Das Streben nach Wissen: Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert [Reprint 2010 ed.] 9783110933956, 9783484630246

The form and function of popular encyclopedias went through very considerable changes in the 19th century. The study out

152 103 109MB

German Pages 378 [380] Year 2000

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Table of contents :
Prolog
Einleitung
1. Thema und Ziel der Untersuchung
2. Forschungsstand und Quellenlage
3. Vorgehensweise der Untersuchung
I. Die Programmatik der Lexika
1. Wissen und Wahrheit. Prinzipien der Artikelauswahl und der Ausrichtung von allgemeinen Enzyklopädien im 18. und 19-Jahrhundert
2. Aussagen über die Zielsetzungen der allgemeinen Enzyklopädien
3. Zusammenfassung: Allgemeine Enzyklopädien und die Bildungsdiskussion des 19-Jahrhunderts
II. Lexika als Produkte des literarischen Markts. Produktion und Rezeption allgemeiner Enzyklopädien
1. Die Selbstbeschreibung der Macher
2. Lexika auf dem literarischen Markt. Eine lesersoziologische Annäherung
III. Formen lexikographischen Schreibens. Linguistische und strukturalistische Analysen ausgewählter lexikonartikel
1. Methode und Auswahl der Quellen
2. Nationale Prototypen. Der Brockhaus und die Encyclopaedia Britannica im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
3. Der Vorbildcharakter der Prototypen
4. Zusammenfassung: Formen lexikographischen Schreibens
IV. Vier Fallstudien zu einer Funktionsgeschichte allgemeiner enzyklopädien im 19-jahrhundert
1. Erste Fallstudie. Lexika als Medien der Popularisierung von Wissenschaft
2. Zweite Fallstudie. Lexika als Medien der politischen Bildung. Die Reformära in Großbritannien und die Zeit des Vormärz und der Revolution von 1848 in Deutschland
3. Dritte Fallstudie. Lexika und Konversation
4. Vierte Fallstudie. Wie übersetzt man ein Lexikon? Ein Sonderfall lexikographischer Rezeption
V Zusammenfassung
1. Konstante gattungsspezifische Problemstellungen
2. Diachrone Veränderungen der Gattung der allgemeinen Enzyklopädie
3. Die prägende Bedeutung von Prototypen für die Gattungsgeschichte der allgemeinen Enzyklopädien
Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Lexikographische Werke
2. Ungedruckte Quellen
3. Bibliographien und Buchhandelskataloge
4. Nachschlagewerke
5. Periodika
6. Korrespondenzen und Lebenserinnerungen
7. Darstellungen
Anhang
1. Chronologie deutscher und britischer allgemeiner Enzyklopädien
2. Briefwechsel der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig mit dem Verlagshaus W. & R. Chambers in Edinburgh zwischen 1852 und 1860
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Das Streben nach Wissen: Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert [Reprint 2010 ed.]
 9783110933956, 9783484630246

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OMMUNICATI( ) Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck

Ulrike Spree

Das Streben nach Wissen Eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2000

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnähme Spree, Ulrike: Das Streben nach Wissen : eine vergleichende Gattungsgeschichte der populären Enzyklopädie in Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrhundert / Ulrike Spree. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Communicatio; Bd. 24) ISBN 3-484-63024-8

ISSN 0941-1704

Universität Bielefeld © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

l

EINLEITUNG

7

1. Thema und Ziel der Untersuchung 2. Forschungsstand und Quellenlage 3. Vorgehensweise der Untersuchung

7 12 19

I. DIE PROGRAMMATIK DER LEXIKA

23

1. Wissen und Wahrheit. Prinzipien der Artikelauswahl und der Ausrichtung von allgemeinen Enzyklopädien im 18. und 19. Jahrhundert 2. Aussagen über die Zielsetzungen der allgemeinen Enzyklopädien 3. Zusammenfassung: Allgemeine Enzyklopädien und die Bildungsdiskussion des 19- Jahrhunderts

24 55

II. LEXIKA ALS PRODUKTE DES LITERARISCHEN MARKTS. PRODUKTION UND REZEPTION ALLGEMEINER ENZYKLOPÄDIEN

71

89

1. Die Selbstbeschreibung der Macher 2. Lexika auf dem literarischen Markt. Eine lesersoziologische Annäherung

103

III. FORMEN LEXIKOGRAPHISCHEN SCHREIBENS. LINGUISTISCHE UND STRUKTURALISTISCHE ANALYSEN AUSGEWÄHLTER LEXIKONARTIKEL

149

1. Methode und Auswahl der Quellen 2. Nationale Prototypen. Der Brockhaus und die Encyclopaedia Britannica im letzten Drittel des 19- Jahrhunderts 3. Der Vorbildcharakter der Prototypen 4. Zusammenfassung: Formen lexikographischen Schreibens

89

149 155 180 191

VI

Inhaltsverzeichnis

IV. VIER FALLSTUDIEN zu EINER FUNKTIONSGESCHICHTE ALLGEMEINER ENZYKLOPÄDIEN IM 19- JAHRHUNDERT

201

1. Erste Fallstudie. Lexika als Medien der Popularisierung von Wissenschaft 2. Zweite Fallstudie. Lexika als Medien der politischen Bildung. Die Reformära in Großbritannien und die Zeit des Vormärz und der Revolution von 1848 in Deutschland 3. Dritte Fallstudie. Lexika und Konversation 4. Vierte Fallstudie. Wie übersetzt man ein Lexikon? Ein Sonderfall lexikographischer Rezeption

287

V. ZUSAMMENFASSUNG

311

1. Konstante gattungsspezifische Problemstellungen 2. Diachrone Veränderungen der Gattung der allgemeinen Enzyklopädie 3. Die prägende Bedeutung von Prototypen für die Gattungsgeschichte der allgemeinen Enzyklopädien

312

325

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

329

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

329 344 344 344 345 345 346

Lexikographische Werke Ungedruckte Quellen Bibliographien und Buchhandelskataloge Nachschlagewerke Periodika Korrespondenzen und Lebenserinnerungen Darstellungen

203

229 269

319

ANHANG

36l

1. Chronologie deutscher und britischer allgemeiner Enzyklopädien . 2. Briefwechsel der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig mit dem Verlagshaus W. & R. Chambers in Edinburgh zwischen 1852 und 1860

36l

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Prolog

Wir schreiben das Jahr 2021. Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett in London. Geisterstunde. Die Figuren versammeln sich zu ihrem nächtlichen Plauderstündchen. Ein Mitarbeiter der Encyclopaedia Britannica hatte am Nachmittag Madame Tussauds einen Besuch abgestattet, um für den Artikel »Waxworks« in der Jubiläumsausgabe der Britannica anläßlich ihres 250jährigen Bestehens zu recherchieren. Aus gegebenem Anlaß kommt das nächtliche Gespräch auf das Thema Enzyklopädien.1 Der Verleger William Chambers blickt von der Lektüre einer Nummer von »Chambers's Edinburgh Journal« auf und äußert in seinem bedächtigen Ton: »At from ten to twelve years of age we«, an dieser Stelle blickt er sich liebevoll zu seinem Bruder Robert um, der aus dem Zimmer der Geologen herübergeeilt ist, »had in a way digested much of the Encyclopaedia Britannica, and by this means alone we acquired a knowledge of physical sciences, not a word of which could have been learned at school. Useful as it proved, such a method of rushing on from book to book is certainly not to be recommended.«2 John Stuart Mill nickt zustimmend. Auch er habe einen Großteil seiner mathematischen Kenntnisse der Lektüre von Enzyklopädieartikeln zu verdanken; so habe er den Artikel »Geometry« in der Edinburgh Encyclopaedia durchgearbeitet und die Artikel »Conic sections« und »Fluxions« in der Encyclopaedia Britannica studiert.3 Aber ein angemessener Ersatz für eine schulische Ausbildung sei das freilich nicht. »Not because private individuals cannot effectually perform it, but because they will not!«, doziert er. »I have observed«, fügt Samuel Taylor Coleridge philisterhaft hinzu, »that great works are now a days bought — not for curiosity, or amor proprius — but under the notion that they contain all the knowledge, a man may ever want (and if he has it on his Shelf, why there it is, as snug as if it were in his Brain). This has carried off the Encyclopaedia, — and [...].« 1

2 3

Das nachfolgende Gespräch ist eine Collage aus Zitaten und von mir erfundenen Äußerungen. Bei den kursivgedruckten Passagen handelt es sich um Zitate, die im einzelnen nachgewiesen sind. William Chambers, Story of a long and busy Life, Edinburgh and London 1882, S. 12. John Stuart Mill, Autobiography and Literary Essays, in: Collected Works, hg. John M. Robson; Jack Stillinger, Bd. 1, Toronto 1981, S. 563. »will continue to do so.« Brief an Southey vom 7. 8. 1803, in: Earl Leslie Griggs

2

Prolog

Robert Chambers kann soviel Bildungsborniertheit nur schwer ertragen und fällt Coleridge ungeduldig ins Wort. Er erinnere sich noch gut an den Tag, als er die Bände der Britannica auf dem Dachboden gefunden habe. »It was a new world for me. I felt a profound thankfulness that such a convenient collection of human knowledge existed, and that here it was spread out like a wellplenished table before us. [,..] I plunged into it. I roamed through it like a bee. I hardly could be patient enough to read any one article, while so many others remained to be looked into. « 5 »Alles nur Halbbildung, entsetzliche Halbbildung,« empört sich Heinrich von Treitschke, der nur mit halbem Ohr zugehört hatte. Der Historiker erhebt sich erregt von seinem Gespräch mit Fürst Bismarck über die Bedingungen der Realpolitik und gesellt sich zu der Gruppe am Kamin. »Aber, aber meine Herren ..., und Damen,« fügt er, kaum sichtbar unter der Wachsschicht errötend, mit einem Seitenblick zu der kleinen Damengruppe am Nachbartisch, hinzu, »ich kann ihre Begeisterung nicht teilen. Nun gut, ihre Euphorie mag ja angesichts der ehrwürdigen Britannica noch gerechtfertigt sein, aber bedenken sie, wohin uns dieses Begehren nach Vielwisserei, jene massenhafte Eselsbriickenliteratur a la Brockhaus geführt hat. Schon Niebuhr beobachtete mit unverhohlenem Entsetzen die Wandlung, die sich in der Gesittung der Nation allmählich vorbereitete; er sah voraus, wie friedlos, leer und zerfahren, wie unselbständig in ihrem Denken die moderne Welt werden mußte, wenn der hohle Dünkel des Halb- und Vielwissens, das Verlangen nach immer wechselnden Eindrücken überhandnahm.« Schüchtern meldet sich die Schriftstellerin May Sinclair zu Wort. Schließlich berge eine Enzyklopädie doch einen ganzen Schatz von Wahrheiten. Freilich müsse man manchmal erst die Absichten der »encyclopaedia men« durchschauen, aber dann ... Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen sei, hätte ihr niemand in der streng katholischen Familie erklären wollen, was »Pantheism« bedeutet. Durch einen Zufall sei sie auf die verstaubten Bände der Britannica gestoßen. »You had been told one lie on top of another«, bricht es noch immer voller Empörung über die Lügen der Erwachsenen aus ihr heraus. »And all the time the truth was there, in the Encyclopaedia Britannica. Who would have thought that the Encyclopaedia could have been so exciting?«1 »Truth? A complete waste of time, I should say«, schaltet sich der Schriftsteller Edward Gosse in das Gespräch ein. Er könne aus eigener Erfahrung bestätigen, was für eine sinnlose Beschäftigung die Lektüre von Enzyklopädien sei. »When I was a child, a publication called >The Penny Cyclopaedia< became my

5 6 7

(hg.), Collected letters of Samuel Taylor Coleridge, Bd. 2, Oxford 1956-1971, S. 510. Robert Chambers, Memoir of Robert Chambers with autobiographic reminiscences of William Chambers, Edinburgh and London 1872, S. 61. Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 2. Teil, Leipzig 1927, S. 24. May Sinclair, Mary Olivier: A Life. With an new introduction by Jean Radford, London 1980 (Original 1919), S. 100.

Prolog

3

daily, and for a long time almost my sole study; [...] I sat there reading successive articles on such subjects as Parrots, Pathians, Passion-flowers, Passover and Pastry, without any invidous preferences, all information being equally welcome, and equally fugitive. That something of all this loose stream of knowledge clung to odd cells of the back of my brain seems to be shown by the fact that to this day, I occasionally find myself aware of some stray useless fact about peonies or pemmican or pepper, which I can only trace back to the >Penny Cydopaedia< of my infancy.«8 »Verehrtester Kollege«, meldet sich Theodor Fontäne zu Wort, nur ungern das Studium einer Karte der Mark Brandenburg unterbrechend, »versuchen Sie etwas mehr Nachsicht zu üben! Das Konversationslexikon hatte auch in meinem Bildungsgang eine bedeutende Stelle inne. Mein Vater, Apotheker in einer Kleinstadt, war ein überaus fleißiger Journal- und Zeitungsleser, und weil er sich nebenher angewöhnt hatte, wegen jedes ihm unklaren Punktes [...] im Konversationslexikon nachzuschlagen, so besaß er, auf gesellschaftliche Konversation hin angesehn, eine offenbare Überlegenheit über die meisten damals in kleinen Nestern sich vorfindenden Ärzte, Stadtrichter, Bürgermeister und Syndici.9 Einmal die Woche zitierte mich der Vater in seine Stube, wo er mich, in seinem Lehnstuhl sitzend, das Konversationslexikon in der Hand, zu biographischen, geographischen oder philosophischen Fragen examinierte. Die Erfahrungen des Kollegen Gosse kann ich ganz und gar nicht teilen, ich verdanke diesen Unterrichtsstunden wie den daran anknüpfenden Gesprächen eigentlich alles Beste, jedenfalls alles Brauchbarste, was ich weiß. Von dem, was mir mein Vater beizubringen verstand, ist mir nichts verlorengegangen und auch nichts unnütz für mich gewesen.«10 Vermittelnd mischt sich Harriett Martineau, Verfasserin zahlreicher populärer Schriften zur politischen Ökonomie, in die Debatte ein. Es sei doch unerheblich, ob man einen Teil der Früchte der lexikographischen Lektüre wieder vergesse, die Herren sollten doch auch einmal praktisch denken. Jedenfalls habe ihr die Penny Cyclopaedia immer gute Dienste bei den Recherchen für ihre Erzählungen geleistet.11 Das Wort >praktisch< bringt den aufgebrachten Samuel Coleridge erneut auf den Plan. »An encyclopaedia appears to me a worthless monster. What Surgeon, or Physician, professed Student of pure and mixed Mathematics, what Chemist, or Architect, would go to an Encyclopaedia for his books? If valuable Treatises exist on these subjects in an Encycl., they are out of their place — an equal hardship on the general Reader, who pays for volumes he cannot read, and on the professed Student of that particular Subject, who must buy a great work which he does not want in order to possess a valuable Treatise, which he might otherwise have had for six or seven Shillings.«12 8

Edward Gosse, Father and Son. A study of two temperaments, London 1907, S. 93. Theodor Fontäne, Meine Kinderiahre, München 1961, S. 11. 10 Ebd. " Vgl. [Harnet Martineau], Harriet Martineau's Autobiography, Bd. 2, London 31877, S. 15912 Ebd. 9

4

Prolog

Plötzlich tritt Karl Kraus, der bisher von den anderen unbemerkt dem Gespräch gelauscht hatte, kalkweiß und sich mit der einen Hand den Magen haltend, während er in der anderen mit spitzen Fingern ein Werbefaltblatt eines bekannten Lexikonverlags hält, hinter einer Säule hervor. Hilfesuchend wendet er sich an May Sinclair. »Wo wird die Mutter sein, die uns Erwachsenen die Stirn hält, wenn wir einmal die ganze Bildung von uns geben!« Das Faltblatt, auf dem steht, daß der kleine Brockhaus 1911, Preis jedes Bandes 12 M., soeben erschienen sei, entgleitet seiner Hand. »Wie nun noch aufhören, zu wissen? Hören Sie nur, was hier steht. Die Bildung besteht aus 2100 Textseiten, 80000 Stichwörtern, 168 Beilagen (besonders schwer verdaulich), 45000 Abbildungen, 128 Tafeln, 431 Land- und Situationskarten, der Preis ist niedrig für das unermessliche Kapital an Aufklärung, das der Erwerber gewinnt. Wie heißt es in dieser, dieser Drucksorte hier? Alle brauchen ihn, den Br..... Der Beamte in seinem Büro oder am Schalter, der Gelehrte zwischen seinen Büchern, der Kaufmann an seinem Pult, der strebsame Angestellte hinter dem Ladentisch und das Fräulein an der Schreibmaschine, der Lehrer unter den fragenden Schülern, der Landwirt, der die Zeitung liest [...]. Aber, meine Herrschaften, ich frage Sie, sind sie nicht alle ein- und derselbe? Verschmelzen sie nicht zwischen Büro und Zeitung zu dem einzigen Typus, der nachschlägt, weil er sich nicht verblüffen lassen will, und der verblüfft, weil er nachschlagen kann? Oh, wie schlecht ist mir von all dem ... Ich lasse mich nicht verblüffen, ich schlage nach. « 13 So gehen die Argumente noch eine Weile heftig hin und her - Karl Kraus hatte angesichts des lebhaften Streits auch wieder eine etwas gesundere Gesichtsfarbe angenommen -, bis der Einuhrschlag von Big Ben der Debatte ein plötzliches Ende bereitet. Die vorliegende Studie wurde 1995 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet und um einige Literaturangaben ergänzt. Die Idee zu dieser Arbeit entstand während meiner Beschäftigung mit begriffsgeschichtlichen Fragen im Rahmen eines Forschungsprojekts im Sonderforschungsbereich »Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums: Deutschland im internationalen Vergleich« an der Universität Bielefeld. Lexika sind für begriffsgeschichtliche Studien eine zentrale Quelle. Im Laufe des Quellenstudiums wuchs das Interesse, mehr über die Quellen selber und ihre Entstehungsbedingungen herauszufinden. Ahnlich wie die Werke, mit denen sich diese Arbeit befaßt, wäre dieses Buch nie ohne die Unterstützung zahlreicher Lehrerinnen und Lehrer, Kolleginnen und Kollegen und Freundinnen und Freunde entstanden. Ganz besonders danke ich meinen >Doktoreltern< Prof. Dr. 13

Karl Kraus, Der kleine Brockhaus, in: Karl Kraus, Magie der Sprache. Ein Lesebuch, hg. Heinrich Fischer, Frankfurt 1957, S. 133.

Prolog

5

Reinhart Koselleck und Prof. Dr. Gisela Bock. Beide haben mich ermutigt weiterzumachen, als es mir mit meiner Arbeit ebenso ging wie den Herausgebern vieler der bearbeiteten Lexika: die Bearbeitung zögerte sich immer länger hinaus. Ihnen verdanke ich es auch, daß der Arbeit das Schicksal vieler Lexika erspart blieb: nämlich daß sie nie vollendet wurden. Reinhart Koselleck hat meinen Blick für Fragen der historischen Semantik geschärft und mir geholfen, die Dissertation für den Druck in eine >lesbare< Form zu überführen. Gisela Bock hat mich dazu angeregt, die >Geschlechterperspektive< bei jeder historischen Fragestellung mitzuberücksichtigen. Mein ganz besonderer Dank gilt Bodo Kartelmeyer, meinem wissenschaftlichen Freund< Willibald Steinmetz, Axel Flügel, Beatrix Häusler, Verena Mund und Wolfgang Starke. Astrid Acheampong von der Stadtbücherei Hameln danke ich für ihre besondere Findigkeit bei der Beschaffung von Fernleihbestellungen. Stefan Jordan danke ich ganz herzlich für seine hervorragenden Strukturierungsvorschläge und das sorgfältige Korrekturlesen.

Einleitung

Uns stehen heute allgemeine Nachschlagewerke, die in alphabetischer Form zuverlässig über Fakten und Begriffe informieren, in großer Zahl zur Verfügung. Besonders von Deutschland und Großbritannien sind maßgebliche Impulse für die Entwicklung des allgemeinen Nachschlagewerks ausgegangen. Das deutsche Konversationslexikon bildete den Ausgangspunkt für die Entstehung verschiedener Typen populärer Enzyklopädien. Es entstand Ende des 18. Jahrhunderts aus zwei Wurzeln: der umfassenden Allgemeinenzyklopädie, wie sie mit Zedlers Universallexicon vorliegt, und den vor allem über biographische und geographische Daten knapp informierenden Zeitungslexika. Funktion und Form des allgemeinen Nachschlagewerks haben im 19. Jahrhundert erhebliche Veränderungen durchlaufen. Diese Studie zeichnet die Entstehung des allgemeinen Nachschlagewerks als eigenständige Gattung, seine Ausdifferenzierung in verschiedene Typen (Konversationslexikon, Populärenzyklopädie, Sachwörterbuch) sowie die einzelnen, häufig zeitverschobenen Stufen des Veränderungsprozesses der Gattung im deutsch-englischen Vergleich nach.

1. Thema und Ziel der Untersuchung Der Titel dieser Studie, »Das Streben nach Wissen«, ist einer von George Lillie Craik verfaßten Sammlung von Biographien entlehnt, die in den Jahren von 1830 bis 1831 von der »Society for the Diffusion of Useful Knowledge« unter dem Titel »The Pursuit of Knowledge Under Difficulties« herausgegeben wurde.1 Diese Worte wurden im 19. Jahrhundert zu einem Schlüsselbegriff in der Debatte über die Zwecke der »self-education«, der autodidaktischen Selbstbildung. Das >Streben nach Wissen< — wie die deutsche Übersetzung des Titels lauten muß — unterschied sich nach Ansicht Craiks von anderen Bestrebungen, etwa dem nach Reichtum oder Ruhm: Das >Streben nach Wissen< verlange weder Kapital noch Wettbewerb und es könne dabei nur Gewinner aber keine Verlierer geben.

1

George Lillie Craik, The Pursuit of Knowledge Under Difficulties, Bd. l, London 1830, S. 418.

8

Einleitung

Lexika und Enzyklopädien waren im 19. Jahrhundert - wie die im Prolog zitierten Stimmen illustrieren — ein wichtiges Medium, um das >Streben nach Wissen< gleichermaßen zu fördern und zu befriedigen. Die als Zufallsfunde hier vorgestellten Berichte über die Lexikonlektüre belegen anschaulich, daß Lexika auf ganz unterschiedliche Art rezipiert wurden. Deutlich lassen sich jedoch aus dieser Vielstimmigkeit zwei Grundhaltungen herauskristallisieren: Die einen wollten durch die Lexikonlektüre einen unspezifischen Wissensdurst stillen. Sie blätterten in einem Lexikon herum und lasen wahllos unterschiedliche Artikel, die alle gleichermaßen interessant schienen, da sie in jedem Fall irgend etwas Wissenswertes zu bieten hatten. Mit Karl Kraus kann man diese Leserinnen und Leser als solche beschreiben, die sich »verblüffen« lassen wollten. Bei der zweiten Gruppe handelt es sich mehr um Benutzerinnen und Benutzer als um Leserinnen und Leser. Sie schlugen in einem Lexikon nach, um ein bestimmtes Informationsdefizit zu beheben; hierbei konnte es sich um konkrete Fakten, eine praktische Information oder um spezifische, z.B. naturwissenschaftliche, Grundkenntnisse handeln. Tatsächlich waren in der Praxis die Übergänge vom einen Leseverhalten zum anderen fließend. Aus dem Benutzer eines Lexikons konnte ein Leser werden oder umgekehrt. Die Berichte über die Lexikonlektüre zeigen, daß sich die Lexika in einem Feld sich gegenseitig ausschließender Erwartungen behaupten mußten. Während die einen vom Lexikon Aufklärung, die Vermittlung von Wahrheit, erwarteten, vermuteten die anderen, daß Lexika nur substanzloses Halbwissen enthielten. Sie lehnten das Projekt der häppchenweisen Wissensverbreitung auch deshalb ab, weil sie überall dort Revolution und Aufruhr befürchteten, wo nicht nachvollziehbar war, wie das Publikum das neu erworbene, nur halbverstandene Wissen verwenden werde. Im 19-Jahrhundert können Lexika als Leitgattung für die Durchsetzung bestimmter Bildungsvorstellungen gelten. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Frage, wie Lexikographen im 19- Jahrhundert dem >Streben nach Wissen< begegneten. Ihre Intentionen bewegten sich zwischen der Vermittlung von Faktenwissen, der Vergewisserung über bestimmte Wertvorstellungen und der politischen Agitation. Lexika leisteten nicht nur einen Beitrag zur politischen Bildung, sondern hatten sich gleichzeitig die Vermittlung von detaillierten Spezialkenntnissen aus allen Wissenschaftsbereichen an ein breiteres Publikum zum Ziel gesetzt. Den Lexikographen wurden stets Zugeständnisse an ihren Wissenschaftlichkeitsanspruch einerseits und an das Streben nach einer Popularisierung der Wissensbestände andererseits abverlangt. Lexika und Enzyklopädien werden in ihrer Doppelrolle als Faktor und Indikator der Wissens- und Bildungsverbreitung im 19. Jahrhundert untersucht. >Wissen< steht in einem engen epistemologischen Zusammenhang zur >Wahrheitwahren Artikels< notwendig sind, noch in den Artikeln benannt? Der Rekurs auf Enzyklopädien und Lexika gehört zum Handwerkszeug der Historikerin oder des Historikers. Lexika bieten einen unschätzbaren Vorrat an historischem Quellenmaterial.2 Bei meiner Beschäftigung mit begriffsgeschichtlichen Fragestellungen habe ich mich der langen Reihe von Enzyklopädien und Lexika von Zedler bis Meyer bedient.3 Bei der Analyse der Artikelreihen zu unterschiedlichen Begriffen erhärtete sich angesichts erstaunlich vergleichbarer Argumentationsstrukturen der Verdacht, daß die zu beobachtenden inhaltlichen Veränderungen häufig vor allem der Reflex des gewandelten Verständnisses der Lexikographen von Zweck- und Zielsetzungen der literarischen Gattung waren. In dieser Untersuchung stehen die Lexika selber als wissenschaftliche, literarische, politische und wirtschaftliche Projekte im Mittelpunkt. Mein Interesse gilt nicht schwerpunktmäßig der Veränderung bestimmter Inhalte im Medium der Lexika, sondern ich möchte einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der bisher in der Literatur vernachlässigten Gattungsgeschichte allgemeiner Nachschlagewerke.

2

3

»Auf dieser Ebene [der Lexika und Enzyklopädien] hat sich das Wissen und Selbstverständnis der Generationen niedergeschlagen, erst der gelehrten, dann der gebildeten Welt, schließlich der publizistisch erfaßten Öffentlichkeit.« Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1972, Bd. l, S. XXV. Ulrike Spree, Die Rückbesinnung auf die mittelalterliche Stadt. Die Bedeutung der Stadt als Mittel der Identitätsfindung >mittlerer Schichten< in der deutschen, britischen und französischen Lexikographie des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, hg. Reinhart Koselleck und Klaus Schreiner, Stuttgart 1994, S. 309-374.

10

Einleitung

Der Zweiländervergleich erlaubt es, allgemeine Voraussetzungen der Lexikonproduktion im 19-Jahrhundert, nationale Sonderentwicklungen und wechselseitige Einflüsse herauszuarbeiten. Im Vergleich treten institutionelle Zwänge, die sich beispielsweise aus praktischen Notwendigkeiten der Buchproduktion ergeben, ebenso wie das Verhaftetsein der Lexikonproduzenten in den nationalen Bildungstraditionen klarer hervor. Deutschland und Großbritannien sind für solch eine vergleichende Untersuchung besonders geeignet, da beide Länder über eine lange und reiche Tradition in der Produktion allgemeiner Enzyklopädien verfügen. Die verschiedenen Auflagen von Brockbaus' Konversationslexikon und der Encyclopaedia Britannica übten im 19. Jahrhundert auf die europäische und außereuropäische Lexikonproduktion einen kaum zu überschätzenden Einfluß aus. Die beiden Unternehmungen gewannen für das Gebiet der Lexikonproduktion die Funktion von Prototypen. Gleichzeitig ist die Lexikonproduktion in diesen beiden Ländern durch eine Vielzahl reziproker Rezeptionsprozesse gekennzeichnet. Brockhaus' Konversationslexikon ist im Verlauf des 19. Jahrhunderts gleich zweimal ins Englische übertragen worden. Aus einer gattungsgeschichtlichen Perspektive läßt sich aus diesem Grund am deutsch-britischen Beispiel besonders gut das Wechselspiel zwischen nationalen Gemeinsamkeiten und Unterschieden verfolgen.4 In den meisten der vorliegenden Untersuchungen zur Geschichte der allgemeinen Lexika wird die Frage, inwieweit die Veränderungen der Lexikonartikel nur als Niederschlag allgemeiner - z.B. politischer oder sozialer - Veränderungen zu interpretieren sind, oder inwiefern die Lexika bestimmten Eigengesetzlichkeiten gehorchten, nicht trennscharf geklärt. Eine Gattungsgeschichte muß dieses Wechselverhältnis von allgemeinen historischen Entwicklungen und einer relativen Autonomie der Gattung thematisieren. Theoretisch läßt sich die Unterscheidung von Gattungen oder Textsorten5 beschreiben als »die Einteilung und Gruppierung literarischer Texte nach ihren Hauptmerkmalen«. Umstritten bleibt, welche Merkmale jeweils im einzelnen als gattungskonstituierend gekennzeichnet werden. Soll beispielsweise ein normativer oder ein deskriptiven Gattungsbegriff angelegt werden? Wie sind historische Wandlungen einer Gattung zu erfassen?

4

5 6

Der interkulturelle Transfer sowohl was die formale Gestaltung der Lexika angeht als auch die Inhalte, das vermittelte Wissen, reiht sich ein in eine Vielzahl gelungener und gescheiterter kultureller Transferleistungen zwischen Großbritannien und den deutschen Staaten. Vgl. zum Konzept des interkulturellen Transfers: Johannes Paulmann, Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien: Einführung in ein Forschungskonzept, in: Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien im 19. Jahrundert, hg. Rudolf Muhs; Johannes Paulmann und Willibald Steinmetz, Bodenheim 1998, S. 21—44. Walter Hinck (hg.), Textsortenlehre. Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, Einführung, S. V. Ebd.

l. Thema und Ziel der Untersuchung

11

Ich orientiere mich an der von Wilhelm Voßkamp geprägten Theorie der Gattungsgeschichte als »literarisch-sozialer Institutionengeschichte«.7 Als Aufgabe der Gattungsgeschichte formuliert Voßkamp, die Geschichte literarischer Gattungen als Folge eines Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens von dominanten Strukturen [zu] beschreiben, die durch besondere Merkmale geprägt sind.8

In seiner Theorie kommt dem Publikum eine zentrale Rolle zu: Eine Gattung konstituiert sich sozusagen erst wirklich in den Köpfen des Publikums. Charakteristisch für Prozesse der Institutionalisierung sei, daß der Konsens über bestimmte Merkmale hervorgehoben werde, Unterschiede hingegen vernachlässigt würden. Diesen Prozeß kann man auch als Entstehung von Prototypen beschreiben, die sich an bestimmten sprachlichen, thematischen oder formalen Kriterien festmachen lassen. Auf Seiten des Publikums werden auf diese Weise Kontinuitätserwartungen geweckt. Die Einführung von Prototypen in die Gattungsgeschichte bietet die Möglichkeit, einzelne, zu einem bestimmten Zeitpunkt gattungskonstituierende, Merkmale zu bestimmen. Die einer Gattung sowohl von Seiten der Produzenten als auch von Seiten der Rezipienten jeweils zugeordneten Funktionen lassen sich nicht unmittelbar aus den gattungskonstituierenden Merkmalen ableiten. Sie bleiben grundsätzlich unvorhersehbar. Wenn man diese theoretischen Vorannahmen teilt, folgt daraus für eine gattungsgeschichtliche Untersuchung, daß Funktionen nicht normativ festgelegt werden können, sondern erst durch eine genaue historische Analyse für den jeweiligen Einzelfall rekonstruiert werden müssen. Gattungen sind keine reinen »Zweckeinrichtungen«, sondern zeichnen sich auch dadurch aus, daß sie gewisse Eigengesetzlichkeiten entwickeln. Um die Prozesse der Institutionalisierung und Entinstitutionalisierung von Gattungen angemessen beschreiben zu können, ist es wichtig, die Erwartungen, Erfahrungen und Urteile des Publikums in die Analyse mit einzubeziehen. Wie stark waren diese Erwartungen bei Erscheinen eines neuen Werkes bereits durch normbildende Werke (Prototypen) geprägt, und inwieweit wichen die einzelnen Unternehmungen in ihren >Antworten< von diesen Erwartungen ab? Auf der Grundlage solcher Präzisierungen ist es möglich, die Frage nach den Funktionen der Gattung allgemeine Enzyklopädie< neu zu stellen. Man wird jetzt nicht mehr zu einer schlichten Widerspiegelungsthese greifen müssen, sondern kann differenzierter beantworten, inwiefern bestimmte Ausprägungen einer Gattung als Reaktionen auf konkrete literarische oder sozialgeschichtliche Entwicklungen aufzufassen sind.

7

8

Wilhelm Voßkamp, Gattungen als literarisch-soziale Institutionen, in: Hinck, Textsortenlehre, S. 29. Ebd., S. 30.

12

Einleitung

Aus diesen methodischen Überlegungen lassen sich für eine Gattungsgeschichte der allgemeinen Enzyklopädie folgende Aufgaben ableiten: - Sie muß erstens normbildende Werke auffinden und in ihrer Struktur beschreiben. — Zweitens hat sie die Erwartungen der Leser zu rekonstruieren. - Und drittens gilt es, die Funktionen der Gattung, die Frage, auf welche spezifischen Problemstellungen Lexika jeweils reagierten, zu bestimmen.

2. Forschungsstand und Quellenlage Eine vergleichende Untersuchung zur Gattungsgeschichte der allgemeinen Nachschlagewerke in Deutschland und Großbritannien im 19· Jahrhundert liegt noch nicht vor. Bei den bisher erschienenen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Lexikographie handelt es sich in der Regel um kommentierte Bibliographien, die in bibliothekarischem Interesse lediglich die Eckdaten der Publikationsgeschichte einzelner Werke darstellen.9 Robert Collison beispielsweise zeichnet die Entwicklung der Enzyklopädien von ihren Anfängen in der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert nach. Seine Analyse des >enzyklopädischen Denkens< konzentriert sich auf das 17. und 18. Jahrhundert. Mit dem 19- Jahrhundert beschäftigt sich kaum ein Fünftel seines Buchs. Da Collison zudem eine internationale Perspektive gewählt hat, gehen die Aussagen zu einzelnen Werken selten über den Umfang einer kommentierten Bibliographie hinaus.10 In der Literatur zur Verlags- und Buchhandelsgeschichte und zur historischen Leseforschung im 19. Jahrhundert wird von einigen Autoren die Bedeutung der allgemeinen Nachschlagewerke für die Entstehung eines Massenpublikums betont.11 In seiner Geschichte des deutschen Buchhandels konstatierte Johann Goldfriedrich 1913, daß das »Konversationslexikon« in der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts die Funktion einer Leitgattung für die populäre Literatur gehabt habe. Er prägt den Begriff der »konversationslexikalischen Bewegung« und stellt damit einen direkten Zusammenhang her zwischen der Verbreitung der Konversationslexika und der Entstehung eines Massenpubli-

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Ernst Herbert Lehmann, Geschichte des Konversationslexikons, Leipzig 1934; Robert Collison, Encyclopaedias. Their History throughout the Ages, London 1964. 10 Collison, Encyclopaedias. 1 ' Richard Altick, The English Common Reader. A social history of the mass reading public 1800-1900, Chicago 1957; Rolf Engelsing, Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft, Stuttgart 1973; Robert K. Webb, The British Working Class Reader 1709-1848. Literacy and social tension, London 1955.

2. Forschungsstand und Quellenlage

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kums. 12 Anknüpfungspunkte findet die vorliegende Arbeit in Monographien zu einzelnen Lexika. Zu den lexikographischen Werken der Verlage Brockhaus, Herder, Meyer sowie zur Encyclopaedia Britannica liegen materialreiche Studien vor.13 Bei diesen Veröffentlichungen handelt es sich häufig um Auftragsarbeiten anläßlich von Firmenjubiläen. Ihr Schwergewicht liegt darauf, eine Erfolgsgeschichte der jeweiligen Unternehmen zu schreiben. Vergleichende Überlegungen sind in dieser Art von Literatur relativ selten. Die britische Lexikographieforschung ist stark vom Interesse an dem Jahrhundertunternehmen der Encyclopaedia Britannica dominiert. 14 Kleinere lexikographische Werke mit populärerem Anspruch sind bisher kaum wissenschaftlich untersucht worden. Neben Untersuchungen einzelner lexikographischer Unternehmungen aus verlags- und buchgeschichtlicher Perspektive wurde in der Vergangenheit aus verschiedenen Richtungen Interesse an der systematischen Analyse von Lexikonartikeln gezeigt.15 In Deutschland entstand in den 1950er und 1960er Jahren eine Reihe von Studien zur Lexikographie im Rahmen der >Zeitgeistforschung< um Hans-Joachim Schoeps.16 Gemeinsame Prämisse der von Schoeps angeregten Arbeiten war die Annahme, daß sich die Gesinnung einer Epoche am zuverlässigsten aus den großen Universal-Enzyklopädien erschließen ließe, »weil sie nach Anlage und Bestimmung um denjenigen Grad von Objektivität bemüht gewesen sind, der von den jeweiligen Zeit- und Denkvoraussetzungen her erreichbar war«. Als Gemeinschaftsarbeiten guter Kenner böten, so Schoeps weiter, »diese Enzyklopädien eine gewisse Gewähr dafür, daß dem Leser allgemeine und für seine Zeit gültige Erkenntnisse dargeboten werden, daß er also nicht subjektiven Auffassungen zum Opfer fällt«. 17 Grundsätzliches Problem in dieser Tradition verfaßter Studien bleibt die genaue Bestimmung des Untersuchungsgegenstands.18 Insgesamt tendieren Untersuchungen dieser Art zu einer vereinfachten Widerspiegelungsthese. Die Lexikonartikel werden als direkte 12

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Johann Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 4, Leipzig 1913, S. 201. Johannes Hohlfeld, Das Bibliographische Institut. Festschrift zu seiner Jahrhundertfeier, Leipzig 1926; Arthur Hübscher, Hundertfünfzigjahre F. A. Brockhaus. 1805 — 1955, Wiesbaden 1955; Ein Jubiläum des Wissens. 175 Jahre F. A. Brockhaus, hg. Walter Killy, Thilo Koch und Richard Toellner, Wiesbaden 1980. Hermann Kogan, The Great EB, London 1958; Harvey Einbinder, The Myth of the Britannica, London 1964. So z.B. Horst Dreitzels Untersuchungen zum Zedler oder die Forschungsgruppe um Willi Goetschel zur Deutschen Encyklopädie. Hans-Joachim Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte. Über Theorie und Praxis der Zeitgeschichtsforschung, Frankfurt 21970 (1959). Schoeps schien zu diesem Zweck sogar die »Konstituierung einer geistesgeschichtlichen Hilfswissenschaft Lexikographie mit eigenen Forschungsinstituten« ratsam. Ebd., S. 69. Ebd., S. 68. Vgl. Die Zeitgebundenheit der Konversations-Lexika im 19. Jahrhundert; Stichproben, Anhang, in: Georg Meyer, Das Konversations-Lexikon, eine Sonderform der Enzyklopädie. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildungsverbreitung in Deutschland, Diss. Göttingen 1965, S. 135 — 183. Gudrun Mackh, Wandlungen in der gesellschaft-

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Abbilder des >Zeitgeists< betrachtet. Inwiefern die Lexika als Gattung ihrerseits prägend auf die politischen, sozialen oder kulturellen Entwicklungen zurückwirkten, gerät aus dem Blick. Vor allem lassen sich auf diese Weise allgemeine >Epocheneinschnitte< und gattungsgeschichtliche Besonderheiten der Lexika nicht mehr trennscharf auseinanderhalten.19 In den 1970er Jahren folgten einzelne Untersuchungen zu ausgewählten Themenbereichen. In Anlehnung an Jürgen Habermas' Thesen zum »Strukturwandel der Öffentlichkeit« bemühten sich die Autoren darum, am Beispiel der Lexika die Voraussetzungen politischer Aufklärung, die Möglichkeiten und Grenzen der Erziehung >mündiger Staatsbürger in Deutschland abzustecken.20 In diesem Kontext ist Utz Halterns aufschlußreiche Studie zur Rolle des Konversationslexikons in Deutschland zu nennen. Haltern beschäftigt sich mit der Frage der politischen Bildungsfunktion der Lexika. Auf der Grundlage eines Auflagenvergleichs der Artikel »Bürger«, »Staat« und »Gesellschaft« konstatiert und beklagt er den Verlust der »politischen Aufklärungsfunktion der lexikalischen Bewegung«. 21 Er vermag jedoch letztlich nicht befriedigend die Wandlungen des bürgerlichen Liberalismus< im 19. Jahrhundert, dessen Einfluß auf die Konversationslexika und die veränderten Rezeptionserwartungen des Publikums auseinanderzuhalten. So geht er beispielsweise Treitschkes polemisch vorgetragener Kritik nicht näher auf den Grund, daß die Lexika nichts anderes seien als die Förderer eines »blinden und zugleich bildungsstolzen Autoritätsglaubens«.22 Er überprüft nicht, ob Treitschkes kritische Haltung nicht dadurch zu erklären ist, daß sich die Artikel tatsächlich verändert haben, sondern deutet sie ausschließlich als Ausdruck des Unverständnisses der sozial und kulturell verfestigten Bildungselite gegenüber der neuen, sich rasch verändernden Berufs- und Leistungsgesellschaft. In der DDR entwickelte sich die historische und linguistische Lexikologie zu einem wichtigen Forschungszweig. Das primäre Interesse galt der Frage, inwiefern Lexika im Laufe ihrer Entwicklung zu Trägern progressiven oder reaktionären Gedankenguts wurden. Günter Gurst geht es in seiner Darstellung der Geschichte des Konversationslexikons darum, den Widerspruch herauszuarbeiten, daß die Gattung im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem leicht hand-

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lichen Stellung der Frau, abgelesen am Auflagenvergleich der Brockhaus Enzyklopädie und anderer Lexika, Diss. Nürnberg 1970. Allgemein zum Problem von Epochenabgrenzungen und literarischen Gattungen siehe: Wilhelm Voßkamp, Literarische Gattungen und literaturgeschichtliche Epochen, in: Literaturwissenschaftlicher Grundkurs 2, hg. Helmut Brackert und Jörn Stückrath, Reinbek 1981, S. 51-75. Utz Haltern, Politische Bildung und Bürgerlicher Liberalismus. Zur Rolle des Konversationslexikons in Deutschland, in: HZ, 223, 1976, S. 61-79. Haltern, Politische Bildung, S. 96 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 4, Leipzig 1889, S. 469.

2. Forschungsstand und Quellenlage

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habbaren Informationsmittel perfektioniert worden sei und sich gleichzeitig von einem »Faktor und Spiegel bürgerlichen Fortschritts in ein Werkzeug des gesellschaftlichen Rückschritts« 23 gewandelt habe. Die historische Forschung hat sich noch in einem anderen Zusammenhang mit Lexika beschäftigt. Synchrone und diachrone Reihen von Lexikonartikeln bilden eine wichtige Quellenbasis für begriffsgeschichtliche Untersuchungen. 24 Hier sind vor allem drei Unternehmungen zu nennen: das von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebene Wörterbuch Geschichtliche Grundbegriffe, das von Rolf Reichardt edierte Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820 und die Untersuchungen zum politischen Sprachgebrauch in Frankreich im 18. Jahrhundert der Equipe »ISieme et Revolution« am Institut National de la Langue Franchise.25 In Deutschland hat in den letzten Jahren die Kulturwissenschaft oder politische Kulturforschung ein besonderes Augenmerk auf die Lexikographie gelegt. Andreas Dörner konnte in seinen Untersuchungen zum deutschen und britischen Politikbegriff zeigen, wie aussagekräftig die systematische Analyse von Lexika - Dörner arbeitet vorrangig mit Sprachwörterbüchern - für die vergleichende politische Kulturforschung sein kann. 26 Die vorgestellten Ansätze beschäftigen sich bei aller Spannbreite in der Wahl der Fragestellungen und Methoden — von im engeren Sinne geistesgeschichtlichen Fragestellungen über kulturgeschichtliche bis hin zu linguistischen Untersuchungen — vor allem mit der Veränderung der Inhalte sowohl der einzelnen Artikel als auch ganzer Lexika. Besonders drei Inhaltsbereiche haben immer wieder das Interesse der lexikographischen Forschung gefunden. — Das ambivalente Verhältnis von Demokratisierung und Nationalisierung. Georg Meyer beispielsweise untersucht den Artikel »Preußen« in mehreren Auflagen des Brockhaus und des Meyer. Kennzeichnend für die Artikel sei die verkürzte historische Perspektive, mit der im 19. Jahrhundert die Geschichte Preußens von den Konversations-Lexika gesehen werde. Die Ver23

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Günter Gurst, Zur Geschichte des Konversationslexikons in Deutschland, in: Lexika gestern und heute, hg. Hans-Joachim Diesner und Günter Gurst, Leipzig 1976, S. 169. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. l, Stuttgart 1972, S. XXIV. Dictionnaire des usages socio-politiques 1770—1815, dirigee par Annie Geffroy, equipe »ISieme et Revolution«, St. Cloud 1989Während in den deutschen Lexika der Begriff >Politik< in engem Zusammenhang zu dem Begriff >Staat< sowie zu administrativen und überwachenden Tätigkeiten stehe, bezögen sich die britischen Einträge auf Aspekte des Regierens, »ruling or managing, the body of persons authorized to administer the laws, or govern a state« und des Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Andreas Dörner, Politische Lexik in deutschen und englischen Wörterbüchern. Metalexikographische Überlegungen und Analysen in kulturwissenschaftlicher Absicht, in: Gregor Meder (hg.), Worte, Wörter, Wörterbücher. Lexikographische Beiträge zum Essener Linguistischen Kolloquium 19831989, Tübingen 1991, S. 15.

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gangenheit werde dazu genutzt, die Politik der preußischen Regierung zu legitimieren.27 Meyer beobachtet in den Lexika nach 1871 die Tendenz, die Geschichte Preußens in der Deutschlands aufgehen zu lassen, behauptet aber gleichzeitig als zentrales Ergebnis seines Textvergleichs, daß »im letzten Drittel des 19- Jahrhunderts in den Konversationslexika die nüchterne, objektive Information, gemäß der gewandelten Aufgaben dieser Lexika« dominiere.28 Auch Utz Haltern und Günter Gurst beschreiben, wie die Lexika, die in den 1830er und 1840er Jahren demokratische Ideale vertreten hätten, immer stärker in nationalistisches Fahrwasser geraten seien. — Lexika und Enzyklopädien als Quellen der historischen Frauenforschung. Unter dem Einfluß feministischer Linguistik und der historischen Frauenforschung sind einige Untersuchungen entstanden, die aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive die Konstruktion von Weiblichkeit mit Hilfe der Lexika verfolgen.29 Lexikonartikel werden in diesem Zusammenhang vor allem in ihrer normbildenen Funktion untersucht. Karin Hausens für die historische Frauenforschung zentrale Thesen zur Polarisierung der Geschlechtscharaktere beruhen unter anderem auf einer Analyse der Brockhaus-A.tu\ze\ »Frau«. 30 Die über Frankreich hinaus einflußreiche Bedeutung der in der Encyclopedic formulierten Weiblichkeitsvorstellungen sind zum Gegenstand mehrerer Arbeiten geworden. Die verschiedenen Artikel, etwa Beiträge, die sich mit dem weiblichen Körper beschäftigen oder mit weiblichen Handwerken, ebenso wie Artikel zu philosophischen oder politischen Themen, liefern ein vielschichtiges Bild der widersprüchlichen Weiblichkeitsvorstellungen des 18. Jahrhunderts. 31 — Lexika und Enzyklopädien als Quellen der Wissenschaftsgeschichte. Im anglo-amerikanischen Bereich sind Lexika vor allem auf ihr Naturwissenschaftsverständnis hin befragt worden. Die meisten wissenschaftsgeschichtlich orientierten Untersuchungen ziehen Lexika in erster Linie als Quellen heran, um den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem neue wissenschaftliche Kenntnisse ins allgemeine Bewußtsein eingedrungen sind. Zu diesem Zweck werden Artikel zu einzelnen Themen mit den Ergebnissen der Wissenschaftsgeschichts27 28

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Vgl. Meyer, Das Konversations-Lexikon, S. 135. Ebd., S. 182. »Dictionary-bashing is currently enjoying something of a vogue, especially among feminists.« Jane Mills, Introduction, in: Womanwords. A vocabulary of culture and patriarchal society, London 1989, S. XIII; Ulrike Spree, Die verhinderte >Bürgerin