Anwendung findet. Der neuere Teil des Schrifttums bejaht mittlerweile konsequenterweise diese Frage.205 Es wäre auch widersprüchlich, einerseits die Grundrechte um eine Schutzwirkung als echte neue Grundrechtsdimension zu erweitern, andererseits dieser neuen Grundrechtsfunktion jedoch die Sicherung ihres Wesensgehalts zu verweigern. Art. 19 II GG schützt die Grundrechte und gilt damit für jede Grundrechtsdimension. An dieser Voraussetzung würden die geltend gemachten Verbindungslinien zum Untermaßverbot also nicht scheitern.
201
Tzemos, Untermaßverbot, S. 64. Im Gegensatz zur Wesensgehaltsgarantie sieht Tzemos in dem von ihm entwickelten „Untermaßverbot im weiteren Sinne“ auch noch ein Instrument zur Auflösung von Grundrechtskollisionen. 202 Rassow, ZG 2005, S. 262 (270). 203 Rassow, ZG 2005, S. 262 (270). 204 Rassow, ZG 2005, S. 262 (271). 205 Dreier, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 18; Huber, in: Von Mangoldt/Klein/ Starck, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 134; Krebs, in: Von Münch/Kunig, Art. 19, Rn. 26; Tzemos, Untermaßverbot, S. 55, 56.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Des weiteren ist in der Literatur umstritten, ob über die objektiv-rechtliche Absicherung der Grundrechte hinaus Art. 19 II GG auch dem einzelnen ein subjektives Recht auf Einhaltung des Wesensgehalts zuspricht.206 Wie bereits gezeigt, vermittelt das Untermaßverbot selbst im Falle der individuellen Betroffenheit einen subjektiven Anspruch auf Anhebung des Schutzniveaus. Es spricht bereits vieles dafür, daß diese Argumentation konsequenterweise auch für die Wesensgehaltsgarantie Anwendung finden müßte. Würde man jedoch davon ausgehen, daß der Wesensgehalt einen solch subjektiven Schutz gerade nicht einlösen könnte, wäre eine Deckungsgleichheit nach der hier vertretenen Untermaßverbotskonzeption bereits von vornherein nicht möglich. Die geltend gemachten Verbindungslinien bzw. die Brücke, die die Wesensgehaltsgarantie zum Untermaßverbot schlagen soll, wäre dann erheblich gestört. Bei der Begründung eines rein objektiven Charakters der Wesengehaltsgarantie steht die Vorstellung im Vordergrund, daß die Wesensgehaltsgarantie die Grundrechtsnorm als solche schützt.207 Die Befürworter dieser Auslegung argumentieren, daß sich Art. 19 II GG nicht auf das jeweilige Grundrecht als individuelles Recht beziehe, sondern auf die Grundrechtsbestimmung.208 Dem Bürger könne demnach eine Grundrechtsposition im Einzelfall sogar vollständig entzogen werden, ohne daß dadurch der Wesensgehalt gemäß Art. 19 II GG angetastet sein müsse, weil dieser die gesamte Bedrohung der betroffenen Grundrechtsnorm im Blick habe und nicht auf einen Einzelfall abstelle.209 Die herrschende Ansicht210 begegnet diesen Einwänden mit dem überzeugenderen Argument, daß dann der Wesensgehaltsschutz für einen einzelnen Grundrechtsberechtigten jede Bedeutung verlöre, solange nur der objektiv-rechtlich geschützte Gehalt erhalten bliebe.211 Dieses sei mit dem Prinzip eines individuell-personalen Grundrechtsverständnisses nicht vereinbar.212 Der Wesensgehalt müsse deshalb auch als subjektive Grundrechtssicherung verstanden werden.213 Dem ist auch die Rechtsprechung gefolgt.214 An dem Kriterium der subjektiven Gewährleistung 206
Vgl. dazu ausführlich, Drews, Wesensgehaltsgarantie, S. 76 ff. Vgl. Drews, Wesensgehaltsgarantie, S. 78. 208 Vgl. aus jüngerer Zeit, Herzog, in: FS für Zeidler, Band II, S. 1415 (1424, 1425); Brenner, Der Staat 32 (1993), S. (505, 506); Lerche, Handbuch des Staatsrechts V, § 122, Rn. 28; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 19, Rn. 9. 209 Herzog, in: FS für Zeidler, Band II, S. 1415 (1424, 1425); Brenner, Der Staat 32 (1993), S. (505, 506). 210 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 268; Bleckmann, Grundrechte, § 12, Rn. 143; Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 12; Krebs, in: Von Münch/Kunig, GGKommentar I, Art. 19, Rn. 24; Stern, in: Stern, Staatsrecht III/2, S. 870. 211 Stern, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2, S. 870. 212 Stern, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2, S. 870. 213 Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar, Art. 19 II GG, Rn. 12; Kokott, Handbuch der Grundrechte I, § 22, Rn. 86. 214 Vgl. BVerfGE 6, 32 (41); 7, 377 (411); 13, 97 (122); 30, 1 (24); 31, 58 (69); 32, 373 (379); 34, 238 (245); 45, 187 (242, 270 f.). 207
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß?
165
würde somit eine Nähe bzw. Identität von Wesensgehaltsgarantie und Untermaßverbot ebenfalls nicht scheitern. Von entscheidender Bedeutung für das Verhältnis von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie ist der weitere Streitpunkt, ob Art. 19 II GG tatsächlich lediglich einen absoluten Mindestschutz beinhaltet. Eine endgültige Aussage über das Verhältnis von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie läßt sich demnach erst dann treffen, wenn geklärt ist, welchen Gewährleistungsgehalt bzw. welches Schutzniveau Art. 19 II GG vermittelt. Die sogenannte relative Theorie geht davon aus, daß der Wesensgehalt nicht einen Kerngehalt darstellt, der jedem staatlichen Zugriff entzogen ist. Auch Art. 19 II GG sei mit gegenläufigen Positionen abwägungsfähig und deshalb zwangsläufig eine variable und keine von vornherein feststehende Mindestgröße.215 Mit einzelnen Modifikationen geht dieser Ansatz davon aus, daß die Wesensgehaltsgarantie im Ergebnis keinen weitergehenden Aussagegehalt aufweist als das Übermaßverbot.216 Dagegen sehen Vertreter der absoluten Theorie in der Wesensgehaltsgarantie eine absolute Schranken-Schranke, die einer Abwägung grundsätzlich nicht zugänglich sei.217 Gegenüber dem Wesensgehalt eines Grundrechts könne es keine höherrangigen Güter geben. Dies ergäbe sich vor allem aus dem klaren Wortlaut von Art. 19 II GG. Dieser stelle klar, daß die Norm einen Mindestbestand an geschützten Interessen bzw. den Kernbereich des Schutzgutes bezeichne. Gegen die relative Theorie wird von dieser Meinung vorgebracht, daß sie den Gehalt von Art. 19 II GG zu einer im Verhältnis zum Übermaßverbot rein deklaratorischen Bedeutung herabstufe. Auf diese Weise werde der Schutz der Wesensgehaltsgarantie relativiert und von „innen her“ ausgehöhlt.218 Zwischen den absoluten und relativen Theorien gibt es zudem noch vermittelnde Ansichten, die insbesondere dadurch auf eine weitgehende Annäherung der beiden Theorien hinauslaufen,219 daß diese anhand des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Einzelfall ebenfalls zu einem absolut geschützten Kernbereich gelangen,220 oder davon ausgehen, daß dann, wenn der innere Kernbereich eines Grundrechts betroffen sei, es so gut wie ausgeschlossen sei, daß andere Güter bzw. Prinzipien vorgingen.221
215
Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 272; Dreier, in: Dreier GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 16; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 64; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 332; von Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, S. 56 ff. 216 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 332. 217 Vgl. Krüger, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 19, Rn. 42; Schneider, Schutz des Wesensgehalts, S. 189. 218 Jäckel, Grundrechtsgeltung und Grundrechtssicherung, S. 22; Schneider, Schutz des Wesensgehalts, S. 163 f. 178, 182. 219 Vgl. Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19, Rn. 148, m.w.N. 220 Badura, Staatsrecht, C, Rn. 27; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 239 f., 243. 221 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 271.
166
3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Einigkeit herrscht in der Literatur indes darüber, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keiner Theorie eindeutig zugeordnet werden kann.222 Allerdings läßt sich eine Tendenz zur absoluten Theorie feststellen.223 So hat das Verfassungsgericht bereits im Apothekenurteil die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Eingriff in den Wesensgehalt ausnahmsweise doch zulässig sein könnte, als „gegenstandslos“ bezeichnet, da dieser in keinem Falle angetastet werden dürfe.224 Ausdrücklich heißt es dem Beschluß des Verfassungsgerichts zu den Tagebuchaufzeichnungen in Strafverfahren: „Selbst schwerwiegende Interessen der Allgemeinheit können Eingriffe in diesen Bereich nicht rechtfertigen, eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips findet nicht statt […]. Dies folgt […]aus der Garantie des Wesensgehalts der Grundrechte […].“225 Gegenüber diesen Aussagen fallen Entscheidungen, die für die relative Theorie sprechen, indem sie etwa darauf hinweisen, daß ein unverhältnismäßiger Eingriff unter anderem auch gegen Art. 19 II GG verstoße,226 oder feststellen, daß der Wesensgehalt dann angetastet sei, wenn die wesensmäßige Geltung eines Grundrechts stärker eingeschränkt werde als dies der sachliche Anlaß unbedingt gebiete,227 weniger ins Gewicht.228
3. Eigene Bewertung zum Verhältnis von Untermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie Für die absolute Theorie spricht in der Tat zunächst einmal der Wortlaut von Art. 19 II GG. Die Formulierung „in keinem Falle“ scheint eine letzte Sicherungslinie zu beinhalten, die unbedingt beachtet werden muß. Auch der Begriff des „Wesensgehalts“ läßt auf einen Schutz gegen besonders intensive Eingriffe schließen, die drohen, das Grundrecht substanzlos und inhaltsleer zu machen und aus diesem Grunde per se nicht zugelassen werden dürfen. Auf der anderen Seite kann ein striktes und kompromißloses „Abwägungsverbot“ zu im Einzelfall nicht sachgerechten Ergebnissen führen. Denn in der Regel geht es bei den Bedrohungen des Wesensgehalts um grundrechtliche Konfliktlagen, bei denen der eine Grundrechtsgehalt gegen den anderen Grundrechtsgehalt streitet und deshalb eine Abwägung nicht von vornherein ausgeschlossen werden sollte. Dreier weist zu Recht darauf hin, daß zumindest dann, wenn Art. 19 II GG zudem noch subjektiv ausgelegt wird, beispielsweise der finale Todesschuß, die dauerhafte Internierung psychisch Kranker, die Kontaktsperre 222
Vgl. Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19, Rn. 149. A.A. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 19 II , Rn. 16. 224 BVerfGE 7, 377 (411). 225 BVerfGE 80, 367 (373). 226 BVerfGE 109, 133 (156). 227 Vgl. BVerfGE 27, 344 (352). 228 Vgl. Huber, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 149; dagegen spricht Dreier, in Dreier, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 16, lediglich von einer verbalen Referenz des Verfassungsgerichts. 223
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß?
167
oder auch die lebenslange Freiheitsstrafe nur mit gekünstelter Argumentation vor der Wesensgehaltsgarantie Bestand haben könnten.229 Aus diesen Gründen ist mit den vermittelnden Ansichten davon auszugehen, daß zwar Art. 19 II GG den innersten Kernbestand als Mindestbestand schützt, jedoch Abwägungen nicht vollkommen entzogen ist. Dieser Kernbereich kann aber insofern als abwägungsfeindlich bezeichnet werden, als bis auf Ausnahmefälle kaum vorstellbar ist, daß ein Abwägungsergebnis nicht zugunsten des Wesensgehalts des bedrohten Grundrechts ausgeht. Daraus ergibt sich, daß die Wesensgehaltsgarantie einen anderen Aussagegehalt als das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip setzt nicht voraus, daß der Wesensgehalt bedroht ist, weshalb es als „vorgeschobene Sicherungslinie“ im Vergleich zu Art. 19 II GG auch weniger einschneidende, aber trotzdem unverhältnismäßige Eingriffe verbietet. Aus diesen Gründen können Verhältnismäßigkeitsprinzip und Wesensgehaltsgarantie nicht gleichgesetzt werden.
4. Untermaßverbot wurzelt im Verhältnismäßigkeitsprinzip Unter Zugrundlegung dieser Einordnung der Wesensgehaltsgarantie spricht entscheidend für eine Verankerung des Untermaßverbotes im Verhältnismäßigkeitsprinzip, daß es genuin abwägungsbedürftig und nicht wie die Wesensgehaltsgarantie abwägungsfeindlich ist. Die Frage, ob ein Unterlassen gerechtfertigt ist, kann am besten beantwortet werden, wenn die für und gegen das Unterlassen sprechenden Gründe gegenübergestellt und abgewogen werden.230 Das Untermaßverbot steht zwangsläufig in Relation zu gegenläufigen Interessen.231 Am Ende dürfen die Gründe des Unterlassens nicht außer Verhältnis zu den Gründen, die für ein Einschreiten gesprochen hätten, stehen. Zwar steht im Hinblick auf das geringere Gewährleistungsniveau das Untermaßverbot der Wesensgehaltsgarantie näher als das dies beim Übermaßverbot der Fall ist. Dieser Umstand resultiert jedoch aus der Notwendigkeit, den notwendigen Gestaltungsspielraum und den liberalen Grundcharakter der Grundrechte bei der Bestimmung des Untermaßverbotes zu berücksichtigen, was zu einem gegenüber dem Übermaßverbot geringfügigeren Gewährleistungsniveau führt.232 Die durch das Untermaßverbot geschützten Güter und Interessen sind dagegen ohne Einschränkung mit den gegenläufigen Interessen abwägungsfähig.
229
Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 15. Vgl. Rassow, ZG 2005, S. 262 (269); Stober, NJW 2007, S. 2008 (2013). 231 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 165. 232 Vgl. auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 490. Allerdings ist zu konstatieren, daß bei einer bloßen Evidenzkontrolle des Untermaßverbotes, dieses näher an das Gewährleistungsniveau der Wesensgehaltsgarantie heranrückt. 230
168
3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Zu Recht geht daher die herrschende Meinung davon aus, daß das Untermaßverbot wie das Übermaßverbot im Verhältnismäßigkeitsprinzip233 und nicht in der Wesensgehaltsgarantie wurzelt.234 Demgegenüber wird in der Literatur teilweise angenommen, daß sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip nur auf das Abwehrrecht bezieht.235 Zum Untermaßverbot fehle jede inhaltliche Beziehung,236 und komme dort nicht zur Anwendung.237 Allerdings erfolgt diese Behauptung ohne inhaltliche Begründung. Andere sprechen davon, daß Abwägungskriterien des Untermaßverbotes mit denen einer Verhältnismäßigkeitskontrolle verwandt, aber nicht identisch seien,238 bzw. daß das Untermaßverbot vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu trennen sei, jedoch Ähnlichkeiten mit diesem aufweise.239 Die vorgebrachten Bedenken sind insoweit zu beachten, als das fraglich sein kann, inwieweit das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit einem dauerhaft geringeren Gewährleistungsniveau des Untermaßverbotes vereinbar ist. Dieser Frage ist im Verlauf der Arbeit weiter nachzugehen. Zunächst einmal wird jedoch daran festgehalten, daß auch ein geringeres Schutzniveau im Verhältnis zu der jeweiligen Gefährdung und den gegenläufigen Interessen bestimmt werden kann. Sandmann bezeichnet die Prüfungsdichte des Untermaßverbotes deshalb treffend als großzügige Verhältnismäßigkeitskontrolle.240 Ruffert spricht diesbezüglich von dem Untermaßverbot als einem eingeschränkt relativen Maßstab.241 233 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 94, 103; Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 (115); Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (152); Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 483 f.; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (242); Lee, in: FS für Starck, S. 297 (313); Götz, Handbuch des Staatrechts III, § 85, Rn. 30; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 174, 175; Erichsen, Jura 1997, S. 85 (88); Voßkulhle, JuS 2007, S. 429 (430). 234 Sofern man entgegen der hier vertretenen Auffassung der relativen Theorie folgt und das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit dem Aussagegehalt des Art. 19 II GG im wesentlichen gleichsetzt, würde dies – wie beim Übermaßverbot auch – zu einer weitgehenden Überschneidung von Wesensgehaltsgarantie und Untermaßverbot führen. Ebenso: Tzemos, Untermaßverbot, S. 58. 235 Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 147; Jarass, Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 32; Ders., in: Jarass /Pieroth, GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 53; Sommermann, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 319; Hanau, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Schranke privater Gestaltungsmacht, S. 68. 236 Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 147. 237 Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 147; Sommermann, in: Von Mangoldt/ Klein/Starck, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 319; Jarass, in: Jarass /Pieroth, GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 53; Ders., Handbuch der Grundrechte II, § 38, Rn. 32, der allerdings Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, zu Unrecht als Beleg für diese Auffassung anführt. Vielmehr ergibt sich aus den S. 95 und 96, daß Jaeckel das Untermaßverbot ebenfalls dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zuordnet. 238 Dietrich, in: Erfurter Kommentar, Einleitung, Rn. 42. 239 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 52. 240 Sandmann, Die Haftung von Arbeitnehmern, S. 120. 241 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 217, 218.
VIII. Untermaßverbot als absolutes oder variables Mindestmaß?
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Zusammenfassend läßt sich damit feststellen, daß die Wesensgehaltsgarantie auf besonders intensive Grundrechtsbelastungen zugeschnitten ist. Eine Antastung der Wesensgehaltsgarantie ist in der Schutzdimension immer auch eine Verletzung des Untermaßverbots. Umgekehrt ist eine Verletzung des Untermaßverbotes nicht automatisch eine Verletzung der Wesensgehaltsgarantie.242 Zwar ist das Untermaßverbot ein Mindestmaß, das aber gleichwohl über die Gewährung eines abwägungsfeindlichen Minimalstandards hinausgeht.243 Sein Schutz ist nicht unabhängig von den relevanten gegenläufigen Interessen zu bestimmen. Insofern ist der gewährleistete Schutz variabel. Dem Untermaßverbot kommt wie dem Übermaßverbot auch der Charakter einer vorgeschobenen Sicherungslinie zu.244 Es ist demnach durch Abwägung zu ermitteln.
5. Mögliche Auswirkung des niedrigeren Gewährleistungsgehaltes Noch nicht geklärt wurde die Frage, wie sich der stärkere Gewährleistungsgehalt der Abwehrdimension bei der Prüfung des Untermaßverbotes auswirkt. Dieser kann sich theoretisch auf zwei Arten auswirken. Zum einen könnte die höhere Wirkkraft der abwehrrechtlichen Position bei der Abwägung im Rahmen der Untermaßverbotsprüfungen zu berücksichtigen sein, indem von Anfang an eine Höhergewichtung der grundrechtlichen Abwehrinteressen gegenüber den grundrechtlichen Schutzinteressen angenommen wird.245 Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß die Kontrolldichte bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung des Untermaßverbotes zurückgenommen wird. Es würden dann höhere Voraussetzungen an eine Verletzung des Untermaßverbotes gestellt. Um das Vorstellungsbild der Waage heranzuziehen, würde bei der ersten Variante die „Waagschale des Abwehrrechts“ pauschal mit einem zusätzlichen Gewicht vorbelastet,246 während bei der zweiten Variante lediglich erhöhte Anforderungen an die verfassungsrechtliche Feststellbarkeit eines Schutzdefizites gestellt würden. In diesem Fall müßte also das Schutzinteresse nicht nur ein wenig, sondern klar erkennbar überwiegen. Bildlich gesprochen, wäre die für mehr Schutz sprechende Waagschale mit deutlichem Abstand gesenkt. Auf diesem Wege würde dann ebenfalls der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes herabgesetzt. Damit dieser erhebliche Abstand zwischen den Waagschalen vorliegt, müßte es sich entweder um intensive Belastungen handeln, oder es müßte ein
242
Vgl. Tzemos, Untermaßverbot, S. 63, 64. So auch Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz S. 266, der aber das Untermaßverbot zumindest im Rahmen von Art. 6 IV GG nur für einschlägig hält, wenn ein elementares Schutzinteresse betroffen ist. 244 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 19 II, Rn. 17. 245 So anscheinend Winkler, NVwZ 2006, S. 536 (537). 246 Damit wäre, ohne daß schon ein konkreter Belang eingestellt wäre, die Abwehrwaagschale vorbelastet. 243
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
besonderes Mißverhältnis zwischen dem Unterlassen des Gesetzgebers und seiner Möglichkeit, dem Schutzdefizit abzuhelfen, bestehen. Die erste Variante ist abzulehnen.247 Bei Abwägungen im Rahmen des Untermaßverbotes würde eine Höhergewichtung der Abwehrdimension zwar dessen Steuerungskraft reduzieren, wodurch weniger Eingriffe durch die Verfassung selbst veranlaßt würden. Jedoch wäre dieses Ziel um den Preis eines falschen Abwägungsergebnisses erkauft. Das Abwägungsergebnis stimmt nämlich nur, wenn die Interessen mit ihrem jeweiligen tatsächlichen Gewicht und Bedeutung eingestellt werden und nicht eine Seite künstlich aufgewertet wird. Andernfalls wäre das Relationsverhältnis als Kernelement des Verhältnismäßigkeitsprinzips gestört.248 Denn es macht einen Unterschied, ob das Verfassungsgericht aufgrund einer pauschalen Höhergewichtung von einem Überwiegen der Abwehrinteressen ausgeht, obwohl eigentlich im konkreten Fall die Schutzinteressen überwiegen, oder ob ein bestimmtes Übergewicht an Schutzinteressen gefordert wird, damit eine Verletzung des Untermaßverbotes angenommen werden kann. Darüber hinaus könnte ein solch künstlicher Vorrang, im Zusammenspiel mit dem ohnehin erweiterten Gestaltungsspielraum der Politik dazu führen, daß das Untermaßverbot kaum noch Anwendung fände. Bei der Überprüfung durch das Verfassungsgericht ist der reduzierte Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes damit nicht über einen Vorrang der Abwehrrechte bei der Abwägung, sondern über erhöhte Anforderungen an seine Verletzung sicherzustellen.
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie Das Untermaßverbot ergibt sich durch Abwägung, insbesondere von abwehrrechtlichen mit objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten.249 Die Gehalte treffen aber nur deshalb aufeinander, weil jedes dahinterstehende Grundrechtsinteresse so gut wie möglich verwirklicht werden will. Da Grundrechte eine sehr weite Reichweite
Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 40. Im Übrigen würde eine pauschale Höhergewichtung des Abwehrinteresses auch auf eine ungerechtfertigte Ausdehnung des Übermaßverbotes und damit auf die erwähnte Störung des Relationsverhältnisses bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung hinauslaufen. Zudem müßte ein solches Vorrangverhältnis konsequenterweise nicht nur die verfassungsgerichtliche Kontrolle betreffen, sondern auch für den Gesetzgeber selbst gelten. Das hieße, daß der Gesetzgeber an diese grundsätzliche Höhergewichtung gebunden wäre, wenn er aus einer freien Entscheidung heraus Schutzmaßnahmen ergreifen möchte. Er könnte sich dann bei der Durchsetzung des Eingriffs nur nicht mehr in vollem Umfang inhaltlich auf die für den Eingriff sprechenden objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte. Eine solche Beschränkung würde einen effektiven Schutz erheblich beeinträchtigen. Allein aus der Befürchtung eines übermächtigen Staates, darf das Abwägungsergebnis auf Kosten der Freiheitssicherung durch den Staat nicht vorbelastet werden. 249 Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 483, 484. 247 248
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
171
haben, kommt es automatisch zur Kollision.250 Aus diesem Grunde wird das Untermaßverbot zwangsläufig von der Prinzipientheorie erfaßt. Diese geht davon aus, daß Grundrechte in erster Linie keine Regeln, sondern Prinzipien im Sinne von Idealvorstellungen sind, die in Relation zu gegenläufigen Interessen und Prinzipien auf eine möglichst hohe Verwirklichung zielen.251 Da Abwägungen voraussetzen, daß zwei gegenläufige Interessen kollidieren, sind sie untrennbar mit der Prinzipientheorie verbunden.252 Die in der Literatur vielfach geäußerte Kritik an Abwägungen ist deshalb vor allem eine Kritik an der Prinzipientheorie.253 Mit der Zuordnung des Untermaßverbotes zur Prinzipientheorie ist eine Reihe von Problemen verbunden. Insbesondere ist fraglich, inwieweit die Theorie zu einer justitiablen Optimierung der Grundrechtsgehalte führt. Eine solche Optimierungstendenz wird der Prinzipientheorie angelastet254 und würde dem angenommenen geringeren Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes zuwiderlaufen. Demzufolge fragt sich, ob Abwägungen, in die sowohl Abwehr- als auch Schutzbelange eingestellt werden, nicht doch auf einen Bereich hinauslaufen, der kleiner als die zuvor angenommene nichtjustitiable Spannbreite zwischen Unter- und Übermaßverbot ist. Gleichzeitig ist im Rahmen der Prinzipientheorie zu ermitteln, welche Spielräume des Gesetzgebers bei Abwägungen bestehen und worauf sie sich genau beziehen. Schließlich ist auch auf Vertreter der Prinzipientheorie einzugehen, die eine bestmögliche Erfüllung des Untermaßverbotes für erforderlich halten. Diese These bildet das plakative Gegenstück zu dem Postulat, daß das Untermaßverbot einen reinen Mindestschutz gewährt. Da das Prinzipienmodell von Alexy in der Literatur am bekanntesten ist, soll dieses für die zu beantwortenden Fragen zunächst näher vorgestellt werden.255
250 Die Grundrechtskollision ist eine notwendige Folge der Entscheidung, Schutzpflichten als objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte anzuerkennen. 251 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. 252 Vgl. Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 (105); Ders. Theorie der Grundrechte, S. 100 – 104. 253 Dazu unter IX. 2. 254 Vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande S. 73; Hain, Grundsätze des Grundgesetzes, S. 133 f.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 83. 255 Vgl. zur Prinzipientheorie ebenfalls Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2. Auflage, 2007; Sieckmann, in: Mellinghoff/Trute, Die Leistungsfähigkeit des Rechts, S. 39 ff.; Ders., Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 176 ff.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
1. Das Grundmodell nach Alexy Nach R. Alexy können Normen Prinzipien oder Regeln sein.256 Prinzipien, wozu insbesondere die Grundrechte zählten, seien dadurch gekennzeichnet, daß sie im Sinne von Idealvorstellungen auf umfassende Verwirklichung zielten, in ihrer konkreten Reichweite aber durch kollidierende Prinzipien und Regeln sowie durch tatsächliche Möglichkeiten begrenzt würden. Prinzipien könnten deshalb je nach Fall und entgegenstehenden Interessen in unterschiedlichen Graden erfüllt werden.257 Aufgrund der Tatsache, daß alle Prinzipien einen Optimierungsgedanken beinhalteten, komme es zwangsläufig zur Kollision. Da es zudem keine abstrakte Rangordnung von Werten gebe, seien die Kollisionen jeweils durch Abwägungen zu lösen. Bei der Abwägung gehe es darum, welchem der abstrakt gleichrangigen Belange im konkreten Fall das höhere Gewicht zukomme.258 Eine bestmögliche, also optimierte Erfüllung, bestünde deshalb von vornherein nur relativ gemessen an den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten. Zu den in Rechnung zu stellenden gegenläufigen Prinzipien zähle dabei auch der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers als formelles Prinzip. Im Gegensatz dazu seien Regeln definitive Festsetzungen im Raum des tatsächlich und rechtlich Möglichen.259 Sie könnten nicht von Fall zu Fall auf einem unterschiedlichen Niveau erfüllt werden, sondern seien nur erfüllbar, indem den getroffenen Festsetzungen nachgekommen werde. Die Geltung von Regeln sei deshalb nicht abstufbar.260 Sofern eine Regel mit einer anderen Regel kollidiere, könne dieser Konflikt nur dadurch gelöst werden, daß entweder eine Ausnahme in die Regel eingebaut oder eine der beiden Regeln für ungültig erklärt werde. Kollidierten dagegen Prinzipien untereinander, sei kein Prinzip ungültig oder habe den Vorrang, sondern es müsse dann lediglich eines der beiden Prinzipien im konkreten Fall zurücktreten.261 Als Beispiel führt Alexy die Kollision zwischen der Freiheit der Berichterstattung und dem Persönlichkeitsrecht eines Strafgefangenen an, der die Berichterstattung über sich verhindern möchte. Hier ginge kein Prinzip grundsätzlich vor, sondern die Entscheidung sei abhängig von den konkreten Bedingungen im Einzelfall. In einem anderen Fall, unter anderen Bedingungen, könne wiederum ein anderes Prinzip, mit anderen Worten ein anderes Grundrecht, vorgehen. Die Bedingungen, unter denen ein Prinzip im konkreten Fall dem anderen vorginge, bildeten dann den Tatbestand einer Regel, an die die Rechtsfolge des Vorrangs des betreffenden Prinzips geknüpft sei.262 (Bei dem erwähnten Beispiel etwa der Vorrang des Persönlichkeitsrechts gegenüber der Frei256 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 74 ff.; Ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995; Ders., Theorie der juristischen Argumentation, 1996. 257 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. 258 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 80. 259 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76. 260 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78. 261 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79. 262 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 84.
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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heit der Berichterstattung unter den Bedingungen x1-x4.) Alexy bezeichnet diese Regelbildung als Kollisionsgesetz. Da ein Prinzip sich nur soweit durchsetzen könne, wie es keine gegenläufigen Prinzipien gebe, die diesem vorgingen, stellten Prinzipien prima-facie-Gebote dar, die also nur bis „auf Widerruf“ oder nur vorläufig unbeschränkt gelten. Auch Regeln könnten einen prima-facie-Charakter durch Ausnahmeklauseln erhalten, da dann ihr strikt definitiver Charakter verloren ginge. Reine Regeln seien demgegenüber vollends abwägungsfrei. Alexy nimmt an, daß Grundrechte einen Doppelcharakter einnehmen.263 So seien neben dem vorherrschenden Prinzipiencharakter von Grundrechtsnormen auch Regeln in Form der Grundrechtsschranken anzutreffen. Letztere enthielten Festsetzungen, die allerdings ebenfalls insofern wieder Prinzipiencharakter annehmen könnten, als ihr Inhalt nicht durch strikte Auslegung abwägungsfrei zu ermitteln sei.264 Allerdings könnten die Grundrechtsschranken nicht lediglich durch ein stärkeres gegenläufiges Gewicht überspielt werden, sondern dafür müßte darüber hinaus dargelegt werden, warum von den getroffenen Festsetzungen, die ja im Regelfall gelten sollen, gerade in diesem Fall abgewichen werden solle.265 Alexy vertritt also kein reines Prinzipienmodell, bei dem Grundrechte völlig frei vom Grundrechtswortlaut jeweils „nur“ gegeneinander abgewogen werden müßten. Ein solches Modell würde die in den Grundrechtsschranken enthaltenen Festsetzungen und Prioritäten unterlaufen und damit gegen den Wortlaut der Verfassung verstoßen.266 Erst recht verwirft Alexy ein reines Regelmodell, bei dem in konsequenter Anwendung der Definition von Regeln die Reichweite von Grundrechten im konkreten Fall ganz ohne Abwägung bestimmt werden müßte. Bei Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt, wie der Kunstfreiheit aus Art. 5 III 1GG, führe das dazu, daß sie überhaupt nicht beschränkt werden könnten.267 Dagegen könnten Grundrechte mit einfachem Gesetzesvorbehalt aufgrund der vom Wortlaut eingeräumten Einschränkungsmöglichkeit bis zur Wesensgehaltsgrenze leer laufen.268 Dies zeige, daß eine reine Auslegung ohne Abwägung nicht möglich sei. Die notwendige Abwägung bedeute aber nichts anderes, als daß zwei Prinzipien aufeinandertreffen, die zueinander ins Verhältnis gesetzt werden müßten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit seinen Abwägungen impliziere daher den Prinzipiencharakter von Grundrechten und umgekehrt.269 Alexy erkennt selbst an, daß Abwägungen nicht zu einer intersubjektiven harten Ordnung führen könnten, sondern mit ihnen nur eine „weiche“ Ordnung zu erreichen
263 264 265 266 267 268 269
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87 f. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 88, 89. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 89. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 104 ff., 117. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 107. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 113. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
sei.270 Allerdings seien Abwägungsentscheidungen auch nicht der rein subjektiven Einschätzung überlassen. So müßte stets das Abwägungsgesetz beachtet werden, wonach, je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips sei, umso größer die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen Prinzips sein müsse.271 Letztlich sei es möglich, durch Bewertung (etwa durch die Schwere des Eingriffs gegenüber der Notwendigkeit eines Schutzes) Abwägungsentscheidungen zumindest rational zu begründen.
2. Kritik an der Prinzipientheorie Die Kritik in der Literatur bezieht sich auf mehrere Grundannahmen der Prinzipientheorie. Zunächst einmal wird die Unterteilung von unmittelbar anwendbaren Normen und abzuwägenden Prinzipien in Frage gestellt. Die schlichte Zweiteilung werde der Fülle juristischer Argumentationsformen nicht gerecht. So gäbe es nicht nur eine Abwägung im Einzelfall, sondern auch eine klassische, historische, teleologische oder systematische Auslegung sowie weitere dogmatische Figuren und Systeme.272 Besonders intensiv wird die Dominanz von Abwägungen in der Prinzipientheorie kritisiert. Einige Autoren stehen dabei Abwägungen als justitiable Lösung von Grundrechtsfragen grundsätzlich skeptisch gegenüber.273 Ein viel zitierter Vertreter dieser Position ist Schlink, der geltend macht, daß Abwägungen kaum objektivierbar und deshalb grundsätzlich durch eigene Wertungen des Abwägenden subjektiv gefärbt seien.274 Abwägungsentscheidungen seien Wertentscheidungen über politische und gesellschaftliche Fragen und müßten deshalb politischen Mehrheitsentscheidungen vorbehalten bleiben.275 Die Prüfung des Übermaßverbotes sollte daher auf die Eignungs- und Erforderlichkeitsprüfung beschränkt bleiben.276 Der Staat sei befugt, bereits schon dann in die Freiheit der Bürger einzugreifen, wenn der Eingriff geeignet und erforderlich sei, einen legitimen Zweck zu erreichen. Dabei müsse nur eine Mindestposition des Bürgers beachtet werden. Das Bundesverfassungsgericht müsse sich demzufolge bei der abwägenden Zuordnung von Grundrechtsgütern einer eigenen
270
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 142. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 146. 272 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 78; grundsätzlich ablehnend auch Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 222 ff. 273 Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 (461 f.); Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (364); Leisner, NJW 1997, S. 636 f.; Knies, in: FS für Stern, S. 1156 (1178); Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie S. 168 f.; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 49 f.; vgl. zur Problematik Ossenbühl, DVBl 1995, S. 904 (908 f.). 274 Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 (461 f.). 275 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 127 ff., 130 ff., 190, 211, 217; Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (364). 276 Schlink, Abwägung, im Verfassungsrecht S. 74 ff., 195. 271
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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Kollisionslösung enthalten.277 Diese Kritik wird von weiteren Autoren geteilt und mit anschaulichen Bildern ausgeschmückt. So ist von der Abwägung als dem „großen Gleich- und Weichmacher der Rechtsordnung“ die Rede278 sowie von einer „spanischen Wand für praktisch jedes gewünschte Ergebnis“279 oder einem „Einfallstor eines unkontrollierten und unkontrollierbaren Gerechtigkeitsgefühls“. Eine gewisse Sonderstellung bei dieser Kritik nimmt jüngst Ladeur ein.280 Bei ihm stehen nicht Bedenken einer angemessenen Aufgabenteilung der Gewalten im Vordergrund. Vielmehr sieht Ladeur durch Einzelfall-Abwägungen sowohl von Seiten des Gesetzgebers als auch von Seiten der Rechtsprechung die liberale Gesellschaft bedroht, weil ad-hoc-Abwägungen nicht genügend Raum ließen für die spontane und experimentelle Selbstorganisation der Gesellschaft. Solche Entscheidungen könnten nicht das Wissen und die Lösungskompetenz enthalten, die in gesellschaftlichen und privaten Netzwerken vorhanden seien.281 Eine weitere Argumentationslinie wirft der Prinzipientheorie vor, daß sie zu wenig feste Vorgaben, Struktur und Orientierung aufweise.282 Da fast jeder Wert als Prinzip aufgenommen werden könne, seien auch kaum Ergebnisse auszuschließen.283 Die Theorie weise deshalb ein hohes Maß an Beliebigkeit auf. Da die betroffenen Grundrechte in einer allgemeinen Prinzipienabwägung aufgingen, würden ihre Unterschiede und ihre unterschiedlichen Dimensionen (Abwehrrecht, Schutzrechte, Verfahrenrechte etc.) eingeebnet.284 Von der Eigenrationalität der einzelnen Grundrechte bliebe nicht mehr viel übrig. Zudem wird bestritten, daß Grundrechte auf Optimierung drängen würden. Vielmehr stellten diese nur Richt- und Grenzwerte einer Rahmenordnung dar.285 Auch wird vorgebracht, daß von Interessens- nicht auf Grundrechtskollisionen geschlossen werden dürfe.286 So enthalte das Grundgesetz zu vielen Fragen überhaupt oder bestenfalls vage Antworten.287 Darüber hinaus müßten insbesondere das Prinzip der demokratischen Verantwortung und Legitimation sowie der Vorbehalt des Gesetzes aus Art. 20 III GG, der bestimme, daß der Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen über das Gemeinwesen selbst zu treffen habe, als weitreichende Kompetenz-
277 278 279 280 281 282 283 284 285
Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (365). Ossenbühl, Wortbeitrag, VVDStRL 39 (1981), S. 189. Grunsky, ZRP 1976, S. 129 (131). Ladeur, Kritik der Abwägung, S. 15 f., 28 ff. Ladeur, Kritik der Abwägung S. 15 f., 28 ff. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 81. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 76. Ladeur, Kritik der Abwägung, S. 44. Breuer, in: Festschrift für Redeker, S. 11 (53); Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (363,
364). 286 287
Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 199. Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (363 f.).
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
weisung der Verfassung an die Politik verstanden werden.288 Dafür spreche, daß ein Optimalstandard politisch nur angestrebt werden könne, verfassungsrechtlich aber nicht bestimmbar sei.289 Grundrechte vermittelten insofern nur Minimalstandards, die nur dann verletzt würden, wenn ihre Einschränkung durch keine vertretbare Wertung oder Abwägung gerechtfertigt werden könne. Fasse man hingegen Grundrechte als Optimierungsgebote auf, habe dies zur Folge, daß jeder Konflikt zur Grundrechtsfrage mutiere. Folglich gäbe es nur noch vergrundrechtlichte Entscheidungen.290 Zwar heiße das nach dem Abwägungsmodell nicht, daß es nur eine richtige Antwort auf einen Konflikt gebe, jedoch bedürfte jede Antwort, die gegeben werde, dann einer verfassungsrechtlichen Begründung. Der Optimierungsgedanke bedeute deshalb eine weitreichende Konstitutionalisierung aller Konflikte.291 Das Verfassungsgericht enthalte durch die Prinzipientheorie einen uneingeschränkten Zugriff auf alle politischen Streitfragen, die hinter den Prinzipienkollisionen stünden. Dies führe zu einer bedrohlichen Entscheidungsverlagerung von der Politik auf das Verfassungsgericht. Auch strukturell unterschieden sich dann Politik und Verfassungsgericht nicht mehr. Beiden käme gleichermaßen die Aufgabe zu, Grundrechtskollisionen jeweils einer optimalen Lösung zuzuführen.292 Mit der Fixierung auf das verfassungsgerichtlich Höchsterreichbare, und sei es auch nur als Idealvorstellung293, gehe die primäre Gestaltungskraft des Gesetzgebers verloren.294 Sein Spielraum würde nur noch Fragen der Umsetzung des Verfassungsauftrages umfassen. Um eine solchermaßen völlige Einengung des Gesetzgebers abzufedern, sei die Theorie auf die Einführung von formellen Prinzipien zwingend angewiesen, die die Spielräume sichern sollen. Damit stelle sich die gesamte Theorie aber selbst in Frage, da auf diesem Weg die prinzipienhafte Wirkung selbst zum Prinzip werde.295 Letztlich könne aber auch dieser Systembruch nicht verhindern, daß dem Gesetzgeber allenfalls noch Erkenntnisspielräume jedoch keine Gestaltungsspielräume mehr zukämen. Im Hinblick auf das Untermaßverbot und die Schutzpflichtendimension wird von Nitz gefordert, daß letztere nicht auf eine Optimierung angelegt sein dürfe, da andernfalls der Gesetzgeber tatsächlich in die Klemme zwischen Unter- und Übermaßverbot 288
Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (365). Vgl. Breuer, in: Festschrift für Redeker, S. 11 (52). 290 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 70; vgl. auch Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 55. 291 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 82 – 84, 88; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 71; Jestaedt, in: FS für Isensee S. 253 (271); Ders., Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 34, 51, 65 ff., 258 f.; Hain, Grundsätze des Grundgesetzes, S. 132, 133, Starck, Der Staat 32 (1993), S. 473 (475); Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (361). 292 Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 83. 293 In diesem Sinne Lerche, in: FS für Stern, S. 197 (205), der richtigerweise erkennt, daß die Prinzipientheorie nicht auf einen justitiablen Idealpunkt ausgerichtet ist. 294 Lerche, in: FS für Stern, S. 197 (206 – 208). 295 Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffintensität, S. 175. 289
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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gerate.296 Gleichzeitig ist Nitz aber so zu verstehen, daß er der Abwehrdimension einen Optimierungscharakter nicht grundsätzlich absprechen möchte, wenn er davon spricht, daß auch die Angemessenheitsprüfung im Rahmen des Übermaßverbotes nicht immer auf ein optimales Verhältnis zwischen Eingriff und Eingriffszweck ziele, sondern diese beiden Größen lediglich nicht außer Verhältnis stehen dürften. Würde bei dieser Ausgangslage die Schutzpflicht optimiert, führe dies zwangsläufig zu einer Privilegierung der Schutzpflichtendimension gegenüber der Abwehrfunktion der Grundrechte.297 Es wird deutlich, daß der Hauptkritikpunkt die Vorstellung einer verfassungsrechtlich geforderten Optimierung der Grundrechtsgehalte auf einen vermeintlichen Idealpunkt betrifft. Bevor eine Gesamtwürdigung der Prinzipientheorie und ihrer Kritik erfolgt, soll zunächst noch die Lösung von Alexy für das Optimierungsproblem dargestellt werden, die in einer Dogmatik der Spielräume besteht. Denn zum einen nimmt diese Antwort bereits viel Wind aus den Segeln der Kritiker. Zum anderen ist eine bevorzugte Besprechung dieser Überlegungen geboten, weil Spielräume genuin mit dem Unter- und Übermaßverbot verbunden sind.
3. Dogmatik der Spielräume als Lösungsansatz Auch Alexy sieht ebenfalls das Problem einer Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Das Problem könne aber mit einer Dogmatik der Spielräume gelöst werden.298 Nach Alexy gibt es in der Verfassung zwei Arten von Spielräumen. Einen strukturellen und einen Erkenntnisspielraum. Der strukturelle Spielraum werde definiert durch die Abwesenheit von definitiven Verboten und Geboten. Was die Verfassung weder gebiete noch verbiete, stelle sie frei.299 An den Grenzen dessen, was die Verfassung frei stelle, ende folgerichtig auch jede verfassungsgerichtliche Kontrolle. Der sogenannte Erkenntnisspielraum bestehe demgegenüber aus den Grenzen der Fähigkeit, zu erkennen, was die Verfassung wirklich wolle, mit anderen Worten, was sie tatsächlich gebiete, verbiete oder freistelle.300 Während beim strukturellen Spielraum nach Alexy funktionellrechtliche Erwägungen oder formelle Prinzipien keine Rolle spielten, könnten Probleme des Erkenntnisspielraums nur mit solchen Erwägungen gelöst werden.301 Zudem seien die beiden Spielräume auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Nitz, Private und öffentliche Sicherheit, S. 370. Nitz, Private und öffentliche Sicherheit, S. 374, Fn. 364. 298 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 ff; aus jüngster Zeit: Ders., in: Sieckmann, die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 (107). 299 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (16). 300 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (16). 301 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (17). 296 297
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
a) Strukturelle Spielräume Der strukturelle Spielraum302 gliedert sich wiederum auf in drei Arten von Spielräumen: den Zwecksetzungsspielraum, den Mittelwahlspielraum303 sowie den Abwägungsspielraum.304 Bei den beiden ersteren sei der Rahmencharakter eindeutig. Hier ziehe die Verfassung dem Gesetzgeber lediglich eine negative Grenze, ohne ihn positiv festzulegen. Zum „Schwur“305 komme es erst beim Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Hier sei die entscheidende Frage, ob, vor dem Hintergrund der gebotenen Optimierung, die Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abwägung) die Rahmenstruktur der Verfassung auflöse.306 Im Ergebnis sei dies aber deshalb nicht der Fall, weil es grundsätzlich auch Abwägungspatts zwischen der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigungen und der Wichtigkeit der Gründe gäbe, die für die Beeinträchtigung sprächen.307 In diesen Fällen werde der Kollisionsfall nicht durch die Verfassung entschieden und es bestehe ein Abwägungsspielraum, in dessen Rahmen der Gesetzgeber frei entscheiden könne, ob er handelt oder nicht. Der Gesetzgeber dürfe bei einem Gleichstand eingreifen, müsse dies aber nicht. Überwöge dagegen in der Abwehrdimension die Intensität des Eingriffs die Gründe für den Eingriff, bzw. in der Schutzdimension die Gründe für eine Anhebung des Schutzes die Wichtigkeit des staatlichen Unterlassens, sei der Eingriff definitiv verboten bzw. im Fall des staatlichen Unterlassens definitiv geboten. Der Gesetzgeber müsse folglich handeln. Als Maßstab für das Vorliegen eines Patts bzw. einer Höhergewichtung schlägt Alexy eine Skalierung vor, wobei eine Dreiteilung am praxistauglichsten sei. So sei rational feststellbar, ob ein Eingriff leicht, mittelschwer oder schwer sei. Ebenso könne dies für die Wichtigkeit der den Eingriff tragenden Gründe bestimmt werden. Ein Patt mit einem entsprechendem Abwägungsspielraum bestehe beispielsweise, wenn einem mittelschweren Eingriff Eingriffsgründe von ebenfalls mittlerer Wichtigkeit gegenüberstünden. Als Beispiel für die rationale Feststellbarkeit von solchen Bewertungsstufen nennt Alexy den bekannten Fall des querschnittsgelähmten Reserveoffiziers, der von dem Satiremagazin Titanic als „Krüppel“ bezeichnet worden war. Die von dem Bundesverfassungsgericht vorgenommene Einordnung dieser Bezeichnung als schwere Persönlichkeitsverletzung308 sei offensichtlich rational und könne 302
Vgl. dazu auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 92 ff.; 114, 494; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 437 – 438. 303 Ausführlich zum Mittelwahl- und Zwecksetzungsspielraum bei Schutz- und Abwehrrechten Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 (119 – 120). 304 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (17); vgl. zum Abwägungsspielraum auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 475 f.; Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 438. 305 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (19). 306 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (19). 307 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (22 – 24). 308 BVerfGE 86, 1 (13).
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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kaum bezweifelt werden. Radikale Abwägungsskeptiker müßten dagegen bestreiten, daß es solche begründbaren Urteile über Eingriffsintensitäten und Wichtigkeitsgrade überhaupt geben könne. Alexy räumt ein, daß an dem Konzept kritisiert werden könne, daß die Skalierung rein theoretisch nach oben offen sei. Die strukturellen Abwägungsspielräume verdankten ihre Existenz aber einer groben Skalierung. Je feiner die Skala werde, „ desto weniger Patts entstünden.309 Auf diesem Wege bestünde dann immer eine kleine Differenz, die die Verfassung veranlasse, die Waage zum Ausschlag zu bringen; Abwägungspatts wären dann zwar nicht theoretisch, wohl aber praktisch ausgeschlossen. Jedoch spräche sehr viel mehr dafür, daß die Verfassung nicht derart fein strukturiert sei, sondern eher aus gröberen Knoten und Löchern bestehe.310 Demnach seien auch Abwägungspatts nicht ausgeschlossen. Abwägungen sowie der Optimierungscharakter der Grundrechte seien also mit einer Rahmenordnung kompatibel.311 Wörtlich schreibt Alexy hierzu: „ Die Forderung nach möglichst weitgehender Realisierung grundrechtlicher Prinzipien […] bedeutet also alles andere als das Gebot, einen Höchstpunkt anzustreben. Zwar will jedes Prinzip möglichst viel. Kollidierende Prinzipien zu optimieren heißt aber nicht, dem nachzugeben, sondern verlangt neben dem Ausschluß unnötiger Opfer nur die Rechtfertigung erforderlicher Opfer durch mindestens gleiche Wichtigkeit der Erfüllung des jeweils gegenläufigen Prinzips.“312 b) Erkenntnisspielräume Die Frage nach der Existenz von Erkenntnisspielräumen313 tauche auf, wenn die Erkenntnis dessen, was die Verfassung verbiete, gebiete oder freistelle, unsicher sei. Die Unsicherheit könne ihre Ursache in der Unsicherheit empirischer oder normativer Prämissen haben. Bei den Erkenntnisspielräumen stelle sich zwangsläufig das grundsätzliche Problem der Divergenz von wirklichem Verfassungswillen und dessen Feststellung.314 Wer Eingriffe aufgrund unsicherer empirischer Prämissen zulasse, weil diese Prämissen nur vertretbar, plausibel oder nicht evident falsch sein dürften, der müsse die Möglichkeit nicht feststellbarer Grundrechtsverletzungen in Kauf nehmen. Die Lösung könne allerdings nicht darin bestehen, bei Unsicherheit die jeweils für das Grundrecht günstigste Prämisse zu wählen.315 Dies würde zu einer weitgehenden 309
Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (25). Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (25). 311 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (26). 312 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (25). 313 Vgl. auch Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 464 f.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 215 ff. 314 Kritisch gegenüber definitiven Aussagen von Verfassungsnormen: Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 90, der in den Verfassungswillen auch den demokratischen Prozeß und das Demokratieprinzip einbeziehen will. 315 Strenger Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 230, der bei Unsicherheit die für die Verwirklichung des Grundrechts günstige Prämisse zugrunde legen will. 310
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Handlungsunfähigkeit der Politik führen, da dann der Gesetzgeber nur noch aufgrund mit Sicherheit wahrer Prämissen in Grundrechte eingreifen dürfe.316 Eine solche Lösung sei mit dem Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip nicht vereinbar. Die beiden Prinzipien forderten deshalb einen empirischen Erkenntnisspielraum. Dieser sei aber nicht unbegrenzt. Auch hier lasse sich ein Abwägungsgesetz aufstellen, wonach je schwerer ein Eingriff in ein Grundrecht wiege, desto größer die Wahrscheinlichkeit der den Eingriff tragenden Gründe sein müsse. Noch problematischer als empirische Erkenntnisspielräume seien normative Erkenntnisspielräume, da hier direkt über den Inhalt der Verfassung entschieden werde.317 Solche Spielräume könnten daher die Verfassung inhaltlich von ihren richtigen Aussagen entfernen. Im Rahmen von normativen Spielräumen entscheide der Gebundene demzufolge über seine eigene Bindung.318 Es stelle sich damit die Frage, inwieweit dieser Umstand überhaupt mit der formellen Geltungskraft der Verfassung vereinbar sei.319 Die Problematik werde allerdings durch wichtige Faktoren entschärft. Zum einen stelle sich die Frage nach normativen Erkenntnisspielräumen dann nicht mehr, wenn eine Entscheidung bereits in den strukturellen Abwägungsspielraum (Abwägungspatt) falle. Da die Verfassung hier keine Vorgaben mache, sei der Streit über die beste Lösung in diesem Fall kein verfassungsrechtlicher Streit mehr.Zum anderen ließe sich das epistemische Abwägungsgesetz, wonach bei steigender Eingriffsintensität steigende Anforderungen an die Gewißheit der den Eingriff tragenden Prämissen gestellt werden müßten, auch auf normative Erkenntnisspielräume anwenden. Daraus folge, daß fundamentale Streitigkeiten über intensive oder intensivste Eingriffe nicht politisch, sondern verfassungsrechtlich als Dissense über die Grenzen der Verfassung zu entscheiden seien.320 Über diese Grenzen müsse dann das Bundesverfassungsgericht wirkungsvoll wachen.
4. Eigene Bewertung a) Zur Dogmatik der Spielräume aa) Schlußfolgerungen für Unter- und Übermaßverbot Bei der vorgestellten Unterscheidung der verschiedenen Spielräume handelt es sich um ein durchdachtes Modell, das die möglichen Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers systematisch aufarbeitet. Obwohl es sich bei der Dogmatik der Spielräume um die zentrale Frage der Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsgericht und 316
Alexy, VVDStRL 61 (2002), S. 7 (27 f.); Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 213. Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (29). Gegen die Zuerkennung von normativen Erkenntnisspielräumen: Reuber, Lebens- und Gesundheitsschutz, S. 119. 318 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (29). 319 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (29). 320 Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (29). 317
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
181
Gesetzgeber handelt, setzen sich in der Literatur vergleichsweise wenige Stimmen mit der Problematik auseinander. Für das Unter- und Übermaßverbot ist eine Beschäftigung mit einer Dogmatik der Spielräume indes essentiell. Denn die Frage, welche genauen Spielräume dem Gesetzgeber zukommen und wie groß diese sind, stellt nichts anderes als die Frage dar, wie breit der Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot ist. Analysiert man die Bedeutung der Thesen für das Unter- und Übermaßverbot näher, so läßt sich zunächst einmal feststellen, daß das „wirkliche“ Unter- und Übermaßverbot, die definitionsgemäß justitiabel sind, nur an den Grenzen des normativen und empirischen Erkenntnisspielraums liegen, da nur diese einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich sind. Denn der Erkenntnisspielraum legt sich gleichsam vergrößert über den strukturellen Abwägungsspielraum und überlagert diesen. Zwar ist es einzelfallabhängig, wieweit der Erkenntnisspielraum über die Grenzen des strukturellen Spielraums hinausreicht; fest steht allerdings, daß er immer321 größer als der strukturelle Abwägungsspielraum und nie kleiner ist. Damit liegen das justitiable Unter- und Übermaßverbot jenseits der Grenzen des strukturellen Spielraums. bb) Betrachtung des von Erkenntnisproblemen befreiten, originären Verfassungswillens (1) Verfassungsinternes Untermaßverbot Darüber hinaus müßten ein rein „verfassungsinternes“, also nichtjustitiables Überund Untermaßverbot an den Grenzen des strukturellen Abwägungsspielraums liegen, die zugleich die Grenzen des Abwägungspatts darstellen. Die Frage ist gleichwohl, inwieweit ein rein „verfassungsinternes Untermaßverbot“ die Grenze des Abwägungspatts markiert. Alexy spricht nämlich davon, daß in der Abwehrsituation die erforderlichen Eingriffe durch mindestens gleiche Wichtigkeit des gegenläufigen Prinzips gerechtfertigt seien. Der Gesetzgeber dürfe bei einem Gleichstand eingreifen, müsse dies aber nicht. Wenn aber ein Prinzip (hier die Schutzbelange) zur Rechtfertigung mindestens genau so wichtig sein muß, dann darf es auch wichtiger sein. Dann kann es aber auch so viel wichtiger sein, daß bei der Abwägung zwischen den Prinzipien kein Abwägungspatt mehr besteht. Demnach wäre es möglich, daß eine Eingriffsintensität beispielsweise lediglich mit der Ziffer 2 zu belegen wäre, die Wichtigkeit des Schutzes aber mit der Ziffer 3. Dies wäre zwar aus der abwehrrechtlichen Sicht gerechtfertigt, erscheint aber aus der schutzrechtlichen Sicht mit einem Abwägungspatt zunächst nicht vereinbar, da Schutz- und Abwehrbelange nicht mehr im Gleichgewicht stünden. Insofern ist zwar für die Abwehrdimension eindeutig, daß ein schwerer Eingriff nur durch schwerwiegende Gründe gerechtfertigt werden kann. Umgekehrt stellt sich aber die Frage, ob schwerwiegende Schutz321 Er wäre theoretisch nur dann deckungsgleich mit dem strukturellen Spielraum, wenn eine verfassungsrechtliche Frage so essentiell wäre, daß dem Gesetzgeber überhaupt kein Erkenntnisspielraum zuzugestehen wäre.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
interessen auch zwingend schwere Eingriffe in Grundrechte nach sich ziehen müssen, um wieder ein Patt zu erreichen. Die Problematik soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Unterstellt, ein absolutes Tabakwerbeverbot als schwerer Eingriff in die Berufsfreiheit sei durch den schwergewichtigen Eingriffsgrund des Schutzes von Leben und Gesundheit durch das Grundgesetz gerechtfertigt; reine Warnschilder auf Zigarettenpackungen wären dagegen als leichte Eingriffe anzusehen und ein Fernsehwerbeverbot als mittelschwerer Eingriff zu werten. Dann stellt sich die Frage, ob ein rein „verfassungsinternes“ Untermaßverbot nicht ein absolutes Tabakwerbeverbot anordnen müßte, um das Abwägungspatt von schwergewichtigen Schutzgründen mit einem schweren Eingriff herzustellen. Im Ergebnis muß dies aber nicht der Fall sein, weil auch ein verfassungsinternes Untermaßverbot mehrere Möglichkeiten der Erfüllung vorsieht, also das gesamte Schutzniveau im Auge hat, und nicht unbedingt einen bestimmten Eingriff fordert. Die Eingriffe aufgrund des Untermaßverbotes können deshalb auf verschiedene Eingriffe in Abwehrpositionen „verteilt“ werden, so daß bei der Beurteilung eines Abwägungspatts das gesamte Schutzniveau zu beurteilen ist.322 Auf der anderen Seite steht aber ebenfalls fest, daß ein um das Erkenntnisproblem und damit auch um die Frage der tatsächlichen Wirksamkeit bereinigtes, verfassungsinternes Untermaßverbot effektive Eingriffe fordern muß, die sich dann aufgrund einer objektiven verfassungsinternen Bestimmbarkeit der Wirksamkeit des Schutzmittels auch auf bestimmte Eingriffe konzentrieren können. Es bleibt demnach festzuhalten, daß das Modell einer formal gleichen Skalierung zur Rechtfertigung des staatlichen Handelns letztlich auf die Eingriffssituation zugeschnitten ist. (2) Demokratieprinzip und struktureller Abwägungsspielraum Ein größeres Problem des strukturellen Spielraums besteht in der Skalierung, die insofern wieder einer Optimierung unterliegen könnte, als daß keine grobe, sondern eine möglichst feine Skalierung als Abwägungsmaß gefordert wird.Das hätte zur Folge, daß viele Konflikte durch die Verfassung entschieden würden. Das verfassungsinterne Unter- und Übermaßverbot würden in diesem Fall besonders eng zusammenrücken. Die Verfassung würde dann nicht nur essentielle Fragen, sondern auch weniger bedeutende Fragen entscheiden. Alexy selbst hält die Verfassung nicht für derart fein strukturiert. Jedoch fehlt nach seiner Konzeption des strukturellen Spielraums ein passendes Instrumentarium zur Verhinderung einer zu feinen Skalierung. Dies ist jedoch m. E. schon an dieser Stelle der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Entgegen der Ansicht von Alexy ist m. E. davon auszugehen, daß auch im strukturellen Spielraum bereits der Raum für demokratisch getroffene Mehrheitsentscheidungen der Politik enthalten ist. Die Verfassung will bereits aus ihrer Struktur heraus 322 Damit kann in der Schutzdimension bei einem mittelgewichtigen Schutzgut gegebenenfalls der Abwägungsspielraum auch noch durch einen Eingriff der leichten Kategorie in das kollidierende Grundrecht gewahrt werden.
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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dem Gesetzgeber bestimmte Spielräume von vornherein zuweisen.323Positive Folge der Berücksichtigung eines Gestaltungsspielraums bereits im strukturellen Abwägungsspielraum wäre, daß diese zu der handfesten Annahme und Festschreibung einer gröberen Skalierung zwingen würde. (3) Die Problematik von reinen Abwägungsentscheidungen in der Schutzpflichtendimension Darüber hinaus stellt sich die interessante Frage, ob die Gestaltungsfreiheit der Politik im strukturellen Spielraum neben der Verhinderung einer zu kleinen Skalierung des Abwägungsmaßstabes zudem bewirkt, daß neben den Abwägungspatts auch Konflikte (in Form von Grundrechtskollisionen) treten, die die Verfassung zwar durch Abwägung entscheiden könnte, aber nicht entscheiden will, weil sie die Beantwortung im konkreten Fall dem Gesetzgeber zuschreibt. Ganz unabhängig von etwaigen Erkenntnisspielräumen des wahren Verfassungswillens, die die Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers wieder erweitern, stellt sich also die Frage, ob die Verfassung bereits aus ihrem originären Willen heraus, bestimmte Abwägungsentscheidungen nicht einlösen will. Denkbar ist das in Fällen, in denen eine Bedrohung des jeweiligen Grundrechts nicht derart groß ist, daß der Gesetzgeber korrigiert werden müßte. Damit bestünde der strukturelle Spielraum des Gesetzgebers nicht nur aus Abwägungspatts, sondern auch noch aus bestimmten Konfliktsituationen, deren Lösung der Politik vorbehalten ist. Der Rahmencharakter der Verfassung wäre somit bereits verfassungsintern angelegt und nicht bloß eine Folge von Erkenntnisproblemen des wahren Verfassungswillens.324 Die Annahme, daß die Verfassung bestimmte, theoretisch mögliche Abwägungsentscheidungen nicht einlösen will, obwohl eine Interessensseite an sich überwiegt, liegt in der Schutzdimension deshalb nahe, weil, wie oben festgestellt wurde, die Grundrechte aufgrund ihres liberalen Selbstverständnisses in Verbindung mit dem Demokratieprinzip Eingriffe in andere Grundrechte von vornherein in geringerem Maße vorschreiben wollen und diese Eingriffe in allererster Linie einer freien Entscheidung des Gesetzgebers überlassen möchten. In der Schutzdimension gerät nämlich bei reinen also „spielraumlosen“ Abwägungsentscheidungen „eines originären Verfassungswillens“ zunächst einmal das Demokratieprinzip in die Defensive. Das liegt daran, daß mangels normativem und empirischem Erkenntnisspielraums der von der „strukturellen Verfassung“ gewährte Schutz, der als Prinzip gleichberechtigt neben die Abwehrrechte tritt, ein sehr viel höheres Niveau aufweist als dies bei dem justitiablen Schutz der Fall ist. Das bedeutet, daß das Niveau des „verfassungsinternen“ (also des nichtjustitiablen) Untermaßverbotes höher liegt und entsprechende Eingriffe fordert. Vor allem bewirkt das verfassungsinterne Untermaßverbot, daß 323
Vgl. auch Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (363). Das hieße aber in Kauf zu nehmen, daß unter Umständen auch bei der Zugrundelegung einer gröberen Skalierung eine objektivierbare Abwägungsentscheidung zugunsten einer Seite theoretisch möglich ist, die aber dann von der Verfassung selbst nicht eingelöst wird. 324
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
es aufgrund der objektiven Effektivitätseinschätzung bei der Auswahl der Schutzmittel viel häufiger zu einer Konzentration auf bestimmte, wenn nicht sogar ein bestimmtes Schutzmittel (nämlich das objektiv effektivste Schutzmittel) kommt. Damit reduziert sich aber die für das Untermaßverbot typische freie Wahl des Schutzmittels und damit der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.325 Dieser wird zwar durch die für die Justitiabilität entscheidenden normativen und empirischen Erkenntnisspielräume wieder erweitert. Gleichwohl fällt im Abwägungsbereich der Verfassung eine Vorentscheidung, die auch Auswirkungen auf die Bestimmung der verbleibenden Spielräume haben kann. Dagegen ist im Bereich der Abwehrrechte das Demokratieprinzip weniger betroffen. Denn hier werden nur Mittel überprüft, für die sich der Gesetzgeber zuvor selbst entschieden hat. Bestenfalls wird durch das verfassungsinterne Übermaßverbot das Übermaß gekappt, jedoch kein anderes Eingriffsmittel angeordnet. Darüber hinaus geht in der Schutzdimension bei reinen Abwägungsentscheidungen eine gewisse Freiheitsbedrohung auch von der Methodik der Abwägung aus. Abwägungen basieren auf rationalen Erwägungen und müssen dies auch tun. Strenge Vernunftentscheidungen können aber in der Schutzdimension liberalen Freiheitsrechten auch dann noch zuwiderlaufen, wenn ihre Einschränkung objektiv und rational gerechtfertigt ist. Kurzum: Auch Vernunft kann Freiheit einschränken. Gesellschaftliche Traditionen, partiell unvernünftige, aber zutiefst menschliche und für die Freiheit essentielle Verhaltensweisen sowie kleine Freiheiten mit hohem Symbolwert können bei reinen Vernunftentscheidungen kaum berücksichtigt werden. Bei diesen Überlegungen ist im Auge zu behalten, daß es hier nicht darum geht, daß eine Einschränkung unverhältnismäßig oder nicht legitim wäre, sondern darum, ob die Verfassung diese Freiheitseinschränkungen selbst veranlassen will. Auch dieses Problem soll an einem weiteren Beispiel aus dem aktuell umstrittenen Raucherschutz veranschaulicht werden.326 Die Bundesärztekammer nimmt an, daß pro Jahr 3300 Menschen an den Folgen des Passivrauchens sterben.327 Eine sehr hohe Zahl. Im strukturellen Abwägungsspielraum, der nicht mit Erkenntnisproblemen behaftet ist und in dem auch kein normativer Spielraum besteht, ist nach dem oben Gesagten anzunehmen, daß das verfassungsinterne Untermaßverbot sich hier wohl auf bestimmte Verbote konzentrieren müßte, da Passivraucher letztlich nur durch Rauchverbote effektiv geschützt werden können. Als effektiver Schutz liegt dann das vieldiskutierte Rauchverbot in Gaststätten nahe. Ein solches fordert auch die Bundesärztekammer.328 Insbesondere die Angestellten, die sich im übrigen nur mittelbar freiwillig der Gefahr aussetzen, sind Dies würde übertragen dann auch auf die Exekutive zutreffen. Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Implikationen von Rauchverboten: Zimmermann, NVwZ 2008, S. 705 ff; Faber, DVBl 1999, S. 745 ff. 327 FAZ vom 20. 09. 2006, S. 6. Vgl. zu den weiteren Gesundheitsgefahren des Passivrauchens Stettner, ZG 2007, S. 156 (158) m.w.N. 328 FAZ vom 20. 09. 2006, S. 6. 325
326
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
185
durch dauerhaften Zigarettenrauch besonders gefährdet. Angesichts der fundamentalen Bedeutung des Rechtsguts Leben muß dieses Schutzanliegen bei dreiteiliger Skalierung als schwergewichtig eingestuft werden. Demgegenüber stellt das Verbot, in Gaststätten nicht zu rauchen, also lediglich für begrenzte Zeit an bestimmten Orten auf Zigaretten zu verzichten, keinen vergleichsweise schweren Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit dar. Auch die Berufsfreiheit der Gastwirte wäre wohl bestenfalls mittelschwer betroffen. Eine verfassungsinterne rationale Abwägung müßte demnach zugunsten des Rauchverbotes ausfallen. Gleichwohl spricht alles dafür, daß die Verfassung weder dieses noch anderweitige Rauchverbote anordnen will, sondern eine Entscheidung hierüber dem Gesetzgeber überlassen möchte.329 Der Grund besteht darin, daß eine liberale und dem Demokratiegedanken Rechnung tragende Verfassung keine allfürsorgende und bevormundende Ordnung sein will. Eine solche müßte selbst in einem entsprechendem Umfang Eingriffe in Freiheitsrechte vorsehen. Vielmehr bestimmen die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte, der Vorbehalt des Gesetzes in Verbindung mit dem Demokratieprinzip, daß staatliche Freiheitsbeschränkungen im Regelfall durch freie, also verfassungsrechtlich nicht determinierte politische Mehrheitsentscheidungen legitimiert werden sollen.330 Genau dem trägt die oben festgestellte Asymmetrie von Unter- und Übermaßverbot Rechnung. Es ist also davon auszugehen daß die Asymmetrie von grundrechtlichen Schutz und Abwehrbelangen schon in dem originären Verfassungswillen angelegt ist. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei diesen Erwägungen um zunächst rein theoretische Fragestellungen, da ein Urteil über die Verfassungswidrigkeit eines staatlichen Handelns oder Unterlassens erst nach Hinzuziehung des empirischen und normativen Gestaltungsspielraums gefällt werden kann. Auch diese Spielräume liegen nicht etwa außerhalb der Verfassung, sondern werden der Politik von ihr gerade zugewiesen. Gleichwohl ist es für das Gesamtverständnis wichtig zu hinterfragen, was die ursprüngliche Verfassungsintention ist, da dieses Verständnis auch Auswirkungen auf die Bestimmung des justitiablen Bereichs der Verfassung haben kann. b) Zur Kritik an der Prinzipientheorie Durch die Dogmatik der Spielräume wird deutlich, daß die Prinzipientheorie nicht auf einen Idealpunkt einer verfassungsrechtlich einzig richtigen Entscheidung hinauslaufen muß. Die Kritiker übersehen insbesondere, daß die Prinzipien nur soweit optimiert werden, als dies die gegenläufigen Prinzipien zulassen. Deshalb führt die 329
Anders Stettner, ZG 2007 156 (161 f.), der der Ansicht ist, das Untermaßverbot verlange vom Gesetzgeber umfassende Rachverbote zum Schutz von Passivrauchern. Nach Zimmermann, NVwZ 2008, S. 705 (709) gebietet das Untermaßverbot jedenfalls für Kleingaststätten kein Rauchverbot. 330 Auch Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, S. 133, 134, nimmt an, daß in den zahlreichen Gesetzesvorbehalten die Gestaltungsprärogative des Gesetzgebers zum Ausdruck komme, woraus sich auch bei den Schutzpflichten ein erweiterter politischer Gestaltungsspielraum ergebe.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Theorie nicht zu einem maximierten Grundrechtsniveau.331 Dies gilt in besonderem Maße für das Untermaßverbot, das durch die gegenläufigen besonderen Erfordernisse des Gestaltungsspielraums sowie aufgrund der liberalen Ausrichtung der Verfassung auch nach der Prinzipientheorie an einem dauerhaft niedrigeren Niveau angesiedelt sein kann. Die Forderung, daß nur die Abwehrgehalte, nicht aber Schutzrechte als Optimierungsgebote zu behandeln seien, ist dagegen nicht nur unberechtigt, sondern auch kontraproduktiv. Denn die Prinzipientheorie setzt voraus, daß den zu optimierenden Prinzipien andere ebenfalls zu optimierende Prinzipien gegenüberstehen, da es ansonsten tatsächlich zur Maximierung von Grundrechtsgehalten kommt. Erst aufgrund der Optimierung aller Prinzipien können die notwendigen und immanenten Begrenzungen erfolgen. Auf die Kritik, inwieweit Grundrechte überhaupt Optimierungsgebote darstellen, kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Jedoch erscheint sich eine Optimierungsvorstellung schon aus der Vielzahl an theoretisch denkbaren Freiheitsverwirklichungen332 zu ergeben. Auf der Abwehrseite entspricht dem im übrigen der weite Schutzbereichsbegriff. Zudem spricht für die Annahme von Optimierungsgeboten, daß Grundrechte solange Freiheit verwirklichen wollen, solange es keinen vernünftigen Grund gibt, der gegen ihre Verwirklichung im konkreten Fall spricht. Darüber hinaus bestätigt die Dogmatik der Spielräume die wichtige Erkenntnis, daß Unter- und Übermaßverbot durch zwei verschiedene Prüfungen getrennt voneinander zu ermitteln sind.333 Allerdings fragt sich, wie diese Erkenntnisse mit der ebenfalls gleichzeitig von Alexy verwendeten Definition zu vereinbaren ist, wonach eine bestmögliche Erfüllung relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten erfolgen soll. Soll beispielsweise ein bestimmter Schutz verwirklicht werden, werden als gegenläufige Prinzipien die Freiheitsbelange der Betroffenen sowie der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers in die Abwägung eingestellt. Führt das Ergebnis dieser Abwägung dann aber nicht doch per Definition zwangsläufig an nur einen bestimmten Punkt, an dem sowohl die Schutz- als auch die Freiheitsbelange bestmöglich realisiert werden? Denn auch der in die Abwägung eingestellte Gestaltungsspielraum wirkt sich ja nur so aus, daß dieser Punkt von der verfassungsrechtlichen Idealentscheidung ein wenig verschoben liegen kann, ändert aber an dem Faktum des nur einen Idealpunkts, an dem Schutz und Abwehrbelange vermeintlich aufeinandertreffen, nichts. Folglich bestünde auch kein Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot mehr, sondern lediglich ein Spielraum zwischen der Idealentscheidung der Verfassung und der gesetzgeberischen Entscheidung. Zu beachten ist aber insoweit, daß bei der erwähnten Prüfung des Übermaßverbotes die kollidierenden Schutzbelange eingestellt werden, die als Zielvorgaben über 331 Dazu Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 ff.; Da Silva, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 215 ff. 332 Damit ist hier nicht nur die die Freiheit gegen den Staat, sondern auch die Freiheit vor Beeinträchtigungen Dritter sowie die ökonomische Freiheit gemeint. 333 A.A. Couzinet, Die Zulässigkeit von Immissionen, S. 119.
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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das justitiable Untermaßverbot hinausreichen. Sie werden also ohne den für das Untermaßverbot typischen Gestaltungsspielraum als Gegengewichte in die Abwägung eingestellt. Der eingestellte Gestaltungsspielraum bezieht sich bei der Prüfung des Übermaßverbots lediglich auf das Übermaßverbot selbst. Das Untermaßverbot ist deshalb durch eine neue Prüfung zu ermitteln und ergibt sich nicht bereits aus den isolierten Schutzbelangen bei der Prüfung des Übermaßverbotes. Daraus folgt, daß eine justitiable Verpflichtung zur Optimierung von Grundrechtsgehalten von vornherein nur bis an die Grenzen von Untermaßverbot und Übermaßverbot besteht.334 Im Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot unterliegt indes kein Grundrechtsgehalt mehr der justitiablen Optimierung. c) Zur Kritik an Abwägungen In Hinblick auf die vorgebrachte Kritik an Abwägungen ist anzumerken, daß Entscheidungen von Konflikten auf der Verfassungsebene zwangsläufig Bewertungen enthalten müssen.335 Denn aufgrund des hohen Abstraktionsgrades der Verfassung kommt es automatisch zu Freiheitskollisionen. Selbst wenn die vorzunehmenden Bewertungen unter dem Begriff der Auslegung firmieren, führt kein Weg daran vorbei, daß am Ende eine Gewichtung der gegeneinander stehenden Belange vorgenommen werden muß. Bei der Lösung von Grundrechtskonflikten helfen zwar Systematisierungen wie die verschiedenen Schrankendifferenzierungen oder die unterschiedlichen Auslegungsmethoden, sie lösen das Problem aber selbst noch nicht.Aufgrund der abstrakten Verfassungsformulierungen sind sowohl den Freiheitsgrundrechten ohne Gesetzesvorbehalt als auch der Möglichkeit, Freiheit aufgrund von Grundrechtsschranken einzuschränken, kaum Grenzen gesetzt. Dieses Problem ist auch durch die üblichen Auslegungsmethoden allein nicht lösbar. Eine abwägungslose Auslegung muß nämlich davon ausgehen, daß die Verfassung Freiheit ebenso wie die Möglichkeit von Freiheitseinschränkungen in bestimmten Fallkategorien pauschal und losgelöst vom Einzelfall zuweist. Dies ist aber weder mit der umfassenden Freiheitswirkung noch mit der Individualbezogenheit der Grundrechte vereinbar. Gerade aus letzterer folgt, daß dem einzelnen das Recht zukommen soll, daß alle Besonderheiten des Einzelfalls beachtet werden. Darüber hinaus entsprechen Abwägungen auch den Erfordernissen einer ausdifferenzierten und hochkomplexen Industrie-, Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, die verlangt, daß die unterschiedlichen Gesichtspunkte und Interessen in die Entscheidungsfindung einfließen. Erst durch Abwägungen wird den Freiheitsbelangen einschließlich der Schutzbelange aller Beteiligten ausreichend Rechnung getragen.
Zu beachten ist, daß weder das Unter- noch das Übermaßverbot selbst „optimiert“ werden, sondern lediglich die jeweiligen grundrechtlichen Abwehr- oder Schutzgehalte, die über die justitiablen Kontrollinstrumente hinausgehen. 335 Vgl. Ekardt/Susnjar, ZG 2007, S. 134 (144); Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 320, 321. 334
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
Daß rationale Abwägungsentscheidungen möglich sind, zeigt zudem in der Tat, daß es Abwägungsergebnisse gibt, die unzweifelhaft richtig oder falsch sind. Damit gibt es bis zu einem gewissen Grad auch objektivierbar schlechtere und bessere Entscheidungen. Daß es zugleich eine Vielzahl von Grundrechtskollisionen gibt, in denen schwierig zu beantworten ist, wie Freiheit verteilt werden soll und dabei mehrere Lösungen vertretbar sind, spricht nicht gegen Abwägungen, sondern ist genuin mit unterschiedlichen Wertvorstellungen in einer pluralistischen Gesellschaft verbunden. Auch ist die menschliche Erkenntnisfähigkeit begrenzt, was zur Folge hat, daß aus ungesichertem Wissen unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen werden können.336 Auf einem anderen Blatt steht deshalb die Frage, inwieweit das Verfassungsgericht die vorgenommenen Abwägungen der politischen Entscheidungsträger korrigieren sollte. Jedoch ist der vollständige Verzicht auf eine Abwägungskontrolle, wie sie etwa Schlink337 mit Hinweis auf den Gestaltungsspielraum der Politik fordert, keine adäquate Lösung. Denn die dann übrig bleibenden Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfungen sortieren lediglich bestimmte Mittel aus, enthalten aber noch keine Aussagen über die Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit der eigentlichen Entscheidung. Ein solches Vorgehen ist mit Art. 93 GG nur schwer vereinbar. In einem System, in dem die Verfassung einem Gericht die Kontrolle der beiden anderen Gewalten übertragen hat, kann dieses Gericht nicht völlig darauf verzichten, die Abwägungen inklusive der Gewichtungen, die der Gesetzgeber unternommen hat, zumindest nachzuvollziehen und diesbezüglich auch eigene Bewertungen anzustellen.Ungeachtet dessen können die normativen und empirischen Erkenntnisspielräume des Gesetzgebers dann durchaus dazu führen, daß am Ende nur noch überprüft wird, ob die Abwägungsentscheidung evident falsch oder unvertretbar ist. Entscheidend ist nicht, ob Abwägungen überprüft werden, sondern wie eng diese überprüft werden. d) Fazit Will man die Prinzipientheorie abschließend bewerten, so ist zunächst einmal festzuhalten, daß sie nicht, wie die Kritiker behaupten, zu einer Maximierung von Grundrechtsgehalten führen muß. Mit ihr ist auch ein dauerhaft geringeres Gewährleistungsniveau des Untermaßverbotes vereinbar. Es blieben aber zwei Kritikpunkte, für die die Theorie jedoch nur eingeschränkt verantwortlich gemacht werden kann. Zum einen kann sie im Hinblick auf eine Optimierung der Prinzipien mißverstanden werden, und zum anderen kann sie tatsächlich als Grundlage für eine weitgehende justitiable Maximierung der Grundrechtsgehalte verwendet werden. Eine solche Maximierung auch der grundrechtlichen Schutzpflichtengehalte fordert M. Borowski, indem er ausdrücklich eine bestmögliche Erfüllung des UntermaßAuf diesen Gesichtspunkt verweisen besonders: Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 86 f.; Scherzberg in: Engel/Halfmann/Schulte, Wissen, Nichtwissen, unsicheres Wissen, S. 113 ff. 337 Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 74 ff., 95; ebenso Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 293 f. 336
IX. Untermaßverbot und Prinzipientheorie
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verbotes für verfassungsrechtlich geboten hält.338 Wie eingangs erwähnt, bildet die These den Gegenpunkt zu der bisherigen Annahme eines geringeren Gewährleistungsgehaltes des Untermaßverbotes und ist nun näher zu beleuchten.
5. Das Optimierungskonzept von Borowski Im Ergebnis sind für Borowski nur diejenigen staatlichen Handlungen mit dem Untermaßverbot vereinbar, die unter allen verhältnismäßigen Erfüllungshandlungen die maximale Förderintensität aufweisen.339 Im einzelnen geht Borowski dabei wie folgt vor: Ausgangspunkt seiner Überlegung ist zunächst, daß bei der Ermittlung des erforderlichen Schutzniveaus keine grundsätzlich in Betracht kommenden Erfüllungshandlungen von vornherein ausgeschlossen werden dürften, da diese dann auch nicht mehr in die Abwägung einfließen könnten.340 Mit Ausnahme von unrealistischen oder undenkbaren Handlungen sei aus diesem Grunde jede Handlung, die die Optimierung von Schutzbelangen zur Folge habe, zunächst einmal prima facie geboten. Sodann will er jede dieser möglichen Schutzhandlungen und damit Grundrechtseingriffe anhand des Übermaßverbotes auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüfen.341 Die Prüfung dieser Mittel erfolgt nach den bekannten Kriterien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit, wobei die Erforderlichkeit insofern von der üblichen Prüfung abweicht, als daß Borowski nicht nur das aktuell gewährleistete Schutzniveau als Vergleichsmaßstab heranzieht, sondern alle denkbaren Schutzmittel unter dem Gesichtspunkt miteinander vergleicht, inwieweit sie jeweils die Schutzbelange besser fördern, gegebenenfalls dafür aber auch intensiver beeinträchtigen.342 Übrig bleibt somit eine Klasse von verhältnismäßigen Mitteln mit unterschiedlichen Förder- und Beeinträchtigungsintensitäten.343 Die weitere Auswahl dieser allesamt verhältnismäßigen Mittel möchte er aber nicht dem Gesetzgeber überlassen, da dieser dann über das Niveau der Handlungspflicht selbst entscheiden könnte. Auf der Grundlage von prinzipientheoretischen Überlegungen versucht Borowski nunmehr den grundrechtlichen Gesamtzustand zu optimieren und ein bestmögliches Kosten-Nutzenverhältnis von Schutz- und Abwehrbelangen zu erreichen. Nach der Untersuchung von aufwendig gestalteten mathematischen Modellen344 kommt er allerdings zu dem Ergebnis, daß eine metrisch belegbare objektivierbare Kosten-Nutzen-Analyse nicht möglich ist, weshalb letzt338 Vgl. für die Prüfung des Untermaßverbotes auf der Grundlage der Prinzipientheorie ebenfalls Clrico, in: Sieckmann, Grundrechte als Prinzipien, S. 151 ff. 339 Einschränkend in der 2. Auflage aus dem Jahre 2007, in der Borowski, nunmehr die beim Untermaßverbot bestehenden Spielräume mehr hervorhebt. siehe 2. Auflage, S. 205, 208. 340 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 142. 341 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 152 f. 342 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 153. 343 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 155. 344 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 156, 157.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
lich bei der Auswahl auf das Mittel zurückgegriffen werden müsse, das die absolut höchste Förderintensität aufweise.345 Das Untermaßverbot verlange demnach die Wahl des Mittels mit der höchsten absoluten Förderintensität, es sei denn, ein anderes Mittel aus der Klasse besitze ähnlich hohe Förderintensität und beeinträchtige kollidierende verfassungsrechtliche Belange evident weniger. Zwar erkennt Borowski zum Schluß seiner Überlegungen dem Gesetzgeber auch Spielräume zu, jedoch entsprächen diese im Ergebnis einer Schrankensetzungskompetenz, was insbesondere dann, wenn grundrechtliche Interessen intensiv betroffen seien, für eine nur enge Zuerkennung von Spielräumen spreche.346 Auf diesem Wege gelangt Borowski zu der Auffassung, daß es viele Situationen gebe, in denen das Untermaßverbot eine bestimmte, definitiv gesollte Handlung bestimme.347
6. Eigene Bewertung Das Grundproblem an der Konzeption ist, daß Borowski nicht das Untermaßverbot, sondern das Übermaßverbot prüft, und zwar in seiner zulässigen Höchstform. Mit der Auswahl des Mittels der höchsten Förderintensität wird nicht ein Mindestmaß an Schutz, sondern ein Höchstmaß an Schutz als Untermaßverbot festgelegt. Die Thesen führen damit zu einer annähernden Deckungsgleichheit von Unter- und Übermaßverbot mit den bereits geschilderten folgenschweren Auswirkungen für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und die liberalen Abwehrrechte.348 Die Konstruktion übergeht, daß das Untermaßverbot ausschließlich ein Instrument zur Kontrolle des Gesetzgebers ist. So überprüft Borowski nicht das vom Gesetzgeber vorgegebene Schutzniveau, sondern entwickelt einen theoretischen, von aktuellen Gegebenheiten und Überlegungen des Gesetzgebers losgelösten Höchststandard.349 Richtigerweise werden aber bei der Untermaßverbotsprüfung nicht mögliche Schutzmittel ergründet, sondern es wird nur festgestellt, ob die bereits getroffenen Maßnahmen dem Untermaßverbot genügen.350 So prüft Borowski im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung nicht, ob der aktuell gewährleistete Schutzstandard erhöht werden könnte, ohne intensiver in Abwehrrechte eingreifen zu müssen, sondern es werden alle denkbaren Fördermittel unter dem Gesichtspunkt der Effektivität miteinander verglichen. Schon der praktische Aufwand einer solchen Vielzahl von Vergleichsprüfungen er345
Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 158. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 160. 347 Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 138, 147. 348 Von der oben geschilderten Konvergenztheorie (Teil 3, I. 1.) unterscheidet sich die Konzeption Borowskis jedoch dadurch, daß erstere das Untermaßverbot von vornherein als Bestandteil der Prüfung des Übermaßverbotes ansieht. 349 Ablehnend ebenfalls Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 349; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 94; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 278. Allerdings teilt Cremer mit Borowski den Grundsatz der notwendigen verfassungsgerichtlichen Ermittlung alternativer Mittel. Vgl. hierzu Cremer, a.a.O, S. 275 f. 350 Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 268. 346
X. Ausgleich von Grundrechtskollisionen
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scheint kaum praktikabel.351 Darüber hinaus werden aber auf dieser Stufe auch kaum Mittel ausgeschlossen, weil mangels eines konkreten Vergleichs mit dem aktuell gegebenen Schutzstandard sowohl zahlreiche Mittel übrig bleiben, die intensiver fördern und dafür auch intensiver beeinträchtigen, als auch geringer belasten, dafür aber auch geringer fördern, als dies beim aktuellen Schutzkonzept der Fall ist. Damit entwickelt diese Prüfungsstufe aber kaum Steuerungswirkung. Auch im weiteren Verlauf der Prüfung wird von Borowski nicht untersucht, ob das vom Gesetzgeber gewählte Schutzmittel ausreichend ist, sondern es wird davon losgelöst das Mittel mit der höchst zulässigen Schutzintensität ermittelt. Mit der Fixierung auf den Höchstpunkt geht zwangsläufig der typische Ergebnissatz des Untermaßverbotes verloren, der im Falle einer Verletzung lediglich darin besteht, festzustellen, daß der derzeitige Schutzzustand nicht ausreichend ist, ohne bestimmte Mittel selbst anzuordnen.352 Aus diesen Gründen ist ein auf Optimierung angelegtes Untermaßverbot abzulehnen.
X. Das Untermaßverbot als Mittel zum Ausgleich von Grundrechtskollisionen? Eng an die Prinzipientheorie angelehnt ist die Lehre von der praktischen Konkordanz.Zwischen den beiden Theorien besteht aber insofern ein Unterschied, als daß die Prinzipientheorie insbesondere einen Weg der Entscheidungsfindung bei Grundrechtskollisionen beschreibt, während die Lehre von der praktischen Konkordanz inhaltlich auf eine verhältnismäßige Zuordnung bzw. die möglichst schonende Auflösung353 von Interessenskollisionen fixiert ist. Die Prinzipientheorie ist, wie oben hergeleitet wurde, mit einem durchaus auch breiten Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot vereinbar. Bei der Lehre von der praktischen Konkordanz ist das klärungsbedürftig.354 Die Existenzberechtigung einer verfassungsrechtlichen Kontrolle eines
351 Ebenso kritisch zu dieser Herangehensweise, Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 268, Fn. 306. 352 Würde Borowski nach der Feststellung der mit dem Übermaßverbot vereinbaren Schutzmittel nunmehr tatsächlich ein Mindestmaß prüfen, so hätte er dadurch nicht (wie üblich) diejenigen Mittel ausgesondert, die nicht in den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers fallen, sondern die Mittel geprüft, die gerade in diesen Spielraum fallen. Ungeachtet dessen ist zweifelhaft, ob tatsächlich jedes Mittel, das zu einem besseren Schutz beitragen kann, verfassungsrechtlich zunächst prima facie geboten ist. Zum einen sind Mittel selbst keine Prinzipien, sondern Instrumente um Prinzipien auf einem bestimmten Niveau zu erfüllen. Zum anderen ist nur eines bzw. eine Kombination von mehreren möglichen Schutzmitteln definitiv geboten, die das geforderte Schutzniveau erreichen. Daraus läßt sich durchaus schlußfolgern, daß auch vor der Auswahl eines bestimmten Mittels durch den Gesetzgeber nicht alle anderen Schutzmittel, die das Ziel ebenso erreicht hätten, prima facie zu verwirklichen gewesen wären. 353 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 153. 354 Vgl. zur Unterscheidung von praktischer Konkordanz als Optimierungspunkt und der Verhältnismäßigkeit als Erträglichkeitsgrenze: Lerche, in: FS für Stern, S. 197 (198).
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
möglichst schonenden Ausgleichs könnte gerade durch das Aufkommen des Untermaßverbotes erneut in Frage gestellt sein.
1. Insbesondere: Die Konzeptionen von Calliess und Tzemos Von einem Teil der Literatur355 wird das Untermaßverbot in die Lehre von der praktischen Konkordanz integriert. Das Untermaßverbot wird nach dieser Ansicht Bestandteil der Auflösung von Grundrechtskollisionen. Der Unterschied zur oben behandelten Kongruenzthese356 besteht darin, daß dieser Teil der Literatur die Prüfung des Untermaßverbotes nicht als automatischen Bestandteil der Übermaßverbotsprüfung ansieht, sondern zunächst ebenfalls bei Unter- und Übermaßverbot von zwei sich gegenüberliegenden Polen ausgeht.Wörtlich schreibt Calliess hierzu: „Im Ergebnis liegt es daher so, daß Über- und Untermaßverbot nicht identisch sein können. Vielmehr stellen die beiden Prüfungsmaßstäbe von einem unterschiedlichen Ausgangpunkt kommende Topoi dar, deren Anforderungen zunächst getrennt Rechnung zu tragen ist, auch wenn sie später […] wieder zusammen zu führen sind.“357 Im einzelnen geht Calliess davon aus, daß ein mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis zwangsläufig eine mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung nach sich ziehen müsse.358 Die Reichweite von Abwehrrecht und Schutzpflicht ließen sich nicht biplolar, sondern erst in einer Summe der verschiedenen Abwägungsvorgänge ermitteln. Zwar formuliere das Untermaßverbot zunächst tatsächlich einen Mindeststandard und das Übermaßverbot einen Höchststandard an staatlicher Schutzintensität; beide Pole bildeten so zunächst tatsächlich einen Korridor.359 Da die beiden Pole in Dreieckskonstellation aber immer nur getrennte Teilaspekte der komplex miteinander verbundenen Interessen360 erfassen könnten, müßten im Rahmen einer mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung Unter- und Übermaßverbot zusammengeführt werden.361 Bei der bloßen Übermaßverbotsprüfung würden die Interessen des Schutzsuchenden, die sich im Untermaßverbot spiegelten, nicht ausreichend berücksichtigt, 355 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 577 ff.; Ders., JZ 2006, S. 321 (327 f.); Ders., in: FS für Starck, S. 201 (213 f.); Tzemos, Untermaßverbot, S. 169 f.; Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie S. 168; Couzinet, Die Zulässigkeit von Immissionen, S. 116 f.; im Ergebnis ebenfalls Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, S. 369 f. 356 Siehe oben Teil 3, I. 1. 357 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 457; Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie S. 168, der jedoch eine Überprüfung der Verhältnismäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht ablehnt. 358 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 577; mit Differenzierungen auch Ekardt/ Susnjar, ZG 2007, S. 134 (141 f., 152). 359 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 577. 360 Vgl. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 578; die Analyse teilt Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 151. 361 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 579.
X. Ausgleich von Grundrechtskollisionen
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und umgekehrt. Die Zusammenführung von Unter- und Übermaßverbot solle dabei durch das Instrument einer mehrpoligen Güterabwägung erfolgen, in deren Rahmen die Wechselbezüge zwischen den Rechtspositionen des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses berücksichtigt und zu einem möglichst optimalen Ausgleich gebracht werden müßten.362 Unter- und Übermaßverbot als Wände des Korridors363 würden dadurch nicht mehr unabhängig voneinander und dementsprechend eindimensional betrachtet, sondern der Korridor entstünde dadurch in mehrdimensionaler Weise.364 Zwar spricht Calliess am Ende davon, daß dem Gesetzgeber Gestaltungsspielräume zukämen, weshalb eine Überprüfung von Abwägungen in mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen regelmäßig auf eine Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle zu reduzieren sei.365 Im Sinne der Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm, die Calliess als problematisch, aber erhellend bezeichnet366, sei in erster Linie der Gesetzgeber an die mehrpolige Güterabwägung und damit an die Zusammenführung von Unter- und Übermaßverbot als Handlungsnorm gebunden.367 Die verfassungsgerichtliche Bestimmung der Breite zwischen Unter- und Übermaßverbot sei dagegen eingeschränkt und eine Kontrolle im verbleibenden Korridor zwischen den beiden Maßstäben aufgehoben.368 Entscheidend ist aber, daß es Calliess eben nicht bei dem Korridor zwischen Über- und Untermaßverbot beläßt, sondern der Justitiabilität einer weitergehenden Zusammenführung der beiden Maßstäbe indifferent, zumindest aber nicht frei von Widersprüchen gegenübersteht.369 So ist es vor allem kein stringenter Ansatz, Übermaß- und Untermaßverbot, die unbestritten Kontrollmaßstäbe sind, bei Beibehaltung der Begrifflichkeiten durch eine Zusammenführung auf die nicht justitiable Handlungsebene zu ziehen. In die gleiche Richtung wie Calliess argumentiert V. Tzemos.370 Weder das Unternoch das Übermaßverbotlieferten einen Maßstab für die endgültige Auflösung von Grundrechtskollisionen. Im Rahmen des Untermaßverbotes werde lediglich einseitig überprüft, ob die grundrechtliche Schutzpflicht verfassungsgemäß erfüllt wurde, nicht aber, ob der Staat auch die Abwehrrechte ausreichend respektiert habe. Das herkömmliche Untermaßverbot könne demnach allenfalls noch eine endgültige Antwort 362
Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 580. Calliess geht dabei davon aus, daß das Untermaßverbot zwei Wände aufweist. Das grundrechtliche Untermaßverbot stelle dabei die vorgeschobene Wand dar; sei dies nicht einschlägig komme noch das Untermaßverbot der Staatszielbestimmung aus Art. 20 a GG in Betracht, das jedoch eine geringere Wirkkraft als das grundrechtliche Untermaßverbot aufweise und deshalb die hintere Wand der beiden Untermaßverbote markiere. Vgl. hierzu Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 578, 579. 364 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 580. 365 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 592. 366 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 590, 591. 367 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 591. 368 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 590. 369 Vgl. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 585, 586 und insbesondere S. 590 – 592. 370 Tzemos, Untermaßverbot, S. 170 f. 363
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
auf eine Verfassungsbeschwerde geben, die mangelnden Schutz zum Gegenstand habe, aber schon nicht mehr auf eine abstrakte Normenkontrolle, wenn bei dieser sowohl Schutz- als auch Abwehraspekte eine Rolle spielten.371 Umgekehrt gelte dies ebenso für das Übermaßverbot. Unter- und Übermaßverbot seien insofern nur Teilschritte einer einheitlichen Lösung eines Falles, die durch eine allseitige Verfassungsmäßigkeitsprüfung aller relevanten Grundrechte und Regelungen des Grundgesetzes erfolgen soll. Dabei geht Tzemos in zwei Schritten vor. Zunächst will er die Grenzen von Unter- und Übermaßverbot nicht durch Abwägung, sondern durch bloße Subsumption ermitteln. Diese Subsumption solle im wesentlichen anhand des Wesensgehalts der Grundrechteund der Grundrechtsschranken vorgenommen werden. Die Grundrechtsschranken sollen dabei nach Tzemos auch für den privaten Übergriff gelten372 und die Grundrechte untereinander koordinieren.373 Dafür sei wichtig, ob ein Grundrecht schrankenlos gewährleistet werde, einen einfachen oder einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt habe.374 Erst nach einer derartigen Prüfung von Unter- und Übermaßverbot will er die Grundrechtskollision durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne endgültig auflösen. Tzemos nennt diese Auflösung „Untermaßverbotsprüfung im weiteren Sinne“, die strikt von einer „Untermaßverbotsprüfung im engeren Sinne“ zu trennen sei.375 Letztere stelle die herkömmliche Unter- und Übermaßverbotsprüfung der herrschenden Meinung dar, wobei Tzemos, wie bereits dargestellt wurde,376 das klassische Übermaßverbot durch eine Untermaßverbotsprüfung ersetzen will, indem er prüft, ob der Staat das Verbot, Nichteingriffspflichten untermäßig wahrzunehmen, verletzt hat. Aufgrund der dreifachen Rolle des Untermaßverbotes als klassisches Untermaßverbot, als Übermaßverbot und als Mittel zur Auflösung von Grundrechtskollisionen erhält das Untermaßverbot bei Tzemos eine überragende Bedeutung.
2. Eigene Bewertung Soll eine praktische Konkordanz zwischen Unter- und Übermaßverbot hergestellt werden, kann dies zwangsläufig nur so geschehen, daß sich beide Pole aufeinander 371
Tzemos, Untermaßverbot, S. 173. Tzemos folgt dabei der These von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Entsprechend geht er davon aus, daß Private in den Schutzbereich eines Grundrechtes eingreifen können. Vgl. hierzu Tzemos, Untermaßverbot, S. 174, 188 f. 373 Tzemos, Untermaßverbot, S. 174, 180. 374 Tzemos, Untermaßverbot, S. 174, will dabei unter anderem folgende Vorrangregelungen aufstellen: „Z. B. gilt im Grundgesetz der Schutz der Ehre als besondere Schranke der Meinungsfreiheit, aber nicht des Lebens. Die Ehre genießt grundsätzlich den Vorrang vor der Meinungsäußerungsfreiheit. Das Leben genießt anderseits den Vorrang vor der Ehre, die als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter dem Vorbehalt der Nichtverletzung der Rechte anderer und damit des Lebens steht.“ 375 Tzemos, Untermaßverbot, S. 169, 178, 179. 376 Teil 1, IV.1.; Tzemos, Untermaßverbot S. 165 f. 372
X. Ausgleich von Grundrechtskollisionen
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zubewegen und an einem Idealpunkt zusammenlaufen. Damit wäre aber der Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot aufgehoben. Das ist weder mit dem Gestaltungsspielraum der Politik noch mit einer liberalen Grundausrichtung des Grundgesetzes vereinbar. Die Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen Unter- und Übermaßverbot377 kann deshalb nicht als ein Kontrollmaßstab des Verfassungsgerichts, sondern nur als Konfliktschlichtungsauftrag an den Gesetzgeber angesehen werden.378 Den möglichst schonenden Ausgleich zwischen Unter- und Übermaßverbot herzustellen, ist originäre Aufgabe der Politik und nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts.379 Das Bundesverfassungsgericht ist lediglich Überprüfungsinstanz380 ; Unter- und Übermaßverbot sind Kontrollinstrumente. So muß und darf das Verfassungsgericht selbst keinen Ausgleich für einen Grundrechtskonflikt finden, sondern die durch den Gesetzgeber bereits gefundene Lösung wird lediglich kontrolliert. Es besteht insoweit nur eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, sich als Gesetzgeber um eine schonende Auflösung von Grundrechtskollisionen zu bemühen. Ein bestmöglicher Ausgleich ist damit in der Tat der Kategorie der Handlungsnorm zuzurechnen, die vom Bundesverfassungsgericht nicht überprüfbar ist. Allerdings wirkt der Hinweis auf die nicht-justitiablen Handlungsnormen in der Literatur oftmals bloß nachgeschoben.381 Nach übermäßiger verfassungsrechtlicher Beschleunigung ist die Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm dann für den Gestaltungsspielraum der staatlichen Organe oftmals die letzte Notbremse. Die Beschäftigung mit dem detaillierten Ausgleich von Grundrechtskollisionen und optimalen verfassungsrechtlichen Lösungen steht so in einem auffälligen Miß-
377 Auch die bisher praktizierte Herstellung praktischer Konkordanz im Rahmen des klassischen Übermaßverbotes ging davon aus, daß der Ausgleich zwischen dem Schutzzweck des Gesetzes (und damit Schutzabsichten des Gesetzgebers) und den Abwehrinteressen des Eingriffsbelasteten hergestellt werden muß. Hinter diesem Schutzzweck des Gesetzes steckt aber der freie Wille des Gesetzgebers. Dieser freie Wille darf nicht mit der verfassungsrechtlichen Anordnung eines Untermaßverbotes vertauscht werden. Vor allem gehen die Regelungen eines Gesetzes zum Schutz Dritter in der Regel über den Schutz eines verfassungsrechtlichen Mindestmaßes hinaus und werden sich im Einzelfall sogar in der Nähe des Übermaßverbotes befinden. Dagegen liegt daß Untermaßverbot am anderen Ende des Spielraums. Die Herstellung praktischer Konkordanz wäre also allenfalls in der Form denkbar, daß sie an jedem einzelnen Pol getrennt durchgeführt wird. Gleichwohl sollte m. E. letztlich auf die Lehre von der praktischen Konkordanz sowohl bei der Prüfung des Untermaßverbotes als auch des Übermaßverbotes ganz verzichtet werden, weil sie der bloßen Kontrollperspektive des Verfassungsgerichts nicht ausreichend Rechnung trägt. 378 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 130 ff.; vgl. auch Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 204. 379 Vgl. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 207; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 358, 359; Ossenbühl, DVBl 1995, S. 904 (910); Breuer, in: FS für Redeker, S. 11 (52); Starck, in: Von Mangoldt/Klein/ Strack, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 279; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 311; Scherzberg, DVBl 1999, S. 356 (364). 380 Michael, JuS 2001, S. 148 (151). 381 Vgl. exemplarisch Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 590.
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
verhältnis zu der selbst angenommenen Kontrollierbarkeit dieser Lösung.382 Die Erarbeitung von aufwendigen Abwägungs- und Kollisionsmodellen auf der Handlungsebene ist aber insofern übertrieben und auch im Ergebnis nicht weiterführend, als der Gesetzgeber ohnehin immer der Überzeugung sein wird, er habe alle nicht-justitiablen verfassungsrechtlichen Vorgaben beachtet und unter den gegebenen politischen Konstellationen die optimale Lösung gefunden. Mehr als ein Bemühen um die beste Lösung können Grundrechte als Handlungsnormen aber von der Politik nicht verlangen. Jedoch können diese Modelle zu Mißverständnissen führen, weil letztlich häufig nicht klar wird, welcher Anteil an ihnen verfassungsrechtlich kontrollierbar sein soll. Auch besteht über die Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm noch kein Konsens in der Literatur, was die Gefahr von Mißverständnissen erhöht. Zudem besteht die Gefahr, daß auf der Ebene der Handlungsnorm Vorentscheidungen fallen und Prämissen aufgestellt werden, die mit den späteren Anforderungen der Kontrollebene nur schwer in Einklang zu bringen sind.Dies gilt auch für die Forderung, Unter- und Übermaßverbot müßten durch eine Gesamtabwägung zusammengeführt werden. Denn aus dem gesetzgeberischen Spielraum folgt, daß die beiden Verbote mit ihren jeweiligen spezifischen Anforderungen in ein- und demselben Fall zwingend durch zwei unterschiedliche Abwägungen zu prüfen sind und nicht in einer Gesamtabwägung oder einer Prüfung aufgehen können.383 Die wenig greifbaren und unpräzisen Formeln von einer „Summe von Abwägungen“384 oder einer „mehrpoligen Verfassungsmäßigkeitsprüfung“385 bzw. einem dadurch erst entstehenden „dreidimensionalen Korridor“386 oder einem „Modell mehrerer miteinander verbundener Sterne“387 zwischen Unter- und Übermaßverbot können nicht überspielen, daß es sich hierbei um schlichte Gesamtabwägungen handelt, die ihrerseits als Ergebnis nur auf einen Punkt des idealen Ausgleichs der verschiedenen Interessen hinauslaufen können.388 Hier hilft es dann gerade nicht weiter, diesen Punkt am Ende nur einer geringen Kontrolldichte, wie etwa der Evidenzkontrolle, zu unterziehen. Eine solche Überprüfung müßte dann nämlich den gesamten nichtjustitiablen Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot berücksichtigen. In diesem Fall könnten Unter- und Übermaßverbot aber nicht mehr mit ihrem unterschiedlichen Gewährleistungsgehalt berücksichtigt werden. Zudem wäre eine solche Prüfung viel zu grob und zu pauschal, um den Einzelheiten des Sachverhaltes gerecht zu werden. Da es sich bei einem konkreten Fall entweder um eine Untermaßverbots- oder Übermaßverbotsproblematik handelt, ist eine solche Vorgehensweise weder notwendig noch angemessen. Eine genaue Prüfung erfordert, daß an jedem einzelnen Pol die im Einzelfall schwer 382
Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 577 – 582 und 590. Im Ergebnis auch Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 316. 384 Vgl. Tzemos, Untermaßverbot, S. 177, 178; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 577. 385 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 578. 386 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 580. 387 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 578. 388 Diesbezüglich ebenso kritisch Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 314, 315. 383
X. Ausgleich von Grundrechtskollisionen
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feststellbare Grenze zwischen verfassungswidrigem und verfassungsgemäßem Handeln389 festgestellt wird. Unter- und Übermaßverbot liefern die endgültige Feinsteuerung und damit die Entscheidung eines Falles. Dazu müssen sie mit ihren ganz spezifischen Anforderungen, wozu auch ihr unterschiedlicher Gewährleistungsgehalt gehört, auf den Fall angewandt werden.390 Geht man mit Tzemos und Calliess gleichzeitig davon aus, daß das Über- und Untermaßverbot zunächst tatsächlich isoliert zu prüfende Pole darstellen, und daß erst später die entscheidende Abwägung durchgeführt wird, führt dies zudem zu mehreren, gegebenenfalls auch sich widersprechenden Aussagen über die Verfassungsgemäßheit ein- und derselben staatlichen Handlung.Dies ist der Fall, wenn ein Schutzstandard zunächst zwar nicht gegen das Unter- und Übermaßverbot verstößt, dem endgültigen Ausgleich der Interessen aber nicht standhält. Unter- und Übermaßverbot tragen als justitiable Kontrollmaßstäbe jedoch gerade den Charakter einer endgültigen und nicht vorläufigen Aussage über die Verfassungswidrigkeit einer Handlung.391 Sie stellen per Definition gerade keine bloßen Teilschritte dar. Es diente allem anderen als der verfassungsrechtlichen Klarheit, wenn zwar einerseits festgestellt wird, daß eine Maßnahme mit dem Über- und Untermaßverbot vereinbar ist, gleichzeitig die Prüfung aber für noch nicht beendet erklärt würde. Darüber hinaus wäre eine vorhergehende isolierte Prüfung von Unter- und Übermaßverbot letztlich auch überflüssig, wenn die beiden Kontrollmaßstäbe am Ende doch in einer Gesamtabwägung aufgingen. Die vorgebrachten Meinungen gehen zudem von der Vorstellung aus, daß bei der Prüfung von Unter- und Übermaßverbot die gegenläufigen Schutz- bzw. Abwehrinteressen nicht berücksichtigt würden. Das ist aber nicht der Fall.392 Eine Zusammenführung von Unter- und Übermaßverbot als Mittel der Berücksichtigung der jeweils anderen Interessensseite bedarf es überhaupt nicht. Beim Übermaßverbot finden die kollidierenden Schutzbelange schon deshalb Berücksichtigung, weil ja gerade konkreter Gegenstand der Prüfung ist, ob diese nicht sogar durch den Gesetzgeber „übermäßig“ beachtet wurden. Aber auch beim Untermaßverbot finden die kollidierenden Abwehrrechte neben den anderen Gründen, die für eine gesetzgeberische Zurückhaltung sprechen, ebenfalls Beachtung. Zwar folgt aus der Feststellung, daß das Untermaßverbot verletzt ist, noch nicht direkt, wie das Schutzdefizit zu beheben ist. Jedoch liegen bestimmte Eingriffe in Abwehrpositionen insbesondere bei typischen Drei-
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Darin ist das Unterlassen inbegriffen. Vgl. Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (155), die darauf hinweist, daß die Untermaßverbotsprüfung komplexer als die Prüfung des Übermaßverbotes ist. 391 Anders Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 154 ff. 392 Aus diesem Grunde ist auch die These fehlerhaft, eine abstrakte Normenkontrolle erfordere im Gegensatz zur Verfassungsbeschwerde eine gleichzeitige Prüfung von Unter- und Übermaßverbot, um sowohl die Schutz- als auch Abwehraspekte verfassungsrechtlich zu berücksichtigen. So aber Tzemos, Untermaßverbot, S. 173. 390
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3. Teil: Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes
eckskonstellationen nahe, was das Bundesverfassungsgericht bei seiner Abwägung ebenfalls in Rechnung stellen wird. Gerade mit der Einführung des Untermaßverbotes wird also noch einmal deutlich, daß der Ausgleich von Grundrechtskollisionen Sache des Gesetzgebers ist.393 Darin, daß das Untermaßverbot als Gegenpol zum Übermaßverbot den Spielraum überhaupt erst erkennbar aufgespannt hat, liegt zweifellos ein Verdienst dieser neuen Figur. In diesem Zusammenhang ist der Kritik, daß aufgrund der jahrelangen Fixierung auf das Übermaßverbot die Abwehrinteressen des Eingriffsbelasteten oftmals überbewertet wurden und die Schutzinteressen verfassungsrechtlich zu sehr aus dem Auge gerieten, durchaus Recht zu geben. Auch wenn das Untermaßverbot aufgrund seines geringeren Gewährleistungsgehaltes die Schutzinteressen nur in geringerem Umfang gegenüber dem Gesetzgeber einlösen kann, finden diese doch in der Figur des Untermaßverbotes nunmehr ihre plakative verfassungsrechtliche Präsenz.
393 Diese Bedeutung des Untermaßverbotes unterstreicht auch Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 112.
Vierter Teil
Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot I. Die Doppelfunktion von Prüfungsmaßstäben Nachdem das Untermaßverbot in das dogmatische Umfeld eingeordnet wurde, geht es in dem nun folgenden Kapitel darum, mit welchem Prüfungsmaßstab das Untermaßverbot festgestellt werden soll. Prüfungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts sind (justitiable) Kontrollmaßstäbe, die einen Verfassungsstreit entscheiden. Dabei ist von großer Bedeutung, daß Prüfungsmaßstäbe eine Doppelrolle einnehmen. Sie entscheiden nicht nur über das Schicksal nachzuprüfender Gesetze, sondern zugleich über die funktionelle Zuordnung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber.1 Prüfungsmaßstäbe bestimmen deshalb nicht nur die materiellrechtliche Lösung, sondern auch die Frage, ob der Gesetzgeber korrigiert wird. Jede Justierung des Prüfungsmaßstabes ist deshalb zugleich eine Austarierung der verfassungsgerichtlichen Gewaltenbalance.2 Für die Auswahl der Kontrollmaßstäbe gilt, daß je intensiver die Kontrollgewalt ausgeübt wird, desto eher die Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit besteht, daß die gesetzgeberische Regelung keinen Bestand hat, und umgekehrt.3 Diese Doppelfunktion kommt auch deutlich beim Untermaßverbot zum Ausdruck. Der geringere Gewährleistungsgehalt bedeutet funktionellrechtlich einen größeren Spielraum des Gesetzgebers. Umgekehrt muß die aus dem Untermaßverbot resultierende Notwendigkeit einer größeren Beachtung von gesetzgeberischen Spielräumen zur Folge haben, daß das materiellrechtliche Gewährleistungsniveau sinkt.
1 Dazu ausführlich Simons, Gestaltungsspielraum und Gesetzgeber, S. 127 f.; ebenso Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 85. 2 Simons, Gestaltungsspielraum und Gesetzgeber, S. 379; Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 1 f. Diese Bedeutung von Prüfungsmaßstäben wird in der Literatur häufig nicht mit aller Deutlichkeit erkannt. 3 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 427.
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
II. Problem der Vereinbarkeit von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und geringem Gewährleistungsgehalt Nach den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit steht fest, daß das Untermaßverbot durch Abwägung zu bestimmen ist. Die Schwierigkeit, die zu vielen widersprüchlichen Ansätzen Anlaß gibt4, besteht nun darin, wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit dem geringen Gewährleistungsniveau des Untermaßverbotes in Einklang gebracht werden kann.5 Schließlich kennt man aus dem Bereich des Übermaßverbotes vorwiegend die Angemessenheitsprüfung und verbindet diese mit einer Feinsteuerung und der Vorstellung eines möglichst schonenden Ausgleichs.6 Jedoch markiert das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht zwangsläufig einen engen Lösungsbereich. Es läßt sich auch als gleitende und großzügigere Skala begreifen. Die entscheidende Frage lautet also, wie verhältnismäßig eine Regelung sein muß. Auch hier läßt sich fordern, daß eine Regelung etwa erkennbar oder sogar offensichtlich unverhältnismäßig sein muß, damit die Verhältnismäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht abgelehnt wird.7 Für das Untermaßverbot drängt sich eine solch negative Formulierung der Fragestellung geradezu auf.8 Die entscheidende Frage für das Untermaßverbot ist deshalb, wie sehr das Unterlassen eines intensiveren Schutzes im Einzelfall aus Sicht des Verfassungsgerichts außer Verhältnis stehen muß, damit eine Verletzung des Verbotes angenommen werden kann. Für die Festlegung der einzelnen Prüfungsmaßstäbe wird in der Literatur zumindest für die Abwehrfunktion der Grundrechte einhellig auf die drei Kontrollmaßstäbe verwiesen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Mitbestimmung aus dem Jahre 1976,9 insbesondere im Hinblick auf die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und Prognosen des Gesetzgebers entwickelt hat.10 Danach reicht die verfassungsgerichtliche Kontrolle von einer 4 Exemplarisch Lenz, Vorbehaltslose Freiheitsrechte der einmal auf S. 83 vertretbare Einschätzungen und nachvollziehbare Gefahrenprognosen bei der Überprüfung des Gesetzgebers fordert und auf S. 308 generell der Überprüfung nur eine Evidenzkontrolle zugrunde legen möchte; vgl auch Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt und Kindesabgabe, der auf S. 270 eine Abstufung der Kontrolldichte und auf S. 271 eine immer anzuwendende Evidenzkontrolle fordert. Siehe zu den Ungereimtheiten bei der Prüfung des Untermaßverbotes ausführlich sogleich unter III. 3. 5 Vgl. Dietrich, Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, Einleitung, Rn. 42. 6 Vgl. dazu: Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 650 f. 7 Für eine großzügige Verhältnismäßigkeitskontrolle ebenfalls: Sandmann, Die Haftung von Arbeitnehmern, S. 120; Preu, JZ 1991, S. 265 (268); Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 45; Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 217, 218. 8 So auch für das Übermaßverbot: Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 279. 9 BVerfGE 50, 290 ff. 10 Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 532.
III. Negativabgrenzungen
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- Evidenzkontrolle - über eine Vertretbarkeitskontrolle - bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle. Welches dieser drei Kriterien jeweils Anwendung findet, wie groß also der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers im Einzelfall ist, hängt nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts im besonderen von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab.11 Die entscheidende Frage ist demnach, ob sich diese Kriterien des gleitenden und bereichsspezifischen Maßstabes auch auf das Untermaßverbot übertragen lassen, und ob der konkrete Prüfungsmaßstab in Anlehnung an das Übermaßverbot gestaltet werden kann. Nach Vorabfeststellungen sollen konkrete Prüfprogramme der Literatur für das Untermaßverbot dargestellt und diskutiert werden. Anschließend soll ein eigener Vorschlag zur Prüfung des Untermaßverbotes entwickelt und vorgestellt werden.
III. Negativabgrenzungen 1. Keine Überprüfung begehrter oder denkbarer Schutzmittel In Anlehnung an Borowski12 will Cremer im Rahmen des Untermaßverbotes zumindest ein mögliches Schutzmittel prüfen, das einen intensiveren Schutz gewährleisten würde.13 Die Prüfung einer Schutzpflichtverletzung könne sich nicht mit der Feststellung eines unzureichenden Schutzniveaus begnügen, ohne mindestens eine konkrete Handlungsalternative zu benennen, mit der die Schutzrechtsverletzung beendet werden könnte.14 Die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes setze denklogisch einen bestimmten Prüfungsgegenstand voraus. Die Abwägung von Grund und Gegengrund bedürfe eines konkreten Bezugspunktes. Dieser sei erst hergestellt, wenn die konkrete Gewichtung der Interessen die unterlassenen Maßnahmen mit einschließen würde. Die bloße Feststellung eines unzureichenden Schutzniveaus sei dagegen nicht Ausdruck einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, sondern ein Befund, der nur über die Schutzrechtsseite, nicht aber über die Verschlechterung kollidierender Rechtspositionen, welche zwangsläufig mit einer Verbesserung der Schutzniveaus verbunden wären, Auskunft gebe.15 Das Bundesverfassungsgericht könnte nämlich in diesem Fall eine Schutzrechtsverletzung feststellen, ohne er11
BVerfGE 50, 290 (333). Dazu oben Teil 3, IX. 5. 13 Der entscheidende Unterschied zu der Konzeption von Borowski ist jedoch, daß Cremer ausdrücklich nicht den Gesetzgeber auf das wirksamste Schutzmittel festlegen will. 14 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 276. 15 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 276. 12
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
wogen zu haben, ob nicht vielleicht alle noch nicht getätigten schutzfördernden Maßnahmen so gravierend in Grundrechte Dritter eingriffen oder andere Rechtsgüter beeinträchtigten, daß sie sich trotz des niedrigen Schutzniveaus nicht als schutzrechtlich geboten durchsetzen könnten. Deshalb sei zu fordern, daß das Bundesverfassungsgericht eine Schutzrechtsverletzung nur feststellen dürfe, wenn es eine konkrete noch nicht getroffene Maßnahme als verfassungsrechtlich zulässig ausweise. Diese müsse dabei so präzise beschrieben werden, daß eine Prüfung von Grund und Gegengrund nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes stattfinden könne.16 Allerdings sei der Gesetzgeber nicht verpflichtet, diese Maßnahmen auch umzusetzen. Vielmehr entspräche es dann seiner Gestaltungsfreiheit, eine andere Maßnahme zu wählen, die das verfassungswidrige Schutzdefizit ebenfalls behebe.17
2. Stellungnahme Der Ansicht ist zuzugestehen, daß sie darauf aufmerksam macht, daß obwohl, das Untermaßverbot keine Mittel zur Behebung des Schutzes anordnet, trotzdem in die vorzunehmende Abwägung ebenfalls einbezogen werden muß, wie sich eine Anhebung des Schutzes auf die kollidierenden Interessen auswirken könnte. Aus einer solchen Berücksichtigung folgt jedoch nicht, daß notwendig geprüft werden müßte, ob zumindest eines der Schutzmittel vor dem Übermaßverbot Bestand hat, damit ein Verstoß gegen das Untermaßverbot angenommen werden kann. Das gilt erst recht, wenn wie hier, zwar von einem variablen, gleichwohl aber bloßen Mindestschutz des Untermaßverbotes ausgegangen wird. Denn die Abwägung im Rahmen des Untermaßverbotes schließt es bereits aus, daß es Fälle geben kann, in denen zwar die Schutzinteressen überwiegen, alle denkbaren Mittel zur Beseitigung dieses Defizits dann aber gegen das Übermaßverbot verstoßen können. Die kollidierenden Interessen wären in diesem Fall bereits so wichtig, daß überhaupt kein Verstoß gegen das Untermaßverbot angenommen werden könnte. Das gilt gerade auch dann, wenn man nicht ein erhöhtes Eingriffsniveau in Abwehrrechte als mögliche Folge eines Verstoßes gegen das Untermaßverbot zugrunde legt, sondern lediglich mit dem aktuell bestehenden Eingriffsniveau abwägt. Gelangt man in diesem Fall zu dem Ergebnis, daß die Schutzinteressen die potentiell betroffenen Abwehrrechte überwiegen, muß es auch immer einen Spielraum geben, der mit besseren Schutzmitteln ausgefüllt werden können muß. Diese Schlußfolgerung läßt sich auch wie folgt belegen: Wenn alle denkbaren besseren Schutzmittel gegen das Übermaßverbot verstoßen würden, hieße das, daß der 16 In prozessualer Hinsicht hält es Cremer für nötig, daß der jeweilige Antragsteller, das begehrte Schutzmittel konkret beschreibt, so daß das Bundesverfassungsgericht die Prüfung der alternativen Mittel nicht „aus der Luft“ ziehen müsse. Vgl. Freiheitsgrundrechte, S. 278. 17 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 279: „Das Gericht darf Schutzalternativen ausweisen, darf sich aber auch mit dem Ausweis einer die Schutzrechtsverletzung beendenden Maßnahme begnügen.“
III. Negativabgrenzungen
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jetzige Schutzstandard und die Grenze des Übermaßverbotes auf einer Linie zusammenfallen würden. Das würde aber bedeuten, daß an dieser Stelle bereits die Schutzbelange nicht mehr überwiegen könnten, so daß kein Verstoß mehr gegen das Untermaßverbot angenommen werden könnte.18 Letztlich handelt es sich hier um die gleichen Schlußfolgerungen, die auch schon zu der Ablehnung der These geführt haben, daß Über- und Untermaßverbot kollidieren könnten. Im Hinblick auf eine ganz bestimmte Schutzkonstellation überwiegen nämlich entweder die Abwehr- oder die Schutzbelange. Bei ein- und demselben Schutzstandard kann bei der Prüfung des Untermaßverbotes also kein Überwiegen einer Seite angenommen werden, das nicht auch bei der Prüfung des Übermaßverbotes existierte. Der Benennung eines konkreten Mittels, das nicht gegen das Übermaßverbot verstößt, bedarf es deshalb von Seiten des Verfassungsgerichts nicht. Zwar sind in die Abwägung die möglichen oder wahrscheinlichen Reaktionen des Gesetzgebers auf einen Verstoß gegen das Untermaßverbot miteinzubeziehen. Eine konkrete Prüfung von einzelnen Mitteln zur Behebung des Schutzdefizits ist aber weder erforderlich noch entspricht sie dem Charakter des Untermaßverbotes.19 Die Prüfung solcher Mittel würde allenfalls ihre verfassungsrechtliche Möglichkeit, nicht aber ihre Gebotenheit erweisen.20 Das Untermaßverbot beinhaltet aber nicht die verschiedenen Möglichkeiten zur Erfüllung der Schutzpflicht, sondern markiert lediglich die Grenze ihrer Verletzung.21
3. Keine Aufspaltung von Prüfungsmaßstab und Kontrolldichte Daß das Untermaßverbot ein justitiabler Kontrollmaßstab ist, beinhaltet zwei wichtige Konsequenzen. Zum einen folgt daraus, daß das Untermaßverbot bereits endgültig und nicht vorläufig die justitiable Verletzungsgrenze von Schutzpflichten bestimmt, weshalb auch alle relevanten Faktoren in nur einem einzigen Prüfungsgang berücksichtigt werden müssen. Zum anderen folgt aus der Justitiabilität des Untermaßverbotes, daß die Kontrolldichte, die das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung zugrunde legt, den Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes bestimmt. Um zu sinnvollen Ergebnissen zu gelangen, muß deshalb die Kontrolldichte dem anzulegenden Prüfungsmaßstab entsprechen. Vereinfacht läßt sich formulieren, daß die angewendete Kontrolldichte der Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes ist.22
Die Schutzbelange würde also schon nicht mehr überwiegen, obwohl noch gar kein stärkerer Eingriff in die kollidierenden Abwehrrechte berücksichtigt wurde. 19 Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 105. 20 Michael, JuS 2001, S. 148 (151). 21 Michael, JuS 2001, S. 148 (151). 22 Anders Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (211); Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1039). 18
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
Aus diesem Grunde gehen Ansichten,23 die bei der Ermittlung der justitiablen Reichweite von Schutzpflichten zwischen Prüfungsmaßstab und Prüfungsdichte unterscheiden wollen, von vornherein fehl. So wird etwa von diesen Stimmen zunächst das Erfordernis eines angemessenen Schutzes anstelle der Evidenzformel als Prüfungsmaßstab verwendet; im Rahmen der vermeintlich davon verschiedenen Kontrolldichte wird dann aber eine strikte Begrenzung auf eine Evidenzkontrolle für erforderlich gehalten.24 Solchen Vorschlägen liegt die Konzeption zugrunde, daß die anhand des Prüfungsmaßstabes gefundenen Ergebnisse in einem zweiten Schritt unter dem Gesichtspunkt der Justitiabilität noch einmal beurteilt werden müßten. Die Vorgehensweise führt jedoch zu widersprüchlichen Ergebnissen, weil die jeweilig zugrunde gelegte Kontrolldichte, in diesem Fall die Evidenzkontrolle, nichts anderes als ebenfalls einen Prüfungsmaßstab darstellt, so daß es sich dann um zwei nicht sinnvoll aufeinander bezogene, unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe handelt.25 Als Ergebnis würde die Evidenzkontrolle den vorhergehenden Angemessenheitsmaßstab überflüssig machen. Es ist deshalb erforderlich, einen in sich stimmigen Prüfungsmaßstab zu entwickeln, der bereits alle Aspekte einer bestimmten Kontrolldichte beinhaltet.
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes 1. Strukturierung nach dreischrittiger Übermaßverbotsprüfung? Ein beachtlicher Teil der Literatur will das Untermaßverbot in Anlehnung an das Übermaßverbot ebenfalls dreischrittig prüfen.26 Als leistungsrechtliches Gegenstück müsse sich das Untermaßverbot am Übermaßverbot orientieren.27 Dabei sei zu berücksichtigen, daß Unter- und Übermaßverbot parallele, inhaltlich jedoch gegenläufige und gleichsam spiegelbildliche Strukturen aufwiesen.28 Im Gegensatz zu dem Übermaßverbot frage das Untermaßverbot nicht, ob die ergriffenen Mittel durch den Zweck gerechtfertigt würden, sondern ob die eingesetzten Mittel dem Zweck genügten.29 Aufgabe sei es, für das Untermaßverbot komplementäre Kategorien zu den
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Brüning/Helios, Jura 2001, S. 155 (162). Vgl. Brüning/Helios, Jura 2001, S. 155 (162). 25 Calliess/Kallmayer, JuS 1999, S. 785 (791). 26 Vgl. Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 266 f.; Brüning, JuS 2000, S. 955 (957); Sodan, NVwZ 2000, S. 601 (605); Michael, JuS 2001, S. 148 (151); Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1038, 1039); Ders. Öffentliche Sicherheit und Ordnung S. 107, 108. 27 Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 266. 28 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 107. 29 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 102. 24
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes
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Teilschritten der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu finden.30 Allerdings bestehen zwei grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte im Hinblick darauf, ob die Untermaßverbotsprüfung auf den Störer oder den Schutzsuchenden auszurichten ist. Ist die Zielrichtung des staatlichen Unterlassens und damit Zielrichtung der Prüfung des Untermaßverbotes die Sicherung der Freiheit des Störers31, oder steht ein Mehr an Schutz für den Schutzsuchenden im Zentrum der Prüfung? Auf diese Frage wird bei den einzelnen Teilschritten näher einzugehen sein.
a) Verfassungslegitimer Zweck Überwiegend wird im Rahmen der Untermaßverbotsprüfung zunächst nach einem verfassungslegitimen Zweck gefragt.32 Einen Anspruch auf Absicherung eines der Verfassung widersprechenden Handelns des Schutzsuchenden33 oder ein verfassungswidriges Schutzziel34 scheiden richtigerweise von vornherein aus. Uneinigkeit besteht aber, wie eingangs erwähnt, darüber, ob der Zweck des staatlichen Verhaltens an das bisher bereits aktiv verwirklichte Schutzniveau oder an das Unterlassen eines intensiveren Schutzes anzuknüpfen ist.35 Um Licht in diese Fragestellungen zu bekommen, ist zu differenzieren: Soweit der Staat bisher gesetzliche Regelungen bzw. Maßnahmen aktiv ergriffen hat, bezwecken diese Handlungen den Schutz potentieller Opfer.Demgegenüber läßt sich nicht eindeutig feststellen, was der Gesetzgeber mit dem Unterlassen besserer Schutzmaßnahmen bezweckt. Der Grund dafür kann insbesondere darin liegen, nicht intensiver in Rechte Dritter eingreifen zu wollen. Des weiteren kann der Zweck aber auch darin bestehen, öffentliche Interessen zu wahren, zum Beispiel den Staatshaushalt oder andere öffentliche Ressourcen zu schonen.36 Nicht ausgeschlossen ist ebenfalls, daß der Staat überhaupt keinen spezifischen Zweck verfolgt, etwa weil er sich eines Schutzdefizites in dem fraglichen Bereich überhaupt nicht bewußt ist.37 Demnach kann das zu prüfende staat30
Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 266. Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 254; Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 98 – 100. 32 Tzemos, Untermaßverbot, S. 98. 33 Vgl. Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (239, 240). Merten nennt hier als Beispiel, daß das Untermaßverbot nicht die Sicherung unfriedlicher Demonstrationen gegenüber Übergriffen Dritter verlange. 34 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 253. 35 Hierin liegt ein Unterschied zur Prüfung des Übermaßverbotes, bei dem der jeweilige Eingriffszweck eindeutig auszumachen ist. 36 Vgl. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 171. 37 Vgl. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348; Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 99. Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 283, geht davon aus, daß ein Nicht-Nachdenken des Gesetzgebers über mögliche Schutzdefizite sogar der Regelfall ist. 31
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
liche Verhalten im Rahmen des Untermaßverbotes mehrere Zwecke umfassen. Dieses Problem wirkt sich auch im Rahmen der Prüfung der Geeignetheit aus.
b) Geeignetheit aa) Ausrichtung der Prüfung auf Schutz- oder Freiheitsverwirklichung? Die herrschende Meinung prüft hier allerdings die bisher ergriffenen Schutzmaßnahmen und fragt, ob diese geeignet sind, die Schutzinteressen zumindest zu fördern.38 Um den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu wahren, werden an dieses Kriterium keine allzu hohen Anforderungen gestellt.39 So wird ganz überwiegend eine abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung für ausreichend gehalten40 oder lediglich geprüft, ob das Mittel gänzlich ungeeignet ist41 Schutz zu gewährleisten, oder ob die Maßnahme das Potential hat, den Schutz für das in Rede stehende Rechtsgut zu verbessern.42 Die Gegenauffassung knüpft hinsichtlich des Zwecks des staatlichen Verhaltens an das Unterlassen an und fragt, ob dieses geeignet ist, der Freiheitsverwirklichung des Störers zu dienen43 bzw. die dem Schutz entgegenstehenden Positionen (öffentliche Interessen) zu verwirklichen.44 Sei dies der Fall, könne dem Staat nicht vorgeworfen werden, er verfehle mit seinem Verhalten den Zweck. Eine vermittelnde Ansicht berücksichtigt hingegen, daß im Rahmen der Problematik mangelnden Schutzes mehrere Zwecke des staatlichen Verhaltens in Betracht kommen und prüft deshalb, ob 38 Sodan, NVwZ 2000, S. 601 (605); Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (240); Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 280; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat. S. 460; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 109; Ders., DÖV 1998, S. 1029 (1038); Haltern/Viellechner, JuS 2002, S. 1197 (1202). 39 Nach Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 104 ff., 184 f., darf das BVerfG zukünftige Tatsachen sogar nur berücksichtigen, soweit sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorhersehbar sind. 40 Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 ( 240); Tzemos, Untermaßverbot, S. 103. 41 Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 280; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 109; Haltern/Viellechner, JuS 2002, S. 1197 (1202); Brüning, JuS 2000, S. 955 (958), spricht von evidenter Ungeeignetheit. Eine strengere Prüfung nimmt Calliess vor, indem er fordert, daß das Schutzkonzept geeignet sein müsse, das Rechtsgut wirksam zu schützen. Vgl. Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460. Auch Clrico, in Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte. S. 160, regt an, zu prüfen, ob das Mittel konkret, vollständig und stets das Grundrecht fördert. 42 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 306. 43 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 100; Ders., ZG 2005 S. 262 (274). 44 Hermes, Das Grundrecht von Schutz auf Leben und Gesundheit, S. 254. Dabei ist Hermes der Auffassung, daß sich die öffentlichen Interessen letztlich auf Individualinteressen zurückführen ließen. Vgl. a.a.O, S. 253.
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes
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das vom Staat gewählte Mittel weder dem Schutzzweck noch anderen Zwecken förderlich ist.45 bb) Bewertung Für eine Ausrichtung der Prüfung auf die Eignung der bisher verwirklichten Schutzmittel spricht, daß es bei der Untermaßverbotsprüfung gerade darum geht, ob der bisherige Schutzstandard ausreichend ist. Gleichwohl ist diese Auffassung gleich mehreren grundsätzlichen Bedenken ausgesetzt. Noch am wenigstens schwer wiegt die Kritik, daß im Falle eines vollkommenen Unterlassens von Schutzmaßnahmen der zu prüfende Zweck abhanden komme, da ein völliges Nichtstun keinen Schutz bezwecken könne.46 Dieses Problem ließe sich dadurch lösen, daß auch die Zwecke des Nichthandelns einbezogen werden47 bzw. gegebenenfalls danach gefragt wird, wem das staatliche Unterlassen objektiv dient.48 Eine Ausrichtung des Geeignetheitskriteriums auf das aktive staatliche Schutzhandeln läuft vielmehr aus einem anderen Grunde leer: Um einen Sinn zu ergeben, müßte eine Verletzung des Untermaßverbotes bereits feststehen.Stellt sich nämlich heraus, daß die bisher ergriffenen Schutzmittel ungeeignet sind, einen bestimmten Schutz zu erreichen, müßte das nach der überwiegenden Ansicht zu einem Verstoß gegen das Untermaßverbot führen, obwohl das gewährte Schutzniveau an sich nicht gegen das Untermaßverbot verstoßen muß. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, daß in demselben Fall auch ein Unterlassen der ungeeigneten gesetzgeberischen Maßnahmen gerechtfertigt gewesen wäre, etwa weil in Abwägung mit den kollidierenden Interessen überhaupt kein intensiverer Schutz veranlaßt werden muß. Genau genommen prüft das Geeignetheitskriterium im Rahmen der Untermaßproblematik deshalb nur, ob ein Gesetz überhaupt wirkt, und trifft keine Aussage darüber, ob das durch ungeeignete Mittel zustande gekommene Schutzniveau verfassungswidrig ist. Erst wenn feststeht, daß das verfassungsrechtlich gebotene Schutzniveau unterschritten ist, stellt sich das Erfordernis, den Schutz durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen.49 Damit bleibt aber die Frage der Geeignetheit der Mittel auch in Schutzrechtsfällen ausschließlich ein Kriterium des Übermaßverbotes, da ein zum Schutz ungeeignetes Mittel einen verfassungswidrigen staatlichen Eingriff in die Grundrechte des belasteten Störers darstellt. Zugegebenermaßen kann es zusätzlich so sein, daß in Fällen ungeeigneter Schutzmaßnahmen auch die Untermaßverbotsschwelle unterschritten wird. Zwingend ist dieser Schluß jedoch keineswegs. 45
Michael, JuS 2001, S. 148 (151). Vgl. Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 99; Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348; Schlink, FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 445 (463); Lee, in: FS für Starck, S. 297 (311). 47 Michael, JuS 2001, S. 148 (151). 48 Damit läßt sich der Kritik begegnen, daß auch ein staatliches Unterlassen nicht unbedingt einen Zweck verfolgen muß. Zu dieser Kritik: Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 150. 49 Im Ergebnis ähnlich: Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 519 f. 46
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
Damit spielt die Betrachtung der Geeignetheit bisher ergriffener Schutzmaßnahmen im Rahmen des Untermaßverbots keine Rolle. Fraglich bleibt, wie ein Anknüpfen des Zwecks des staatlichen Verhaltens an das bisherige Unterlassen intensiverer Maßnahmen zu beurteilen ist. Für eine solche Anknüpfung spricht, daß gerade das Unterlassen des Staates angegriffen wird. Jedoch bleibt auch diese Prüfung bei näherer Betrachtung ohne Relevanz. Denn zumindest die Frage, ob ein Unterlassen des Staates der Verwirklichung und Förderung gegenläufiger Freiheitsrechte des Störers dient, kann immer bejaht werden. Staatliche Passivität ist nämlich immer geeignet, entgegenstehende Aktivität zu fördern.50 Somit ist – unabhängig von spezielleren Grundrechten – die staatliche Inaktivität zumindest immer geeignet, die sehr weitreichende allgemeine Handlungsfreiheit51 des Störers aus Art. 2 I GG zu fördern. In Dreiecksverhältnissen (Staat, Störer, Schutzsuchender) kann demzufolge dahinstehen, ob das Unterlassen im Einzelfall zusätzlich noch öffentlichen Interessen gedient hätte, was im übrigen oftmals der Fall sein dürfte. Demnach kommt es auf die Eignung zur Förderung öffentlicher Interessen nur noch entscheidend an, wenn die Gefährdung des Einzelnen nicht von Privaten, sondern zum Beispiel von Naturkatastrophen ausgeht. Da hier der Staat die Bedrohung nicht gesetzlich unterbinden, die Schutzerfordernisse also nicht dem Störer auflasten kann, ist der Staat mit seinen eigenen Ressourcen und Mitteln gefordert, den Schutz zu bewerkstelligen. Ein diesbezügliches Unterlassen ist aber dann zumindest kurzfristig geeignet, die eigenen Mittel, wie etwa den Staatshaushalt, zu schonen, mag dies auch auf lange Sicht nicht den Interessen der Allgemeinheit dienen. So dient etwa ein mangelnder Schutz gegen Überschwemmungen aufgrund unterlassener Verbesserung von Deichen langfristig nicht den Interessen der Allgemeinheit, fördert jedoch kurzfristig öffentliche Finanzinteressen.52 Zwar kann das Unterlassen eines verstärkten Deichbaus im Ergebnis noch gegen das Untermaßverbot verstoßen. Dies ist dann aber auf die Abwägung der kollidierenden Belange zurückzuführen und ergibt sich nicht aus dem Geeignetheitskriterium. Hinzu kommt, daß selbst in dem kaum denkbaren Fall, daß ein Unterlassen des Staates weder geeignet ist, der Freiheitsverwirklichung des Störers, noch öffentlichen Interessen zu dienen, die bisher ergriffenen Schutzmaßnahmen mit der vermittelnden Ansicht immer noch geeignet sein können, dem Schutz des Schutzsuchenden zu dienen.53 Nach alldem ergibt weder eine Prüfung der Eignung bisher verwirklichter Schutzhandlungen noch des staatlichen Unterlassens einen hinreichenden Sinn. Aus diesem 50
Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 100. Vgl. Starck, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar I, Art. 2, Rn. 11 f. 52 Zur Relevanz von Finanzinteressen bei Schutzrechten: Alexy, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 105 (115); Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 323. 53 Ebenso Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 171: „In aller Regel wird die Unterlassung von Schutzmaßnahmen geeignet sein, wenigstens einen der vielfältigen Zwecke zu fördern.“ 51
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes
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Grunde ist von einem Geeignetheitskriterium als Bestandteil der Untermaßverbotsprüfung abzusehen.54 c) Effektivität statt Erforderlichkeit Auch im Rahmen der Erforderlichkeit tauchen die beiden unterschiedlichen Ansatzpunkte wieder auf, ob die Prüfung des Untermaßverbotes auf den Schutz des Schutzsuchenden oder die Freiheitsbetätigung durch den Störer auszurichten ist. Die herrschende Meinung knüpft wiederum an dem verwirklichten Schutzkonzept an und fragt, ob es Schutzmittel gibt, die wirksameren Schutz gewährleisten, ohne gleichzeitig stärker in Rechte Dritter einzugreifen oder öffentliche Interessen zu beeinträchtigen.55 Geprüft wird demnach nicht wie beim Übermaßverbot, ob die bisherigen Schutzmittel erforderlich, sondern ob sie effizient sind.56 Die Gegenmeinung fragt, ob das Unterlassen erforderlich ist, um die entgegenstehende Freiheitsausübung des Störers oder um andere entgegenstehende Positionen zur Geltung zu bringen. Es seien Alternativen zu suchen, welche die entgegenstehenden Interessen wahren, gleichzeitig Schutzinteressen jedoch gar nicht oder weniger stark beeinträchtigen.57 Die beiden Ansichten kommen jedoch zum gleichen Ergebnis, da sie denselben Prüfungsgegenstand nur aus unterschiedlichen Blickrichtungen betrachten. So ist ein Mehr an Schutz nichts anderes als ein Weniger an Beeinträchtigung der Schutzinteressen. Beide Ansichten gehen zudem davon aus, daß im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung des Untermaßverbotes nicht ein intensiverer Eingriff in Abwehrrechte Dritter verlangt werden kann. Es geht daher bei beiden Meinungen um einen besseren, aber ebenso milden Schutz. d) Kritik an einer Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen staatlichen Unterlassens Gegen die Prüfung der Erforderlichkeit im Rahmen des Untermaßverbotes werden verschiedene Kritikpunkte vorgebracht. Zunächst einmal wird an der in der Sache nach von beiden Ansätzen vorgenommenen Effizienzprüfung kritisiert, daß Effektivität zwar wünschenswert, aber verfassungsrechtlich nicht gefordert sei.58 Verlangt
54 Vgl. Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 100; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 171. 55 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 109; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat. S. 460; Michael, JuS 2001, S. 148 (151); Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (163 f.); Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 270. 56 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 109, 110. 57 Hermes, Das Recht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 254; Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 100. 58 Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348.
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
werden könne lediglich ein wirksamer Schutz, der aber nicht der effektivste sein müsse. Über die effektivsten Mittel zu befinden, sei Sache des Gesetzgebers.59 Zu diesem Kritikpunkt ist anzumerken, daß zwar die Feststellung, daß es effektivere Mittel gibt, eine Begrenzung des gesetzgeberischen Spielraums bedeuten kann, weil sich die Auswahl des Gesetzgebers dann auf diese aufgezeigten effektiven Mittel begrenzt.In diesem Punkt besteht allerdings kein Unterschied zum Übermaßverbot, da sich hier die Auswahl des Gesetzgebers ebenso auf die milderen Alternativmittel verengen kann.60 Mit dem Argument einer singulären Einengung des Gestaltungsspielraums beim Untermaßverbot kann eine Effizienzprüfung daher nicht abgelehnt werden. Ausschließlich gegen die Ansicht, die nach der Erforderlichkeit eines staatlichen Unterlassens fragt, wird geltend gemacht, daß die Prüfung, welche Beeinträchtigungen für die Freiheitsverwirklichung des Störers geeignet und notwendig seien, nicht das unabdingbare Maß des Schutzes, sondern das der Freiheit definiere.61 Eine solche Festlegung widerspreche aber dem Verständnis des Grundgesetzes, wonach die Freiheit umfassend und voraussetzungslos garantiert werde.
e) Stellungnahme Unabhängig von der rechtsphilosophischen Beurteilung ist die Kritik der letztgenannten Ansicht schon insofern nicht überzeugend, als dem Erforderlichkeitskriterium überhaupt keine Aussage über ein unabdingbares Niveau zu entnehmen ist. Das endgültig „erforderliche“ Maß an Schutz bzw. an Freiheit wird beim Unter- wie beim Übermaßverbot erst durch die Abwägung und nicht durch das Erforderlichkeitskriterium bestimmt.62 Genauso wenig, wie die Erforderlichkeitsprüfung beim Übermaßverbot bedeutet, daß verfassungsrechtlich kein geringerer Eingriff in Abwehrrechte vorgenommen werden dürfte, bedeutet das Erforderlichkeitskriterium des Untermaßverbotes, daß kein intensiverer Eingriff in die Abwehrrechte vorgenommen werden dürfte.63 Da also ein stärkerer Eingriff in die Freiheitsgrundrechte von der Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen des Untermaßverbotes nicht ausgeschlossen wird, kann das Kriterium nicht das unabdingbare Maß an Freiheitsverwirklichung des Störers 59
Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 348. Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 110. Möstl argumentiert, daß dieser Prüfungsstufe sowohl beim Unter- als auch beim Übermaßverbot der Gedanke der Ressourcenschonung zugrunde liegt. Kritisch dagegen Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, S. 517, der hier einen Unterschied zwischen Unter- und Übermaßverbot annehmen will. 61 Brüning, JuS 2000, S. 955 (958). 62 Deshalb ist es äußerst mißverständlich, wenn Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (240, 241) im Rahmen des Erforderlichkeitskriteriums von einem „hinlänglichen“ Schutz spricht, der auf einer Schutzskala „schon ausreichend“ sein müsse. Diese Frage kann erst nach der Abwägung beantwortet werden. Wie hier: Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 110. 63 Siehe zur Ablehnung der Kongruenzthese bereits oben unter Teil 3, I. 3. 60
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes
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bestimmen. Es geht bei der Erforderlichkeit von Unter- und Übermaßverbot immer nur um die alternativen Schutzmittel (beim Untermaßverbot um effektivere, beim Übermaßverbot um mildere Mittel), die die entgegenstehenden Interessen nicht schlechter verwirklichen.64 Entgegen kritischer Stimmen erfolgt im Rahmen der Erforderlichkeit also nicht per se eine Optimierung des Schutzes, sondern immer nur im Rahmen einer nicht stärkeren Beeinträchtigung der kollidierenden Interessen.65 Aus demselben Grunde muß bei dem Erforderlichkeitskriterium des Untermaßverbots eben nicht, wie Schlink meint, eigentlich nach einem härteren Mittel gefragt werden.66 Soweit Schlink überdies argumentiert, daß gegen diese Prüfungsstufe überhaupt spreche, daß es bei einem vollständig Unterlassen des Staates an einem Vergleichmaßstab fehle, da durch ein vollständiges staatliches Unterlassen eben niemand betroffen werde,67 ist dem entgegenzuhalten, daß in diesem Fall dann eben zu prüfen ist, ob es bessere Mittel gibt, die Dritte ebenso überhaupt nicht beeinträchtigen.68 Das eigentliche Problem einer Effektivitätsprüfung des Untermaßverbotes liegt indessen woanders. Da staatliche Inaktivität mehrere Zwecke umfassen kann, sind auch mehrere kollidierende Güter zu berücksichtigen. Das Schutzverlangen kollidiert nicht nur mit Grundrechten Dritter, sondern auch mit der gesamten Breite der öffentlichen Interessen.69 Insofern erscheint es aber nur in seltenen Ausnahmefällen so zu liegen, daß durch ein effizienteres Vorgehen weder kollidierende Abwehrrechte noch öffentliche Interessen nicht stärker beeinträchtigt werden.70 So ist es zum Beispiel im Einzelfall gut möglich, daß es zwar effektivere Mittel bei gleicher Eingriffsintensität in Grundrechte Dritter gibt, diese jedoch zum Beispiel nur mit höheren Haushaltsmitteln oder einer anderen Verteilung vorhandener Ressourcen zu erreichen wären. Mit anderen Worten werden mögliche alternative Mittel in der Regel daran scheitern, daß sie kollidierende Positionen intensiver beeinträchtigen.Einer Prüfung der Effizienz fehlt es deshalb im Ergebnis selbst an hinreichender Effizienz. Es ist deshalb überzeugender, auf diese Prüfungsstufe beim Untermaßverbot ebenfalls zu verzichten.
64
Vgl. Grabitz, AöR, 98 (1973), S. 568 (573 f.); Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 117. 65 Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 110; Michael, JuS 2001, S. 148 (151). 66 Schlink, FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 445 (462, 463). 67 Schlink, FS 50 Jahre BVerfG, Band II, S. 445 (462, 463); ebenso Lee, in: FS für Starck, S. 297 (312). 68 Vgl. Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 101; Ders., ZG 2005, S. 262 (275). 69 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 249 f. 70 Ebenso Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 101; Michael, JuS 2001, S. 148 (151); Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 171; Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (166), die jedoch zu Bedenken gibt, daß so die gegenläufigen, stärker beeinträchtigten Interessen ein Veto gegen einen wirksameren Schutz bekämen.
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
f) Zwischenergebnis Damit steht fest, daß das Untermaßverbot nicht wie das Übermaßverbot dreischrittig gegliedert werden kann. Zur Bestimmung des Mindeststandards kommt es deshalb allein auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, also auf die eigentliche Abwägung an.71
2. Isolierte Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne a) Ablehnung einer bereichsspezifischen Prüfung Ein Großteil der Literatur72 plädiert dafür, die Frage des konkreten Prüfungsmaßstabes auch in der Schutzpflichtendimension jeweils von den Besonderheiten des Einzelfalles abhängig zu machen.73 Die Anforderungen könnten nicht pauschal, sondern nur bereichsspezifisch bestimmt werden.74 Nach dieser Ansicht müssen die Abwägungen umso präziser vorgenommen werden, je schwerwiegender sich die drohenden oder tatsächlichen Beeinträchtigungen darstellen.75 In Fällen der unmittelbaren Lebensbedrohung seien beispielsweise andere Anforderungen an die Schutzpflicht zu stellen als bei der Bedrohung der Meinungsfreiheit im Arbeitsverhältnis. Bei der Bestimmung des Maßstabes komme es vor allem auf die Qualität und Schwere der betroffenen Verfassungsnorm an.76 Die Kontrollmaßstäbe richteten sich nach dem materiellen Gewicht und seien daher gleitend. In diesem Zusammenhang wird ganz überwiegend auch im Hinblick auf das Untermaßverbot auf die Formel des Bundesverfassungsgerichts Bezug genommen, wonach der Umfang der Kontrolldichte im besonderen Maße von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter sowie von der Möglichkeit des Gerichts, sich ein hinreichendes sicheres Urteil zu bilden, abhängt.77 Einige Vertreter dieser Ansicht wollen allerdings aufgrund des erweiterten Gestaltungsspielraums Nach Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 110, handelt es sich bei der Abwägung um das unsicherste und am wenigsten Dichte Feld des Untermaßverbots. 72 H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495); Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 104, 107; Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidung, S. 92; Sommermann, Staatsziele, S. 441; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 353; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 537; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 426; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (242); Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 186 f.; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 461. 73 Eine ausführliche und kritische Würdigung dieser Vorgehensweise findet sich bei Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 248 ff. 74 Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (228); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 257. Diese Aufassung nimmt neuerdings auch das Bundessozialgericht ein. Vgl. BSG vom 22. 04. 2008, Az: B 1 KR 10707 R, Juris, Rn. 45. 75 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 107. 76 Vgl. Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (541); H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495). 77 BVerfGE 50, 290 (332 f.); vgl. auch BVerfGE 57, 139 (159); 62, 1 (50); 76, 1 (51). 71
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes
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des Gesetzgebers in der objektiv-rechtlichen Dimension die Prüfung von vorneherein auf eine Evidenz- bzw. Vertretbarkeitskontrolle begrenzen.78 Nach dem verbleibenden Teil der Ansicht kann die gerichtliche Kontrolle dagegen einzelfallabhängig von einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle bis zur Evidenzkontrolle reichen.79 Widersprüchlicherweise wird aber oftmals von den Vertretern dieser Auffassung trotzdem gleichzeitig eine bestimmte Prüfungsformel für das Untermaßverbot verwendet, indem etwa davon die Rede ist, daß das Schutzdefizit nicht unangemessen sein dürfte,oder daß die Schutzinteressen die Interessen des Störers deutlich bzw. spürbar überwiegen müßten.80 Wie gerade gesehen, handelt es sich bei solchen Beschreibungen aber ebenfalls um einen Maßstab, wie das Untermaßverbot zu prüfen ist. Die verwendeten Wörter, werden – wie sonst auch in der juristischen Methodik – nach ihrem Sinngehalt ausgelegt. Damit erfolgt aber bereits die Festlegung eines bestimmten Prüfprogramms. Diese Festelegung muß dann aber wiederum nicht zu der bereichsspezifischen Kontrolldichte passen, die ja gerade variabel festegelegt werden soll. So passen etwa eine Angemessenheitskontrolle und eine Evidenzkontrolle nicht zusammen.81 Ebenso würde die Feststellung, daß das Untermaßverbot nur bei einem deutlichen Überwiegen, Unzumutbarkeit oder einem schwerwiegenden Unterlassen anzunehmen ist, durch eine intensivierte inhaltliche Kontrolle konterkariert, weil davon eben nicht nur beträchtliche Schutzdefizite erfaßt würden. Wer fordert, daß die Interessen des Gestörten die des Störers deutlich überwiegen müssen, arretiert den Prüfungsmaßstab und kann nicht mehr dazu kommen, je nach Gefahr eine präzisere Prüfung vorzunehmen.82 Hier taucht also wieder die Problematik von zwei nicht zueinander passenden Prüfungsmaßstäben auf. Würde man die Forderungen nach einem einzelfallabhängigen Prüfungsmaßstab konsequent ernst nehmen, hieße das, letztlich ganz auf einen handhabbaren Prüfungsmaßstab für das Untermaßverbot zu verzichten. Da sich das Untermaßverbot nicht vergleichbar gut vorstrukturieren läßt wie das Übermaßverbot, ist es jedoch auf einen griffigen Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zwingend angewiesen. Als neue Figur des Verfassungsrechts wird es dauerhaft nur erfolgreich sein und zur Rechtssicherheit beitragen, wenn es auf eine einprägsame und unkomplizierte Kurzform gebracht werden kann. Das ist auch machbar. Die beiden Grunddeterminanten eines ausreichenden Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers und der liberalen Grundausrichtung der Grundrechte schließen eine zu enge Prüfungsdichte bereits von vornherein aus83 und bilden ein stabiles Gerüst, um einen pas78
Vgl. Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (557). Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 104; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 257. 80 Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum S. 104. 81 Ebenfalls Calliess/Kallmayer, JuS 1999, S. 785 (791). A.A. Elbel, Rechtliche Bewertung anonymer Geburt und Kindesabgabe. 82 So aber Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum S. 106, 107. 83 Vgl. auch Urban, Der Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 55; Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (557). 79
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senden und griffigen Maßstab für die meisten Fallkonstellationen zu entwickeln. Diese Einschätzung wird auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, das zwar im Regelfall einen bereichsspezifischen Prüfungsmaßstab anlegt, jedoch gerade nicht im Bereich der Schutzpflichten. Entgegen anderslautender Erwartungen84 und Einschätzungen85 in der Literatur hat sich das Bundesverfassungsgericht bei den Schutzpflichten bis auf Ausnahmefälle86 auf eine Evidenzkontrolle festgelegt.87 Aus den genannten Gründen ist eine jeweilige bereichsspezifische Bildung eines Kontrollmaßstabes für das Untermaßverbot abzulehnen. Im Rahmen der Entwicklung eines eigenen Prüfungsmaßstabes wird auf die Alternative zu einer variablen Prüfung zurückzukommen sein. Zunächst sind jedoch noch die weiteren Prüfungsvorschläge der Literatur auf der Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu beurteilen. Dabei soll zwischen Abwägungsformeln, die eine engere Prüfung beinhalten, und solchen, die einen weiten Spielraum vorsehen, unterschieden werden.
b) Abwägungsformeln, die eine engere Prüfung vorsehen aa) Bestmöglicher Schutz Neben M. Borowski fordert auch Enders einen bestmöglichen Schutz durch das Untermaßverbot.88 Das Grundrechtsschutzgut müsse auch im Verhältnis zu gegenläufigen Interessen von Verfassungsrang weitestgehend gefördert werden. Bei der Abwägung müsse gefragt werden, ob das gegenläufige Interesse hinreichend gewichtig ist, um deswegen, gemessen an der Intensität der Beeinträchtigung und der Bedeutung des beeinträchtigten Grundrechtsschutzgutes, dessen Schutz zurückzustellen.89 Die Ablehnung eines weitestgehenden Schutzes wurde bereits ausführlich besprochen. Die Auffassung ist aber ein gutes Beispiel dafür, welche Sprengkraft das Untermaßverbot bei entsprechender Ausstattung nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die betroffenen Abwehrrechte entwickeln kann. Besonders deutlich wird dieses in der Umkehrung der Frage, die nicht mehr fragt, ob der Schutz hinreichend 84 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 353; Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 229. 85 H.H. Klein, DVBl 1994, S. 489 (495); Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 187. 86 Diese Ausnahmefälle liegen für das Verfassungsgericht vor allem im Bereich einer Bedrohung des menschlichen Lebens. Vgl. BVerfGE 49, 89 (142); 39, 1 (43); 56, 54 (81); 88, 203 (254). 87 Zu kritisch daher die Analyse von Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 37, 47 – 49; wie hier: Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (244); Kämmerer, JZ 1996, S. 1042, (1049, 1050); Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, S. 305, 399; Möstl, DÖV 1998, S. 1029 (1037); Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, S. 113, 114; Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, S. 133; Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (207); Schneider, Handbuch der Grundrechte I, § 18, Rn. 45. 88 Enders, in: Berliner Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 133. 89 Enders, in: Berliner Kommentar, Vor Art. 1, Rn. 133.
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gewichtig ist, um entgegenstehende Belange einzuschränken, sondern, ob jene und damit auch die Abwehrrechte hinreichend gewichtig sind, um einen Schutz abzulehnen. Damit wird aber die Verteilungsregel, wonach nicht der Gebrauch von Freiheit, sondern ihre Einschränkung rechtfertigungsbedürftig ist, in Frage gestellt.90 bb) Untermaßverbot als angemessener und wirksamer Schutz Ein Teil des Schrifttums91 übernimmt die Prüfungskriterien, die das Bundesverfassungsgericht in seinem zweiten Abtreibungsurteil für das Untermaßverbot zugrunde gelegt hat.92 Erforderlich sei grundsätzlich ein angemessener und effektiver Schutz.93 Problematisch an dieser Ansicht ist, daß sie letztlich nicht einen Mindestschutz im Auge hat, sondern einen Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter. Dies impliziert das Schüsselwort „angemessen“, das eben mehr beinhaltet als einen bloß verfassungsrechtlich geforderten Mindeststandard an Schutz.94 Den angemessenen Ausgleich herzustellen ist aber, wie bereits dargelegt wurde, Aufgabe des Gesetzgebers. Der Maßstab ist nicht offen genug, um begrifflich genügend Raum für den weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum zu lassen, der ja gerade eine Mehrzahl an Lösungsmöglichkeiten beinhaltet und nicht nur die Angemessenen. Damit kann der weite Gestaltungsspielraum bestenfalls noch einen nachgeschobenen Punkt darstellen, was aber zu der bereits abgelehnten Trennung von Prüfungsmaßstab und Kontrolldichte führen würde.95 Demzufolge erweisen sich auch die verschiedenen Spielarten des Angemessenheitsmaßstabes als zu eng. Darunter fallen Forderungen nach
Vgl. dazu Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 39, 101 f. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (242); Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (152); Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 186; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, S. 113. 92 BVerfGE 88, 203 ff. 93 Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1987, 1988); Murswiek, Die Verwaltung 33 (2000), S. 241 (246, 262, 263). Auf der Grundlage der Prinzipientheorie formuliert Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (168), daß der gewährleistete Schutz dann nicht gegen das Untermaßverbot verstößt, wenn die unzureichende Förderung eines Grundrechts auf Leistung durch die Wichtigkeit der kollidierenden verfassungsrechtlichen Prinzipien gerechtfertigt werden könne. Da hierzu aber auch der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gehören soll, muß dieser Maßstab aber nicht auf den von Clrico geforderten angemessenen Schutz hinauslaufen. 94 Ebenso Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 111; Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (557). 95 Vgl. Haltern/Viellechner, JuS 2002, S. 1197 (1202) kombinieren die übliche Evidenzkontrolle mit dem Angemessenheitsmaßstab aus der zweiten Abtreibungsentscheidung. Eine solche Kombination ist jedoch, wie weiter oben bereits festgestellt wurde widersprüchlich, da ein angemessener Schutz zu einer anderen Verletzungsgrenze von Schutzpflichten führt, als ein Schutz der nur nicht evident unzureichend sein darf. 90 91
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
einem hinlänglichen Schutz96 ebenso wie nach einer Plausibilitätskontrolle der gesetzgeberischen Annahmen.97 cc) Angemessenheitsmaßstab in allen Fälle des Lebens- und Gesundheitsschutzes Eine weitere Ansicht will den engen Angemessenheitsmaßstab in Fällen des Lebensschutzes zumindest auf alle Fälle des Gesundheitsschutzes ausdehnen.98 Begründet wird die Forderung damit, daß es widersprüchlich sei, das geborene Leben weniger intensiv zu schützen als das ungeborene.99 Insofern müsse das „Untermaßverbot“ auch für den Schutz der körperlichen Unversehrtheit gelten. Hiergegen könnte auch nicht eingewendet werden, daß die beiden Schutzgüter eine unterschiedliche Wertigkeit oder einen anderen Rang aufwiesen, da in Art 2 II 1 GG beide Schutzgüter gleichwertig nebeneinander genannt würden.100 Auch seien keine Gründe ersichtlich, die eine Differenzierung rechtfertigen würden. Auf den Schutz des Lebens – geboren wie ungeboren – und der körperlichen Unversehrtheit sei daher einheitlich das Untermaßverbot anzuwenden. c) Abwägungsformeln, die einen weiten Spielraum belassen Eine verbreitete Ansicht nimmt eine Verletzung des Untermaßverbotes an, wenn eine Hinnahme der nach geltendem Recht verbleibenden Gefährdung bzw. Störung des Rechtsguts nach der Abwägung mit entgegenstehenden privaten und öffentlichen Interessen nicht zumutbar ist.101 Der Vorteil an diesem Prüfungsmaßstab ist, daß das Kriterium der Zumutbarkeit eine zu enge Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts ausschließt.102 Die Bezeichnung, daß ein Zustand unzumutbar ist, beschreibt in der allgemeinen Sprachverwendung eine bereits beachtliche Beeinträchtigung (hier Schutzdefizit), die nicht gerechtfertigt werden kann. Da nach richtiger Auslegung das Schutzdefizit also schon erheblich bzw. gravierend sein muß, wäre das Unzumutbarkeitskriterium jedenfalls geeignet, den notwendigen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu wahren und liberale Abwehrrechte nicht übermäßig einzuschränken. Es würde sich hierbei also um einen akzeptablen Prüfungsmaßstab für das Untermaßverbot handeln. Allerdings unterliegt auch das materielle Kriterium der Zumutbarkeit der Gefahr, daß es zu eng ausgelegt, also zum Beispiel mit der Angemessenheit 96
Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (240). Dietrich, in: Erfurter Kommentar, Einleitung. Rn. 43. 98 Calliess/Kallmayer, JuS 1999, S. 785 (791); Calliess, in: FS für Starck, S. 201 (208); Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1988). 99 Steinberg, NJW 1996, S. 1985 (1988). 100 Calliess/Kallmayer, JuS 1999, S. 785 (791). 101 Michael, JuS 2001, S. 148 (151); Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 110; Sodan, NVwZ 2000, S. 601 (606). 102 Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 111, 112. 97
IV. Konkrete Vorschläge für ein Prüfprogramm des Untermaßverbotes
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gleichgesetzt wird. Zu untersuchen bleibt, ob es einen Maßstab gibt, der die Kontrollperspektive des Verfassungsgerichts und die spezielle Problematik der Prognoselastigkeit des Untermaßverbotes sowie die notwendigen Abwägungsspielräume des Gesetzgebers noch besser abbildet. Darüber hinaus werden in der Literatur noch weitere Abwägungsformeln genannt, die ebenfalls einen geringeren Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes bewirken. Ein Teil der Literatur schließt sich dabei dem Kontrollmaßstab des Verfassungsgerichts an und möchte in aller Regel Schutzpflichtenkonstellationen lediglich einer Evidenzkontrolle unterziehen.103 Stern hält in diesem Zusammenhang nur offensichtliche Fehleinschätzungen für korrigierbar.104 Dietlein fordert ein deutliches Mißverhältnis zwischen den Schutzinteressen des Opfers und denen des Störers.105 Rassow spricht davon, daß das Interesse des Schutzsuchenden das des Störers spürbar überwiegen müßte.106 Preu will die Vermutungsregel aufstellen, daß der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht genügt habe,107 und Breuer möchte lediglich prüfen, ob das Unterlassen durch keine vertretbare Wertung oder Abwägung gerechtfertigt werden kann, wobei der ethische und politische Wertepluralismus zu berücksichtigen sei.108 Rieken schlägt eine Argumentationslast zugun sten des Demokratieprinzips vor. Demnach sei grundsätzlich von einem weiten Spielraum des Gesetzgebers auszugehen; für einen ausnahmsweise engen Spielraum müßten gewichtige Gründe dargelegt werden.109 Und Hesse fordert schließlich, daß die Fehlerhaftigkeit der polischen Entscheidung klar erweisbar sein müsse.110
103 Sachs, in: Sachs, GG-Kommentar, vor Art. 1, Rn. 36; Simon, in: Handbuch des Verfassungsrechts, § 34, Rn. 58 – 60; H.H. Klein, DVBl, 1994, S. 489 (495); Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 177; Brüning, JuS 2000, S. 955 (957); Brüning/Helios, Jura 2001, S. 155 (162). 104 Stern, in: Stern, Staatsrecht III/1, S. 952. 105 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 113. 106 Rassow, ZG 2005, S. 262 (276). 107 Preu, JZ 1991 S. 265 (268). 108 Breuer, in: FS für Redeker, S. 11 (52, 53). 109 Riecken, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, S. 492. 110 Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (556).
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages zur Bestimmung des Untermaßverbots 1. Anforderung an den Prüfungsmaßstab a) Empirische Erkenntnisspielräume Nach den bisherigen Erkenntnissen der Arbeit steht fest, daß der Kontrollmaßstab des Untermaßverbotes sowohl empirische111 als auch normative Beurteilungsspielräume ausreichend berücksichtigen muß.Im Hinblick auf den empirischen Erkenntnisspielraum ergibt sich diese grundlegende Notwendigkeit schon daraus, daß die Entscheidung, welche umstrittenen Tatsachen zugrunde gelegt bzw. welche Prognosen112 als wahrscheinlich angenommen werden, oftmals schon die eigentliche Entscheidung über einen Fall bedeutet.113 Aus diesem Grunde war der Einfluß der Beurteilung von Tatsachen und Prognosen auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bereits Gegenstand von handfesten politischen Änderungsvorstellungen des verfassungsrechtlichen Erkenntnisverfahrens. So lag dem 6. Deutschen Bundestag 1970 der Entwurf eines neu einzufügenden § 26 a BVerfGG vor, dessen Absatz 1 folgenden Inhalt hatte:114 „(1) Bei der Entscheidung über die Gültigkeit eines Gesetzes ist das Bundesverfassungsgericht an Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers und seine Annahmen über die zu erwartende zukünftige Entwicklung, die dem Gesetz zugrunde liegen, gebunden. Dies gilt nicht, wenn das Gericht feststellt, daß der Gesetzgeber mißbräuchlich von offenbar unrichtigen Tatsachenfeststellungen ausgegangen ist.“
Der Entwurf ist nicht Gesetz geworden. In der Literatur wurde diesbezüglich angenommen, daß seine Verwirklichung wohl der Abschaffung der Normenkontrolle gleich gekommen wäre.115 Nach dem derzeit gültigen § 26 BVerfGG erhebt das Bundesverfassungsgericht „den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis“. Wie bereits gezeigt wurde, gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber jedoch bei der Annahme von Tatsachen und Prognosen in der Schutzpflichtendimension einen besonders weiten Spielraum zu.116 Dazu gehören vor allem die entschei111 Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 300; Allgemein zu der rechtlichen Würdigung der Tatsachenebene: Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, 1993. 112 Zur Abgrenzung von Einschätzungen und Prognosen: Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 113 f; Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 169 ff. 113 Vgl. Lerche, Handbuch des Staatsrechts V, § 122, Rn. 19; Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 534; Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Kommentar zum BVerfGG, § 26, Rn. 4; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 588. 114 Rechtsausschuß Drucks. VI/14, S. 6; Bundestags-Drucks. VI/388. 115 Ossenbühl, FS, 25 Jahre BVerfG, Band I, S. 458 (468); Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 179. 116 Kritisch gegenüber einer einzelfallunabhängigen Annahme von Beurteilungs- und Prognosespielräumen: Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen, S. 37.
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages
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denden Fragen nach dem Grad der Gefahr sowie der Intensität der Beeinträchtigung eines bestimmten Grundrechtsgutes. Diese Beurteilung ist für das Untermaßverbot besonders relevant, weil es vergleichsweise viele Fragen der tatsächlichen und zukünftigen Auswirkungen der modernen Technik betrifft.Da Prognosen regelmäßig einen höheren Grad an Bewertung beinhalten als reine Beurteilungen von aktuellen Gegebenheiten117 verstärkt sich die Notwendigkeit von Beurteilungsspielräumen hier noch einmal.118 Der Einschätzungsspielraum im Rahmen des Untermaßverbotes muß sich also in besonderem Maße auf tatsächliche Feststellungen und Prognosen beziehen.119 Dieser Aspekt muß von vornherein in ausreichendem und auch spürbar höherem Maße in dem konkreten Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes enthalten sein als dies beim Übermaßverbot der Fall ist.120 b) Normative Spielräume Als zweite wichtige Anforderung muß der Prüfungsmaßstab einen ausreichenden rechtlichen Erkenntnisspielraum belassen. Hierbei handelt es sich auf der einen Seite zwar um einen nicht vollends unproblematischen Punkt, da ein solcher Spielraum geeignet ist, die Verfassung von ihren eigentlichen Aussagen zu entfernen.121 Auf der anderen Seite werden dem demokratisch gewähltem Gesetzgeber von der Verfassung gerade solche Spielräume zugebilligt.Die Bejahung eines normativen Erkenntnisspielraums steht deshalb nicht etwa unter dem Verdacht latenter Verfassungswidrigkeit. In der Literatur wird darauf hingewiesen, daß es keinen abstrakten Rangunterschied bzw. keine Hierarchien zwischen Grundrechten gibt.122 Mangels entsprechen117
Vgl. Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen S. 30, die darauf hinweist, daß Prognosen immer nur Wahrscheinlichkeitsurteile beinhalten, die sich sicherer menschlicher Erkenntnis in viel evidenterer Weise entziehen, als die Gewißheit über historische und gegenwärtige Fakten. 118 Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BundesverfassungsgerichtsgesetzKommentar, § 26, Rn. 8. 119 Zu den Gründen für einen weiten empirischen Spielraum zählt unterstützend auch hier wieder die liberale Ausrichtung des Grundgesetzes. Dies betont ebenfalls das abweichende Votum zum 1. Schwangerschaftsurteil [BVerfGE, 35, 148 (165)] , indem es dort heißt: „Denn wenn schon die Zulässigkeit einer bestehenden Strafvorschrift davon abhängt, ob sie zum Schutz des jeweiligen Rechtsguts geeignet und erforderlich ist, dann bedarf es eines solchen Nachweises erst recht, wenn der Gesetzgeber sogar gegen seinen Willen zum Strafen gezwungen werden soll. Soweit es dafür auf die Beurteilung der Sachlage und Effektivität beabsichtigter Maßnahmen ankommt, hat das Gericht die Auffassung des Gesetzgebers zugrunde zu legen, solange sie nicht als offensichtlich irrig widerlegt wird.“ 120 Fallspezifisch prüft das Verfassungsgericht auch das Übermaßverbot großzügiger. Vgl. BVerfGE 24, 367 (410); 30, 292 (317); 37, 1 (20); 40, 196 (223). 121 Vgl. Alexy, VVDStRL 61 (2001), S. 7 (29). 122 Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 28; Ders., Der Staat, 10 (1971), S. 53 (77 f.); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 252.; Calliess,
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
der Wertmaßstäbe könne eine Güterabwägung auf der Prinzipienebene, also in abstrakt-genereller Gegenüberstellung von Grundrechten, nicht stattfinden.123 Im Sinne der Respektierung politischer Spielräume erscheint es dagegen konsequenter, dem Gesetzgeber auch im Hinblick auf die abstrakte Gleichrangigkeit von Grundrechten gewisse rechtliche Spielräume zuzugestehen. Zu denken ist hier zum Beispiel an den überragenden Wert des Grundrechts auf Leben. Auch das Verfassungsgericht nimmt mitunter einen besonderen abstrakten Wert bestimmter Grundrechtsnormen an.124 Die Beurteilungsspielräume, die der Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes abbilden muß, beziehen sich auf das in dem konkreten Fall angenommene Gewicht der in die Abwägung einzustellenden Güter und Interessen. Die abzuwägenden Belange können dabei in unterschiedlichen Variationen auftauchen. Es können Grundrechte gegen Grundrechte streiten, Grundrechte gegen Gemeinschaftsgüter und Gemeinwohlgüter gegen andere Gemeinwohlgüter.125 Daran, daß die konkrete Gewichtung der Interessen auf der Annahme der zugrundeliegenden Tatsachen beruht, zeigt sich die enge Verknüpfung der Rechts- und Tatsachenebene bei Abwägungen.Im Bereich der legislativen Tatsachen kann die Trennung der Tatsachenfeststellung von der Tatsachenwertung daher oftmals auch problematisch sein.126 Die Annahme von nicht zutreffenden Tatsachen läßt in den meisten Fällen auch das Abwägungsergebnis fehlerhaft werden. Darüber hinaus kann die Abwägung bei Zugrundelegung zutreffender Tatsachen und Prognosen aufgrund fehlerhafter Gewichtung verfassungswidrig werden. Als Ergebnis läßt sich daher festhalten, daß in die Abwägung sowohl die tatsächlichen Annahmen und Prognosen als auch die dazugehörigen Rechtswertungen eingestellt werden. Auf ersteren basiert die Gewichtung der verschiedenen Interessen. Dabei sind alle relevanten Belange und Umstände zu berücksichtigen.127
Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 581; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (234, 235). 123 Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 28. 124 BVerfGE 19, 330 (336); 23, 127 (134); 59, 231 (265); 63, 266 (286); 72, 51 (63); 85, 360 (373). 125 Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 28. 126 Schneider, NJW 1980, S. 2103 (2104); Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen, S. 41 erwähnt mit den entsprechenden Nachweisen der Rechtsprechung unter anderem als Beispiele hierfür den biologischen Geschlechterunterschied, das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, die Auswirkung der Zulassungsfreiheit für Zahnärzte auf die zahnärztliche Versorgung, die Auswirkung der Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf die Funktionsfähigkeit der Unternehmen sowie Gefahren für die Volksgesundheit, die sich aus der Niederlassungsfreiheit der Apotheker ergeben können. 127 BVerfGE 7, 198 (210 f.); Vgl. Ossenbühl, Handbuch der Grundrechte I, § 15, Rn. 19.
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages
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2. Vergleich von verfassungsgerichtlicher und gesetzgeberischer Abwägung a) Möglichkeiten der Umsetzung des Gestaltungsspielraums Inwieweit dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zukommt, läßt sich am besten anhand des klassischen Bildes der Waage verdeutlichen. Der Gestaltungsspielraum in der Schutzpflichtendimension kann dabei auf zwei Wegen berücksichtigt werden. Zum einen kann die „Waagschale“, auf der sich die Gründe für das staatliche Unterlassen „befinden“, mit einem zusätzlichen Gewicht des Gestaltungsspielraums belastet werden. Es würde dann durch das Verfassungsgericht bei der Abwägung überprüft, ob die entgegenstehenden Schutzbelange diesen formellen Gestaltungsspielraum und die kollidierenden übrigen materiellen Belange aufwiegen. Die andere Möglichkeit besteht darin, einen bestimmten Abstand der Waagschalen hinsichtlich des Abwägungsergebnisses zu fordern. Solange ein bestimmtes Übergewicht nicht erreicht ist, fällt das Abwägungsergebnis in den Gestaltungsspielraum. Dieser Lösungsweg fragt danach, ob die Abweichung der verfassungsrechtlichen von der gesetzgeberischen Abwägung bereits entscheidend ist. Inhaltlich kommen die beiden Möglichkeiten zum gleichen Ergebnis, da es keinen Unterschied macht, ob derselbe Spielraum bei der Abwägung selbst oder erst beim Abwägungsergebnis berücksichtigt wird. Gleichwohl spricht methodisch einiges dafür, den Gestaltungsspielraum der Politik erst beim Abwägungsergebnis zu berücksichtigen. Denn es entspricht eher der Kontrollperspektive des Bundesverfassungsgerichts und der inhaltlichen Nachvollziehbarkeit des Abwägungsergebnisses, die verschiedenen Belange zunächst rein inhaltlich zu gewichten und gegeneinander abzuwägen, ohne diese Gewichtung bereits mit der formellen Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers zu vermischen.
b) Unterschiede von enger und weiter Kontrolle Unter Zugrundelegung dieses Lösungsweges bedeutet eine enge Kontrolle, daß das Verfassungsgericht auch dann noch den Gesetzgeber korrigieren würde, wenn es selbst nur ein leichtes Überwiegen der Schutzinteressen annähme. Das leichte Überwiegen würde dabei aus einer engen Überprüfung und Korrektur der tatsächlichen Annahmen bzw. der Gewichtung der Rechtsgüter resultieren. Es handelt sich um Fälle, bei denen man mit guten Gründen auch zu einem jeweils entgegengesetzten Ergebnis hätte gelangen können. Eine weite Kontrolle zeichnet sich hingegen dadurch aus, daß der Gesetzgeber nur korrigiert wird, wenn im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Abwägung die entgegensetzte Waagschale erheblich überwiegt. Es besteht in diesem Fall ein bedeutender Abstand zwischen beiden Waagschalen. Die Annahme des Verfassungsgerichts, daß entgegen der Entscheidung des Gesetzgebers die Schutzseite deutlich überwiegt, setzt zwangsläufig voraus, daß der Gesetzgeber entweder von erheblich fehlerhaften
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
Annahmen und Prognosen oder von einer erheblich fehlerhaften Gewichtung der Interessen ausgegangen ist. Umgekehrt wird der Gesetzgeber solange nicht korrigiert, als nicht ein bestimmter Abstand zwischen den Waagschalen erreicht ist. Mag die Entscheidung der Politik aus Sicht des Verfassungsgerichts auch schwer begründbar und weniger plausibel seien, fällt sie gleichwohl noch in den Spielraum, der bis zum erheblichen Überwiegen der entgegengesetzten Seite besteht. Werden diese Anforderungen auf die materielle Prüfungsebene übertragen, entspricht dieses etwa dem Begriff der Unzumutbarkeit. Bei der Bestimmung des Gewährleistungsniveaus des Untermaßverbotes tritt zu dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers auch noch der Gesichtpunkt der liberalen Ausrichtung der Grundrechte hinzu, der darin besteht, daß die Verfassung nur im geringeren Umfang Eingriffe in Grundrechte selbst veranlassen möchte.128 Dieser Umstand erhöht bereits eigenständig die Anforderungen an einen Verstoß gegen das Untermaßverbot und schlägt sich ebenfalls in der Notwendigkeit eines deutlichen Überwiegens der Schutzseite nieder. Dadurch wird der erforderliche Abstand der Waagschalen, der zusätzlich aus der erforderlichen Beachtung eins politischen Gestaltungsspielraums resultiert, unterstützt und stabilisiert. Aus dem Abstand der beiden Waagschalen ergibt sich zwangsläufig, daß es sich in den Fällen, in denen der Gesetzgeber trotz dieses weiten Kontrollmaßstabes korrigiert wird, insofern um bedeutende Fälle handelt, als daß regelmäßig eine beachtliche Belastung bzw. Bedrohung der Grundrechtsposition des Betroffenen vorliegen muß, damit ein entsprechendes erhebliches Überwiegen vorliegt. Als zweite mögliche Variante wäre ein solches Überwiegen gegeben, wenn das Schutzdefizit zwar nicht so erheblich ist, jedoch ohne große Belastung anderer Grundrechtsträger oder des Staates beseitigt werden könnte, also ein erhebliches Mißverhältnis zwischen dem mangelnden Schutz und der Möglichkeit seiner Beseitigung besteht. Letzteres dürfte allerdings seltener vorkommen.
3. Übergang zur Unvertretbarkeitskontrolle Als Anknüpfungspunkt für den eigenen Maßstab dienen zunächst die drei vom Verfassungsgericht herausgearbeiteten Kontrolldichten (Intensivierte inhaltliche Kontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, Evidenzkontrolle129). Diese beinhalten zwei wichtige Vorteile. Zum einen lassen sie sich besser als bestimmte materielle Prüfungskriterien, wie zum Beispiel der Begriff der Unzumutbarkeit, auch auf Prognosen und Tatsachenfeststellungen beziehen. So gibt es zwar unvertretbare, aber keine unzumutbaren Prognosen; unzumutbar ist vielmehr die Entscheidung, die auf einer fehlerhaften Prognose beruht. Die Prüfungskriterien knüpfen also an die Erkennbarkeit an und stellen keine 128 129
Siehe dazu oben unter Teil 3, VII. 3. d). Vgl. Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht, Rn. 532.
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages
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eigenen materiellen Voraussetzungen auf. Sie erfassen deshalb die jeweilige bloße Kontrollperspektive des Verfassungsgerichts recht gut. Ein weiterer Vorteil ist, daß sie in der Lage sind, das Handeln bzw. Unterlassen des Gesetzgebers sowohl differenziert als auch „nahtlos“ abzubilden.130 Das Spektrum reicht von einer intensiven Kontrolle, die letztlich eine Angemessenheits- bzw. Richtigkeitskontrolle ist, über gut vertretbare bis zu gerade noch vertretbaren Entscheidungen; von nicht mehr vertretbaren bis hin zu evident fehlerhaften Entscheidungen des Gesetzgebers. Auf dieser Bandbreite liegt auch der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes. Dabei steht nach den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit fest, daß für das Untermaßverbot nur eine großzügige Kontrolle in Frage kommt. Eine Verletzung des Untermaßverbotes liegt nach dem oben Gesagten nur dann vor, wenn als Abwägungsergebnis ein erheblicher Abstand zwischen den Waagschalen besteht. Auf der andere Seite läßt der bisher ganz überwiegend praktizierte Maßstab des Verfassungsgerichts, der lediglich danach fragt, ob der Staat überhaupt nichts unternommen hat bzw. völlig unzulängliche Mittel einsetzt, oder ob das notwendige Schutzniveau evident unterschritten ist, das Untermaßverbot weitgehend leer laufen. Bei aller Notwendigkeit eines geringeren Gewährleistungsgehaltes des Untermaßverbotes ist diese Kontrolle ein Schritt zu weit. Bei konsequenter Anwendung dieses Maßstabes wird das Untermaßverbot als grundrechtliche Figur unglaubwürdig. Als eigener Prüfungsmaßstab wird deshalb vorgeschlagen, in den Fällen zu einer Unvertretbarkeitskontrolle überzugehen, in denen kein bestimmtes Mittel eingefordert, sondern nur die Feststellung begehrt wird, daß das Untermaßverbot verletzt ist. Das Untermaßverbot ist demnach verletzt, wenn das Unterlassen des Gesetzgebers unvertretbar ist. Das ist der Fall, wenn die Schutzbelange die Gründe für das staatliche Unterlassen erheblich überwiegen oder die vorgenommene Abwägung auf klar erkennbar fehlerhaften Annahmen und Prognosen beruht. Der Schutz muß demnach nicht völlig unzulänglich oder offensichtlich ungeeignet, sondern das Schutzdefizit muß nur klar erkennbar sein. Die Unvertretbarkeitskontrolle stärkt damit moderat die Schutzpflichten, ohne dem Gesetzgeber den notwendigen Spielraum zu nehmen, zumal zwischen einer Evidenzkontrolle und einer Unvertretbarkeitskontrolle kein „juristischer Quantensprung“ liegt. Zur Korrektur des Gesetzgebers reichen nicht bloß bessere Gründe, sondern es müssen eindeutig bessere Gründe für die entgegengesetzte Entscheidung sprechen. In die Abwägung fließen alle Belange ein, die für und gegen das staatliche Unterlassen sprechen.131 Insbesondere sind dies: 130
Bei den drei Kontrolldichten handelt es sich um Maßstäbe, die auch noch Raum lassen für verschiedene weitere Konkretisierungen. Dies gilt insbesondere für die Bandbreite der Vertretbarkeitskontrolle. Wie gesehen dürfen die „Unterkriterien“ dabei allerdings nicht dem Hauptprüfungsmaßstab widersprechen. So stellt ein bestmöglicher Schutz andere Anforderungen an den Gesetzgeber als eine Evidenzkontrolle; ein Minimalschutz wiederum andere Anforderungen als eine „Angemessenheitskontrolle“. 131 Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 303; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 110.
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
- Schwere, Art und Wahrscheinlichkeit der drohenden Grundrechtsbeeinträchtigung132 - Mögliche Auswirkungen auf die kollidierenden Interessen133 - Wirkung vorhandener Schutzregelungen134 - Möglichkeiten des Betroffenen zur Selbsthilfe135 - Irreversibilität des Schadens136. Als Rechtsfolge eines Verstoßes gegen das Untermaßverbot wird der Gesetzgeber verpflichtet, die durch das Verfassungsgericht aufgezeigten Schutzdefizite zu beheben.137
4. Vorteile und Erläuterung des Prüfungsmaßstabes Bei dem vorgeschlagenen Prüfungsmaßstab handelt es sich um einen konstanten und gerade nicht um einen gleitenden oder variablen Prüfungsmaßstab, der von der Betroffenheit der einschlägigen Grundrechtsbestimmung abhängig ist. Das ist eine Konsequenz des dauerhaft geringeren Gewährleistungsgehaltes des Untermaßverbotes. Entgegen der herrschenden Meinung im Schrifttum ist die Kontrolldichte nach dem hiesigen Vorschlag demnach bis zur Grenze des Wesensgehalts eines Grundrechts nicht von der Beeinträchtigung des zu schützenden Grundrechtsgutes abhängig.138 Es wird daher bei der Prüfung des Untermaßverbotes eine wichtige Je-destoBeziehung, die für den gleitenden und bereichsspezifischen Maßstab verantwortlich ist, außer Kraft gesetzt: Bei größeren Beeinträchtigungen und Gefahren findet eben keine umso größere verfassungsgerichtliche Kontrolle der vorgenommenen Gewichtung sowie der tatsächlichen Annahmen statt.139 Dies bedeutet, daß dem Gesetzgeber in grundrechtsbedeutenden und schwierigen Fällen, in denen gewichtige Schutzinteressen auf dem Spiel stehen, ebenso ein erheblicher Spielraum verbleibt wie in den 132 Vgl. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 40; Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 111; Merten, in: Gedächtnisschrift für Burmeister, S. 227 (238, 243); Hesse, in: FS für Mahrenholz, S. 541 (557). 133 Dazu zählen sowohl die individuellen Abwehrrechte als auch die gesamte Breite der öffentlichen Interessen, vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 108, 109; Aubel, Der verfassungsrechtliche Mutterschutz, S. 275. 134 BVerfGE 49, 89 (142). 135 Isensee, Handbuch des Staatsrechts V, § 111, Rn. 142. 136 Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 256. 137 Vgl. Schenke, VerwA 82 (1991), S. 307 (327); Faber, DVBl 1998, S. 745 (751, 752). 138 Vgl. auch Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 308, der stets eine Vertretbarkeitsprüfung für ausreichend hält. 139 Entgegengesetzt: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 427; Rassow, Schutzpflichten für geistiges Eigentum, S. 107: „Je schwerwiegender die drohenden Gefahren oder tatsächlichen Beeinträchtigungen sind und je genauer die die Möglichkeiten zu Erforschung der tatsächlichen Umstände sind, umso präziser muß die Abwägung vorgenommen werden.“
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages
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weniger bedeutsamen Fällen. Freilich führt der Maßstab in den weniger bedeutsamen Fällen dazu, daß ein justitiables Überwiegen der Schutzbelange in der Regel nicht angenommen werden kann. Daß die Gefahr bzw. die Beeinträchtigung des Grundrechtsgutes keine Auswirkung zeitigt, betrifft unmittelbar nur die Kontrolldichte. Das gewährleistete Schutzniveau ist davon nur mittelbar betroffen. Der gewährleistete Mindestschutz ist nämlich nach wie vor von dem Grad der Beeinträchtigung des Grundrechts insofern abhängig, als daß eine intensive Belastung schneller zu einem klar erkennbaren Überwiegen der Schutzbelange führt. Insofern gilt auch nach wie vor das Abwägungsgesetz, wonach, je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, umso größer die Wichtigkeit der Erfüllung der anderen Prinzipien sein muß.140 Nur gilt das Gesetz mit der gleichbleibenden Regel, daß das Mißverhältnis klar erkennbar sein muß, was im Ergebnis zu einem geringeren Gewährleistungsniveau führt.
5. Konstanter Prüfungsmaßstab nicht völlig fremd Ein konstanter Prüfungsmaßstab ist über die Schutzpflichtendimension hinaus dem grundrechtlichen Bereich im übrigen nicht völlig fremd. So läßt sich eine gewisse Parallele zu der vormals von dem Verfassungsgericht praktizierten Willkürkontrolle bei der Prüfung des Gleichheitssatzes ziehen141, die dann durch die neue Formel abgelöst wurde.142 Auch die bloße Willkürkontrolle wurde insbesondere mit der Notwendigkeit begründet, dem Gesetzgeber ausreichende Spielräume zu belassen, und führte zu einem geringeren Gewährleistungsgehalt.143 Wenn auch für die Grundrechtsauslegung nicht entscheidend, so ist es doch eine interessante Zusatzinformation, daß auch der Supreme Court in den USA Grundrechtsverletzungen anhand von nur drei starren Kontrollmaßstäben überprüft, die jeweils in bestimmten (abwehrrechtlichen144) Fallgruppen Anwendung finden.145 Während in Fällen der Wirt140 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 83; Clrico, in: Sieckmann, die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (168). 141 Vgl. Sommermann, Staatsziele, S. 441. 142 BVerfGE 82, 126 (146); 91, 389 (401). 143 Vgl. BVerfGE 55, 72 (89 f.). 144 Zu der rein abwehrrechtlichen Ausrichtung der US-Verfassung: Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 89, 90. 145 Bei den diesen nicht-gleitenden sogenannten „tests“ handelt es sich um den „mere rationality-standard“, den „strict scritiny-standard“ sowie den „middle tier-standard“. Der gegenüber dem Gesetzgeber sehr großzügige mere rationality-standart verlangt für ein verfassungsgemäßes Handeln des Staates lediglich, daß die jeweilige Regelung einen legitimen Allgemeinwohlbelang verfolgt. Die dazu eingesetzten Mittel müssen dabei nur eine lose Verbindung zu dem Zweck haben. Dies gilt in allen einschlägigem Fällen gleichermaßen und führt in den USA dazu, daß die überprüften Regelungen so gut wie immer vor dem Supreme Court Bestand haben. Dagegen verlangt die sehr enge Kontrolle des strict scrutiny-standart daß das verfolgte Allgemeinwohlziel von überragender Bedeutung ist. Zudem muß in den betreffenden
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
schafts- und Sozialgesetzgebung ein gleichbleibend sehr weiter Prüfungsmaßstab verwendet wird,146 findet unter anderem auf den Gebieten der Meinungsfreiheit, der Persönlichkeitsentfaltung, der Geschlechts- und Familienbeziehungen sowie bei potentiellen Diskriminierungen eine gleichbleibend enge Kontrolle des Gesetzgebers statt.147 Die festen Kontrollmaßstäbe werden dabei insbesondere mit funktionsrechtlichen Argumenten begründet und sollen verhindern, daß das Verfassungsgericht zu weit in den in den Bereich des Parlaments übergreift.148 Insoweit bestehen Parallelen zu dem Grundrechts-Sonderfall des Untermaßverbotes. Eine pauschale Kontrolldichte mag mit den einzelnen Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes in der Abwehrdimension unvereinbar sein,149 ist jedoch in der objektiv-rechtlichen Dimension Ausfluß des großen Gestaltungsspielraums sowie der liberalen Ausrichtung der Grundrechte. Mit einem bereichsspezifischen Maßstab lassen sich dagegen die geschilderten Anforderungen sowie eine griffige Handhabbarkeit des Untermaßverbotes nicht sicherstellen. Ein weiterer Vorteil des vorgestellten Prüfungsmaßstabes besteht darin, daß sich mit ihm verschiedene Fragestellungen, die in der Schutzpflichtenliteratur umstritten sind, erledigen. So macht etwa die Voraussetzung des erheblichen Überwiegens der Schutzbelange die Frage überflüssig, wo genau die Übergriffsschwelle liegt, bei der Schutzpflichten aktiviert werden, und welches Restrisiko hinzunehmen ist.150 Denn ein erhebliches Überwiegen der Schutzbelange setzt eine relevante und ernst zu nehmende Gefährdung regelmäßig bereits voraus. Ebenso wird durch die Prüfung deutlich, daß das Untermaßverbot der Rücknahme eines gegebenen Schutzniveaus bis zu der Grenze seiner Verletzung nichts im Wege steht.151 Gegenüber dem ebenfalls in Betracht kommenden rein materiellen Prüfungsmaßstab der Zumutbarkeit besteht Fällen eine sehr enge Beziehung zwischen dem verfolgten Ziel und dem eingesetzten Mittel bestehen: Erreicht das Mittel das Ziel nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, ist das Gesetz verfassungswidrig. Als Reaktion darauf, daß diese beiden Maßstäbe, entweder fast immer oder so gut wie nie zur Verfassungswidrigkeit gelangen, wurde in den letzten Jahren noch in verschiedenen Fällen ein neuer mittlerer „test“ verwendet, der differenzierte Lösungen ermöglicht. Vgl. zum Ganzen mit den entsprechenden Nachweisen: Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 84 ff., 293 ff. 146 Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 302, 303. 147 Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 293 f. 148 Vgl. Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 315 f., 331 f., 355 f. 149 Für eine solche Begrenzung: Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Staatsorgane S. 209, 210, der die Kontrolle des BVerfG grundsätzlich darauf beschränken möchte, ob die Wertungen des Gesetzgebers eindeutig der Verfassung widersprechen. 150 Vgl. dazu Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 105 f.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 138 f; Kloepfer, DVBl 1988, S. 305 (311); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 236, 237. 151 Vgl. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, S. 135. Für ein soziales Rückschrittsverbot aufgrund des Untermaßverbotes zumindest in den Rechtsordnungen von Entwicklungsländern, Clrico, in: Sieckmann, Die Prinzipientheorie der Grundrechte, S. 151 (172 f).
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages
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der Vorteil des hiesigen Vorschlages darin, daß er die Kontrollperspektive des Verfassungsgerichts besser berücksichtigt, sich eindeutig auch auf die Prognosen bezieht und zudem ausdifferenzierter ist.
6. Modifikationen a) Schutz der Menschenwürde Wie bei jeder aufgestellten Regel oder aufgestelltem Grundsatz stellt sich auch hinsichtlich des gemachten Prüfungsvorschlages für das Untermaßverbot die Frage, ob es zu der angenommenen konstanten Kontrolldichte auch Ausnahmen gibt. Eine solche Ausnahme ist jedenfalls für den Bereich der Menschenwürde zu machen. Nach ganz herrschender Meinung ist diese nicht abwägungsfähig.152 Damit kann auch im Rahmen des Untermaßverbotes keine Abwägung mehr mit kollidierenden Belangen stattfinden. Ein solches Abwägungsverbot setzt aber voraus, daß die Menschenwürde weder inflationär für jedes gesellschaftliche Unbehangen noch dazu verwendet wird, mit ihr, gleichsam als aufgeladene Zauberformel, alle komplexen Fragen der Hochtechnologiegesellschaft, einschließlich der ethischen Probleme der Biotechnologie, abschließend zu beantworten.153 Gerade weil die Menschenwürde mit gutem Grund den höchsten normativen Rang einnimmt, ist es besonders verführerisch, sie im politischen Meinungskampf als Argument mit garantierter Durchschlagskraft einzusetzen.154 Vor diesem Mißbrauch ist die Menschenwürde ihrerseits zu schützen. Das ist im Hinblick auf das Untermaßverbot umso wichtiger, als hier im Ergebnis über den Umweg des Staates Private gebunden werden. Ein zu weitgehender Menschenwürdebegriff könnte im schönsten Gewande tiefe Eingriffe in Freiheitsrechte vornehmen. Sollte sich herausstellen, daß sich die Linie, die Menschenwürde auf einen wirklichen Würde- und Elementarschutz155 zu begrenzen, dauerhaft nicht halten läßt, so ist es dann in der Tat überzeugender, sie zumindest bei Konflikten unter Privaten, also im Rahmen des Untermaßverbotes, für Abwägungen zu öffnen.156 b) Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte Darüber hinaus gilt der konstant großzügige Maßstab des Untermaßverbotes auch dann nicht, wenn durch das private Handeln der Wesensgehalt eines Grundrechts im 152 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 44 m.w.N. A.A. Hain, Der Staat 45 (2006), S. 189 ff. Vgl. zu der Diskussion um die richtige dogmatische Einordnung von Art. 1 I GG aus jüngster Zeit: Schmidt-Jortzig, in: FS für Isensee, S. 491 (493). 153 Dazu grundlegend Schmitz-Jortzig, Rechtsfragen der Biomedizin, S. 16 f. 154 Vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 49; Schmidt-Jortzig, in: FS für Isensee, S. 491 (493). 155 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 1, Rn. 7. 156 Vgl. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar I, Art. 1, Rn. 76, 77.
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4. Teil: Zur Bildung eines Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot
Sinne des Art. 19 II GG betroffen ist. Hier wandelt sich dann die weite Untermaßverbotskontrolle zumindest in eine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle um. Dadurch wird ein ausreichender Schutz vor allem auch in den Ausnahmefällen gewährleistet, in denen, wie bei der Abtreibung, mit dem privaten Handeln ein Lebensentzug verbunden ist.157 Voraussetzung für die strenge Kontrolle anhand des Art. 19 II GG ist allerdings, daß ein Eingriff in den Wesensgehalt eines Grundrechts tatsächlich vorliegt. Denn (bloße) Risiken eines fehlenden Schutzes sind in erster Linie politisch zu verantworten, weshalb in diesen Fällen nur der vorgeschlagene großzügige Maßstab des Untermaßverbotes in Betracht kommt. Dem könnte vorgehalten werden, daß sich diese Kontrolle als unzureichend erweist, wenn es um fundamentale Bedrohungen, etwa des menschlichen Lebens geht. So könnte etwa argumentiert werden, daß beispielsweise bei nicht ausreichenden Sicherheitsstandards bei dem Betrieb von Atomkraftwerken ein genaueres verfassungsrechtliches Hinsehen erforderlich ist,158 weil hier eine besonders intensive Lebens- und Gesundheitsgefährdung einer großen Zahl von Menschen besteht. Dazu ist anzumerken, daß auch der hier vorgeschlagene Prüfungsmaßstab des Untermaßverbotes den Bürger nicht schutzlos stellt. Hinsichtlich der Güterabwägung dürfte in einem solchen Fall an einem erheblichen Überwiegen der Schutzbelange gegenüber den kollidierenden Interessen kein Zweifel bestehen, so daß diese Voraussetzung erfüllt wäre. Problematischer wäre die Forderung nach einer klaren Erkennbarkeit von tatsächlichen Fehlannahmen des Gesetzgebers. Jedoch wird das Schutzdefizit durch das Bundesverfassungsgericht immer dann behoben, wenn es klar erkennbar ist. Mehr soll das Untermaßverbot nicht leisten. Denn desto enger geprüft wird, umso eindringlicher stellt sich das Problem, daß Grundrechte Eingriffe in Grundrechte veranlassen und diese Eingriffe nicht auf einer freien Entscheidung des Gesetzgebers beruhen. Solange nicht der Wesensgehalt der Grundrechte betroffen ist, besteht die demokratische Notwendigkeit eines ausreichenden Gestaltungsspielraums auch bei ethisch schwierigen Grundentscheidungen. Nicht zuletzt ist die Atomkraft aber auch ein gutes Beispiel dafür, daß der Staat durch die Verfassung in der Regel nicht zu einem ausreichenden Schutz getrieben werden muß, da ein solcher bereits durch den Gesetzgeber, die Verwaltung und die außerordentlich sensible und kritische Öffentlichkeit sowie die Betreiber selbst hergestellt wird. Der hier entwickelte Prüfungsvorschlag für das Untermaßverbot geht optimistisch davon aus, daß der demokratisch legitimierte Gesetzgeber im Regelfall Schutzdefizite erkennt und aus eigenem Antrieb versucht zu beheben.159 Nur wenn feststeht, daß 157 Bei solchen Fällen handelt es sich jedoch nur um einen kleinen Teil der potentiellen Unternmaßverbotsfälle. Als Ausnahmen zu der Regel stellen diese Abweichungen die ansonsten konstant großzügige Kontrolle nicht in Frage. 158 So für die Atomkraft BVerfGE 53, 30 (58).Vgl zum Ganzen Lawrence, Grundrechtsschutz, technischer Wandel und Generationenverantwortung – Verfassungsrechtliche Determinanten des „Restrisikos“ der Atomkraft, 1989. 159 Dabei darf dem Gesetzgeber auch unterstellt werden, daß er sich auch ethisch schwierigen Fragen, wie zum Beispiel auf dem Gebiet der Biotechnologie annimmt.
V. Entwicklung eines eigenen Prüfungsvorschlages
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aufgrund des privaten Handelns der Wesensgehalt eines Grundrechts tatsächlich betroffen ist, bedarf es einer engen Kontrolle des Gesetzgebers. Dagegen ist in den übrigen, also alltäglichen Fällen, in denen von Verfassungs wegen ein intensiverer Schutz – vom Gesundheitsschutz bis hin zur Antidiskriminierung – verlangt wird, nur die großzügige Untermaßverbots-Kontrolle einschlägig.
7. Kein Einfluß des Untermaßverbotes auf intensivere Gefahrenabwehr Abschließend ist noch einmal herauszustellen, dass die hier vertretene geminderte Wirkkraft des grundrechtlichen Untermaßverbotes einer effektiven Gefahrenabwehr nicht im Wege steht: Denn zum einen hindert das Verbot einen freiwilligen besseren Schutz des Gesetzgebers nicht. Zum anderen würde aber auch ein stärker wirkendes grundrechtliches Untermaßverbot die Grenze des Übermaßverbotes nicht verändern. Wer angesichts der aktuellen Bedrohung, etwa durch den Terrorismus, intensivere staatliche Eingriffe für nötig erachtet, muß deshalb gegebenenfalls das Übermaßverbot zurückdrängen. Mit einem stärkeren Untermaßverbot wäre ihm aufgrund des auch dann noch bestehenden Korridors zwischen den beiden Verboten nicht geholfen. So kann man beispielsweise mit guten Gründen annehmen, dass Online-Durchsuchungen von Computern oder effektive Vorratsdatenspeicherungen nicht verfassungswidrig sind. Dagegen wäre es von vornherein abwegig, derartige Schutzmittel als „Verpflichtungen“ auf das Untermaßverbot stützen zu wollen.160 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, wie wichtig und weiterführend die Unterscheidung von allgemeinen Schutzpflichten und dem justitiablen Untermaßverbot ist. Denn Schutzpflichten als grundrechtliche nichtjustitiable Prinzipen gehen über das Untermaßverbot hinaus und spielen dann auch bei Abwägungen im Rahmen des Übermaßverbotes eine wichtige Rolle.161 Entscheidend ist dann jedoch, dass diese Rolle im Verhältnis zu den grundrechtlichen Abwehrrechten gleichberechtigt sein muß, weil es ansonsten in der Tat zu einer unhaltbaren Bevorzugung des Täters/Störers gegenüber dem Opfern im Rahmen von Abwägungen kommen würde.
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Vgl. auch Jerouschek, JuS 2005, S. 296 (300). Die Unterscheidung von justitiablem Untermaßverbot und weitergehenden Schutzpflichten übersieht Vosgerau, AöR 2008, S. 346 (350) bei seiner Grundsatzkritik und übergeht deshalb die Möglichkeit, grundrechtliche Schutzpflichten im Rahmen von Abwägungen gleichberechtigt zu den Abwehrrechten zu behandeln, ihnen gleichwohl aber eine geringere Jutitiabilität zuzusprechen. 161
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8. Verbleibende Fälle der Evidenzkontrolle a) Ermessensreduzierung auf Null Der oben vorgeschlagene Prüfungsmaßstab bezieht sich auf die Fälle, in denen die bloße Feststellung begehrt wird, daß der verfassungsrechtlich notwendige Schutzstandard unterschritten ist. Soweit jedoch eine ganz bestimmte Schutzmaßnahme vor dem Verfassungsgericht eingeklagt wird, bleibt es bei der sehr weiten vom Bundesverfassungsgericht praktizierten Evidenzkontrolle, da dem Gesetzgeber durch das Verfassungsgericht von mehreren möglichen Schutzmitteln nicht bestimmte Mittel in die Hand gedrückt werden sollen, für die er sich im Rahmen einer freien Auswahl möglicherweise nicht entschieden hätte. Eine Verdichtung auf ein bestimmtes Mittel oder Schutzkonzept ist nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null möglich.162 Das setzt voraus, daß alle anderen Schutzmittel gegen das Untermaßverbot verstoßen würden.163 Demnach stellt das Begehren der bloßen Feststellung, daß das Untermaßverbot unterschritten ist, die rechschutzintensivere Variante dar. Allerdings ist ein Antrag, in dem bestimmte Mittel eingefordert werden, so auszulegen, daß damit als Minus auch die Feststellung begehrt wird, daß der jetzige Schutzstandard verfassungswidrig ist. b) Nichtgrundrechtliches Untermaßverbot Der bisher dargestellte Prüfungsmaßstab ergibt sich aus dem grundrechtlichen Untermaßverbot, also aus der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte. Bereits zu Anfang der Arbeit wurde festgestellt, daß das Untermaßverbot auf den justitiablen Kern bestimmter Staatszielstimmungen, wie beispielsweise Art. 20 I GG und Art. 20 a GG, Anwendung findet. Allerdings besteht weitgehend Einigkeit, daß eine verfassungswidrige Umsetzung nur in wenigen Ausnahmefällen angenommen werden kann.164 Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes im Bereich der reinen Staatszielbestimmungen liegt noch einmal unter dem Schutzniveau des grundrechtlichen Untermaßverbotes.Oftmals wird sich zwar eine Verknüpfung mit Grundrechten ergeben, so daß dann die Staatszielbestimmung an der Gewährleistung der Grundrechte teilnimmt und diese zusätzlich anreichert.165 Soweit aber eine solche Verbindung zu Grundrechten nicht besteht, sondern die Staatszielbestimmung isoliert 162 BVerfGE 46, 160 (164); 77, 1. 70 (215); Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit S. 40; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 156. 163 Vgl. Möstl, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, S. 106, 107. 164 BVerfGE 22, 180 (204); 94, 241 (263); 110, 412 ( 445); Sommermann, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 120, 121, 123; Ders., Staatsziele, S. 427 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 20, Rn. 113; Ders., Art. 20 a, Rn. 18; Gröschner, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20. Rn. 32; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20 a, Rn. 71. 165 Gröschner, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 20, 21; Sommermann, in: Von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar II, Art. 20, Rn. 130.
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zu betrachten ist, bleibt es bei dem geringeren normativen Gehalt des nichtgrundrechtlichen Untermaßverbotes und einer bloßen Evidenzkontrolle.166
166 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG-Kommentar II, Art. 20 a, Rn. 71, der einen Verstoß gegen das Untermaßverbot erst annehmen will, wenn der Staat sich aus dem Tier- und Umweltschutz völlig zurückziehen würde.
Zusammenfassende Thesen 1. Bei dem Untermaßverbot handelt es sich um einen justitiablen Kontrollmaßstab. Als Korrelat zum abwehrrechtlichen Übermaßverbot erfaßt es Freiheitsbedrohungen, die nicht vom Staat, sondern von Bürgern ausgehen bzw. ihre Ursachen in der Gesellschaft haben. Das Untermaßverbot wendet sich demnach gegen staatliches Unterlassen. Dieses Unterlassen kann nicht mit staatlichen Eingriffen gleichgesetzt werden, weshalb die Anwendung abwehrrechtlicher Maßstäbe ausscheidet. Vielmehr leitet sich das Untermaßverbot aus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension ab und stellt das justitiable Mindestmaß bei der Erfüllung von Pflichten dar, die sich aus dieser Grundrechtsfunktion ergeben. Dabei ist das Untermaßverbot nicht auf die klassischen Schutzpflichten beschränkt, sondern erfaßt neben den objektiv-rechtlichen Gehalten des Art. 3 GG auch soziale Leistungsrechte, soweit diese anerkannt sind. Eigenständig kann das Untermaßverbot keine Pflichten begründen, da es lediglich das Mindestmaß bereits bestehender Pflichten sichert. Über das grundrechtliche Untermaßverbot hinaus gilt die Figur auch für den justitiablen Kern von Staatszielbestimmungen. 2. Das Untermaßverbot ist zwar nach wie vor umstritten, wird jedoch von der herrschenden Literatur mittlerweile akzeptiert. Es ist zu einem festen Bestandteil der Grundrechtsdogmatik bei der Erörterung von Schutzpflichten geworden. Dagegen wird es von dem Verfassungsgericht, das das Untermaßverbot ursprünglich in seiner zweiten Abtreibungsentscheidung erst auf die verfassungsrechtliche Bühne gehoben hat, inzwischen als Prüfungsmaßstab nicht mehr verwendet. Hatte das Bundesverfassungsgericht mit dem Untermaßverbot noch einen wirksamen und angemessenen Schutz gefordert, ist es nunmehr bei der Überprüfung von Schutzregelungen des Gesetzgebers in aller Regel zu seiner alten Evidenzkontrolle zurückgekehrt. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabes überprüft das Gericht lediglich, ob die bisherigen Schutzmaßnahmen völlig unzulänglich bzw. ungeeignet sind, das Schutzziel zu erreichen. 3. Gemäß Art. 1 III GG binden die grundrechtlichen Schutzpflichten und damit das Untermaßverbot alle drei Staatsgewalten. Hauptsächlich wird die Figur jedoch unter dem Gesichtspunkt eines Unterlassens des Gesetzgebers diskutiert, da auf diesem Feld die schwierigen Probleme liegen, und das Untermaßverbot bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts keine wesentliche Neuerung darstellt. Nach ganz herrschender Meinung sind aus den objektiven Grundrechtsgehalten nunmehr auch subjektive Rechte auf Schutz ableitbar. Nach seinen Urteilen zu den heimlichen Vaterschaftstests und den Prämienzahlungen bei Versicherungen hat sich jetzt auch das Bundesverfassungsgericht, nachdem es die Frage lange offengelassen hatte, de
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facto für einen aus Grundrechten ableitbaren individuellen Schutzanspruch entschieden. 4. Die beiden Hauptprobleme des Untermaßverbotes bestehen darin, daß es geeignet ist, die klassisch liberalen Abwehrrechte zu beschränken als auch den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers einzuengen. Diese Probleme liegen bereits in der Anerkennung der objektiv-rechtlichen Grundrechtsfunktion begründet, haben sich aber mit dem handfesten und justitiablen Untermaßverbot, das begrifflich dazu einlädt, mit dem Gewährleistungsgehalt des Übermaßverbotes gleichgesetzt zu werden, verschärft. Dementsprechend wird das Untermaßverbot von verschiedenen Stimmen in der Literatur und von gesellschaftlichen Gruppen dazu verwendet, rechtspolitische Forderungen nach mehr Schutz verfassungsrechtlich abzuleiten oder zu untermauern. Vor allem, weil dem Untermaßverbot überwiegend nur eine geminderte Steuerungskraft zugesprochen wird, halten sich die bisherigen Forderungen nach entsprechenden Änderungen der Rechtsordnung bisher in Grenzen. Den größten Verbreitungsgrad weist das Untermaßverbot mittlerweile im Arbeitsrecht auf. 5. Zwischen Unter- und Übermaßverbot besteht ein erheblicher politischer Gestaltungsspielraum der Legislative, der der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht entzogen ist. Die Ansicht, die geltend macht, daß Unter- und Übermaßverbot zusammenfallen, weil das Untermaßverbot bereits automatisch bei der Prüfung der Erforderlichkeit, spätestens aber bei der Angemessenheit im Rahmen des Übermaßverbotes berücksichtigt würde, geht von falschen Prämissen aus. Denn das Übermaßverbot sagt lediglich, ob der Gesetzgeber das von ihm gesetzte Ziel (Schutz des Dritten) mit verhältnismäßigen Mitteln verfolgt, nicht aber, ob der Einsatz des gewählten Mittels verfassungsrechtlich gefordert ist. Überdies ist ein beachtlicher Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot aufgrund des Demokratieprinzips auch zwingend geboten. Käme man tatsächlich zu dem Ergebnis, daß Unter- und Übermaßverbot deckungsgleich sind, hieße das in der Konsequenz, daß de iure keine eigenen demokratischen Gestaltungsspielräume der Legislative bei der Umsetzung von Gesetzgebungsaufträgen existierten. Eine andere Bewertung ist auch nicht in Fällen gerechtfertigt, in denen eine Schutzpflicht mit einem vorbehaltslosen Freiheitsrecht kollidiert. Die Ansicht, die lediglich Mindesteingriffe in Form des Untermaßverbotes in vorbehaltslose Grundrechte zuläßt, berücksichtigt nicht, daß Abwägungen ergeben können, daß ein intensiverer Schutz erforderlich ist, weshalb die herrschende Meinung zu Recht dann weiterreichende Eingriffe in vorbehaltslose Freiheitsrechte für zulässig hält, wenn sie durch kollidierendes Verfassungsrecht legitimiert sind. Aufgrund des Erfordernisses eines ausreichenden Gestaltungsspielraums kann ebensowenig Stimmen gefolgt werden, die Unter- und Übermaßverbot zunächst getrennt prüfen, dann aber im Rahmen einer Gesamtabwägung wieder zusammenführen wollen. 6. Eine Kollision zwischen Unter- und Übermaßverbot ist nicht möglich, weil in einem zu beurteilenden Fall zwangsläufig entweder die Schutzaspekte oder die Abwehraspekte überwiegen müssen. Dadurch ist eine gleichzeitige Verletzung von
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Unter- und Übermaßverbot ausgeschlossen. Daraus folgt, daß es sich in den jeweiligen Fällen entweder um eine Untermaß- oder Übermaßproblematik handelt. 7. Von der Frage, ob Unter- und Übermaßverbot deckungsgleich sind, ist die Frage zu trennen, ob dem Untermaßverbot überhaupt ein eigenständiger Bedeutungsgehalt zukommt. So lehnen teilweise auch die Ansichten, die einen Spielraum zwischen Unter- und Übermaßverbot befürworten, einen eigenständigen Aussagegehalt des Untermaßverbotes mit dem Argument ab, daß sich aus der Figur keine Anforderungen ergäben, die unter Zugrundelegung staatlicher Schutzpflichten nicht ohnehin bestünden. Die Kritiker verkennen jedoch, daß das Untermaßverbot besser faßbar und konturierbar ist als die weitmaschigeren und mehrdeutigen Schutzpflichten. Die Eigenständigkeit des Untermaßverbotes und sein Erkenntnisgewinn bestehen in der Markierung der Justitiabilitätsgrenze staatlichen Unterlassens. Daraus ergibt sich auch, daß das Untermaßverbot im Sinne der tragfähigen Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm ausschließlich als Kontrollnorm fungiert. 8. Mit der herrschenden Meinung ist davon auszugehen, daß Unter- und Übermaßverbot nicht symmetrisch gelagert sind. Für einen geringeren Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes gegenüber dem Übermaßverbot sprechen sowohl das Demokratieprinzip als auch Gesichtspunkte einer liberalen Gesellschaftsordnung. Bereits aufgrund des strukturellen Unterschieds von staatlichem Handeln und Unterlassen fällt die Problematik des Gestaltungsspielraums der Politik beim Untermaßverbot stärker ins Gewicht als beim Übermaßverbot. Dieses Problem wird durch die zunächst nur feststellende Wirkung des Untermaßverbotes zwar entschärft, aber nicht beseitigt, weil sich auch dann wirksame Schutzmittel auf nur einige wenige Mittel verdichten können. Damit können im ungünstigsten Fall der Politik bestimmte Mittel in die Hand gedrückt werden, die sie selbst überhaupt nicht gewählt hätte. Hinzu kommt, daß mit einer Verpflichtung zu staatlicher Aktivität meist die Inanspruchnahme von Ressourcen verbunden und die gesamte Schutzpflichtendimension besonders prognoselastig ist. Ungeachtet dessen will die Verfassung von sich aus Schutzpositionen auch nur unter engen Voraussetzungen auf Kosten der Abwehrrechte verbessern. Zwar sehen die Grundechte Einschnitte in individuelle Freiheiten vor. Entscheidend ist jedoch, daß die Verfassung staatliche Eingriffe zugunsten von Regelungen zwar zulassen will, diese aber in weitaus geringerem Umfang veranlassen möchte, weil Freiheitseinschränkungen in der Regel nicht durch Grundrechte, sondern durch freie politische Mehrheitsentscheidungen legitimiert werden sollen. Formal müssen Grundrechtseingriffe ohnehin auf formellen Gesetzen beruhen, jedoch lassen die Gesetzesvorbehalte darüber hinaus darauf schließen, daß die Gesetze auch inhaltlich auf eine freie (also nicht verfassungsdeterminierte) Entscheidung rückführbar sein sollen. Würde das Untermaßverbot mit dem gleichen Gewährleistungsgehalt ausgestattet wie das Übermaßverbot, hätte das zur Folge, daß der Staat als Grundrechtsadressat dazu verpflichtet wäre, Schutzregelungen zu erlassen, die das Verhältnismäßigkeitsniveau erreichen müßten, wie jenes, an das er in der Abwehrdimension gebunden ist.
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Dies wäre jedoch weder mit dem liberalen Charakter der Grundrechte noch mit dem Demokratieprinzip vereinbar. Auch besteht in der Schutzdimension nicht die gleiche Notwendigkeit der grundrechtlichen Freiheitsabsicherung wie in der Abwehrdimension. Zum Handeln muß der Staat nämlich in aller Regel nicht erst durch Grundrechte veranlaßt werden, sondern Schutzaktivität entwickelt er bereits automatisch aus seinem ganzen Staatszweck heraus. Angesichts der ständigen staatlichen Aktivität ist die Abwehrdimension weitaus mehr gefordert als die objektiv-rechtliche Dimension. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß der staatliche Freiheitseinschnitt absolut wirkt, während den von Privaten ausgehenden Gefahren zumindest im Grundsatz ausgewichen werden kann. Um den Mehrheitswillen durchzusetzen, müssen Grundrechte Eingriffe zulassen. Entsprechend der Hauptaktivität des Staates ist es aber dann Hauptaufgabe der Grundrechte, einen übermäßigen Eingriff zu verhindern. 9. Der geringere Gewährleistungsgehalt führt nicht dazu, daß das Untermaßverbot in der Wesensgehaltstheorie zu verankern ist, wie das ein Teil der Literatur befürwortet. Vielmehr wurzelt es im Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil es genuin abwägungsbedürftig ist. Dagegen ist nach zutreffender Ansicht Art. 19 II GG Abwägungen mit kollidierenden Positionen nur eingeschränkt zugänglich. Auch ist das geringere Gewährleistungsniveau des Untermaßverbotes mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vereinbar, weil dieses nicht zwangsläufig einen engen Lösungsbereich markiert, sondern sich auch als großzügige Skala begreifen läßt. Entscheidend ist demnach nicht, ob Abwägungen überprüft werden, sondern wie eng diese überprüft werden. Bei der Kontrolle durch das Verfassungsgericht ist der reduzierte Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes nicht über eine pauschale Höhergewichtung der Abwehrrechte bei der Abwägung, sondern über erhöhte Anforderungen an seine Verletzung sicherzustellen. 10. Da das Untermaßverbot durch Abwägung, insbesondere von abwehrrechtlichen mit objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten zu bestimmen ist, wird es zwangsläufig von der Prinzipientheorie erfaßt. Diese geht davon aus, daß Grundrechte in erster Linie keine Regeln, sondern Prinzipien im Sinne von Idealvorstellungen sind, die in Relation zu gegenläufigen Interessen und Prinzipien auf eine möglichst hohe Verwirklichung zielen.Der Prinzipientheorie wird eine Optimierung bzw. Maximierung von Grundrechtsgehalten angelastet, die insbesondere dem geringeren Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes zuwiderlaufen würde. Die Kritiker übersehen jedoch, daß die Prinzipien nur soweit optimiert werden, als dies die gegenläufigen Prinzipien zulassen. Deshalb führt die Theorie nicht zu einem maximierten Grundrechtsniveau.Dies gilt insbesondere für das Untermaßverbot, das durch die gegenläufigen besonderen Erfordernisse des Gestaltungsspielraums der Politik sowie aufgrund der liberalen Ausrichtung der Verfassung auch nach der Prinzipientheorie an einem dauerhaft niedrigeren Niveau angesiedelt sein kann. Zudem verhindert eine Dogmatik der Spielräume die Annahme von justitiablen Idealentscheidungen. Für das Unter- und Übermaßverbot ist eine Beschäftigung mit einer Dogmatik der Spielräume essentiell. Denn die Frage, welche genauen Spielräume dem Gesetzgeber zu-
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kommen, und wie groß diese sind, stellt nichts anderes dar als die Frage, wie breit der Korridor zwischen Unter- und Übermaßverbot ist. 11. Aus der Justitiabilität des Untermaßverbotes folgt, daß die Kontrolldichte, die das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung zugrunde legt, den Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes bestimmt. Um zu sinnvollen Ergebnissen zu gelangen, muß deshalb die Kontrolldichte dem anzulegenden Prüfungsmaßstab entsprechen. Aus diesem Grunde gehen Ansichten, die bei der Ermittlung der justitiablen Reichweite von Schutzpflichten zwischen Prüfungsmaßstab und Prüfungsdichte unterscheiden wollen, von vornherein fehl. Vielmehr ist erforderlich, einen in sich stimmigen Prüfungsmaßstab zu entwickeln, der bereits alle Aspekte einer bestimmten Kontrolldichte beinhaltet. 12. Ein beachtlicher Teil der Literatur will das Untermaßverbot in Anlehnung an das Übermaßverbot dreischrittig prüfen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die Teilschritte der Geeignetheits- und Effizienzprüfung keinen hinreichenden Nutzen ergeben. Soweit das Geeignetheitskriterium mit einem Teil der Literatur auf das aktive staatliche Schutzhandeln ausgerichtet wird, läuft es leer, weil das mit ungeeigneten Mitteln bewirkte Schutzniveau nicht zwingend gegen einen Mindestschutz verstoßen muß. Erst wenn feststeht, daß das verfassungsrechtlich gebotene Schutzniveau unterschritten ist, stellt sich das Erfordernis, den Schutz durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen.Damit bleibt aber die Frage der Geeignetheit der Mittel auch in Schutzrechtsfällen ausschließlich ein Kriterium des Übermaßverbotes, da ein zum Schutz ungeeignetes Mittel einen verfassungswidrigen staatlichen Eingriff in die Grundrechte des belasteten Störers darstellt. Ebenso bleibt eine Anknüpfung an die Eignung des staatlichen Unterlassens ohne Relevanz. Denn die Frage, ob ein Unterlassen des Staates geeignet ist, der Verwirklichung gegenläufiger Positionen und insbesondere der Förderung gegenläufiger Freiheitsrechte des Störers zu dienen, kann immer bejaht werden. Daran scheitert letztlich auch das Erforderlichkeits- bzw. Effizienzkriterium im Rahmen des staatlichen Unterlassens. Es erscheint nämlich nur in seltenen Ausnahmefällen so zu liegen, daß durch ein effizienteres Schutzhandeln des Staates weder kollidierende Abwehrrechte noch öffentliche Interessen nicht stärker beeinträchtigt werden.Es ist deshalb überzeugender, auf die beiden Prüfungsstufen beim Untermaßverbot zu verzichten. Zur Bestimmung des Mindeststandards kommt es deshalb allein auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn, also auf die eigentliche Abwägung an. 13. Als Anknüpfungspunkt für die Prüfung des Untermaßverbotes dienen die drei vom Verfassungsgericht herausgearbeiteten Kontrolldichten (Intensivierte inhaltliche Kontrolle, Vertretbarkeitskontrolle, Evidenzkontrolle) Diese bilden das Handeln bzw. Unterlassen des Gesetzgebers sowohl differenziert als auch „nahtlos“ ab. Das Spektrum reicht von einer intensiven Kontrolle über gut vertretbare bis zu gerade noch vertretbaren Entscheidungen; von nicht mehr vertretbaren bis hin zu evident fehlerhaften Entscheidungen des Gesetzgebers. Auf dieser Bandbreite liegt auch der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes. Aufgrund der Notwendigkeit
Zusammenfassende Thesen
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eines ausreichenden Gestaltungsspielraums der Politik sowie aufgrund der liberalen Ausrichtung der Grundrechte steht dabei fest, daß für das Untermaßverbot nur eine großzügige verfassungsgerichtliche Kontrolle in Frage kommt. Auf der andere Seite geht der ganz überwiegend praktizierte Maßstab des Verfassungsgerichts, der lediglich danach fragt, ob der Staat überhaupt nichts unternommen hat bzw. das Schutzniveau völlig unzulänglich ist, einen Schritt zu weit. Als eigener Prüfungsmaßstab wird deshalb vorgeschlagen, in den Fällen zu einer Unvertretbarkeitskontrolle überzugehen, in denen kein bestimmtes Mittel eingefordert, sondern nur die Feststellung begehrt wird, daß das Untermaßverbot verletzt ist.Das grundrechtliche Untermaßverbot ist demnach in aller Regel verletzt, wenn die Schutzbelange die Gründe für das staatliche Unterlassen erheblich überwiegen oder die vorgenommene Abwägung auf deutlich erkennbar fehlerhaften Annahmen und Prognosen beruht. 14. Bei dem vorgeschlagenen Prüfungsmaßstab handelt es sich um einen konstanten und nicht um einen gleitenden oder variablen Prüfungsmaßstab. Ausnahmen von diesem Maßstab sind nur insoweit zu machen, als konkret die Menschenwürde oder die Wesensgehaltsgarantie betroffen sind. Dagegen ist in allen übrigen Fällen, in denen von Grundrechts wegen ein intensiverer Schutz – vom Gesundheitsschutz bis hin zur Antidiskriminierung – verlangt wird, nur die gleichbleibend großzügige Kontrolle des Gesetzgebers einschlägig. Das ist eine Konsequenz des dauerhaft geringeren Gewährleistungsgehaltes des Untermaßverbotes. Entgegen einer beachtlichen Meinung im Schrifttum ist die Kontrolldichte nach dem hiesigen Vorschlag demnach bis zur Grenze von Art. 1 I und 19 II GG nicht von der Beeinträchtigung des zu schützenden Grundrechtsgutes abhängig. Die Annahme eines konstanten Prüfungsmaßstabes für das Untermaßverbot wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützt, das zwar im Regelfall einen bereichsspezifischen Prüfungsmaßstab anlegt, jedoch gerade nicht im Bereich der Schutzpflichten.Würde man die Forderungen nach einem einzelfallabhängigen Prüfungsmaßstab konsequent ernst nehmen, hieße das, letztlich ganz auf einen handhabbaren Prüfungsmaßstab für das Untermaßverbot zu verzichten. Da sich das Untermaßverbot nicht vergleichbar gut vorstrukturieren läßt wie das Übermaßverbot, ist es auf einen griffigen Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zwingend angewiesen. 15. Der Gewährleistungsgehalt des Untermaßverbotes bei Staatszielbestimmungen liegt noch einmal unter dem Schutzniveau des grundrechtlichen Untermaßverbotes. Es besteht weitgehend Einigkeit, daß eine verfassungswidrige Umsetzung einer Staatszielbestimmung nur in wenigen Ausnahmefällen angenommen werden kann. Gleiches gilt für Fälle, in denen ein ganz bestimmtes Schutzmittel eingefordert wird. Mit dem Bundesverfassungsgericht ist davon auszugehen, daß sich nur unter ganz besonderen Umständen die Schutzpflicht auf ein ganz bestimmtes Mittel verengen kann.
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Sachwortverzeichnis Abtreibungsentscheidungen des BverfG 18, 21, 74, 76 ff., 93, 119 Abtreibungsproblematik 75, 84, 85, 102, 133, 215, 228 Abwägungen 20, 44, 52 f.,76, 85, 88 f., 104, 112, 122, 130, 146, 156, 161 ff., 193 ff. Abwägungs– Bedürftigkeit 167 – Bereich 184 – Ergebnis 122, 167, 170, 188, 220, 221, 223 – Fähigkeit 165, 168, 227 – Feindlichkeit 167,169 – Formeln 214, 215, 217 – Gesetz 174, 180, 225 – Kontrolle 188 – Maß 182, 183 – Patt 178 – 183 – Verbot 166, 227 – Vorgang 124, 192 Angemessenheitsprüfung76, 78, 79, 80, 82, 87 – 89, 93, 94, 104, 112, 123, 124, 177, 189, 200, 204, 213, 215 – 217, 223 Anonyme Geburt 109 Antidiskriminierung 18, 37, 45, 111, 112, 220, 229 Arbeitskampf 108 Arbeitslohn 105 Arbeitslosengeld 119 Arbeitsrecht 25, 29, 79, 92, 100, 103 f. Arzthaftung 92 Ärztliche Schweigepflicht 96 Asymmetrie der Grundrechtsdimension 135, 142 ff. Ausstrahlungswirkung 25, 30, 31 Babyklappe 109 Bewachungsgewerbe 117 Beweislast 66, 127 Big-Brother-Sendung 110 Biomedizin 100 Bürgerversicherung 120
C-Waffen-Urteil 74 Datenschutz 108, 109 Deliktsrecht 116 Demokratieprinzip 56, 58, 71, 99, 152, 180, 182 – 185, 217 Deutsche Bahn 47 Deutsche Post 47 Deutsche Telekom 47 Dreiecksverhältnis 28, 41, 43, 44, 123, 142, 152, 192, 208 Drittschutz 114 Drittwirkung 24, 30 Duldungspflicht 33, 34, 143 Ehe- und Familie 28, 112 Eheverträge 96 Einschätzungsprärogative der Politik 19, 146, 150 Elterngeld 112 Erforderlichkeitsprüfung 29, 94, 123, 125 – 128, 174, 188 – 190, 205, 209, 210, 211 Ermessensreduzierung auf Null 49, 138, 230 Exekutive 48, 50 Existenzminimum 47, 119 Feinstaub 102 Finanzdienstleistungen 115 Fluglärm 73, 74, 102 Forschung 90, 92, 100 Frauenförderung 111 Freiheitsverteilung 34, 41, 43, 53, 54, 157, 215 Fusionskontrolle 116 Geeignetheitsprüfung 20, 74, 77, 83, 103, 114, 123, 126, 147, 174, 188, 189, 205 – 210, 224 Gefahrenabwehr 83, 229 Gefahrenschwelle 119 Gentechnologie 17, 154
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Sachwortverzeichnis
Gentherapie 100 Geschwindigkeitsbegrenzung 103 Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 20, 23, 50, 55 f., 60, 77, 80, 90, 101, 103, 112, 114, 118, 127, 129, 130, 141 ff., 161, 167, 170, 176, 180 ff., 206, 210, 213 f., 221 f. Gesundheitsschutz 49, 85, 100, 102, 103, 216, 229 Gewährleistungsgehalt – des Untermaßverbotes 44, 46, 48, 82, 99, 104, 111, 123, 125, 142, 145, 152, 156, 158, 161, 169 – 171, 189, 194, 197 – 200, 203, 217, 223 f. – der Wesensgehaltsgarantie 165 Gewaltenteilung 56, 69, 74, 78, 127, 129, 141, 180 Gewaltmonopol des Staates 31, 33, 34, 36, 144 Gleichheitssatz 45, 225 Grundrechtsbindung 30, 35, 104, 140, 158, Grundrechtsfunktion 30 – 32, 37, 43, 52, 56, 60, 69, 137, 145, 163 Grundrechtskollision 20, 37, 106, 175, 176, 183, 191 f. Grundrechtsschranken 33, 36, 64, 173, 197, 194 Grundversorgung 47 Handlungsnorm 140, 141, 156, 161, 193, 195, 196 Hartz-IV-Regelsätze 119 Hauptversammlung 110, 117 Informationelle Selbstbestimmung 87, 96, 108 Institutsgarantie 39 Judicial-self-restraint 75 Justitiabilität 19, 39, 60, 69, 139, 140, 146, 184, 193, 203, 204 Kernenergie 80 Kindergartenplätze 113 Kindergeld 119 Kleinbetriebe 92, 106 Klonen 100 Kongruenzthese 123 f., 192 Kontrolldichte
– Evidenzkontrolle 74, 81 – 83, 89 – 91, 94, 103, 114, 125, 130, 143, 196, 201, 204, 213, 214, 217, 222, 224, 230, 231 – Intensivierte inhaltliche Kontrolle 79, 213, 223 – Vertretbarkeitskontrolle 78, 82, 193, 201, 213, 223, 224 – Willkürkontrolle 107, 225 Kontrollnorm 140, 141, 161, 193, 195, 196 Kriminalitätsbekämpfung 17, 121, 122 Kündigungsschutz 92, 106 Ladenöffnungszeiten 118, Lebenspartnerschaftsgesetz 92 Lebensschutz 75, 82, 126, 133, 216 Leistungsrechte 37, 42, 43, 46, 143 Lüth-Entscheidung 17, 29 Meinungsfreiheit 110, 212, 226, Mindestschutz 71, 97, 108, 113 ff., 141, 165, 171, 202, 215, 225 Mobilfunkanlagen 90, 91, 102 Mutterschutz 113 Nachtarbeit 118 Naturgefahren 43, 48 Nebentätigkeit von Arbeitnehmern 107 Nichtraucherschutz/Passivrauchen 85, 91, 102, 184 Normenkontrolle – abstrakte 194 – konkrete 50 Online-Durchsuchung 229 Ozonbelastung 81, 102 Persönlichkeitsrecht 37, 74, 76, 87, 88, 94, 96, 98, 108 – 111, 172 Pönalisierungsgebot 120 Präimplantationsdiagnostik 100, 101 Praktische Konkordanz 22, 91, 104, 125, 191, 194, 195 Prämienzahlungen (Versicherungen) 61, 62, 88, 89 Pränatale Diagnostik 102 Pressefreiheit 37, 108, 172, 173 Prinzipientheorie 20, 170, 171, 174 – 177, 185, 186, 188, 181
Sachwortverzeichnis Privatautonomie 116 Privatrecht 21, 24, 25, 30, 38, 93, 114 Prognosen 79, 151, 154, 155, 201, 218, 219, 221 – 224, 227 Prüfungsmaßstab – bei der Überprüfung der Fachgerichte 93 – 95, 97 – des BverfG bei Schutzpflichten 73 – 75, 87 – 89, 93 – Funktion 20, 130, 156, 199 – für das Untermaßverbot 20, 21, 44, 60, 79 – 82, 119, 143, 156, 161, 200 ff. Raubkopien 115 Reale Freiheit 52 Rechtssicherheit 141, 149, 156, 214 Rechtsstaat 28 Rentenversicherung 119 Sachkundenachweis 117 Selbstregulierung 115 Sicherheit – als Grundrechtsverpflichtung 36 – als Staatsaufgabe 31, 32, 64, 136, 137 – als Tatbestandsmerkmal im Polizeirecht 49 – als Voraussetzung und Gefährdung von Freiheit 53, 54 – Innere Sicherheit 64, 120 – 122 – Luftsicherheit 121 Sozialrecht 119 Sozialstaatsprinzip 32, 36, 37, 42, 43, 45, 47, 54, 96, 116 Sperrabreden 107 Spielräume – Abwägungsspielräume 94, 178 – 184, 217 – Bewertungsspielräume 150 – 151 – Erkenntnisspielräume 177, 179 – 181, 183, 184, 188, 218 – 220 – Normative Spielräume 180, 219 – Prognosespielräume 127, 150, 152 – Strukturelle Spielräume 177, 178, 183
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Staatshaushalt 90, 91, 119, 205, 208, 212 Staatszielbestimmungen 46, 48, 103, 136, 231 Strafrecht 75, 77, 79, 83, 92, 101, 120 – 122, 148, 155 Strahlenschutz 92 Subjektives Recht 31, 60 f., 136, 164 Suizidgefahr 96 Tarifabschlüsse 105, 106 Tarifverträge 104, 105 Tatsachenermittlung 76, 119 Teilhaberecht 31 Terrorgefahr 18, 52, 121, 229 Tierschutz 47, 100, 102 Todesschuss, finaler 166 Umweltschutz 37, 47, 122, 157 Vaterschaftstests 61, 62, 87, 93 Verfahrensgarantie 31, 41, 175 Verfassungsbeschwerde 50, 60 – 62, 70, 74, 77, 81, 88, 194 Vergabeverfahren für öffentliche Aufträge 116, 117 Verhältnismäßigkeitsprinzip 20, 123, 124, 147, 161, 165 – 168, 170, 200 Verkehrslärm 62, 74 Verwaltungsrechtsprechung 49 Vorbehalt des Gesetzes 28, 175, 185 Vorsorgeuntersuchung von Kindern 113 Vorstandsvergütung 110 Waldorfschulen 113 Wesensgehaltsgarantie 20, 161 – 169, 173, 194, 225, 228, 229 Würdeschutz 28, 29, 32, 36, 110, 125, 161, 227 Zero-Tolerance 121