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German Pages 390 [392] Year 2003
Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert
Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert Herausgegeben von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10843-6 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch GmbH & Co. KG, Tübingen
Inhalt
Friedrich Vollhardt: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Zur Einführung in den Band
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Michael Titzmann: Die »Bildungs-«/Initiationsgeschichte der GoetheZeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche
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Manfred Engel: Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur - am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik
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Christian Begemann: Metaphysik und Empirie. Konkurrierende Naturkonzepte im Werk Adalbert Stifters
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Liliane Weissberg: Das starre Subjekt, das bewegliche Auge. Zur Geburt des »realistischen« Blicks
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Gerhart von Graevenitz: Wissen und Sehen. Anthropologie und Perspektivismus in der Zeitschriftenpresse des 19. Jahrhunderts und in realistischen Texten. Zu Stifters Bunten Steinen und Kellers Sinngedicht
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Eckhard Höfner: Wissenschaftsrezeption und Erzähler-Strategien im realistischen Roman des französischen und italienischen 19. Jahrhunderts
190
Ulrich Charpa: Emil Du Bois-Reymonds »Goethe und kein Ende«. Analyse einer Ablehnung
220
Katharina Grätz: Wissenschaft als Weltanschauung. Ernst Haeckels gelöste »Welträtsel« und ihr Text
240
Walter Erhart: Die Wissenschaft vom Geschlecht und die Literatur der decadence
256
Thomas Borgard: Robert Musils früher Beitrag zur Wissensgeschichte im Einflußbereich Lotzes und Rechners
285
Peter Matussek: Tod und Transzendenz im geistigen Raum. Das Gedächtnistheater des jungen Hofmannsthal
313
Horst Thome: Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp
338
Namenregister
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Friedrich Vollhardt
Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert Zur Einführung in den Band
Die Mehrzahl der in dem vorliegenden Band zusammengefaßten Untersuchungen sind aus den Beiträgen und Gesprächen zu einem Kolloquium hervorgegangen, das vom 4. bis 7. Oktober 1995 in Hamburg stattgefunden hat (Drittes Internationales Hamburger Kolloquium zu Problemem der Literaturinterpretation und Literaturgeschichtsschreibung: Wissen in Literatur). Die Gründe für die Verspätung, mit der die Ergebnisse nun veröffentlicht werden, können hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Die Verzögerung ergab sich nicht zuletzt aus dem Wunsch der Herausgeber, mit einer thematisch durchdachten und in sich geschlossenen Sammlung von Einzelstudien mehr als nur die Dokumentation einer Tagung vorzulegen. Die in Hamburg geführten Diskussionen erwiesen sich für die Konstellationen im Zeitraum von etwa 1830 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als besonders ertragreich in Hinsicht auf Reaktionen, die aus den Erfahrungen sich nachhaltig ausdifferenzierender Wissenschaftsdisziplinen für literarische, publizistische und populärwissenschaftliche Vermittlungen resultieren. In der Auswertung des Kolloquiums durch die Veranstalter wurde beschlossen, hier den Schwerpunkt für die geplante Publikation zu setzen, einzelne Vorträge in ihren Überarbeitungen in diesen Bereich zu führen und weitere Arbeiten einzuwerben. Unser Ziel war es, einen Band zur Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts vorzulegen, der trotz erheblicher Lücken - es fehlt etwa ein Beitrag zum Darwinismus - und der bei solchen Unternehmen kaum zu vermeidenden Divergenz in der historischen Fragestellung oder der methodischen Ausrichtung einzelner Beiträge ein konturenreiches Bild des Jahrhunderts liefert. Das Leitthema bedarf einer Erläuterung. Gemeint sind nicht die durch >Literatur< vermittelten und bewahrten Kommunikationen über kulturelle Gegebenheiten und Normen, die das Alltagshandeln anleiten oder dieses Verhalten reflektieren; gemeint ist vielmehr das in den Einzelwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert produzierte (oder dort abgewiesene) neue Wissen über die Natur und den Menschen, das sich mit dem tradierten Wissen mehr und mehr als inkompatibel erweist und eine Änderung der humanen und sozialen Selbstdeutungen bewirkt. Tritt die Literatur hier seit dem 19. Jahrhundert in eine »Deutungskonkurrenz« (Wolf Lepenies) zu den Leistungen des szientifischen Wissens? Aus dieser grundsätzlichen Frage ergibt sich ein ganzer Katalog von Detailproblemen:
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Friedrich Vollhardt
In welcher Weise läßt sich ein historischer Kontext als Bezugsfeld modellieren, wenn sich Traditionen stets in einer kaum überschaubaren Vielsträngigkeit mischen? Wie lassen sich Kenntnisse über den Entstehungskontext eines Textes systematisch gewinnen und in einer nicht-reduktiven Weise zur Deutung literarischer Zeugnisse - beispielsweise zur Bestimmung ihrer Semantik, dem Verständnis ihrer Bildlichkeit oder ihrer genrespezifischen Grundmuster - anwenden? Wie wird historisch relevantes Wissen in Texten >organisiertschöne Literatur< produziert und rezipiert wurde, stellen den rekonstruierenden Wissenschaftler vor Fragen, die in unterschiedlichen Epochen als unterschiedliche Probleme erscheinen, die sich jedoch in der gleichbleibenden Frage nach den Plausibilitätsgrundlagen der interpretatorischen Entscheidungen zu Text/Kontext-Verhältnissen treffen. Welche Antworten neuere theoretische Konzeptionen (Diskursanalyse, New Historicism, Mentalitätsgeschichte, Historische Semantik, Wissenssoziologie, Kulturwissenschaft, Intertextualität) auf diese allgemeine Fragestellung bereithalten, soll anhand der beispielhaften Analysen in diesem Band gezeigt werden. Es soll verfolgt werden, wie Literatur im 19. Jahrhundert auf den Wandel und die Ansprüche der Wissensproduktion in den Wissenschaften, auf die Herausbildung und die Institutionalisierung neuer Disziplinen reagiert. Für die genannten Fragestellungen eröffnen sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert Untersuchungsfelder, die in bestimmter Hinsicht ertragreicher und interessanter erscheinen können als vergleichbare Konstellationen im 19. Jahrhundert, wo die Formen der Bearbeitung, Funktionalisierung oder Verurteilung von wissenschaftlichem Wissen in Literatur oft mehr im Sinne einer impliziten, nicht thematischen Referenz zu beschreiben sind. Im Stadium der Ausdifferenzierung des Literatursystems erscheinen die Verhältnisse dagegen noch übersichtlicher, wie an einem Beispiel aus der Mitte des 18. Jahrhunderts kurz zu erläutern ist. Im Jahr 1754 veröffentlichte Johann Jakob Dusch eine zweite, stark überarbeitete Fassung seines großen Lehrgedichts Die Wissenschaften. Mit einem Umfang von - noch immer - einhundert Druckseiten hatte es nicht gerade an Übersichtlichkeit und Prägnanz des Ausdrucks gewonnen; das war jedoch nicht der Hauptgrund für die Unzufriedenheit des Autors. Als Dusch das Gedicht zehn
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Jahre später in seine Sämtlichen Poetischen Werke (Erster Theil 1765) aufnimmt, ist kaum ein Vers auf dem anderen geblieben. Eine poetologische Vorrede rechtfertigt die neuerliche Überarbeitung. Der Autor wird zu seinem »eigenen Kunstrichter«, der über die Schwierigkeiten berichtet, welche die Poesie mit den Wissenschaften hat, die nicht ohne Grund in der Mehrzahl auftreten: Die Anlage und Oekonomie des Gedichts überhaupt taugten nicht viel, und sind, aller Verbesserungen ungeachtet noch immer fehlerhaft. [...] Man wird umsonst nach einem durch das ganze Gedicht fortgeführten Faden suchen. Es ist nicht zu errathen, daß der Verfasser den Gedanken hatte: >Die Wissenschaften als Mittel zu betrachten, welche die göttliche Vorsehung wählte, den Verstand und das Herz der Menschen zur Glückseligkeit, und zur wahren Religion vorzubereiten^ Man wird nur sehen, daß er eine Wissenschaft nach der ändern erscheinen läßt; die eine länger, die andre kürzer aufhält, und ohne Verbindung bald hier, bald dort, eine Episode zwischen stellet. [...] Alle diese Dinge [...] haben nicht mehr Verbindung, als die Erscheinungen in einem Raritätenkasten, wo man siehet, und sich wundert, zu sehen: [...]. (S.XXXIf.)
Zwar finden sich gelehrte Anmerkungen, doch nur punktuell: Dusch vermittelt seinen Lesern keine Summe des >Wissens< aus den Einzeldisziplinen, die er zu charakterisieren versucht. Ein aus der Detailfülle herausgegriffenes Element wäre kaum geeignet, eine hinreichende Charakterisierung zu leisten, geschweige denn einen Zusammenhang zwischen den spezialisierten Fächern zu stiften. Wozu also das ganze Unternehmen? Obwohl eine >Verbindung< zwischen den Einzelwissenschaften nicht mehr erkennbar ist, läßt der Autor doch keinen Zweifel an der kulturbildenden Funktion der Wissenschaften insgesamt. Das Schwergewicht liegt auf den praktischen Disziplinen. In aufsteigender Linie stellt Dusch die Lehre vom Naturzustand, die Freien Künste, das Naturrecht (Gesetze der humanen Natur), die Naturlehre (Gesetze der physischen Natur) sowie die Politik und Staatslehre vor; den Schluß bildet die Lehre von der Religion als einer Wissenschaft unter anderen. Der in allen Bereichen zu verzeichnende Zuwachs an Erkenntnissen dient auch wenn ihr Zusammenspiel aufgrund der Unterschiede in der Konstitution des Wissens zunehmend undurchschaubar wird - der Verwirklichung des humanen Glücksverlangens. Das ist schon ein Preislied wert, wie Dusch in einer Anmerkung andeutet: Geschrieben wurde das Gedicht zu einem der jährlichen Einweihungsfeste der Georgia Augusta in Göttingen, einer >modernen< Universität, die sich auf die Expansion und Differenzierung der Wissenschaften einzustellen wußte. Von daher läßt sich auch die merkwürdige Entschuldigungsrede des Autors genauer verstehen. Wenn die Verbindung zwischen den Fächern durch keinen Universalentwurf gelehrten Wissens mehr herzustellen ist (und von den Reformuniversitäten, die dem Polyhistorismus eine Absage erteilten, auch gar nicht gewollt war) - warum soll dann ausgerechnet die Poesie eine solche Kompetenz beanspruchen? »Daß ich aber Gedichte geschrieben habe, ist freilich sehr zufällig«, so Dusch in der Vorrede von 1754, »in ändern Umständen könnte ich vielleicht ebenso eine neue Logik, Predigten, oder ein Rechenbuch
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Friedrich Vollhardt
geschrieben haben.« Das Geschäft des Dichters ist es eben nicht, wie Dusch ironisch zu verstehen gibt, in letzter Instanz eine Homogenität von Wissenschaft zu behaupten, wie sie in der - inzwischen ferngerückten - Epoche der protestantischen Schulmetaphysik bestanden haben mochte, in der ein Gelehrter noch ohne weiteres seinen Lehrstuhl wechseln konnte. >Wissen< konnte hier noch ganz selbstverständlich auch von der Poesie vermittelt werden. Trotz aller Betonung von Erfahrung, Experiment und Fortschrittsprogrammatik waren Künste und Wissenschaften in der Frühen Neuzeit auf Theologie zentriert, ihre Ausübung blieb mit der Forderung nach einer Übereinstimmung mit den christlichen Glaubensgrundsätzen verknüpft. Mit dem Schwinden ihrer philosophischen Voraussetzungen verlor jedoch auch die umfassende Kompetenz beanspruchende (und garantierende) Leitwissenschaft zunehmend an Anerkennung, die Gründe sind bekannt. In der Mitte des 18. Jahrhunderts bildet die Theologie - Dusch deutet es an - eine Wissenschaft unter anderen, >sattelzeitgerecht< erscheinen nun auch die ersten Studieneinführungen in die akademische Fachwissenschaft der Theologie, mit der die >vernünftige Gottesgelahrheit< auf der methodisch-technischen Seite den anderen Disziplinen gleichgestellt wird. Spezialisierung wird zum Signum der Wissensorganisation. Die Stichworte sind uns vertraut, nicht zuletzt aus der Literatur, die den Prozeß des wissenschaftlichen Umbruchs zu reflektieren versuchte; er wird von der Literaturwissenschaft in dieser Form nicht ungern nacherzählt, die so ihren Gegenstand nobilitiert: Gemeint ist die Klage über die Zersplitterung des Wissens oder die generelle Referenzlosigkeit wissenschaftlicher Aussagen, ihre Unanschaulichkeit, die Distanz erzeugt und die erwartete Sinnstiftung verweigert. Nichts davon bei Johann Jakob Dusch. Unser Untersuchungsfeld läßt sich wohl kaum durch einfache, möglichst geradlinige Erzählungen eines Entwicklungs- (oder Verfalls-)prozesses strukturieren, schon gar nicht an den entscheidenden Schnittstellen - die Phase um 1750 dürfte dazugehören -, die durch dichtere Materialanalysen erst noch weiter zu erhellen wären. Denn natürlich findet sich bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts die bekannte Fortschrittsklage über das unermeßlich gewordene Wissen, die Menge der Bücher und die Unmöglichkeit einer Universalwissenschaft. Und in der Poetik wird ingenium als Fachbegriff neu verstanden und zugleich zu einer Formel der Negation: Das Genie kann auf Gelehrsamkeit verzichten, was auch als Zurückweisung jener frühneuzeitlichen Auffassung von der Wissensaneignung und -Verarbeitung zu verstehen ist, der das ungebildete ingenium nur als Laster galt, welches der Kontrolle in Form der Einübung des vorliegenden Wissens bedarf -memoria und iudicium bilden das Gegengewicht und haben hier lange Zeit ihren systematischen Ort (Helmut Zedelmaier). Möglich wird diese Ablehnung jedoch erst mit der Etablierung der modernen Einzelwissenschaften, die ganz anders geartete Normen für die Erhebung und Speicherung des Wissens durchsetzen. Bereits das 18. Jahrhundert fordert daher literarische Strategien, die dem neuen Wissen von der kosmischen und humanen Natur zu entsprechen haben
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und zu einer adäquaten Darstellung verhelfen sollen. Gefordert wird dies ohne Inferioritätsbewußtsein, wie eine gern zitierte Stelle aus Georg Friedrich Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748, 2. Aufl. 1754) zeigt: Die physischen und mathematischen Wissenschaften. Man kan nicht genug sagen, wie prächtig, majestätisch und bewundernswürdig das Weltgebäude in unsern Augen wird, wenn man diese Wissenschaften versteht. Wie viel erhabene Beschreibungen, welche prächtige Bilder, was edler Stof zum schönen Denken kann nicht aus diesen Wissenschaften[,] hergenommen werden! Es ist eine Schande, daß wir noch keine neuen Homers haben, da doch die Naturlehrer und Mathematiker, so vielen und erstaunenswürdigen Vorrath, zu neuen erstaunlichen, kurz zu homerischen Gedanken, in den physischen und mathematischen Wissenschaften entdeckt haben (Bd.I, S. 550).
Läßt sich von dieser negativen Bilanz unmittelbar auf die >Antiquiertheit des Menschern im Angesicht der new science schließen, wie Heinz Schlaffer zu Recht fragt? Wohl nicht anhand dieser Textstelle: Der Hallenser Professor der Weltweisheit hat zweifellos noch das Bild einer universalen, nicht das einer literarisch transformierten Wissensvermittlung vor Augen; die literaturspezifische Form dieser Vermittlung hat bei Meier noch keinen Eigenwert, der die Geltungsansprüche dieses Wissens modifizieren oder in Frage stellen kann - im Sinne der gern beschworenen Defizite, die das neue szientifische Weltbild als poetische Leerstelle angeblich hinterlassen hat. Die in der physikotheologischen Tradition entwickelten Darstellungsformen dürften nicht allzulange - Einzelstudien hätten dies genauer zu prüfen - die gesuchte Allianz von Wissen und Wahrnehmung gestiftet haben; der Rekurs auf das Erhabene oder die Analogie konnte nicht auf Dauer die literarische Formensprache bestimmen. Bereits in ihrer Formationsphase gaben die modernen Wissenschaften weitere Anstöße für das Nachdenken über Wahrnehmungsund Empfindungsmuster, Sprache und Symbolbildung, Bedeutungsstiftung und -transport. Es entstehen konkurrierende Natur- und Darstellungskonzepte, die sich im Werk eines Autors in komplizierter Weise überlagern können. Und daneben entstehen jene literarischen Reaktionen auf den wissenschaftlichen Fortschritt, die zu bekannt sind, als daß sie eigens erläutert werden müßten: Die »Voraussetzungen der Symbolik von Goethes Alterslyrik« sind naturwissenschaftlich, weshalb die »Einheit von Naturwissenschaft und poetischer Aussage« bei Goethe - so lauten originale Aufsatztitel - nicht oft genug bedacht werden kann (der geheime Adressat ist unsere poesievergessene Grundlagenforschung). Wo seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Fokusverlagerung des wissenschaftlichen Blicks nicht mitvollzogen wird, kommt es zu Syntheseversuchen oder zur Renaissance alter semiotischer Naturauffassungen, Dichtung wird zum Vorbild der Wissenschaft oder einer neuen >mythischen< Verbindlichkeit erklärt. Daneben zeigen sich populärere Formen von Literatur fasziniert vom technisch Machbaren, wobei von einer Opposition gegenüber der Wissenschaft jedoch selbst bei Mary Shelley wenig zu spüren ist. Und schließlich entsteht im
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Friedrich Vollhardt
19. Jahrhundert ein riesiger Markt für die Popularisierung des wissenschaftlichen Wissens und damit neue Formen einer poetischen Durchdringung des Wissens, die auf die Literatur und die Wissenschaften selbst zurückwirken. Wenn nämlich gilt, daß ein Austausch zwischen verschiedenen Denksystemen und die gesuchte Anschaulichkeit nur diesseits der im 19. Jahrhundert errichteten Verständnisbarriere der mathematischen Fachsprache, also erst in jenem Bereich entstehen, den wir heute third culture nennen, dann zeigt sich hier die Bedeutung des literarisierten Wissens. Zu dessen Untersuchung möchte der vorliegende Band einen Beitrag leisten, auch in systematischer Hinsicht.
Michael Titzmann
Die »Bildungs-«/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche
Voraussetzungen und Fragestellungen Jede Kultur - und eine Epoche, hier die Goethe-Zeit, sei als Kultur aufgefaßt strukturiert die Lebenszeit ihrer Mitglieder, indem sie eine (begrenzte) Menge möglicher Modelle des Lebenslaufs entwirft: Sie unterscheidet sukzessive Phasen des Lebens, Altersklassen also, deren Einsatz und Ende als kollektiv-invariant oder als individuell-flexibel gedacht werden und die mit der Erwartung altersspezifischer Merkmale und Verhaltensweisen korreliert werden, wobei es für die Altersklasse Alternativen geben kann oder auch nicht, und sie unterscheidet mögliche soziale Zustände des Lebens, die an Altersklassen gebunden sind oder nicht, und deren Abfolge invariant geregelt ist oder die flexibel kombiniert werden können.1 Hier nun soll es um die Relationen zwischen literarischer und theoretischer Anthropologie der Goethe-Zeit, zwischen Literatur und kulturellem Wissen der Epoche am Beispiel jener (expliziten oder impliziten) Modelle des Lebenslaufs und des Altersklassensystems gehen, die die Literatur in der Initiations-/ Bildungsgeschichte und die Theorie in ihrem anthropologischen - biologischmedizinischen, juristischen, pädagogischen, philosophischen - Diskurs entworfen haben.2
1. Der »Bildungsroman« und seine Verwandten 1.1 Das Erzählmodell »Initiationsgeschichte« in der Goethe-Zeit Die Diskussion über den »Bildungsroman« und seine Abarten, über »Wilhelm Meister und seine Brüder«,3 die mit Morgensterns bedeutenden Beiträgen 1
Vgl. dazu Titzmann 1996. Als (sozial-, mentalitäts-, wissenschafts-)geschichtliche Arbeiten zu diesem Komplex vgl. etwa Aries 1948 und 1960, Borscheid 1987, Imhof 1981, Shorter 1977, Wernz 1993. 2 Zur theoretischen Terminologie - (allgemeines und gruppenspezifisches) »kulturelles Wissen« (von mir 1977 vorgeschlagener Begriff), »Diskurs« und Verwandte - vgl. Titzmann 1989 und 1991c und Richter/Schönert/Titzmann 1997. 3 So im Titel des wichtigen Buchs von Jacobs 1972.
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Michael Titzmann
schon in der Goethe-Zeit selbst einsetzt4 und in der Gegenwart noch nicht abgeschlossen ist,5 kann hier nicht referiert werden.6 Was wir traditionell »Bildungsroman« nennen und wofür Wielands Agathon der erste Vorläufer, Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre der modellbildende Text wäre, auf den jeder der hochrangigen Autoren der Epoche - z.B. Arnim, Brentano, Chamisso, Eichendorff, Fouque, Hoffmann, Jean Paul, Novalis, Tieck, der Autor der Nachtwachen usw. - mit modifizierenden und transformierenden Varianten des Modells reagiert, ist aber eindeutig nur eine Variante eines generelleren, in der goethezeitlichen Erzählliteratur dominanten Erzählmodells, für das ich 1984 den Begriff der Initiationsgeschichte vorgeschlagen habe7 und das sich sowohl in der hochbewerteten wie in der trivialen Erzählliteratur der Goethe-Zeit, sowohl in »mimetischen« wie in »phantastischen« Texten, sowohl in Romanen als auch in Erzählungen/»Novellen« findet und das zwar seinerseits »Verwandte« sowohl vor als auch nach der Goethe-Zeit hat, mit denen es durch (je verschiedene) Teilmengen seiner Merkmale verbunden ist, von denen es aber durch die Gesamtmenge dieser Merkmale eindeutig unterschieden werden kann; so ist ja auch der goethezeitliche »Bildungsroman« (als Variante der »Initiationsgeschichte«) von seinen Transformationen im 19. Jahrhundert - z.B. bei Mörike, Keller, Raabe, Stifter - eindeutig unterscheidbar. Zur »Initiationsgeschichte« der Goethe-Zeit würden nun auch außer dem »Bildungsroman« im engeren Sinne die »Geisterseher«- und »Geheimbundromane«,8 (mindestens) die (Mehrheit der) »Familien«-, »Ritter«-, »Räuber-Romane usw. gehören; dazu würden Goethes Werther oder Heinses Ardinghello, Schillers Der Geisterseher, Grosses Der Genius, Meyerns Dya-na-sore, Wezels 4
Morgenstern - dessen Relevanz Martini 1961 zurecht hervorgehoben hat - hat den Begriff »Bildungsroman« 1820 eingeführt und als das zentrale Erzählmodell der Goethe-Zeit erkannt; leider beginnt bei ihm aber auch schon die Unterschiede verwischende Ausweitung auf andere Epochen (Morgenstern 1824). 5 Verwiesen sei nur auf einige, voneinander unabhängige Versuche einer Neudefinition: Titzmann 1984, Laufhütte 1991, Engel 1993, die je unterschiedliche Aspekte akzentuieren. 6 Einen - nicht mehr ganz taufrischen - Forschungsstand repräsentieren Mahoney 1988 und Selbmann 1994. Jüngere Literaturgeschichten-z.B. Schulz 1983, Lepper/Steitz/Brenn 1983, Brenner 1996 - sind, welche Verdienste sie sonst auch haben mögen, eher enttäuschend, was das Konzept »Bildungsroman« oder gar dessen Verwandte betrifft. 7 Vgl. Titzmann 1984. Der Vorschlag hat sich inzwischen in einer Reihe von Arbeiten als fruchtbar erwiesen, sei es zur Herausarbeitung der Individualität einzelner Autoren bzw. Werke (Klinger: Müller 1992; Tieck: Hagestedt 1997), sei es zur Beschreibung des intraepochalen (Brandl 1995) oder interepochalen (Sottong 1992) Wandels dieses goethezeitlichen Erzählmodells. 8 So z.B. nach Schillers Geisterseher dessen Fortsetzer (Follenius 1796 und Morvell 1833); daneben Tschink 1790, Zschokke 1791, Wieland 1791, Kahlert 1792, Rambach 1793, Spieß 1798, Anonym 1800. Diese Literatur ist ausnehmend umfänglich: zu erwähnen wären etwa auch Romane von Arnold, Becker, Bornschein, Brancaglio, Czapek, Gleich, Kerndörffer, Reinecke, Schulze, Spindler u.a. Besonderes Interesse verdiente Jung-Stillings Das Heimweh (1794-96), dem er 1796 einen Schlüssel zum Heimweh hinzugefügt hat: ein Geheimbundroman und seine christianisierende Allegorese.
»Bildungs-«!Initiationsgeschichte und System der Altersklassen
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Hermann und Ulrike, Tiecks Abdullah oder William Lovell, Hoffmanns Die Elixiere des Teufels, Jean Pauls Titan, Hölderlins Hyperion, Eichendorffs Der Taugenichts, usw. oder auch Klingers philosophische Romane der 90er Jahre9 gehören. Das Modell »Initiationsgeschichte« ist nicht spezifisch für eine der literarischen Richtungen - besser: einen der Systemzustände, eines der Subsysteme des Literatursystems »Goethe-Zeit«, wie z.B. »Sturm und Drang«, »Klassik«, »Romantik«, sondern es konstituiert sich ab dem Beginn der Goethe-Zeit und wird in diesen Systemzuständen oder Subsystemen nur auf eine spezifische Weise variiert.10
1.2 Die »Initiationsgeschichte« als epochenspezifische Regelmenge Dieses in der Goethe-Zeit dominante Erzählmodell »Initiationsgeschichte« ist nun goethezeitspezifisch nur in der Gesamtheit seiner Merkmale; (je verschiedene) Teilmengen dieser Merkmale können sich auch in Erzähltexten anderer Epochen finden. Das Erzählmodell »Initiationsgeschichte« ist definierbar als Menge der für die nach diesem Modell funktionierenden Texte geltenden Regularitäten: narrative Regularitäten der Modi des Erzählens wie anthropologische Regularitäten der erzählten Welt. Ich liste sie zusammenfassend, aber nicht erschöpfend, auf, wobei ich vom modellbildenden Text Wilhelm Meisters Lehrjahre ausgehe, obwohl das Modell sich schon in früheren Texten seit dem Agathon (siehe die Beispiele oben) konstituiert hat. Ein solches epochales Erzählmodell kann natürlich nur von einem quantitativ wie qualitativ repräsentativen Korpus11 abstrahiert werden. Die literatur-und denkgeschichtlichen Voraussetzungen der Möglichkeit dieses Modells -z.B. die aus der Aufklärung resultierenden neuen Werte »Emanzipation«, »Autonomie«, »Individualität«, »Liebe«, »Entwicklung« - können hier nicht diskutiert werden: Das Erzählmodell selbst ist jedenfalls mit dem Denk- und Wissenssystem der Spätaufklärung korreliert, und die modellinternen sukzessiven Varianten oder Wandlungen sind zugleich Stellungnahmen zu den Problemen des Denksystems der (Spät-)Aufklärung. Aus der Menge der Regularitäten, durch die die »Initiationsgeschichte« definiert ist, seien hier festgehalten: 9 10
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Vgl. dazu Titzmann 1990a und Müller 1992. Genese und Transformationen des Modells innerhalb der Goethe-Zeit können hier natürlich nicht dargestellt werden, so nötig dies wäre, zumal auch für den »Bildungsroman« i.e.S. dessen Genese noch zu rekonstruieren wäre: er fällt nicht mit Agathon und Lehrjahren vom Himmel. Um diese Prozesse zu beschreiben, müßten freilich auch ernstlich die niederrangig als trivial eingestuften Autoren einbezogen werden, bei denen in der Goethe-Zeit häufig Strukturen entwickelt werden, die sich dann die hochbewerteten Initiationsgeschichten zu eigen machen. Am frühesten und vielleicht am intensivsten hat darauf M. Thalmann 1925 und 1970 hingewiesen; vgl. auch Beaujean 1969. Es umfaßt in meinem Falle ca. 350-400 Erzähltexte der Goethe-Zeit (von denen das Literaturverzeichnis natürlich nur einige wenige ausweist).
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Michael Titzmann
R 1: Was die Modalitäten des Erzählens anlangt, gilt: R 1.1: die auktoriale Erzählsituation, bei der in variablem Umfang eine kommentierende und evaluierende Erzählinstanz präsent ist: mehr z.B. im Agathon, weniger in den Lehrjahren; im Einzelfalle kann auch mit der Ich-Erzählsituation experimentiert werden (z.B. Grosses Genius oder Eichendorffs Taugenichts}; außer in der Form des (mono-/dialogischen) Briefromans (Werther, Lovelf) wirft sie aber ein Problem auf, da sie normalerweise, als retrospektive, erinnernde Situation die Kenntnis des Ausgangs voraussetzt, während die Initiationsgeschichte die Unkenntnis des Ergebnisses, die »Offenheit« der Entwicklung postuliert. R 1.2: die Fokalisierung auf einen Protagonisten, dessen Bewegungen im Raum die Erzählinstanz folgt und demgegenüber sie die Innenperspektive einnimmt, d.h. Informationen über seine psychische Situation geben kann, während sie Figuren gegenüber, auf denen nicht der Fokus liegt, die Außenperspektive einnimmt; gelegentlich-punktueller Fokuswechsel vom Protagonisten auf andere Figuren ist möglich. R 1.3: die Perspektive des Protagonisten: Der Text - und mit ihm der Leser nimmt die Welt und alle anderen Figuren aus der Perspektive des Protagonisten wahr, ausgenommen die normalerweise seltenen Fälle, wo sich die Textperspektive, repräsentiert durch eine auktoriale Erzählinstanz, distanzierend von der Protagonistenperspektive abkoppelt. R 1.4: ein chronologisches Erzählen, d.h. der Text erzählt Ereignisse in der von ihm präsupponierten chronologischen Reihenfolge. Daten aus einer Vergangenheit können am jeweiligen Zeitpunkt der erzählten Geschichte nicht durch Eingriffe eines auktorialen Erzählers, sondern nur durch die Erzählung der Figuren selbst nachgetragen werden. So erzählt Wilhelm Meister Mariane Kindheitsgeschichten, so werden ihm Geschichten anderer Figuren von diesen selbst oder von Dritten erzählt. Ebenso wenig gibt es Vorgriffe der Erzählinstanz auf eine dem Protagonisten noch unbekannte Zukunft (weshalb eben eine Ich-Erzählsituation problematisch ist). R 1.5: eine protagonistenzentrierte Informationsvergabe: Informationen über die Umwelt gibt der Text genau dann, wenn der Protagonist sie erfährt; und sofern sich nicht eine auktoriale Erzählinstanz punktuell vom Protagonisten distanziert, sind Informationsstand des Protagonisten und des Lesers identisch. Der Leser befindet sich weitgehend in derselben Situation wie der Protagonist: Bezogen auf den in der erzählten Welt je erreichten Zeitpunkt ist die zukünftige Entwicklung offen, und der Leser vollzieht mit dem Protagonisten denselben Lernprozeß - wie schon Morgenstern zu Recht sagte, ist der »Bildungsroman« ein Texttyp, in dem nicht nur die »Bildung« des Protagonisten, sondern auch die des Lesers Ziel ist, insofern beider Perspektiven und Informationsstände fast identisch werden. So unterschiedlich nun die dargestellten Welten beschaffen sein mögen, gelten doch in ihnen ebenfalls Regularitäten:
»Bildungs-«IInitiaüonsgeschichte und System der Altersklassen
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R 2: Für das Figurenensemble gilt: R 2.1: Es gibt einen - männlichen, jugendlichen - Protagonisten: z. B. Agathon, Werther, Wilhelm Meister, Schillers Prinzen, Lovell und Sternbald, Murr und Ofterdingen. Mit Abweichungen von dieser Regel kann experimentiert werden: (a) Besetzung der Protagonistenrolle durch eine weibliche, jugendliche Figur: Das Experiment ist selten, da entweder das Lebenslaufmodell der Initiationsgeschichte massive Verletzungen der normativ erwarteten Frauenrolle zur Folge hat oder bei Einhaltung dieser Normen seinerseits erheblich transformiert werden muß.12 (b) Besetzung der Protagonistenrolle durch zwei - z.B. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart - oder mehr - z.B. Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen männliche, jugendliche Figuren, wobei im Regelfalle, etwa über die Fokalisierung (= R 1.2), eine eindeutige Hierarchisierung in Haupt- und Nebenprotagonisten vorliegt.13 Solche Aufspaltung, interpretierbar als Symptom einer latenten oder manifesten Krise des Erzählmodells, ermöglicht es, wie etwa in Ahnung und Gegenwart, alternative Lebenslaufmodelle anzubieten. Interessante Abarten solcher Vervielfältigung der Protagonistenrolle bieten Fouques Zauberring oder Hoffmanns Kater Murr; als spezielle Variante könnten hier vielleicht auch die Doppelgängerfälle aufgelistet werden. R 2.2: Die dargestellte Welt ist egozentriert: sie kreist um den Protagonisten, d.h. andere Figuren werden nur eingeführt, wenn sie dem Protagonisten begegnen oder diesem durch eine Figur von ihnen erzählt wird. Andere Figuren werden relevant nur in dem Ausmaß, in dem sie relevant für den Lebenslauf des Protagonisten sind. R 2.3: Figuren, die an einem Punkt des Lebenslaufs des Protagonisten für diesen relevant waren, kehren in der dargestellten Welt wieder: sei es durch persönliche Wiederbegegnung, sei es durch Informationen über sie, die der Protagonist von anderen erhält. So trifft Agathon ganz selbstverständlich sowohl Psyche als auch Danae wieder; so begegnet Wilhelm Meister schließlich seiner Amazone persönlich wieder, über Mariane erhält er Informationen durch die Alte; in Ahnung und Gegenwart trifft Friedrich in den unwahrscheinlichsten Situationen immer wieder auf Romana. Das »unerwartete Zusammentreffen«, etwa auch in Tiecks Sternbald massiv praktiziert, kann in den Texten als (oft unwahrscheinlicher) Zufall oder als (von anderen geplantes) Arrangement ausgegeben werden, letzteres vor allem gern in den Texten, in denen eine Manipulatorenfunktion besetzt ist, die eine solche Wiederbegegnung organisiert (so die
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Beispiele wären etwa Heinses Hildegard von Hohenthal (1795), Wolzogens Agnes von Lilien (1798), Wentzels Angelika (1804). 11 Solche Aufspaltungen beginnen wohl bei Jean Paul mit Siebenkäs (1796/97; wiederaufgenommen im Titan, 1800-03) und Flegeljahren (1804/05).
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Michael Titzmann
Turmgesellschaft im Wilhelm Meister, der Geheimbund in Grosses Genius, der Armenier in Schillers Geisterseher, usw.). R 2.4: Nur in einer - für das Modell aber relevanten - Teilmenge der Texte, vor allem aber, wenn auch nicht nur (vgl. Wilhelm Meister) in den Geisterseherund Geheimbundromanen14 seit Schillers Geisterseher, Grosses Genius, Meyerns Dya-na-sore, gibt es eine Manipulatorenfunktion, die von einer oder mehreren Figuren besetzt sein kann: Magiergestalten oder Geheimbünde wie z.B. Goethes Turmgesellschaft usw. Für die Figur(enmenge), durch die eine solche Manipulatorenfunktion besetzt ist, gilt: R 2.4.1: Die Figur(engruppe) verbirgt ihre Identität vor dem Protagonisten (und damit dem Leser), die erst gegen Textende »enthüllt« wird. R 2.4.2: Die Figur(engruppe) beansprucht für sich gegenüber dem Protagonisten (1) ein überlegenes - im Extremfall okkultes - Wissen über den Protagonisten und über die Welt, und aufgrund dessen (2) eine Macht der Überwachung/Kontrolle des Protagonisten, wie sie etwa in Schillers Geisterseher oder Grosses Genius exemplarisch vorgeführt wird. R 2.4.3: Die Figur(engruppe) greift manipulativ durch ihre Repräsentanten in den Lebenslauf des Protagonisten ein (mit positiver Absicht z.B. im Wilhelm Meister, mit negativer z.B. im Geisterseher oder Sandmann). Für den Lebenslauf des Protagonisten im dargestellten Zeitraum gilt nun: R 3: Die Initiations-/Bildungsgeschichte ist durch Dreiphasigkeit charakterisiert. Gegeben sind: R 3.1: ein Ausgangszustand (Zeitraum T!), der einem Kindstatus sozial äquivalent ist; der Held ist ortsgebunden, in eine Sozialordnung integriert, von der er sozial und ökonomisch abhängt und die durch Eltern(äquivalente) - tatsächliche (z.B. Wilhelm Meister) oder scheinbare (z.B. Sternbald) Eltern oder Vormünder usw. - repräsentiert ist; dieser Zustand kann altersmäßig bis in die Jugendphase hineinreichen (so z.B. Wilhelm Meister). Der Ausgangszustand kann entweder nur präsupponiert werden, oder eingangs erzählt werden, oder später durch eingebettete Erzählungen nachgetragen werden (so etwa Agathon). R 3.2: der eigentlich erzählte Zeitraum (T2), den ich Transitionsphase zu nennen vorgeschlagen habe.15 Daß die Erzählung oft mit oder nach dem Eintritt in T2 einsetzt, zeigt, daß sie die relevante Phase ist, um deren Darstellung es geht; in Opposition sowohl zu T! als auch zu T3, die in dieser Hinsicht eher als statisch und ereignislos gedacht werden, wird T2 als dynamische Phase der »Entwicklung« im Leben des Individuums konzipiert. Diese Phase ist charakterisiert durch: R 3.2.1: Austritt des Protagonisten im Jünglingsstatus aus der Herkunftsordnung (soziale und familiäre Desintegration), markiert durch Verlassen des Her14
Was die zusätzlichen und typenspezifischen Regularitäten der Geisterseher- und Geheimbund-Romane anlangt, vgl. Titzmann 2000. 15 Titzmann 1984.
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kunftsraums durch eine Reise, die entweder von vornherein nicht funktionalzielorientiert ist oder unterwegs solche Zielorientierung verliert. Im Agathon verändert der Seeräuber-Überfall das Reiseziel, in Wilhelm Meister wird die elterlich intendierte zielorientierte Reise unterwegs umfunktioniert. R 3.2.2: In der Transitionsphase geht der Protagonist keine festen Bindungen ein: weder an Räume, in denen er sich immer nur zeitweilig aufhält, noch an soziale Gruppen oder Individuen. Die Transitionsphase ist ein quasi-experimenteller Zeitraum, in dem der Protagonist mit unterschiedlichen sozialen Gruppen und Lebensformen konfrontiert wird und seinerseits Lebens- und Verhaltensmodelle unverbindlich ausprobieren darf. Wenn Wilhelm Meister sich als Schauspieler einer Wandertruppe betätigt, wird er nicht nur in unterschiedliche Milieus versetzt, sondern kann ganz wörtlich unterschiedliche Rollen für sich ausprobieren. Zu den konstitutiven Elementen der Transitionsphase gehört (mindestens) eine erotische Beziehung, die der Held eingeht und die in der ersten Hälfte der Epoche auch eine nicht-ehelicher Sexualität sein darf (z.B. Agathon, Wilhelm Meister, Genius, Sternbald, Ardinghello), während in der zweiten Hälfte solche sexuellen Experimente ausgeschlossen und bei Zuwiderhandeln sanktioniert werden (z.B. Ahnung und Gegenwart). R 3.3: Ein Endzustand (T3), dessen zwei mögliche Varianten funktional vom Verlauf der Transitionsphase abhängen. Es hängt von den Reaktionen des Protagonisten auf die Verhaltensangebote der in der Transitionsphase durchlaufenen Umwelten ab, ob sein Initiationsprozeß erfolgreich oder nicht abgeschlossen wird: R 3.3.1: Scheitern des Initiationsprozesses·, in diesem Falle tritt ein »Selbstverlust« ein, der durch einen realen oder symbolischen Tod (z.B. Verfallen in Wahnsinn, Eintritt ins Kloster: sofern, wie im Regelfalle, die Texte nicht christlich sind; bei Eichendorff wird Klostereintritt in bewußt konservativer Reaktion ins Positive umgedeutet: Ahnung und Gegenwart) markiert wird. Solche Fälle des Scheiterns bieten etwa Werther, Der Geisterseher, Tiecks Der Runenberg, E.T. A. Hoffmanns Elixiere oder Der Sandmann, usw. R 3.3.2: Gelingen des Initiationsprozesses·. In diesem Falle tritt eine »Selbstfindung« ein, charakterisiert durch eine neue Ortsbindung und Reintegration in die Gesellschaft, durch als definitiv gedachte Entscheidung über Berufs- und Partnerwahl (was auch einen Verzicht auf eine Partnerin bedeuten kann: so Agathon oder Friedrich in Ahnung und Gegenwart). Der Jüngling verläßt definitiv die experimentelle Phase und erlangt den Mannstatus. Dieses Lebenslaufsschema des Protagonisten läßt sich durch weitere Regularitäten noch konkretisieren, von denen hier aber nur einige benannt werden können. R 4: Was den Prozeß, den der Protagonist durchläuft, anlangt, gilt: R 4.1: Die Transitionsphase gilt der Selbsterfahrung: Der Protagonist soll ein »Selbstbewußtsein« im goethezeitlichen Sinne erwerben, d.h. ein adäquates Bewußtsein seiner selbst.
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Michael Titzmann Wunderlich seltsam ist das Leben der Jugend, die sich selbst nicht kennt (Tieck 1798, S. 130).
Wie im Wilhelm Meister wird das Subjekt mit alternativen Lebensmöglichkeiten konfrontiert und hat herauszufinden, welche von diesen ihm »personadäquat« sind. Der Protagonist muß eine Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich ziehen und darf nicht in sich eine Grenze aufweisen, d.h. er soll eine »Einheit« als Person bilden. Dem entspricht umgekehrt, daß »Selbstverlust« gern als »Wahnsinn« erscheint, als psychotische, schizophrene Störung also, bei der entweder die Außengrenze der Person nicht gesichert ist oder in der Person selbst eine Spaltung verläuft. Beide Störungen erleidet etwa Nathanael im Sandmann. R 4.2: Der Initiationsprozeß ist somit immer auch einem Erkenntnisprozeß des Protagonisten - Erkenntnis seiner selbst in Funktion einer Erkenntnis der Umwelt - äquivalent, im positiven Falle einer zunehmend adäquateren Erkenntnis des Selbst und der Realität, im negativen Falle des Irrtums einer (Selbst-)Verführung zur »Schwärmerei«,16 die Wielands Agathon überwinden kann, der aber Schillers Prinz erliegt. R 4.3: Dieser Prozeß wird als »Entwicklung« - im goethezeitlichen Wortsinne also als allmähliche Realisation eines im Subjekt angelegten Potentials17 - oder als »Bildung«18 gedacht; die Implikationen dieser Konzepte müssen hier nicht wiederholt werden. Eingebettet in die religionsphilosophischen Konzepte der »Theodicee« und der »Bestimmung« (des Individuums wie der Gattung), wäre der Prozeß optimaler »Entfaltung« als (»gott«- oder »natur«-gewollte) Teleologie zu denken: Ein negativer Ausgang, ein Scheitern, muß somit mindestens partiell selbst verschuldet sein, d. h. es darf nicht auf »Verführung«, etwa durch Manipulatorenfunktionen, reduzierbar sein, sondern muß auch auf vermeidbarer Normverletzung durch das Subjekt selbst basieren. In Blanckenburgs scheinbar paradoxer Formulierung: Es geht darum, »zu werden, was man ist« (1774, S.X). R 4.4: Der Prozeß ist im positiven Falle einer Emanzipation zur Autonomie der Person äquivalent, im negativen Falle verfällt der Held einer Fremdsteuerung etwa durch Manipulatorenfiguren, also der Heteronomie. R 4.4.1: Dieser Ebene der explizit-manifesten Zielsetzung ist freilich eine Ebene der implizit-latenten Begrenzung von Selbstverwirklichung und Autonomie in den Texten konfrontiert:19 Diese latente Heteronomie garantiert, daß der 16
Zu diesem epochalen Konzept vgl. schon Meister 1775; siehe dazu auch Titzmann 1979. Vgl. Adelung 1793, Bd. l, Sp. 1841. 18 Das Lexem und seine Derivate finden sich vor Goethe 1795 stark rekurrent schon in Blanckenburg 1774 und Grosse 1791. Bei Salzmann 1776 ist (autonome) »Entwicklung« »Bestimmung« des Menschen, wobei schon »Entwicklung« des Individuums und der Gattung parallelisiert werden (S. 128f): der anfängliche Mensch ist, »obschon erwachsen«, »dennoch in Ansehung seines Geistes als Kind gebildet worden« (S. 132): »Der Mensch ist ein Thier, welches nicht gleich das ist, was es werden kann« (S. 127). 19 Die aus diesen einander widerstrebenden Faktoren resultierende Dynamik und ihre Folgen im systeminternen Wandel für das Erzählmodell hat wohl erstmals - intensiv und bis ins Detail der Formulierung hinein - Brandl 1995 rekonstruiert anhand der Lehrjahre, der Nachtwachen, der Prinzessin Brambilla und des Schlemihl. 17
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scheinbar individuelle Prozeß der Transition nicht die Grenzen des normativ Wünschenswerten überschreitet und daß das Subjekt - nach der befristet-vorläufigen Legitimation zur Verletzung (wenn auch nur) der (Sexual-)Normen in der Transitionsphase als außersozialem Zustand - nach und mit seiner sozialen Reintegration auch in die normative Ordnung zurückkehrt. R 4.4.2: Uneingestanden geht es um den optimalen Kompromiß zwischen explizitem Autonomiestreben und dessen impliziter Begrenzung durch Heteronomie, wobei dieser »Synthese«-Versuch je nach Textideologie verschieden ausfallen kann. Heinses Ardinghello legitimiert noch nach Abschluß der Transitionsphase ein Ausmaß selbstbestimmter sexueller Normverletzung, das Tiecks William Lovell schon während der Transitionsphase sanktioniert (weil es - im Gegensatz zur selbstgewählten Normverletzung des Sternbald - fremdbestimmt ist). Die komplizierte Relation zwischen Selbstbestimmung durch allmähliche, autonome Zielfindung des Protagonisten auf der einen, durch Fremdsteuerung und Eingriffe des Geheimbundes der Turmgesellschaft auf der anderen Seite in den Lehrjahren illustriert eine leidlich gelungene Kompromißbildung von Autonomie und Heteronomie; aber auch in diesem Text ist die problematische Relation zwischen Utopie der Selbstfindung und Selbstbestimmung und den auf fremdbestimmten Begrenzungen basierenden resignativen Komponenten erfahrener Autonomiegrenzen am Textende bekanntlich unübersehbar. R 4.4.3: Innerhalb ein und desselben Modells der »Initiationsgeschichte«, deren Programm ein zunächst dominant »aufklärerisches« - durch Erkenntnis zu Emanzipation und Autonomie - ist und in dem die Manipulatorenfiguren der Geisterseher- und Geheimbundromane die Bedrohung dieses Programms durch die Umwelt repräsentieren, wenn sie nicht so zurückhaltend agieren wie Goethes Turmgesellschaft, finden sich in der zweiten Hälfte der Goethe-Zeit bewußt konservative Gegenprogramme, die die gewünschte Autonomie des Protagonisten auf selbstgewählte Unterwerfung unter Heteronomie reduzieren, so etwa im Falle Eichendorffs (Das Marmorbild, Ahnung und Gegenwart, Dichter und ihre Gesellen) in der bewußten Unterwerfung unter einen christlichen »Vatergott«, die am Ende des Marmorbilds als die wahre Autonomie ausgegeben wird. R 5: Damit nun freilich die normativ vorgegebene positive Variante der Beendigung der Transitionsphase möglich wird, müssen bestimmte Bedingungen in der dargestellten Welt erfüllt sein: R 5.1: Optimale »Entwicklung«/»Bildung« ist - und darin sind die Texte sich ihrer utopischen, nicht für alle Individuen generalisierbaren Voraussetzungen bewußt - an Freiheit von ökonomischen Abhängigkeiten gebunden. Agathon wird zwar Sklave, aber als intellektuelles Versuchsobjekt seines Herrn (der sich damit als Manipulatorenfunktion erweist) von Arbeit freigesetzt; Wilhelm schauspielert bei ökonomischem Bedarf ein wenig; Sternbald findet sofort einen Klienten, dem er ein Bild malen darf, usw. Verpflichtung zu bürgerlicher Tätigkeit erscheint demnach als Hindernis für den Prozeß der Personwerdung:
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Sternbald lehnt empört mehrfach ökonomisch günstige Integrationsangebote ab. Texte wie Moritz' Anton Reiser oder Jungs Henrich Sailings Jugend stellen die Negativfolie zum utopischen Initiationsmodell dar, indem sie die Ver- oder Behinderung personaler Entwicklungen bei ökonomischer Bedürftigkeit vorführen. R 5.2: Fast noch wichtiger aber ist in den dargestellten Welten die Bedingung der radikalen Ablösung von der Herkunftsfamilie bei Eintritt in die Transitionsphase. Ob der Protagonist nun eine eindeutig identifizierbare Herkunftsfamilie hat (Lehrjahre), ob sich die Herkunftsfamilie als nur scheinbare erweist (Sternbald), ob eine Herkunftsfamilie zunächst überhaupt unbekannt ist (Agathon), ob die Herkunftsfamilie bei Erzähleinsatz noch lebt oder schon tot ist (Ahnung und Gegenwart): in jedem Falle muß der Protagonist sie räumlich wie emotional definitiv verlassen, wenn er in die Transition eintritt. Die Herkunftsfamilie repräsentiert die Heteronomie des nicht frei gewählten sozialen Kind-Zustandes: Sich von ihr ablösen, ist Bedingung für die Prozesse der Selbstfindung und Autonomisierung (auch in diesem Punkte natürlich eine utopische Komponente). Die Gefährlichkeit der Familie für die Entwicklung des Protagonisten wird in den Texten an Negativbeispielen illustriert: R 5.2.1: Bei unzulänglicher räumlicher und/oder emotionaler Ablösung von der Herkunftsfamilie kommt es zu den ungemein häufigen inzestuösen Situationen (vgl. z.B. Agathon, Lehrjahre} in dieser Erzählliteratur oder zu ihrem - seltenerem - negativen Korrelat, dem Verwandtenmord. Wiederum lassen sich Regeln dafür formulieren,20 unter welchen Bedingungen es zu inzestuösen Situationen kommt und wovon es abhängt, ob der Vollzug vermieden werden kann, der mit Selbstverlust sanktioniert wird. Ein relevanter Faktor der Genese solcher Situationen ist aber immer eine Normverletzung in der Elterngeneration, was nochmals deren Gefährlichkeit für die Kindergeneration betont. R 5.2.2: Je deutlicher in den Texten eine Manipulatorenfunktion gegeben und - im Gegensatz zum harmlos-pädagogischen Geheimbund der Lehrjahre - von ihr Macht und Verführung gegenüber dem Protagonisten ausgeübt wird, desto deutlicher wird die metaphorische Familialisierung der Funktionsträger. Ist es nur einer, wird dieser selbst, sind es mehrere, wird deren Oberhaupt deutlich zum Vateräquivalent. Das gilt nicht nur in der Geheimbundvariante, wo die Ranggleichen gern als »Brüder«, die »Oberen« gern als »Väter« metaphorisiert werden. Im Genius ist der zeitweilige Geheimbundchef zugleich Onkel des Protagonisten, in E.T. A. Hoffmanns Elixieren tritt ein spukender Urahn manipulativ auf, in seinem Sandmann sind Coppelius/Coppola und Spalanzani eindeutig Vater äquivalente. In Dya-na-sore erweist sich schließlich der scheinbar autonome Aufbruch der jugendlichen Protagonisten als ein von einem unbe-
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So in Titzmann 1991a.
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kannten Vater ferngesteuerter Prozeß.21 Wo immer Protagonisten dieser Literatur von Manipulatorenfunktionen verfolgt, überwacht, gesteuert werden, sind es Vateräquivalente. Und wo sie sich wie in Eichendorffs Marmorbild am Textende selbstgewählter Heteronomie unterwerfen, ist es eine solche des christlichen (?) Gottes als eines expliziten Vateräquivalents.22 R 5.3: Zu den konstitutiven Bedingungen eines erfolgreichen Initiationsprozesses gehört in der Goethe-Zeit die Begegnung mit Liebe im emphatischen Sinne, der emotionalisierten und individualisierten Beziehung zu einem als unaustauschbar gedachten, andersgeschlechtlichen Partner, wie sie von der Aufklärung erfunden und zur offiziellen Norm der Partnerwahl gemacht worden ist. Für die erotischen Begegnungen und die Partnerwahl in den Initiationsgeschichten ließe sich wiederum eine Menge von Regularitäten formulieren, von denen hier nur einige beispielshalber angedeutet seien: R 5.3.1: Für T! sind normalerweise keine erotischen Beziehungen des Protagonisten vorgesehen, da sie mit seinem Kindstatus kollidieren. R 5.3.2: Wenn in Tt dennoch Sexualkontakte des Protagonisten vorkommen, werden die Partnerinnen entweder getilgt (Lehrjahre) oder in T3 geheiratet (Wezels Hermann und Ulrike, Schulz' Moriz). R 5.3.3: In T2 hat der Protagonist, ausgenommen bei einer christlich-konservativen Autorenminorität in der zweiten Hälfte der Epoche, das Recht auf nicht-legalisierte Sexualbeziehungen (Agathon, Lehrjahre, Sternbald, Genius usw.). Auch ein ideologisch konservativer Autor wie Fouque kann das seinem Protagonisten ermöglichen, indem er den Sexualakt zu einer ersten, in der Folge getilgten, weil irrigen Ehe, die, insofern sie ein Irrtum war, noch T2 angehört, führen läßt (Alethes von Lindenstein). R 5.3.4: Die Partnerin, mit der der Protagonist in T2 Sexualkontakte hat, ist praktisch nie identisch mit der Partnerin, die er in T2 lieben lernt und in T3 heiratet (vgl. etwa Lehrjahre; eine Ausnahme bildet der Ardinghello, aber auch Schlegels Lucinde, wo beide Male die offizielle Sexualnorm mehr oder minder drastisch durchbrochen wird). Liebe in sexueller oder nichtsexueller Form ist konstitutiv für den Prozeß der Personwerdung: Immer wieder wird die geliebte/begehrte Frau, fast wie in mittelalterlicher Allegorie, zum Äquivalent der Welt:
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Meyern 1787, S. 921: »Ich sehe meinen Vater nicht wieder, aber ich weiß, ich gehe den Weg, dem er mich eignete, seit er in jener feierlichen Nacht am Altar der Gottheit mir erschien [...]. Terglud, du wirst deinen - unsern Vater einst sehen - wo der heilige See sich um die Erde des Bundes schlingt; dort fällt einst der Schleier [...].« 22 Die Verfolgerrolle kann in Texten, die extrem mit (sich als christlich gerierender) Sexualabwehr operieren, auch durch eine mythisierte und dämonisierte Frau, eine Quasi-»Zauberin« (vgl. dazu Frieß 1970) besetzt werden (so u.a. in Fouque 1813 und 1817, Eichendorff 1815): »Ich glaubte, ihr jetzt entkommen zu seyn, aber Du hörtest ja, was sie sagte: immer verfolgen will sie mich [...]. Verbannt bin ich durch diese schlimme Zauberin [...]« (Fouque 1817,8.180).
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Michael Titzmann ... er hat die Welt auf immer verlassen, weil er unglücklich geliebt hat. [...]. In seiner Geliebten ist ihm die ganze Welt abgestorben (Tieck 1798, S. 288).
An der Liebe zur Frau kann also repräsentativ die Relation von Ich und Welt eingeübt werden: Wilhelms teils selbstgewähltes, teils fremdbestimmtes Schwanken zwischen Therese und Natalie in den Lehrjahren exemplifiziert zugleich die problematische Relation von Autonomie und Heteronomie. Da Liebe zudem als Tendenz zu Grenzaufhebung und Verschmelzung in einer neuen Einheit semantisiert ist, illustriert sie zweitens auch das Problem des angemessenen Kompromisses von Grenzziehung des Ich zum Nicht-Ich und Offenheit des Ich zur Welt. Signifikant ist die meist implizite, manchmal explizite Opposition von (»Liebe« ~ »Jugend«) vs (»Ehe« ~ »Mannesalter«): Wo in der Liebe die Relation von Ich und Welt noch geregelt werden muß, wäre sie in der Ehe definitiv geregelt, in der folgerichtig emphatische Liebe nicht vorgesehen ist. R 6: Für den Durchgang des Protagonisten durch das dreigliedrige Raumzeitsystem der dargestellten Welt gilt: R 6.1: Der Lebenslauf des Protagonisten ist ganz wörtlich ein »Lebensweg«; die materiell-realen Wege, die zurückgelegt werden, repräsentieren zugleich zeichenhaft die metaphorischen - ideologisch-psychischen - Wege', die Texte - z.B. die Lehrjahre - bedienen sich denn gern auch einer Weg-Ziel-Metaphorik: Gib nur Acht, welchen Weg dich die Schöne noch führen wird, die dich auf so gewaltsame Weise angezogen hat und festhält. Sie ist selbst auf einem sehr guten Wege, versetzte Friedrich, auf dem Wege zur Heiligkeit. Es ist freilich ein Umweg [...] (Goethe 1795/96, S.566). Ist denn das Leben bloß wie eine Rennbahn, wo man sogleich schnell wieder umkehren muß, wenn man das äußerste Ende erreicht hat? Uns steht das Gute, das Vortreffliche nur wie ein festes unverrücktes Ziel da, von dem man sich ebenso schnell mit raschen Pferden wieder entfernen muß, als man es erreicht zu haben glaubt [...] (Goethe 1795/96, S.569f.).
R 6.1.1: Der Lebensweg ist charakterisiert durch die Verschiebung der Zieldefinition: Was beim Eintritt in die Transitionsphase (vorläufiges) Ziel des Protagonisten sein mochte, ist nicht identisch mit dem beim Austritt tatsächlich erreichten (definitiven) Ziel; der Weg zum anfänglichen Ziel führt zur Veränderung des Ziels »unterwegs«. Die Lehrjahre formulieren diese Regel: ... du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand (Goethe 1795/96, S. 610).
Wilhelm ersetzt das Ziel der Schauspielerei durch das der Bildung; Sternbald, der Maler werden will, wird Dichter werden. R 6.1.2: Das bedeutet, daß das definitive Ziel im Falle des Gelingens des Initiationsprozesses nie »direkt« erreicht wird, sondern immer nur über den (wörtlichen oder metaphorischen) »Umweg«, der aber nicht, wie im Falle des
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Scheiterns, ein »Irrweg« ist (wie dies z.B. in Tiecks Runenberg oder Hoffmanns Sandmann der Fall ist). Auch jene Frauen, mit denen der Held in T2 sexuelle Abenteuer hat und die er also nicht heiraten wird, sind Umwege im Sinne dieser Regel. Räumlich wie metaphorisch gelangen die Figuren häufig nicht dorthin, wohin sie ursprünglich wollen: Agathon wird von Seeräubern entführt und als Sklave verkauft; zur typischen Situation gehört es, daß man sich z.B. im Walde verirrt (z.B. Genius, Sternbald), woraufhin mit Sicherheit eine unerwartete Begegnung oder Wiederbegegnung eintritt. Wilhelm Meisters falsche Wegwahl, die zum Überfall der Schauspielertruppe durch die Räuber führt, ermöglicht zugleich die Begegnung mit der »Zielfrau« Natalie, zu deren Besitz er dann erst wiederum auf erotischen Umwegen (z.B. Therese) gelangen wird. In der Logik dieses Erzählmodells darf - wie in der aufklärerisch-idealistischen Geschichtsphilosophie - der »Umweg« nicht unfunktional sein:23 er muß also entweder als lebensaltersbedingte Notwendigkeit erscheinen (z.B. Florios Anfälligkeit für die Versuchung durch die Venus-Welt in Eichendorffs Marmorbild oder Agathons »Schwärmerei«) oder aber zu den Voraussetzungen der Erkenntnis bzw. Erreichung des definitiven Ziels gehören, da andernfalls die Postulate der Teleologie des Entwicklungsprozesses und einer Weltordnung im Sinne der Theodicee bedroht sind - genau damit spielt natürlich ein Text wie die Nachtwachen. Erst vom Ausgang her - Selbstfindung oder Selbstverlust - entscheidet sich in diesem Erzählmodell, ob ein »Weg« »Umweg« oder »Irrweg« war: Die definitive Interpretation eines Segments dieses Lebenswegs ist also erst a posteriori, vom Ende, von der Zukunft her, möglich, was bedeutet, daß nicht selten Reinterpretationen stattfinden müssen, in denen im nachhinein die ursprüngliche Interpretation korrigiert wird. R 6.2: Die Lebenswege der Protagonisten (und die Textstrukturen) sind in variablem Umfang durch Linearität oder Zirkularität charakterisiert, wobei erstere dem Konzept von »Fortschritt« (als linearer »Entwicklung«) und von »Emanzipation zur Autonomie«, letzere einer »Rückkehr« und (latenter oder manifester) »Heteronomie« äquivalent ist. Die oben zitierte Rennbahn-Metaphorik belegt, daß z.B. Wilhelm Meister Zirkularität als frustrierend - und somit Linearität als wünschenswert - empfindet. In Agathon und Lehrjahren dominiert zweifellos die Linearität (wenngleich es auch in diesen Texten Elemente zirkulärer Rückkehr gibt, etwa wenn Agathon den verlorenen Vater zeitweilig wiederfindet), während zumal in manchen Texten der Romantik Zirkularität dominiert (oder eine komplexe »Synthese« aus Linearität und Zirkularität versucht wird): Wo gehen wir denn hin? - Immer nach Hause (Novalis 1802, S. 373).
In Sternbald (bzw. den Plänen zur Fortsetzung) würde der Held am Textende räumlich an den Ausgangspunkt zurückkehren, er würde seine (unbekannte) Herkunftsfamilie (Bruder und Vater) finden, er erhält schließlich jene Frau, seiVgl. Titzmann 1984.
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ne zeitweilig verlorene, zeitweilig wiedergefundene Kindergeliebte; auch die Situierung der dargestellten Welt in einer Vergangenheit - der Renaissance - ist eine »Rückkehr«, so wie die Renaissance ihrerseits schon eine solche - zur Antike - ist. Wo aber z.B. bei Eichendorff am Ende der Transitionsphase eine ideologische Rückkehr in die Heteronomie des Christentums stattfindet (z.B. Marmorbild, Ahnung und Gegenwart), ist der Sternbald, in den ausgeführten Teilen eher auf lineare Progression - Entfernung von anfänglicher »empfindsamer Christlichkeit« - angelegt. In Hoffmanns Murr spielt dann der Protagonist Kreisler selbst mit seinem Namen: jemand, dem Linearität versagt ist. Zirkularität kann mit Linearität vereinbart werden, indem der dritte definitive Zustand den ersten anfänglichen nicht einfach wiederholt, sondern - wie in Schillers oder Klingers Geschichtsphilosophie - nur transformiert und auf »höherem« Niveau rekonstituiert. R 7: Dargestellte Welten (und somit auch Lebensläufe der Protagonisten) sind durch eine Struktur charakterisiert, die »geheime Ordnung der Welt« genannt werden kann und zu der auch die erwähnte implizite Teleologie und Theodicee dieser Textwelten gehört, ebenso wie die Egozentriertheit der dargestellten Welt (R 2.2), bei der alle Figuren um den Protagonisten »kreisen« (= Zirkularität, R 6.2); auch die Funktionalität der »Umwege« sei nochmals erwähnt. Am Textende erweist sich regelmäßig geradezu ein unwahrscheinliches Übermaß an Ordnung in der dargestellten Welt, das sich z.B. eben auch darin manifestiert, daß keine dem Protagonisten relevante Figur »verlorengeht«; er begegnet ihr wieder oder erhält Informationen über sie (R 2.3). Einige solcher Strukturen seien hier zusätzlich aufgelistet: R 7.1: Welche Klassen von Figuren und welche (positiven oder negativen) Werte (z.B. Liebe) dem Helden begegnen und wann - an welcher Stelle des Textes bzw. des Lebensweges - sie ihm begegnen, ist, sofern diese Begegnung für den Protagonisten relevant ist, nicht »zufällig«. R 7.1.1: Wenn der Protagonist eine Größe X (eine Figur, einen Wert) »sucht«, dann wird er sie nicht »finden«; wenn der Protagonist eine Größe X »findet«, dann hat er sie nicht »gesucht« (vgl. oben das Zitat aus dem Schluß der Lehrjahre: Das Gesuchte und das Gefundene sind nicht identisch). Was man findet, begegnet immer »unerwartet«, wenn man nicht damit rechnet, so etwa verlorene Geliebte (wie Agathon Psyche, wie Wilhelm Natalie; Sternbald findet Marie erst wieder, wenn er sie tot glaubt). Besonders die Manipulatorenfunktion illustriert dieses Prinzip: Magiergestalten (der Armenier im Geisterseher), Geheimbünde (wie im Genius) sind unauffindbar für die Protagonisten, sobald sie sie suchen: nur unerwartet manifestieren sie sich. Die Weltordnung gehorcht einem Plan, der nicht mit dem bewußten Willen des Protagonisten identisch ist: sie ist für ihn nicht beherrschbar; Wilhelm Meister macht bekanntlich die resignativen Kommentare dazu. R 7.1.2: Die Texte spielen mit einer Korrelation von realem Außenraum und psychischem Innenraum des Protagonisten: Eine Größe X begegnet dem Hei-
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den in der Außenwelt, wenn er in seinem psychischen Entwicklungsprozeß dafür »reif« ist: wenn er im positiven oder negativen Sinne dafür »anfällig« ist, wenn der realen Größe X eine psychische Größe X' entspricht. Besonders deutlich wird das in den phantastischen Initiationsgeschichten: Als Wunderbares außerhalb seiner begegnet dem Helden nur, was einem Psychischen innerhalb seiner entspricht (vgl. Tiecks Runenberg, Hoffmanns Bergwerke zu Falun, Eichendorf fs Marmorbild). Alles, was dem Protagonisten »zu früh« begegnet, wird ihm, von der geheimen Weltordnung oder, wenn vorhanden, von einer Manipulatorenfunktion, zunächst wieder entzogen. Wenn er z.B. in der Transitionsphase vor Abschluß seiner »Entwicklung« die definitive Geliebte »gefunden« hat, wird er sie zunächst wieder verlieren (Lehrjahre, Sternbald, Ofterdingen). R 7.2: Im narrativen Ablauf der Initiationsgeschichten vollzieht sich ein Prozeß zunehmender Identifizierung und Korrelierung von Elementen, der zwei Komponenten hat. R 7.2.1: Im narrativen Ablauf wird die Beziehungsdichte zwischen den Elementen der Welt gesteigert: Aus einem Minimum an Relationen zu Textanfang ist am Textende ein Maximum geworden. So werden gewissermaßen möglichst viele - anfangs nicht korrelierte - Figuren in freundschaftliche (oder auch feindselige), erotische, usw. Beziehungen gesetzt; in Lehrjahren wie Sternbald vergrößert sich unaufhaltsam das Netz der Beziehungen der Figuren untereinander. R 7.2.2: Im narrativen Ablauf findet eine Aufdeckung verborgener Ordnung statt: Ursprünglich unbekannte Identitäten von Figuren und ursprünglich unbekannte Relationen von Figuren (z.B. unbekannte familiäre Beziehungen) werden entdeckt. Wilhelm Meister etwa lernt sukzessiv Friedrich, Lothario, die Gräfin, Natalie, unabhängig voneinander, kennen und erfährt erst im Verlauf ihre Verwandtschaft; in verschiedenen Situationen präsentieren sich ihm einzelne Mitglieder der Turmgesellschaft, deren Bund er erst spät erfährt. Scheinbar »Ungeordnetes« erweist sich als bloß zunächst noch unerkannte Ordnung. R 7.3: Die dargestellte Welt präsentiert sich also in variablem Umfang als »Rätsel«, das zu lösen, bzw. als »Geheimnis«, das aufzuklären ist. Die »Wahrheit« ist immer schon »da«, aber eben verborgen: Dem entspricht die epochentypische optische Erkenntnismetaphorik des »Aufdeckens« und »Enthüllens«, des »Aufklärens« durch Er- und Beleuchtung, des »Aufschließens« verborgener Räume.24 R 7.4: Zur verborgenen Ordnung der Welt gehört die merkwürdige Korrelation von mentaler und/oder semiotischer Repräsentation einer Größe X und der Realexistenz dieser Größe X. Dieser Punkt sei hier nur anhand von Beispielen angedeutet. Vorgestelltes oder ikonisch Repräsentiertes wird sich auch in der Realität finden: In einer Binnenerzählung des Sternbald verliebt sich deren Held in das Gemälde einer unbekannten Frau, der er selbstverständlich binnen 24
Vgl. Titzmann 1984.
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kurzem in der Realität begegnet. Zur Realität gibt es ihre semiotische Repräsentation: Wilhelm Meister findet im Archiv der Turmgesellschaft seine Biographie. Oder die Realität vollzieht die semiotische Repräsentation nach: Ofterdingen findet das Buch, in dem sein Leben »vorgebildet« ist.25 Auch das rekurrente fast etymologische Wörtlichnehmen des sprachlichen Ausdrucks gehört hierher: Wilhelm Meister, der sich ganz als »Person« ausbilden will, muß das Schauspielertum (persona = die Maske des Schauspielers) durchlaufen; im Sandmann werden unentwegt sprachliche Redensarten wörtlich auf der Handlungsebene realisiert (z.B.: »ein Auge auf jemanden werfen«). Zu vielen weiteren Strukturen dieses Erzählmodells - z.B. zu den Konzeptionen der Person, ihrer Identität, ihrer Psyche, zu den Entwicklungsprozessen des Protagonisten, zum Verlauf erotischer Beziehungen - ließen sich Regularitäten formulieren. (Weitere Regularitäten werden in 3.1 und 3.2 skizziert.) Zu zeigen wäre ferner, wie sich das Modell allmählich konstituiert und in der Serie der sukzessiven Texte mit unterschiedlichen Besetzungen des Modells experimentiert und mit Abweichungen und Regeldurchbrechungen gespielt wird und welche Unterschiede es zur Folge hat, ob die dargestellte Welt sich eher als »mimetisch« oder anti-»mimetisch«, also märchenhaft oder phantastisch, präsentiert. Angemerkt sei nur erstens, daß die dargestellte Welt, je mehr sie geheime Ordnung aufweist, desto mehr zum Märchen und Mythos tendiert, so daß die phantastische Literatur in gewissem Sinne nur eine Konkretisierung dieser Tendenz - quasi systemlogisch - darstellt, wie auch der »Anthropomorphismus«26 einer Welt, die funktioniert, als läge ihr der unbekannte Plan einer vernunftbegabten Instanz zugrunde, nur eine Konkretisierung erfährt, falls eine Manipulatorenfunktion im Text besetzt ist. Angemerkt sei zweitens, daß diese geheime Ordnung immer mehr oder weniger instabil und bedroht bleibt, bis hin zu ihrer weitgehenden Negation in einem Text wie den Nachtwachen: Die Egozentriertheit der Welt beispielsweise ist immer von Dezentrierung bedroht, was sichtbar wird, wenn eine Manipulatorenfunktion das eigentliche Zentrum bildet oder wenn die Aufspaltung der Protagonistenfunktion in Haupt- oder Nebenprotagonisten und mit ihr eine Ausdifferenzierung in Haupt- und Nebenzentren - einsetzt. 1.3
Zur Begründung der Terminologie: »Initiationsgeschichte« und » Transitionsphase«
1.3.1 Das ethnologische Modell: »Übergangsriten« und »Initiationsprozesse« Der Begriff der »Initiation« ist natürlich der Ethnologie entlehnt, die »Übergangsriten« (»rites de passage«) beschrieben hat, mittels derer ein Individuum 25 26
Damit spielen etwa auch die Nachtwachen. Dazu Brandl 1995.
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einer Kultur von einer sozialen und/oder biologischen Klasse in eine andere übergeht;27 eine spezielle Teilklasse davon wären die »Initiationsriten«, mit Hilfe derer das Individuum Mitglied einer geschlossenen Gruppe (z.B. Geheimgesellschaft) wird, in die - im Gegensatz etwa zur Aufnahme in die Gruppe »erwachsene Männer« oder »Mitglieder der christlichen Gemeinde« (durch »Kommunion« bzw. »Konfirmation«) - nicht jedes Individuum mit gleichem Ausgangsstatus aufgenommen wird (z.B. frühere Promotionsrituale, Rituale des Klostereintritts) und bei denen der »Übergang« gern mit dem Zugang zu neuem Wissen korreliert ist. Solche Übergangs- oder Initiationsrituale hat etwa Leach28 - sinngemäß - so schematisiert: Nicht-normaler Zustand Initiand außerhalb der Gesellschaft und der Zeit
Normaler (sozial integrierter) Anfangszustand
T
Normaler (sozial integrierter) Endzustand
*
T
Separationsriten (Desintegration)
Aggregationsriten (Reintegration)
Symbolisches Äquivalent eines Todes
Symbolisches Äquivalent einer Wiedergeburt
Schema 1: Übergangs-/Initiatonsriten
Solche Initiations-/Übergangsprozesse sind der Goethe-Zeit einerseits aus dem breiten ethnohistorischen Wissen der Spätaufklärung (z.B. Wissen über antike Mysterienkulte, das ethnologische Material der Reiseberichte seit der frühen Neuzeit), andererseits natürlich aus eigener kultureller Praxis (z.B. Aufnahmeriten des Klosters oder der Geheimbünde) gut bekannt. Gemeinsamkeiten (Dreiphasigkeit, außersozialer Zustand der Transitionsphase mit Legitimation von - hier: sexuellen - Normverletzungen) wie Unterschiede (kollektiv organisierte und geregelte versus individuell-ungeregelt zu vollziehende Übergänge) zwischen dem ethnologischen Modell und dem Erzählmodell liegen gleichermaßen auf der Hand. Inwiefern ich den Begriff »Initiationsgeschichte« vorschlage, bedarf somit zusätzlicher Begründung: (1) Der Aufbruch des Helden durch die Reise markiert tatsächlich eine massive Diskontinuität: Die totale Ablösung von der Herkunftsfamilie und dem sozialen Ausgangssystem ist konstitutiv für das Gelingen des Prozesses. Dem individuellen Austritt aus T] korreliert der kollektiv begleitete Eintritt in T3: Die Operation der sozialen Reintegration wird praktisch immer begleitet durch ei27
Vgl. van Gennep 1909; zur Unterscheidung von Initiations- und Übergangsriten: Panoff/ Perrinl973, S. 143 und 207. 28 Leach 1978, S. 100.
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ne Zusammenführung von Figuren, die für den Lebensweg des Protagonisten wichtig waren. Wilhelm Meisters Reintegration z.B. vollzieht sich in mehreren Schritten: Aufnahme in die Turmgesellschaft, Zuerkennung der Geliebten im familienäquivalenten Kreis. (2) Die Jugend-/Transitionsphase dient offenkundig einer Einführung des Subjektes in sich selbst und somit in die Gesellschaft: Ein Prozeß der Emanzipation zum Zwecke autonomen Akzeptierens von Heteronomie: Diese Kämpfe [des Jünglings] nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünfligkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt (Hegel 1835,1, S. 568; Hervorhebung von mir).
(3) Einem Initiationsprozeß äquivalent ist die Transitionsphase insofern, als der Protagonist sich in ihr bewähren, in ihr sich der »Aufnahme« in die nächsthöhere Existenzstufe des sozial integrierten Mannseins als würdig erweisen muß; dementsprechend ist die Phase gefährlich für das Subjekt: Ob ihm Selbstfindung gelingt, ob er im Selbstverlust scheitert, hängt von dieser Bewährung ab. (4) Einer Initiation im ethnologischen Sinne entspricht der Erzählprozeß der Transition nun aber auch schon insofern, als der Protagonist ihm bislang vorenthaltene - tatsächliche oder vermeintliche - Wissensbestände erwirbt, die er entweder aus eigener Kraft erlangt oder die ihm eine soziale Umwelt unter bestimmten Bedingungen zugesteht; im Gegensatz zum Kriminalroman (»du weißt zuviel, also mußt du sterben«) gilt in der Initiationsgeschichte: Ihr wißt zuviel, Kreisler, um nicht alles erfahren zu müssen (E.T.A. Hoffmann 1820/22, S. 656).
Worüber nun Wissen an den Protagonisten vergeben wird, das sind verborgene Strukturen der Realität: In den Texten lexikalisiert als »Rätsel« oder »Geheimnis« - ein Wissen, in das man »eingeweiht« werden muß. (5) »Einweihung« - das goethezeitliche Pendant zu »Initiation« - gehört zu den stark rekurrenten Lexemen der Erzählliteratur der Epoche: Man wird »eingeweiht« in bislang vorenthaltenes Wissen, in bislang verborgene soziale, familiäre, erotische Beziehungen zwischen Figuren, in die Liebe/Sexualität, schließlich in Geheimbünde, d.h. in soziale Organisationen, deren Aufnahmezeremonien tatsächlich Initiationsriten sind. Agathon wird vom homosexuellen Priester eine solche Einweihung in göttliche Mysterien versprochen, Wilhelm Meister wird in die Geheimnisse der Turmgesellschaft als neues Mitglied eingeweiht, ganz zu schweigen von der Textgruppe der Geisterseher-/Geheimbundromane. (6) Auch die symbolischen Todes- und Wiedergeburtsäquivalente fehlen in dieser Erzählliteratur nicht. Initiationen in Mysterien, Geheimbünde usw. finden z.B. gern in natürlichen oder künstlichen unterirdischen »Höhlenräumen«
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statt und beginnen gern in Dunkelheit (~ »Unwissenheit« ~ »Nacht« = »Tod«), um zu Helligkeit (~ »Aufklärung« = »Erleuchtung« = »Wiedergeburt«) zu führen.29 Vor dem Wilhelm Meister bediente sich der Agathon zur »Einweihung« des Helden schon einer Höhle, in Dya-na-sore und im Genius gehören Höhlenräume zum selbstverständlichen Inventar; am massivsten, auf verschiedenen Ebenen: als im Traum, im erzählten Märchen, in gesungenen Liedern, und in der realen Handlung - sind Höhlenräume, geradezu schon penetrant, im Ofterdingen anwesend, wo ihre Semantik auch deutlich wird.30 Solche Höhlenräume sind zugleich symbolische Äquivalente der weiblichen Genitalien: Die Träume von Sohn und Vater am Anfang von Novalis' Ofterdingen führen dies auf schönste vor:31 Die engen Gänge, die man betritt, sind Äquivalente einer Vagina, die Gewölbe, zu denen diese Gänge führen, sind Äquivalente eines Uterus. Wilhelm Meister transformiert diese Semantisierung: Statt weiblicher Höhle männlich-phallischer Turm, den zu betreten gleichwohl erst einmal durch Dunkelheit zu Licht führt. Solche in der Literatur der Goethe-Zeit ungemein verbreiteten Höhlenräume sind einerseits durchaus reale Räume der dargestellten Welt, zugleich andererseits symbolische Sexualorte, ob sie nun, wie im Genius, korreliert mit Geheimbünden oder, wie im Ofterdingen, unabhängig von solchen auftreten. Was sie zu betreten und (nicht) zu verlassen bedeutet, macht der Anfang des Ofterdingen klar: Im Traum des Sohnes betritt und verläßt der Protagonist aus eigener Kraft diesen unzweideutig sexualisierten Raum - Äquivalent eines Todes und einer Wiedergeburt, wobei das Subjekt sich selbst zeugt und gebärt ein Mythos der Selbsterschaffung; im Traum des Vaters hingegen befindet sich im Sexualort schon ein Mann (Vateräquivalent) und ein anderer führt ihn aus der Höhle heraus, woraufhin der Vater noch den kommenden Geburtsakt des Protagonisten symbolisch imaginiert, der zugleich über ihn hinauswachsen würde. Das aber heißt: Wo der Vater heteronom - und Mittel zum Zweck (der Erzeugung des Protagonisten) - blieb, da wird der Sohn autonom und ist Selbstzweck. Wenn also auch auf den ersten Blick diese goethezeitliche Textgruppe strukturell nur partiell die Merkmale von Übergangs-/Initiationsmodellen aufweist, zeigt sich doch, denke ich, daß der Texttyp eine merkwürdige Affinität zur narrativen Darstellung von Initiationen, zu ihrer lexikalischen Konnotierung (»Einweihung« usw.), zu ihren symbolischen Äquivalenten (»Tod« - »Wiedergeburt«) aufweist. Schon die aufklärerisch-rationalistischen, nicht erst die phantastischen Initiationsgeschichten, also z.B. Agathon, Wilhelm Meister, Genius, William Lovell usw., spielen mit Initiationsäquivalenten - und soweit tatsächlich in ihnen im engeren Sinne Initiationen dargestellt werden, sind diese gewisserma29
Ein Modell, das in Novalis' Hymnen an die Nacht und vergleichbaren Texten nur mit umgekehrter Wertung besetzt wird. 311 Zur Semantik der Höhlenräume in der Goethe-Zeit vgl. Titzmann 1984. 31 Vgl. auch Tiecks Abdallah 1795, Tannenhäuser 1799, Runenberg 1804, Fouques Alethes 1817, Hoffmanns Bergwerke 1819 und viele andere mehr.
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ßen zugleich auch quasi-metatextuelle Abbildungen der Textstruktur selbst. In eben dem Ausmaß, in dem nun das mythisch-mystische Modell »Initiation« bewußt gemacht wird, wird es auch der unausgesprochene Konflikt zwischen manifestem Autonomiestreben und latenter Heteronomieerhaltung. 1.3.2 Zur Notwendigkeit der Unterscheidung von (sozialer) »Transitionsphase« und (biologischem) »Jugendalter«:prolongierte und sekundäre Transitionsphasen Die Benennung des Zeitraums zwischen anfänglichem »Kind«- und schließlichem »Mann«-Status als »Transitionsphase« trägt dem Faktum Rechnung, daß es in ihr um einen Übergang (= »passage«!) geht: eben um jene Operationen, die den Protagonisten aus dem Zustand zu Tj in den von T3 bringen. Die »Transitionsphase« ist zwar mit »Jugend« korreliert, aber nicht mit ihr identisch. Während jene einen sozialen (eigentlich: außersozialen) Status des Protagonischen benennt, benennt diese eine als biologisch gedachte Altersklasse. In der Mehrheit der Initiationsgeschichten fällt beides zwar weitgehend zusammen, aber es gibt doch signifikante Abweichungen, die die terminologische Unterscheidung notwendig machen. Wenn wir etwa Wilhelm Meister kennenlernen, befindet er sich sozial zwar noch im abhängigen familiären Kindstatus, biologisch aber zweifelsfrei - seine Affaire mit Mariane belegt es - schon im »Jünglingsalter«, das sonach mit seiner dann einsetzenden Transitionsphase nicht vollständig dekkungsgleich ist. Einen interessanten Grenzfall bietet der Prinz in Schillers Geisterseher, der bei Einsetzen seiner Transitionsphase schon 35 Jahre alt, somit längst im »Mannesalter« ist, wenn er auch seine Jugend noch nicht gelebt hat, wie die Absenz von Erotik in seiner bisherigen Existenz belegt. Gegenüber solcher Verspätung einer in der Jugend kulturell erwarteten Transition kennt die Literatur der Goethe-Zeit auch Bestrebungen zur Verlängerung einer zum Selbstwert werdenden Transition, d.h. einer Verweigerung bzw. Verzögerung des Eintritts in den Zielzustand des Erwachsenen- bzw. Mannstatus. Der Protagonist und Ich-Erzähler in Grosses Genius geht schon früh eine erste Ehe ein, wodurch an sich die Transitionsphase beendet würde, obwohl er sich unzweideutig noch in der »Jugend« befindet. Vor dem frühzeitigen Übergang in den sozialen - Erwachsenenstatus bewahrt ihn der Text, der die junge Gattin durch den Geheimbund entführen und als tot gelten läßt, was-dem Helden die Legitimation weiterer erotischer Abenteuer und Normverletzungen beschert; kurz nach der Wiedervereinigung des Ehepaares müssen Gattin und Kind sterben, damit der Protagonist erneut aufbrechen kann; eine zweite Ehe wird eingegangen, durch »Untreue« der Gattin unterbrochen und diese durch das zeitweilige, symbolische Todesäquivalent eines Klosteraufenthalts aus dem Verkehr gezogen; erst nach nochmaliger - nunmehr dritter - Wiederaufnahme der Transition kommt es am Textende in der Wiedervereinigung der Gatten zum Stillstand der definitiven sozialen Reintegration. Nicht zufällig hat dieser Text Autoren wie
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Tieck und Hoffmann fasziniert: Denn das (intraepochal neue) Konzept der »Sehnsucht« in der Romantik tendiert unzweideutig zur Ausweitung der Transitionsphase. Die erste Initiationsgeschichte, deren jugendliche Figuren durch dieses Konzept charakterisiert sind, Tiecks Sternbald, verdeutlicht, was »Sehnsucht« bedeutet: nämlich, wie bekannt, daß »Ungenügen an der Normalität« sozial integrierten Lebens,32 und zwar nicht nur an dem des Ausgangszustandes des Protagonisten, sondern auch an dem jedes beliebigen Endzustandes, ein Streben also, dessen Ziel immer im räumlichen, sozialen, erotischen »Anderswo« liegt, demgegenüber jeder potentiell definitive Zustand der sozialen Reintegration - der räumlichen, beruflichen, erotischen Bindung - erneut als ungenügend erschiene: Der Mensch weiß nicht, was er will, wenn er Sehnsucht nach der Fremde fühlt, und wenn er dort ist, hat er nichts (Tieck 1798, S. 310).
Solche Verweigerung des definitiven Ziels des Erwachsenenstatus ist einer Verweigerung der Beendigung der Transitionsphase äquivalent. In Sternbald wird das Problem unter anderem an Roderigo vorgeführt, der in Gräfin Adelheid seine - wie heutige Bekanntschaftsanzeigen in der Presse formulieren würden, als später Nachklang der Goethe-Zeit - »Traumfrau« gefunden hätte: Ich fand sie meinen Wünschen geneigt, ich war auf dem höchsten Gipfel meiner Seligkeit. Wie arm kam mir mein Leben bis dahin vor, wie entsagte ich allen meinen Schwärmereien. Der Tag unserer Hochzeit war festgelegt. Oh meine Freunde, ich kann euch nicht beschreiben, ich kann sie selber nicht begreifen, die wunderbare Veränderung, die mit mir vorging! Ich sah ein bestimmtes Glück vor mir liegen, aber ich war an diesem Glücke festgeschmiedet [...]. »Oh süße Reiselust!« sagte ich zu mir selber, »geheimnisreiche Ferne, ich werde nun von euch Abschied nehmen müssen und eine Heimat dafür besitzen! [...]. Bei keinem fremden liebreizenden Gesicht darf mir nunmehr einfallen: Wir werden bekannter miteinander werden, dieser Busen wird vielleicht an meinigem ruhen, diese Lippen werden mit meinen Küssen vertraut sein« (Tieck 1798, S.297f.).
Folglich brennt Roderigo zunächst einmal ohne Verabschiedung der angehenden Gattin durch: Selbstverständlich wird er in der Folge Adelheid wieder treffen... »Sehnsucht« wäre also mit dem Ende der Transitionsphase abzulegen: Doch fürchtete er sich wieder, so seinen Lebenslauf zu bestimmen und sich selber Grenzen zu setzen; die Sehnsucht rief ihn wieder in die Ferne hinein [...]. Wie ist es mit dem Leben? dachte er bei sich selber; irgendeinmal ist dieser Taumel der Jugend doch verflogen, endlich einmal nimmt mich doch jenes Leben in Empfang, dem ich jetzt so sehr aus dem Wege trete (Tieck 1798, S. 182f.).
Der potentiellen Generalisierung der Transitionsphase zum allgemeinen Lebensmodell wird hier deren Bindung an eine biologische Jugend konfrontiert, deren naturhaftes Ende die einzige Begrenzung der Transition bietet; die Fortsetzung des sozialen Status der Transition kollidiert irgendwann mit der als biologisch gedachten Entwicklung. Eichendorffs bekanntes Gedicht Frühlingsfahrt Dazu Pikulik 1979.
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(1818) führt resignativ die Alternative vor: rechtzeitige soziale Integration in sattes Bürgertum versus unabgeschlossene Transition, die mit dem biologischen Prozeß unvereinbar ist: »Da war er müde und alt«. Interessant ist auch der Ofterdingen: Im Teil I - Die Erwartung - reist der Protagonist zwar, aber zielorientiert und in Begleitung der Mutter, d.h. nicht in die Transitionsphase eintretend; und er wird am Ende von I, von Liebe befallen, verheiratet werden; er hätte demnach den bürgerlichen Lebensweg von Tj zu T3, ohne den »Umweg« über T2, die Transitionsphase also, gewählt. Doch der Text läßt die junge Gattin sterben: und Ofterdingen kann sich, in Teil II: Die Erfüllung, von Herkunfts-und Zielfamilie befreit, auf die nicht-zielorientierte, nicht-funktionale Reise der Transitionsphase begeben. Noch aus einem weiteren Grunde müssen sozial definierte Transitionsphase und biologisch definierte Jugend unterschieden werden. Denn während das Erzählmodell »Initiationsgeschichte« zunächst den Abschluß personaler Entwicklung beim Eintritt in den sozialen Mann-Status und/oder in das biologische Mannesalter vorsieht, weist die zweite Hälfte der Goethe-Zeit Texte auf, in denen erneut die Grenze des als Abschluß von »Transition« und »Jugend« gewählten Erwachsenenzustandes überschritten wird. Zum einen häufen sich plötzlich Ehebruchsgeschichten (z.B. Klingers Geschichte eines Teutschen der neusten Zeit, Goethes Wahlverwandtschaften, Arnims Gräfin Dolores), in denen die Normverletzung gegenüber der bis dahin als Abschluß der Transition und Eintritt in einen statischen Zustand des Erwachsenenseins geltenden Ehe potentiell eine neue Transitions- bzw. Entwicklungsphase eröffnet. Zum anderen kennt diese Teilphase Texte, die sekundäre Initiationsprozesse erzählen, bei denen der Protagonist, nach primärer Initiation und abgeschlossener Jugend, nach erfolgreicher sozialer Reintegration, nach Berufs- und Partnerwahl, ein zweites Mal, erneut, aufbricht (Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, Tiecks Der junge Tischlermeister): Texte also, die zumindest, auch wo sie ihre Helden zirkulär zurückkehren lassen, grundsätzlich mit der Möglichkeit einer erneuten Entwicklung im Erwachsenenalter spielen, die prinzipiell auch zu neuen Zielen führen könnte: Ein Modell, bei dem die Begrenzung der »Entwicklung« auf das »Jugendalter« aufgehoben wird, und das erst im literarischen System der Frühen Moderne tatsächlich als generalisierbares praktiziert werden wird. Faktisch zwar nehmen die Initiationsgeschichten der Goethe-Zeit eine Normierung vor, derzufolge, im Idealfalle, Transitionsphase und Jugend weitestgehend identisch wären; theoretisch aber spielen sie mit der Möglichkeit, daß der soziale und der biologische Zustand unabhängig voneinander auftreten können, wäre es auch nur als unerwünschte Anomalie.
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2. Das System der Altersklassen in normativen und anthropologischen Diskursen der Goethe-Zeit 2.1 Altersklassen in der Gesetzgebung: Straffähigkeit - Mündigkeit Heiratsalter Die Gliederung des menschlichen Lebens in Altersklassen spielt in den Gesetzestexten der Epoche nur insoweit eine Rolle, als der Gesetzgeber Rechte oder Pflichten an ein bestimmtes Lebensjahr geknüpft hat: Manche Regelungen gehören im Geltungsbereich des jeweiligen Gesetzes fast notwendig zum allgemeinen kulturellen Wissen; denn es geht dabei um Daten, die im Leben jedes Individuums praktisch relevant werden können. Meine Materialbasis bilden die folgenden Gesetze: - 1794: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. 3 Bde. Berlin [= ALR] - 1803: Gesetzbuch über Verbrechen und schwere Polizey-Übertretungen. Wien [= GBV] - 1804: Code Civil. Paris [= CG] - 1810: Code Penal. Paris [= CP] [Die beiden französischen Gesetzbücher werden benutzt nach der Übersetzung von 1830: Die fünf französischen Gesetzbücher in deutscher Sprache. Frankfurt/M. und Leipzig]
- 1811: Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie. Wien [= ABGB] - 1813: Strafgesezbuch für das Königreich Baiern. München [= StGB] Juristische Altersklassenbildungen betreffen in diesem Korpus nun im wesentlichen vier Klassen von Sachverhalten: - das Alter der Volljährigkeit, d.h. der Erlangung der staatsbürgerlichen Rechte, soweit diese nicht nach Ständen differenziert sind (so vor allem noch im ALR) - den Zeitpunkt des Erlöschens der elterlichen - im Regelfalle durch den Vater ausgeübten - Gewalt, d.h. des Endes der Beschränkung der Rechtsfähigkeit des Kindes durch elterliche Bevormundung (= Emanzipation) - das Alter einer möglichen Eheschließung der Kinder und altersspezifischer Beschränkungen dieses Rechtes - die Festlegung des Alters der Straffähigkeit und altersabhängiger Strafmilderungsgründe Hier zunächst nun im Überblick die Regelungen zu den ersten drei Punkten:
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ALR 7») Gliederung des Kind bis Altersstufen Unmündig bis 14a> Minderjährig bis 24°) bzw. volljährig ab
ABGB
CC
yb)
_
I4b) 24")
21d>
24f' (=mit Volljährigkeit) 240 (=mit Volljährigkeit)
218' (=mit Volljährigkeit) 21«) (=mit Volljährigkeit)
-
Ende der väter- männlich lichen Gewalt bei volljährigen Kindern weiblich
Bei Betreiben eines eigenen Gewerbes^ a) bei Heirath) b) durch ausdrückliche Erklärung
Frühest mögli- männlich che Emanzipation minderjähriger Kinder
ab 20:'' a) ab 20 bei Dul- a) durch Heirat a) durch ausdrück- dung eigener liche Erklärung Haushaltung b) durch Duldung b) durch ausdrückder Betreibung liche Erkläeines eigenen rung*' Gewerbes durch Heirat1' a) durch ausdrück- b)ab!5 liche Erklädurch ausrungJ) drückliche Erb) durch Heiratm> klärung1')
weiblich
Frühes mögliches Heiratsalter
männlich weiblich
Einwilligung des männlich Vaters zur Eheschließung erweiblich forderlich Ansuchen der männlich \ väterlichen Ein- weiblich J willigung erforderlich
18n> 14»)
14ol)
140)
bis 24r> bis zur Beendigung'') der väterlichen Gewalt bis 24 bis 24r> immer *')
bis 24r>
18P) 15> bis 25s) bis 21S>
immer **u)
* Bei Volljährigen ist die Ehe zwar auch ohne die Einwilligung des Vaters gültig, aber der Vater kann das Kind dann »bis auf die Hälfte des Pflichtteils« enterben. v) Die Einwilligung muß lt. ALR auch bei einer 2. Ehe eingeholt werden. w) ** Bei Verweigerung der Einwilligung gilt bei männlichen Kindern bis 30 l weiblichen Kindern bis 25 J die Anfrage muß zweimal wiederholt werden männlichen Kindern ab 30 ] weiblichen Kindern ab 25 J einmalige Anfrage reicht. Bei Erfüllung dieser Bedingungen hat das Fehlen der Einwilligung keine weiteren juristischen Konsequenzen (im Gegensatz zum ALR!) u) Schema 2: Volljährigkeit und Heiratsalter33 33
a: ALR, Theil 1,1. Titel, §25; b: ABGB §21; c: ALR, ebd., §26; d: CC Art. 388; e: ALR, Th. II, 2. Tit., §§210-213; f: ABGB § 172; g: CC Art.488; h: ALR, ebd., §§228-230; i: ALR, ebd., §§214-227; j: ABGB §174; k: CC Art.476 und 477; 1: ALR, ebd., §§228-229; m: ABGB § 175; n: ALR, Th. II, 1. Tit., § 37; o: Folgerung aus ABGB §§ 21,48,49; p: CC Art. 144; q: Fol-
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In keinem der drei Gesetze fallen also die drei Klassen von Daten zusammen. Das Alter der Volljährigkeit ist mitnichten zugleich auch das Alter der totalen juristisch-personalen Autonomie. Denn wie einerseits mit Zustimmung der Eltern dem Kinde Rechte schon vorzeitig zugestanden werden, indem es vor seiner Volljährigkeit etwa heiraten darf oder aus der väterlichen Gewalt entlassen werden kann, so bleiben umgekehrt den Eltern Rechte auch über das volljährige Kind vorbehalten. So muß etwa laut ALR und CC auch das volljährige Kind bei den Eltern um Eheerlaubnis ansuchen, wobei das ALR die Mißachtung eines väterlichen Vetos sogar mit der Drohung partieller Enterbung sanktioniert und Pflicht wie Drohung selbst noch auf eine zweite Eheschließung - nach Verwitwung bzw. Scheidung - ausdehnt. Das ABGB kennt zwar keine diesbezügliche Regelung, doch ist auch hier mit der juristischen Mündigkeit keineswegs generelle Autonomie erreicht. Denn auch dann kann das Kind die Berufswahl, die der Vater für es »angemessen« fand und gewählt hat, nicht einfach korrigieren, sondern muß noch immer mit seinem »Verlangen nach einer anderen, seiner Neigung und seinen Fähigkeiten mehr angemessenen Berufsart« beim Vater vorstellig werden, nach dessen Ablehnung des Änderungswunsches das Gericht angerufen werden kann (§ 148): Selbst der Volljährige kann also die Berufsentscheidung des Vaters nicht ohne weiteres rückgängig machen. (Das ALR hatte demgegenüber festgelegt, daß der Wunsch des Kindes nach einer anderen als der ihm vom Vater bestimmten »Lebensart« schon nach dem 14. Lebensjahr dem Vormundschaftsgericht vorgetragen werden könne; das CC enthält keine diesbezüglichen Regelungen). Mindestens ALR und CC überlagern der juristischen Ebene eine moralischsoziale, indem sie, wenn auch nur als folgenloses Postulat, eine abgeschwächte Fortsetzung der elterlichen Autorität kennen, die letztlich erst mit dem Tode der Eltern endet: Auch nach aufgehobener väterlicher Gewalt sind die Kinder den Eltern kindliche Ehrerbietung schuldig. Das Kind, zu welchem Alter es auch gelangt sein mag, ist seinen Eltern Ehre und Achtung schuldig.
Ausgeschlossen werden somit nicht nur neutrale oder negative Relationen zu den Eltern, sondern auch die meisten Varianten positiver Relationen. Denn während unsere heutige Kultur ein befriedigendes Verhältnis zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern wohl am ehesten als freundschaftliches konzipiert, ist die von den Gesetzen implizierte Relation vielmehr die zwischen sozial tiefer und sozial höher stehenden Individuen: die Eltern-Kind-Relation wird als Unterschied der sozialen Hierarchie interpretiert; es handelt sich um das umgekehrte Pendant dessen, was für das Militär gilt.
gerung aus ALR, Th. II, 1. Tit., §§45-46 und 997; r: ABGB §49; s: CC Art. 148; t: ALR, Th. II, 2. Tit., §250; u: CC Art. 151-153; v: ALR, Th. II, 1. Tit., §§997-998; w: ALR, ebd., §46.
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Denn selbst ein volljähriger Offizier gilt nur dann als von der väterlichen Gewalt emanzipiert, wenn »er der väterlichen Hilfe zu seinem Unterhalte nicht bedarf«, d.h. mindestens »zum Rittmeister oder Capitain ernannt wird«. Auch die Eheschließung des Militärs ist besonderen Bedingungen unterworfen: ALR und CC verlangen bei Offizieren zudem die Einwilligung des Königs bzw. des Kriegsministers, bei Soldaten und Unteroffizieren die der Vorgesetzten; ABGB verweist pauschal auf die Militärgesetze. Für »Militärpersonen« gibt es also eine Obrigkeit, die einem zweiten Vater äquivalent ist und in die Familie der Untergebenen eingreift: Der hierarchische Unterschied wird im Vater-Kind-Modell interpretiert. Zum zweiten ist festzuhalten, daß in allen Gesetzen, am deutlichsten im ALR, geschlechtsspezifische Unterschiede ausgeprägt sind. Die Emanzipation durch Eheschließung überführt in allen drei Gesetzen das weibliche Kind, selbst wenn es volljährig ist, nur aus der Gewalt des Vaters in die des Gatten. Zum dritten wird der Termin der Volljährigkeit und die Grenze, die er markiert, weitgehend entwertet, da bestimmte Rechte dem Kinde schon vor der Volljährigkeit eingeräumt werden können, bestimmte Rechte umgekehrt auch nach dieser noch vorenthalten bleiben; mit dem Datum der Volljährigkeit ist offenbar kaum etwas automatisch verbunden, was nicht partiell schon vorher zugestanden, partiell noch nachher verweigert werden könnte. So hat denn die Volljährigkeit im ALR für das weibliche Kind praktisch keine, für das männliche Kind nur sehr abgeschwächte Bedeutung. Dem fixierten Zeitpunkt der Volljährigkeit überlagert sich ein Zeitraum mit bestimmtem Anfang und mehr oder weniger unbestimmtem Ende, in dem der Übergang von der elterlichen Abhängigkeit zur Selbständigkeit auf verschiedene Weise, strukturiert nur durch den Willen des Vaters, vollzogen werden kann. Der diskontinuierlichen Grenze zwischen zwei Zuständen überlagert sich ein potentielles Kontinuum allmählicher Transformationen. Straffähig sind in diesen Gesetzen nun auch Altersklassen, denen Mündigkeit nicht eingeräumt wird. Nach dem ALR können Kinder und Unmündige, d.h. Personen bis zum 14. Lebensjahr, nicht bestraft, sondern nur »gezüchtigt« werden. Ohne diesen Zeitraum zu untergliedern, findet das GBV ein Alter bis 20 strafmildernd, aber nicht strafbefreiend (§39). Das CP erklärt Minderjährige »ohne Unterscheidungskraft« bis 16 für straffrei; bei »Unterscheidungskraft« wird dieses Alter doch immerhin als strafmildernd behandelt (Art. 66/67). Im STGB bleiben nur Kinder unter 8 Jahren straffrei (Art. 120). Da nun alle Gesetze den Zustand der »Rasenden«, »Wahnsinnigen«, »Blödsinnigen« als strafbefreiend (ALR, CP, STGB) oder strafmildernden (GBV) Umstand anerkennen, konstruieren die Gesetze unter dem Aspekt begrenzter Selbstverantwortlichkeit die Äquivalenz »Kindheit« ~ »Raserei«/ »Wahnsinn«/ »Blödsinn«, die das ALR explizit ausspricht, indem es die Rasenden und Wahnsinnigen den Kindern, die Blödsinnigen den Unmündigen (im Sinne des Gesetzes) gleichstellt; das ABGB behandelt beide Gruppen im selben Paragraphen (§21), das CC
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setzt diese Geisteskrankheiten generell der Minderjährigkeit gleich. Hervorgehoben sei, daß umgekehrt das CC das Alter ab 70 als strafmildernd behandelt (Art. 70); während im STGB »hohes Alter mit Verstandesschwäche« als strafbefreiend gilt (Art. 120): beide Gesetze tendieren also zu einer Äquivalenz »Kindesalter« ~ »Greisenalter«. 2.2 Exkurs: Die Familialisierung sozialer Differenz in der Goethe-Zeit Die in den Gesetzen angelegte Äquivalenz zwischen sozialen Hierarchien und Generationenfolge bestätigt sich in der Epoche im übrigen auch in außerjuristischen Kontexten, wo soziale Differenz vorzugsweise in der Metaphorik von Eltern-Kind-Beziehungen umschrieben wird. Die Relationen zwischen Dienstherren und Gesinde werden ebenso familialisiert allein was hindert uns, das Gesinde selbst zu erziehen, sie als Kinder anzunehmen, sie dann lebenslang, wie die Mitglieder unserer Familie, bei uns zu behalten ... (Knigge 1788, S.218). Vergesse dabei nicht die wichtigen Pflichten gegen eure Lehrbursche, Dienstleute und Untergebenen nicht. Denn auch hier könnet ihr als wahre Menschenfreunde viel Gutes stiften, und Glückseligkeit befördern. [...] 2. Wenn ihr euch als Vater betrachtet, und als solcher für ihre Glückseligkeit sorget (Bahrdt 1789, S. 213) -
wie die Relation zwischen Staatsbürger und »Obrigkeit«: So wie ein gutes Kind seinen Vater ehren, und wenigstens äußerlich ihn nicht beschimpfen, verachten, verspotten, sondern mit Zeichen der Achtung begegnen wird, wenn auch dieser Vater, für seine Person, ein höchst schwacher oder fehlerhafter Mensch wäre, so wird auch ein guter Bürger gegen seine Stadtobrigkeit handeln (Bahrdt 1789, S. 193).
Der jeweilige »Landesherr« erscheint in der Epoche auch unentwegt als »Landesvater« (welche Terminologie peinlicherweise selbst eine demokratische Presse heute noch auf Ministerpräsidenten überträgt), wie »Gott« auch da, wo etwa statt des christlichen Modells der Götterfamilie aus Vater und Sohn, ein deistisches oder pantheistisches praktiziert wird (z.B. Goethes Ganymed) selbstverständlich ein Vater ist. Biologischer Vater, Landesvater, Gottvater sind letztlich äquivalent, und die Auflehnung gegen einen von ihnen ist somit der Auflehnung gegen die beiden anderen äquivalent (vgl. z.B. Schillers Die Räuber). Wenn in einem der interessantesten Sozialmodelle der Epoche, den in Realität wie Literatur gleichermaßen beliebten Geheimbünden, gern ranghöhere »Obere« als »Vater«, Ranggleiche hingegen als »Brüder« tituliert werden, wird sicher nicht nur das Modell der Mönchsorden abgerufen, sondern zugleich im Rahmen der neuen Familienideologie des 18. Jahrhunderts refunktionalisiert.
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2.3
Die Lebensalter im anthropologischen Diskurs der Epoche
2.3.1 Altersklassen und Merkmalszuordnungen Im »anthropologischen« Diskurs der Epoche, vor allem in jenen Texten zumal der zweiten Hälfte des Zeitraums, die sich selbst »Anthropologie« nennen, gehören die Altersklassen - neben Geschlecht, Temperament und fakultativ Nation und Rasse - zu den invarianten und fundamentalen Denkkategorien. So gibt etwa Humboldt in seinem Plan einer vergleichenden Anthropologie dieser als Aufgabe vor: Sie muß die bleibenden Charaktere der Geschlechter, Alter, Temperamente, Nationen usw. ebenso sorgfältig aufsuchen, als der Naturforscher bemüht ist, die Racen und Varietäten der Tierwelt zu bestimmen (Humboldt 1795, S. 43).
Schon Humboldts Vergleich macht deutlich, daß es um dasselbe taxonomischklassifikatorische Interesse geht, das Botanik und Zoologie seit Linne beseelte. Evident ist ebenfalls, daß diese Kategorien nicht als kulturbedingte, sondern als naturhafte gedacht werden. Außer Plainer 1772 und Kant 1798, die auch sonst vom Standardtyp der Goethe-Zeit-Anthropologie abweichen, spielen denn die Altersklassen in allen Texten meines Korpus eine Rolle; nur angemerkt sei, daß auch Antike und Frühe Neuzeit über Altersklassifikationen verfügten und daß Nachfahren der Goethe-Zeit-Klassifikationen sich - nach Ausweis von Konversationslexika (z.B. Meyer 1874, Pierer 1888) - bis ins späte 19. Jahrhundert gehalten haben. (Der Überblick über die Systeme der Altersklassifikation, unter Angabe der Lebensjahre, soweit sich die Autoren diesbezüglich festgelegt haben, findet sich auf S.36f.). Auf den ersten Blick weisen diese Klassifikationen extreme Divergenzen auf: - Die Klassifikation kann eine eindimensionale (mit nur einer Klassifikationsebene) sein (z.B. Flögel 1778; Wezel 1784; Grüner 1794; Consbruch 1803; Steffens 1822; Berger 1824; Carus 1846 und 1852) oder eine mehrdimensionale mit mehreren hierarchischen Ebenen (z.B. Schwarz 1805; Butte 1811; Burdach 1829; Heinroth 1831; Burdach 1837). Bei letzteren handelt es sich immer um Texte, die dem Denken der idealistischen Naturphilosophie nahestehen; in ihnen finden sich besonders gern binäre oder ternäre Aufgliederungen einer jeweiligen Oberklasse. - Die Klassifikation kann eine sehr unterschiedliche Anzahl von Endtaxa (den jeweils kleinteiligsten Untergliederungen) aufweisen: Jede (vollständige) Klassifikation weist mindestens vier Endtaxa auf, vor allem aber bei der mehrdimensionalen Kategorisierung hingegen bis zu sieben (Grüner 1794; Butte 1811; Burdach 1837) oder sogar elf (Burdach 1829). (Autoren, die sich aus psychologischem oder pädagogischem Interesse besonders für Entwicklungen der Kindheit interessieren, untergliedern diese in höherem Umfang als die anderen Texte - darauf gehe ich hier nicht ein.)
»Bildungs-«!Initiationsgeschichte und System der Altersklassen
35
- Die Datierungen der jeweiligen Altersklassen können erstaunlich variieren: Man vergleiche etwa die von fast allen Texten angesetzte Altersklasse »Jugend«. Aus solchen Divergenzen folgt nun zunächst zweierlei: - Diese Klassifikationen haben, auch wo sie den Anspruch auf- etwa medizinische - Wissenschaftlichkeit erheben, offenkundig nur einen sehr geringen Grad an Empirizität: Sie sind nicht Produkt empirischer Forschung, sondern bloßer Spekulation. Demgemäß setzt sich auch keine von ihnen im Untersuchungszeitraum durch. - Diese Klassifikationen haben in den Merkmalen, in denen sie divergieren, sicher nur geringe Konsensfähigkeit gehabt: Sie waren - insoweit - sicher nicht Teil des kulturellen Wissens, weder des allgemeinen noch auch nur des gruppenspezifischen der »Gebildeten«. Auf den zweiten Blick aber zeichnen sich deutlich charakteristische Invarianten ab: und nur in dem, was sie teilen, können diese Theorien Teil des kulturellen Wissens gewesen sein. Solche Invarianten, von denen angenommen werden darf, daß sie Elemente des (mindestens eines gruppenspezifischen, wo nicht gar des allgemeinen) kulturellen Wissens sind, wären nun: (1) Ein- wie mehrdimensionale Systeme weisen mit wenigen Ausnahmen eine Klassifikationsebene auf, bei der das Gesamtleben in vier Altersklassen zerlegt ist: »Kindheit« - »Jugend« - »Mannesalter« - »Greisenalter«. Eine wirkliche Ausnahme bildet nur Butte 1811; bei Grüner 1794, Berger 1824, Carus 1852 ist eine solche Viergliedrigkeit unverkennbar angelegt. Nach Ausweis der Konversationslexika (Brockhaus 1833; Meyer 1874; Pierer 1888) ist diese viergliedrige Klassifikation im nachgoethezeitlichen 19. Jahrhundert deutlich Element des allgemeinen Wissens; so notiert Brockhaus zu den »Lebensaltern«: Man nimmt meist vier an: 1) Die Kindheit [...]. 2) Das Jünglings- und Jungfrauenalter, oder das Alter der Mannbarkeit (Pubertät) [...]. 3) Das Lebensalter der Erwachsenen, oder das sogenannte Mannesalter [...]. 4) Das Alter (im engeren Sinne) [...] (Brockhaus 1833,1, S.215).
Solche Viergliedrigkeit darf insbesondere in der Phase des Idealismus bei dessen bekannter Präferenz für binäre und vor allem ternäre Klassenbildungen erstaunen: Fast alle Texte, die sich zu den Altersklassen näher äußern, unterlegen der viergliedrigen Taxonomie der Phasen noch eine dreigliedrige der Entwicklung: »Zunahme« - »Stillstand« - »Abnahme« der physischen und psychischen Fähigkeiten. Wenn die Phasengliederung dennoch vierteilig bleibt, werden wir vermuten dürfen, daß dies deshalb der Fall ist, weil diese Theorien eine solche viergliedrige Klassifikation schon vorgefunden haben. Mit anderen Worten: diese Theorien geben nichts anderes als eine scheinwissenschaftliche Theoretisierung eines vortheoretischen und vorwissenschaftlichen kulturellen Alltagswissens: und aus diesem allein beziehen sie ihren Plausibilitätsanspruch. Daß die Viergliedrigkeit eine Trivialität des Alltagswissens gewesen ist, belegen die frü-
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Michael Titzmann
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38
Michael Titzmann
hen Texte von Flögel 1778 und Wezel 1784, die für ihre Klassifikation noch keinen spezifisch-medizinischen Wahrheitsanspruch erheben. (2) Die jeweils unterschiedenen Phasen werden um so genauer datiert, je höher bezüglich ihrer der explizite Wissenschaftlichkeitsanspruch ist: Burdachs früher Text (1829) setzt die Grenzen nicht nur auf Jahre, sondern auf Wochen und Tage genau an, was er im späteren Text (1837) implizit widerruft. Solche offenkundig durch keine Empirie gestützte - Genauigkeitsfiktion illustriert zweierlei invariante Implikationen dieser Theorien: (a) Die Periodisierung des Lebens wird als primär »naturhaft« und »naturgewollt«, nicht als durch soziokulturelle Variable bedingt, gedacht: Nur dann kann es solche eindeutig fixierbaren Grenzdaten der Phasen geben. Dem ethnologischen Wissen versuchen die Autoren dabei durchaus gerecht zu werden: Ihre Datierungen sollen gelten für »mittleres Klima« und »europäischen Kulturzustand«, und sie berechnen gegebenenfalls auch genau, um wieviel früher im tropischen Klima, um wieviel später im arktischen Klima nach ihrem System z.B. die Pubertät eintritt. Solche genaue Datierbarkeit liegt auch dem - wiederum aus älterem außerwissenschaftlichen Wissen stammende - Konzept der »Stufenjahre« zugrunde: Stufenjahre: jedes siebente Jahr des menschlichen Lebens, weil in demselben allemal eine merkliche Veränderung in den Körpern vorgehen soll, daher eine solche Zahl von sieben Jahren auch eine Stufe genannt wird (Adelung 1793, IV, Sp.470). Stufenjahre heißen diejenigen Jahre, welche von den Alten [= Antike] und auch noch gegenwärtig für gefährlich gehalten werden, weil mit ihnen sich eine völlige Veränderung in der körperlichen Beschaffenheit des Menschen zutragen soll. Man nimmt für das Leben des Mannes jedes 9., für das Leben des Weibes jedes 7. Jahr als ein Stufenjahr an; das 49. und 63. aber als große Stufenjahre. Die Furcht vor den Stufenjahren ist jedoch nach Ausweis der Sterbelisten ohne Grund (Brockhaus 1833, X, S.755f.).
Die Tilgung dieses Konzepts aus dem kulturellen Wissen läßt sich wiederum aus den Konversationslexika des späten 19. Jahrhunderts ablesen: Klimakterische Jahre (Stufenjahre): diejenigen Lebensjahre, in welchen der menschliche Organismus scharf ausgeprägten, gewissermaßen stoßweise auftretenden Veränderungen unterworfen sein soll. Solche stoßweise Veränderungen kommen jedoch genaugenommen nicht vor, alle Umwandlungen und Entwicklungsvorgänge am Organismus geschehen vielmehr allmählich (Meyer 1874, X, S. 43).
(b) Daß nun diese Datierungen Zeitpunkte (und nicht Zeiträume) angeben, daß sie sowohl lückenlos aneinandergrenzen als auch sich nie überschneiden, ist seinerseits Indiz einer - auffälligen - von diesen Theorien implizierten Behauptung: Die Phasen werden im Grunde - wider alle Empirie, aber unzweideutig als disjunkte Klassen, als in sich synchron-zustandshaft, nicht als diachron-prozessual gedacht: als würde an der Grenze zweier solcher Klassen das menschliche Leben durch ein punktuelles Ereignis von einer »Stufe« auf die andere gehoben, als fände nicht ein mehr oder weniger (dis-)kontinuierlicher Prozeß statt. Dem dreigliedrigen Entwicklungsmodell der Epoche entspräche in einem Koordinatensystem eine Kurve; dem Phasenmodell entspricht eine »Treppe«:
39
»Bildungs-«IInitiationsgeschichte und System der Altersklassen Entwicklungsmodell
Altersklassenmodell
Zustand
Zustand
-> Jahre
-*· Jahre
Schema 4: Entwicklungs- vs Stufenmodell
Das Stufenmodell der Altersklassen wird gewissermaßen wider besseres eigenes Wissen praktiziert: ... aber die Grenzen des Anfangs und Endes [des Mannesalters] kann man unmöglich mit Gewißheit bestimmen; weil das männliche Alter bei einigen Menschen früher, bei anderen später anfängt; und ebenso ist es auch mit dem Ende beschaffen (Flögel 1765, S. 138). Nur darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Natur nicht scharf abgrenzt, sondern durch Übergänge eines in das andere hinüberfließen läßt (Schwarz 1805, S. 57). Wenn der Eine in den 60er oder 70er Jahren noch eine große Frischheit des Lebens [...] sich erhalten hat, so ist der Andere vielleicht schon in den 50er Jahren völlig als Greis bezeichnet [...](Carusl852,S.394).
(3) Entgegen dem Wissen der phaseninternen Dynamik wird also eine phaseninterne Konstanz postuliert: und das wiederum ist Voraussetzung dafür, eine Korrelation dieser als biologisch gedachten Klassen mit psychosozialen Merkmalen zu postulieren. Jede Altersklasse ist eindeutig ein psychosozialer Zustand wiederum »naturhaft« - zugeordnet. Am relativ besten gelingt den Theorien eine solche Korrelation, wenn die Zahl der Endtaxa vier nicht überschreitet: KINDHEIT
JUGEND
REIFES ALTER
GREISENALTER
GLEICHGEWICHT HÖHEPUNKT STILLSTAND
ABNAHME ALLER KRÄFTE
[Verstand { Vernunft [Urteilskraft
[Weisheit] [Erinnerung]
i Pubertät \ Leidenschaft l Liebe
[Geschlechtsreife \ Zeugungskraft l Liebesgenuß
[nicht sexuell (= nachsexuell))
Plan [Selbstfindung]
Tat/Erwerb [Selbstbesitz]
Besitz/Festhalten
[Zukunftsbezogen]
[Gegenwartsbezogen]
[Vergangenheitsbezogen]
ZUNAHME ALLER KRÄFTE (= Ausbildung: (= Ausbildung: allgemein) speziell)
(
„Sinnlichkeit" Gedächtnis Anschauung
[nicht sexuell (= vorsexuell)]
[Zeitlos]
JEinbildungsl kraft/Phantasie
[Empfänglichkeit (Rezeptivität)] [Selbsttätigkeit (Produktivität)] [Berufsausbildung] [BerufsausübungJ Kinderstatus Eltemstatus (= Farniliengründung)
Großeltemstatus
Merkmale in [...] sind fakultativ: sie treten nur in einige Theorien auf. Von den Untergliederungen der Kindheit sehe ich wiederum ab. Schema 5: Die Merkmale der Altersstufen
40
Michael Titzmann
Ich hebe einige zentrale Aspekte und ihre wechselseitigen Korrelationen hervor. Die Kindheit wäre demnach durch das Vorherrschen der »Sinnlichkeit« im goethezeitlichen Wortsinne, d.h. der Fähigkeiten und Erfahrungen, die unmittelbar auf den Sinnesorganen basieren, charakterisiert: insbesondere also durch die reproduktiven Fähigkeiten Wahrnehmung und Gedächtnis. Der Unmittelbarkeit der Erfahrung entspricht die (relative) Zeitlosigkeit der Existenz. Die Kindheit gilt als vorsexueller Zustand: Wenn nicht von außen - d.h. »gewaltsam« und »widernatürlich« - erweckt, kennt sie keine Sinnlichkeit im sexuellen Sinne, worin die Anthropologen auch mit allen Pädagogen, und besonders den Onanietheoretikern,34 übereinstimmen; eine geschlechtsspezifische Entwicklung des Kindes lassen vor allem die Pädagogen gleichwohl gern sehr früh einsetzen. Der Jugend entspricht in diesem System eine noch an die »Sinnlichkeit« gebundene Kreativität, die sich im Vorherrschen der Phantasie/Einbildungskraft manifestiert. In dieser Fähigkeit wird zugleich die zeitlose Gegenwärtigkeit der Kindheit überwunden und es wird im gedachten Entwurf eine erhoffte Zukunft vorweggenommen: eine Zeit also auch des Planens. Sie ist zugleich eine Zeit der besonderen emotionalen Intensität: der Leidenschaft im allgemeinen und der Liebe im besonderen, die aber ihrerseits noch realisiert werden kann bzw. darf. Diesem Zustand der Erwartung entspricht die Erfüllung im Mannesalter, das durch die Realisierung der Pläne und Wünsche der Jugend im Rahmen des jeweils Möglichen, durch Tätigkeit im Beruf und durch Liebesgenuß in der Ehe charakterisiert wird. Wie in diesem Alter die leidenschaftslos abstrahierenden und die Realität nicht, wie die Phantasie, ergänzenden, verbessernden, ersetzenden intellektuellen Fähigkeiten als vorherrschend gedacht werden, so ist z.B. leidenschaftliche Liebe für dieses Alter nicht vorgesehen, und die eheliche Liebe wird somit in Opposition zur jugendlichen Liebe gesetzt. Der Zustand des Mannesalters wird als der eines Gleichgewichts der Kräfte beschrieben, jede Leidenschaft somit umgekehrt als eine Einseitigkeit konzipiert, die nur im Zustand des Ungleichgewichts in der jugendlichen Transformations- und Bildungsphase zulässig ist. Der Zustand des Alters schließlich wird faktisch nur negativ konzipiert: durch Abnahme und Verlust in jedem Bereich. Das Alter wird etwa durch Verlust der Zeugungskraft, durch Beschränkung der kulinarischen Freuden, durch emotionale Verarmung und Erstarrung, durch Abnahme aller intellektuellen Fähigkeiten, durch physische Schwäche, Gebrechen und Krankheiten charakterisiert. Dem Alter bleibt also faktisch kein ihm spezifisches psychisches Merkmal reserviert: Es ist durch Negation definiert. Positiv wird allenfalls und nur vereinzelt die »Weisheit« genannt; aber es bleibt unspezifiziert, worin denn dieses Merkmal bestehe und worin sein Wert liege. Somit bleibt im Alter in diesem Sy34
Vgl. etwa Oest 1787 (siehe auch das informative Nachwort im Reprint von 1977 von Donata Elschenbroich, und Wernz 1993).
»Bildungs-«!Initiationsgeschichte und System der Altersklassen
41
stem nur das Festhalten an erworbenem Besitz, sei er nun materiell oder intellektuell, weshalb ihm denn auch gelegentlich Geiz und rigoroser Konservativismus zugeschrieben wird. In temporaler Hinsicht ist also die Gegenwart unerfreulich und die (diesseitige) Zukunft hoffnungslos: Je nach ideologischer Position schreiben daher die Autoren dem Alter entweder die Orientierung auf eine (diesseitige) Vergangenheit durch vorherrschende Erinnerung oder die Orientierung auf eine (jenseitige) Zukunft in metaphysischer Hoffnung zu. Man sieht: Es sind vor allem die Jugend und das Alter, deren Konzeption sich am meisten in unserer Kultur verändert haben. Der Mediziner Hartmann resümiert die wichtigsten Merkmale der Altersstufen, wobei nochmals deutlich wird, daß man an das Greisenalter keine spezifischen Merkmale zu vergeben hat; Hartmann erklärt: ... daß man das kindliche Alter das Alter der spielenden Sinnlichkeit, das Jünglingsalter das Alter der üppigen Phantasie, das männliche Alter das Alter der ernsten Vernunft nennen kann. Im hohen Greisenalter neigt sich der lichte Tag [...] wieder zur Dämmerung hin (Hartmann 1832, S. 53).
2.3.2 Pubertät und Sexualität: pseudomedizinische Normierungen Einen zentralen Faktor dieser Altersklassen bildet nun die Sexualität. Die Theoretiker definieren »Jugend« generell als Phase der Pubertät, in der sich die Sexualität entwickle, wobei viele Autoren keine näheren Datierungen der Pubertät vornehmen (so Flögel, Wezel, Grüner, Schwarz, Steffens, Berger, Heinroth, Carus): Diese Lücke kann aber durch andere - wiederum vorwiegend medizinische - Texte geschlossen werden. Die meisten Autoren betonen dabei, daß »Reife« für den Sexualakt nicht mit dem Eintreten der Pubertät zusammenfalle; manche datieren zudem das Ende der männlichen bzw. weiblichen Fruchtbarkeit. (Der Überblick findet sich auf S. 42.) Trotz der medizinischen Herkunft der meisten Autoren divergieren die Daten wiederum in erstaunlichem Ausmaß: wieder Indikator dafür, daß es sich um nicht empirisch fundierte Setzungen handelt. Das Alter des Eintritts in die Pubertät wird im allgemeinen höher angesetzt als das minimale Heiratsalter der Gesetzgebungen (vgl. Schema 3); da nun zudem postuliert wird, die Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr sei mit dem Eintritt der Pubertät noch keineswegs erlangt, wobei das Erlangen dieser Fähigkeit auffallend mit dem von den deutschen Gesetzen angenommenen Alter der Volljährigkeit korreliert, wird man annehmen dürfen, daß es in diesen Theorien dominant um repressive Normierung von Sexualität geht. Burdach formuliert, daß »mit dem Erwachen der Zeugungskraft noch nicht die Zeugungsreife gegeben« sei (1837, S. 567), und noch Meyer 1874 erklärt zum Jugendalter: In ihm wird das Zeugungsvermögen nur vorbereitet, um im folgenden Zeitraum erst eigentlich hervorzutreten, und daher beginnt auch die wirkliche Reife erst am Ende derselben (Meyer 1874,1, S.463).
42
Michael Titzmann Eintritt der Pubertät m
m = männlich w-weiblich KANT 1786
16-17
LODER 1793
18/19
Abschluß der Pubertät bzw. Reife zum Geschlechtsverkehr W
15
FORMEY 1796: Berlin
etwas früher 10-17
gegen 50
46-50 25
18
gegen 50
63
49
mit Eintritt der Pubertät
18 15
14
nach 16
,oft schon" mil 14
mit Eintritt der Pubertät 20-24
18-22
Verkehr nicht zu empfehlen: gegen 50 gegen 40 nach 40
um 15
16
14
oft noch früher
12-17/18
16
14
MEYER 1876
a) 15-20 b)17
a)12-15 b)14
23
20
PIERER 1888
15-16
13-15
21-25
18-22
BURDACH 1837
60 oder später
12-14 „oft noch früher"
CASPER 1825 ALBRECHT
45
13/14
WERTHEIM 1810: Wien
BURDACH 1829
60 oder später
14 14/15
JEAN PAUL 1807
MARX 1824: Götlingen
W
nicht vor 20 nicht vor 1 8 Minimales Heiraltsalter: nicht vor 24 nicht vor 1 8
OKEN 1805
ANONYMUS 1816
m
15-17
RAMBACH 1801: Hamburg
BUTTE 1811
w
Natur: 16- 17 Kultur:26-27
HUFELAND 1797
CONSBRUCH 1803
m
Ende der Fruchtbarkeit
24
46
21
ab 50 Schwächung
45-50
50 oder später
43 oder Mitte 40 45-50
(Die Angabe von Ortsnamen bedeutet, daß es sich um eine der »medizinischen Topographien« der Epoche handelt: In diesen Fällen beanspruchen die Daten Gültigkeit nur für den genannten Ort.) Schema 6: Lebensalter und Sexualität
Während also die Heiratsaltersregelungen der Gesetze offenkundig eher von sozialer Praxis und Praktikabilität bestimmt sind, setzen diese pseudowissenschaftlichen anthropologischen Diskurse Normen des Ideologisch Wünschenswerten, die als naturgewollt ausgegeben werden. »Medizin« dient pseudowissenschaftlicher Legitimation kultureller Sexualnormen und tritt in die früheren Funktionen der Theologie ein. So hat man sich denn in der Jugend generell der sexuellen Betätigung zu enthalten, wobei nur Oken und Butte signifikante Ausnahmen darstellen. Das Alter frühestzulässiger Sexualität wird somit soweit als möglich hinausgeschoben. Da der medizinisch-sexologische Diskurs im Regelfalle nicht nur die Onanie, sondern alle nicht-eheliche Sexualität für gesundheitsschädigend erklärt, wird also Beginn von Sexualität mit Eheschließung gleichgesetzt: Diese aber wiederum erscheint selbstverständlich an die Bedingung ökonomischer Selbständigkeit gebunden, so daß kein Recht auf Sexualität
»Bildungs-«/Initiationsgeschichte und System der Altersklassen
43
hat, wer nicht eine Familie ernähren kann. Was der anthropologische Diskurs im Regelfalle verschleiert, wird bei Kant ausgesprochen: Die Epoche der Mündigkeit, d.i. des Triebes sowohl, als Vermögens, seine Art zu erzeugen, hat die Natur auf das Alter von etwa 16 bis 17 Jahren festgesetzt: ein Alter, in welchem der Jüngling im rohen Naturzustande buchstäblich ein Mann wird; denn er hat alsdann das Vermögen, sich selbst zu erhalten, seine Art zu erzeugen, und auch diese samt seinem Weibe, zu erhalten. [...]. Im kultivierten Zustande hingegen gehören zum letzteren viele Erwerbsmittel, sowohl an Geschicklichkeit, als auch an günstigen äußeren Umständen, so daß diese Epoche, bürgerlich, wenigstens im Durchschnitte um 10 Jahre weiter hinausgerückt wird. [...]. Hieraus entspringt nun dem Naturzwecke durch die Sitten, und diesen durch jenen, ein unvermeidlicher Abbruch. Denn der Naturmensch ist in einem gewissen Alter schon Mann, wenn der bürgerliche Mensch (der doch nicht aufhört, Naturmensch zu sein) nur Jüngling, ja wohl gar nur Kind ist; denn so kann man denjenigen wohl nennen, der seiner Jahre wegen (im bürgerlichen Zustande) sich nicht einmal selbst, viel weniger seine Art erhalten kann, ob er gleich den Trieb und das Vermögen, mithin den Ruf der Natur für sich hat, sie zu erzeugen (Kant 1786, S. 94).
Hier ist auch ausgesprochen, daß das entworfene Lebenslaufmodell, das zur allgemeinen Norm gemacht wird, letztlich gruppenspezifisch ist: Es ist offenkundig ein Modell bürgerlichen Schichten mit langer Ausbildungsphase des männlichen Jugendlichen; die pseudomedizinischen Argumente gegen frühe Sexualität erlauben dann seine Ausweitung auf tiefere wie höhere soziale Schichten. Nur das »Mannesalter« ist also der Lebensabschnitt legitim praktizierter Sexualität. Aber auch für diese Phase wird die Sexualität mit medizinischen Geboten umstellt, die Frequenz wie Praktiken pseudowissenschaftlich zu normieren suchen und dringlichste Mäßigkeitsempfehlungen aussprechen.35 Auch für den Mann erscheint Sexualität als gefährlicher Kräfteverbrauch: nicht als etwas, was guttut, sondern was schwächt - »Schwächung« ist denn auch eine der rekurrenten Metaphern für Schwängerung, wie denn Onanie als »Selbstschwächung«36 beschrieben wird. Alle Akte der Sexualität erscheinen als Störung einer Homöostase des biologischen Systems, wo der »Output« gefährlich über den »Input« überwiegt. Der medizinische Diskurs definiert in der Tat infolge seiner normlegitimierenden Absichten »Sexualität als Krankheit«.37 Wo also schon der »Reife« des »Mannesalters« unendliche Vorsicht empfohlen wird, kann das »(Greisen-)Alter« somit nur, wie die Kindheit, als asexuell konzipiert werden; Sexualität sollte folglich vor dem biologischen Erlöschen der Zeugungskraft bzw. Fruchtbarkeit aufgegeben werden - der Anonymus von 1816 empfiehlt die Einstellung des Betriebs für den Mann um 50, für die Frau um 40.
35
So z.B. Anonymus 1816. Z.B. Oest 1787, S.21,24, 57, 94 usw.; bei Oest ist Onanie sogar dem Selbstmord äquivalent (S. 54) und er beschreibt beide folgerichtig in derselben Metaphorik: »Hand an sich selbst zu legen« (S. 97). 37 So Wernz 1993, die die Normierungen der Sexualtheoretiker und ihre biologisch-psychologischen Konstrukte rekonstruiert und interpretiert hat. 36
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Michael Titzmann
Das »(Greisen-) Alter« wird denn auch - so schon Flögel 1778 und noch Heinroth 1831 - als »andere«, »zweite Kindheit« - mit Jean Pauls Worten: deren »böser Nachdruck« (1807, S. 813) - metaphorisiert: Das höchste Alter kehrt zur Kindheit zurück (Heinroth 1831, S. 164).
Gemäß solcher metaphorischer Äquivalenz - deren Verwendung so sehr durch präsupponierte Selbstverständlichkeit charakterisiert ist, daß wir wiederum ein vorgängiges Substrat im vortheoretischen Wissen annehmen dürfen - postuliert Butte, dem dabei freilich selbst bange wird, ein Erlöschen der Volljährigkeit, das er mit dem Erlöschen der Zeugungskraft (plus einem Zuschlag von 9 Jahren) korreliert. Der Umgang mit Sexualität erscheint geradezu als entscheidende Variable, von der die Lebensdauer abhängt: Die eleganteste Theorie, die die ideologischen Bedürfnisse der Epoche strukturell und funktional korreliert, hat vielleicht Hufeland 1797 formuliert. Ihm zufolge gäbe es eine mystisch-vage Kategorie der »Lebenskraft« (»vis vitalis«), die für jedes Individuum begrenzt sei, woraus - im Konsens auch mit den anderen Theoretikern - ein maximales Lebensalter folgt, das bei ihm eine naturgegebene Größe ist, deren (Nicht-)Ausschöpfung aber der Autonomie des Individuums anheim gegeben ist. Für diese begrenzte Menge an »Lebenskraft« würde gelten: Bei jeder Äußerung derselben geschieht eine Entziehung von Kraft und wenn diese Äußerungen zu stark oder zu anhaltend fortgesetzt werden, so kann völlige Erschöpfung die Folge sein (Hufeland 1797, S. 51).
Das von ihm explizit postulierte Gesetz der umgekehrten Proportionalität von Intensität und Extension des Lebens scheint in Medizin und Moral der Epoche überall implizit zugrunde zu liegen: Die Energie des Lebens wird also mit seiner Dauer im umgekehrten Verhältnis stehen, oder je mehr ein Wesen intensiv lebt, desto mehr wird sein Leben an Extension verlieren (Hufeland 1797, S. 55).
Jeder Genuß von »Sinnlichkeit« im goethezeitlichen Wortsinne, insbesondere der der Sexualität, reduziert also die Menge verfügbarer Lebenskraft und verkürzt das Leben: und somit wäre die ideologische Norm pseudomedizinisch begründet. Asexuelle »Kindheit« bzw. sexuell enthaltsame »Jugend« sind in diesen Theorien nicht nur Recht, sondern geradezu Pflicht und dürfen nicht verkürzt werden. Man macht sich daher gern Buffons Theorem einer Proportionalität von Entwicklungs-und Lebensdauer zu eigen, das bestens mit Hufeland kompatibel ist: Doch eben dieser stufenweise langsame Gang führet ihn zum langen Leben; denn es ist gewiß, daß die Dauer eines Geschöpfes desto länger ist, je langsamer seine Entwicklungen geschehen (Wenzel 1800, S. 102).
Auch dieses Theorem scheint aber ein vorgängiges Substrat im kulturellen Alltagswissen gehabt zu haben, wie Flögels sprichworthafte Generalisierung viel-
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leicht verrät: »... was zeitig wächst, ist nicht von langer Dauer« (1778, S. 127). Laut Hufeland gilt im Tierreich, daß der Zeitraum bis zur Pubertät den fünften Teil der gesamten Lebensdauer ausmache (1797, S. 76). Sofern man auf der Basis der gesamten Entwicklungszeit rechnet, ergibt sich freilich sofort ein neues Problem, da diese geschlechtsspezifisch angesetzt wird; Schwarz erklärt demnach: Die Jugend des männlichen [= Kindes] nimmt ein Dritteil des Menschenlebens ein (25 Jahre), während der weiblichen etwa nur ein Vierteil der Lebenszeit (18 Jahre) gestattet ist (Schwarz 1805, S. 58),
womit sich ein maximales Alter von etwa 72-75 ergäbe. Das Konzept des maximalen Lebensalters ist jedenfalls mehrfach fundiert; die deutschen Systeme haben daher keinen Platz für Überlegungen, wie sie Condorcet 1795 angestellt hat, als er darauf hinwies, man wisse nicht, ob es eine obere Grenze des Lebens gäbe und wo sie läge (S. 220). Die Frage bleibt nun freilich, warum denn ein hohes Alter anstrebenswert sein soll, wenn mit ihm Verfall - »zweite Kindheit« korreliert ist: Nur mehr simple Todesfurcht - ein Indiz des Verlustes religiöser Gewißheit - könnte den Wunsch nach extensivem Leben erklären. Eine Teilmenge der Theorien versucht sich denn notgedrungen an einer Aufwertung des Greisenalters (z.B. Sintenis 1795, Burdach 1837, Hufeland 1797): In diesen Varianten wird angenommen, daß die »zweite Kindheit« aus früherer NichtEinhaltung der Normen der Mäßigkeit und Enthaltsamkeit resultiere, während Normerfüllung, bei allem physischen Niedergang, einen positiven ideologischen Wert - klugerweise unspezifiziert bleibende »Weisheit« - hervorbrächte. In der bloßen Verfallskonzeption des hohen Alters würde der menschliche Lebenslauf einem zirkulären Modell gehorchen, in der Weisheitsvariante fände zumindest eine Annäherung an das lineare Modell statt, das die Entwicklungs- und Fortschrittskonzeptionen von Aufklärung und Idealismus beherrscht. 2.3.3 »Jugend« als Phase der »Entwicklung« und der »Gefährdung« In Hinblick auf die Erzählliteratur der Goethe-Zeit ist zweifellos »Jugend« die relevanteste Altersklasse, weshalb ich denn auf diese näher eingehe. Es sind in den Texten zwei Eigenschaften, die als dominante Merkmale von »Jugend« erscheinen: »Jugend« wäre charakterisiert durch die Prävalenz der Phantasie (»Einbildungskraft«) und der Liebesbereitschaft. Die nicht hinreichend rational kontrollierte Neigung zur Phantasietätigkeit mache Jugend »leichtgläubig« (Flögel 1778, S. 145) und »zur Schwärmerei geneigt« (Burdach 1837, S. 566) - noch der Meyer von 1874 weiß von der »sehr häufigen Neigung zur Schwermut und zur Schwärmerei« zu berichten (Meyer 1874, XIII, S. 325). »Schwärmerei« ist in goethezeitlicher Anthropologie eine der zentralen Bedrohungen des Menschen, ob ihr Gegenstand nun ein eroti-
46
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scher, politischer, religiöser bzw. okkultistischer ist: Sie droht immer, in »Wahnsinn«,38 also Selbstverlust, überzugehen: Die Periode der Phantasie ist deshalb ganz besonders die Periode des Irrtums, und oft entspringen auf dieser Stufe Irrungen, welche der ganzen späteren Entwicklung eine besondere Färbung, eine gestörte Richtung mitgeben (Carus 1846, S. 180).
Aber auch die Liebesneigung erweist sich als nicht zuletzt gefährlich: In diesem Alter blüht die Liebe, die Quelle der seligsten Gefühle und der bittersten Pein, die Triebfeder der edelsten Handlungen und der schrecklichsten Verirrungen (Brockhaus 1834,1,8.217).
Das Jugendalter erscheint als Phase der Neigung zur Normverletzung·. Das scheint recht das Alter der Sünde zu sein und wird von allen Pietisten als das sündlichste Alter angesehen. Freilich ist dies ein gefährliches Alter, und es gehen viele darin verloren, wie es denn überhaupt eine Entwicklungsperiode ist [...] (Arndt 1806:1818, IV, S.509f.).
»Jugend« erscheint als Gefahr für sich und andere, und diese Gefährlichkeit korreliert die Kultur deutlich mit der sich manifestierenden Sexualität und dem sozial verordneten Befriedigungsverzicht, weshalb sie denn mit der vom Mannesalter fast normativ erwarteten Eheschließung endet: »(Jüngling ~ Ehelosigkeit ~ Gefahr)« vs »(Mann ~ Ehe ~ Nicht-Gefahr)«. Diese Korrelation hat ganz offenkundig politische Aspekte. Früh schon beschwert man sich über politische Unruhe durch Jünglinge - aber man kennt auch das Heilmittel: An dem Altar des Hymens legten sich auf einmal der Aufruhr in ihren Sinnen und zugleich in dem Staate (Meister 1775,1, S. 16). Was ist der Mann, solange er ehelos bleibt? Ein einsames egoistisches Wesen, das an niemand und an dem niemand hängt. [...]. Der Mann verheiratet sich, und sein Charakter wird ruhiger und bestimmter, der Egoismus seines Herzens ist gemildert und seine Familie knüpft ihn näher an den Staat (CA. Fischer 1800, S. 109f.). Glückliche Ehen sind die wichtigsten Grundfesten des Staats und der öffentlichen Ruhe und Glückseligkeit. Ein Unverehelichter bleibt immer mehr Egoist, unabhängig, unstet, von selbstsüchtigen Launen und Leidenschaften beherrscht, weniger für Menschheit, für Vaterland und Staat, als für sich selbst interessiert; das falsche Gefühl der Freiheit hat sich seiner bemächtigt [...]. Was kann wohl mehr zu Neuerungen disponieren, als die Zunahme der ehelosen Staatsbürger? Die in der Ehe notwendige Abhängigkeit von der anderen Hälfte gewöhnt unaufhörlich auch an die Abhängigkeit vom Gesetz, die Sorgen für Frau und Kind binden an Arbeitsamkeit und Ordnung im Leben; durch seine Kinder ist der Mann an den Staat festgeknüpft [...] (Hufeland 1797, S.280).
Die unbefriedigte Sexualität der Jugend bedroht also nicht nur das moralische Normensystem, sondern gar die politische Ordnung: Ehelosigkeit prädisponiert zu Revolution. Offenbar kollidieren in diesem Denk- und Wissenssystem unvereinbare Bedürfnisse: ein Bedürfnis politischer Domestizierung, dem frühe 38
Vgl. Titzmann 1979.
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Eheschließung ratsam schiene, und ein Bedürfnis sexueller Domestizierung, das maximale Einschränkung und Verschiebung der Triebbefriedigung verlangt. Wenn eine solche Art als gefährlich gedachte »Jugend« dennoch maximal ausgeweitet wird und nicht verkürzbare Pflichtübung ist, dann dominiert sichtlich das soziale Bedürfnis der Triebkontrolle. Während nun das Kind ein unter Fremdkontrolle stehendes Potential darstellt, vom Manne hingegen rationale Selbstkontrolle und normierte Selbstdomestizierung erwartet wird, damit zugleich eine - definitive! - Festlegung des Charakters und somit ein verläßlich-konstantes, sozial berechenbares Verhalten, ist Jugend hier die Phase, wo die Fremdkontrolle aussetzt und die Selbstkontrolle noch nicht eingesetzt hat, wo das Personpotential experimentell erprobt wird und die Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten noch nicht abgeschlossen ist; es ist also die Phase von Entscheidungen des Subjektes, für dessen Mannesalter keine weitere »Entwicklung« vorgesehen ist. »Jugend« ist demnach, wie einige Autoren auch explizit erklären, die »Entwicklungsperiode« schlechthin (Arndt 1806: 1818, IV, S. 510). Ohne hier das goethezeitliche Konzept der »Entwicklung« und das - spezifiziertere - der »Bildung« erneut zu diskutieren, sei doch erinnert, daß es sich bei beiden (bei »Entwicklung« schon lexikalisch vorgegeben: Adelung 1793, I, Sp. 1841; bei »Bildung« durch Blumenbachs biologische Theorie des Bildungstriebs 1781 bzw. 1791 eingeführt) darum handelt, daß ein latentes, nicht wahrnehmbares Potential in eine manifeste, wahrnehmbare Realisation transformiert wird. Wie »£/A/bildung« goethezeitlich bedeutet, daß das Subjekt etwas in sich hineinnimmt, bedeutete »Ausbildung« in dieser Epoche einen Prozeß von innen nach außen: von der Latenz zur Manifestation. Dieser Prozeß - am deutlichsten bei Blumenbachs biologischem »Bildungstrieb« - ist ein im System, hier also der Person, selbst schon angelegter, teleologisch-finaler Prozeß, der aber gleichwohl die doppelte Alternative der Nicht-Entwicklung und der Fehlentwicklung eines Potentials zuläßt, insbesondere natürlich aufgrund von äußeren Umständen, im menschlichen Bereich wiederum nicht zuletzt der sozialen Bedingungen, wobei Fehlentwicklungen speziell vorzugsweise als »(Selbst-)Verführung« interpretiert werden. Das Konzept der »Bestimmung« des Menschen, um die Jahrhundert-Mitte noch theologisch interpretiert, also als personexterne Zielvorgabe von außen, jetzt eher natur- bzw. geschichtsphilosophisch interpretiert, als quasi personinterne Zielvorgabe, drückt diese - störbare - Teleologie des Prozesses aus. Im Gegensatz zur späteren Freudschen, die Relevanz des Unbewußten akzentuierenden Psychologie, für die die fundamentale Entwicklung in der Kindheit stattfindet, legt die goethezeitliche Psychologie die entscheidende Entwicklung in die Jugend und betont die Relevanz von Bewußtwerdung und »Selbstbewußtsein«, d.h. hier noch: Bewußtsein seiner selbst; »Jugend« ist folgerichtig die Phase der »Selbstfindung«, die Phase »jener Entzückung des Erwachens zum hellen Selbstbewußtsein« (Sihler 1829, S. 115). Der Pädagoge Schwarz faßt, unter Aufgebot der signifikanten epocha-
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len Metaphoriken bzw. Kollektivsymboliken, den Prozeß der Jugend zusammen: Mit Beendigung der Jugend findet s ich der Mensch selbst, indem er die Idee erfaßt von dem, was er sein und werden soll, also seine Bestimmung erkennt und diese zur freien Selbstbestimmung macht. [...} seinen Charakter kann und soll er jetzt wissen. Die Einheit im Selbstbewußtsein wird hierdurch zur Sachkenntnis, das Ich findet sich als dasselbe, das es in der Kindheit war, nur ist die Knospe jetzt entfaltet, und was dem Bewußtsein verhüllt gewesen, hat sich ihm nun enthüllt. Was die Natur im Stillen der Seele in der Kindheit einbildete, und was die Seele in sich von Anfang gebildet hat, aus dem Dunkel hervordämmernd zur hellen Freitätigkeit; das bildet nun der erwachsene junge Mensch in sich mit Freiheit und vollem Bewußtsein aus (Schwarz 1805, S. 92; Hervorhebungen von mir).
Wir müssen wohl folgern, daß der goethezeitlichen Entwicklungspsychologie die Akzeptabilität der sozialen Normen und Strukturen durch ihre Einübung in der kindlichen Sozialisation offenbar als nicht gesichert gilt, wenn sie in diesem Umfang in der Jugend einerseits gefährdet scheint und andererseits vom Subjekt jetzt bewußter Zustimmung bedarf; die gewünschte soziale Normierung wird selbst im Begriff der »Bestimmung« versteckt und kann damit wiederum als biologisch-naturhaft, somit als außerhistorisch-invariant, gedacht werden. 2.3.4 Metaphorische Projektionen: Äquivalente der Altersstufen und deren Konstruktionsprinzipien In einer ersten Äquivalenzserie dienen Lebensalter und ihre Normierungen der ideologischen Zuordnung soziokultureller Differenz und Fremdheit. Was sich synchron abweichend zum normativen Standard verhält, wird zum Äquivalent von Kindheit: 1. »Greise« ~ »Kinder«. 2. »Wahnsinnige« ~ »Kinder« 3. »Unterschichten« = »Kinder« 4. »Wilde« ~ »Kinder«; was zur Folge hat: 5. »Greise« ~ »Wahnsinnige« ~ »Unterschichten« = »Wilde« = »Kinder« Wilde und Kinder werden etwa korreliert bei Meister (1775, II, S. 4), Wezel (1784, II, S. 197), Heinroth (1818, I, S. 4), Wahnsinnige und Kinder bei Leß (1776, S. 17) und Bernhardi (1794,1, S. 69), Unterschichten (= »Volk«) und Kinder bei Wezel (1784, II, S. 197) und Heinroth (1818,1, S. 4). Die synchrone Abweichung wird als Defizienz gegenüber dem eigenen Status erfahren, dessen normative Verbindlichkeit dadurch gesichert wird: Den abweichenden Gruppen wird zugleich Unmündigkeit zugeschrieben, woraus das Recht zu ihrer Bevormundung folgt (was politisch unter anderem antidemokratisch-autoritäre Strukturen im Inneren, imperialistischen Kolonialismus im Außen theoretisch legitimiert). Ein Problem der Differenz und Fremdheit - teils ethnologisch-synchron, teils historisch-diachron - hat aber auch die aufklärerische und die idealistische Ge-
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Schichtsphilosophie zu bewältigen, in deren Konstrukten weltgeschichtlicher Entwicklung ebenfalls im Regelfalle das eigene System als vorläufig-optimaler Zustand gesetzt wird. Der naheliegenden zweiten Äquivalenzserie zwischen Geschichtsphasen und Lebensaltern liegt das verbreitete aufklärerische Theorem des gemeinsamen Entwicklungsgesetzes von Gattung und Individuum zugrunde: Dieser Fortschritt [des menschlichen Geistes] untersteht denselben allgemeinen Gesetzen, die sich an der Entwicklung der Fähigkeiten bei den Individuen beobachten lassen [...] (Condorcet 1795, S. 31). Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben (Lessing 1780, S. 509 = §93).
Diese Äquivalenz von »Entwicklung«/'»Bildung« der Gattung ~ »Entwicklung«/»Bildung« des Individuums, die sich unter anderem ebenso in den Geschichtsphilosophien Schillers, Fichtes, Hegels findet, bietet sich also förmlich zur Projektion der Altersklassen auf die Geschiehtsphasen an, die etwa Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts ebenso explizit vollzieht (AT = Offenbarung für Kindheit, NT ~ Offenbarung für Jugend, woraus die Notwendigkeit einer dritten Offenbarung für das Mannesalter folgt), wie sie in Schillers Etwas über die erste Menschengesellschaft angelegt ist (Zustand des Paradieses als solcher der Kindheit, somit der Unmündigkeit). So oft solche Metaphorik punktuell auch auftritt: eine systematische Anwendung scheint sie fast nur in Herders Auch eine Philosophie der Geschichte (1774) gefunden zu haben. Morgenländische und ägyptische Kultur erscheinen als Knabenalter (1774, S. 45), die griechische Antike als Jünglingsalter (1774, S. 53), die römische als Mannesalter der Menschheit (1774, S. 59) - dann freilich wird die Serie klugerweise abgebrochen: Denn entweder müßte mit dem Erscheinen des Christentums das Greisenalter oder eine neue Kindheit eintreten - beides ideologisch problematisch ... So widerruft Herder denn auch in den Ideen zur Geschichte der Menschheit diese Metaphorik: ... doch war es mir nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten: Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Geschichte der Kultur, geschweige die Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuße ausmessen könnte (Herder 1784, S. VI).
In der Folge scheint sie nie systematisch angewandt worden zu sein: Der unvermeidliche Abstieg des Greisenalters kollidiert mit der Vorstellung von Entwicklung zum optimalen Menschheitszustand, der zugleich Einlösung der Theodicee wäre, die man seit dem Geniestreich von Wielands Die Natur der Dinge (1752) klugerweise ans Ende der Geschichte verlagert hat. Während diese beiden Äquivalenzserien psychische, soziale, ethnologische, historische Differenz integrierbar machen, indem sie sie als Entwicklungsphasen naturalisieren, ordnet die dritte Äquivalenzserie unmittelbar den menschlichen Lebenslauf seinerseits in Naturprozesse ein. Vollzogen wird eine doppelte
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Äquivalentsetzung: »Lebensalter« ~ »Tageszeiten« ~ »Jahreszeiten« -•wiederum scheint es sich um schon vorgefundenes kulturelles Wissen zu handeln.39 So erklärt Flögel etwa: Die Jahreszeiten haben mit unserem Körper und daher auch mit unserer Seele große Ähnlichkeit (1778, S. 141)
und korreliert Kindheit und Frühling, Jüngling und Sommer, Mannesalter und Herbst, Greisenalter und Winter. Berger betont den metaphorischen Charakter der Korrelation: Das menschliche Leben aber hat, aus der Nacht zu seiner Mittagshöhe emporsteigend und von dieser in eine zweite Nacht zurücksinkend, wie jedes andere in der Natur, seine Perioden oder Alter, die man entweder als die der Zunahme, des Stillstands und der Wiederabnahme, oder nach der Analogie der vier Tages- und Jahreszeiten bestimmen kann, welche letztere uns hier leiten mag [...] (Berger 1824, S.211).
Von den systematischen Varianten seien hier nur zwei vorgestellt: Heinroth 1831
Berger 1824
[Frühe Kindheit]
Frühling Morgen Knospe Kindheit Frühling Morgen Knabenalter
[Jugend]
Sommer Mittag Blüte Jugend Sommer Mittag Reifes Alter
Herbst Abend Reifes Alter Herbst Abend Hohes Alter
Winter Nacht Fruchtsame Greisenalter Winter Nacht Hohes Alter
[...] = ohne Entsprechung im System der Tages-/Jahreszeiten Schema 7: Lebensalter und Tages-/Jahreszeiten
Das logische Problem der Zuordnungen liegt auf der Hand: Bei Flögel und Heinroth wird, was Lebenshöhe sein sollte, das Mannesalter, mit den problematischen Zeiten Herbst und Abend, solchen eines Absteigens, verknüpft, was Berger zwar vermeidet, aber eben um den Preis, daß die Symmetrie der Entsprechungen gestört wird. Ähnlich wie die Zuordnung von Geschichtsphasen und Lebensaltern wirft die von Lebensaltern und Tages- bzw. Jahreszeiten Probleme auf, wenn sie systematisch durchgeführt werden soll: Sie wird daher wohl 39
Die Korrelation von Tages- bzw. Jahreszeiten mit Lebensaltern ist schon in der Antike gut belegt. Zum Beispiel Catull, Carmina 5: »soles occidere et redire possunt: / nobis, cum semel occidit brevis lux / nox est perpetua una dormienda.« - Oder Horaz, Oden IV 7: »immortalia ne speres, monet annus et almum / quae rapit hora diem«. - In der Renaissance zitiert etwa Tassos Aminta (1581) Catulls carmen 5: »Amiam, che'l Sol si muore e poi rinasce: / a noi sua breve luce /s'asconde, e'l sonno eterna notte adduce«. - Im Barock belegt etwa Gryphius' Trauerspiel Cardenio und Gelinde (1657) eine viergliedrige Altersklassenbildung und deren Homologisierung mit den Jahreszeiten, wenn im »Reyen« zwischen Akt III und IV als Personifikationen auftreten: »Die Zeit / der Mensch / die Vier Theil deß Jahres / in Gestalt der Vier Zeiten Menschlichen Alters«. Auch der Sonett-Zyklus Morgen Sonnet, Mittag, Abend, Mitternacht in Gryphius' Teutsche Reim-Gedichte (1650) belegt dieselbe Korrelation.
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in Theorie (wie auch Literatur) der Epoche zwar sehr oft, aber vorzugsweise nur selektiv praktiziert. Ein hübsches Beispiel bietet Goethes Lyrik: In der frühen Lyrik der »Sturm und Drang«-Phase werden unentwegt »Jugend« des Sprechers und die Tages- bzw. Jahreszeiten »Morgen« und »Frühjahr« korreliert (vgl. z.B. Maifest von 1775); in der späten Lyrik entsprechen sich »Alter« des Textsprechers und »Nacht« (vgl. z.B. Um Mitternacht oder Der Bräutigam).
3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede: zur Relation literarischer und theoretischer Modellierungen der Altersklassen
3.1 Vortheoretische und literarische Herkunft theoretisierter Wissensmengen (1) Am Startpunkt der goethezeitlichen Altersklassensysteme und Merkmalszuordnungen in Literatur und Theorie steht zweifellos ein vortheoretisches Alltagswissen, das in Literatur wie in Theorie systematisiert, ergänzt, transformiert wird. Die unübersehbaren Gemeinsamkeiten - z.B. die Tendenz zur Viergliedrigkeit der Altersklassifikation, zur kollektivsymbolischen Repräsentation durch Tages- und Jahreszeiten, zur Zuordnung von »Liebe«, »Phantasie«, »Entwicklung« an die »Jugend« - lassen sich kaum anders erklären: Denn sie sind schon in der Konstituierungsphase der Initiationsgeschichte und in den frühgoethezeitlichen, noch wenig systemhaften anthropologischen Äußerungen gegeben, deren Wissensmengen die Literatur sicher nicht präsupponiert hat, soweit sie nicht ohnedies dem kulturellen Wissen angehörten. Diesen gemeinsamen vortheoretischen Wissensmengen versucht der theoretische Diskurs in der Folge einen pseudophilosophischen oder pseudowissenschaftlichen Anspruch zu verleihen: Die chronologische Sukzession der anthropologischen Texte belegt deutlich, wie z.B. aus der einfachen anfänglichen Viergliedrigkeit komplexe mehrstufige Taxonomien entstehen, analog zur Transformation der Philosophie von ihrem spätaufklärerischen Zustand zu dem des Idealismus. Ein vergleichbarer Prozeß der Transformation vortheoretischen Wissens in pseudowissenschaftliche Systeme ließe sich für den Prozeß der Systematisierung und Theoretisierung der kulturellen Annahmen zu den Geschlechterrollen belegen. (2) Aber nicht nur gehen die literarischen und theoretischen Konzeptionen offenbar auf gemeinsames vortheoretisches Wissen zurück: Es scheint zudem zu gelten, daß nicht die Literatur auf theoretisch artikuliertes Wissen zurückgreift, sondern daß der theoretische Diskurs, wenn auch selektiv, Elemente des literarischen Modells übernimmt, jedenfalls, was die Konzeption der »Jugend« als Phase der »Entwicklung« und »Bildung« betrifft: Denn während das Modell »Initiationsgeschichte« spätestens um 1800 in vollständiger und komplexer Form vorliegt, gehören die bezüglich der epochalen Merkmale vollständigen,
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am weitestgehenden systematisierten theoretischen Modelle eindeutig der zweiten Hälfte der Goethe-Zeit an. (3) Die auffälligen Differenzen zwischen juristischen und nicht-juristischen Diskursen und die ebenso auffälligen Differenzen innerhalb jeder dieser beiden Diskursklassen belegen drastisch den nicht-empirischen normativen Charakter der Festlegung von Altersklassen. Der explizit normative juristische Diskurs ist unmittelbar praktisch relevant, da die Einhaltung seiner Normen durch die Sanktionsdrohung erzwungen wird: Aufgrund aber eben dieser Praxisrelevanz berücksichtigt er vermutlich auch stärker die Bedürfnisse der tatsächlichen sozialen Praxis. Der implizit normative nicht-juristische Diskurs geriert sich zwar mehr oder minder als empirisch gestützt und wissenschaftlich, läuft aber unverkennbar auf eine ideologisch relevante theoretische Normierung hinaus, die z.B. bezüglich der Ausübung von Sexualität, die sie maximal zu verzögern sucht, restriktiver als die Gesetzgebung ist. Der sozialen Normsetzung des Rechts konfrontiert dieser Diskurs eine als biologisch-natürlich gedachte Norm. (4) Literarische Initiationsgeschichten und theoretische Diskurse teilen das Merkmal, daß sie zwar eigentlich unvereinbare Denkmodelle einander überlagern: Das Modell der »Entwicklungskurve« als Zeichen eines graduell-quantitativ verlaufenden, mehr oder minder kontinuierlichen Prozesses und das »Stufenmodell« als Zeichen eines in qualitativen »Sprüngen« verlaufenden, diskontinuierlichen Prozesses. Ein und derselbe Entwicklungsprozeß wird einerseits, dominant und manifest, als Abfolge qualitativ-disjunkter Klassen, andererseits, nicht-dominant und latent, als Verschiebung auf einer quantitativen Skala dargestellt. Für die Theorie habe ich diese Doppelperspektive schon dargestellt; für die Literatur sei sie hier nachgetragen. Die Initiationsgeschichte markiert im Regelfalle sehr deutlich die Grenzen der Transitionsphase; allenfalls können Desintegration und Reintegration in (wiederum deutlich qualitative) »Schritte« zerlegt werden, so etwa in den Lehrjahren Aufnahme in die Turmgesellschaft und Aufnahme in die Familie. Wenn und insoweit aber in der Transitionsphase ein Prozeß der »Entwicklung/Bildung« sich abspielt, muß er auf einer allmählichen, graduellen, somit im Prinzip quantitativen Verschiebung basieren (die sich naturgemäß qualitativ, in mehr oder weniger relevanten Ereignissen, präsentiert). Die Erzähltexte »synthetisieren« qualitativ-diskontinuierliche und quantitativ-kontinuierliche Konzeptionen des Entwicklungsprozesses in einer Emergenzregel: R 8: Innerhalb der durch qualitativ-disj unkte Grenzen markierten Transitionsphase findet eine allmähliche Addition von Erfahrungen statt, die zunächst in der Latenz bleibend, einen Kulminationspunkt erreichen, in dem sie, »plötzlich«, als qualitativer Einschnitt, manifeste Wirkung zeigen. (Die Idee eines »Umschlagens« von »Quantität« in »Qualität« bei Marx dürfte aus dem Goethe-Zeit-Denksystem stammen). Nur ein Beispiel: Nach langen und vielfältigen Versuchen addieren sich Victors Erfahrungen latent in Dichter und ihre Gesellen zur manifesten diskon-
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tinuierlichen Emergenz einer dezisiven Entscheidung für den Übergang nach Tr: »plötzlich« steht er in Mönchskleidung da. (5) Mit dieser Überlagerung eines quantitativen und eines qualitativen Entwicklungsmodelles (die sich ebenso in der spätaufklärerischen (z.B. Schiller) oder idealistischen Geschichtsschreibung (z.B. Hegel) nachweisen ließe) ist ein denkgeschichtlicher Prozeß korreliert, dessen konstitutive Relevanz J. Link 1987 gezeigt hat. Insoweit (explizit) der theoretische Diskurs (und implizit die Literatur) qualitativ-disjunkte Grenzziehungen vornimmt, praktiziert er eindeutig, wenn auch uneingestanden, eine Normsetzung. Insoweit sie aber diese verleugnet und als empirisch fundierte, d.h. auf hinreichend breitem quantitativem Material basierende, ausgibt, behauptet sie, eine naturbedingte oder sozialbedingte »Normalität«, zu rekonstruieren, die aus statistischen Normalverteilungen abgeleitet wäre.
3.2 Die Spezifizität der Initiationsgeschichte gegenüber dem Wissen der theoretischen Diskurse (1) Die anthropologische Theorie dieser Kultur nimmt die vier Altersklassen aus der Perspektive des Erwachsenen/Mannesalters, als Höhepunkt und Ziel des Lebens wahr, die Initiationsgeschichte hingegen legt nicht nur den Fokus der Darstellung auf die Jugend- bzw. Transitionsphase, sondern identifiziert sich weitgehend, von Distanzierungen bei Fehlverhalten des Protagonisten abgesehen, mit der Perspektive dieses Lebensabschnitts. (2) Das »Erwachsenenalter« ist zwar wünschenswerter oder unvermeidlicher Zielzustand, aber die Transitionsphase erscheint als durchaus eigenständiger Wert und, nicht nur im Falle ihrer Prolongierung wie in manchen Texten der Romantik, als »eigentliches«, »intensives« Leben, als (unausgesprochen oder ausgesprochen) die vergleichsweise begehrenswerteste Lebensphase. Die Fälle bewußter Selbstinfantilisierung und somit eines Beharrens im vorsexuellen Zustand wie im Teil I des Sternbald - »ich will immer ein Kind bleiben« (Tieck 1798, S. 19) - sind ebenso selten wie ein vorzeitiger Drang zum Übergang ins »Mannesalters«. Obwohl als Übergangs-/Transitionsphase dargestellt, erhält »Jugend« eine eigene Berechtigung: Sie nicht zu verkürzen, sondern auszuleben, ist eine unausgesprochene Norm der Texte. (3) Dem Protagonisten mögen »Kinder«, »Erwachsene«, »Greise« begegnen: im Unterschied zum theoretischen Diskurs sind Merkmale und Probleme dieser Altersklassen im Regelfalle nicht Thema der Texte; diese anderen Altersklassen und ihre Merkmalszuordnungen fungieren als mehr oder minder »selbstverständlich« und stehen nicht zur Diskussion. (4) In den theoretischen Diskursen ist jedermanns »Jugend« eine »Entwicklungsphase«; in der Initiationsgeschichte wird unterschieden. Die Texte interessieren sich nicht für die »normalen Entwicklungen« unter »sozial normalen Bedingungen«: sondern nur für die exzeptionellen Entwicklungen privilegierter
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Individuen (die weitestgehend von sozioökonomischen Hemmnissen ihrer Entwicklung freigesetzt sind). Nicht die durchschnittliche Normalität des in der gegebenen bzw. dargestellten Gesellschaft Möglichen interessiert: sondern nur der utopische Fall, tendenziell also die Art »Person«, die die (geschichtsphilosophisch bzw. anthropologisch begründete) »Bestimmung des Menschengeschlechts«40 repräsentiert, was nicht hindert, daß, wie etwa in den Lehrjahren, durchaus umweltbedingte Begrenzungen der Entwicklung des Protagonisten resignativ thematisiert werden können - es geht um die unter den jeweiligen, immer beschränkenden, sozialen Bedingungen relativ optimale Variante. (5) Während die anthropologische Theorie (mit der Ausnahme der in 2.3.2 zitierten Kant-Stelle) dazu tendiert, keinen Unterschied zwischen einem naturgegebenen und einem gesellschaftsbedingten Zustand »Jugend« zu machen und den sozialbedingten gegenwärtigen Zustand oder den - wiederum sozialbedingt - ideologisch gewünschten Zustand »Jugend« schlichterdings mit einem biologischen »Jugend«-Zustand identifiziert, macht die Initiationsgeschichte implizit eine Unterscheidung zwischen dem sozialen Zustand »Transition« und dem biologischen Zustand »Jugend« (vgl. 1.3.2). Dieser impliziten Unterscheidung der Literatur ist korreliert, daß sie - da es ihr um den sozialen Zustand geht - meist keine genaueren Altersangaben zum Leben des Protagonisten macht, während die Theorie Anfang und Ende der Jugend zunehmend genau datiert. (6) Wo die anthropologische Theorie der »Jugend« keine für sie spezifischen Freiräume einräumt, von ihr die Einhaltung der Sexualnormen einfordert, ihr somit Sexualität verweigert, gesteht die Literatur der Transitionsphase einen Freiraum, der Verletzung von Sexualnormen inkludiert, zumindest in der ersten Hälfte der Epoche zu; nicht mit, sondern erst inmitten der Romantik wird diese Implikation außer Kraft gesetzt, was natürlich, gemessen an den Normen der sozialen Realität bedeutet, daß die spätere Romantik »realistischer« ist als die frühere (aufklärerische, klassische, partiell frühromantische - Novalis ausgenommen) Literatur es ist. (7) Indem die Theorie den legitimen Beginn von Sexualität möglichst spät, deren Ende möglichst früh ansetzt, vermeidet sie unausgesprochen, was in der Literatur zum Thema werden kann: generationsübergreifende sexuelle Konkurrenz. Abgesehen davon, daß das Denk- und Literatursystem der GoetheZeit generell, sozial wie ökonomisch, insofern »vormodern«, »vorkapitalistisch« bleibt, daß in ihm »Konkurrenz« und »Rivalität« nicht legitimiert sind, es in jedem Falle einen primärberechtigten Aspiranten gibt, demgegenüber erst im zweiten Schritt hinzukommende Rivalen/Konkurrenten im Falle moralischer Positivität resignativ zurückzutreten hätten (= R 9),41 was auch für erotische Rivalität gilt, abgesehen davon also gilt speziell, daß nie zwei Generationen um 40 41
Von Spaldings Bestseller (1748) bis zu Fichte 1800 und darüber hinaus wird eine solche gott- oder naturgewollte - »Bestimmung« angenommen. Dazu Titzmann 1984.
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denselben erotischen Partner rivalisieren dürfen; andernfalls - Schillers Don Karlos belegt es42 - kann es zur Katastrophe inzestuöser Situationen und Verwandtenmorde kommen. Angewandt auf den erotischen Fall lautet die Regel der Konkurrenzvermeidung etwa so: R 9.1: Sexualität der Elterngeneration ist nur so lange legitim, als das älteste ihrer Kinder noch nicht in das (kulturell oder textuell als solches geltende) sexualfähige Alter eingetreten ist.43 (8) Aus der Literatur dieser Kultur läßt sich eine Implikation ableiten, die in den theoretischen Diskursen nicht oder kaum belegt zu sein scheint. In der Literatur der Goethe-Zeit wimmelt es von Frauen, Jungfrauen oder jungen Frauen, die, aus variablem Anlaß freiwillig oder unfreiwillig in einer bestimmten Situation sich als Mann verkleiden. Während Wilhelm Meisters »Amazone« (= Natalie) dabei noch unzweideutig als Frau zu erkennen ist, sind hier die Fälle interessant, wo die Frau tatsächlich für einen Mann, genauer für einen Jüngling, gehalten wird. Agathons Schwester Psyche versucht in männlicher Verkleidung sich erotischer Nachstellung zu entziehen - und wird gerade dadurch Lustobjekt eines homosexuellen Seeräubers. Friedrich in Ahnung und Gegenwart befindet sich im selben Kahn mit der geliebten Rosa und der liebenden Romana - und hält die beiden als Mann verkleideten Frauen für »Jünglinge«. Im Sternbald kann sich Ludoviko ebenso erfolgreich als Frau verkleiden (wobei dieser umgekehrte Fall freilich exzeptionell ist). Solche Verwechselbarkeit der Geschlechter bei Kleidertausch bedeutet nun offenkundig zweierlei: R 10: In der sozialen Semiotik der dargestellten Welt gilt, daß »Kleidung« für die soziale und sexuelle Identifikation das relevantere Zeichen ist als »Gesicht« und »Gestalt«. Soziale Zeichen dominieren in der Wahrnehmung über biologische Zeichen. R 11: »Jüngling« und »(junge) Frau« sind äquivalent und nur aufgrund soziokultureller Zeichen (wie Kleidung) zu unterscheiden: was bedeutet, daß der »Jüngling« noch als ausgeprägt »feminin« gelten und die junge Frau als eher knabenhaft-schlank gedacht sein muß.44 Solche Verkleidung der Frau als Mann macht sie gern moralisch problematisch ... schlug Peter vor, daß Johanna die Reise, als Mann gekleidet, mitmachen sollte. Sie wird, fügte er hinzu, in dieser Kleidung freier zu denken, freier zu leben gewohnt werden; denn oft weicht weibliche Sittsamkeit mit dem Kleide! (Spieß 1795, II, S.64). Indes entging es mir nicht, daß Angelina anfing, mit der Mädchentracht nach und nach auch ihr voriges, mädchenhaftes, bei aller Liebe verschämtes Wesen abzulegen, sie wurde in Wor42
Siehe zu Don Karlos neuerdings den wichtigen Aufsatz von Maillard 1998. Eine Illustration der Regel bieten die Lehrjahre anhand der Eltern des Harfners: »Neigung und Sinnlichkeit hatten den Mann in späteren Jahren nochmals überwältigt, in welchen das Recht der Ehegatten schon verloschen zu sein scheint; über einen ähnlichen Fall hatte man sich kurz vorher in der Gegend lustig gemacht [...]« (Goethe 1795, S. 582). 44 Eine Äquivalenz »Jüngling = Frau« wird von Schopenhauer 1851 - Über die Weiber - umspielt: diese seien »eine Art Mittelstufe, zwischen dem Kinde und dem Manne« (S. 668). 43
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Michael Titzmann ten und Gebärden kecker, und ihre sonst so schüchternen Augen schweiften lüstern rechts und links (Eichendorff 1815, S. 802) -
weshalb denn gilt: R 5.3.5: Frauen, die sich freiwillig als Mann verkleiden, werden vom Protagonisten nicht geheiratet werden. So wird sich Friedrich weder mit Rosa noch mit Romana verbinden, während im Marmorbild Bianka von Florio geheiratet werden kann, da sie die Männerkleidung auf Geheiß ihres Oheims angelegt hat. (9) Sowohl der theoretische Diskurs als auch die Literatur kennen Gefährdungen des jugendlichen Entwicklungsprozesses, wobei freilich die Literatur signifikante Differenzen zur Theorie aufweist. R12: Ein positiver Abschluß der Entwicklung durch Selbstfindung und Autonomie wird in den Initiationsgeschichten durch eine begrenzte Menge von Faktoren verhindert, die zu Entautonomisierung führen: R 12.1: Unzureichende Trennung und Ablösung von der Familie führt zum Scheitern des Initiationsprozesses. Während der theoretische Diskurs unzweideutig die positive Besetzung der Eltern durch die Kinder fordert, ist diese Relation in der Literatur implizit ambivalent: Bindung an die Herkunftfamilie stellt in der Transitionsphase eine Gefährdung der Entwicklung dar (vgl. auch R 5.2.2). Demgegenüber kennt der theoretische Diskurs vor allem zwei Gefährdungen der Jugend, die auf eben den für Jugend charakteristischen Merkmalen basieren würden: der Bereitschaft zu Liebe (bzw. Sexualität) und der Bereitschaft zu Phantasietätigkeit, beide zu (Selbst-)Verführung und daraus resultierender Normverletzung geneigt machend. Nur partiell stimmt hier die Theorie mit der Literatur überein. Denn zwar gilt: R 12.2: Repräsentanten der Manipulatorenfunktion machen Protagonisten in der Transitionsphase anfällig für Fremdbestimmung durch Einwirkung auf die Phantasiebereitschaft, z.B. durch Vorspiegelung »wunderbarer« (okkulter) Ereignisse, und/oder auf die Liebesbereitschaft, z.B. durch Frauenangebote, die zu Verfügung gestellt oder entzogen werden (beides z.B. in William Lovell, Genius, Geisterseher). Aber es ist nicht nur in der Literatur »Liebe« eine für Selbstfindung notwendige Erfahrung (= R 5.3), sondern die Literatur, ausgenommen die in dieser Hinsicht sehr konservativen Texte, erlaubt dem Protagonisten die Normverletzung nicht-ehelicher Sexualität in der - und nur in der - Transitionsphase, die die Theorie der Jugend zu verbieten sucht. Die Theorie kennt keine solche wenn auch begrenzte - Lizenz zur Normverletzung in der Jugend. R 12.3: Sexualität in der Transitionsphase erscheint als Gefährdung des Entwicklungsprozesses (nur) in dem Umfang, in dem sie (a) zur Abhängigkeit vom Lustobjekt führt, also die Autonomie bedroht, und/ oder
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(b) zum Wert um ihrer selbst willen wird, also vom Entwicklungsziel wegführt (vgl. etwa Lovells »Wüstlingsexistenz«). Von solcher Hingabe an ein »Lustprinzip« zu unterscheiden ist der Verlust des »Realitätsprinzips«, worunter auch die erotische, politische, religiöse usw. »Schwärmerei« in der Goethe-Zeit fiele, von der schon Agathon geheilt werden muß. R 12.4: Affektive Besetzung von erotischen, ideologischen, religiösen Objekten erscheint als Gefährdung des Entwicklungsprozesses, wenn (a) das Objekt »ungeeignet« ist (aber nicht als »ungeeignet« erkannt wird oder die Bindung an das Objekt dennoch nicht aufgegeben wird), z.B. Liebe zu einer Frau, die nicht als definitive (d.h. Ehe-)Partnerin in T3 in Betracht kommt, weil sie entweder schon vergeben ist oder die Liebe nicht erwidert oder selbst (Sexual-)Normen verletzt. Hierher gehören etwa Eichendorffs »gefährliche« Frauen vom Venus-Typ, die durch normverletzende Sexualität charakterisiert sind, oder vom Diana-Typ, die Sexualität, selbst legitime, generell verweigern. Ein Extremfall ist der Automat Olimpia als Liebespartner im Sandmann: die Liebe zur Frau, die es nicht gibt. »Ungeeignet« sind etwa auch die Objekte des »Hangs zum Wunderbaren«, sofern die Texte die Existenz von bzw. den Zugang zu okkulten Welten bestreiten. (b) das Objekt »überschätzt« wird, d.h. die vom Text gesetzte Ordnung der materiellen und immateriellen Werte durch die affektive Besetzung des Objekts in Frage gestellt wird. R 12.5: Wenn der Protagonist einer Gefährdung erliegt, gilt in der Logik des Erzählmodells, daß er, sei er auch manipuliert worden, selbst ebenfalls eine Verfehlung begehen muß: Jede Verführung ist auch eine Selbstverführung, jede Entautonomisierung basiert auch auf einer autonomen Entscheidung. (10) Wo im anthropologischen Diskurs von der »Gattung« die Rede ist, da ist in der Literatur vom »Individuum« die Rede. Und wo der gattungsbezogenen Betrachtung der Prozeß des Übergangs von Jugend zum Mannesalter als ebenso sozialer wie biologischer Determinismus abläuft, da steht - zumindest scheinbar - das Individuum in der Literatur vor einer Serie sukzessiver Entscheidungen zwischen Alternativen und verfügt somit über Freiheit garantierende Wahlmöglichkeiten. Wo somit die Theorie eine fremdbestimmte (biologische und/ oder soziale) Heteronomie des Prozesses betont, setzt dem die Literatur zumindest explizit die Fiktion selbstbestimmter Autonomie des Individuums entgegen, die sie freilich selbst, teils explizit, etwa bei Besetzung der Manipulatorenfunktion, teils implizit, unterläuft. Gegenüber den Gesetzespostulaten der Theorie, in denen individuelle Entscheidungen im Entwicklungsprozeß nur eine Fiktion des Selbstbewußtseins sind, postuliert die Literatur - quasi als trotziges »dennoch«-genau diese Möglichkeit, wenngleich die individuellen Entscheidungen im Falle des Gelingens der Selbstfindung auch nur auf eine soziale Heteronomie hinauslaufen (von den Abweichungen wie Ardlnghello, Lucinde, Nachtwachen abgesehen) und die individuelle Autonomie sich darauf reduziert, »freiwillig«
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Michael Titzmann
das Sozialsystem und seine Normen zu akzeptieren. Nur die Literatur ermöglicht die (z.B. Schillersche) Fiktion der »Synthese« von »Freiheit« und »Notwendigkeit«: Nur in den spezifischen Merkmalen der narrativen Struktur der Initiationsgeschichte, die scheinbar ergebnisoffen das Subjekt vor individuelle Entscheidungen stellt, um es schließlich in ein Sozialsystem zu reintegrieren, kann eine solche »Synthese« - eine pädagogische Fiktion ersten Ranges - glaubwürdig demonstriert werden. Der Erzählakt wertet die Anerkennung von sozialem Zwang und Unterwerfung ab, die er gleichwohl vollzieht. Strukturell haben die Texte eine Nähe zu aufklärerischer Pädagogik: die Fiktion einer Freiheit erzeugend, um mittels ihrer die (Re-)Integration zu sichern. Und mindestens solange die Texte eindeutig auf das Denksystem der Aufklärung positiv bezogen bleiben, machen sie diese Fiktion durch den temporären Freiraum vom Normensystem, das für alle anderen Altersklassen gilt, für den Leser glaubwürdig, der in die Perspektive des Protagonisten versetzt wird. (11) Eine letzte Differenz zwischen Literatur und Theorie sei benannt: Die Theorie kennt nicht die strukturelle Homologie zwischen der Entwicklung vom Kind zum Mann und einem Initiationsprozeß, die die Literatur aufweist und in wechselndem Umfang selbst thematisieren kann, sei es durch lexikalische Besetzungen (»Einweihung« usw.), sei es durch Selbstabbildungen der Struktur (tatsächliche Initiationen, z.B. in Geheimbünde in der Initiationsgeschichte und/oder symbolische Äquivalente, wie durch den Besuch von Höhlenräumen). Im Gegensatz zur Theorie neigt die Literatur somit, im offenkundigen Bewußtsein der Abweichung der dargestellten Welt vom kulturellen Wissen über die Strukturen der sozialen Realität, zur »Mythisierung«. In eben dem Ausmaß, in dem in der zweiten Hälfte der Goethe-Zeit eine »Empisierung« der dargestellten Welten einsetzt, diese also zeitlich, räumlich, sozial so spezifiziert und konkretisiert werden, daß der Umfang des gemeinsamen Durchschnitts zwischen dargestellter Welt und kulturellem Wissen über die eigene soziale Realität zunimmt, werden folglich auch die Grenzen einer Entwicklung des männlichen, jugendlichen Protagonisten zur autonomen und selbstbewußten Person deutlicher markiert: und die anfängliche Differenz zwischen anthropologischer Theorie und literarischer Anthropologie wird allmählich wieder getilgt.
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Literaturverzeichnis
1.
Primärtexte
1.1 Theoretische Texte (soweit literarische Texte nur im Theorieteil - Kap. 2 - genannt sind, sind sie unter 1.1 aufgenommen) 1748: 1752: 1762: 1772: 1774:
1775: 1776:
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Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur - am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik Hans-Jürgen Schings, ohne den es keine literaturwissenschaftliche Anthropologieforschung gäbe, zum 65. Geburtstag
Egal ob es nun an der Wissenschaftsskepsis unserer Zeit oder am Selbstbehauptungswillen einer nachdrücklich marginalisierten und um Selbstaufwertung bemühten Literaturwissenschaft liegt: Wir neigen dazu, das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur als agonal zu denken und in diesem Streit von der Literatur die Kompensation oder Korrektur von Folgelasten der Moderne zu erwarten. In der Tat gibt es Beispiele für eine solche Rollenverteilung; sie sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Literaten mindestens ebenso häufig (wahrscheinlich sogar ungleich häufiger) neue Erkenntnisse und Denkweisen aus der Naturwissenschaft aufgegriffen haben, ohne dabei die Eigenheiten ihres Ausdrucksmediums, sein spezifisches heuristisches Potential und seine spezifischen Wirkungsmöglichkeiten preiszugeben. Selten freilich waren die Affinitäten zwischen Naturwissenschaft und Literatur so eng wie in der Blütezeit der romantischen Naturphilosophie.1 Das erklärt sich schon allein aus dem gemeinsamen Ursprung von Naturphilosophie und hochromantischer Literatur: Philosophen und Literaten aus der Zeit der Frühromantik hatten in engen Wechselbeziehungen, teilweise in direkter persönlicher Interaktion, den Paradigmenwechsel initiiert, der die spätaufklärerische Vorherrschaft des empiristischen Weltbildes beendete. Und zu etwa demselben Zeitpunkt, als in der Literatur das neue romantische Paradigma zur Breitenbewegung wurde - also am Ende der elitären Frühromantik -, begann auch Schellings neue Naturphilosophie einen prägenden Einfluß auf die Naturwissenschaft der Epoche auszuüben.
1
Zur romantischen Naturwissenschaft im allgemeinen vgl. Alexander Gode-von Aesch: Natural Science in German Romanticism [zuerst 1941]. New York 1966; Georg Kamphausen und Thomas Schnelle: Die Romantik als naturwissenschaftliche Bewegung. Zur Entwicklung eines neuen Wissenschaftsverständnisses. Bielefeld 1982, bes. S. 64-75; Dietrich von Engelhardt: Wissenschaft und Philosophie der Natur um 1800. Prinzipien, Dimensionen, Perspektiven. In: Kai Torsten Kanz (Hg.): Philosophie des Organischen in der Goethezeit. Studien zu Werk und Wirkung des Naturforschers Carl Friedrich Kielmeyer (1765-1844). Stuttgart 1994, S. 252-269; Dietrich von Engelhardt: Bibliographie der Sekundärliteratur zur romantischen Naturforschung und Medizin 1950-1975. In: Richard Brinkmann (Hg.): Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Stuttgart 1978, S. 307-330. Zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Literatur der Romantik vgl.: Andrew Cunningham und Nicholas Jardine (Hg.): Romanticism and the sciences. Cambridge 1990.
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Manfred Engel
Wie unter diesen besonders günstigen Rahmenbedingungen das Verhältnis von Naturwissenschaft und Literatur ausfiel, soll im folgenden am Traum untersucht werden - einem Gegenstand also, dessen Erforschung und Gestaltung zu den wesentlichen innovativen Leistungen der Epoche gehört. Ich werde zunächst die Traumtheorie der romantischen Anthropologie rekonstruieren (1-^), dann die Vorgaben diskutieren, die sich aus ihr für die Literatur der Zeit ergaben (5) und schließlich in einem Ausblick (6) mit Texten von Novalis und E.T. A. Hoffmann wenigstens zwei der zahlreichen Traumdichtungen der Zeit kurz vorstellen.
1.
Die Anthropologie der Aufklärung wurde in der Germanistik seit Hans Jürgen Schings' bahnbrechender Monographie ausgiebig erforscht;2 daß sie in der Romantik eine nicht minder intensive Fortsetzung erfahren hat, ist jedoch kaum bekannt.3 Da die romantische Anthropologie, deren Blütezeit etwa von 1800 bis 18404 reicht, bisher kaum untersucht wurde, will ich sie in einem Einleitungskapitel wenigstens in ihren Grundzügen vorstellen. Ich benutze dabei die Anthropologie der Aufklärung als Folie.
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Hans Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker In Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977. Zur weiteren Forschung vgl. Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 6 (1994), 6. Sonderheft: Forschungsreferate, 3. Folge, S. 93-158, und den Sammelband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. von Hans-Jürgen Schings. Stuttgart 1994 (= Germanistische Symposien, Berichtsbände XV) mit ausführlicher Bibliographie. 3 Die einzige größere Arbeit zum Thema ist Odo: Marquard: Transzendentaler Idealismus, romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln 1987 (= Schriftenreihe zur philosophischen Praxis 3). Seit Mitte 1996 leite ich ein DFG-Projekt zur romantischen Anthropologie, das in einer ersten Phase das umfangreiche Primär-Material über eine Bibliographie und ein Forschungsarchiv erschließen soll. 4 Die genaue Grenzziehung ist schwierig und bedarf noch genauerer Untersuchungen. Die ersten Ansätze der romantischen Anthropologie liegen zwischen 1800 und 1810; von 1810 an läßt sie sich als voll entwickeltes Forschungsparadigma nachweisen. Eine genaue Markierung des Endpunktes ist noch diffiziler: In der Physiologie scheinen sich ab etwa 1840 die empiristischen Gegentendenzen durchzusetzen (vgl. K.E. Rotschuh: Ursprünge und Wandlungen der physiologischen Denkweise im 19. Jahrhundert. In: Technik und Geschichte 33 [1966], S. 329-355). In der Psychologie dagegen behaupten sich die Denkfiguren der romantischen Anthropologie sehr viel länger - was schon allein Eduard von Hartmanns ungemein populäre Philosophie des Unbewußten (1869) belegt. Hier setzen sich die empiristischen Gegentendenzen (die zunächst von der Wahrnehmungspsychologie getragen werden) erst in den 70er Jahren durch, können aber selbst dann die naturphilosophische Tradition nicht vollkommen verdrängen. Jedenfalls knüpft Freuds Psychoanalyse unübersehbar an diese Tradition an (wie es überhaupt um die Jahrhundertwende im Rahmen der Lebensphilosophie zu einer breiten Renaissance der Naturphilosophie kommt).
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Ernst Plainer, mit dessen 1772 in Leipzig erschienener Anthropologie für Ärzte und Weltweise die Konjunktur der neuen Disziplin begonnen hatte, bestimmte Anthropologie als die Betrachtung von »Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen« (S. XVII). Mit dieser Definition ist umschrieben, was bis heute das Faszinosum der aufklärerischen Anthropologie ausmacht: der Leitgedanke des >ganzen Menschen< in seiner Einheit von Leib und Seele. Zugleich ist damit der problemgeschichtliche Ort der neuen Modedisziplin markiert: Wie so viele Denker des 18. Jahrhunderts suchen auch die philosophischen Ärzte< der Spätaufklärung nach einer Antwort auf die Frage nach dem commercium mentis etcorporis. Die Besonderheit ihres Ansatzes liegt im Versuch, die Einseitigkeiten von Rationalismus und Materialismus zu vermeiden: Seit Descartes laborierte der Rationalismus am radikalen Dualismus zwischen Körper und Geist; der französische Materialismus hatte dieses Problem zwar gelöst und die Sinnlichkeit rehabilitiert - so die bekannte Formel von Panajotis Kondylis5 -, doch um den Preis erheblicher Folgelasten. Als »Werk der Natur« ist der Mensch auch ganz »ihren Gesetzen unterworfen«6: Er ist determiniert durch ererbte Anlagen und Lebensumstände und allein motiviert durch das egoistische Streben nach Selbsterhaltung und Genuß; Willensfreiheit, Moral und die Unsterblichkeit der Seele werden dagegen als bloße Chimären entlarvt. Die spätaufklärerischen Anthropologen vermeiden diese Extrempositionen auf eine Weise, in der zugleich die Stärke wie die Schwäche ihrer Arbeiten begründet liegt: Sie verzichten auf jede philosophische Großkonstruktion zur Lösung des Leib-Seele-Problems und beschränken sich darauf, in streng empiristischer Manier Belege für Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele zu sammeln. Das führt zu einer bemerkenswerten Öffnung auf das weite Feld psychophysischer Erfahrungen hin, aber auch zu einem Defizit an begrifflichen und systematisierenden Synthesen. Die Anthropologen der Romantik halten am Leitbild des >ganzen Menschen< fest, können aber zur Fundierung dieser Einheit auf ein neues und hochpotentes philosophisches System zurückgreifen. Der zentrale Unterschied zwischen aufklärerischer und romantischer Anthropologie liegt im epistemologischen Paradigmenwechsel vom Empirismus zum Idealismus, genauer gesagt: zur idealistischen Naturphilosophie, wie sie Schelling zwischen 1798 und 1806 in einer Reihe programmatischer Schriften entworfen hatte. 7 Dieser systematische Neuan5
Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. 6 Paul Thiry d'Holbach: System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt [zuerst 1770]. Übersetzt von Fritz-Georg Voigt. Frankfurt 1978, S. 17. Zur knappen Charakteristik des französischen Materialismus und seiner deutschen Rezeption vgl. Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Bd. l: Anfänge in Klassik und Frühromantik - Transzendentale Geschichten. Stuttgart 1993, S. 26-29. 7 Vgl. vor allem Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798); Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799); Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie oder über den Begriff der
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satz wäre freilich kaum möglich gewesen, ohne den seit Mitte des 18. Jahrhunderts gesamteuropäisch erfolgenden Paradigmenwechsel von mechanischen zu organizistischen Modellen. Für die Anthropologie waren vor allem Herder mit seiner historisch-genetischen Betrachtungsweise, Blumenbachs Lehre vom Bildungstrieb,8 später dann auch Goethes morphologische Naturwissenschaft von Bedeutung. So zeigen bereits die im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erscheinenden anthropologischen Schriften deutliche Ansätze zu organizistischem und historischem Denken.9 Es bleibt aber Schellings Verdienst, all diese Theorieelemente erstmals zu einem geschlossenen System zusammengefügt zu haben.10 Die Theoriearchitektur der romantischen Anthropologie ist vor allem durch drei Leitkonzepte der Naturphilosophie bestimmt: (1) Das Polaritätsprinzip'. Alles, was existiert - egal ob anorganische oder organische Natur, Pflanze, Tier oder Mensch, Irdisches oder Kosmisches -, ist von einer Grundpolarität bestimmt, aus der alle Formen und Kräfte von Materie wie von Leben hervorgehen. Die Namen für diese Polarität wechseln, das Grundprinzip ist aber immer das gleiche - egal ob man von Attraktion und Repulsion (Kant), Liebe und Haß (Herder), Zentripetal- und Zentrifugalkraft (Fichte), Expansiv- und Attraktivkraft (Schelling), von unbewußter und bewußter Tätigkeit (Schelling) oder von einer von sich ausgehenden und einer in sich zurückkehrenden Tätigkeit (z.B. Burdach) spricht. (2) Das Organismusprinzip: Die für die Naturphilosophie wichtigste Eigenheit des Organismus ist ein besonderes Verhältnis von Teil und Ganzem, das wir heute als >Selbstähnlichkeit< bezeichnen würden. Jedes Teil enthält das Ganze in nuce, allerdings in unterschiedlichen Graden der Vervollkommnung. Das gilt für das Verhältnis zwischen einem Lebewesen und seinen Organen, letztlich aber auch für das Verhältnis zwischen der Mannigfaltigkeit des Seienden und dem Weltganzen, der »Weltseele«, wie Schelling sagt. Alles, was ist, läßt sich so, wie es in einer romantischen Anthropologie heißt, als »Vaspeculativen Physik (1799); Über den wahren Begriff der Naturphilosophie und die richtige Art ihre Probleme aufzulösen (1801); Vorläufige Bezeichnung des Standpuncts der Medicin nach Grundsätzen der Naturphilosophie (1805/6). 8 Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäft. Göttingen 1781; zu Blumenbachs Stellung in der Physiologie des 18. Jahrhunderts vgl. Jörg Jantzen: Physiologische Theorien. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Hans Michael Baumgartner u.a. Ergänzungsband zu Werke Bd.5-9: Wissenschaftshistorischer Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797-1800. Stuttgart 1994, S. 375-668, bes. S. 636-668. 9 Dieses Grenzgebiet zwischen aufklärerischer und romantischer Anthropologie ist noch nie systematisch erforscht worden. Ansätze dazu finden sich in der bisher einzigen Arbeit, die die Entwicklung der aufklärerischen Anthropologie zu beschreiben versucht Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall. Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung. Berlin 1996, bes. S. 40-47. 10 Breitenwirkung im Bereich der Medizin erreichte Schellings Naturphilosophie vor allem mit den von ihm und Adalbert Friedrich Marcus herausgegebenen Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft (1805-1807).
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riation eines und desselben Grundgedankens«11 begreifen. Darin liegt natürlich auch die Rechtfertigung für das analogische Verfahren, mit dem die Naturphilosophie so gerne operiert. (3) Das genetisch-historisches Prinzip: Die der gesamten Schöpfung zugrunde liegende »Idee« - der »Urgedanke«, das »Absolute« oder auch »Gott« - entfaltet sich in einem polar-dialektischen Kontinuum vom rein Materiellen zum rein Geistigen, hat also eine Geschichte und ein Telos. Daraus ergeben sich entscheidende Konsequenzen für den Aufbau romantischer Anthropologien: Zu den traditionellen Bausteinen Physiologie und Psychologie treten im Regelfall nun auch zwei historische Teile: ein individualgeschichtlicher Abriß der Lebensstadien des Menschen von der Zeugung bis zu Greisenalter und Tod und ein Abriß der Menschheitsgeschichte im Rahmen der Naturgeschichte, der sich bis hin zu einer Kosmogonie ausweiten kann. In den drei genannten Grundprinzipien ist die romantische Anthropologie der idealistischen Naturphilosophie zutiefst verpflichtet. Nicht übernommen hat sie jedoch deren transzendentale Grundlegung und deren streng deduktive Systemkonstruktion. Wie in der Aufklärung sind auch in der Romantik die meisten Anthropologen philosophisch ambitionierte Ärzte; in ihre Schriften geht das ganze empirisch-positive Erkenntnisrepertoire von Anatomie, Physiologie und Psychologie ein, so daß sich, mit sehr unterschiedlichen Akzenten, freischwebende Spekulation und empirische Induktion miteinander verbinden. Wie bereits erwähnt, sind die romantischen Anthropologen heute weitgehend vergessen; als halbwegs bekannt dürfen allenfalls noch Gotthilf Heinrich Schubert (1780-1860), Henrik Steffens (1773-1845) und Carl Gustav Carus (1789-1869) gelten. Einige weitere Namen, die vor allem für die Traumtheorie wichtig sind, seien hier wenigstens genannt: Karl Friedrich Burdach (17761847), Georg Friedrich Christian Greiner (1775-1858), Dietrich Georg Kieser (1779-1862), Lorenz Oken (1779-1851) und Ignaz Paul Vitalis Troxler (17801866).
2. Schon in der Spätaufklärung hat der Traum - der lange Zeit, letztlich wohl seit dem Ende der Mantik, im Wissenssystem nicht mehr eindeutig verortet war seine disziplinäre Heimat in der Anthropologie gefunden. Deren physiologischpsychologisches Doppelinteresse qualifizierte sie dazu, die bisher auf verschiedene Disziplinen verteilten Ergebnisse aus dem Traumdiskurs des 18. Jahrhunderts zu bündeln und zu einer neuen Theorie zu vereinigen.12 Freilich blieb der " Karl Friedrich Burdach: Anthropologie für das gebildete Publicum. Stuttgart 1837, S.434. Zur Rekonstruktion der aufklärerischen Traumtheorie vgl. meinen Aufsatz: Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur. In: Scientia Poetica 2 (1998), S. 97-128.
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Traum hier letztlich ein Grenzfall anthropologischen Wissens, da er einen defizitären Zustand der menschlichen Erkenntnisvermögen markierte. Auch in der Romantik fällt der Traum - mit neuem, gesteigertem Erkenntniswert und in einem neuen Theorierahmen - in den Kompetenzbereich der Anthropologen. Vor dem Hintergrund ihres Leib- und Seelenkonzepts (2) werde ich im folgenden ihre Theorie (3) und Pragmatik (4) des Traumes zu rekonstruieren suchen. Dabei gehe ich kaum auf einzelne Schriften ein,13 sondern versuche die Summe aus einem Textkorpus zu ziehen, das 36 zwischen 1808 und 1851 erschienene deutschsprachige Bücher, Buchkapitel oder Aufsätze zum Traum umfaßt.14 Das Leib-Seele-Konzept der romantischen Anthropologie ist in zweifacher Weise der Tradition verpflichtet: Zum einen finden sich hier immer noch die hierarchisch geordneten Seelenvermögen, die aus der rationalistischen Tradition wohlbekannt sind, also vor allem: sinnliche Wahrnehmung, Gefühl, Gedächtnis und Einbildungskraft, Wille, Verstand und Vernunft. Zum anderen aber kommt ein noch älteres Einteilungsprinzip zu neuen Ehren, das bis auf die Scholastik und letztlich auf die Antike zurückgeht: die Unterscheidung zwischen anima vegetativa, anima sensitiva und anima rationalis. Im Theorierahmen der Naturphilosophie werden diese traditionellen Elemente jedoch neu akzentuiert und zu einer neuen Lösung des Leib-Seele-Problems verbunden. Jede der drei Ebenen des pflanzlichen, des tierischen und des (spezifisch menschlichen) geistigen Lebens hat seine eigenen Organe und sein eigenes System von Steuerungs- und Wahrnehmungs- bzw. Erkenntnisvermögen. Der vegetative Bereich im Menschen umfaßt die Gesamtheit der physischen Reproduktionsprozesse; phänomenal wie genetisch betrachtet ist er vor-individuell und vor-bewußt. Die Thierseele umgreift im weitesten Sinne alle Akte der Selbsterhaltung, die bereits elementare geistige Operationen voraussetzen. Nur dem Menschen eigen sind die höheren Bewußseinsakte der Vernunft, des freien Willens und des Selbstbewußtseins. So erscheinen leibliche und geistig-seelische Prozesse auf allen Ebenen aufs engste miteinander verwoben, ohne daß die traditionelle vertikale Hierarchisierung preisgegeben wird. Für die Traumtheorie wichtig ist nun, wie man sich dieses Seelenschema im Nervensystem fundiert denkt. Seit Hufeland und Reil15 unterscheidet man im 13
Darstellungen speziell zu Schubert und Troxler finden sich in meinem Beitrag: »Träumen und Nichtträumen zugleich«. Novalis' Theorie und Poetik des Traumes zwischen Aufklärung und Hochromantik. In: Herbert Uerlings (Hg.): Novalis und die Wissenschaften. Tübingen 1997, S. 143-167, bes. S. 155-159. 14 Natürlich sind damit längst nicht alle Texte aus dem Traumdiskurs der Zeit erfaßt; das Textkorpus ist aber wohl umfangreich genug, um als repräsentativ gelten zu dürfen. Eine Auswahl der wichtigsten Titel ist dem Beitrag als bibliographischer Anhang angefügt. Zitate daraus werden im folgenden nur mit Autorname, Erscheinungsjahr und Seitenzahl nachgewiesen. 15 Die Unterscheidung findet sich zuerst bei Xavier Bichat (Anatomie generate. Appliquee a la physiologic et a la medecine. Paris 1801; dt.: Allgemeine Anatomie angewandt auf die Physiologie und Arzneywissenschaft. Leipzig 1802/03) und bei Christoph Wilhelm Hufeland (Pa-
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Nervensystem zwei weitgehend gegeneinander abgeschottete Bereiche: das Cerebral- und das Gangliensystem (auch plastisches, sympathisches oder vegetatives System genannt). Das Cerebralsystem umfaßt vor allem das Hirn; hier liegt der Ursprung aller Bewußtseinsakte und aller willkürlichen Aktionen. Das Gangliensystem, das den größten Teil der Körpernerven umfaßt, steuert alle Reproduktionsprozesse: »Wachsthum, Ernährung, Blutleben, Athmung, Absonderung« (Carus 21860, S. 72). Es hat weder eine klare Struktur noch ein klares Zentrum, sondern verdichtet sich in netzartigen Geflechten von Nervenknoten (Ganglien), deren wichtigstes das Oberbauchgeflecht ist (auch Sonnengeflecht oder Solar plexus genannt).16 Zwischen diesen beiden Systemen gibt es im Wachen keinerlei Kontakt;17 die Vorgänge im Gangliensystem unterliegen nicht nur nicht der willkürlichen Steuerung, sondern entziehen sich dem Bewußtsein ganz und gar. Damit aber wird das Gangliensystem zur physiologischen Basis für das romantische Unbewußte - die sicher wichtigste Neuerung der romantischen Psychologie. Die substantivierte Form des Begriffs - »Unbewußtes« oder »Unbewußtsein« - setzt sich erst relativ spät durch, in der breiteren Diskussion wohl erst mit den Publikationen von Carus von 1831 und 1846, endgültig dann natürlich mit Eduard von Hartmanns ungemein populärer Philosophie des Unbewußten von 1869; das Konzept läßt sich jedoch schon seit etwa 1800 nachweisen.18 Es
thologie. Bd. 1: Pathogenic. Jena 1799, S. 141ff.). Bekannt wurde sie im deutschen Sprachraum durch Johann Christian Reil: Über die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältnis zum Cerebral-System. In: Archiv für die Physiologie 7 (1805) 2. St., S. 189-254. 16 Vgl. etwa die Darstellungen bei Kluge 1811, S.261-274, Schubert 1814, S.99-102 und Greiner 1817, S. 50-55. 17 Das ist zumindest die dominierende Meinung; Greiner hält es dagegen für möglich, daß bei Zuständen gesteigerter Gehirnaktivität auch im Wachen ein Kontakt stattfindet: »Die Nervenknoten [...] sind als Halbleiter, nicht als vollkommene Isolationspunkte anzusehen [...], so daß die Ueberströmung des Nervenfluidums aus dem einen System in das andere [...] wohl gehemmt, aber nicht unmöglich ist« (1817, S. 48). 111 Ernst Plainer prägt den Begriff »Unbewußtseyn« in seinen Philosophischen Aphorismen von 1776, bezieht sich damit aber noch auf das aufklärerische Unbewußte, das nicht mehr meint als die »petites perceptions« aus Leibniz' Nouveaux essais. Geburtsort eines romantischen Konzepts des >Unbewußten< ist wohl Schellings System des transzendentalen Idealismus von 1800. Vgl. dazu die äußerst verdienstvolle Materialiensammlung: Ludger Lütkehaus (Hg.): »Dieses wahre innere Afrika«. Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt/M. 1989, bes. den Abriß zur Begriffs- und Konzeptgeschichte in der Einleitung, der den beiden bekannten Pionierarbeiten zum Thema deutlich überlegen ist (Lancelot L. Whyte: The unconscious before Freud. London 1960; Henry F. Ellenberger: The discovery of the unconsciousness. 2 Bde. New York 1960). - Vor Carus wird die substantivierte Form nur selten und oft recht unscharf verwendet. Ein gutes Beispiel dafür ist der Gebrauch, den Jean Paul in seiner Seiina (entstanden ab 17.4.1823; Erstdruck postum 1827) von diesem Terminus macht: Das >Unbewußte< umfaßt hier so verschiedene Phänomene wie: nicht mehr bewußte Erinnerungen, die unbewußte geistige Kontrolle von unwillkürlichen Muskelbewegungen und automatisierten körperlichen Fertigkeiten, das Vermögen zur intuitiven Erkenntnis wahrer Sätze, alle instinktiven Fähigkeiten und - darin dem romantischen Gebrauch besonders nah - die »organisch bauende und erhaltende Lebenskraft«, darüber hin-
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ist heuristisch wenig produktiv, hier immer gleich an Freud zu denken - wenngleich dessen Begriff des Unbewußten ohne seine romantische Vorgeschichte wohl kaum denkbar wäre. Das romantische Unbewußte läßt sich in drei - miteinander aufs engste verwandte - Bereiche ausdifferenzieren: (1) Im engsten Sinne umfaßt es alle Vorgänge der physischen Reproduktion, deren vielfältige Modifikationen sich in der Seele als »Gefühle«, »Gemüthsbewegungen« und »Leidenschaften« niederschlagen (Carus 21860, S. 209) und so in ständiger mittelbarer Interaktion mit dem Bewußtsein stehen. Da diese auch im genetischen Sinne als vor-bewußt und vor-individuell gelten, gehört zum Unbewußten (2) auch das allgemeine Naturleben als Basis aller physischen und geistigen Produktionsakte. Im höchsten Sinne ist das Unbewußte schließlich (3) identisch mit dem Absoluten, der undenkbaren, da notwendigerweise bewußtseinstranszendenten ursprünglichen Einheit von Subjekt und Objekt. Späte Ausprägungen dieses Konzepts sind Schopenhauers >Wille< und das >absolut Unbewußte< von Carus und von Hartmann.19
3. Damit ist der Hintergrund skizziert, vor dem die romantischen Anthropologen ihre Traumtheorie entwickeln.20 Diese wird immer begleitet von einer Theorie des Schlafes und einer Theorie des tierischen Magnetismus. Phänomenologisch wird der Schlaf in der Romantik nicht anders bestimmt als schon in der Aufklärung, nämlich durch das Aufhören von willkürlichen Muskelbewegungen und sinnlichen Außenwahrnehmungen, von Erkenntnisaktivitäten und Bewußtsein.21 Physiologisch kann er aber nun neu erklärt werden: Während das Cerebralsystem im Schlaf seine Tätigkeit ganz oder doch weitestaus möglicherweise noch »einen stillen Instinkt für die zweite Welt« (Jean Paul: Werke in 12 Bänden. Hg. von Norbert Miller. München 1975. Bd. 12, S. 1182-1190, Zitate S. 1188 und 1190). " Neben diesem »absolut Unbewußtem« als dem »bildenden gestaltende Leben« selbst (Carus 21860, S. 4) kennen beide auch ein »relativ Unbewußtes« (S. 71) als den Ort, an dem zeitweise vergessene Bewußtseinsinhalte >aufbewahrt< werden und von dem aus sie wieder bewußt werden können; freilich erfahren sie dabei, durch den »Rapport mit dem Allgemeinen« oft erhebliche Veränderungen, werden in ihrer »Energie und Productivität« gesteigert (S. 93). 20 Diese ist bisher nie präzise rekonstruiert worden (sicher einer der Gründe dafür, daß in Arbeiten zu literarischen Träumen der Romantik noch immer unreflektierte Rückprojektionen Freudscher Theoreme dominieren). Die klassische, materialreiche, aber nicht sonderlich begriffsscharfe Untersuchung zum Thema ist: Albert Beguin: Traumwelt und Romantik. Versuch über die romantische Seele in Deutschland und in der Dichtung Frankreichs [zuerst 1937]. Aus dem Französischen von Jürg Peter Waiser. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Grotzer. Bern 1972; zu Novalis' Traumtheorie vgl. meinen in Anm. 13 genannten Beitrag. 21 Vgl. z.B. Eschenmayer 1817, S.222f.; Greiner 1817, S.70-72.
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gehend einstellt, dauert die des Gangliensystems unvermindert - oder sogar gesteigert - fort. Damit aber verändert der Schlaf seinen Grundcharakter: Er ist nicht mehr ein bloßer Defizitzustand (Wachen - x), sondern einer von zwei periodisch miteinander wechselnden, prinzipiell gleichwertigen und gleich notwendigen Grundzuständen der menschlichen Existenz.22 Wachen und Schlafen sind der periodische Wechsel von »Bewußtsein« und »Unbewußtsein« (Carus),23 von »seelischer« und »leiblicher Psyche« (Troxler), mit dem der Mensch teilhat an der universalen Polarität und Periodizität allen Seins: dem Wechsel von Tag und Nacht, von »solarem« und »tellurischem« (also erdhaftem) Leben (Kieser) von Licht und Materie oder allgemein von Zentripetal- und Zentrifugaltendenz.24 Zweiter obligatorischer Bestandteil der romantischen Traumtheorie ist eine Theorie des tierischen Magnetismus - also des nach Frankreich exportierten, dort weiterentwickelten und gegen Jahrhundertbeginn re-importierten Mesmerismus.25 Sehr verkürzt gesagt, verfällt bei diesem Heilverfahren der Patient meist ist es eine Patientin - in einen magnetischen Schlaf (wir würden sagen: Trancezustand), in dem er, in Graden, die von Individuum zu Individuum verschieden sind, erstaunliche Fähigkeiten entfaltet: Der Kranke kann Gedanken und Empfindungen des Magnetiseurs, aber auch Außenobjekte wahrnehmen, er kann den Sitz seiner Krankheit erkennen und Auskunft über ihre Entwicklung und ihre mögliche Heilung geben. Im höchsten Grad des magnetischen 22
Vgl. etwa: »der Schlaf [wurde] bisher noch immer als eine bloße Verneinung des Wachens und nicht als eigentümlicher positiver Zustand begriffen. [...] wir [...] erklären jene Psyche, welche im Schlaf waltet, ihr [der im Wachen herrschenden Psyche] ebenbürtig und gleichständig, mit einem eigentümlichen Bewußtsein waltend und selbständig [...]. Schlaf ist also nicht bloß Aufhebung des Bewußtseins und der Willenskraft, die im Wachen uns beherrschen, sondern Aufgang einer ändern Art und Weise von Bewußtwerdung und Selbstbestimmung« (Troxler 1828, S. 207-210); »der Schlafzustand [ist] durchaus nicht blos als ein negativer, als blose Abwesenheit des Wachens und etwa blos als von diesem hinterlassener und bewirkter Schwächezustand zu betrachten«, sondern als »eine dem Wachen positiv entgegengesetzte Lebensform« (Leupold 1834, S. 394). 23 Präziser gesagt: Da einmal entstandenes Bewußtsein nicht einfach vergehen kann, kehrt die Seele im Schlaf zwar ins unbewußte Leben zurück, dieses umfaßt jedoch das bewußte mit so wie im Schlaf der bewußte Zustand den unbewußten mit umfaßt. >Bewußt< und >unbewußt< sind hier also nicht prinzipielle, sondern graduelle Gegensätze; die Seele führt »fortwährend ein Doppelleben, ein bewußtloses und bewußtes, zugleich« (Carus 1831, S.293). 24 Hinter dieser Erklärung aus dem »Gesetze der Polarität« (Carus 1831, S. 307) treten die im engeren Sinne physiologischen zurück, über die ohnehin (traditionell) große Unsicherheit besteht (z.B.: Schlaf als Produktion von Nervenäther, oder als galvanisch-chemische Aufladung des Nervensystems). 25 Zur Darstellung des Magnetismus vgl. im Anhang die Abhandlungen von Schubert (1808), Kluge (1811) und Nees von Esenbeck (1820); ein knapper, aber schulgerechter Abriß findet sich z.B. bei Greiner 1817, S. 55-66. Zur Entstehung des Magnetismus als Mesmerismus, seiner theoretischen Weiterentwicklung nach der Jahrhundertwende und seiner produktiven Rezeption in der romantischen Literatur vgl. jetzt: Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart 1995 (mit ausführlichen Literaturangaben).
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Schlafes, der >Ekstaseveredeltenganzer Mensch< erfahren. Der Traum eröffnet so einen ganz eigenen, nur durch ihn erschließbaren Erfahrungsraum, der von den Erfahrungen des Wachens nicht nur graduell, sondern kategorisch geschieden ist.
4. Ich komme damit zur Traumpragmatik, also zu den Konsequenzen, die sich aus der Theorie für die Einstellung dem Traum gegenüber und für den Umgang mit ihm ergeben.28 Unübersehbar ist zunächst einmal die enorme Aufwertung des Traumes. Bei Greiner heißt es etwa: »Man verkennt ganz den Werth und den Reichthum der Vermögen der Seele, wenn man die Träume für leeres Spiel der Phantasie erklärt« (1817, S. 153).29 26
Die Bedeutung des Magnetismus für die romantische Anthropologie und ihre Traumtheorie kann kaum überschätzt werden: Eine Darstellung des tierischen Magnetismus ist obligatorischer Bestandteil jeder Erörterung von Schlaf und Traum; die Denkschemata, die zur Erklärung des Magnetismus entwickelt wurden, dienen auch zur Erklärung des Traumes. 27 So zumindest, wenn man zwischen Traum und Tiefschlaf - als Zuständen mit wenigstens partieller bzw. ganz ohne Bewußtseinsaktivität - unterscheidet, was die häufigere Variante ist. Andere nehmen an, daß wir im Schlafen immer träumen (so z.B. Burdach 1837, S. 603). Der Streit zwischen diesen beiden Auffassungen ist - bis zur Entdeckung des REM-Schlafes - ein fester Topos des Traumdiskurses. 28 Einer der wichtigsten Aspekte der Traumpragmatik ist in der Romantik stark unterrepräsentiert: Anweisungen zum Deuten der Träume werden nur ganz selten gegeben. Zwei, sehr verschieden ausfallende, Beispiele für eine solche Deutungslehre des Traums sind Schuberts Symbolik von 1814, die zwar formal an die Tradition der Traumbücher anknüpft, aber eher eine ganz allgemeine naturphilosophische Symbollehre entwickelt, und Greiners Traumschrift von 1817 (vgl. bes. S. 130-154). Ebenso selten werden - anders als etwa in der aufklärerischen Anthropologie - Traumbeispiele ausführlich geschildert; Fallgeschichten aus magnetischen Behandlungen finden sich dagegen geradezu im Überfluß. 29 Adressat dieser Warnung ist natürlich primär die aufklärerische Anthropologie, die eine Defizittheorie des Traumes entwickelt hatte; vgl. zu deren Rekonstruktion meine in Anm.12 und 13 genannten Beiträge. In den träum theoretischen Schriften aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die aufklärerische Traumtheorie als Minderheitsposition
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Natürlich kennen auch die romantischen Anthropologen banale Träume, die sich allein aus Tagesresten oder schwachen Sinneswahrnehmungen ergeben, und natürlich setzen sie - mit neuen Begründungen - die alte Argumentationstradition vom medizinisch-diagnostischen Wert der Träume fort. Doch ist damit das Erkenntnisspektrum der Traumerfahrung bei weitem nicht erschöpft: Ihre volle Breite, sozusagen die äußerste Grenze ihrer Möglichkeiten, ist durch die Fallgeschichten aus dem Magnetismus belegt.30 Den einen Pol dieses Spektrums markiert die Versenkung ins Gangliensystem: Im Traum erfahren wir den kreatürlichen Grund unserer Existenz, was durchaus auch die Bereiche von Trieb und Sexualität meint. Traum ist Regression in den prä-individuellen Teil unserer Natur, daher durch Sehnsucht nach Allverschmelzung und Allvereinigung charakterisiert. Im naturphilosophischen Bezugssystem wird dies als Regression in den Zustand der Kindheit31 bzw. in den der Frühgeschichte32 gesehen und als Einordnung in den Zusammenhang der Dinge< gedeutet; der Träumer erfährt am eigenen Leib das »unsichtbare Band, welches um alles Besondere geschlungen ist« (Schubert 1808, S. 372): Traum ist wohl Leben ohne klares, vollkommenes Bewußtsein; dagegen aber Leben mit desto stärkerer Beziehung und leiserer Empfänglichkeit für, mit dem Leben des menschlichen Organismus in Verhältnis stehende, physische und organische Lebensakte der äußeren Natur oder einzelner [...] organischer Wesen (Leupold 1820, S. 106).33 fortgeführt, so etwa bei Fries: »Die Erscheinungen beym gewöhnlichen gesunden Traum werden sich alle daraus erklären lassen, daß hier geistig nur der untere Gedankenlauf fortspielt bey ruhender oberer Thatkraft, also bei unterdrückter Aufmerksamkeit und geschwächtem Bewußtseyn« (1821, S. 54). Unter den 36 Texten meines Korpus finden sich 9, die, mehr oder minder konsequent, die aufklärerische Defizittheorie des Traums vertreten (fast immer verbunden mit genereller Polemik gegen die Naturphilosophie im allgemeinen und den Magnetismus im besonderen). Falls diese Relation von 3:1 repräsentativ ist, läßt sich aus ihr ablesen, wie nachhaltig in diesen Jahren die romantische Anthropologie - und wohl auch die Naturphilosophie ganz allgemein - den wissenschaftlichen Diskurs im deutschsprachigen Raum geprägt haben. 10 Ein offensichtlicher Unterschied zwischen Traum und Magnetismus liegt darin, daß der Mensch in letzterem seine Sprechorgane kontrollieren kann. Davon abgesehen, bleibt das genaue Verhältnis der beiden Phänomene umstritten: Sie können als prinzipiell identisch gelten (z.B. Kieser 1822, Bd. 2, S. 17); der Magnetismus kann als höhere, da durch eine höhere Bewußtseinsaktivität ausgezeichnete Form des Traums aufgefaßt werden (z.B. Kluge 1811, S. 327; Nees von Esenbeck 1820, S. 15), aber auch als dessen pathologische Variante, da er eine Erfahrung des kranken, oder doch zumindest übermäßig reizbaren Menschen ist (Greiner 1817, S. 128f.). 11 Vgl. etwa: »[Der Traum] ist eine Wiederkehr des Seelenlebens im Mutterleibe, nur mit der erworbenen Reife, den gemachten Erfahrungen und den gewonnenen Ansichten« (Burdach 1837, S. 603). 32 Vgl.: »Demnach wäre die ursprüngliche Lebensform des Menschen im Einzelnen und Ganzen, im Großen und Kleinen, als eine traumähnliche aufzufassen, in welcher ursprüngliche Einheit oder Indifferenz seines Physischen und Psychischen [...] vorwaltet« (Leupold 1834, S. 391); »Die Menschengattung [...] in ihrem Urzustände [...] muß [...] unter der höchsten Vorherrschaft des Gangliensystems und des Gemeinsinnes gelebt haben, folglich ohne Bewußtseyn und unter der Leitung des Instinktes« (Leupold 1820, S. 93). 33 Die Zahl der Belegstellen ließe sich beliebig vermehren; hier nur einige wenige Zitate: »Im
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Der Traum darf also als eine Form der Anamnesis gelten, als Erinnerung an das, was wir waren, bevor unser Bewußtsein entstand - und damit als Korrektur eines einseitigen Weltbildes, das den Menschen von der Natur isoliert. Der andere Pol der Traumerfahrung ist dadurch bestimmt, daß sich die Seele in Traum und Schlaf ganz und gar in sich versenkt, sich also von der den Wachzustand prägenden Außenorientierung löst und damit vom »Treiben des irdischen Lebens«: dem »Gedränge der Geschäfte des Tages«, »dem Zwang der Gesellschaft« und »dem Erfordernisse unserer äußern Verhältnisse und gegenwärtigen Lage« (Greiner 1817, S. 148f.). Daher kann sie hier auch »ihre eigenen Ideen, ihre höhern Zwecke, ihre Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Ewigen, rein und unverfälscht in Bildern aussprechen« (S. 145).34 Mit diesen Polen35 ist schon angedeutet, daß die Bewertung des Traumes in der Romantik durchaus ambivalent bleibt: Bei allem Streben nach Ganzheitlichkeit, bei aller Einsicht in die notwendige und produktive Wechselwirkung von Leib und Seele, Bewußtsein und Unbewußtsein, Individuierung und Allbezug läßt keiner der romantischen Anthropologen den geringsten Zweifel daran, Schlafe sinkt der Mensch in den allgemeinen Organismus zurück, sein Wille ist unmittelbar der der Natur« (Ritter 1810, S. 79); Schlaf bzw. Traum sind »Vereinigung der Seele mit dem allgemeinen Naturgeiste« (Kluge 1811, S. 319), »Rapport mit dem gesamten Welt- und Menschheit-Leben« (Carus 1831, S. 332), »Übergewalt des allgemeinen Lebensprincips« und »Hervortreten der Universalität« (Burdach 1837, S. 598). 34 Greiner versieht diese Aussage allerdings mit einer sehr bezeichnenden Einschränkung: »Es ist nicht das reine ätherische Licht der Psyche, welches in diesen Träumen leuchtet, sondern es erscheinen nur einzelne Strahlen desselben unter einem Gewühl von Irrlichtern im Dunkeln. [...] Nur dann, wenn der Organismus ruhig in seiner Norm seine Functionen verrichtet, keine stürmische Bewegung des Nervenäthers den Thiergeist aufregt, keine Leidenschaft die Psyche gefangen hält, dann kann diese selbständig ihre übrigen Vermögen als reine Flamme eines höhern Lebens auflodern lassen, und in Bildern aussprechen. Daher nun die ruhigen schönen Traumbilder, in welchen die Seele einen tiefen Sinn ausspricht, daher die reichhaltigen allegorischen Scenen und Gemälde, womit sie gewisse Wahrheiten und Reflexionen darstellt, Untersuchungen und Zweifel aus einander sezt, die sie oft aus dem Wachen in den Schlaf mitnimmt, und in Bildersprache darüber denkt« (S. 146f.). 35 Innerhalb des durch diese Pole begrenzten Erkenntnisspektrums des Traumes können die Akzente und Unterteilungen recht unterschiedlich ausfallen; ich gebe nur zwei Beispiele: »Den Traumbildern liegt allemal irgend ein Sinn zum Grunde, denn entweder spricht er einen gewissen Zustand des Organismus des Träumenden, oder das Gefühl eines Bedürfnisses desselben aus, oder die geheimen Wünsche, Begierden und Leidenschaften des Träumenden machen den Inhalt der Traumbilder aus, oder sie stellen die reine Thätigkeit der Psyche, Gedanken, Vorstellungen und Ideen aus der Vergangenheit, Gegenwart, oder der ihn berührenden Zukunft in Bildern dar« (Greiner 1817, S. 153). Carus unterscheidet - unter Bezugnahme auf Homers berühmtes Bild von der elfenbeinernen und der hornenen Traumpforte - zwischen Träumen, die nur ein »bedeutungsloses Wiederholen früher aufgeregter Vorstellungen« sind (1831, S. 316), und den eigentlich bedeutenden »ahnenden« Träumen. Letztere künden entweder von »bevorstehenden eigenen Krankheitszuständen« oder von räumlich bzw. zeitlich entfernten Ereignissen, die auch andere Personen betreffen können; dabei zeigen sie diese Ereignisse entweder direkt (was man seit Artemidor als >theorematische Träume< bezeichnet) oder in symbolischer Verschlüsselung (1831, S. 316325).
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daß Selbstbewußtsein und Willensfreiheit die höchsten Werte sind, weil in ihnen das eigentliche Telos der menschlichen Entwicklung liegt.36 Von daher haftet dem Traum, bei aller Wertschätzung, immer auch etwas Fragwürdiges, mindestens Vorläufiges an, er bleibt eine »partie honteuse« unserer Existenz (Schubert 1814, unpag. Vorrede), Ausdruck der menschlichen Doppelnatur, aber nicht Zielpunkt ihrer Entwicklung.
5. So weit die Traumtheorie der romantischen Anthropologie. Will man ihre Bedeutung für die Traumdichtung der Epoche ermessen, so wird man die drei Fragen beantworten müssen, die für Bezüge zwischen Wissenssystem und Literatur immer grundlegend sind: (1) Wie verbreitet und bekannt ist die Theorie? (2) Wie groß ist ihre Akzeptanz? (3) Wie verhält sie sich zu Regeln und Bedürfnissen des literarischen Systems? (1) Bei allen Unterschieden im Detail ist die Traumtheorie der romantischen Anthropologie in ihren Grundzügen äußerst homogen. Mindestens zwischen 1810 und 1850 darf sie als die eindeutig dominante Theorievariante gelten.37 Die Ausdifferenzierung zwischen wissenschaftlicher Fachliteratur und Schriften, die sich an den gebildeten und interessierten Laien wenden, ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch wenig ausgeprägt; viele Schriften sprechen ausdrücklich auch den Nicht-Wissenschaftler an. Was jedoch die breite Kenntnis der romantischen Traumtheorie vor allem sichert, ist ihre enge Verbindung mit der Theorie des >tierischen Magnetismusnormalen< Schlafes und Traumes ausgegangen. Magnetismus aber ist in der ersten Jahrhunderthälfte das medizinische Modethema schlechthin. Wir können also den Bekanntheitsgrad der romantischen Traumtheorie in ihrer Epoche durchaus mit dem der Psychoanalyse heute vergleichen, um deren Grundzüge auch der weiß, der nie eine Zeile Freud gelesen hat.38
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Vgl. z.B.: »Das Wachen, wo der freye Wille seine Herrschaft ausübt, steht unendlich höher, als der Traum« (Eschenmayer 1817, S.231). Zwar wird von einer Minderheit die aufklärerische Defizittheorie des Traumes weitergeführt (s. Anm. 29), doch dürfte deren weltanschauliches Voraussetzungssystem wenig angetan gewesen sein, ihr bei romantischen Literaten Geltung zu verschaffen. Das heißt auch, daß in der Blütezeit der romantischen Anthropologie die Suche nach Lektüren und Kontakten sekundär ist. Der verbreitetste Text aus der Konstitutionsphase der romantischen Traumtheorie ist sicher Schuberts Symbolik des Traums von 1814 (flankiert von seinen Ansichten von 1808); das Nachwort Gerhard Sauders zum Reprint informiert ausführlich über Schuberts vielfältige persönliche Bekanntschaften mit romantischen Literaten und über die breite Rezeption der Symbolik (u.a. durch E.T. A. Hoffmann und Fouque).
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(2) Die Akzeptanz der romantischen Traumtheorie bei romantischen Literaten ist schon allein durch die fundamentalen Gemeinsamkeiten in epistemologischen Prämissen, Denkfiguren und Wertpositionen gesichert.39 Zudem ist die Hochromantik durch eine zunehmende Skepsis gegenüber der schulgerecht deduktiven idealistischen Systemphilosophie geprägt; in dieser Situation wird die romantische Anthropologie zum wichtigsten extra-literarischen Referenzsystem der romantischen Autoren, die - anders als ihre frühromantischen Vorgänger - wenig Ambitionen zu eigenen philosophischen Spekulationen und Theoriebildungen zeigen. (3) Von den allerersten Anfängen der Traumdichtung bis weit ins 18. Jahrhundert hinein dominiert der Typus des >übernatürlichnatürlich< erklären40 und durch magnetische Fallgeschichten quasi empirisch belegen. Damit steht den Romantikern wieder das ganze Spektrum traumdichterischer Möglichkeiten offen. Die romantische Traumtheorie kommt den Bedürfnissen der zeitgenössischen Literatur jedoch in noch viel spezifischerer Weise entgegen: (a) Grundthema romantischer Texte ist die Überwindung eines empiristischen Weltbildes und Weltverhaltens; gestaltet wird sie meist als Bewußtseinswandel des Helden, der, gemäß den frühromantischen Vorgaben, triadisch verläuft:41 Ausgangspunkt ist in aller Regel die zweite Stufe der Triade, in der sich der Held bereits mindestens partiell in die bürgerliche Welt, ihr Denken und ihre Werte eingefügt hat. Aus dieser verengten Weltsicht befreit ihn ein Regressionserlebnis, das ihn in der »transzendentalen Geschichte des Ich« (Schelling) hinter den Punkt der Bewußtwerdung zurückführt; so erfährt er die ursprüngliche Ein39
Das gilt auch für die epochentypische Annäherung an die christliche Orthodoxie, die von vielen romantischen Anthropologen mitvollzogen wird. 40 Vgl. z.B.: »Was die vorahnenden Träume [...] von fremden Ereignissen betrifft, so sind sie nur dadurch verständlich, daß wir das Leben der Menschheit, so wie das der Natur im Ganzen, [...] als ein organisches auffassen, wo [...] kein Ereignis anders als in der notwendigen Verkettung mit anderen, und [...] immer durch einen Keim vorbereitet, erfolgt« (Carus 1831, S.333); »Daß die Träume ebenso etwas prophetisches an sich haben, wie sie symbolischer Natur sind, ist wegen der im Schlafe stattfindenden tieferen organischen Beziehungen ohne weiteres leicht zu begreifen« (Ennemoser 1849, S. 449). 41 Notgedrungen muß ich hier sehr pauschal argumentieren; zu einer detaillierteren und differenzierteren Darstellung vgl. meine Untersuchung: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik - Transzendentale Geschichten. Stuttgart 1993; der noch nicht erschienene zweite Band wird Romane der Hoch- und Spätromantik behandeln.
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heit von Subjekt und Objekt und seinen Anteil an ihr, seine Teilhabe an ihrer produktiven und dynamischen Bildungskraft und an der Polarität allen Seins. Diese Regression ist eine Begegnung mit dem verdrängten Unbewußten - aber natürlich nicht im Freudschen Sinne, sondern als anamnetische Wiederfindung eines Einheitsgefühls, das in der Kindheit noch präsent war, im Übergang zum Erwachsenenleben und seiner Anpassung an das Realitätsprinzip aber vergessen und unterdrückt wurde. Sexuelles Begehren, das Ausleben kreatürlicher Wünsche, die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung, Allverschmelzung und unbegrenzter Plastizität alles Objektiven sind Epiphänomene dieser transzendentalen Regression, nicht aber ihre Ursache oder ihr Ziel. Der zweite Schritt wäre dann die Entwicklung zum letzten Stadium der Triade hin, in dem sich kreative Spontaneität und Bewußtheit in produktiver Wechselwirkung miteinander verbinden würden. In der Hochromantik wird dieses idealtypische Grundmuster vielfach variiert und modifiziert. Die wichtigste Veränderung liegt wohl darin, daß an die Stelle eines idealen Progresses die Notwendigkeit tritt, die im menschlichen Leben unaufhebbare »Duplizität des Seins« (E.T. A. Hoffmann) auszuhalten. Dadurch verschiebt sich die Lösung des Problems von der Ebene des Helden auf die von Autor bzw. Werk: In der ästhetischen Produktion bzw. im durchkomponierten Text gelingt die modellhafte Ausbalancierung der im Leben unerträglichen Widersprüche, die dem Helden meist verwehrt bleibt. In dieses hier natürlich stark vergröberte Grundschema läßt sich das Traummodell der romantischen Anthropologen paßgenau einfügen: Der Traum gibt nicht nur Impulse zur Veränderung, indem er den Helden - auf lebensweltlich völlig plausible Weise - mit einer >anderen< Wirklichkeit jenseits einer starren Subjekt-Objekt-Opposition konfrontiert, sondern er läßt ihn auch den kreatürlichen Grund der menschlichen Existenz, ihre Verwurzelung im Naturganzen, bzw. das Telos seiner Bestimmung in einer »geistigen Welt« sinnlich erfahren. (b) Romantische Texte sind nicht nach den Regeln psychologisch-realistischer Literatur konstruiert. Orte, Ereignisse, aber auch Personen gewinnen ihren Sinn und ihre Plausibilität nur im Rahmen einer symbolischen Gesamtkonstruktion von anthropologischer (oder auch kosmologischer) Allgemeinheit. Dem entspricht die Traumtheorie der romantischen Anthropologie, in der - anders als in der Aufklärung - der individualpsychologische Erkenntniswert von Träumen hinter ihrer kosmologisch-metaphysischen Erfahrungsdimension zurücktritt. So haben auch die Träume der romantischen Literatur keine individualpsychologische Erkenntnisfunktion - auch wenn freudianisch inspirierte Interpreten das hartnäckig unterstellen. Das romantische Unbewußte ist eine im wahrsten Sinne des Wortes kollektive Größe, die romantische Regression führt in eine naturgeschichtliche Vergangenheit, nicht in die eines bestimmten Individuums. Individualitätsspezifisch ist primär die Art und Weise, wie sich die Figuren zu dem im Traum erschlossenen Erfahrungsraum verhalten: ob sie sich ihm öffnen und ihr Ich erweitern oder die Traumwelt abzuwehren und zu depotenzieren suchen.
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(c) Im Zentrum der romantischen Literatur steht das Projekt einer »Neuen Mythologie«; Wie einst in der Blütezeit des Mythos soll Literatur mit poetischen Mitteln ein Weltbild stiften und durchsetzen, indem sie die Phantasie des Lesers aktiviert - und ihn so aus der Passivität und Reaktivität des Empirismus befreit - und indem sie, wie wir sagen würden, sein kollektives Unbewußtes mit Bildern besetzt.42 Dazu verbinden die Dichter eklektisch Mythologeme der Tradition, bedienen sich aber auch der neuen Mythologie der Natur, die die Naturphilosophie und ihr Pananalogismus erschlossen haben. Seit Schuberts Traumbuch von 1814 gelten die Symbolik des Traumes und die der Natur in Struktur, Bildrepertoire und Semantik als identisch. Damit eröffnet sich auch den romantischen Dichtern die Möglichkeit, die Symbolik ihrer Träume auf eine neue, mindestens potentiell inter subjektivere Grundlage zu stellen. (d) Romantische Texte sind um Zentren poetischer Verdichtung organisiert, die das empirische Weltbild gezielt durchstoßen; solche poetisch potenzierten Textelemente können wunderbar-phantastische Ereignisse sein, vor allem aber Einlagen wie Gedichte, Märchen - oder eben Träume. Dem kommt wiederum die romantische Traumtheorie ausdrücklich entgegen, da sie den Traum sozusagen zur Naturform der Poesie erklärt, ihm eine verstärkt assoziative, verdichtete und bildlich-symbolische Sprache und, mindestens potentiell, eine hohe und dichte Semantik zuschreibt.43 Von daher gibt es prinzipiell keinen Konflikt zwischen Natur- und Kunsttraum, authentischem und literarischem Traum, und es besteht auch keine besondere Notwendigkeit mehr zur Fingierung von authentischer Traumhaftigkeit. Die Dichter müssen sich den Traum nicht mehr literarisch anverwandeln, sondern können ihn als ihre ureigene Domäne betrachten.44
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Seit der Publikation von Manfred Frank (Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. L Teil. Frankfurt/M. 1982) ist das romantische Projekt einer >Neuen Mythologie< in der Germanistik vielfältig untersucht worden. Vgl. zu weiteren Literaturangaben meine Aufsätze: »Neue Mythologie« in der deutschen und englischen Frühromantik. William Blakes The Marriage of Heaven and Hell und Novalis' Klingsohr- Märchen. In: arcadia 26 (1991), S.225-245; Träume und Feste der Vernunft. Zur Vorgeschichte des romantischen Projekts einer »Neuen Mythologie« in der Aufklärung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S.47-83. 43 Diese Identifizierung von Traum und Poesie bahnt sich bereits im 18. Jahrhundert an, wird durch Herder und Jean Paul bekräftigt und für die romantische Traumtheorie durch Schuberts Symbolik kanonisiert, wo der Traum als »versteckter Poet in unserem Innern« bestimmt wird (1814, S. 3 und passim). 44 Das führt allerdings auch dazu, daß einer der sonst wichtigsten Differenzpunkte zwischen Wissenssystem und Literatur entfällt: In erlebnisorientierter Literatur kann der Autor seine eigenen Erfahrungen direkt einbringen und damit vorgegebene Theoreme modifizieren, erweitern oder auch sprengen. Der romantische Autor wird sich dagegen bei seiner Traumdichtung allenfalls marginal von eigenen Träumen inspirieren lassen.
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Um die notgedrungen pauschalen Ausführungen zu Form und Funktion literarischer Träume in der Romantik zumindest ansatzweise zu konkretisieren,45 sollen zwei Texte - der erste Traum aus Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1801) und der erste Traum Elis Fröboms aus E.T. A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun (1819) - kurz vorgestellt werden. Das philosophische und literarische Werk von Novalis (1772-1801) entsteht in der Konstitutionsphase der Naturphilosophie - als Parallelprojekt zu den Schriften Schellings, Hölderlins und Friedrich Schlegels. Daher gehört auch seine Traumtheorie - sofern man seine verstreuten Äußerungen zum Thema so nennen will46 - nicht zur romantischen Anthropologie, sondern zu deren frühromantischer Vorgeschichte.47 So ist es auf den ersten Blick überraschend, daß sich seine Traumdichtung bruchlos in die Traumtheorie der romantischen Anthropologen einfügt - freilich nur auf den ersten Blick: Diese Gemeinsamkeiten zwischen hochromantischer Literatur und Anthropologie beruhen ja gerade auf ihrem gemeinsamen Ursprung im Symphilosophieren der frühromantischen Zirkel. Heinrichs Traum steht am Anfang seiner Entwicklung; angeregt ist er - auf die Verklammerung von Traum und Wachen durch einen solchen Tagesrest haben Traumdichter seit jeher geachtet - durch den Besuch eines geheimnisvollen »Fremden« und seine Erzählungen von einer »blauen Blume«: Der Jüngling verlohr sich allmählich in süßen Fantasien und entschlummerte. [L] Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Thiere sah er; er lebte mit mannichfaltigen Menschen, bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er gerieth in Gefangenschaft und die schmählichste Not. Alle Empfindungen stiegen bis zu einer niegekannten Höhe in ihm. Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt. [II.] Endlich gegen Morgen, wie draußen die Dämmerung anbrach, wurde es stiller in seiner Seele, klarer und bleibender wurden die Bilder. Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein. Nur selten schimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er vor eine Felsenschlucht, die bergan stieg. Er mußte über bemooste Steine klettern, die ein 45
Eine neuere Untersuchung zum romantischen Traum liegt - seit Beguins gerade im literarischen Bereich vielfach überholter Monographie (Anm.20) - nicht vor; vgl. jetzt den Sammelband: Sheila Dickson/Mark G. Ward (Hg.): Romantic dreams. Proceedings of the glasgow conference, April 1997. Glasgow 1998 (Glasgow University French and German Publications). 46 Vgl. dazu meinen in Anm. 13 genannten Beitrag. 47 So fehlen bei Novalis auch konstitutive Merkmale späterer anthropologischer Schriften: Weder spielt der Magnetismus eine zentrale Rolle, noch wird zwischen Cerebral- und Gangliensystem unterschieden. Statt dessen bedient sich Novalis eines Theorierepertoires, das in der Hochromantik kaum mehr verwendet wird: Er fundiert seine medizinischen Überlegungen vor allem auf der Erregungslehre des schottischen Mediziners John Brown; vgl. dazu John Neubauer: Novalis und die Ursprünge der romantischen Bewegung in der Medizin. In: Sudhoffs Archiv 53 (1969), S. 160-170.
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Manfred Engel ehemaliger Strom herunter gerissen hatte. Je höher er kam, desto lichter wurde der Wald. Endlich gelangte er zu einer kleinen Wiese, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öefnung erblickte, die der Anfang eines in den Felsen gehauenen Ganges zu seyn schien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm schon von fern ein helles Licht entgegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben in unzählige Funken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeste Geräusch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauspiel. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. Die Wände der Höhle waren mit dieser Flüssigkeit überzogen, die nicht heiß, sondern kühl war, und an den Wänden nur ein mattes, bläuliches Licht von sich warf. Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendroths; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, niegesehene Bilder entstanden, die auch in einander flössen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten. Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. [III] Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hin ausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht [,] das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete (HKA 1,196f.).
Wie alle von Novalis' Träumen (und wie sein dichterisches Werk überhaupt) ist auch dieser Text mit genauem Kalkül aufgebaut und bis ins Detail in seiner Bedeutung dechiffrierbar.49 Ich muß mich hier auf die wesentlichen Aspekte beschränken. Das Grundschema des Traumes - die wichtigsten Unterteilungen sind im Text in eckigen Klammern angegeben - entspricht der in einem Fragment von 48
Ich zitiere Novalis - mit der üblichen Sigle HKA, Band- und Seitenangabe - nach der Standardausgabe: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Begründet von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mahl und Gerhard Schulz. 3. Auflage in vier Bänden mit einem Begleitband. Stuttgart 197788. 49 Zu den bisherigen Interpretationen vgl. den Forschungsbericht von Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S.406418.
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Novalis entworfenen Triade: »Directes Träumen - reflectirtes Träumen - potenzirtes Träumen« (HKAIII, 63). Im ersten Hauptteil, einer Folge wirrer Träume, durchmißt Heinrich, mit gesteigerter Affektbesetzung und unter Aufhebung räumlicher und zeitlicher Grenzen, die extensive Totalität menschlicher Erfahrungen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Der zweite Teil - als Morgentraum dem Erwachen schon näher - ist »reflectirter Traum«, da Heinrich zwar »berauscht von Entzücken«, doch zugleich »jedes Eindrucks bewußt« ist. Den dritten Traumteil schließlich weist das vorhergehende Erwachen als »potenzierten Traum« aus, sozusagen als Traum zweiter Ordnung. Diesem formalen Bewußtseinsprogreß entspricht der zeitliche Progreß in Heinrichs symbolischer Traumreise. An ihrem Anfang steht allerdings die Regression. Daß Heinrichs Weg in der Zeit zurück führt, markiert allein schon die Landschaft: Der Anstieg im »ehemaligen« Flußbett durch das dichte Waldgrün zur steinernen Klippe und hinab in die Höhle ist eine naturgeschichtlich-geologische Reise in die Vergangenheit, zurück bis zum Uranfang selbst.50 Diesen markiert der »mächtige Strahl«, der in »unzählige Funken« zerstäubt, als Bild des Absoluten, das sich aus seiner Ureinheit in die Mannigfaltigkeit aufspaltet. Der Kontakt mit dieser Flüssigkeit durchdringt Heinrich wie »ein geistiger Hauch«, stärkt und erfrischt ihn - die kreativ-bildende Grundkraft allen Seins ist auch die seine, die freilich durch die Verbürgerlichung im Elternhaus zu ersticken drohte. In seinem Bad hat Heinrich unmittelbaren Anteil an der ursprünglichen Kreation: All seine Gedanken ver-körpern sich zu »sichtbaren Wesen«, und umgekehrt wird ihm alles Objektive zum Du: »jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn«. In dieser Urszene der Schöpfung gibt es also noch keinen starren Subjekt-Objekt-Gegensatz, keine Trennung von Ich und Nicht-Ich. Wohl aber im zweiten Teil des Traums, in dem aus der flüssigen Quelle ja bereits eine feste Landschaft hervorgegangen ist. Die blaue Blume, die als Pflanze in der Symbolsprache der Naturphilosophie auf einen Zustand bewußtloser Natureinheit verweist,51 ist also Inbegriff des Nicht-Ich, das sich in seiner Metamorphose zur Frau vom ent511
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Freilich: an einen transzendentalen, das heißt nur denknotwendigen Anfang allen Seins; vgl.: »Jeder Anfang ist ein Actus d[er] Freyheit - eine Wahl- Construction eines abs[oluten] Anfangs. Fichtens Ich - ist ein Robinson - eine wissenschaftliche Fiction - zur Erleichterung d[er] Darstellung und Entwicklung] d[er] WfissenschaftsJLfehreJ - so der Anfang d[er] Geschfichte] etc.« (HKA III, 405), und: »Keinen abs[oluten] Anfang giebts nicht - er gehört in die Kategorie d[er] imaginairen Gedanken« (III, 457). Solche transzendentalen Vorbehalte werden in der Hochromantik keine Rolle mehr spielen. Im Gespräch mit Sylvester erklärt Heinrich später die Blumen zu »Ebenbildern der Kinder«: »Den vollen Reichthum des unendlichen Lebens, die gewaltigen Mächte der spätem Zeit, die Herrlichkeit des Weltendes und die goldne Zukunft aller Dinge sehn wir hier noch innig in einander geschlungen, aber doch auf das deutlichste und klarste in zarter Verjüngung. Schon treibt die allmächtige Liebe, aber sie zündet noch nicht. Es ist keine verzehrende Flamme; es ist ein zerrinnender Duft und so innig die Vereinigung der zärtlichen Seelen auch ist, so ist sie doch von keiner Heftigen Bewegung und [k]einer fressenden Wuth begleitet wie bey den Thieren« (HKA I, 329f.).
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fremdeten Objekt zum liebenden und geliebten Du zu verwandeln beginnt. Während der zweite Traumteil den absoluten Anfang verbildlicht, verweist der dritte so voraus auf die absolute Zukunft, die vollkommene Versöhnung.52 Die Funktion des Traumes in Heinrichs Entwicklungsweg ist offensichtlich: Er ist sein erster Schritt hinaus aus der Enge des Elternhauses - das anschließende Traumgespräch, in dem die Eltern die Topoi der aufklärerischen Traumtheorie verwenden, und das berichtete Versagen des Vaters gegenüber seinem ganz ähnlichen Jugendtraum machen dies überdeutlich. Was Heinrich im Traum erfährt, ist die transzendentale Vergangenheit seines Ich, die unbewußte Tiefendimension, die ihn mit dem Ganzen der Schöpfung verbindet; wie es einige Kapitel später in einem bezeichnenden Bild heißt: Er sah sein kleines Wohnzimmer dicht an einem erhabenen Münster gebaut, aus dessen steinernem Boden die ernste Vorwelt emporstieg, während von der Kuppel die klare fröhliche Zukunft in goldnen Engelskindern ihr singend entgegenschwebte. Gewaltige Klänge bebten in dem silbernen Gesang, und zu den weiten Thoren traten alle Creaturen herein, von denen jede ihre innere Natur in einer einfachen Bitte und in einer eigenthümlichen Mundart vernehmlich aussprach. Wie wunderte er sich, daß ihm diese klare, seinem Daseyn schon unentbehrliche Ansicht so lange fremd geblieben war. Nun übersah er auf einmal alle seine Verhältnisse mit der weiten Welt um ihn her; fühlte, was er durch sie geworden und was sie ihm werden würde, und begriff all die seltsamen Vorstellungen und Anregungen, die er schon oft in ihrem Anschauen gespürt hatte (HKA I, 252).
Schon diese Interpretationsskizze dürfte deutlich gemacht haben, daß sich Heinrichs Traum durchaus mit der Traumtheorie der romantischen Anthropologie vereinbaren läßt. Heinrichs Regression zur Urszene aller Kreation ist auch Freisetzung eines ursprünglichen Begehrens, einer - durchaus sexuell konnotierten - »Wollust« der Allvereinigung. Und Novalis gestaltet sie mit einer Symbolik, die durchgängig naturphilosophisch getönt ist. Dies gilt, wie ich hier nur andeuten kann, nicht nur für das Motiv der Blume, sondern auch für die Urgegensätze von Licht und Dunkel, flüssig und fest53 und für die Urfarben golden und blau.54 E. T. A. Hoffmann (1776-1822) ist einer der produktivsten Traumdichter der Romantik.55 Fast jeder seiner Texte enthält mindestens einen Traum, wobei es 52
Noch weiter in dieser Richtung geht Heinrichs zweiter Traum (HKA 1,278f.). Zum Wassermotiv und seiner Bläue vgl. etwa die folgende Stellen aus den Lehrlingen: »Das Wasser, dieses erstgeborne Kind luftiger Verschmelzungen, kann seinen wollüstigen Ursprung nicht verläugnen und zeigt sich, als Element der Liebe und der Mischung mit himmlischer Allgewalt auf Erden«; »Es ist nicht blos Wiederschein, daß der Himmel im Wasser liegt, es ist eine zarte Befreundung, ein Zeichen der Nachbarschaft, und wenn der unerfüllte Trieb in die unermeßliche Höhe will, so versinkt die glückliche Liebe gern in die endlose Tiefe« (1,104 und 105). 54 Aus Goethes Farbenlehre hat Novalis gelernt, daß Gelb und Blau die Farben sind, in denen die Ur-Polarität von Hell und Dunkel, aus der alle Farben hervorgehen, sich am reinsten ausdrückt, sozusagen die >absoluten< Farben. Vgl. Geza von Molnär: Another glance at Novalis' »blue flower«. In: Euphorion 67 (1973), S. 273-286; vgl. auch Uerlings: Friedrich von Hardenberg (Anm.49), S.410. 55 Hoffmanns Traumdichtung ist verschiedentlich, wenn auch wohl noch nicht zureichend in53
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ein breites Spektrum von Themen, Verfahren und Funktionalisierungen dieser Einschübe gibt. Novalis gehört dabei sicher zu den wichtigsten Anregern Hoffmanns erste Traumdichtung im Ritter Gluck (1809) steht, wenn auch mit bezeichnenden Unterschieden, in deutlichem intertextuellen Bezug zu Heinrichs Traum von der blauen Blume. Mit den Bergwerken von Falun habe ich jedoch bewußt einen späteren Text gewählt,56 der in die Hochphase der romantischen Anthropologie fällt; so läßt sich das Zusammenwirken von frühromantischer Traumdichtungstradition und hochromantischer Traumtheorie studieren. Auch für Elis Fröbom markiert ein Traum den Beginn eines einschneidenden Lebensumbruchs, und wiederum wird dieser Traum durch die Erzählung eines geheimnisvollen Fremden initiiert: Von einer Ostindienreise zurückkehrt, muß der Seemann Elis erfahren, daß seine Mutter - letzte Überlebende der schon von drei Todesfällen heimgesuchten Familie - gestorben ist. Damit hat er seinen einzigen Bezugspunkt und Halt, die letzte Bindung an das Leben verloren; seine angeborene Melancholie steigert sich bis zum Todeswunsch. Da trifft er einen alten Bergmann, der ihm rät, auch diesen Beruf zu ergreifen, da er Elis' »tiefem, in sich gekehrtem, frommem, kindlichem Gemüt« (S. 212) entspreche.57 In der Tiefe des Bergwerkes werde das Auge des Menschen »hellsehender«, so daß es endlich »in dem wunderbaren Gestein die Abspiegelung dessen zu erkennen vermag, was oben über den Wolken verborgen ist« (S. 213). Elis lauscht dieser Rede mit einer Mischung aus Angst und Faszination. Nach dem Abschied des Alten geht er zu Bett:
terpretiert worden; vgl. vor allem Inge Stegmann: Die Wirklichkeit des Traumes bei E.T. A. Hoffmann. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 95 (1976) Sonderheft, S. 64-93 (als Kurzfassung ihrer Dissertation: Deutung und Funktion des Traumes bei E. T. A. Hoffmann. Bonn 1973) und Diana Stone Peters: The dream as bridge in the works of E.T. A. Hoffmann. In: Oxford German Studies 8 (1973/74), S. 60-85. 56 Die Bergwerke entstanden im Dezember 1818 und wurden erstmals in Band I der Serapionsbrüder veröffentlicht (Ostern 1819); bereits die Stoffwahl zeigt Hoffmanns enge Bezüge zur Naturphilosophie seiner Zeit - bekanntlich liegt dem Text der zuerst in Schuberts Ansichten veröffentlichte Bericht über einen Leichenfund im Faluner Bergwerk zugrunde. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Sekundärliteratur zu den Bergwerken findet sich in Gerhard R. Kaiser: E.T.A. Hoffmann. Stuttgart 1988 (= Sammlung Metzler 243), S.83; der Traum wird meist nur sehr kursorisch interpretiert. Zu Hoffmanns Verhältnis zur Medizin seiner Zeit vgl. Wulf Segebrecht: Krankheit und Gesellschaft. Zu E.T.A. Hoffmanns Rezeption der Bamberger Medizin. In: Brinkmann (Hg.): Romantik in Deutschland (Anm. 1), S. 267-290. Zu Hoffmann und Schubert vgl. Monika Schmitz-Emans: Naturspekulation als »Vorwand« poetischer Gestaltung. Über das Verhältnis E.T.A. Hoffmanns zu den Lehren G.H. Schuberts. In: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft 34 (1988), S. 67-83 (mit Angaben zur älteren Forschung); das Problem dieses interessanten Aufsatzes liegt darin, daß hier nur Parallelen und Differenzen zu Schubert untersucht werden und andere Texte der Zeit völlig außer acht bleiben - so lassen sich Eigenständigkeiten Hoffmanns nicht ermitteln. 57 Ich zitiere aus den Bergwerken mit bloßer Seitenangabe nach: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hier Bd. 4: Die Serapionsbrüder. Hg. von Hans-Joachim Kruse und Rudolf Mingau. Berlin 1978.
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Manfred Engel Kaum hatte er sich, müde und matt, wie er war, hingestreckt auf sein Lager als der Traum über ihm seine Fittiche rührte. Es war ihm, als schwämme er in einem schönen Schiff mit vollen Segeln auf dem spiegelblanken Meer und über ihm wölbe sich ein dunkler Wolkenhimmel. Doch wie er nun in die Wellen hinabschaute, erkannte er bald, daß das, was er für das Meer gehalten, eine feste durchsichtige funkelnde Masse war, in deren Schimmer das ganze Schiff auf wunderbare Weise zerfloß, so daß er auf dem Kristallboden stand und über sich ein Gewölbe von schwarz flimmerndem Gestein erblickte. Gestein war das nämlich was er erst für den Wolkenhimmel gehalten. Von unbekannter Macht fortgetrieben, schritt er vorwärts, aber in dem Augenblick regte sich alles um ihn her, und wie kräuselnde Wogen erhoben sich aus dem Boden wunderbare Blumen und Pflanzen von blinkendem Metall, die ihre Blüten und Blätter aus der tiefsten Tiefe emporrankten und auf anmutige Weise ineinander verschlangen. Der Boden war so klar, daß Elis die Wurzeln der Pflanzen deutlich erkennen konnte, aber bald immer tiefer mit dem Blick eindringend, erblickte er ganz unten - unzählige holde jungfräuliche Gestalten, die sich mit weißen glänzenden Armen umschlungen hielten und aus ihren Herzen sproßten jene Wurzeln, jene Blumen und Pflanzen empor, und wenn die Jungfrauen lächelten, ging ein süßer Wohllaut durch das weite Gewölbe, und höher und freudiger schössen die wunderbaren Metallblüten empor. Ein unbeschreibliches Gefühl von Schmerz und Wollust ergriff den Jüngling, eine Welt von Liebe, Sehnsucht, brünstigem Verlangen ging auf in seinem Innern. »Hinab - hinab zu euch«, rief er und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf den kristallenen Boden nieder. Aber der wich unter ihm, und er schwebte wie in schimmerndem Äther. »Nun, Elis Fröbom, wie gefällt es dir in dieser Herrlichkeit?« - So rief eine starke Stimme. Elis gewahrte neben sich den alten Bergmann, aber sowie er ihn mehr und mehr anschaute, wurde er zur Riesengestalt, aus glühendem Erz gegossen. Elis wollte sich entsetzen, aber in dem Augenblick leuchtete es auf aus der Tiefe wie ein jäher Blitz, und das ernste Antlitz einer mächtigen Frau wurde sichtbar. Elis fühlte, wie das Entzücken in seiner Brust, immer steigend und steigend, zur zermalmenden Angst wurde. Der Alte hatte ihn umfaßt und rief: »Nimm dich in acht, Elis Fröbom, das ist die Königin, noch magst du heraufschauen.« - Unwillkürlich drehte er das Haupt und wurde gewahr, wie die Sterne des nächtlichen Himmels durch eine Spalte des Gewölbes leuchteten. Eine sanfte Stimme rief wie in trostlosem Weh seinen Namen. Es war die Stimme seiner Mutter. Er glaubte ihre Gestalt zu schauen oben an der Spalte. Aber es war ein holdes junges Weib, die ihre Hand tief hinabstreckte in das Gewölbe und seinen Namen rief. »Trage mich empor«, rief er dem Alten zu, »ich gehöre doch der Oberwelt an und ihrem freundlichen Himmel.« - »Nimm dich in acht«, sprach der Alte dumpf, »nimm dich in acht, Fröbom! - sei treu der Königin, der du dich ergeben.« Sowie nun aber der Jüngling wieder hinabschaute in das starre Antlitz der mächtigen Frau, fühlte er, daß sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein. Er kreischte auf in namenloser Angst und erwachte aus dem wunderbaren Traum, dessen Wonne und Entsetzen tief in seinem Innern widerklang (S.215f.).
Noch konsequenter als Heinrichs Traum ist der von Elis vom Strukturprinzip der Metamorphose bestimmt - ein bekanntermaßen authentisch traumhafter Zug, den vor allem Jean Paul, das andere wichtige Vorbild aller romantischen Traumdichter, exzessiv verwendet. Elis' Traum beginnt mit einer Schiffahrt, also sehr nahe an seiner lebensweltlichen Erfahrungswirklichkeit. Das Seefahrerleben ist in der Erzählung Paradigma einer bindungs- und bodenlosen Existenzform, oberflächlich-sinnliches Leben ohne Wissen um den Grund und Zusammenhang der Dinge. Daher ist die Metamorphose vom Meer zum Berginnneren als Erkenntnisprozeß, als Korrektur eines Irrtums gestaltet.58
1
Elis »erkannte«, »daß, was er für Meer gehalten« »eine feste durchsichtig funkelnde Masse war«.
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Die neueröffnete unterirdische Welt erscheint in mancherlei Hinsicht als vertraut: Sie ist nicht tot, sondern belebt, hat einen Himmel und ein vegetatives Leben - Schubert beschreibt solche pflanzenhaften Metallbildungen in seinen Ansichten (1808, S.200f.) als Beleg für den Zusammenhang zwischen anorganischer und organischer Natur. Auch Elis' Traum ist also zugleich eine Regression in seine unbewußte Kreatürlichkeit wie in die Frühzeit der Naturgeschichte. Elis' Stellung im Unterreich entspricht genau der des Menschen in der Oberwelt: Er steht in der Mitte zwischen dem überirdischen Himmlisch-Geistigen und dem kreatürlichen Grund allen Lebens - nur daß er hier diesen Grund direkt ansehen kann. Nachdrücklicher noch als bei Novalis ist dieser Anblick sexuell konnotiert: Die »holden Jungfrauen« lösen im Träumer ein »brünstiges Verlangen« aus. Aber auch ohne festen Boden wird Elis noch in der Schwebe gehalten, freilich in einem nun prekär und labil gewordenen Gleichgewicht.59 Dessen polare Anziehungskräfte - in der Sprache der Naturphilosophie: Tellurisches und Siderisches - personifizieren sich zu zwei Frauengestalten: zur Bergkönigin und zu der noch unbekannten späteren Geliebten Ulla, die Elis mit der Stimme seiner Mutter ruft.60 Nun, da das Kreatürlich-Unbewußte seinen human-bewußten Gegenpol bekommen hat, wird seine Bedrohlichkeit offenbar: Zur Bergkönigin hinabzusteigen hieße, die bewußte und freie Individualität aufzulösen (»sein Ich zerfloß in dem glänzenden Gestein«). Auch Hoffmanns Traum ist also - kennt man seinen naturphilosophisch-anthropologischen Hintergrund - problemlos bis ins Detail zu deuten. Neben den offensichtlichen Parallelen dürften auch die Unterschiede zu Novalis deutlich geworden sein: Anders als bei Heinrich sind Elis' Empfindungen im Traum höchst ambivalent: »Schmerz und Wollust«, »Entzücken« und »zermalmende Angst« wechseln miteinander, schließlich bleibt nur eine »namenlose Angst«, deren Berechtigung der weitere Textverlauf bestätigt. Verglichen mit dem Ofterdingen ist die Naturerfahrung also bedrohlicher geworden - die »RomantikNatur« beginnt, sich zur »Triebnatur« (Odo Marquard) zu wandeln -, und von einem triadischen Progreß hin zu einer »moralisierten« Natur kann keine Rede mehr sein. Dies ist eine Veränderung gegenüber der Frühromantik, die hochromantische Literatur und Anthropologie61 miteinander teilen. Allerdings wirkt nicht die Begegnung mit dem Unbewußten selbst schon zerstörerisch - im Ge59
Ich vernachlässige in meiner Interpretationsskizze die Rolle des Bergmanns, der vor allem dazu dient, dem Leser den Sinn des Traums verständlich werden zu lassen. 60 Es wäre sinnlos, einen freudianisch inspirierten Interpreten davon überzeugen zu wollen, daß damit kein Ödipuskomplex signalisiert wird (bzw. daß die Fahrt in das Bergwerk nicht eine Sehnsucht nach Rückkehr in den Mutterleib indiziert und daß die Jungfrauen nicht für Elis' verdrängtes Triebleben stehen). Nur für den am historischen Textsinn interessierten Leser sei angemerkt, daß natürlich Mutter und Geliebte die Figuren sind, die durch unterschiedliche Modi der Bindung Elis im Menschlichen festzuhalten suchen. 61 Prinzipiell wird zwar an einem Progreß des Menschengeschlechtes festgehalten; dieser zielt nun aber in der Regel auf eine von aller Naturbindung gelöste Geistigkeit, deren Zeit und Ort unbestimmt bleibt und wohl nicht mehr im Irdischen angesiedelt ist.
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genteil: Sie ist es ja gerade, die Elis aus der ihm nicht gemäßen oberflächlichen Seefahrerexistenz befreit.62 Wie mit dem neuen Erfahrungsraum angemessen umzugehen wäre, demonstrieren die Bergleute: Mit »Lieb und Gedanken« (S. 227), ihr »ganzes Wesen« anstrengend, um »die Herrschaft« über »die mächtgen Elemente« zu »behaupten« (S. 223), fördern sie die Schätze der Tiefe ans Licht. Daß Hoffmanns Helden zu einer solch idealen Balance der Pole menschlichen Seins selten imstande sind, markiert einen weiteren Unterschied zu Novalis: Elis ist als Melancholiker gekennzeichnet, also - anders als Heinrich - als Mensch mit einer mindestens partiell pathologischen Charakterstruktur. Es bedarf einer besonderen Disposition, einer besonderen »Reizbarkeit« - wie sie auch, aber keineswegs nur den Künstler auszeichnet -, um die Grenzen der empirischen Weltsicht zu überschreiten; die Fähigkeit zu einer solchen Grenzüberschreitung aber bringt auch die Gefahr mit sich, dabei das für die menschliche Existenz nötige Gleichgewicht der Sphären zu verlieren - was zu Wahnsinn oder Tod des Helden führt.63 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Traumtheorie der romantischen Anthropologie bei den zeitgenössischen Autoren nicht nur bekannt und akzeptiert war, sondern daß sie sich auch als optimal kompatibel mit den Regeln und Bedürfnissen des literarischen Systems erwies. Natürlich gab es Theorieaspekte, die für die Literaten von allenfalls geringem Interesse waren - etwa die physiologische Erklärung des Traums oder sein potentieller Erkenntniswert zur Diagnose von Krankheiten. Doch finden sich im Wissenssystem keine Positionen, die den direkten Widerspruch der Autoren herausforderten, keine Grenzsetzungen, die es zu überschreiten galt. Ganz im Einklang mit der zeitgenössischen Theorie konnten die Romantiker frei an alle Traditionen der Traumdichtung anknüpfen und sie um die ihnen neu eröffneten Möglichkeiten erweitern. Das heißt nicht - ein positivistischer Trugschluß, der gerade kontextorientierten Literaturwissenschaftlern häufig unterläuft -, daß die Literaten nur wiedergeben, was sie im Wissenssystem ihrer Zeit vorfinden. Der besondere Reiz der romantischen Traumtheorie für die Autoren der Epoche lag ja gerade darin, daß 62
Wie im Ofterdingen - vgl. Engel: Der Roman der Goethezeit (Anm.41), S. 478^183 - wird auch in den Bergwerken der Traum zum wichtigsten Teil eines werkintegrierenden figuralen Nexus; wie dort verläßt er auch hier die Enklave eines vom Wachzustand klar abgegrenzten Traumes, so daß Traum- und Wachwelt zunehmend konvergieren (vgl. bes. S. 217, 219,222,226-229,230f., 232t, 234,235). Im Ofterdingen ist dieser Prozeß Teil einer umfassenden »Poetisierung« und »Romantisierung« der Wirklichkeit, in den Bergwerken indiziert er, daß Elis zunehmend die Fähigkeit verliert, die Pole seiner menschlichen Existenz im Gleichgewicht zu halten. 63 Wiederum hat das seine Parallelen in der romantischen Anthropologie und ihrer Traumtheorie. >Höhere< Träume, wie sie sich besonders ausgeprägt im Magnetismus zeigen, setzen immer eine gesteigerte Reizbarkeit, damit aber auch eine Schwächung der Lebenskraft voraus (so schon: Schubert 1808, S. 371).
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sie diesen nur einen Rahmen vorgab: das besondere Erkenntnispotential der Träume, ihre anthropologische Funktion und einen neuen, naturphilosophisch begründeten Symbolbereich. Innerhalb dieses Rahmens aber bestand völlige poetische Gestaltungsfreiheit. Da die romantische Anthropologie an Traumbeispielen ungewöhnlich arm ist, dürften die romantischen Autoren mit ihrer Vielzahl von Traumdichtungen nicht ohne Einfluß auf das Traumwissen der Zeitgenossen gewesen sein (und dadurch vielleicht sogar deren Träume affiziert haben). Erkenntnisse über den Traum, die über die der romantischen Anthropologie hinausführen, wird man in der Literatur der Epoche jedoch wohl kaum finden. 64 Das heißt aber nichts anderes, als daß die spezifischen Leistungen der Literaten - und gerade eine kontextorientierte Literaturwissenschaft sollte das weder übersehen noch geringschätzen - Innovationen innerhalb des literarischen Systems sind.65 Traumdichtungen haben nicht nur ein ganz eigenes Wirkungspotential zur Beeinflussung der Einstellung gegenüber dem Unbewußt-Naturhaften, sondern bieten auch reiche Möglichkeiten zur Entwicklung neuer antirealistischer Schreibweisen und zur Exponierung eines neuen Symbolsystems. Dabei ist der literarische Traum im Wertsystem der Epoche dem natürlichen in einem entscheidenden Punkt überlegen: Als poetisches Produkt beruht er immer schon auf einer Interaktion von unwillkürlich-bewußtloser und willkürlichbewußter Gestaltung. In der Dichtung - und nur dort - ist für die Romantiker der Traum vollkommen rehabilitiert.
64
Rückwirkungen der romantischen Traumdichtung auf die Traumtheorie der zeitgenössischen Anthropologen lassen sich natürlich nicht ausschließen; ich habe jedoch kaum Belege dafür gefunden. Während die aufklärerischen Anthropologen häufig Fallgeschichten aus der Literatur und aus der Empirie gleichberechtigt nebeneinander zitieren, geschieht dies in der Romantik nur ganz selten - was sich aus dem neuen Bewußtsein von der Eigenständigkeit der ästhetischen Erfahrung leicht erklären läßt. 65 Bei allen Affinitäten zwischen romantischer Anthropologie und Literatur bleiben die beiden Bereiche in ihren Schreibweisen deutlich getrennt; nur in der Konstitutionsphase der romantischen Anthropologie experimentieren deren Autoren gelegentlich mit Verfahren der antisystematischen Fragmentpoetik der Frühromantiker - so etwa in Johann Christian Reils Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (Halle 1803), in Ritters Fragmenten (1810), bei Franz von Baader und in Troxlers frühen Blicke in das Wesen des Menschen (1812).
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Anhang
Traumtheoretische Schriften aus dem Umkreis der romantischen Anthropologie (in Auswahl und chronologischer Reihenfolge) Gotthilf Heinrich Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft [öffentlich vorgetragen in Dresden im Winter 1807/08]. Dresden 1808 Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlaß eines jungen Physikers. Heidelberg 1810. Reprint, hg. von Heinrich Schipperges: Heidelberg 1969, bes. Bd. II, Nr. 469^78 Karl Alexander Ferdinand Kluge: Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel. Berlin 1811, bes. S. 186-191 und 317-332 Franz von Paula Gruithuisen: Erfahrungen zur festern Begründung der Theorie des Empfindungsvermögens und vorzüglich des Traumes. In: Beiträge zur Physiognosie und Eautognosie für Freunde der Naturforschung auf dem Erfahrungswege: von den Jahren 1809,1810 und 1811. München 1812, S. 202-296 Ignaz Paul Vital Troxler: Blicke in das Wesen des Menschen [zuerst: Aarau 1812]. Hg. von Hans Erhard Lauer. Stuttgart 1921, bes. S. 65-79 Gotthilf Heinrich Schubert: Die Symbolik des Traumes. Bamberg 1814. Reprint, hg. von Gerhard Sauder. Heidelberg 1968 Adolph Karl August Eschenmayer: Psychologie in drei Teilen als empirische, reine und angewandte. Zum Gebrauch seiner Zuhörer. Stuttgart 1817,21822. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Peter Krumme. Frankfurt 1982, bes. S. 221-232 Georg Friedrich Christian Greiner: Der Traum und das fieberhafte Irresein. Ein physiologischpsychologischer Versuch. Altenburg und Leipzig 1817 Christian Gotfried Daniel Nees von Esenbeck: Traumdeutung. Ein Fragment 1817. In: Archiv für den Thierischen Magnetismus l (1817) H. 3, S. 26-40 Johann Christian August Grohmann: Über die Träume des schlafenden und wachenden Zustandes (1818). In: Journal der praktischen Heilkunde 46 (1818) H. 4, S. 81-125 Christian Gotfried Daniel Nees von Esenbeck: Entwickelungsgeschichte des menschlichen Schlafs und Traums [zuerst als Vorlesung in Erlangen 1818 gehalten]. In: Archiv für den Thierischen Magnetismus 7 (1820) 1. Stück, S. 1-88 und 2. Stück, S. 1-70 Johann Michael Leupold: Über den wesentlichen Zusammenhang des ältesten Naturdienstes, des Orakelwesens, der künstlerischen Begeisterung, Divination des Traumes und des magnetischen Hellsehens mit der Natur des thierischen Instinkts. In: Archiv für den Thierischen Magnetismus 7 (1820) H. 2, S. 72-124 Jakob Friedrich Fries: Handbuch der psychischen Anthropologie oder der Lehre von der Natur des menschlichen Geistes. 2 Bde. Jena 1820/21, bes. Bd. 2, S. 51-58 Dietrich Georg von Kieser: System des Tellurismus oder Thierischen Magnetismus. Ein Handbuch für Naturforscher und Ärzte. 2 Bde. Leipzig 1822, bes. Bd. l, S.24-27 und Bd.2, S.4-20 Ignaz Paul Vital Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik [zuerst: Aarau 1828]. Hg. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1985 (Meiners Philosophische Bibliothek), bes. S. 199-214 Carl Gustav Carus: Vorlesungen über Psychologie [gehalten Winter 1829/30, Erstdruck 1831]. Hg. von Friedrich Arnold. Zürich 1958, bes. S. 292-348 Lorenz Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie. Jena 21831, bes. S. 354-358 Johann Michael Leupold: Die gesamte Anthropologie neu begründet durch allgemeine Biosophie und als zeitgemäse Grundlage der Medicin im Geiste germanisch-christlicher Wissenschaft. Für Ärzte und Nichtärzte. Bd. 1. Erlangen 1834, bes. S. 388-423 Karl Friedrich Burdach: Anthropologie für das gebildete Publicum. Stuttgart 1837, bes. S. 598610
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Johann Christian Fleck: Über Schlaf und Traum und die Schlaflosigkeit mit ihren Ursachen, Folgen und Heilmitteln. Weimar 1844 Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele (1846,21860). Reprint der 2. Auflage. Darmstadt 1964, bes. S. 220-248 Joseph Ennemoser: Der Geist des Menschen in der Natur, oder die Psychologie in Übereinstimmung mit der Naturkunde. Stuttgart 1849, bes. S. 547-563 Arthur Schopenhauer, Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhängt [in: Parerga und Paralipomena, 1851]. In: Ders.: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Hg. von Angelika Hübscher. Zürich 1977, Bd. 7, S. 247-335
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Metaphysik und Empirie Konkurrierende Naturkonzepte im Werk Adalbert Stifters Daß Stifters Texte nicht nur ausgiebig von Natur sprechen, sondern geradezu »Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft« sind, hat man bereits seit längerer Zeit bemerkt. Forscher, Landwirte und gebildete Privatiers befassen sich in ihnen mit nahezu allen Sparten der Naturwissenschaft, die im 19. Jahrhundert von Bedeutung waren: mit Physik, mit Mineralogie und Geologie, mit Botanik und Zoologie, Meteorologie und Astronomie. Sie versuchen auf diese Weise, die Ordnung der Dinge zu erkennen, eine theoretische Basis ihrer agrarischen Praxis zu gewinnen oder sich selbst zu therapieren, indem sie sich aus einer monadisch verschlossenen Subjektivität zur objektiven Wirklichkeit der Natur wenden. Wichtiger noch als solche inhaltlichen Momente ist, daß Stifters literarische Darstellungsverfahren - vor allem, aber nicht allein im Bereich der Natur - selbst weithin von Erkenntnissen und Verfahren der Naturwissenschaft bestimmt sind, diese mithin eine »methodische Dimension« für die Erzähltexte gewinnt.1 Ungestellt blieb jedoch für beide Bereiche die Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung, nach den >Paradigmen< der literarisch relevanten Wissenschaft. Dabei könnte diese Frage sowohl eine mehr als nur punktuelle Verbindung zwischen Literatur und Wissenschaftsgeschichte herstellen als auch ins Zentrum der literarischen Strukturbildung bei Stifter führen. Signifikant nämlich scheint mir, daß Stifter mit verschiedenen Konzepten von Natur und Naturwissenschaft operiert, die in ein spannungsreiches, ja widerspruchsvolles Verhältnis zueinander treten, das für seine Texte in vieler Hinsicht bestimmend wird. Es soll hier daher nicht um die einzelnen Elemente von Stifters Naturbild(ern) gehen und ebensowenig um den Aufweis von >Einflüssen< bei ihrer Konstitution, der Stifter etwa als Leser Herders, Goethes, Alexander von Hum1
Im Gegensatz zu älteren Arbeiten macht Martin Selge diesen Aspekt zum Gegenstand seiner Untersuchung, die leider den wissenschaftgeschichtlichen Kontext kaum berücksichtigt: Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976, S. 15ff. Von der schmalen älteren Forschung sei lediglich genannt: Rosemarie Weidinger: Adalbert Stifter und die Naturwissenschaften. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 3 (1954), S. 129-138, und 4 (1955), S. 1-13. Auf eine ausführliche Diskussion der Stifter-Forschung muß ich hier verzichten. Genannt seien im folgenden lediglich besonders wichtige und weiterführende Arbeiten. Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommer 1996 abgeschlossen. Seither erschienene Forschungen konnten nicht mehr einbezogen werden. Im zweiten Teil dieser Untersuchung knüpfe ich in manchem an Überlegungen an, die ich in meiner Arbeit Die Welt der Zeichen. StifterLektüren (Stuttgart, Weimar 1995) entwickelt habe. - Für freundliche Hinweise danke ich Werner Michler (Wien).
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boldts und anderer Autoren zu exponieren hätte, sondern vorrangig um die für Stifter maßgeblichen paradigmatischen Konzepte, soweit sie auch institutionell verankert waren. Angesichts der unbefriedigenden wissenschaftsgeschichtlichen Forschungslage mag eine solche Akzentsetzung den (im übrigen eher zweifelhaften) Vorzug einer Vereinfachung bieten, den Vorteil nämlich, Stifters biographischen Weg durch die Bildungseinrichtungen seiner Epoche zum Leitfaden der Darstellung wählen zu können. Die besonderen diskursiven Verhältnisse Österreichs lassen sich dabei, so scheint mir, exemplarisch und in nuce greifen. Das eigentliche Interesse dieser Untersuchung ist indes kein wissenschaftsgeschichtliches, sondern ein literarhistorisches. Es zielt auf die Funktionalisierungen und Transformationen, denen externe Wissensbestände und -konzepte beim Eintritt in die Sphäre der Literatur unterliegen, und auf die Konstellationen, die sich dabei bilden. Im Falle Stifters läßt sich ein Widerstreit, genauer vielleicht: eine Überlagerung, eine Interferenz verschiedener Naturkonzepte beobachten. Auf eine seltsame, nämlich weithin unbeabsichtigte Weise wird Literatur hier zu einem Experimentierfeld, in das >Wissen< nicht einfach als fixe Größe eingeht, sondern in dem es zugleich erprobt, auf seine Reichweite und Tragfähigkeit befragt und mehr oder weniger heimlich bezweifelt wird, kurz: in dem es auch in seiner epistemologischen Problematik erscheint. Das alles geschieht nicht unbedingt >bewußtIntentionen< seines Urhebers wenden kann. 1.
Der Bau der Welt Stifter stammt bekanntlich aus ländlichen Verhältnissen. Die Biographie des 1805 Geborenen erweist einmal mehr die Gleichzeitigkeit >ungleichzeitiger< Naturdeutungen. Die Großmutter väterlicherseits, Ursula Kary, selbst »eine lebendige Chronik und Dichtung«, vermittelt dem Kind den Bestand tradierter Märchen und Sagen und damit ein in der bäuerlichen Volkskultur fortlebendes voraufklärerisches Naturbild mit mythischen Zügen. Stifter hat sie nach eigenen Aussagen im »Haidedorf« verewigt, zweifellos aber auch in der Gestalt der anderen Märchenerzähler(innen) in seinem Werk.2 Zugleich schließt Stifter be2
Soweit möglich, zitiere ich Stifters Werke nach: Adalbert Stifter: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Alfred Doppier und Wolfgang Frühwald. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1978ff. [abgekürzt HKG]. Da diese Ausgabe noch nicht vollständig ist, muß in einigen Fällen auf die maßgebliche ältere Ausgabe zurückgegriffen werden: Adalbert Stifters sämmtliche Werke. 25 Bde. Hg. von August Sauer u.a. Prag 1904ff., Reichenberg 1927ff., Graz 1958, Hildesheim 1979 [abgekürzt PRÄ]. Die Bände l, 14,17,18 und 19 sind in 2. Aufl. erschienen und werden nach dieser zitiert. Zitate weise ich im folgenden im Text mit Sigle der Ausgabe, Band- und Seitenzahl nach. - Zu Stifters Großmutter vgl. seinen Brief an Louise Stifter vom 21.4. 1855, PRÄ 18, 260.
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reits in seiner Volksschulzeit Bekanntschaft mit dem maßgeblichen naturwissenschaftlichen Modell des 18. Jahrhunderts, der Naturgeschichte. Über den Schulmeister Joseph Jenne gelangt das Kind an die außerordentlich populäre, 1778 erstmals erschienene und mehrfach wiederaufgelegte Naturgeschichte für Kinder des Georg Christian Raff (1748 bis 1788), die Stifter »von vorne nach rückwärts und dann wieder von rückwärts nach vorne und immer wieder aufs neue gelesen« haben soll.3 Der dem Philanthropismus nahestehende Raff gliedert, der Tradition folgend, die Natur in drei Reiche (Pflanzen, Tiere, Steine) und orientiert sich darin u.a. an Linne, dessen Terminologie und Systematik er auch sonst übernimmt, in späteren Auflagen ergänzt und optimiert durch die Arbeiten Johann Friedrich Blumenbachs (Vorrede unpag.), vor allem offenbar dessen 1779 erstmals erschienenes Handbuch der Naturgeschichte. Raffs Buch beschreibt nicht nur »gegen zwei taussend Pflanzen, Thiere und Steine« (ebd.), sondern verfährt in grundsätzlichen Fragen zunächst definitorisch (Pflanze, Tier, Würmer, Insekten usw.) und vermittelt Grundprinzipien der Klassifikation, besonders auf der Ebene der Klassen und Ordnungen.4 Die Natur erscheint als »Garten« Gottes, der aus seinen Werken erkannt werden kann und soll (9). Sie ist sinnvoll organisiert und insofern teleologisch, als immer wieder auf den Nutzen aller ihrer Erscheinungen für den Menschen hingewiesen wird (87 u.ö.), der als ihr »vornehmstes Geschöpf« und Beherrscher von Gottes Gnaden an ihrer Spitze steht (83,622).5 Mit Blick auf diese Aspekte läßt sich sagen, daß Raff das Naturbild vorbereitet, das Stifter während seiner Studienjahre im Benediktinerstift Kremsmünster (1818 bis 1826) vermittelt wird. Im Stift Kremsmünster bei Linz, dem nicht nur eine Schule, sondern auch ein Lyzeum bzw. eine >philosophische Lehranstalt angeschlossen war, absolvierte Stifter sowohl seine Gymnasialzeit (vier sog. Grammatikal- und zwei Humanitätsklassen) als auch die zweijährigen philosophischen Studien, die eine Vorbedingung zur Zulassung zum Universitätsstudium waren (Abb. l und 2).6 Seit 3
So Stifters Freund und zeitweiliger Mitarbeiter Johann Aprent in einer biographischen Skizze, die seiner Ausgabe der Briefe Stifters von 1869 beigegeben war. Ich zitiere die von Moriz Enzinger herausgegebene Neuausgabe: Adalbert Stifter. Eine biographische Skizze von Johann Aprent. Nürnberg 1955, S. 30. - Zu Raff vgl. ADB 27 (1888), S. 158f. Die Naturgeschichte für Kinder zitiere ich nach der dritten vermehrten und verbesserten Ausgabe, Göttingen 1781. 4 S. 3f., 128,233,254 u. ö. Besonders deutlich ist die Anlehnung an Linne in der Einteilung des »Thierreichs« in die Klassen der Gewürme, Insekten, Fische, Amphibien, Vögel und Säugetiere. 5 Das entspricht ganz dem Grundkonsens der Naturgeschichte. Diese »umfaßte in ihrer klassischen Form eine integrative Betrachtung der geologisch-mineralogischen und geographischen [...] und der biologischen Objekte, die nicht nur als Einzelobjekte beschrieben und klassifiziert wurden, sondern als Teil der Gesamtschöpfung und Ausdruck eines weisheitsvollen Weltenplanes auch in ihrem Zusammenhang und ihrer Beziehung aufeinander interessierten«. Ilse Jahn: Grundzüge der Biologiegeschichte. Jena 1990, S. 228. Zur Lehre von den drei Naturreichen vgl. ebd., S. 197. 6 Dank der Forschungen von Moriz Enzinger sind wir über diese Jahre gut unterrichtet: Adal-
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Abb. 1: Adalbert Stifter, Blick auf Kremsmünster und Umgebung, Deckfarben auf Papier, um 1823-25. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Oberösterreichischen Landesmuseums, Linz.
Abb. 2: Adalbert Stifter, Das Stift Kremsmünster, Deckfarben auf Papier, um 1823-25. Abdruck mit freundlicher Genehmung der Adalbert-Stifter-Gesellschaft, Wien.
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dem 16. Jahrhundert bestand hier eine ungebrochene Tradition der Pflege der Mathematik und der Astronomie, seit dem 18. Jahrhundert auch der Naturwissenschaften. In der Unterrichtspraxis setzte sich in den 1740er Jahren eine stark gemäßigte aufklärerische Strömung durch, die die bis dahin verfolgten aristotelisch-thomistischen Prinzipien zugunsten einer Orientierung an Leibniz und Wolff verdrängte.7 Mit den staatlichen Lenkungs- und Zentralisierungsbestrebungen im Bildungsbereich unter Maria Theresia und Joseph II. schwanden allerdings die Freiräume; die restaurative Bildungspolitik unter Franz II. (17921835) setzte diesen Trend lediglich fort. Schulen und Universitäten wurden zu staatlicherseits kontrollierten und dirigierten Ausbildungsstätten, Lehrer und Professoren zu Staatsdienern mit nur mäßigem Interesse an Fragen der Forschung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte nicht nur eine strikte Zensur jeden Kontakt mit verdächtigen Geistesströmungen unterbinden - die Philosophie Kants beispielsweise war zwischen 1798 und 1861 für die schulische und akademische Lehre verboten8 -, die Lehrenden wurden überdies in beruflicher und privater Hinsicht kontrolliert und auf die Einhaltung genau festgelegter Lehrpläne und die Benutzung vorgeschriebener Lehrbücher verpflichtet. Die Abweichung von diesen und die Benutzung eigener Skripten im Unterricht war nur nach Genehmigung der Studienhofkommission, der obersten Kontrollinstanz, erlaubt.9 Angesichts derart reglementierter diskursiver Bedingungen geben die offiziell zugelassenen Lehrbücher einen relativ guten Einblick in die tatsächliche Lehrpraxis. Aufgrund einer Lehrplanänderung von 1819, die u.a. Naturgeschichte und Naturlehre als Lehrfächer für das Gymnasium wieder abschaffte, kam Stifter nur in der ersten Grammatikalklasse und dann erst wieder im Rahmen der philosophischen Studien in den Genuß von Unterricht in Naturkunde. Grundsätzliche Fragen der Naturkonzeption wurden in den beiden philosophischen Klassen allerdings auch im Rahmen des Religions- und des Philosophieunterrichts behandelt, denen Johann Michael Leonhards Systematischer Religionsunterricht für Kandidaten der Philosophie (3 Bde., 1821ff.) und die Elementa philosobert Stifters Studienjahre (1818-1830). Innsbruck 1950. Vgl. auch Konrad F. Kienesberger: 1200 Jahre Benediktinerstift Kremsmünster und Adalbert Stifter. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich28 (1977), S. 85-94. - Allgemein vgl. ferner P. Alfons Mandorfer: Erziehung und Unterricht in Kremsmünster. In: Kremsmünster. 1200 Jahre Benediktinerstift. Hg. von Rudolf Walter Litschel, 2. Aufl. Linz 1976, S. 147-192, vor allem S. 156ff. 7 Enzinger: Studienjahre (Anm.6), S. 48. 8 Vgl. Sepp Domandl: Adalbert Stifters Lesebuch und die geistigen Strömungen der Jahrhundertmitte. Linz 1976, S. 65ff. - Sepp Domandl: Wiederholte Spiegelungen. Von Kant und Goethe zu Stifter. Ein Beitrag zur österreichischen Geistesgeschichte. Linz 1982, S. 39ff., 42ff. 9 Zu den genannten Aspekten vgl. Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Bd. 3: Von der frühen Aufklärung bis zum Vormärz. Wien 1984, S.68ff., 180ff., 268ff., 283f. - Susanne PreglauHämmerle: Die politische und soziale Funktion der österreichischen Universität. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Innsbruck 1986, S.54ff., 93ff.
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phiae des Piaristen Joseph Calasanz Likawetz von 1820 zugrunde gelegt wurden. Nicht anders als in der im gymnasialen Unterricht verwendeten, weithin tabellarischen Naturgeschichte in Hinsicht auf Brauchbarkeit der Naturproducte im gemeinen Leben wird hier das Bild einer Ideologisch auf den Menschen und seinen Nutzen ausgerichteten Natur vermittelt, aus deren weiser Einrichtung zugleich ihr Schöpfer zu erkennen sei - durchaus noch im Sinne des kosmologischen und physikotheologischen Gottesbeweises. Es kann daher nicht verwundern, daß der gymnasiale Unterricht in Naturgeschichte, Naturkunde und Religion oft - und auch im Falle Stifters - in einer Hand lagen.10 Dieses Naturbild entspricht in seinen Grundzügen genau demjenigen, das Stifter in Kremsmünster im buchstäblichen Sinne ständig vor Augen hatte. Zwischen 1748 und 1758 war dort ein neungeschossiges, als »Mathematischer Turm« bezeichnetes Bauwerk errichtet worden, das ein »Universalmuseum« und eine Sternwarte beinhaltete - eine der ersten in Österreich (Abb. 3 bis 5). In ihm kulminierten die ausgeprägten naturwissenschaftlichen und astronomischen Ambitionen des Klosters.11 Über das enzyklopädische Programm dieses wissenschaftsgeschichtlich überaus bedeutsamen Gebäudes, das man als »gebaute Idee« bezeichnet hat, unterrichtet das von P. Laurentius Doberschiz 1764 verfaßte Manuskript Specula Cremifanensis. Beschreibung der in dem mathematischen Turme zu Chremsmünster befindlichen Naturalien, Instrumenten und Seltenheiten.12 Der Titel enthält bereits die Gliederung des Materials in Naturalia, Scientifica und Artificialia, die in aufsteigender Stufenfolge zu besichtigen waren - übrigens auch im Rahmen des Schulunterrichts13 - und als Arbeitsgrundla10
Enzinger: Studienjahre (Anm.6), S. 26. Zum Naturgeschichtsunterricht im Gymnasium ebd. S. 32, 46f., zu Leonhard S. 55-59, zu Likawetz S. 59-69. 1 ' Wenigstens hinweisen möchte ich auf die erst nach Fertigstellung dieses Textes erschienene Arbeit von Christian-Paul Berger: »... welch ein wundervoller Sternenhimmel in meinem Herzen...«. Adalbert Stifters Bild vom Kosmos. Wien, Köln, Weimar 1996. Berger gibt einen knappen Überblick über die astronomischen Forschungen in Kremsmünster und Wien sowie über Stifters astronomische und physikalische Kenntnisse, vgl. S.70ff. 12 Ich folge der Darstellung von Friderike Klauner: Der »Mathematische Turm« des Stiftes Kremsmünster und die Gemäldegalerie. In: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 21 (1967), S. 1-16, hier S. Iff. Zum Bau, seiner Geschichte und seinen Sammlungen vgl. Die Kunstdenkmäler des Benediktinerstiftes Kremsmünster. Bd. l: Das Stift - Der Bau und seine Einrichtung; Bd. 2: Die stiftlichen Sammlungen und die Bibliothek. Wien 1977 (= Österreichische Kunsttopographie, hg. vom Institut für österreichische Kunstforschung des Bundesdenkmalamtes), insbesondere Bd. l, S.464-478, Bd.2, S.20ff., 242ff. - Vgl. ferner P. Jakob Krinzinger: Die Sternwarte - eine gebaute Idee. In: Kremsmünster. 1200 Jahre Benediktinerstift (Anm.6), S.259-287, zur wissenschaftlichen Tradition des Stiftes S.261ff., zur Baugeschichte und zur Gliederung des Turms S.264ff. 13 Aus den Jahren 1810 bis 1819 liegen beispielsweise Pflanzen- und Tierzeichnungen von Schülern vor, die unter Anleitung von P. David Landsmann, Stifters Religions- und Naturgeschichtslehrer in der ersten Gymnasialklasse, und unter der künstlerischen Leitung des Zeichenlehrers J.G. Riezlmayr entstanden sind, dessen »Zeichnenschule« Stifter in die Anfänge des Zeichnens und Malens einführte. Vgl. Krinzinger: Die Sternwarte (Anm. 12), S. 278.
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ge der Forschungen dienten. Der zweite Stock enthielt eine unter anderem aus »Mineralia«, »Conchylia«, »Petrefacta«, »Botanica« und Vogelnestern bestehende Naturalien- sowie eine physikalische Sammlung, darüber befand sich eine Sammlung optischer, astronomischer und anderer Instrumente nebst einer Bibliothek, das vierte Geschoß beherbergte eine 432 Bilder umfassende Gemäldesammlung und das fünfte Antiquitäten und Kuriositäten. Die ganze Zusammenstellung zeigt deutlich, daß hier noch weithin das alte Schema der Kunstkammer herrschte.14 Die drei obersten Stockwerke dienten den Zwecken der Sternwarte. Im siebten Stock, über dem nur noch eine Galerie für astronomische Instrumente folgt, befindet sich eine Kapelle. »Die innere Anlage des >Turmes< zeigt die Natur in ihrer Entwicklung von Niederem zu Höherem, vom Stein zur Pflanze, zum Tier. Über allem jedoch steht der Mensch, der mit Hilfe der Wissenschaft die Natur zu erkennen sucht.«15 Das dokumentiert sich in den Instrumentensammlungen, bevor mit den Artefacta die Kunst als ein weiterer religiös relevanter Bereich der menschlichen Tätigkeit in den Blick kommt. Die Kapelle, räumlich mit der Astronomie verbunden, die den Blick in den göttlich geordneten Kosmos eröffnet, erinnert abschließend an die Überlegenheit des Glaubens über die Wissenschaft. Die Erforschung der offenbar nach der Lehre von den drei Reichen gegliederten Natur basiert auf der Mathematik - daher der Name des Turms -, erfolgt aber entschieden »ad gloriam altissimi«, wie eine Inschrift über dem Eingangsportal verrät.16 Gott ist in der Welt als seinem Werk zu erkennen, und den Naturwissenschaften wird die Aufgabe zugewiesen, das christliche Konzept von Natur und Kosmos zu bestätigen und aufzufüllen. »In Wahrheit«, schreibt Doberschiz, »ein Ordensmann kann zweymal getrost zu Grabe gehen, der nicht allein seinem Gott als ein rechtschaffener Geistlicher gedienet, sondern auch demselben als seinen Werken [!] durch Forschen und Studieren hat kennen gelernet. Er kennt Gott und die Welt, den Erschöpfer und die Geschöpfe, kurz die Natur, und jenen, der Sie gemachet. Mit einem Wort: er kann sagen, daß er 14
Dazu Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993. 15 Klauner: Der »Mathematische Turm« (Anm. 12), S. 2. Der Begriff der »Entwicklung« darf hier allerdings nur im systematischen, nicht im genealogischen Sinne verstanden werden. 16 »Ad gloriam / altissimi / bonarumque disciplinarum / ornamentum / hanc speculam posuit/ Alexander III / abbas Cremifanensis / anno MDCCLVIII / Q D O M B V« (d.h. Quod deus optimus maximus bene vertat). Von dieser Inschrift scheint auch das Programm der Stuckdecken im Bildersaal auszugehen. Schlüsselfigur ist dabei eine Gestalt, der u.a. eine Armillarsphäre und ein Kranich als Symbol der »vigilantia« beigegeben sind: »Diese erhebt die zur Ehre des Allerhöchsten den nächtlichen Himmel beobachtende Tätigkeit des Astronomen in den Rang einer christlichen Tugend« (Kunstdenkmäler des Benediktinerstiftes Kremsmünster [Anm. 12], Bd. l, S.473ff.). - Es ist nicht ohne Interesse, daß die Statuen im Treppenhaus des Turms von unten nach oben Ptolemäus, Tycho de Brahe und Kepler darstellen (vgl. dazu ebd. S. 471). Dem symbolischen Aufstieg durch die verschiedenen Bereiche der Natur wird damit eine zweite Linie parallelisiert, die den Fortschritt innerhalb der Erkenntnis der Natur veranschaulicht.
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Abb. 3: Sternwarte von Westen. Aus: Die Kunstdenkmäler des Benediktinerstiftes Kremsmiinster. Band l: Das Stift - Der Bau und seine Einrichtung. Wien 1977 (= Österreichische Kunsttopographie. Hg. vom Institut für österreichische Kunstforschung des Bundesdenkmalamtes). Foto Bundesdenkmalamt, Wien
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4: Sternwarte, ostwestlicher Schnitt. Aus: Die Kunstdenkmäler des Benediktinerstiftes Kremsmünster (wie Abb. 3). Foto Bundesdenkmalamt, Wien
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Abb. 5: Sternwarte, Grundriß des Erdgeschosses. Aus: Die Kunstdenkmäler des BenediktinerStiftes Kremsmünster (wie Abb. 3). Foto Bundesdenkmalamt, Wien
nicht umsonst auf der Welt gelebet habe, sondern ein wahrer Mensch gewesen sey, der die Vorzüge der menschlichen Seele vor so viel tausend anderen [...] wohl zu brauchen wußte.«17 Über die >paradigmatische< Ausrichtung der Kremsmünsterschen Forschungen zur Physik, Astronomie, Meteorologie, zum Erdmagnetismus, zur Mineralogie, zur einheimischen Flora und Fauna und anderem könnte im einzelnen allerdings erst eine Sichtung der zahlreichen dort entstandenen Publikationen Aufschluß geben. Die Natur der Tatsachen Das in Kremsmünster vermittelte und sinnfällig werdende Naturbild war zwar wissenschaftsgeschichtlich zu Stifters Zeit zweifellos in vielen Punkten anachronistisch, diskursiv aber ein nicht zu unterschätzendes Faktum. Seine Einheit löste sich auch symbolisch bezeichnenderweise erst um 1860 auf, als die Gemälde17
Specula Cremifanensis, S. 193, zit. n. Klauner: Der »Mathematische Turm« (Anm. 12), S.2f.
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galerie aufgrund des Wachstums der naturwissenschaftlichen Sammlungen aus dem Turm ausgelagert wurde.18 Bereits in Kremsmünster allerdings - und verstärkt dann an der Wiener Universität - kam Stifter mit einem anders gearteten, dem zukunftsweisenden >Paradigma< der Naturforschung nämlich in Berührung. Vor ihrer Emanzipation aus dem tradierten Fakultätssystem und ihrer Etablierung als eigenständige Studienfächer waren die Naturwissenschaften im semiuniversitären Bereich der Lehranstalten und an den Universitäten selbst in der (propädeutischen) philosophischen Fakultät institutionalisiert, teilweise auch im Rahmen der Medizin. Mineralogie, Botanik und Zoologie - die auch offiziell unter dem Titel der «drei Reiche der Natur« firmierten - waren dabei zum gemeinsamen Fach »Naturgeschichte« zusammengefaßt, die 1752 in den Studienplan für die philosophische Fakultät aufgenommen wurde und sich erst hundert Jahre später, inzwischen völlig obsolet geworden, in ihre bereits in sich spezialisierten Bestandteile auflöste.19 Aufgrund des weitgehend auf die Lehre verpflichteten, extrem verschulten Charakters der österreichischen Universitäten fand hier eine eigentliche Forschung jedoch kaum statt.20 Ihren Ort hatte diese zum Teil an den neugegründeten technischen Lehranstalten wie etwa dem »Joanneum« in Graz (1811), vor allem aber im Umkreis der kaiserlichen Naturalienkabinette in Wien, die später im »K.k. Naturhistorischen Hofmuseum« zusammengelegt wurden.21 Erst die reichlich verspätete Gründung der »Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien« im Jahr 1847 trug dem weit zurückreichenden Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung Rechnung.22 Dem naturkundlichen Unterricht im Rahmen der philosophischen Studien wurde in Österreich, und übrigens auch an einigen deutschen Universitäten, ein Werk zugrunde gelegt, dessen methodischer Ansatz für Stifter von größter Bedeutung werden sollte: Andreas Baumgartners erstmals 1823 erschienene und in der Folge laufend überarbeitete und neu aufgelegte Natur18
Vgl. Klauner: Der »Mathematische Turm« (Anm. 12), S. 10. Über Daten und Hintergründe unterrichtet detailliert Herbert H. Egglmaier: Naturgeschichte - Wissenschaft und Lehrfach. Ein Beitrag zur Geschichte des naturhistorischen Unterrichts in Österreich. Graz 1988, S.lOff., 223ff., 242ff. (Resümee). 20 Vgl. Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens (Anm. 9), S. 277ff., 280f. Preglau-Hämmerle: Politische und soziale Funktion (Anm. 9), S. 60, 95. 21 Vgl. Stefan Nebehay: Naturwissenschaft im vormärzlichen Wien: In: Bürgersinn und Aufbegehren. Biedermeier und Vormärz in Wien 1815-1848. Katalog Wien 1988, S. 452-454. Vgl. ferner Günther Hamann: Die Geschichte der Wiener naturhistorischen Sammlungen bis zum Ende der Monarchie. In: Naturhistorisches Museum. Geschichte - Gebäude. Wien 1976 (= Veröffentlichungen des Naturhistorischen Museums, NF 13), S. 4-76. Basisinformationen findet man in: Naturhistorisches Museum Wien. Ein Kurzführer. 2. Aufl. Wien 1991, S. 58-62. 22 Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens (Anm. 9), S.285f. - Zur schon von den Zeitgenossen beklagten Lage der Naturwissenschaften in Österreich vgl. Engelbert Broda: Warum war es in Österreich um die Naturwissenschaft so schlecht bestellt? In: E.B.: Wissenschaft - Verantwortung - Frieden. Ausgewählte Schriften. Hg. von Paul Broda u.a. Wien 1985, S. 162-183. 19
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lehre nach ihrem gegenwärtigen Zustande mit Rücksicht auf mathematische Begründung^3 Möglicherweise wurde in Kremsmünster daneben auch eine Bearbeitung von Johann Friedrich Blumenbachs Handbuch der Naturgeschichte (Göttingen 1779 u.ö.) herangezogen,24 und in diesem Fall läge ein systematisches Ergänzungsverhältnis beider Ansätze vor, grenzt doch Baumgartner die »Naturgeschichte, welche die Kenntniß der Naturdinge in ihrem ursprünglichen Zustande nach ihrer Aehnlichkeit« vermittle, von der »Naturlehre« als der zweiten »Naturwissenschaft« ab, »welche die Kenntniß der Naturerscheinungen in ihrem Causalnexus zum Gegenstande hat«.25 Bereits das ist signifikant. Das Werk Baumgartners (1793 bis 1865), der vor einer ökonomischen und einer politischen Karriere, die ihn bis ins Amt des Handels- und Finanzministers brachte, Professor für Physik an der Wiener Universität war (1823 bis 1833),26 ist von einem neuen empirischen Blick und einer weitgehenden Verabschiedung theologischer Prämissen und Implikationen geprägt. Es folgt - ebenso wie etwa der Positivismus Auguste Comtes - der »Grundregel der empiristischen Schulen, daß sich alle Erkenntnis an der sinnlichen Gewißheit der Intersubjektivität sichernden systematischen Beobachtung auszuweisen hat«.27 Anders als Comte vollzieht Baumgartner jedoch nicht die positivistische »Ablösung der Erkenntnistheorie durch Wissenschaftstheorie«, die sich der »Frage nach dem erkennenden Subjekt« entschlägt.28 In Anlehnung an Kant unterscheidet er durchaus die »reine Naturlehre«, die es mit den apriorischen Regeln der Erkenntnis zu tun hat, von der »Erfahrungsnaturlehre«, kassiert diese Unterscheidung dann freilich wieder - nicht unsymptomatisch - aufgrund der besonderen Erfordernisse des »Lehrvortrages« (4). Maßgebliche »Grundlage der Naturlehre« bleibt infolgedessen die »Erfahrung«. Sie geht aus vom Prinzip der »Beobachtung«, die durch das »Experiment« nicht nur kontrolliert, sondern auch gezielt gesteuert werden soll. Das Interesse der Wissenschaft gilt dabei aber nicht den Tatsa23
Ich zitiere die 7. Aufl. Wien 1842. Die Passage, auf die es hier ankommt, ist gegenüber den früheren Auflagen zwar im Wortlaut, nicht aber den Grundzügen der Argumentation verändert. 24 Enzinger: Studienjahre (Anm.6), S.70f. 25 S. 4. Ein Ergänzungsverhältnis besteht unausdrücklich auch in fachlicher Hinsicht, denn Naturgeschichte umfaßt die den drei Reichen entsprechenden Disziplinen, während unter »Naturlehre« weithin die Physik verstanden wurde. Vgl. Egglmaier: Naturgeschichte (Anm.19), S. 50. 26 Zu Baumgartner vgl. ADB Bd. 2 (1875), S. 164f. - Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950. Bd.l. Graz, Köln 1954, S. 58. 27 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1977, S. 96. - Zur historischen Genese dieses Wissenschaftskonzepts seit dem 17. Jahrhundert vgl. Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele: Erfahrung als Programm. Über Strukturen vorparadigmatischer Wissenschaft. In: Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele, Wolfgang Krohn (Hg.): Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt/M. 1977, S. 183-236. Hinweisen möchte ich auch auf die anderen in diesem Band versammelten Aufsätze. 28 Habermas, ebd. S.89f., vgl. 103.
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chen selbst, sondern zielt darauf, »die Gesetze auszumitteln, nach denen die Erscheinung sich richtet« und »die Ursache eines Phänomens nachzuweisen, oder wie die Naturforscher zu sagen pflegen, das Phänomen zu erklären«.29 Dies geschieht auf dem Wege induktiver Hypothesenbildung: Das Verfahren, wodurch wir die Gesetze der Erscheinungen in ihrem Hergange erkennen, gründet sich auf die Annahme, daß eine Regel, die sich in einer gewissen Anzahl willkürlich gewählter Fälle bestätigt, allgemeine Gültigkeit habe, mithin in der Einrichtung der Natur selbst bestehe. Man nennt dieses Verfahren die Induction,
die freilich keine »absolute oder mathematische Gewißheit«, sondern lediglich »Wahrscheinlichkeit« der Ergebnisse beanspruchen kann (4f.). Nach Maßgabe des Kausalitätsprinzips (6) sucht das induktive Verfahren alle »Erscheinungen in der Sinnenwelt auf gewisse oberste Gesetze« zurückzuführen, über welche sie nicht hinaus kann, aus denen aber sämmtliche Naturgesetze abgeleitet werden können, und die Erklärung eines Phänomens ist nichts anderes, als die Durchführung einer solchen Ableitung. Je geringer die Anzahl der Grundgesetze ist, aufweiche alle wahrnehmbaren Erscheinungen reducirt werden können, desto weiter ist man in dem Gebiete der Naturlehre vorgedrungen (8).
Gott taucht in diesem hypothetischen Kausalnexus nicht mehr auf. Lediglich der letzte Satz der methodischen Einleitung - ein Zugeständnis wohl weniger an erbauliche Bedürfnisse als an die faktischen Machtstrukturen - bemerkt, die Physik habe uns zu einem »Gott, der nicht endlich, sondern unendlich ist«, verhelfen (10). De facto ist die Naturlehre bei Baumgartner definitiv aus dem »etat theologique« und dem »etat metaphysique« heraus- und in den »etat positif ou reel« eingetreten.30 Das alles ist natürlich keineswegs neu, sondern lediglich typisch für den aktuellen Stand der Methodenreflexion des Empirismus, gerade darum aber relevant. Man darf vermuten, daß der säkulare, nichtmetaphysische Ansatz Baumgartners in Kremsmünster durch Versuche der Harmonisierung mit dem dortigen Naturbild entschärft wurde, in Baumgartners Lehrveranstaltungen an der Wiener Universität jedoch deutlicher zutage trat. Stifter wird den Konflikt beider Konzepte austragen. »Im Herbst 1826«, schreibt er in einem biographischen Abriß über sich selbst, »ging er nach Wien in die juridischen Studien. Neben diesen trieb er Mathematik und Naturwissenschaften, und fuhr fort, deutsche und
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Auch das ist natürlich ganz im Sinne Comtes. Vgl. den Discours sur Esprit Positif (Rede über den Geist des Positivismus) [1844]. Hg. von Iring Fetscher. 3. Aufl. Hamburg 1979, S. 33f.: »In den Gesetzen der Erscheinungen besteht in Wirklichkeit die Wissenschaft, der die eigentlichen Tatsachen, so exakt und zahlreich sie auch sein mögen, stets nur die unentbehrlichen Rohstoffe liefern.« 30 Comte, ebd., S.27f.: »Mit einem Wort, die grundlegende Revolution, die das Mannesalter unseres Geistes charakterisiert, besteht im wesentlichen darin, überall anstelle der unerreichbaren Bestimmung der eigentlichen Ursachen die einfache Erforschung von Gesetzen, d.h. der konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Phänomenen bestehen.«
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fremde Dichtung in sich aufzunehmen«,31 insbesondere diejenige Jean Pauls und der Romantik - auch das nicht ohne Folgen für sein Naturverständnis. Im Gegensatz zu Stifters Jurastudium, das mit einem Akt der Selbstsabotage endete, weiß man wenig über seine naturwissenschaftlichen Aktivitäten. Aprent berichtet lediglich, Stifter habe »unter Ettingshausen, Baumgartner und Littrow« studiert.32 Andreas von Ettingshausen (1796 bis 1878) war seit 1821 Professor für Mathematik, seit 1835 für Physik und arbeitete ab der 6. Auflage an Baumgartners Naturlehre mit.33 Joseph Johann Littrow (1781 bis 1840) wurde 1819 Professor für Astronomie und Direktor der Wiener Sternwarte. Selbst in seinem zwischen 1834 und 1837 erstmals erschienenen populären Werk Die Wunder des Himmels herrscht, dem Titel zum Trotz, ein gänzlich säkularer Blick auf diese. Die Kapitel über »Ursprung« und »Dauer des Weltsystems«, die man in theologischer Hinsicht für besonders einschlägig halten könnte, kommen gänzlich ohne metaphysische Spekulationen aus. Lediglich im letzten Satz gibt Gott ein eher ornamental bleibendes Gastspiel ohne jede konzeptuelle Relevanz.34 Baumgartner, dessen Naturlehre Stifter seiner bis weit in die 1840er Jahre sich erstreckenden Hauslehrertätigkeit zugrunde legte,35 scheint seinen Studenten auch persönlich gefördert zu haben. Dieser hatte es im Selbststudium der Naturwissenschaften immerhin so weit gebracht, daß er sich 1832 um eine Professur für Physik an der Universität in Prag bewerben konnte, wobei Baumgartner ihn unterstützte. Nach dem selbstverschuldeten Scheitern dieser Aussicht bemühte sich Stifter noch mehrfach um naturwissenschaftliche Lehrstellen: 1836 etwa wollte er »Assistent für Physik und Mathematik« in Wien werden (PRÄ 17,54), und 1837 meldet er einem Freund, »daß ich sehr fleißig — Forstbotanik studire, weil man sich sehr um mich annimmt, daß ich die Kanzel [an der Forstlehranstalt] in Maria=Brunn bekomme. Sie enthält Physik und Chemie und Forstbotanik als Soll« (ebd. 71). Der Bereich, in dem Stifter die Naturwissenschaften ausüben sollte, ist jedoch, wie man weiß, nicht Lehre und Forschung, sondern die Literatur.
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An Leo Tepe, 26.12. 1867, PRÄ 22, S. 176. Johann Aprent: Adalbert Stifter (Anm.3), S. 42. 33 Vgl. Österreichisches biographisches Lexikon (Anm.26), Bd. l (1954), S.271f. 34 »Nur Einer, den kein Name nennt, Einer nur wird bleiben, hoch über dem Ocean der Welten, der zu den Füßen seines Thrones rauscht, dessen Wogen immer wechselnd vor ihm auf und nieder ziehen, während Er allein unwandelbar und ewig ist.« Die Wunder des Himmels oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. 2. verbesserte Aufl. Stuttgart 1837, S. 648. Ähnliches gilt für die anderen Werke Littrows. Ich nenne lediglich: Theoretische und practische Astronomie., 3 Bde. Wien 1821-1827. - Populäre Astronomie. 2 Bde. Wien 1825. - Zu Joseph Johann von Littrow vgl. ADB19 (1884), S. If.; Österreichisches biographisches Lexikon (Anm.26), Bd.5 (1972), S.251f. 35 Das geht aus Exzerptheften von Stifter selbst wie von seinen Schülern hervor. Vgl. Enzinger: Studienjahre (Anm.6), S. 133f. Stifters Lehrtätigkeit in meist adeligen Häusern erstreckte sich von Mathematik, Physik, Naturgeschichte und Geographie über Geschichte und »Seelenlehre« bis zur Ästhetik (vgl. u.a. PRÄ 17,66). 32
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2. Es ist augenfällig, daß Stifter die Naturkonzepte, mit denen er im Laufe seiner frühen Lebensphasen in Berührung gekommen ist, in seinem literarischen Werk aufgreift und einer >Durcharbeitung< unterzieht. Anders - und weniger biographistisch - formuliert: Wissensparadigmen, die sich im Österreich der Restaurationszeit ablösen bzw. noch nebeneinander existieren, reflektieren sich in fiktionalisierter Form in der Literatur und werden im Zuge solcher Fiktionalisierung selbst noch einmal einer Diskussion ausgesetzt. Betrachtet man Stifters Werk gewissermaßen aus der Vogelperspektive, so lassen sich vier Naturkonzepte unterscheiden, die miteinander konkurrieren, teils widerlegt, teils bestätigt werden, sich mitunter aber auch überlagern: (1.) ein mythisches, (2.) ein romantisches, (3.) ein christlich-metaphysisches und (4.) ein säkular-empiristisches. Der Prozeß ihrer Bearbeitung, der bei Stifter einen fast schon systematischen Charakter trägt, läßt sich als eine fortschreitende Entzauberung begreifen, innerhalb derer tradierte Bedeutungskomplexe reduziert oder annulliert werden. Daß dieser Vorgang nicht allein im Gefolge der Frage nach dem adäquaten, nämlich >objektiven< Zugang zu Natur für die Inhaltsebene der Texte bestimmend ist, sondern auch als eine Art schleichender Desymbolisierung für Stifters Naturdarstellungen selbst, deutet bereits auf die poetologische Dimension des Naturthemas hin. Indem sie über Natur sprechen, denken Stifters Texte immer auch über dieses Sprechen selbst, also über sich nach. Mythische und romantische Natur Märchen und Sagen, vorzugsweise die des Böhmerwaldes, spielen in Stifters frühem und mittlerem Werk eine wichtige Rolle. Sie sind zumeist in den Erzählgang eingelegt, werden von alten Menschen erzählt, die noch einer anderen Epoche angehören, und repräsentieren die Stufe einer mythischen Weltauffassung.36 Ohne damit die vielfältigen poetischen Möglichkeiten der erzählten Märchen und Sagen vereindeutigen zu wollen, läßt sich festhalten, daß diese mancherorts in eine Stufen- und Abfolge von Naturkonzepten einrücken, die gegeneinander aufgeboten werden. In der Erzählung »Der Hochwald« etwa, die, erstmals 1841 und in überarbeiteter Form 1844 im zweiten Band der Studien erschienen, eine bedeutende Zäsur in Stifters Frühwerk darstellt, kolportiert der »alte Waldsohn« Gregor eine Reihe von Naturmärchen. Gregor allerdings, 36
Ich verwende den Begriff des Mythos hier in engerer Bedeutung als der in mancher Hinsicht wegweisende Aufsatz von Hans Joachim Piechotta: Ordnung als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos. In: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt/M. 1983, S. 83-110, hier v.a. S. 84. - Vgl. zum Thema Hanns-Peter Mederer: Sagenerzählungen und Sagenerzähler im Werk Adalbert Stifters. In: Vierteljahrsschrift des Adalbert Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 38 (1989), S. 77-116.
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der über eine tiefe Kenntnis der Natur verfügt, referiert selbst nur noch die Erzählungen seiner Großmutter (HKG 1.4,245f., 264ff.), deren naiven Glauben er hinter sich gelassen hat. Wenn er zunächst den Ursprungsmythos vom Zittern der Espe mitteilt, die aufgrund ihrer mangelnden Demut vor dem Schöpfer mit »ewiger Unruhe« gestraft worden sei, dann vergißt er nicht, im Anschluß daran das vorgeblich unentwegte Zittern einerseits aufgrund genauer Beobachtungen zu relativieren, andererseits nach dem Muster des >explained supernatural· aus der natürlichen Beschaffenheit von Stengeln und Blättern zu erklären (245f.). Gregor ist jedoch mehr als ein aufgeklärter Empiriker. Elemente des Mythos nämlich behalten in abstrahierter Form Gültigkeit für sein eigenes Naturbild. Die Sage von den mit »murmelnde[n] Stimmen« redenden Fischen im Plöckensteiner See zwar erzählt er als überwundenes Relikt seiner Kindheit mit dem klaren Impetus der Kritik an einem anthropozentrischen Weltbild, dessen Anschauungslosigkeit seinem projektiven Charakter entspricht: Da er »den Wald nach und nach kennen lernte«, habe er eingesehen, »wie wunderbar er sei, ohne daß die Menschen erst nöthig hätten, ihre Fabeln hinein zu weben« (267). In der Idee einer »Sprache der Wälder«, einer »Sprache der Wildniß« (245, 264) aber bleibt der Mythos aufgehoben. Fische können nicht im buchstäblichen Sinne reden, die Natur als Ganze aber teilt sich dem Menschen nicht allein als ein System von »Zeichen« (245) verstehbar mit, sie tut dies überdies sprachförmig, wird also in der Beziehung einer Analogie und Korrespondenz zum Menschen imaginiert, wie auch ihre Blicke belegen - einer der häufigsten Hinweise auf eine anthropomorphic Natur, die der Text bemüht. Unverkennbar lebt hier noch einmal die von der Romantik mit Rückgriff auf ältere Konzepte, etwa die Signaturenlehre des Paracelsus, vertretene Idee einer Natursprache auf.37 Gregor, so ließe sich folgern, ist der durch die Aufklärung hindurchgegangene Romantiker: Er verwirft den volkstümlichen Aberglauben in seiner Buchstäblichkeit, insistiert aber auf der Vorstellung einer »wunderbaren«, einer sprechenden und daher beseelten, einer subjektförmigen Natur. Doch diese Vorstellung trägt im Text selbst bereits märchenhafte Züge. Gregor ist nicht allein der Erzähler überlieferter Mythen, er ist selbst ein Dichter, der über die Natur redet, »als würde aus einem alten schönen Dichtungsbuche gelesen« (244), und seine Zuhörerinnen glauben macht, sie schwebten »inmitten eines Märchens« (259). Die romantisch verklärte Natur ist Poesie, sie ist das Produkt einer menschlichen Rede, die Natur nicht abbildet, sondern in einen Raum schöner Fiktionen verwandelt, deren Grund das Dichtungsvermögen par excellence ist: die »Fantasie« (244, 260). Wie Gregor mit dem Aberglauben, so verfährt der Text selbst mit Gregor, in dem sich derart das Verfahren des Erzäh17
Vgl. dazu Alexander von Bormann: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff. Tübingen 1968. - Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1983, S. 233ff. - Hartmut Böhme: Denn nichts ist ohne Zeichen. Die Sprache der Natur: Unwiederbringlich? In: H.B.: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988,5.38-66.
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lers reflektiert. »Der Hochwald« bildet auf diese Weise einen historischen wie einen poetologischen Prozeß ab, aus dem er zugleich als Text die Konsequenzen zu ziehen sucht. Die Erzählung nämlich stellt, wenngleich nicht überall widerspruchsfrei, Stifters eigenen Abschied von seinen noch ganz im Zeichen Jean Pauls und der Romantik stehenden literarischen Anfängen dar. Illusionsstrukturen werden aufgedeckt und widerlegt, die Außenwelt löst sich vom Subjekt und seinen projektiven Überformungen, und das leitet einen Prozeß der Versachlichung und Ernüchterung des Schreibens selbst ein, wie er für Stifter in zunehmendem Maße signifikant sein wird. Das romantische Konzept der Natursprache jedenfalls bleibt dabei auf der Strecke. Am Ende der Erzählung ist die Natur endgültig verstummt: »Westlich liegen und schweigen die unermeßlichen Wälder, lieblich wild wie ehedem« (318). Komplizierter verhält es sich mit einem anderen Element in Gregors Bild der Natur. Diese ist für ihn der harmonisch und sinnvoll angelegte Garten Gottes (243), der Raum einer metaphysischen Ordnung, deren »Anzeichen« gelesen werden können (ebd.): Naturbeobachtung als Gottesdienst. Der katastrophale Ausgang der Handlung jedoch stellt -jedenfalls für die Figuren - die Annahme einer göttlichen Vernunft in der Natur in Frage. Genau das tritt ein, was Gregor für unmöglich hält, »weil's zu unvernünftig wäre« (307). Bilder eines lachenden Himmels über den rauchenden Trümmern des menschlichen Lebens eröffnen die Option eines blinden, abwesenden oder gar zynischen Gottes. Im Gegensatz zur Wahrnehmung seiner Figuren hält sich der Text in dieser Frage bedeckt. Gänzlich offen bleibt, ob er sich dem nihilistischen Verdacht anschließt oder und für beides gibt es Hinweise - ob er an einer gesetzhaften Ordnung der Natur festhält, einer >neutralen< Ordnung allerdings, die nicht mehr um den Menschen zentriert ist, ihm vielmehr gleichgültig gegenübersteht und keinen faßbaren >Sinn< des Geschehens preisgibt. Einen Schöpfergott schließt diese Vorstellung weder zwingend ein noch aus. Die Frage nach Existenz und Status einer Ordnung der Natur wird Stifter für lange Zeit nicht nur umtreiben, sondern auch seine Texte strukturieren. Das Ende der Epiphanie Auf einer expliziten und intentionalen, wenn man will: >ideologischen< Ebene hält Stifter zeitlebens an der Vorstellung von Natur als sinnvoll geordneter göttlicher Schöpfung fest. Natur, so liest man dann zum Beispiel in Briefen und Aufsätzen, sei »die sichtliche Offenbarung Gottes«, in ihr drücke sich »Gottes Herrlichkeit« aus und das »Walten des Göttlichen«.38 Sowohl die wissenschaftliche 38
In der Reihenfolge der Zitate: PRÄ 22,108,169; PRÄ 16,382. - Mit Stifters Gottesbegriff hat sich eine einschlägig >interessierte< Forschung ausgiebig beschäftigt. Von den sachlichen und differenzierten Arbeiten seien hier nur genannt: Moriz Enzinger: Studienjahre (Anm.6), S. 156ff. - Domandl: Wiederholte Spiegelungen (Anm.8), S.91ff.
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und ästhetische Naturbetrachtung wie die mimetisch verstandene Kunst werden unter dieser Prämisse auf das göttliche Signifikat der sinnfälligen Natur ausgerichtet. Die Schwierigkeiten liegen auf der Hand: Nicht nur gesamtkulturell, auch für Stifter selbst haben die metaphysisch fundierten Ordnungsbehauptungen faktisch ihre Überzeugungskraft verloren und sind unter einen erheblichen Bestätigungsdruck geraten. Die schlichte Selbstverständlichkeit eines Glaubens an sie ist verschwunden, ohne daß deswegen schon auf sie verzichtet werden sollte und könnte. Einbrüche in den Beständen der christlichen Metaphysik begegnen bei Stifter auf Schritt und Tritt - bezeichnenderweise in seinen literarischen Werken, hier ist mit Blick auf die eher >offiziösen< Verlautbarungen eine klare Rollenverteilung zu beobachten. Besonders deutlich zeigt sich das ausgerechnet dort, wo Natur noch einmal als unmittelbarer Schau-Platz göttlicher Präsenz, wo ein Naturgeschehen als Epiphanie begriffen werden soll. Das ist in Stifters Text über Die Sonnenfinsterniß am 8. Juli 1842 der Fall, der in Ansätzen zugleich Reichweite und Grenzen naturwissenschaftlicher Empirie diskutiert. Diese hat eine beträchtliche Rekonstruktionsarbeit geleistet. Die Naturphänomene bilden eine »Schrift«, die der Mensch durch Beobachtung, Berechnung und Induktion zu »entziffern gelernt« hat, das heißt die er auf die zugrunde liegenden Naturgesetze mit einer solchen Genauigkeit durchblickt, daß er Ereignisse wie die Sonnenfinsternis auf »die Secunde« voraussagen kann (PRÄ 15,6). Was dem empiristischen Ansatz aber entgeht (und was ihn natürlich auch gar nicht genuin interessiert), ist die letzte und eigentliche Bedeutung der Naturerscheinungen. Die Kette notwendiger Decodierungen der Naturschrift wird normalerweise vorschnell, vor dem Erreichen des letzten Signifikats abgebrochen. Obgleich doch alle Naturgesetze Wunder und Geschöpfe Gottes sind, merken wir sein Dasein in ihnen weniger, als wenn einmal eine plötzliche Aenderung, gleichsam eine Störung derselben geschieht, wo wir ihn dann plötzlich und mit Erschrecken dastehen sehen [...] Sind diese Gesetze sein glänzendes Kleid, das ihn deckt, und muß er es lüften, daß wir ihn selber schauen? (15)
An dieser Passage ist mehreres eigentümlich. Sie gibt, so scheint es, dem Empirismus nicht die alleinige Schuld an seinem metaphysischen Defizit, sondern begründet dieses selbst aus einer objektiven Gegebenheit. Es ist gerade der Schriftcharakter der Natur, der ihre tiefere Bedeutung verdecken, im Status semiotischer Absenz belassen kann. Will Gott sich also dem Menschen zeigen, so kann dies nur in unvermittelter, in epiphanischer Form geschehen. In diesem Sinne resümieren die zitierten Sätze die vorangegangene Beschreibung der Sonnenfinsternis - mit Unrecht, wie schon der flüchtigste Blick zeigt. Denn mitnichten erlaubt das Naturphänomen, Gott »selber« zu schauen. Die Sonnenfinsternis erscheint zunächst, und überdies in charakteristischer Brechung, »als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen, und ich hätte es verstanden« (6). Dieses Wort aber spricht Gott nicht im eigentlichen Sinne und schon gar nicht in einem performatori-
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sehen Sprechakt, sondern er gibt es dem Phänomen derart mit, daß wir es in uns selbst vernehmen: das Wort gab er ihm mit: »Ich bin« — »nicht darum bin ich, weil diese Körper sind und diese Erscheinung, nein, sondern darum, weil es euch in diesem Momente euer Herz schauernd sagt« (7).
Nimmt man noch hinzu, daß auf dem Höhepunkt der Eklipse, wo Stifter noch einmal Gott reden zu hören behauptet, »Todtenstille« herrscht (11), so wird erneut deutlich, daß Gottes Rede nur metaphorischen Status hat: Das »Wort« erweist sich als das sichtbare Ereignis selbst - als »Schrift« mithin. Gegen die ausdrückliche Intention des Autors wird der epiphanische Anspruch vom Text in immer neuen Vermittlungsschritten zurückgenommen und durchgestrichen. Die behauptete Schau Gottes verschiebt sich über Wort zu Schrift klammheimlich in seine tatsächliche Absenz für die Wahrnehmung. Gott ist der Erfahrung nicht als er »selber« präsent, sondern nur im Modus der Re-Präsentation. Nur durch die Schrift wissen wir etwas von ihm. Wenn die empirische Naturforschung das göttliche Signifikat der Natur aus dem Auge verliert und wenn zudem das Konzept der Epiphanie zusammengebrochen scheint, dann stellt sich die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes und seiner Ordnung in der Natur. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, daß Stifter schon hier über die besondere Rolle der Kunst dabei nachzudenken beginnt. Nach einer Klage über die Unzulänglichkeit der Sprache seiner Beschreibung, in der sich die grundsätzliche Defizienz des Zeichens wiederholt (15), stellt Stifter Überlegungen zu einer neuen Form der Kunst an, die bemerkenswert sind, weil sie jedes realistische Konzept weit hinter sich lassen. Könnte man nicht auch durch Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolge von Lichtern und Farben eben so gut eine Musik für das Auge wie durch Töne für das Ohr ersinnen? Bisher waren Licht und Farbe nicht selbstständig verwendet, sondern nur an Zeichnung haftend [...] Sollte nicht durch ein Ganzes von Lichtaccorden und Melodien eben so ein Gewaltiges, Erschütterndes angeregt werden können, wie durch Töne? (16)
Man darf vielleicht folgern, daß, was die Natur verweigert, die Kunst zu leisten habe. Jenes Göttliche, das in der Schrift der Natur und der Sprache ihrer Beschreibung nur unzulänglich repräsentiert ist, scheint hier in einer frühen Antizipation als das Produkt der Kunst imaginiert zu werden. Metaphysik und Empirie Aber noch ist es nicht soweit. Vorerst gibt es Anzeichen, daß Stifter trotz seiner Skepsis gegen die metaphysische Reichweite der Naturforschung noch eine Weile an der Vorstellung einer Empirie »ad gloriam altissimi« festhält, die in der Tradition Kremsmünsters steht - notgedrungen, denn die »Schrift« der Natur ist die einzige Basis des menschlichen Wissens. Ihre Lektüre versteht sich, so ist zu vermuten, als Versuch einer empirischen Auffüllung und Bestätigung religiöser Ordnungsmodelle, die früher durch eine autoritativ abgesicherte Überlieferung
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oder allenfalls durch individuelle Erfahrungsformen nach dem Muster der Epiphanie verbürgt waren, jetzt aber brüchig geworden sind. Die Wissenschaft soll in die Bresche springen, die sie zum Teil selbst geschlagen hat. An der empiristischen Konzeption der Naturwissenschaften übt Stifter keinerlei prinzipielle Kritik. In der vielzitierten Vorrede zu den Bunten Steinen von 1853 hebt er hervor, wie »begeisterungerwekend« die Arbeit eines Magnetismusforschers sei, den er als Beispiel für eine Wissenschaft wählt, die »nur Beobachtung nach Beobachtung macht«, alsdann aus dem »Einzelnen das Allgemeine zusammen trägt« und dergestalt die gesetzliche Ordnung der Natur erkennt, die Stifter hier im grundlegenden »sanften Gesez« verankert sieht (HKG2.2, lOff.). Die nicht minder berühmte Vorrede zur 1842 erstmals erschienenen Erzählung »Abdias« ist in diesem Punkt noch deutlicher: Sie leitet die Empirie nicht allein bis auf ein »oberstes oder Fundamental=Naturgesetz« im Sinne Baumgartners (6), sondern prospektiv bis auf Gott selbst zurück. Wie »Der Hochwald« demontiert »Abdias« zunächst ältere Weltmodelle und Sinnofferten. Abgewehrt wird die antike Idee eines »Fatums«, das als »letzte Unvernunft des Seins«, als »furchtbar letzter starrer Grund des Geschehenden, [...] jenseits dessen auch nichts mehr ist«, die unbegreiflichen Glücks- und Unglücksfälle der Menschen verantworten soll. Abgewehrt wird aber auch ein christliches »Schicksal, also ein von einer höhern Macht Gesendetes«, dem die Idee eines theistischen Gottes zugrunde liegt (HKG 1.5, 237f.). Stifter plädiert demgegenüber für eine strikt kausale Reduktion der Fakten, die weniger determiniert zu sein, als in der menschlichen Autonomie zu wurzeln scheinen: eine heitre Blumenkette hängt durch die Unendlichkeit des Alls und sendet ihren Schimmer in die Herzen - die Kette der Ursachen und Wirkungen - und in das Haupt des Menschen ward die schönste dieser Blumen geworfen, die Vernunft, das Auge der Seele, die Kette daran anzuknüpfen, und an ihr Blume um Blume, Glied um Glied hinab zu zählen bis zuletzt zu jener Hand, in der das Ende ruht. Und haben wir dereinstens recht gezählt, und können wir die Zählung überschauen: dann wird für uns kein Zufall mehr erscheinen, sondern Folgen, kein Unglück mehr, sondern nur Verschulden; denn die Lücken, die jetzt sind, erzeugen das Unerwartete (238).
Obwohl es hier nicht im strengen Sinne um Naturwissenschaft geht, verallgemeinert Stifter in dieser Konstruktion doch ein naturwissenschaftliches Prinzip zur Weltdeutungsformel, ein Prinzip, das sich längst durchgesetzt hat, in Baumgartners Naturlehre jedoch zu Sätzen geronnen ist, deren große Nähe zur »Abdias«-Vorrede auffällt: Wenn wir den Ursachen der Erscheinungen nachspüren, finden wir in vielen Fällen das Auftreten einer Erscheinung durch das Vorhandenseyn einer anderen bedingt, die selbst wieder ihren Grund in dem Daseyn einer sinnlich wahrnehmbaren Ursache hat. Auf diese Weise stellt sich uns, indem wir von einem bestimmten Phänomen ausgehend, stets für das, was wir als Wirkung irgend eines sinnlichen Grundes anzunehmen genöthiget sind, die Angabe desselben fordern, eine Reihe von Phänomenen dar, die gliedweise untereinander in der Beziehung von Wirkung und Ursache stehen. Eine solche Reihe kann aber in Richtung des Aufsteigens von Wirkung zur Ursache auf dem Felde der sinnlichen Wahrnehmung offenbar
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nicht in das Unendliche fortgehen, sondern wird durch ein Phänomen geschlossen, dem keine durch die Sinne erkennbare Ursache entspricht (6).
Läßt Baumgartner die Kette in einer nicht weiter rückführbaren »Kraft« als einem jener bereits zitierten »obersten oder Fundamental=Naturgesetz[e]« enden, so geht es Stifter um mehr. Er will nicht lediglich die Falschheit von Schicksalskonzepten aufzeigen, indem er das Moment des menschlichen »Verschuldens« ursächlich ins Spiel bringt, er möchte die schuldhafte Verflechtung menschlicher Praxis überdies bis in die Hand Gottes zurückverfolgen, der dem Menschen seine Autonomie gegeben hat. Auf diese Weise wäre eine stichhaltige Erklärung des bislang Unerklärlichen gefunden, das ja gerade durch den Anschein irritiert, »als kehrten sich in einem gegebenen Falle die Naturgesetze um« (HKG1.5, 237). Das aber kann und soll nicht sein. Es soll vielmehr der Welt ein naturgesetzlich bestimmter und empirisch rekonstruierbarer Zusammenhang bescheinigt werden, dessen Ursprung in Gott liegt. Zu diesem Zweck orientiert sich Stifter an dem für die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts maßgeblichen Modell der Kette, allerdings in seiner temporalisierten, also genetisch gewendeten Ausprägung.39 Stifters Ordnungsvorstellung ist hier offenbar keine statische, sondern eine in gewisser Hinsicht >historischeSinn< kann ihm unter diesen Prämissen gar nicht abgewonnen werden. Aber selbst diese Schwundstufe eines gesetzhaften Zusammenhangs der Welt ist nichts als ein Postulat. Wohl zählt nun das menschliche Geschlecht schon aus einem Jahrtausende in das andere, aber von der großen Kette der Blumen sind nur erst einzelne Blätter aufgedeckt, noch fließt das Geschehen wie ein heiliges Räthsel an uns vorbei [...] und was noch erst die Woge aller Zukunft birgt, davon können wir wohl kaum das Tausendstel des Tausendstels ahnen (238f.).
Bei aller ein wenig mühsam anmutenden Beschönigung, mit der Stifter diesen eher deprimierenden Befund behandelt, ist soviel klar: Die naturwissenschaftliche oder naturwissenschaftlich inspirierte Empirie ist nicht nur ein gutes Stück von ihrem Ziel entfernt, vielmehr ist dieses gewissermaßen durch einen absoluten Aufschub charakterisiert, wie die Rede von der »Unendlichkeit« der Kette zeigt, die erst in der Studien-Fassung der Erzählung verschärfend hinzukommt. Es ist mithin gar nicht denkbar, daß wir »dereinstens recht gezählt« haben werden, der Fluchtpunkt der gesamten Argumentation bleibt notwendig unbeweisbar. So kapituliert die Empirie schon innerhalb des Programms, in dem sie zur Stützung einer metaphysischen Ordnungsidee eingesetzt werden soll. Das in diesem Programm gleich mitformulierte Scheitern aber eröffnet hinlänglich Raum für den Zweifel, ob das »Räthsel« des Weltgeschehens wirklich ein »heiliges« sei, oder ob wir es nicht am Ende doch der »letzten Unvernunft des Seins« zu verdanken haben, wie schon der alte Gregor argwöhnte. Die nachfolgende Erzählung vom hiobgleichen Juden Abdias belegt denn auch eher, daß »das Geschehen wie ein heiliges Räthsel an uns vorbei« fließt, als daß sie uns einen plausiblen Rahmen seiner Sinndeutung geben würde. Kultur und Natur Daß diese Konstellation keineswegs einen Einzelfall in Stifters Werk darstellt, mag ein Blick auf eine Passage aus der 1850 publizierten Studien-Fassung der Erzählung »Zwei Schwestern« zeigen. Gegenüber dem Ich-Erzähler entwickelt der junge Landwirt Alfred Mussar eine Naturkonzeption, die in einschlägigen Kommentaren gern und mit Recht auf das 2. Buch von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit bezogen wird,41 die Stifter jedoch schon aus seinem ersten naturkundlichen Lehrbuch, Raffs Naturgeschichte für Kinder, bekannt war und genaueste Übereinstimmung mit dem >Kremsmünsterschen Modell< aufweist: die Lehre von den verschiedenen Reichen der Natur. Obgleich sie ein verbreitetes Gliederungsprinzip der Naturgeschichte, beispiels"' Vgl. den Silben-Kommentar von Ulrich Dittmann zu S. 356,10 von HKG 1.6 (HKG 1.9).
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weise in Linnes Systema naturae, darstellte, weichte sie sozusagen an ihren Rändern bereits im 18. Jahrhundert durch die nicht weniger verbreitete Vorstellung der »great chain of being« und die Idee einer strikten Kontinuität der Natur auf;42 im 19. Jahrhundert verlor sie durch die Spezialisierung der Einzelwissenschaften weithin ihre Relevanz. Ist die Lehre von den Reichen also zu Stifters Zeit bereits einigermaßen antiquiert, so belegt sie doch den Versuch, in einer Ära immer radikaler werdender empiristischer Zersplitterung des Naturbildes zugleich noch den Blick auf das »Ganze« der Natur zu bewahren. »Es ist sonderbar, wie die Abstufung der Dinge, unter denen wir leben, auf den Menschen wirkt. Wie fremd sind uns die Minerale, wie hart seltsam abentheuerlich sind uns ihre Farben [...] wie unbekannt ist uns ihr Entstehen in dem dunkeln Schöße der Erde, wo sie in einander verwachsen und wunderlich gebildet ruhen und lauschen. Wie näher sind uns schon die Pflanzen, sie sind unsere Gesellschaft über der Erde, der sie wohl noch mit der Wurzel angehören, von der sie aber doch mit ihrem edleren Theile, mit der Krone und mit der Blüthe, wegstreben; ihre Nahrung und ihr Wachsen ist wie das unsrige, sie nehmen die irdischen Stoffe in ihre feinen Organe und verwandeln sie in ihr Wesen, und wenn wir gleichwohl nicht begreifen, wie das geschieht, so ist es für unsere Liebe schon genug, daß sie uns hierin verwandt sind [...] Noch näher sind uns die Thiere [...] Sie sind die Spiegelbilder von uns, die abgeblaßten. Sie zeigen uns unsere Affekte, unser Leiden, unsere Freuden, die Hingabe an innere Triebe, die verstümmelte Natursprache und ein dumpfes Dämmern von Vernunft und höherer Ahnung. Daher lieben wir sie schon zuweilen, weil sie uns wie die Knospe von uns selbst erscheinen, weil sie uns in ihrer Hülflosigkeit wie zurükgesetzte Menschen vorkommen, die nur nicht genug an Geist und Kraft erhalten haben, um sich empor zu schwingen und eine stättige Vervollkommnung einzuleiten. Das Nächste aber ist für den Menschen doch immer wieder der Mensch [...] Freilich ist die Natur im Ganzen, wozu indeß der Mensch als Glied gehört, das Höchste. Sie ist das Kleid Gottes, den wir anders als in ihr nicht zu sehen vermögen, sie ist die Sprache, wodurch er einzig zu uns spricht, sie ist der Ausdruk der Majestät und der Ordnung: aber sie geht in ihren großen eigenen Gesezen fort, die uns in tiefen Fernen liegen, sie nimmt keine Rüksicht, sie steigt nicht zu uns herab, um unsere Schwächen zu theilen, und wir können nur stehen und bewundern« (HKG 1.6,356f.).
Es gehört nicht viel dazu, in dieser Schilderung tiefe Ambivalenzen zu entdekken. Die Natur erscheint als ein nach »eigenen Gesezen« organisierter, klar gegliederter und hierarchisch gestufter ordo, dessen Aufbau nicht allein den Graden der Verwandtschaft zum Menschen folgt, sondern zugleich als eine Linie zum Edleren, Höheren und Vollkommeneren verstanden wird. Das Prinzip der »stättigen Vervollkommnung« scheint dabei aber nicht nur in der hierarchisierten Abfolge der Naturreiche zu walten, sondern auch innerhalb dieser selbst, bei der Pflanze bereits, die mit »ihrem edleren Theile« von der Erde wegstrebt, vor allem aber beim Menschen. Auf diese Weise gelangt eine gewisse Dynamik, vielleicht sogar ein Entwicklungsmoment in die statische »Ordnung« der Natur42
Vgl. Lovejoy: Kette der Wesen (Anm. 39), S. 238,274ff., 278ff. u.ö. Zur Diskussion um Kontinuität und Differenz zwischen den Naturreichen vgl. auch Fran?ois Delaporte: Das zweite Naturreich. Über die Fragen des Vegetabilischen im 18. Jahrhundert. Frankfurt, Berlin, Wien 1983, S. lOff., 63ff., 76f. - Der in diesem Zusammenhang einschlägige Topos, daß die Natur keine Sprünge macht, spielt im Nachsommer, vordergründig betrachtet, eine beiläufige (vgl. PRÄ 6, 322), konzeptuell aber nicht unerhebliche Rolle.
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reiche.43 Diese erscheint schließlich als Ausdruck und Sprache Gottes, als ein Zeichensystem also, das den einzigen Zugang zu seinem Urheber darstellt. Damit aber beginnen auch schon wieder die Schwierigkeiten. Denn die Sprache Gottes bleibt trotz aller frommen Postulate letztlich unverständlich. Vielleicht darf man wiederum vermuten, daß dies gerade an ihrem Sprachcharakter liegt, das heißt an der Tatsache, daß Gott sich und seine Absichten eben nicht unmittelbar offenbart, sondern nur im Medium der Dinge und Zusammenhänge, die er geschaffen hat. Diese zu rekonstruieren, wäre wohl Aufgabe der empirischen Naturforschung, doch scheint Mussar ihr nicht gerade optimistisch gegenüberzustehen, wie bereits die zahlreichen Hinweise auf das belegen, was uns in der Natur »unbekannt« ist und was wir »nicht begreifen«. Die Empirie, die es mit der Physis zu tun hat, ist nicht nur weit entfernt, deren immanente Organisation zu begreifen, sie kommt auch an ihrem >meta-physischen< Ziel (Naturganzes, Gott) nicht an und kann das auch gar nicht, reißt damit aber das gesamte Konzept in einen tiefen Zweifel. Dahinter steht ein grundlegendes, aus der semiotischen Interpretation der Empirie resultierendes Problem. Das »Kleid« aus Zeichen nämlich, in dem wir Gott einzig sehen können, scheint ihn und die Organisation seines Kosmos aufgrund der zwangsläufigen Absenz des Signifikats zugleich zu verdecken. Wenn die »Geseze« der Natur als »Ausdruk der Majestät und der Ordnung« aufgefaßt werden sollen, de facto aber für »uns in tiefen Fernen liegen«, dann steht nicht nur die Erkennbarkeit solcher Gesetzmäßigkeit und Ordnung dahin, es muß überdies der Ausdrucks- und Sprachcharakter der Natur selbst - als eine bloße Supposition nämlich - fraglich werden. Das wird im Text so nicht gesagt, geht aber aus den Strukturen seiner Argumentation hervor. Man tut gut daran, sich zu erinnern, daß Mussars Explikation die Antwort auf eine Frage darstellt - die Frage, »ob es ihn denn nicht sehr freue«, das »Gedeihen und Emporblühen« all seiner agrarischen Anlagen zu betrachten (356). Diese basieren wie bei vielen Landwirten Stifters auf naturwissenschaftlichen Kenntnissen, die aus »Büchern« erworben werden (328f., 344, 371), und reflektieren damit die neue Funktion der Wissenschaft, technische Verfügung über Naturprozesse zu ermöglichen. Ob das Mussar freut oder nicht, bleibt dem Leser verborgen, denn es handelt sich eher um die Verweigerung einer Antwort. Daraus könnte Skepsis gegenüber dem eigenen Tun sprechen. Bereits kurz vorher ist anläßlich der Betrachtung einer Ährensammlung, die Mussar angelegt hat, vom Landbau und der kulturellen Umgestaltung der Natur die Rede. Die Ähren, so sagt der Landwirt, »werden einmal den bunten Schmelz und die Kräutermischung der Hügel verdrängen, und in ihrer großen Einfachheit weit dahin stehen. Ich weiß nicht, wie es dann sein wird. Aber
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Eine Verwischung der Grenze der Reiche liegt hier auch in der Feststellung von Analogien, zum Beispiel zwischen Mensch und Pflanze im Bereich der Nahrung. In der Tat wurde dieser Aspekt im 18. Jahrhundert ausführlich diskutiert. Vgl. dazu Delaporte: Das zweite Naturreich (Anm.42), S.63ff., 75ff.
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das weiß ich, daß es eine Veränderung der Erde und des menschlichen Geschlechtes ist, wenn zuerst die Cedern vom Libanon, aus denen man Tempel baute, dann die Ahorne Griechenlands, die die klingenden Bogen gaben, dann die Wälder und Eichen Italiens und Europa's verschwanden, und endlich der unermeßliche Schmuk und Wuchs, der jezt noch an dem Amazonenstrome steht, folgen und verschwinden wird. Es gibt unendliche Wandlungen auf der Welt, alle werden sie nöthig sein, und alle werden sie, eine auf die andere, folgen« (353).
Aus Wiesen werden Felder, aus Bäumen Tempel und Bogen, aus Natur wird Kultur, und das kostet seinen Preis. Daß die radikale »Veränderung der Erde«, ja das »Verschwinden« der Natur, die doch eine bewunderungswürdige Ordnung sein soll, gleichwohl nötig, wenigstens berechtigt ist, könnte mit dem kurz darauf entwickelten Prinzip der »stättigen Vervollkommnung« begründet werden (357). In der Natur scheint das dynamische Prinzip ihrer Selbstvervollkommnung zu liegen: Alles entwickelt sich - aufgrund ihres vorausgesetzten Ordnungscharakters aber nur zum Besseren. Mit diesem Gedanken läßt sich die leere Legitimation der kulturellen Veränderung der Natur auffüllen: Was der Mensch als »Glied« der Natur an dieser tut, ist in ihrem Plan schon einbegriffen. Der skeptische, fast wehmütige Ton freilich opponiert solch forschen Konstruktionen, deren epistemologische Brüchigkeit ja zugleich mitformuliert wird. In ihm verrät sich ein untergründiger Zweifel an den zerstörerischen menschlichen Eingriffen in die göttliche Ordnung der Schöpfung, der sich bis in die Metaphorik fortsetzt. Die vielerlei Getreide sind das »unbezwinglichste Heer der Welt, die sie unvermerkbar und unbestreitbar erobern«, wobei sie die ursprüngliche Natur »verdrängen«. Mussars Ausstellung aller landwirtschaftlichen Geräte ist dementsprechend »gleichsam ein friedlicher Waffensaal der Erde« (353). Wo es aufgrund der Ferne und schweren Verständlichkeit der latenten »Ordnung« der Natur fraglich werden muß, ob alles kulturelle Tun auch wirklich in dieser Ordnung seinen Platz hat, taucht der Verdacht auf, die Arbeit an der Natur könne bloße Gewalt sein. Dieselbe Ferne und Fremdheit der Natur aber gibt zugleich dem Gedanken Raum, dieser unerklärte Krieg sei »nöthig«, nimmt doch die Natur ihrerseits »keine Rüksicht« auf den Menschen, ist also bedrohlich und scheint daher bei aller behaupteten Majestät und Ordnung ihrer »stättigen Vervollkommnung« bitter zu bedürfen. Stifter betreibt eine Art doppelter Buch-Führung. Sinnbehauptungen, die empirisch uneinholbar sind, werden aufgestellt und mit demselben Federzug durchkreuzt. Eine göttliche Ordnung der Natur wird unterstellt und zugleich heimlich bezweifelt, und diese Interferenz verschiedener Positionen überträgt sich in der Folge zwangsläufig auf weitere Bereiche, besonders den des praktischen Umgangs mit der Natur. Ob die Kultur selbst zur Ordnung der Natur gehört, ob sie Gewalt gegen diese darstellt, ob solche Gewalt bloße Zerstörung oder ob sie legitime Selbstbehauptung des Menschen ist, bleibt ebenso unerkennbar wie Ordnung, Plan und Sinn der Natur überhaupt. Stifter aber schreibt alles auf.
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Die Wiederkehr des Mythos Die bisherigen Überlegungen zeigen, daß und warum die Natur bei Stifter nahezu zwangsläufig ambivalent werden muß. Um es in der Terminologie Auguste Comtes zu sagen: Stifters Wissenschaftsverständnis ist zweifellos in vieler, ja in maßgeblicher Hinsicht ins »positive oder reale Stadium« eingetreten, ohne sich doch zugleich von den Erkenntnisansprüchen des »theologischen oder fiktiven« und des »metaphysischen oder abstrakten« verabschieden zu wollen. Comtes reinliche Trennung der Stadien will hier nicht so recht gelingen. Bejaht der programmatische Positivist die »relative Natur des positiven Geistes«, der die metaphysischen Fragen nach Ursprung, Wesen und Bestimmung des Gegebenen als müßige Spekulation abweist, so wird ebendies für Stifter zum Problem. Die »notwendige Unvollkommenheit«, weil Unabgeschlossenheit und Relativität unserer Erkenntnis, die zum Absoluten weder vordringen will noch kann, aber auch die »wirklichen Existenzen« nur unvollständig zu erfassen vermag,44 wird zum Anstoß einer unterschwelligen, aber prinzipiellen Skepsis, die sich einerseits gegen die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, andererseits gegen den behaupteten Ordnungscharakter der Natur richtet. Auf der Rückseite uneinlösbarer Ordnungsbemühungen kann der Verdacht einer radikal fremden und katastrophischen Natur in die Texte einströmen. Begegnungen mit zerstörerischen Naturphänomenen spielen in Stifters frühem und mittlerem Werk eine wichtige Rolle und unterliegen der Anstrengung, gerade an ihnen als den Extrempunkten der Naturerfahrung die Idee einer Ordnung zu erproben. In der 1853 in den Bunten Steinen publizierten Erzählung »Kazensilber« beispielsweise wird ein verheerender Hagel, der nahezu die gesamte Vegetation vernichtet, noch einmal ganz im Sinne des Theodizee-Gedankens gedeutet:45 Schon im nächsten Frühjahr ist es, »als ob nie ein Schaden angerichtet worden wäre«. Im Gegenteil: »An den verstümmelten Bäumen wuchsen zahlreiche kleine Zweige hervor, die so schön waren, und so lebhaft wuchsen, als wäre das Abschlagen der Zweige kein Unglük gewesen, sondern als hätte ein weiser Gärtner dieselben beschnitten, daß sie nur desto besser empor trieben« (HKG 2.2,286, vgl. 289). Ereignisse wie dieses erfüllen eine doppelte Funktion im Text: Sie beschwören einerseits noch in der vermeintlichen Katastrophe einen nicht nur naturimmanenten Zweck, sondern geradezu einen metaphysischen Sinn, und sie verraten andererseits, wogegen die Arbeit an der Natur aufgeboten wird, die das Leben der Protagonisten ebenso wie das Bild der dargestellten Landschaft vollständig bestimmt. Die Natur ist in ihrer vorfindlichen Form bedrohlich und in irgendeiner Weise defizient, jedenfalls der Bearbeitung 44 45
Comte: Rede über den Geist des Positivismus (Anm.29), S.29ff. Mit der Philosophie von Leibniz ist Stifter bereits in Kremsmünster in Berührung gekommen, insbesondere über Joseph Calasanz Likawetz' Elementa philosophiae, in denen die Theodizee allerdings kritisch betrachtet wird (III, § 105ff.). Vgl. dazu Enzinger: Studienjahre (Anm.6), S.63f.
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und Vervollkommnung bedürftig, sie ist aber zugleich als ein sinnvoll organisierter Zusammenhang eine normative Größe. Wenn das der Fall ist, dann muß sich die aus menschlicher Sicht notwendige Kulturationsarbeit, um legitim zu sein, selbst in die Ordnung der Natur integrieren, sich also naturalisieren. Genau das ist es, was »Kazensilber« - in der Konsequenz wohl der an »Zwei Schwestern« sichtbar gewordenen Probleme - in nachgerade exzessiver Weise demonstriert. Das Leben der erzählten Figuren scheint ganz und gar in die Abläufe, Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten der Natur eingebettet und derart völlig naturförmig zu sein. Noch die Sprache des Textes vollzieht mit ihrem anaphorischen Satzbau, ihren monotonen Wiederholungen und der Wiedergabe der immer gleichen Vorgänge aufs genaueste das nach, was, ungeachtet des eruptiven Hagelwetters, als primäre Eigenschaft der Natur gelten soll: Kontinuität, Stetigkeit, Wiederkehr des Gleichen.46 Mit solchen Formen der Mimikry arbeitet der Text nicht anders als seine Figuren am Projekt einer Harmonie von Kultur und Natur. In völlig analoger Weise präsentiert sich der Vorgang, in dem der Mensch als »Glied« der Natur zu einem sozialen und kulturellen Wesen wird. »Katzensilber« erzählt, wie ein »braunes Mädchen«, ein Naturkind, das aus den Wäldern kommt und aufs innigste mit den Elementen vertraut ist, von der Familie eines Gutsherrn angenommen und erzogen wird. Dieser Akt der Enkulturation vollzieht sich als Bewegung einer kontinuierlichen Annäherung, die sich aus zahllosen minimalistischen, immer sich wiederholenden Schritten zusammensetzt - ein >Hineinwachsen< ins Haus, den Raum der Kultur und der Gesellschaft. Doch die Utopie einer Versöhnung der Kultur mit der Natur scheitert auf eine ebenso unspektakuläre wie folgenreiche Weise. Sie basiert auf der Erkennbarkeit der Naturordnung, setzt sie doch voraus, daß man weiß, wie die kulturelle Praxis >natürlich< zu sein habe. Am Ende der Erzählung aber kehrt das Naturkind, dessen Erziehung vordergründig gelungen schien, zurück, woher es gekommen war. Dieser unerklärte und unerklärliche Vorgang wird lediglich mit dem Satz begründet »>Sture Mure ist todt, und der hohe Felsen ist todtWelt< ins Haus hinein, das deren Museum wird; nicht zufällig erinnert die Abfolge der Zimmer an das Kremsmünstersche >Universalmuseum< und damit an das Prinzip der Kunstkammer.50 Und insofern die Welt von »Gott erschaffen« ist (PRA7,28,152 u.ö.), könnte diese Organisationsform des Wissens noch einmal als Abdruck der metaphysischen Ordnung der Natur verstanden werden - im Sinne jener Forscher, die Darwin zufolge »meinen, das natürliche System< [der Klassifikation der Naturgegenstände] bedeute noch mehr: Sie glauben, daß es den Plan des Schöpfers enthülle«.51 Das mag den im Roman allgegenwärtigen 49 50
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Vgl. Lepenies: Naturgeschichte (Anm.39), S. 56. Auf ein Zimmer mit »Sammlungen von Naturkörpern« und »wissenschaftlichen Vorrichtungen, namentlich zu Naturwissenschaften« folgen später die Bibliothek, eine Kupferstichsammlung und ein »Bilderzimmer«, in dem die Gemälde flächendeckend und fugenlos wie in Kremsmünster gehängt sind (PRÄ 6,93ff.). Enge Bezüge zu Kremsmünster sind vielfältig nachweisbar: Schon die Bezeichnung von Risachs Anwesen als »Asperhof« (189f.) folgt dem Vorbild des Aspermeierhofs in Kremsmünster, ebenso Risachs kontinuierliche Wetterbeobachtungen (in Kremsmünster seit 1763) und nicht zuletzt die Holzsammlung im Rosenhaus, für die die schon zu Stifters Schulzeit im mathematischen Turm< in Kremsmünster aufbewahrte Xylothek Pate gestanden hat. Vgl. P. Amand Kraml: Die Xylothek der Sternwarte Kremsmünster. In: Berichte des Anselm Desing-Vereins 25 (Mai 1992). Für Darwin »scheint diese Ansicht unsere Kenntnisse nicht zu vermehren«. Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl [1859,6. Aufl. 1872]. Leipzig 1990, S.459.
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Impetus erklären, die gesamte menschliche Lebensordnung und Praxis, auch die des Land- und Gartenbaus, an die Prinzipien der Natur anzuschließen (PRÄ 6,102ff., 156ff., 162,321 f. u.ö.). Es gibt allerdings zu denken, daß die metaphysischen Implikationen der Naturforschung nur mit äußerster Zurückhaltung angedeutet, nirgends aber so entschieden formuliert werden wie noch in der »Abdias«-Vorrede oder in den »Zwei Schwestern«. Das dürfte - ich wiederhole meine These - mit den Problemen einer empiristischen Umorientierung der Naturwissenschaften zusammenhängen. Der Grundriß einer aufs Ganze, auf ein System der Natur zielenden Naturerkenntnis wird zwar noch einmal nachgezeichnet, de facto aber ausgehöhlt. Schon Heinrichs Weg vom Allgemeinen einer >Gesamtnaturwissenschaft< - nicht umsonst wird Alexander von Humboldt zitiert52 - in die fortschreitende Verengung einer Einzelwissenschaft reflektiert genau den zeitgenössischen Trend zur immer weiteren Spezialisierung der Naturwissenschaften unter dem Druck des explodierenden empirischen Wissens. Daß Heinrich sich gerade die »Wissenschaft der Bildung der Erdoberfläche« aussucht (PRÄ 6, 40), belegt zudem, daß die unhistorische Naturgeschichte inzwischen einer strikt verstandenen Geschichte der Natur mit einem dezidierten Interesse an deren »Entstehen« (39f.) gewichen ist, sich also aus den verräumlichenden Verfahren der Taxonomie in Richtung einer Temporalisierung gelöst hat53 - ein in metaphysischer Hinsicht übrigens heikles Unterfangen, wie die Geologie zeigt.54 Auch innerhalb der einzel52
»Ich that die Dichter bei Seite und nahm Alexander Humboldts Reise in die Aequinoctialländer, die ich zwar schon kannte, in der ich aber immer gerne las« (PRÄ 6, 56). Mit Humboldt wird hier ein Programm anzitiert. »Überblick der Natur im großen. Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte«, Wiedergabe eines »Totaleindrucks« in den verschiedenen Naturgemälden, nennen die Ansichten der Natur von 1808 als Zwecke des Verfassers (Nördlingen 1986, S. 7,245ff. u.ö.). Prinzipiell dasselbe Programm liegt dem Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung zugrunde (5 Bde., Stuttgart, Augsburg 1845-1862): »Was mir den Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben die Erscheinungen der körperlichen Dinge in ihrem allgemeinen Zusammenhange, die Natur als ein durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes aufzufassen« (Bd. l, S. VI). Im 2.Band geht es um die »Geschichte der Erkenntniß des Weltganzen, zu welcher ich hier die leitenden Ideen darlege« (135). 53 Vgl. Lepenies: Naturgeschichte (Anm.39), S.52ff. u.ö. Zur ganz anders gearteten Rolle der Zeit im Rahmen der Naturgeschichte vgl. Lovejoy: Kette der Wesen (Anm. 39), S. 292ff., und insbesondere Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften [1966]. 2. Aufl. Frankfurt/ M. 1978, S. 173,195ff. Quer dazu steht Dietrich von Engelhardt: Historisches Bewußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklärung bis zum Positivismus. Freiburg, München 1979, S.Slff. 54 Bis ins 19. Jahrhundert stehen die neuen paläontologischen und geologischen Erkenntnisse vor der Schwierigkeit, mit der biblischen Chronologie der Weltentstehung zu kollidieren. Vgl. Lepenies: Naturgeschichte (Anm.39), S.42ff., 50. - Martin Guntau: Die Genesis der Geologie als Wissenschaft. Studie zu den kognitiven Prozessen und gesellschaftlichen Bedingungen bei der Herausbildung der Geologie als naturwissenschaftliche Disziplin an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Berlin 1984, S. 32ff. - Geof Bowker: Die Ursprünge von Lyells Uniformitarismus: Für eine neue Geologie. In: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. Frankfurt/M. 1994, S. 687-719, hier v.a. S. 687, 704ff. Charles Lyells bahnbrechendes Werk Principles of Geology, 1830 bis 1833 erschienen, wurde 18417
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nen naturgeschichtlichen Zweige seiner Betätigung vollzieht Heinrich in mancher Hinsicht den Gang der Wissenschaftsgeschichte nach. Vom Standpunkt eines neuen Begriffs von Empirie beklagt er für alle drei >Reiche< der Natur die Anschauungs- und Erfahrungsferne der naturgeschichtlichen Klassifikationssysteme.55 Während die »herkömmlichen Einteilungen« - gezielt wird primär auf Linne und seine Nachfolger - nur auf der Basis von »einem oder einigen Merkmalen« operierten, möchte Heinrich von der »Erfahrung« im Sinne aller »sich mir darbietenden Eigenschaften« eines Naturobjekts ausgehen, von der den »Sinnen« sich zeigenden »leiblichen, wirklichen Gestalt« (PRÄ 6,26ff., 34). Namentlich kritisiert wird in diesem Zusammenhang einzig der seinerzeit berühmte, in Graz, Freiberg und Wien wirkende Mineraloge Friedrich Mohs (17731839) (27f.), der dadurch in die Funktion eines Repräsentanten einrückt, des Vertreters nämlich einer an Linne orientierten Naturgeschichte.56 Tatsächlich 42 ins Deutsche übersetzt. - Noch 1843 bemerkt Berthold Auerbach, die Astronomie gleichfalls für Stifter von größter Bedeutung - habe »der Altgläubigkeit das Dach über'rn Kopfe abgehoben und die Geologie ihr den Boden unter den Füßen weggezogen«. Die Frau Professorin. In: Berthold Auerbach's gesammelte Schriften. Stuttgart und Augsburg 1857, Bd.3,S.159f. 55 Vgl. dazu die m. E. noch immer unübertroffene Darstellung der Verfahren der naturgeschichtlichen Taxonomie bei Foucault: Ordnung der Dinge (Anm. 53), 173ff., 180ff. »Das System ist in seinem Ausgangspunkt arbiträr, weil es auf zwanghafte Weise jeden Unterschied und jede Identität außer acht läßt, die nicht die privilegierte Struktur betreffen. Das ist freilich kein Hindernis, daß man eines Tages durch diese Technik ein natürliches System entdecken könnte. [...] Man kann aber erst zum natürlichen System gelangen, wenn man mit Gewißheit ein künstliches System [...] errichtet hat« (183). Dieses Verfahren basiert auf einem restringierten Verständnis von Empirie: »Die Naturgeschichte ist nicht möglich geworden, weil man besser und aus größerer Nähe hingeschaut hätte. Im strengen Sinne kann man sagen, daß das klassische Zeitalter sich angestrengt hat, wenn nicht so wenig wie möglich zu sehen, so doch wenigstens freiwillig das Feld seiner Erfahrung einzuengen. Die Beobachtung ist seit dem siebzehnten Jahrhundert eine sinnliche Erkenntnis, die mit systematisch negativen Bedingungen verbunden ist« (ebd. 173f.). Vgl. auch Lepenies: Naturgeschichte (Anm. 39), S. 30ff., 36: »Die Darstellung der Naturdinge soll weniger deren inneren Zusammenhang widerspiegeln als uns deren Rekapitulation erleichtern [...] Das zeigt sich deutlich an der alphabetischen Gliederung, an der Arbeiten zur Naturgeschichte bis ins 18. Jahrhundert festhalten.« Vgl. ferner Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele: Erfahrung als Programm (Anm.27), S.206ff., 210ff., sowie Ilse Jahn: Grundzüge der Biologiegeschichte (Anm. 5 ), S.234ff. Zu den Problemen der Klassifikation bis hin zu deren genealogischer Umwendung vgl. Jean-Marc Drouin: Von Linne zu Darwin: Die Forschungsreisen der Naturhistoriker. In: Michel Serres (Hg.): Geschichte der Wissenschaften (Anm.54), S.569-595, v.a. S.579ff., 594f. Zu Darwins Auseinandersetzung mit den Klassifikationssystemen vgl. Die Entstehung der Arten (Anm. 51), S. 457ff.:»[...] und also jede echte Klassifikation genealogisch ist und daß ferner die Gemeinsamkeit der Abstammung das unsichtbare Band bildet, das die Naturforscher unbewußt suchten, nicht aber irgendein unbekannter Schöpfungsplan, noch der Ausdruck für allgemeine Sätze oder das bloße Zusammenstellen und Sondern mehr oder weniger ähnlicher Dinge« (465). 56 Hauptwerke: Die Charakteristik der Klassen, Ordnungen, Geschlechter und Arten der Mineralien (1820); Grundriß der Mineralogie (1822/24); Leichtfaßliche Anfangsgründe der Naturgeschichte des Mineralreichs (1832). Zu Mohs und seinem neuen, vor allem von Abraham Gottlob Werner sich abgrenzenden Mineralsystem, »bei welchem die rein naturhistorische Methode im Sinne Linnes sollte zur Durchführung gebracht werden«, vgl. ADB Bd. 22
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folgen die im Nachsommer betriebenen »Naturwissenschaften« ganz dem Risachschen Resümee, man schlage »jetzt mehr die Wege des Beobachtens und der Versuche ein, statt daß man früher mehr den Vermuthungen, Lehrmeinungen, ja Einbildungen hingegeben war« (130). Ausgehend von der »Sammlung vieler kleiner Thatsachen« (40), deren besondere Randbedingungen dabei zu beachten sind (131f. u.ö.), schreitet man induktiv zur vorsichtig zusammenfassenden Hypothesenbildung, die anschließend einer praktischen Kontrolle unterworfen wird. Die Risachsche Wetterprognostik auf der Basis präziser Verhaltensforschung an Insekten stellt das Musterbeispiel für dieses Verfahren dar (125-129). Es ist signifikant, daß Stifter sich hier an einem Abschnitt über »Thiere als Wetteranzeiger« aus der Naturlehre Baumgartners orientiert, 57 dem die Gestalt Risachs der biographistischen Forschung zufolge in vielen Zügen nachgebildet ist.58 So verschränken sich im Roman verschiedene Naturkonzepte auch auf der Ebene der >Einflüsse< und >QuellenFarbenlehre< klar und deutlich Newtons Ergebnisse zurück. »Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden«, schreibt Goethe im Vorwort Zur Farbenlehre8 und personifizierte damit kurzerhand das Licht selbst - aber verkörperte auch das Auge, dem nun eine größere Eigenmächtigkeit zukam. Es war Goethe bei seinen Lichtexperimenten letztendlich nicht möglich gewesen, sein eigenes Zimmer in eine dunkle camera zu verwandeln,9 und seine Experimentalbedingungen, die sich von denen Newtons unterschieden, führten ihn 1791 zu anderen (wenn auch nicht immer korrekten) Versuchsresultaten. Wie Newton, so bediente sich auch Goethe eines Prismas, diesmal allerdings in einem weiß gestrichenen Zimmer und vor einem weit geöffneten Fenster. Frederick Burwick beschreibt den Unterschied dieser Versuche als den zwischen einem objektiven und subjektiven Experiment: Newtons Experiment war objektiv: Er beobachtete, wie Sonnenlicht in sein Prisma eintrat und sich in Strahlen aufteilte, die ein farbenreiches Spektrum auf die gegenüberliegende Wand warfen; er leitete daraus ab, daß homogenes Licht Größen »diverser Brechbarkeit« enthielt, die eine Palette von rot (dem wenigst gekrümmten Licht), über gelb, grün, blau, bis zu violett (dem am meisten gekrümmten) produziert. Goethes Experiment war subjektiv: Er hielt das Prisma vor seinen Augen und das Licht, durch eine schmale Stange im Fenster blockiert, schien sich in Streifen von violett und blau auf der einen, rot und gelb auf der anderes Seite zu teilen; er leitete daraus ab, daß Farbe auf der Oberfläche oder im Grenzbereich erscheint, durch die Interaktion oder Spannung zwischen Licht und Dunkelheit.10
Goethe dachte hierbei nicht daran, die Reaktion der Retina in Betracht zu ziehen, sondern wies mit Newton auch dessen konstruierten Raum, die camera obscura, als limitiert zurück. Das wahrnehmende Auge, selbst als ein Resultat des Lichts betrachtet, mußte nach Goethe anders beschaffen sein und daher anders reagieren. Gerade das prismatische Bild erwies sich nun als veränderlich.11 Goethe beschäftigte sich in den folgenden Jahren schließlich nicht nur mit dem, was ein geöffnetes Auge sehen mochte, sondern gerade auch mit dem, was einem geschlossenen offenbar werden konnte. Er griff zum Beispiel die Versuche zu Nachbildern auf, die Jan Purkinje in den zwanziger Jahren machte, und be-
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Crary: Techniques of the Observer (Anm.6), S.29. Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre (Didaktischer Teil). In: Goethes Werke. Band 13. München 1981 (= Goethes Werke in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz), S. 314-523, hier S.315. 9 Frederick Burwick: The Damnation of Newton. Goethe's Color Theory and Romantic Perception. Berlin 1986, S. 11. 10 Ebd., S. 11 (Übersetzung LW). 11 Vgl. Goethes Fragment »Das Auge« (1805/06) und die Diskussion in Burwick: The Damnation of Newton (Anm.9), S. 15. 8
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schrieb sie als eine Art residuelles Sehen, das gerade auch ohne direktes Licht, vielmehr als eine Art Erinnerung daran neue Farben zeigen mochte.12 Nachbilder mochten als eine Art optischer Trick erscheinen, denn das Auge schien überlistet, wenn man der Existenz einer verbürgten Realität außerhalb des Subjekts Glauben schenkte. Wenn nicht, so wurde der Trick selbst zur zweifelhaften Realität. Im späten 18. Jahrhundert hatte noch die laterna magica, wie Friedrich Schillers Geisterseher beispielsweise dokumentierte, Gespensterillusionen hervorgezaubert.13 Anfang des 19. Jahrhunderts waren Apparate populär, die den eigenen Blick gespenstisch erscheinen ließen. Gerade um diese Zeit fällt auch die Erfindung der Photographic. Eine Enzyklopädie wie der Große Brockhaus kann sich auf viele Darstellungen der Geschichte der Photographic berufen, wenn er die camera obscura als eine »Lochkamera« und damit als »einfachstefn] photographische[n] Apparat« beschreibt.14 Aber Crary weist gerade auf den Unterschied zwischen der camera obscura und dem photographischen Apparat hin. Obwohl sich die technische Konstruktion beider ähnelt, abstrahiert die Kameralinse vom menschlichen Auge und produziert ein Bild, das nicht nur unabhängig von diesem entsteht, sondern auch vielfältig reproduziert werden kann. Sie ähneln damit den Bildern, die für manche der neuen optischen Instrumente verwendet wurden; sie konnten erworben werden und kamen einer Sammlerleidenschaft entgegen. Diese Bilder gingen in einen ökonomischen Prozeß ein, der die Aura des gemalten Bildes nicht mehr erlauben kann. Es wird zu einem technisch reproduzierbaren Kunstwerk im neuen kapitalistischen System.1-'' Somit zeigt sich hier ein seltsames Paradox. Gerade zu der Zeit, in der die Verbürgbarkeit des Auges fraglich, die feste Position des Subjekts zweifelhaft, das Bild selbst reproduzierbar und Teil der kapitalistischen Zirkulation wird, war das Verlangen nach genauer Abbildbarkeit und »realistischer« Darstellungsweise besonders groß. Die Literatur des Realismus zeigte ein Vertrauen in den objektiven Blick und mußte ihn bereits als überlebte Illusion nostalgisch festschreiben.
3. Unter den Objekten, die Goethe in seinen >Farbstudien< beschreibt, befinden sich Kristalle und Steine wie das Fraueneis, der Kalkspat, das Glimmerblättchen 12
Burwick: The Damnation of Newton (Anm.9), S. 64-67; Crary: Techniques of the Observer (Anm. 6), S. 102-104. 13 Vgl. Liliane Weissberg: Geistersprache. Literarischer und philosophischer Diskurs im späten achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 1990, S. 92-124. 14 Artikel »Camera obscura« (Anm. 1). 15 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: W.B.: Illuminationen. Frankfurt/M. 1969, S. 148-184.
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und schließlich auch der Turmalin.16 Ihnen waren die Experimente gewidmet, die entoptischen Figuren galten.17 Entoptische Figuren sind solche Wahrnehmungen, die durch die Besonderheit des Augeninnerns des Betrachters bestimmt sind. Der Gegensatz von Hell und Dunkel, der sich umgekehrt in den Nachbildern der Experimente Purkinjes wiederfand, spielt bei Blendungsbildern eine Rolle, und der dunkle Glanz des Turmalins, dem auch Goethe eine physikalische Skizze widmete,18 eignete sich nach ihm für diese Wahrnehmungsversuche besonders. Burwick zeigt, wie Goethes Überlegungen zu entoptischen Figuren auch in seinen literarischen Werken wie dem West-östlichen Divan (1819) oder Faust I (1808) zum Tragen kommen und seine Darstellung von Farben, Irrlichtern und Experimentierflaschen bestimmen.19 Goethes naturwissenschaftliches Denken und literarisches Schaffen beeinflußte auch deutlich Adalbert Stifter um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Stifter schrieb zahlreiche Kunstrezensionen, in denen er auf die Bedeutung von Farbe und Licht hinwies, und schätzte eine Maltechnik, die eine gewisse Leuchtkraft hervorheben konnte.20 In seinem eigenen Werk beschäftigte er sich wiederholt mit der Darstellung von Steinen, denen selbst nun keine Lichtdurchlässigkeit zukam. Einen Stein konnte aber eine Aura von Licht umgeben, und er wirkte damit selbst fast wie ein Nachbild (Abb. 5), wobei Stifter der Studie von 1866 in der linken unteren Bildecke einen Vermerk beigefügt hatte: »In der Stube nach der Natur.«21 Tatsächlich kann Stifters malerisches Schaffen nicht nur als Wiedergabe scheinbar idyllischer Landschaftsbilder gesehen werden, sondern als ein Versuch der Analyse der Natur, wie er sie ähnlich auch in seinem literarischen Werk, etwa den Bunten Steinen (1853), unternahm. Stifter vergleicht in der »Einleitung« zu diesem ganz bewußt als »Sammlung« von Erzählungen verstandenen Werk seine Geschichten mit einer Sammlung von Steinen, solchen wie er sie selbst als Knabe nach Hause trug. Der »Granit«,
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Burwick: The Damnation of Newton (Anm.9), S. 90. Vgl. neben den ersten Publikationen zur >Farbenlehre< auch Goethes Arbeiten zu der »Geschichte und den Elementen der entoptischen Farben« nach 1810 in: Johann Wolfgang Goethe: Schriften zur Allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie. Hg. von Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel. Frankfurt/M. 1989 (= J.W.G.: Sämtliche Werke. I. Abteilung: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 25), S. 664-728. 18 Goethe: Turmalin. In: J. W.G.: Schriften zur Allgemeinen Naturlehre (Anm. 17), S. 150-153. 19 Burwick: The Damnation of Newton (Anm.9), S. 80-101. - Gerhart von Graevenitz befaßt sich vor allem mit der Bedeutung der Perspektive in seiner Studie zur Relevanz optischer Theorien für Goethes Werk. Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes »West-östlicher Divan«. Stuttgart 1994. 20 Fritz Novotny: Stifter und Piepenhagen. In: Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahresschrift 17 (1968), S. 77-92. 21 Der vollständige Vermerk lautet: »Adalbert Stifter Kirchschlag 26t März 1866. (In der Stube nach der Natur.)« 17
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von Goethe einst als ältester Stein der Erde bezeichnet,22 bildet den Anfang dieser Sammlung, die mit »Kalkstein«, »Bergkristall«, »Katzensilber« und »Bergmilch« fortfährt. In der Mitte dieser Anordnung findet sich auch ein Text, dem Stifter den Namen »Turmalin« gab und der in der ersten, 1852 erschienenen Fassung, den Titel »Der Pförtner des Herrenhauses« trug. Der Turmalin als lichtundurchlässiger Stein mag als Kontrast zur helleren Bergmilch oder zum Bergkristall erscheinen, und tatsächlich weist Stifter auch auf die besondere Schattierung der Erzählung hin: »Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel.«23 Viele Literaturwissenschaftler folgen Stifters Hinweis und deuten auf den »dunklen« Charakter dieser Geschichte.24 Sie weist tatsächlich eine Zweiteilung auf. Im ersten Teil wird ein in Wien lebender Rentherr beschrieben, dessen Frau eine Beziehung mit einem Hausfreund, einem Schauspieler namens Dali, eingeht. Nachdem sie diese Beziehung ihrem Mann gesteht, verläßt sie das Haus. Kurz darauf verschwindet der Ehemann mit dem gemeinsamen Kind spurlos. Ein zweiter Teil, der diesmal aus der Perspektive einer Frau geschildert
Abb. 5: Adalbert Stifter, Steinstudie, 1866. Öl auf Karton. Handschrift links unten: »Adalbert Stifter Kirchschlag 26t März 1866. (In der Stube nach der Natur.)« Adalbert Stifter-Gesellschaft und Museum, Wien 22
Goethe: Granit, Gebirgsbau und Epochen der Gesteinsbildung (1784-1785). In: J.W.G.: Schriften zur Allgemeinen Naturlehre (Anm.17), S. 311. 23 Adalbert Stifter: Turmalin. In: A.S.: Bunte Steine. Basel 1963 (= Gesammelte Werke in vierzehn Bänden. Hg. von Konrad Steifen), Bd. 4, S. 134. 24 Siehe zum Beispiel Joachim Müller: Stifters »Turmalin«-Erzählung - Erzählhaltung und Motivstruktur im Vergleich beider Fassungen. In: Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahresschrift 17 (1968), S. 33^4; G.H. Hertling: »Wer jetzt kein Haus hat,
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wird, erzählt von ihrer eigenartigen Entdeckung. In einer Kellerwohnung wohnt ein Mädchen, das dort alleine bei seinem Vater aufwächst und die Welt nur aus dieser Kellerperspektive kennenlernt. Als der Vater selbst nach draußen blicken will und eine Leiter dazu benützt, stürzt er und kommt ums Leben. Die Erzählerin nimmt sich des Kindes an, das sich als physisch deformiert und kaum sprachfähig zeigt. Die Handlung der Erzählung wird nicht so sehr von den Personen als von den Objekten bestimmt, die sie besitzen oder aber hinterlassen. Dies zeigt sich besonders deutlich im ersten Teil, der eine ausführliche Beschreibung der Wohnung des Rentherrn und seiner Familie wiedergibt. Der Leser erfährt hierbei die Anordnung der Räume und die unterschiedlichen Inneneinrichtungen, die den Räumen des Mannes und seiner Frau zukommen. Nicht der Name, sondern die Bezeichnung »Rentherr« - hier als jemand bezeichnet, der eine Pension, das heißt Geld zum Erwerb von Gütern erhält (136) - sowie ihr Besitz beschreiben die Personen. Das bürgerliche Mobiliar bildet ein »Museum überreicher Objekte«,25 eine Sammlung, die sich dem Blick des betrachtenden Lesers bietet und gleichzeitig die Abwesenheit der Besitzer dokumentiert. Und die Frage des Besitzes leitet diese erste Erkundung, denn die Wohnung wird von Beamten geöffnet, die sich nicht nur um den Verbleib des Hausherrn kümmern müssen, sondern auch um seinen vermeintlichen Nachlaß. Trotz der Kontrolle der Bürger durch die Polizei ist das Verschwinden des Menschen in der Stadt leicht möglich, und die häuslichen Objekte bieten eine nur stumme Spur dürftiger Erinnerung. Sie bilden ein Stilleben, müssen jedoch ein letztes Mal in Zirkulation versetzt werden. Stifter beschäftigt sich in all seinen Werken mit einer Fülle von Dingen, und seine häufige Wiederholung selbst des Wortes »Ding« ist bekannt.26 Hier werden Dinge zu Indizien für eine Tat, die nicht weiter erläutert werden kann, denn das Verschwinden von Frau, Mann und Kind bleiben ungeklärt. So richtet der Leser zunächst seinen Blick auf die spukhaften Objekte, um dann im zweiten Teil ein Mädchen kennenzulernen, dessen Welt von einem dunklen Raum und einem Fensterausschnitt, der ihre Sicht limitiert, beherrscht wird. Das Mädchen, das in dieser camera obscura die Welt zusätzlich nur von unten beobachten kann, erfährt sie wie aus einem Gefängnis und in verzerrter Perspektive. Ihr
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baut sich keines mehr«. Zur Zentralsymbolik in Adalbert Stifters Turmalin. In: Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahresschrift 26 (1977), S. 17-34; Eve Mason: Stifter's »Turmalin«. A Reconsideration. In: The Modern Language Review 72 (1977), S. 348-358; Karen Campbell: Toward a Truer Mimesis. Stifter's Turmalin. In: The German Quarterly 57 (1984), S. 576-589: Hans Esselborn: Adalbert Stifters »Turmalin«. Die Absage an den Subjektivismus durch das naturgesetzliche Erzählen. In: Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahresschrift 34 (1985), S. 3-26. Eve Mason: Stifter: »Bunte Steine«. London 1986, S. 65 (Übersetzung LW). Siehe zum Beispiel Wilhelm Dehn: Ding und Vernunft. Zur Interpretation von Stifters Dichtung. Bonn 1969, bes. S. 12.
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Bild von der Welt, ihre Sprache, sind nicht nur idiosynkratisch, sondern scheinen kaum einen Sinn zu ergeben. Sie wird zu einer Kaspar-Hauser-Figur.27 Die scheinbare Idylle der im ersten Teil beschriebenen Wohnung, bei der die Fülle der Objekte jedoch ebenso grotesk erscheinen mag, kontrastiert mit dem Kellerzimmer des zweiten Teils. Doch die Erzählung selbst bietet ebenfalls einen Kontrast zu den anderen der Stifterschen Sammlung. Erzählungen wie »Granit« oder »Bergkristall« spielen in einer Berglandschaft und konzentrieren sich auf das Verhältnis des Menschens zur Natur.28 »Turmalin« wählt im Gegensatz dazu Wien und seine Vororte als Hintergrund und Kontext. Diese Umgebung ist deutlich von Menschenhand gemacht. Innerhalb der Bunten Steine bildet die Stadtdarstellung eine Ausnahme, und das gilt auch für Stifters malerisches Werk. Ein Ölgemälde, das einen Wiener
Abb. 6: Adalbert Stifter, Blick auf die Beatrixgasse in Wien, 1839. Öl auf Karton. Adalbert Stifter-Gesellschaft und Museum, Wien
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Vgl. dazu Eva Geulen: Adalbert Stifters Kinder-Kunst. Drei Fallstudien. In: Deutsche Vierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S.648-668. : " Vgl. Liliane Weissberg: Taking Steps: Writing Traces in Adelbert Stifter. In: Thematics Reconsidered. Essays in Honor of Horst S. Demmrich. Hg. von Frank Trommler. Amsterdam 1995,5.253-274.
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Vorort wiedergibt, stellt Bäume in den Vordergrund.29 Ein zweites Bild präsentiert vor allem die Dächer der Stadt (Abb. 6). Die Fenster scheinen hierbei blind, die Straßen sind fast menschenleer. Es herrscht Ruhe, und die bräunlichen Farben erinnern an die Erdtöne der Landschaftsbilder Stifters. Doch dieser konnte auch andere Beschreibungen liefern. Stifter hielt sich zwischen 1826 und 1848 in Wien auf und trug eine Anzahl von Skizzen zu einer Reihe bei, die als Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben seit 1841 in einzelnen Lieferungen erschien und dann 1844 in einem Sammelband veröffentlicht wurde, für den Stifter als Herausgeber zeichnete.30 Obwohl Stifters Beiträge in einer posthumen Werkausgabe 1870 unter dem Titel Aus dem alten Wien veröffentlicht wurden,31 muß dieser als ein Hinweis auf die nach 1844 erfolgten Veränderungen der Stadt verstanden werden, etwa die Abtragung des Festungsgürtels seit 1858 und den Plan der Ringstraße. In den Skizzen selbst zeigt sich wenig Nostalgie. Auch die Geruhsamkeit und kontemplative Stimmung, die vielen anderen Werken Stifters zu eigen ist, liegt diesen Beiträgen fern. Ganz im Gegenteil zeigt Stifter eine Stadt, die sich bereits verändert hat, deren Bewohner den Zeichen der Vergangenheit kaum noch Bedeutung schenken. Für die Erinnerung an das Vergangene besteht weder Zeit noch Raum: Der Stephansfriedhof ist keiner mehr, sondern ein geräumiger Stadtplatz mit schönen Häusern und Warenauslagen, und glänzende Karossen rollen über das Pflaster, unter dem die Reste unserer Vorfahren ruhen - ihre Kreuze und Monumente sind verschwunden, das Lob ihrer Tugenden auf denselben ist verstummt, die Denkmale, die sie einst gründeten, um die Stätte ihrer Angehörigen auf ewige Zeiten zu bezeichnen, sind von unserer Industrie und unserem Verkehre bis hart an die Mauern der Kirche gedrängt worden, wo noch manche Tafel aus rotem Stein übriggeblieben ist, auf dem ein betender Vater mit seinen Kindern ausgemeißelt ist oder ein liegender Toter selber mit gefalteten Händen oder Heiligenbilder oder sonst Embleme und Wappen, wovon manch Stück durch die Zeit herabgeschlagen oder verwittert ist, und darunter steht Namen und Amt und stehen die Tugenden der Toten - aber wie oft weiß man gar nichts mehr aus der Zeit seines Lebens, und es ist da keiner mehr, um zu sagen: er war unser Ahnherr.
Den Beschreibungen der Geographie Wiens von der Höhe des Stephansdoms betrachtet oder der Tiefe seiner Katakomben folgen Straßenszenen, die vom Gedränge der Menschen und Verkehrsmittel, des Warenaustausches und der Geschäftsankündigungen geprägt sind. Von der einsamen Position auf der Spitze des Stephansdomes scheint sich die Stadt noch klar und übersichtlich zu geben, und der Blick schweift dabei über ein Gedränge von namenlosen Wesen hinweg. Nur die Sprache treibt stockend und atemlos zugleich die Sätze vorwärts: 29
Blick auf Wiener Vorstadthäuser (1839). Abgebildet in: Franz Baumer: Adalbert Stifter der Zeichner und Maler. Ein Bilderbuch. Passau 1979. 30 Stifter erhielt für Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben (Wien 1844) Beiträge von verschiedenen Autoren, die Mehrzahl wurde von Sylvester Wagner verfaßt. 31 Adalbert Stifter: Aus dem alten Wien. Hg. von Johannes Aprent. Pest 1870. 32 Adalbert Stifter: Ein Gang durch die Katakomben. In: A. S.: Aus dem alten Wien. Basel 1969 (= Gesammelte Werke in vierzehn Bänden. Hg. von Konrad Steifen), Bd. 13, S. 43.
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Eine Million Tiere ist heute nachts gestorben, daß alle diese unten zu essen haben; ein Wald von Pflanzen wurde abgemähet und hereingebracht - da gehen die Mägde mit ihren reinlichen Einkaufskörbchen und tauchen hinein in das wogende Gesurre -siehe, auch schon eine Karosse, die über den Platz rollt - und all die Geschäftsleute erscheinen und die Beamten, die in ihr Bureau gehen - und es mehrt sich Rauch und Staub über der Stadt; der Wagen und Kutschen werden immer mehr, so daß ein unausgesetztes Donnern gedämpft heraufschlägt zu unserer luftigen Einsamkeit - siehe, wie lieblich! der Morgenhimmel sammelt nach und nach seine Vormittagswolken, und die Sonne legt deshalb auf die ausgebreitete Stadt hier Schattenbilder, dort Lichtblicke, daß sie unten liegt wie der Schmelz einer schönen Gold- und Silberstickerei - und ihre Größe kannst du daraus abnehmen, wie dort draußen die Ringe der Vorstädte in einem schwachen blauen Dufte schwimmen, während die nahen Teile der Stadt mit der Klarheit eines Cameraobscurabildes heraufsehen.
Unten in der Menge, auf dem Tandelmarkt oder in der Straße zeigt sich jedoch wenig Klarheit oder Ruhe, sondern die Hektik des rollenden Verkehrs. Immer und immer wieder wird dieser betont. Die ersten Wagen, noch unsichtbar im Dunkel der Nacht, bieten den ersten Schall der Stadt, »ein fernes Rasseln durch eine Gasse, als ob Kriegsgeschütze im strengen Laufe führen«; 34 das Rollen der Karossen intensiviert sich während des Tages um den Stephansdom.35 Weder die eilenden Menschen noch die Toten finden eine Ruhe, denn es ist gerade der Friedhof an der Kirche, der dem Verkehr weichen mußte: »Ein vornehmes und ungestörtes Begräbnisplätzchen! als ob irgend auf der Erde etwas Ungestörtes, etwas Unvergängliches wäre! ja ist nicht am Ende sie selber vergänglich und wird eine Leiche, so wie die, die man jetzt so sorglich in ihrem Bauche verbirgt?«36 Der einsame Blick vom Stephansdom kontrastiert mit der Wahrnehmung eines Betrachters, der sich auf der bewegten Straße befindet. So wird die Sichtweise der camera obscura durch eine Vielfalt von Perspektiven ersetzt, welche die Sicht in eine Ansicht tauschen, die Teil eines Werbe-und Kaufprozesses geworden ist. Wien wird zum Musterort des frühen Kapitalismus: Es ist eine ganz einfache Tatsache des Verstandes, daß derjenige, der etwas kaufen, tauschen, erhandeln, will, wissen muß, wo er zu kaufen, zu tauschen, zu erhandeln habe, und daß hingegen der andere, der zu verkaufen, zu vertauschen, zu verhandeln hat, sagen müsse, daß und was er zu verschleißen wünsche oder daß er die Sachen selbst zur Ansicht auslege: jedoch nicht so ganz einfach scheint es, daß diese Auslagen und Ankündigungen nicht nur den Zweck haben, daß der kaufe, der will, sondern vielmehr und eigentlich den, daß der kaufe, der nicht will.37
Sobald Wien nicht »von oben« gesehen wird - wie vom Stephansdom oder vom Blickwinkel seines Bildes von den Dächern der Stadt - zeigt sich die Stadt in konstanter Bewegung. So wie die Karosserien rollen, so werden auch Waren bewegt und ausgetauscht; Waren, die keinem Begehren antworten, sondern dieses 33
Stifter: Vom Sankt-Stephansdom. In: A.S.: Aus dem alten Wien (Anm.32), S.31f. Ebd., S. 17. 35 Ebd., S. 17, und Stifter: Ein Gang durch die Katakomben. In: A.S.: Aus dem alten Wien (Anm.32), S.54. 16 Stifter: Ein Gang durch die Katakomben. In: A.S.: Aus dem Alten Wien (Anm.32), S.53. "Stifter: Warenauslagen und Ankündigungen. In: A.S.: Aus dem alten Wien (Anm.32), S. 158. 34
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zunächst wecken sollen. Stifter zählt die Güter auf, die nicht nur in natura, sondern auch per Anzeigen gehandelt werden, und gibt eine Zusammenstellung von Blutegeln, Mädchenerziehungsanstalten, Butterschnittmessern und wasserdichten Stiefeln wieder. Er fügt hinzu, daß er einen alten Herrn kenne, »der ganze Stöße von Zettelchen besitzt, die er alle aus seiner Wiener Zeitung schneidet und nach denen er seine Bedürfnisse kauft und allen seinen Freunden und Bekannten anrät«.38 Dabei schildert Stifter nicht nur das Bündnis von Buchdruckerkunst und ökonomischem System, sondern auch eine historische Entwicklung, bei der die Presse den Druck von Bibeln und Folianten aufgab und zum Ersatz von Marktschreiern wurde und nun stumme Anzeiger verbreitete, die auf Löschpapier Ankündigungen in die Welt trugen.39 Diese Reklame zeichnete mit Wort und Bild. Denn die Lithographie, 1797 von Alois Senefelder erfunden, wurde besonders in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts populär und beeinflußte ebenfalls die Zahl der Zeitungsinserate. Die französische Zeitung La Presse beispielsweise konnte sich bereits 1836 zum erstenmal durch illustrierte Anzeigen erhalten und nicht mehr lediglich durch eine Lesersubskription.40 Und die Auflagenhöhen der Zeitungen wuchsen in dieser Zeit radikal. Die Zeitungen wandten sich nicht nur an ein neues, breiteres Publikum und prägten auch die literarischen Genres - nicht zuletzt Stifters Erzählungen und Skizzen selbst. Aber sogar die Stadt Wien zeigte sich bereits als eine Auslage und bot an: nicht nur Objekte, sondern auch deren Reklame. Sie wurde damit selbst zu einem Text; eine Entwicklung, wie sie Peter Fritzsche für das Berlin der späteren Jahrhundertwende als ein Zeichen der Moderne definierte.41 Plakate verwandelten die Gebäudeflächen der Stadt in werbende »Literatur«: Außer den Zeitungen tragen die Straßenecken in riesigen Buchstaben aller Farben, vorzüglich aber rot, auf torgrossen Anklebzetteln die dem Publikum nötigen Kenntnisse zur Ansicht, und an manchen Stellen, wie zum Beispiel außer dem Roten-Turm-Tore, sind ganze große Mauerstücke von oben bis unten beklebt, so daß man zur erschöpfenden Lektüre dieser Dinge mehrere Stunden brauchen würde - da ist ein Riese zu sehen, dort ein Zwerg; Reunionen, Bälle, Erheiterungen, Gesellschaftswägen, Musiken etc. ... etc. ... In neuester Zeit hat sich gar eine eigene Ankündeanstalt zusammengetan und schlägt ihre Zetteln auf großen dunkeln Holztafeln auf, was recht elegant und nett aussieht, aber doch nicht verhindert, daß nicht daneben die frühere Weise in ihrer ursprünglichen Unschuld fortbesteht, nämlich die Zettel gleich weit und breit auf die nackte Mauer zu kleben. Auch in den Auslagekästen liegen nun bereits geschriebene oder gedruckte Zettel, die vorderhand aber noch nichts als den Namen und manchmal den Preis der Sache enthalten.42
18
Ebd., S.169f. Ebd., S. 160. 4(1 Siehe William M. Ivens, Jr.: Prints and Visual Communication. Cambridge, 41 Peter Fritzsche: Reading Berlin 1900. Cambridge, MA 1996. 42 Ebd., S. 170. 39
1953.
Das starre Subjekt, das bewegliche Auge
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4.
Es ist dieses Wien, das in »Turmalin« seinen Einzug hält, Einzug schließlich auch in den Privatbereich der Wohnung des Rentherrn. Der lange Gang und die Räume dieser Wohnung nehmen die Eigenschaften von Straße und Stadtbild an. Die im Zimmer ausgestellten Objekte, die noch zu Lebzeiten der Frau »immer auf das glänzendste vom Staube rein gehalten« waren (137), zeigen sich nun wie in einer Auslage, welche die Trennung von privatem und öffentlichem Leben vor den prüfenden Augen der Beamten aufheben muß. Das Dekor von Fenstervorhängen, Bildern und Kinderbettchen im Zimmer der Frau bilden einen Bereich, der sich von dem Öffentlichen nur scheinbar abgrenzen kann. »Sie verkehrte nicht sehr viel mit der Außenwelt, so wie auch nicht häufig Frauen zu ihr zum Besuche kamen« (138), lautet zwar die Beschreibung der Bewohnerin dieser Räume, die mit der des welterfahrenen Schauspielers kontrastiert, der sich auch in der Erzählung zumindest einen Namen - nämlich Dali - machen konnte. Aber die Sessel, Schemel, Stühle, Tische im Zimmer der Frau bilden nicht mehr als eine Zusammenstellung von Waren, die einem Idealbild bürgerlicher Ausstattung zukommen konnte, und die Plazierung einer vergoldeten Engelfigur über dem Kinderbett verwandelt den Raum fast zur Karikatur. Das Kind, mit seinen »winzigen roten Lippen und [...] rosigen Wangen und [...] geschlossenen Äuglein« (138), kann schließlich nur als Teil dieses Dekors betrachtet werden. Das Zimmer des Mannes wiederum weist eine Besonderheit auf, die es direkt mit Stifters Wiener Stadtbild vergleichbar macht. Es ist durchweg plakatiert: »In dem Zimmer waren alle Wände ganz vollständig mit Blättern von Bildnissen berühmter Männer beklebt. Es war kein Stückchen auch nur handgroß, das von der ursprünglichen Wand zu sehen gewesen wäre« (135). Befindet sich im Zimmer der Frau noch ein »sehr schön gemaltes, großes Bild« (138), so zeigt sich das Zimmer des Rentherrn mit einer Tapete aus reproduzierten Bildnissen, die er, wie der alte Herr in Stifters Wiener Skizze, gesammelt hatte. Ähnlich den Werbeankündigungen an den Hauswänden Wiens dekorieren sie nun seine Zimmerwände. Die »berühmte[n] Männer«, deren Namen ebenfalls in der Erzählung ungenannt summiert werden, sind durch Blätter repräsentiert, die ihre Gesichter wie Konsumgüter vertreiben und ihre Taten austauschbar erscheinen lassen. In Stifters Erzählung wird die Erreichbarkeit jener »berühmte[n] Männer« nicht etwa durch biographische Beispiele oder pädagogische Lektionen geschildert, sondern hinsichtlich der Lokalisierung des Betrachters selbst. Die an der Wand befestigten Bilder werden wiederum zu bekannten, doch geschichtslosen Objekten eines häuslichen Stillebens, während der Betrachter sich bewegt. Der Schauspieler Dali mochte dadurch aufgefallen sein, »wie er diese oder jene Rolle aufgefaßt und dargestellt« hatte (138f.); die Stadt selbst übersetzt das Rollenspiel in die Beweglichkeit des Verkehrs der Karosserien. Dieses Rollen kann nun endlich auch im Zimmer des Rentherrn gehört und erlebt werden und die
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Leiter, die dem Vater später den Tod bringen wird, erscheint zum erstenmal in einer besonderen Variation: Damit er, oder eigentlich auch ein Freund, wenn einer kam, diejenigen Männer, die ganz nahe oder hart an dem Fußboden sich befanden, betrachten konnte, hatte er ledergepolsterte Ruhebetten von verschiedener Höhe mit Rollfüßen versehen machen lassen. Das niederste war eine Hand hoch. Man konnte sie zu was immer für Männern rollen, sich darauf nieder legen und die Männer betrachten. Für die hoch und höher hängenden hatte er doppelgestellige Rolleitern, deren Räder mit grünem Tuche überzogen waren, welche Leitern man in jede Gegend rollen und von deren Stufen aus man verschiedene Standpunkte gewinnen konnte. Überhaupt hatten alle Dinge in der Stube Rollen, daß man sie leicht von einer Stelle zu der ändern bewegen konnte, um im Anschauen der Bildnisse nicht beirrt zu sein. In Hinsicht des Ruhmes der Männer war es dem Besitzer einerlei, welcher Lebensbeschäftigung sie angehört hatten, und durch welche ihnen der Ruhm zu Teil geworden war, er hatte sie wo möglich alle (135).
Ein Sammler strebt nach der Vollständigkeit seiner Sammlung; hier zeigt sie sich möglich und unmöglich zugleich. Denn das eigentlich unerreichbare Ziel, alle berühmten Männer zu bestimmen und in einem einzigen Zimmer vertreten zu können, könnte durch das erreichbarere ersetzt werden, bestimmte Lithographie-Bilder zu komplettieren. Ruhm wird hier ebenfalls dem Gesetz der technischen Reproduzierbarkeit unterworfen.
5. Der Unterschied zwischen dem Blick des beweglichen Rentherrn auf die befestigten Blätter und dem des in der Kellerwohnung fixierten Mädchens auf die vorbeigehenden Passanten kann nicht deutlicher geschildert werden. Wird das Mädchen später als zurückgeblieben und weltfremd dargestellt, so bedeutet es jedoch nicht, daß dem Rentherrn eine notwendigerweise bessere Sicht bescheinigt wird. Tatsächlich scheint seine Sichtweise zunächst besonders fraglich. G. H. Hertling beschreibt die Position des Rentherrn und seiner Besucher auf diesen Rollbetten und Rollsesseln als die Erfüllung eines passiven Müßiggangs.43 Da der Rentherr und seine Frau vor allem durch die Topographie der Wohnung und durch die Sammlung der dort aufbewahrten Dinge charakterisiert werden, mag gerade die Rollapparatur befremdlich wirken. Für Ursula Petry wird die veränderbare Distanz zwischen Betrachter und Bildobjekt zu einem Problem, das die Identität des Betrachters selbst berührt.44 Stefan Gradmann folgt Petry und liest die Beweglichkeit des Betrachters als eine Unordnung, die den Plan einer »Ord-
43 44
Hertling: »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr« (Anm.24), S. 23. Ursula Petry: Die Entstehung einer Landschaft. Zur Dialektik des Drinnen und Draußen bei Adalbert Stifter. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft (1967), S. 117-138.
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nung der Dinge« stören muß.45 Diese seltsame Mischung von bürgerlicher Enge, Passivität und Desorientierung ist für Paul Requadt nicht ohne politische Relevanz.46 »Turmalin« erschien in seiner ersten Fassung 1852 im Almanach Libussa, aber die Erzählung wurde bereits einige Jahre zuvor verfaßt. In einem Brief vom 2. Juli 1848 bot Stifter sie bereits dem Herausgeber des Prager Jahrbuches, Paul Aloys Klar, an: Ich habe Ihnen einen Beitrag für die Libussa zugesichert, wollte Ihnen denselben in der ersten Hälfte des Juni schicken, allein da kamen die Prager Ereignisse dazwischen, und ich hielt ihn zurück. Obwohl ich nun meine, daß Sie vielleicht unter den obwaltenden Ereignissen die Libussa heuer gar nicht erscheinen lassen, so halte ich es doch, meinem gegebenen Worte gemäß, für meine Pflicht, mich deshalb anzufragen.
Die politischen Ereignisse um 1848 mochten jedoch nicht nur die Publikation dieser Erzählung, sondern auch ihre Abfassung selbst beeinflußt haben. Requadt und - wenn auch kritischer - Hans Geulen - bemerken daher die Beziehung dieser Geschichte zu Stifters politischen Aufsätzen, die seit 1847 erschienen waren und die ihn als konservativen Autor kennzeichneten.48 Requadt, der Stifters Bunte Steine als ein Zeugnis des Revolutionsjahres liest, weist darauf hin, daß Stifter im März des Jahres noch die neu errungene Freiheit des Volkes begrüßte, nach dem Oktoberaufstand in Wien jedoch enttäuscht schrieb, er sei einer »ungehemmtste[n] Selbstregierung« nicht gewachsen.49 Der Aufklärung und sorgfältigen Erziehung, an denen es den Bürgern mangele, konnte nach Stifter vielleicht durch pädagogischem Einsatz geholfen werden, gerade eine Gestalt wie der Rentherr mochte jedoch an einer »Wirklichkeitsblindheit« zugrunde gehen.50 Doch ist der Rentherr wirklichkeitsblind oder ein »Streichmacher«, ein Illusionist des Bürgertums, wie er in den Wiener Skizzen beschrieben wird?51 Die Beziehung zwischen Wirklichkeitsblindheit und Perspektivenwahl scheint komplex. In den gleichen Skizzen beschreibt Stifter, daß die Anzeigen der Wiener Zeitung den politischen Nachrichten folgen,52 und ist sich der Beziehung von Politik und neuem Konsumbegehren wohl bewußt. Aber während Stifter sich 45
Stefan Gradmann: Topograhie/Text. Zur Funktion räumlicher Modellbildung in den Werken von Adalbert Stifter und Franz Kafka. Frankfurt/M. 1990, S. 49. 46 Paul Requadt: Stifters Bunte Steine als Zeugnis der Revolution und als zyklisches Kunstwerk. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestag. Hg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968, S. 139-168. 47 Hans Kristian: Adalbert Stifters »Turmalin« in seinen Beziehungen zur Selbstbiographie des Burgschauspielers Joseph Lange. In: Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Vierteljahresschrift 12 (1963), S. 146-150, hier S. 146. "* Vgl. Hans Geulen: Stiftersche Sonderlinge: »Kalkstein« und »Turmalin«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S.415-431, hier bes. S.426f. 49 Zitiert bei Requadt: Stifters »Bunte Steine« (Anm.46), S. 144. 50 Ebd., S. 166. 51 Siehe Stifter: Die Streichmacher. In: A.S.: Aus dem alten Wien (Anm.32), S. 76-88. 52 Stifter: Warenauslagen und Ankündigungen. In: A.S.: Aus dem alten Wien (Anm.32), S. 169.
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eine politische Restauration wünschen mochte, zeigen seine Erzählungen den Bürger als Rezipienten, der die Welt neu betrachten muß. Das durchlässige Auge hat sich zu einem aktiven Organ gewandelt; die Welt selbst zum sichtbaren und konsumierbaren »Spektakel«.53 Nicht nur die Wahl und Zusammenstellung der Porträts berühmter Männer erscheint letztendlich als willkürlich, sondern auch die Position des Betrachters, der sie ganz wörtlich erfahren möchte. Welches ist die richtige Einstellung, welches ist der richtige Blick? So wie der Schauspieler seine Rollen verkörpern kann, so ist sich auch der Rentherr seines Körpers bewußt. Seine Blickweise kann von ihm selbst bestimmt und mittels Rolleitern und Rollstühlen verändert werden, obwohl er schließlich einen konservativen, »korrekten« Blick erzielen möchte. Seine Möbel dienen dazu, das Auge in die rechte Nähe zum Bild zu versetzen und jegliche Verzerrung zu vermeiden. Somit kann der Rentherr beides exemplifizieren: das neue, destabilisierte Auge und das Verlangen nach Stabilität, nicht zuletzt nach einer Restauration des Blickes, dessen richtige, eindeutige Funktion fraglich geworden ist. Doch Stifters »Turmalin« erzählt nicht nur die Geschichte des Rentherrn und seines Verlustes wie Verlangens nach dem objektiven Blick. Sie bietet ebenfalls eine Geschichte des Lesers. Denn der Wunsch nach einem fest lokalisierten Subjekt kommt letztendlich nicht nur dem Rentherrn zu, der sich auf Rollbetten und Rolleitern bewegt, sondern auch dem Leser, der zum Voyeur der Objekte wird und der die beiden durch Zeitsprung, Lokalwechsel und Erzählerstimme getrennten Teile verbinden möchte, ähnlich wie es der Gang der Wohnung des Rentherrn zwischen den Räumen des Mannes und der Frau versucht. Um den Sinn der Erzählung zu enträtseln, kann er zwar die Teile und Figuren wie bei einem Stereoskop synchron vergleichbar machen oder den einen Teil als paradoxes Nachbild des anderen sehen. Doch Stifter besteht auf weitere »Dunkelheit«. Er zeigt daher nicht nur das »moderne« Auge des Rentherrn, sondern auch das des Lesers und dessen Sehnsucht nach dem beherrschenden Blick. Stifters »Turmalin« verwendet eine Erzähltechnik, die den Leser mitentwirft und zum Komplizen seiner Sehnsucht macht. Sein Realismus verabschiedet und feiert die camera obscura zugleich.
Vgl. Guy Debord: La societe du spectacle. Paris 1967.
Gerhart von Graevenitz
Wissen und Sehen1 Anthropologie und Perspektivismus in der Zeitschriftenpresse des 19. Jahrhunderts und in realistischen Texten. Zu Stifters Bunten Steinen und Kellers Sinngedicht 1. Anthropologie und Perspektivismus in der Zeitschriftenpresse des 19. Jahrhunderts Zu den wichtigsten Bildungsinstitutionen des 19. Jahrhunderts, die Wissen strukturieren und ausbreiten, gehören die »Familienzeitschriften«. Diese sogenannte »Bildungspresse« stellt sich in die Tradition der Aufklärung, weil sie in aufklärerischer Absicht Wissen vermehren soll und weil sie angesichts der Wissenszersplitterung das Ideal der einen Aufklärung aufrechterhalten will. Verkürzt gesagt, die »Bildung« dieser Zeitschriften soll eine von ihrer eigenen Ausdifferenzierung zunehmend bedrohte Aufklärung zur Entdifferenzierung zwingen. In der heterogenen Vielfalt der Wissensinstitutionen und Wissenssysteme organisieren die Zeitschriften ein ebenso heterogenes Angebot von BildungsEinheiten. Beides, das Anknüpfen an die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und die Auswirkungen des Entdifferenzierungsprogramms auf die Struktur des vermittelten Wissens, läßt sich gut am Umgang der Bildungspresse mit dem anthropologischen Wissen beobachten. »Anthropologie« bezeichnet um die Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie die SpezialWissenschaft der Anthropometrie, in der die »Craniometrie« den ersten Platz einnimmt. Westermanns Illustrierte Monatshefte berichten 1857/58 von der Absicht von »Anthropologen« bei einer Südamerika-Expedition: Messungen einzelner Körpertheile sowohl als auch des Schädels an möglichst vielen Individuen von ziemlich gleichem Alter aus beiden Geschlechtern vorzunehmen und zahlreiche Photographien streng en profit und streng enface anfertigen zu lassen, um an diesen mathematisch genauen Reproductionen später Maße nehmen zu können (WIM 1857/58, S. 287).2
Neben solch fachwissenschaftlicher Anthropologie wird in den Zeitschriften der weite Plural der anthropologischen Diskurse tradiert, deren Einheit am ehesten zu fassen ist mit dem Anthropologie-Begriff vom »ganzen Menschen«, jener »im Gegenzug gegen die cartesianische Trennung von res cogitans - res extensa« gebildeten »>Wissenschaft vom Zusammenhang der tierischen Natur des 1
Vgl. zum Titel Dieter Henrich: Sehen und Wissen. Überlegungen zur Definition des Realismus. In: Prinzip Realismus. Galerie Döll, Berlin 1973. 2 Die Titel der im folgenden abgekürzt zitierten Zeitschriften: GL Gartenlaube', LIZ Leipziger Illustrierte Zeitung; ULM Über Land und Meer; WIM Westermanns Illustrierte Monatshefte.
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Menschen mit seiner geistigen^ die sich gezielt den Namen >Anthropologiephilosophia anthropologicamenschliche Philosophie< gibt«.3 Die Anthropologie des »ganzen Menschen« ist auch im 18. Jahrhundert schon eine >Einheitden< Menschen, der immer weniger auf >einer< Fläche von Erfahrung sich homogenisieren läßt. [...] Da ist zum anderen die Akzeleration der Konzeptbildungen·, zwischen dem Naturrecht des 17. Jahrhunderts und der Naturphilosophie der Romantik, die man als Ausgangs- und Endpunkt integrativer Rahmentheorieen nehmen kann, entsteht eine unwiderstehliche Pluralisierung von Diskursen, Konzepten, Perspektiven und Systemebenen. Die immer kürzeren Wellen von TheorieKonjunkturen indizieren den Verlust von »Ganzheit« und »Natur« des Menschen.4
Auch die Konzepte der Ganzheit vervielfältigen sich. >Holistische Pseudowissenschaftenharte< geometrische Konstruktionstechnik, verschiedene, auch widersprüchliche Konzeptionen des Sehens, Techniken der malerischen Repräsentation und metaphorische und ikonographische Übertragungen und Anbindungen ein unauflösbares Traditionsgeflecht bilden. Die Zentrierung der Linearperspektive ist für sich betrachtet schon ein höchst ambivalentes Phänomen. Sie ist rein deiktischer Natur, das heißt, sie konstruiert eine formale Blickordnung auf einen Punkt hin, in die jeder beliebige Betrachter eintreten kann. Sowenig die deiktische Ordnung der Personalpronomina »ich« schon zum »Subjekt« macht, sowenig ist die perspektivische Blickführung allein schon ein »subjekt-zentrierter Ordnungsraum«.10 Zum anderen hat die unendliche Vervielfältigung der zentralperspektivischen Ansichten einen unmittelbar >dezentrierenden< Effekt. 11 Die Einzelansicht mag zentriert sein, das Sehen überhaupt aber baut sich auf als die standortlose Simultaneität von Einzelansichten und sich durchkreuzender Blicke, wie sie die Zeitschriften in ihren Simultanarrangements von perspektivischen Ansichten präsentieren oder wie das Westermannsche Titelblatt sie im Plural der Blicke auf die perspektivische Landschaft direkt darstellt. Das Zentrale der Zentralperspektive ist ein Nebenaspekt, demgegenüber drei andere Aspekte für die semantische Produktivität des perspektivischen Sehens entscheidend sind. (1.) Der Konstruktivismus des Blickes und seine Gegenstände, der bestimmt ist vom geometrischen Elementarismus. Es ist üblich, das geometrisch konstruierte Sehen der Renaissance-Perspektivisten zu trennen von den physiologischen Gegebenheiten des Sehens und der »psychophysischen Raumwahrnehmung«.12 Einem geometrisierten, letzten Endes mechanistischen Sehen steht 9
Ich rekapituliere hier in sehr geraffter Form, was ich ausführlich entwickelt habe in Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes »West-östlicher Divan«. Stuttgart, Weimar 1994. 10 Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt/M. 1990, S. 74.
" Ebd., S. 81. Ebd.,S.61.
12
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dann ein natürliches psycho-physiologisches Sehen gegenüber. Die Forschung hat zwar für die Frühzeit des Perspektivismus die Überlagerung von geometrischem >prospect< und natürlichem >aspect< plausibel gemacht. Dennoch gilt die Opposition von konstruierendem und erlebendem Sehen. In der neueren Kunstwissenschaft hat Svetlana Alpers13 daraus die Kunsttypen des südlichen und des nördlichen Sehens abgeleitet. Die Regeln der geometrischen Perspektive reichen dabei direkt in die Geschichte der Anthropologie. Dürers Proportionslehre und Anthropometrie konstruiert den Menschen mit derselben Geometrie, mit deren Hilfe er seine perspektivische Repräsentation entwirft. Dürer zitierend wird Johannes Kepler den Menschen als cubus bezeichnen, wird in der Folge des frühneuzeitlichen Perspektivismus seine physikalische Optik entwikkeln und damit Newtons Optik vorarbeiten. Im 19. Jahrhundert werden sich die Fach-Anthropologie der Kraniologen und die Statistiker auf Dürers Anthropometrie berufen14 das in den Menschen selbst verlegte Konstruktionsprinzip des perspektivischen >prospectsBildungspresse< des 19. Jahrhunderts. In: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann, Reinhart Herzog (Hg.): Vergessen und Erinnern. München 1993 (= Poetik und Hermeneutik 15), S. 283-304.
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werden, um die Konstruiertheit gerade der ästhetischen Diskurse zum Thema der literarischen Darstellung zu machen. Die Textbeispiele begegnen sich in ihrer thematischen Zentrierung auf die Anthropologie. Aber sie orientieren sich an zwei verschiedenen Aspekten der perspektivistischen Konstruktion von Anthropologie. Stifters Bunte Steine richten sich auf den geometrischen Elementarismus, auf die Grundlagen des optischen Konstruktivismus. In Kellers Sinngedicht steht die Selbstbezüglichkeit des optischen Konstruktivismus im Mittelpunkt, die sich vorzugsweise im Ornament artikuliert. Vor allem aber werden beide Texte Gelegenheit geben, die bislang nur abstrakt benannte ikonographische Diskursivität des Perspektivismus anschaulicher zu machen.
2. Adalbert Stifter: Bunte Steine - Anthropomorphe Geometrie Systematisch wie seine ganze Bildung betreibt Heinrich Drendorf auch seine Kunstübungen. Er geht zurück zu den deutschen Quellen des neuzeitlichen Perspektivismus und lernt aus Dürers Traktat »Mit dem Zirkel und Richtscheid«17 die geometrischen Grundlagen des Zeichnens, übt sich am wissenschaftlichen Modellzeichnen und danach an der Malerei. In ähnlicher Weise dreigeteilt ist auch der im Nachsommer zitierte Dürersche Traktat. Auf die erweiterten Elemente der euklidischen Geometrie folgen vielfältige Anwendungen auf das zeichnerische Konstruieren von Objekten und Schriften. Den krönenden Abschluß bilden die praktischen Regeln für die Kunst des perspektivischen Zeichnens und Malens. Die schon mehrfach, etwa von Martin Selge oder Albrecht Koschorke konstatierte Stiftersche »Geometrizität«,18 die mit der geometrischen und kartographischen Vermessungskunst eng verbundene »Elementarisierung des Sehens«19 bekommt im Rückgriff auf Dürer einen präzisen historischen Bezug: Es sind die Euklidischen Elemente der Geometrie, die von Dürer wie vor ihm schon von anderen Traktatisten benutzt wurden, um die Elemente des Raums, die corpora regularia, auch platonische Körper genannt, zu konstruieren (Abb. 2). Im Timaios umschrieben, werden Würfel, Pyramide, Acht-, Zwölf- und Zwanzigflächner zu den elementaren Bausteinen des geordneten Raums. Als Bausteine des reinen Raums sind die corpora regularia zugleich Bausteine der 17
»Ich hatte wohl früher immer gezeichnet, aber mit mathematischen Linien, welche nach Rechnungssätzen entstanden, Flächen und Körper in der Meßkunst darstellten, und mit Zirkeln und Richtscheit gemacht worden waren.« Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Eine Erzählung. Hg. von Max Stefl. Darmstadt 1963, S. 37. Der hier zitierte Titel des Dürerschen Geometrie- und Perspektivtraktats lautet: Unterweisung mit dem Zirkel und Richtscheit (1525). 18 Martin Selge: Adalbert Stifter. Poesie aus dem Geist der Naturwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976 (= Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 45), S. 33. 19 Koschorke: Die Geschichte des Horizonts (Anm.10), S. 273.
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Abb. 2: Johannes Kepler: Harmonices mundi libri V. (Linz 1619). Lib II. De Congruentia Figurarum Harmonicarum: Figurae regulariae (u.a. Corpora regularia mit Darstellung der Elemente)
Materie. Der Würfel entspricht mit der Standfestigkeit seiner quadratischen Grundfläche der Stabilität der Erde. Der Achtflächner (Oktaeder), der sich wie eine Kugel aufhängen läßt, versinnbildlicht das Schweben und damit das Element der Luft. Die vierseitige Pyramide verweist mit ihrem »Minimum an Flächen« auf die »Trockenheit des Feuers«, wohingegen das Maximum an Seitenzahlen beim Zwanzigflächner (Ikosaeder) für die Feuchtigkeit des Wassers steht. Der Zwölfflächner (Dodekaeder) hat so viele Flächen wie der Tierkreis Zeichen besitzt und ist damit der Repräsentant des fünften Elements, der quinta
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essentia, des Äthers oder des Himmels.20 Diese fünf Elemente des Raums und der Materie sind schließlich auch Elemente aller menschlichen Sprache, sie stehen für die fünf Vokale. Für die Traktatschreiber der frühen Neuzeit, die an den corpora regularia die Virtuosität ihres perspektivischen Zeichnens erproben, verbinden sich mit den Elementen des Raums, der Materie und der Sprache vier Vorstellungen. (1.) Im Vordergrund steht die Idee von der Einheit der Konstruktion für das Sehen und für das Gesehene. Denn dieselben geometrischen Konstruktionsregeln, die die corpora erzeugen, werden benutzt, um das Spiegelbild des Sehens zu erzeugen, die perspektivische Repräsentation der Gegenstände. (2.) Mit der Idee der Konstruktion verbunden ist die Idee der Materialisation. Die frühneuzeitlichen Künstler sehen die corpora als Strukturmodelle aller natürlichen Formen und ihrer perspektivischen Simulation. (3.) Die Traktatschreiber gestalten den Elementarismus der Signifikation, entwickeln einen Perspektivismus der Schrift und des Verstehens. (4.) Schließlich benutzen sie die corpora, um die Dimensionenwechsel der medialen Vermittlung, die zweidimensionale Simulation virtueller Räumlichkeit als Problem darzustellen. Die corpora sind aus Flächen gefaltet, dreidimensionale Raumgitter, die sich wiederum auf die Fläche zurückprojizieren lassen und die dann als »Netzabwicklungen« ornamentale Gittermuster bilden. Dürer hat in seinem Geometrietraktat die corpora und ihre Flächengitter nebeneinander gestellt und in solchen ludi geometrici die Grundoperation des perspektivischen Handwerks inszeniert, den messenden Blick durchs velamen, durch den Netzrahmen, der die Gegenstände »vergittert«21 und als vergitterte für die geometrisierende Blickkonstruktion zubereitet. Dürer zeigt in seinem Traktat die handwerkliche Bedingung der Möglichkeit von Perspektive, den ZeichenKünstler, der vor dem geometrischen Gitter sitzt. Bei dem Nebeneinander von dreidimensionalem corpora-Elementarismus und seinen flächigen Netzabwicklungen, die das mediale Abhängigkeitsverhältnis von imaginärer Dreidimensionalität und flächigem Geometriegitter darstellt, setzt Stifters Zyklus Bunte Steine ein. Die erste Erzählung »Granit« gestaltet die corpora-Metaphonk. Die letzte, freilich genetisch älteste Erzählung »Bergmilch« setzt dem ihre »merkwürdige Gitteremphase«22 als Komplement gegenüber: »Außerhalb des Gitters stand auf dem Feldwege, der um den Garten ging, ein Wagen, in demselben saß ein einzelner Mann, der einen weißen Mantel um die Schultern hängen hatte, und unverwandt auf die Gesellschaft hinein sah«
20
Johannes Kepler: Harmonice mundi. Gesammelte Werke, Bd. VI. Hg. von Max Caspar. München 1940, Liber secundes, S. 80. Vgl. Johannes Keplers Kosmische Harmonie. Hg. und übertragen von W. Harburger [1927]. Frankfurt/M. 1980, S. 227-230. 21 Koschorke: Die Geschichte des Horizonts (Anm. 10), S. 73. 22 Selge: Adalbert Stifter (Anm. 18), S. 56.
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(S. 319).23 Der Zyklus wird gerahmt von der Basisikonographie des frühneuzeitlichen Perspektivismus, dem corpus und dem velamen. Das erste der corpora regularia, der cubus, erscheint variiert zum Quader als »großer achteckiger Stein von der Gestalt eines sehr in die Länge gezogenen Würfels« (S. 17, Hervorh. G.v.G.). Dieser Granitwürfel wird zu einem der Standorte für die »große Umsicht« in die Landschaft, die in »Granit« immer wieder und von wechselnden Blickpunkten aus eröffnet wird: die Verbindung des corpus regularium mit dem Motiv des Sehens ist zweifelsfrei. Die Würfelform gliedert auch die Abschnitte der Erzählung. Nach der »fürchterlichen Wendung der Dinge« (S. 21), nach dem Strafgericht der Mutter, findet der kindliche Protagonist ersten Halt an einem »große(n) Steinwürfel« im »Vorhause« (S. 21). Später bezeichnet der »blaue Würfel« (S. 41) einer Burgruine den Handlungsort der Pest- und Pechbrenner-Geschichte, der Binnenerzählung von »Granit«, wobei der Würfel der Kinderkatastrophe und der Würfel der Pestgeschichte ebenso wie das beiden gemeinsame Pechbrenner-Motiv ein Analogiekontinuum zwischen individueller und kultureller, aktueller und vergangener Unglücksbewältigung herstellen sollen. In der traditionellen Beschreibung der corpora steht dem cubus, der die Erde symbolisiert, die »Form« der Luft gegenüber, das Oktaeder, das wie eine Kugel an seinen Polen aufgehängt werden kann und somit ein Bild des luftigen Schwebens und der Beweglichkeit gibt. Stifter setzt dem eckigen Granit das Runde entgegen, die »rundlichen, breiten Gestalten« (S. 58) der »Kalkstein«-Landschaft. In »Katzensilber« ist es der »Nußberg«, »der ringsherum rund ist« (S. 229) und der wie der Granitwürfel eine weite Umsicht erlaubt. Zudem wiederholt sich der runde Berg in der organischen Form der Haselnüsse, von denen er seinen Namen trägt. Die Haselnüsse wiederum haben über ihre Form und über ein Wortspiel ihre Entsprechung in den Hagel-Körnern. In den durch die Luft fallenden Eisfcwge/« hat die Form des Runden zur alten Ikonographie der corpora-Elemente zurückgefunden. Über diese Ikonographie hinaus gilt für Stifter ein erweitertes genetisches Repertoire der elementaren Raumformen. Wie er bei seinem Lehrer Andreas Baumgartner nachlesen konnte, waren das Eckige und das Runde die Elementarformen des Anorganischen und des Organischen, der toten und der belebten Natur: In der ganzen Natur ist das Bestreben der kleinsten Theile, sich zu einem regelmäßig geformten Ganzen zu vereinigen, unverkennbar, und diesem gemäß zeigen auch sowohl die organischen als unorganischen Körper, wenn sie sich ungestört bilden konnten, eine auffallende Symmetrie ihres Baues; nur unterscheiden sich beide Naturreiche dadurch von einander, daß in ersterem die runden, in letzterem die eckigen Formen vorwalten. Die regelmäßigen, symmetrisch polyedrischen Körper des Mineralreichs heißen Krystalle. Die Natur liefert uns unzählige Körper dieser Art; an manchem erkennt man die Regelmäßigkeit seines Baues nur darum nicht, weil er ein Aggregat von sehr kleinen regelmäßig gebildeten Thei-
23
Die Seitenzahlen im Text besziehen sich auf Adalbert Stifter: Bunte Steine. Späte Erzählungen. Hg. von Max Stefl. Darmstadt 1963.
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len oder ein Bruchstück eines größeren Krystalls ist. Man kann aber auch viele derselben durch Kunst erzeugen.24
Wie Stifter als Rahmung des Zyklus dem stereometrischen Granit das plane Gitter in »Bergmilch« gegenüberstellt, so stellt er entsprechend im »Katzensilber« neben die Kugelform die Täfeichenstruktur des Glimmers und die formanalogen Glastafeln der Gewächshäuser. Wichtig ist das spezifische ikonographische System, das Stifter aufruft: nicht allein die Geometrie der corpora zählt, sondern ihr omnipräsenter Bezug auf das Motiv des Sehens und auf den Medienwechsel von Dreidimensionalität und Fläche. Nicht schlechthin die platonischen Körper, sondern die corpora der Perspektivisten sind gemeint und mit ihnen die Konstruktionseinheit von Sehen, Gesehenem und Repräsentation. Die konstruktiven Raumelemente sind auch Elemente der Materialisation, die Stifter in drei Aspekten zeigt. Der »Granit« steht für das Bauprinzip der Materialisation, die Vereinigung verschiedener Elemente. Schon Goethe hatte die geologische Dreieinigkeit des Granit zur Exemplarität erhoben. Zwei Glieder dieser Dreieinigkeit, den Quarz und den Glimmer, läßt Stifter mit Turmalin zusammen das geometrische Prinzip der mineralischen Materialisation verkörpern, die »polyedrischen Körper des Mineralreiches«. Darüber hinaus verweist er auf die geologische Materialisation der Erde aus Mineralien und Gesteinen, wenn er in »Granit« und »Kalkstein« das eruptive Urgestein und das Sedimentgestein, die beiden >vulkanischen< und >neptunischen< Bauelemente des festen Erdkörpers nebeneinander stellt. Im Gegenüber von »Granit« und kalkiger »Bergmilch« kommt zudem in zwei extremen Varianten die Bauart der gestuften geologischen Materialisation zur Anschauung, die Kombination der Elemente zu Aggregaten.25 Granit ist das ganz feste, zur Einheit verschmolzene Aggregat, Bergmilch ein »kreide«ähnliches Pulver aus feinen Kalkspatrhomboederchen, das in Höhlen und Klüften der Kalksteingebirge vorkommt«. Es ist »genau genommen, kein Stein, sondern ein lockeres kristallines Aggregat«.26 Ein »lockeres Aggregat«, eine Kombination nach wechselnden Zuordnungskriterien stellt der Zyklus der Bunten Steine auf textueller Ebene dar. Entsprechend der Differenz von »Gestein« und »Mineral« stehen Granit, Kalkstein und Bergmilch einerseits Turmalin, Bergkristall und Katzensilber andererseits gegenüber. Die Farbe der »bunten Steine« trennt die dunklen Granit und Turmalin von den klaren, hellen, weißen oder silbernen Mineralien und Steinen wie Kalkstein, Quarz, Katzensilber und Bergmilch. In den einzelnen Texten setzt sich diese lose, die Gesichtspunkte wechselnde metaphorische Elementenkombinatorik fort. Meteorologie ist zum Beispiel eine ereignishafte Konstellation
24
Andreas Baumgartner: Die Naturlehre nach ihrem gegenwärtigen Zustande mit Rücksicht auf mathematische Begründung. Wien 1829, S. 95. 25 Vgl. ebd., S. 95, S. 99. 26 Selge: Adalbert Stifter (Anm. 18), S. 56.
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der fünf Elemente. Die Kinder, um ein anderes Beispiel anzuführen, werden beschrieben als Kombinationen, als Aggregate aus den Merkmalen ihrer Eltern. Mit der geometrischen Konstruktion und elementaren Materialisation verbunden ist in der Ikonographie der corpora regularia der Elementarismus der Signifikation. Der platonische Phonologismus, der die fünf Vokale zu den Grundbausteinen der Sprache machte, erfährt in der Doktrin des frühneuzeitlichen Perspektivismus eine medienhistorische Konkretisation. Der geometrische Elementarismus erfaßt auch die Schrift. In Dürers Geometrietraktat steht die geometrische Konstruktion von Lettern oder ihre modulhafte Kombination aus wenigen Grundelementen gleichberechtigt neben der Konstruktion der corpora regularia und semiregularia. Der Buchdruck behandelt die aus den Elementen der Geometrie konstruierten Lettern selbst als Elemente, deren mechanische Zusammensetzung den Schreibprozeß ablöst, wobei eine Voraussetzung für das reibungslose Zusammensetzen der Buchstabenreihen die statistische Vorausberechnung von Letternhäufigkeiten ist. Die Sprachstatistik der Buchdrucker und die Anthropometrie der Maler und Zeichner werden zu frühneuzeitlichen Quellen der Statistik.27 Daß die Theorie der Hermeneuten sich bis hin zum »Sehepunkt« immer wieder an der Metaphorik der Perspektivisten ausgerichtet hat, verweist auf das den Schrift- und Bildmedien gemeinsame Ideal der »imaginären Transparenz«: Die Materialität der Druckseite soll wie die Materialität der opaken Bildfläche transparent werden für imaginäre Sinn- und Gegenstandswelten. Zugleich hat dieser gemeinsame illusionistische Transparenzbegriff eine einheitliche materiale Basis in der geometrisch-mechanistischen Technik seiner konstruktiven Hervorbringung. Die platonische Analogie von fünf corpora, fünf Elementen und fünf Vokalen ist drucktechnisch aktualisiert zur Konstruktionseinheit von Gegenstandswelt, von perspektivischem Blick und von Textreproduktion. Stifter macht daraus die Konstruktionseinheit von natürlicher Gegenstandswelt und kultureller Zeichenwelt, die Konstruktionseinheit von Sehen und Verstehen. Semiose und Asemiose, die Vielzahl von Zeichenklassen, ihr Gebrauch und ihre Lektüre, ihre Rückbindung an das Dispositiv des Perspektivismus, an die Gesetzmäßigkeit einer sichtbaren Welt, die als sichtbare immer auch geometrisierbare Welt ist, das ist der eigentlich zentrale Themenkomplex der Bunten Steine. In Stifters Erzählungen wird die gegenständliche Welt als zeichenhafte Welt gesehen. Verstehen ist ein perspektivisches Sehen und Durch-Schauen der Zeichen. Den von der corpora-Ikonographie vorgezeichneten Zusammenhang von geometrischen, materiellen und sprachlichen Elementen inszeniert Stifter als Identität von optischem und semiotischen Handlungsraum. Die Wanderung von Großvater und Enkel in »Granit« wird zu einer »Art Trainingsprogramm signifikativer und verifikativer Geschicklichkeit«.28 Das 27 28
Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit (Anm.8), S.92ff. Selge: Adalbert Stifter (Anm. 18), S.43 über »Zwei Schwestern«.
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Stiftersche Sehen ist eng verbunden mit dem Zeigen und Benennen: >»Siehe, das ist die Machtbuche, das ist der bedeutsamste Baum in der Gegend»Siehst du, diese Rauchsäulen kommen alle von den Menschen, die in dem Walde ihre Geschäfte treibenabstrakte< Zeichengebrauch umerzogen werden zu dem, was in »Granit« und »Kalkstein« als menschlicher Kommunikations- und Verständniszusammenhang dargestellt worden ist. Wir suchten, ihm [dem Mädchen] Geschmack an Verfertigung von allerlei weiblichen Handarbeiten beizubringen, und endlich durch Gespräche und durch Lesen einfacher Bü-
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eher hauptsächlich aber durch Umgang jene wilde und zerrissene ja fast unheimliche Unterweisung in einfache übereinstimmende und verstandene Gedanken umzuwandeln und ein Verstehen der Dinge der Welt anzubahnen (S. 165).
Reizvoller als diese etwas dick aufgetragene Botschaft des Nachachtundvierzigers ist die erzählerische Pointe, in der Stifter den Verfall der Zeichensprachen verknüpft mit dem Verfall des perspektivischen Sehens. Der Rentherr besitzt eine »Heldenstube« (S. 129). In dem Zimmer waren alle Wände ganz vollständig mit Blättern von Bildnissen berühmter Männer beklebt. Es war kein Stückchen auch nur handgroß, das von der ursprünglichen Wand zu sehen gewesen wäre. Damit er, oder gelegentlich auch ein Freund, wenn einer kam, diejenigen Männer, die ganz nahe oder hart am Fußboden sich befanden, betrachten konnte, hatte er ledergepolsterte Ruhebetten von verschiedener Höhe und mit Rollfüßen versehen machen lassen. Das niederste war eine Hand hoch. Man konnte sie zu was immer für Männern rollen, sich darauf niederlegen, und die Männer betrachten. Für die hoch und höher hängenden hatte er doppelgestellige Rolleitern, deren Räder mit grünem Tuche überzogen waren, welche Leitern man in jede Gegend rollen und von deren Stufen aus man verschiedene Standpunkte gewinnen konnte. Überhaupt hatten alle Dinge in der Stube Rollen, daß man sie leicht von einer Stelle zu der ändern bewegen konnte, um im Anschauen der Bildnisse nicht beirrt zu sein. In Hinsicht des Ruhmes der Männer war es dem Besitzer einerlei, welcher Lebensbeschäftigung sie angehört hatten, und durch welche ihnen der Ruhm zuteil geworden war, er hatte sie wo möglich alle (S. 123f.).
Sehen im geschlossenen Raum von Rolleitern oder im Liegen von rollbaren Ruhebetten aus, das ist wiederum eine zivilisationskritische Karikatur, ist groteske Umkehr jenes natürlichen Sehens, das Großvater und Enkel in »Granit« beim Wandern in der Gebirgslandschaft einüben. Aus den Standpunkten des perspektivischen Sehens sind Liegepunkte geworden. Stifter geht noch einen Schritt weiter. Der Schauspieler, der auf dem Theater seine Rollen realisiert, wird zum großen Liebhaber dieser skurrilen Kunst des Sehens auf /?o//sesseln: In Bezug auf die an die Wände geklebten Bildnisse berühmter Männer legte er sich auf das niederste Ruhebett, und musterte die untere Reihe durch. Der Rentherr mußte ihm bei jedem erzählen, was er von ihm wußte, und wenn beide nichts Ausreichendes von einem Manne sagen konnten, als daß er berühmt sei, so suchten sie Bücher hervor, und forschten so lange, bis sie Befriedigendes fanden. Dann legte er sich auf die höheren Ruhebette, dann saß er auf den nächsten, dann stand er, und endlich befand er sich auf den verschiedenen Stufen der Leiter. Bei dieser Gelegenheit lernte er die Bequemlichkeit solcher Ruhebette kennen, und der Rentherr mußte ihm einen großen Rollsessel machen lassen, der eine gepolsterte Rücklehne und gute Seitenarme hatte. - In diesem Rollsessel saß er gerne, wenn er kam, und man überließ sich der Plauderei (S. 129f.).
Das Wortspiel »Rolle«/»Rollsessel«, möglicher Nachklang von Stifters JeanPaul-Verehrung, inszeniert auf textueller Ebene die Botschaft der Erzählung: Die Gemeinsamkeit von Sehkunst und Schauspielkunst ist ihre Entfremdung von den natürlichen Gegenständen und Gefühlen, so wie die Identität des Signifikanten, »Roll/e« die Bezüge der Signifikate >Rollsessel< und >Schaupielerrolle< auf völlig verschiedene Gegenstandsbereiche verschwinden läßt. Die Gleichheit der abstrakten Zeichen schiebt sich vor die Differenz des Realen. In der Gleichheit des Abstrakten verschwinden die Differenzierungen des natürlichen
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Sehens, Bezeichnens und Verstehens. Ganz anders motiviert ist das vergleichbare Wortspiel »Hagel«/»Haseln« in »Katzensilber«. Dort entspricht der Signifikantenähnlichkeit die sichtbare Ähnlichkeit der bezeichneten Dinge und ihrer runden Form. Die sichtbare Ähnlichkeit wird übersetzt in semiotische Ähnlichkeit. »Turmalin« erzählt von der Einheit des Sehens und des Bezeichnens im zivilisatorischen Verfall. »Bergkristall« führt in eine Region jenseits aller Zivilisation und aller natürlichen menschlichen Lebensräume, in eine Region, in der vom Verschwinden aller Zeichen und aller Sichtbarkeit tödliche Bedrohung ausgeht. Differenz ist Bedingung und Kennzeichen von Kultur. Auch die Natur, in der Menschen leben können, ist durch Differenzen gegliedert und geordnet. Der Berg, Bezugspunkt der Talbewohner, »Gegenstand der Betrachtung der Bewohner« und »Mittelpunkt vieler Geschichten« (S. 170) hat eine »Jahresgeschichte«, den vom Unterschied und Wechsel der Jahreszeiten abhängigen Wechsel seines Aussehens. Zu der am Aussehen des Berges anschaubaren inneren Differenz des Tales kommt die äußere Differenz zum Nachbartal hinzu, von dem es »durch Bergrücken und durch Sitten geschieden« (S. 181) ist: »So sind doch Sitten und Gewohnheiten in den beiden Tälern so verschieden, selbst der äußere Anblick derselben ist so ungleich, als ob eine große Anzahl Meilen zwischen ihnen läge« (S. 175). Das Überwinden der Differenz- und Grenzlinie zwischen den beiden Talkulturen wird zum Handlungskern der Erzählung. Die Mutter aus dem Nachbartal macht die Kinder zu Fremdlingen im Heimattal des Vaters. Der weihnachtliche Gang über die Grenzlinie ins Tal der Mutter und die mißlungene Rückkehr wird zu einer fast tödlichen Initiationswanderung in die »Heimat« des väterlichen Tales: Die Kinder waren von dem Tage an erst recht das Eigentum des Dorfes geworden, sie wurden von nun an nicht mehr als Auswärtige sondern als Eingeborne betrachtet, die man sich von dem Berge herab geholt hatte. Auch ihre Mutter Sanna war nun eine Eingeborne von Gschaid(S.221).
Daß die Grenzlinie der beiden Talkulturen semiotisch zu lesen ist, verdeutlicht das Merkzeichen der roten »Unglückssäule«, die auf dem trennenden Bergrükken steht. Etwa auf der größten Erhöhung desselben, wo nach und nach sich der Berg in das jenseitige Tal hinab zu senken beginnt, steht eine sogenannte Unglückssäule. Es ist einmal ein Bäcker, welcher Brot in seinem Korbe über den Hals trug, an jener Stelle tot gefunden worden (S. 172t).
Der Fall der Zeichen beginnt schon auf dem Hinweg der Kinder ins Heimatdorf der Mutter mit der umgestürzten Unglückssäule. Der Schneefall, der beim Rückweg einsetzt, bedeckt die gefallene Säule und macht den Bergrücken zeichenlos. Die eigentliche Katastrophe ereignet sich aber dadurch, daß der Schnee nicht nur die Zeichen bedeckt, sondern überhaupt alle Differenz auslöscht. Und wo nichts durch Differenz Bestimmtes zu sehen ist, da ist überhaupt
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nichts zu sehen. »Aber sie erblickten nichts. Sie sahen durch einen trüben Raum in den Himmel« (S. 195). Das unterscheidungslose »blendende Weiß« entspricht dem orientierungslosen »Ich weiß es nicht« (S. 196). Es war wieder nichts um sie als das Weiß, und ringsum war kein unterbrechendes Dunkel zu schauen. Es schien eine große Lichtfülle zu sein, und doch konnte man nicht drei Schritte vor sich sehen; alles war, wenn man so sagen darf, in eine einzige weiße Finsternis gehüllt, und weil kein Schatten war, so war kein Urteil über die Größe der Dinge, und die Kinder konnten nicht wissen, ob sie aufwärts oder abwärts gehen würden, bis eine Steilheit ihren Fuß faßte, und ihn aufwärts zu gehen zwang (S. 197f.).
»Trüber Raum« und differenzlose, die Unterscheidung von Hell und Dunkel verschluckende, wissens- und urteilslose, unsichtbare Weiße, das sind Umschreibungen der chora, des ungeordneten Raums im Platonischen Timaios, der gestaltlosen Gestaltgrundlage, der »Amme alles Werdens«, die noch ungeordnet, chaotisch ist. In diese chora setzt der Schöpfergott den Anfang, indem er den Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft und Himmel »ihre bestimmten Formen nach Gestalt und Zahl verleiht«,29 die Formen nämlich der corpora regularia. Mit der geometrischen Ordnung des ungeordneten Raums zugleich wird, so die neuzeitliche Deutung, die Ordnung des Sehens und des Sichtbaren geschaffen. Die beiden Kinder überschreiten die Grenze von der trüben Schnee-c/zora zur Region der reinen corpora-Gestalten der starren Fels- und Eisformationen, die im Namen des farblosen »Berg-Kristalls« ihren Inbegriff findet. Immerhin erlaubt diese Welt der reinen Formen jenseits der chora den Kindern das Überleben. Aber die Zeichen der menschlichen Kultur, die Lichter und die Glockenklänge dringen nicht vor in die kosmische Kälte der Kristallgeometrie und der Himmelskonstellationen. In den fernen Ländern draußen waren unzählige Kirchen und Glocken, und mit allen wurde zu dieser Zeit geläutet, von Dorf zu Dorf ging die Tonwelle, ja man konnte wohl zuweilen von einem Dorfe zum ändern durch die blätterlosen Zweige das Läuten hören: nur zu den Kindern herauf kam kein Laut, hier wurde nichts vernommen; denn hier war nichts zu verkündigen. In den Talkrümmen gingen jetzt an den Berghängen die Lichter der Laternen hin, und von manchem Hofe tönte das Hausglöcklein, um die Leute zu erinnern; aber dieses konnte um so weniger herauf gesehen und gehört werden, es glänzten nur die Sterne, und sie leuchteten und funkelten ruhig fort (S. 208f.).
Wie der »trübe Raum« in der Differenz der corpora seine Ordnung findet, so erfährt die Weiße des Schnees in der Differenz des Lichtspektrums seine Brechung zur Sichtbarkeit. In diesem Augenblicke ging die Sonne auf. Eine riesengroße blutrote Scheibe erhob sich an dem Schneesaume in den Himmel, und in dem Augenblicke errötete der Schnee um die Kinder, als wäre er mit Millionen Rosen überstreut worden. Die Kuppen und die Hörner warfen sehr lange grünliche Schatten längs des Schnees (S.211).
29
Platon: Timaios. In: Sämtliche Dialoge, Bd. VI, übersetzt und erläutert von Otto Apelt. 2. Aufl. Leipzig 1922 (= Philosophische Bibliothek, Bd. 179), S.73ff.
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Doch die natürlichen Ur-Differenzen und Formungen des Ungeformten werden immer wieder ausgelöscht in der Orientierungslosigkeit: »aber sie sahen kein Tal, keine Gegend, sondern überall nur Weiß - lauter Weiß« (S. 206). »Auch aus dem bloßen Anblicke konnten sie nicht erraten, welche Gegend auf den Hals führe, da alle Gegenden gleich waren. Schnee lauter Schnee« (S. 214). Die Rettung kommt unvermittelt, ist wunderbar und geschieht als Heimholung in ein synästhetisches Konzert der menschlichen Signalsprachen: »Hirtenhorn«, »Schreien«, »rote Fahne«, »Rauchsäulen«, »Böllerschüsse« und das »Glöcklein, das sanft und fein zu ihnen heraufkam, und das erste Zeichen war, das ihnen die niederen Gegenden wieder zusandten« (S. 216). Erst mit dem »Klang« der fünf Vokale sind die fünf corpora als Elemente des Raums, der Materie und der Sprache auch Elemente eines von Menschen bewohnbaren Kosmos. Der Granit- Würfel, das erste der platonischen corpora-Elemente, war Standort und geometrische Grundlage des Sehens, das über die semiotische Didaxe auch zur Grundlage der Zeichenkultur wurde. In »Kalkstein« verschränkten sich in den Protagonisten messende Geometrie und die Kultur der anthropomorphen Zeichen, die moralisch besetzten psychischen und sozialen Gedächtnissprachen. »Turmalin« zeigte die moralische Dimension dieser Verschränkung ex negativo, als Korruption der Zeichen und des perspektivischen Sehens. »Bergkristall« zerlegte mit analytischer Radikalität, was bisher als Einheit dargestellt wurde. Die differenzlose chora, die Grundlage des geometrisierten Raumes und die Welt der reinen Formen wird als Region des Todes abgeschieden von der natürlichen Welt des Sichtbaren und der Lebenswelt der menschlichen Zeichen. Wie in »Granit« benutzt Stifter wieder die corpora-Ikonographie der Perspektivisten, um nun im Gegenzug gegen »Granit« der Verschmelzung der Elemente die feindselige Trennung von konstruierbarer physischer Welt und signifikativer Lebenswelt entgegenzusetzen. Mit den beiden abschließenden Erzählungen »Katzensilber« und »Bergmilch« kehrt der Zyklus zur harmonisierenden Position von »Granit« und »Kalkstein« zurück. Der granitenen Würfelform entspricht in »Katzensilber« die gleichermaßen elementare Kugelform, der großväterlichen die großmütterliche Zeichendidaxe. In »Bergmilch« trägt eine einzige Figur die Motive der Geometrie, der Optik und der psychisch-sozialen Semiotik, die »Kalkstein« in zwei Protagonisten verschränkt hatte. Der soldatische Held in »Bergmilch« ist im topograpischen Zeichnen geschult und in der Lage, nächtlich militärtechnisch verwertbare Zeichnungen zu verfertigen. Und er trägt einen »weißen Mantel«, der wie die »weiße Wäsche« in »Kalkstein« Merkzeichen einer indirekten erotischen Begegnung ist. Sein »Blick durchs Gitter« ist ein doppelter Blick. Er ist perspektivischer Blick durchs geometrische Raumraster und Blick auf eine psychische Gedächtnisspur. Diese narrativen Zusammenhänge hat Stifter mit dem viel besprochenen »sanften Gesetz« der »Vorrede« und mit ihrer zweimaligen Apostrophierung des »Menschenforschers« (S. 9) unmißverständlich bezogen auf die »Anthropo-
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logie des ganzen Menschen« und auf den Zusammenhang von »äußerer Natur« und »innerer Natur des menschlichen Geschlechtes« (S.7f). Daß sich zwischen seiner visuell geleiteten Beschreibungskunst und dem Anspruch anthropologisch relevanter Menschengestaltung in der Literatur ein Widerspruch auftun könnte, wie man ihm kritisch vorhielt, mußte Stifter zurecht erstaunen. War doch schon im Bildungsdiskurs der Zeitschriftenpresse die Einheit des geometrisch konstruierten perspektivischen Blicks die wirksamste Einheitssuggestion für die Anthropologie des ganzen Menschen. Wie in den Zeitschriften legt sich auch in Stifters Erzählungen über die Vielheit der anthropologischen Register das doppelte Vereinigungsdispositiv, doppelt als literarisch-philosophischer Diskurs der menschlichen Ganzheit und als Dispositiv seiner konstruktiven Vereinigung im Bild. Stifter führt Anthropologismen verschiedener Provenienz an, die Basisdifferenz von Natur und Kultur mit ihrer zivilisationskritischen Pointe (»Turmalin«), die ethnographische Unterscheidung (»Katzensilber«), die Entwicklungspsychologie (»Kalkstein«), oder die der >Erfahrungsseelenkunde< nahestehende Fallstudie, die in der Individualität der Ausnahmenaturen (»Kalkstein«, »Turmalin«, »Bergmilch«) das Wirken der anthropologischen Gesetzmäßigkeiten analysiert. Der perspektivische Blick geht über alle Erscheinungen der toten und der lebendigen, der menschlichen und der außermenschlichen Natur und zeigt in seinen kulturhistorischen Zurichtungen und Diskursen, daß in der Analogisierung von Konstruktion, Materialisation und Signifikation die sichtbare Einheit all dieser Vielheiten zu suchen ist. Elementar ist allerdings der Unterschied in der Funktion des perspektivistischen Blickdispositivs in den Zeitschriften und bei Stifter. Die Zeitschriften üben in eine optische, eine nur optische Suggestion der Anschauungs-, Bild- und Blickeinheit alles Dispersen ein. Stifter hingegen legt den Konstruktivismus dieses Einheitsdispositivs bloß. Er suggeriert nicht einfach nur die Anschaulichkeit der perspektivisch repräsentierten Gestalten. Er analysiert vielmehr die konstruktiven Bedingungen der Möglichkeit, eine Figur des »ganzen Menschen« anschaulich werden zu lassen. Stifter führt die Leserinnen und Leser in die geologische Verschmelzungsmetaphorik von »Granit«. Wie im Granit Feldspat, Quarz und Glimmer eng verbunden sind, so in Stifters »Granit« Sehen und Verstehen, geometrische und semiotische Ordnung, physikalische und moralische Natur, Konstruktion, Materialisation und Signifikation. Der geologischen folgt die losere personale Vereinigungsinszenierung in »Kalkstein«, die Freundschaft von Geometer und Zeichenstifter. Dann aber verfällt das Vereinte (»Turmalin«) und zeigt in radikaler Dekomposition (»Bergkristall«) die isolierte Reinheit der Elemente und die Lebensfeindlichkeit der vorelementaren Differenzlosigkeit. Die Dekomposition wird zurückgenommen, findet aber nur zurück zum >LosenAggregat< der »Bergmilch«. Der zyklische Durchgang durch Komposition und Dekomposition macht deutlich, was die literarische Konstruktion des anthropologischen Wissens im perspektivischen Dispositiv sein kann, nämlich eine bis zur »Amme des Werdens« zurückführende Analyse aller geometri-
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sehen, materiellen und semiotischen Bausteine, aus denen der Anthropos als »Aggregat« zusammengefügt werden kann. Perspektivismus und Anthropometrie haben gemeinsame historische Wurzeln. Im perspektivistischen Diskurs, insbesondere in der platonisierenden Ikonographie der corpora, soll aber die ganze, die physikalische und die moralische Natur des Menschen sich als konstruierbare zeigen. Der Zyklus baut für seine Anthropologie einen perspektivischen Rahmen auf: Der Blick vom cubus (»Granit«) und der Blick durch das Gitter (»Bergmilch«), das Element des darzustellenden Raums und die Flächengeometrie des darstellenden Mediums, umschließen Sichtbarkeit und Verstehbarkeit der Menschennatur. Die Sichtbarkeit und die Verstehbarkeit der Menschennatur aber bleiben Konstrukte, Aggregate aus geometrischen, materiellen und semiotischen Elementen.
3. Gottfried Keller: Das Sinngedicht - Perspektivismus und concettistische Anthropologie Ein direktes und ein indirektes Goethe-Zitat bestimmen am Anfang von Kellers Sinngedicht die Position des Naturforschers. Die literarische Leitfigur des neuzeitlichen Wissensanspruchs, Faust, ist »ins Moderne, Bequeme und Zierliche übersetzt« worden (S. 97).30 Dieser moderne Faust beschäftigt sich mit dem Auf-die-Folter-Spannen von Lichtstrahlen, mit dem experimentum crucis der Newtonschen Optik, das Goethe im >Polemischen Teil< der Farbenlehre karikiert und im >Historischen Teil< zur eigentlichen Trennmarke zwischen seinem und .dem Newtonschen System erklärt.31 Zu Zeiten von Kellers Naturforscher Reinhart ist dieses experimentum crucis unverändert aktuell, zum Beispiel in Joseph Fraunhofers »Bestimmung des Brechungs- und Farbentrennungs-Vermögens verschiedener Glasarten, in Bezug auf die Vervollkommnung achromatischer Fernröhre«. Der Newtonianer Reinhart arbeitet offenbar an einer weiteren »Vervollkommnung« der Fraunhoferschen Erkenntnisse. Dabei rächt sich die von den Newtonianern vernachlässigte Physiologie des Auges. Der Folterer des Lichtstrahls wird durch Schmerz zurückgetrieben zu dem, was nur in der Goetheschen Farbenlehre Teil der optischen »Wissenschaft« ist, zur moralischen Dimension der Naturphänomene, ihrer »sinnlich-sittliche(n) Wirkung«.32 30
Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf Gottfried Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Band 6, hg. von Dominik Müller. Frankfurt/M. 1991. 31 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. In: Goethes Werke Bandl4.1. Aufl. München 1982 (= Goethes Werke in 14 Bänden. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz), S. 148, S. 151, dazu Kommentar S. 321 mit Zitat aus Farbenlehre. Polemischer Teil, § 114. 32 Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. Sechste Abteilung: Sinnliche-sittliche Wirkung der Farbe, §758. In: Goethes Werke Band]3. 9. Aufl. München 1982 (= Goethes Werke in 14 Bänden. Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich Trunz), S. 494.
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Reinhart, der über seiner Naturwissenschaft die »moralischen Dinge« (S. 99) vernachlässigt hat, fühlt sich von seinen Augen zurückgelenkt zu einer Wissensform, die von jeher physikalische und moralische Natur zu verbinden trachtet, zur Anthropologie. [...] in der Besorgnis um seine Augen stellte er sich all die guten Dinge vor, welche man mittelst derselben sehen könne, und unvermerkt mischte sich darunter die menschliche Gestalt, und zwar nicht in ihren zerlegbaren Bestandteilen, sondern als Ganzes, wie sie schön und lieblich anzusehen ist und wohllautende Worte hören läßt (S.99f.).
Keller deutet auch die Zukunft dieses zum Goetheanertum bekehrten Newtonianers an. Reinhart arbeitet noch vor dem großen Paradigmenwechsel der Darwinschen »natürlichen Zuchtwahl« (S. 97f.). Die Populärphilosophen des Darwinismus, Haeckel oder David Friedrich Strauß, werden den Dualismus von physikalischer und moralischer Natur aufheben und wiederum Goethe zu einem Propheten ihres Monismus machen. Vor diesem Hintergrund läßt Keller seinen Naturforscher einen unerwarteten »Einfall« ausführen. Angeregt von Lessings »Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm und einige der vornehmsten Epigrammisten«33 liest er »Sinngedichte des Friedrich von Logau« (S. 100), deren eines er zum Leitfaden seiner anthropologischen »Experiment(e)« machen will, den Anthropologen mit diesem Epigramm zum Pygmalion stilisierend: Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen? Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen.
Wichtiger als der Inhalt des konkreten Epigramms ist das Epigrammatische, der Wechsel Reinharts von der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode zum literarischen Verfahren des Concettismus. Für das Thema »Perspektivismus« entscheidend ist, daß es in der Traktatliteratur zum Concettismus eine etablierte metaphorische Beziehung zwischen Optik und literarischer Schreibweise gibt. Am direktesten angesprochen wird diese Beziehung in Emanuele Tesauros »Aristotelischem Fernrohr«, so daß, wie gleich noch deutlicher wird, Reinharts Wechsel von der naturwissenschaftlichen Optik zur Epigrammatik sich als ein traditionelles literarisches Verhalten erweist, und zwar als der seit dem 17. Jahrhundert etablierte metaphorische Wechsel von Perspektivismus zum Concettismus, der ein Wechsel in beiden Richtungen sein kann. Keller spricht auf der Ebene des Inhalts wie auf der Ebene des Verfahrens das Thema der >literarisierten Naturwissenschaft an. Sein Protagonist ist ein zum Goetheaner bekehrter Newtonianer - und zwar in der Perspektive des literarisierten monistischen Darwinismus, und er läßt ihn in eine Handlung eintreten, deren Konstruktionsprinzip eine alte Verschränkung von Naturwissenschaftlichem und RhetorischLiterarischem zur Grundlage hat. Gerade aber in Goethes Newton-Kritik ist 33
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Fünfter Band: Literaturkritik, Poetik und Philosophie. München 1973, S. 420-530.
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diese Verschränkung als methodisches Prinzip angesprochen, denn Newton habe verkannt, »welcher mühseligen Kunstgriffe es bedürfen werde, die Anwendung seines hypothetischen Apergus durch die Erfahrung durchzuführen«.34 Friedrich Schlegel hat »die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen« als »bonmots der Gattung« bezeichnet: »Das sind sie durch die überraschende Zufälligkeit ihrer Entstehung, durch das Kombinatorische des Gedankens, und durch das Barocke des hingeworfenen Ausdrucks [...]. Die besten sind echapees de vue ins Unendliche.« Der ingeniöse Einfall, auch in seiner concettistischen35 Zuspitzung, ist Blick, Einblick, eben apergu, oder, in perspektivischer Terminologie, Durchblick. Das Titelkupfer von Tesauros Cannocchiale Aristotelico (1670; Abb. 3)36 zeigt die Poesie beim Blick durchs Fernrohr, eine Metaphorisierung der rhetorischen »perspicuitas«. Das Auge der Poesie kann mit dieser Bewaffnung die Flecken auf der Sonne entdecken. In vergleichbarer Weise ist der concettistische »ingegno« hindurchschauend, »perspicace«: Der Ingeniöse [...] kann hinter den Vorstellungen, die die konkrete Situation bietet, noch andre, von der sinnlichen Wahrnehmung unabhängige unerwartete entstehen lassen [...]. Er kann durch Vorstellungen noch auf andere »hindurchschauen.«37
Der >ingegno perspicace< ist zugleich der >ingegno acutoPointeacumen< des Epigramms zu beschreiben: der Künstler also, der fürs Auge arbeitet, muß auf einen Gesichtspunkt arbeiten und für ihn den Moment seines Subjekts wählen. Was dem Künstler dieser Gesichtspunkt von außen oder das Moment dieses Gegenstandes von innen, das ist dem Epigramm die Pointe.39
Fragt man danach, welche konkreten Gemeinsamkeiten von Perspektivismus und Concettismus in dieser historischen Terminologie umschrieben werden, dann bieten sich als Antwort zwei Begriffe an, die »Übertragung« und der »Widerstand«. Die »Übertragung« (meta fora, traslatio) macht Tesauro zur Leitfigur des ganzen concettistischen inventio-Apparats. Infolgedessen ist sie [die Metapher] unter den Figuren die hindurchdringendste. Denn die anderen werden gleichsam grammatisch auf der Oberfläche geformt und festgehalten, aber sie dringt vergleichend zu den entlegensten Vorstellungen vor und spürt sie auf, um sie zu verbinden. Und während jene die concetti mit Wörtern bekleiden, bekleidet diese die Wörter selbst mit concetti.40
Allerdings stellt die concettistische Metapher eine Verfremdung und Radikalisierung der normalen rhetorischen Metapher dar.41 Dem >gewöhnlichen< metaphorischen Sprechen wird das aristotelische Xenikon in Gestalt des arguten, >erhabenen< Sprechens entgegengesetzt, das mit der »Neuheit seiner ingeniösen Verbindung«42 Verwunderung und Bewunderung auslöst. Tesauro entfaltet Stufen des »sich komplizierenden Metaphorisierens«.43 Von der einfache Metapher lösen sich die metaphorischen Argumente ab, die als »argomenti urbanamente fallaci« die Ähnlichkeiten der Sachen überdecken mit einem täuschenden Schein, mit den Ähnlichkeiten, die nur im lusus verborum stattfinden. Die (referentielle) Ähnlichkeit der Mimesis wird abgelöst von den (fiktiven) Ähnlichkeiten, die eine mit dem ornatus operierende Phantasie scheinhaft erzeugt. Der Concettismus dringt wie die gewöhnliche Rhetorik autperspicuitas. Aber es wird nicht die Durchsicht auf Sachen, auf Referenz und Sachverhalte geöffnet, sondern im concettistischen Phantasiespiel der Ähnlichkeiten zeigt sich der 39
Zitiert nach Blanco: Les rhetoriques de lapointe (Anm.36), S. 199. Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus (Anm.37), S. 85. 41 Vgl. Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede (Anm. 38), S. 106, 112. 42 Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus (Anm.37), S. 83. 43 Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede (Anm. 38), 117. 40
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grundsätzlich imaginäre, täuschende, ja phantasmatische Charakter aller Benennungen und Ähnlichkeiten. Durch die Basisoperation des >Übertragens< ist alles Benenn- und Denkbare verschoben ins Imaginäre. Auch das »Hindurchdringen« der Perspektive verdankt sich einer Übertragung ins Imaginäre. Der geometrische Konstruktivismus des perspektivischen Zeichnens ist eine mediale Übertragungsoperation. Er dient dazu, den Anblick einer dreidimensionalen Gegenstandswelt auf das Medium der zweidimensionalen Fläche zu übertragen oder umgekehrt, die Bedingungen dieser Fläche in Strukturen einer imaginären Räumlichkeit zu übersetzen. Perspektivisches Sehen ist übertragenes Sehen. Die geometrische Methode dieser medialen Übertragung ahmt der Concettismus gelegentlich nach. In Maciej Sarbiewskis Traktat De acuto et arguto (1619/23) wird das theoretische Kernstück der concettistischen Übertragung, die »concors discordia« und die »discors concordia« als »acumen mathematicum et materiale«, als »duarum linearum concursus et coniunctio et in unum punctum coalescentium affinitas« definiert und an Dreiecksdiagrammen demonstriert.44 Beide, die mediale und die semantische Übertragung, zielen auf imaginäre Transparenz. Mit der perspektivischen Konstruktion wird die Materialität des Mediums transparent. In der concettistischen Konstruktion sollen die Vorstellungen, soll die Vordergrundssemantik der konventionalisierten Diskurse transparent werden für die hinter der Oberfläche verborgenen Sinndimensionen. »Der Ingeniöse [...] kann durch Vorstellungen noch auf andere >hindurchschauenfluidum< bezeichnet die perspektivische Übertragung. Albertis berühmte >superficie del fonte< als Bezeichnung für die perspektivische Bildoberfläche kann dafür stehen. Das Harte und Widerständige der medialen Übertragung drückt sich vorzugsweise in der Ikonographie der Groteske aus, die als Teil
"Vgl. ebd., S.113f. 45 Lange: Theoretiker des literarischen Manierismus (Anm.37), S. 84. 46 Ebd., S. 86.
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der perspektivistischen Ornamentkunst zu den wichtigsten ästhetischen Selbstthematisierungen der frühneuzeitlichen Bild- und Schriftmedien gehören. Die harten Gegenstandsfügungen der Groteske von Fläche und Körper, von Organischem und Anorganisch-Geometrischem sind concettistische Radikalisierungen einer allgemeinen Grenzlage der Ornamentkunst zwischen Zwei- und Dreidimensionalität sowie zwischen Mimetismus und Amimetismus. Die Ornamente der Frühen Neuzeit, insbesondere die reiche Tradition der Nach-Raffaelschen Überlieferung, zeigen flächige Abwicklungen von Dreidimensionalem, Kombinationen von Lineatur, flächiger Zeichnung und dreidimensionaler Illusion, oder eine Konstellation von geometrischem Rapportschema und mimetischer Illusion. Mit dieser ikonographischen Grenzlage wird die mediale Grenze inszeniert, die in der perspektivisch gelenkten »übertragenen« Wahrnehmung von imaginärer Räumlichkeit zum Verschwinden gebracht worden ist. Die Ornamentik insgesamt holt diese Grenze aus dem Verschwinden zurück und stellt sie aus als widerständige Grenze in der concettistischen Groteske. Die vielstimmige Ornament-Diskussion zu Kellers Zeiten hat diese Zusammenhänge zugleich aufgenommen und verkehrt. Gottfried Semper hat wie fast alle seiner Architektenkollegen den nackten Konstruktivismus der neuen Eisen- und Glasbauten ornamental »bemäntelt« und hat in seiner Ornament-Theorie ein aufwendiges semiotisches System entwickelt, in dem die Ornamente abermals auf die mediale Grenze von Materialität, Transparenz und Verhüllung rückbezogen werden. Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Der Eingang von Kellers Sinngedicht zitiert mit seinem Wechsel von Newtonscher Optik zu literarischem Concettismus einen alten rhetorisch-ikonographischen Diskurs, in dem Perspektivismus und Concettismus so vielfach verschränkt sind, daß die Metapher als Teil des ornatus mit dem Ornament kompatibel wird und daß die intellektuelle Übertragungsarbeit der concettistischen inventio metaphorisch übertragen werden kann auf die mediale Übertragungsleistung der Maler und Zeichner. Auch Kellers perspektivistischer Concettismus ist »Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Ähnlichkeitsoperationen«.47 Vor diesem Traditionshintergrund ist das erzählerische Programm des Kellerschen Sinngedichts zu lesen, das Programm einer narrativen Anthropologie des ganzen Menschen. Sie wird sich als anthropomorpher Concettismus realisieren. Der Traditionshintergrund offenbart dabei, daß dieser narrative Concettismus auf den aktuellen Medienkontext der holistischen Anthropologien und ihre Perspektivismus-konforme Anschaulichkeit reagiert, wie dies in ganz anderer Weise schon Stifters Bunte Steine getan hatten. Kellers Titel Sinngedicht ist also beim poetologischen Wort zu nehmen. Es handelt sich um einen Zyklus epigrammatischer Ezählungen und Novellen, um eine Kette narrativer argutia. Reinharts Begegnungen mit Frauen, seine anthropologischen Experimente, in denen er sein »Sinngedicht« reifizieren will, sind metaphorische Übertragungen 47
Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede (Anm. 38), S. 132.
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des epigrammatischen Prinzips in Figuren und Handlungen. Die erste Frau, der Reinhart begegnet, die Zöllnerin, hält eine Brücke besetzt. Die zweite Frau lebt in einer gläsernen Welt der Transparenz, in einem »fein ausgearbeitete(n) Kunstwerk« Gottes, »durchsichtig und klar wie Glas in allen seinen Teilen, worin nicht ein dunkles Gefühlchen im Verborgenen stürmen konnte« (S. 105, Hervorh. G.v.G.). Die Begegnung mit der dritten Frau kreist um die Wortfelder von »witzig«, »zieren« und »schöne(m) Schein« (S. 110f.). Der vierten Frau, der Partnerin im Erzählduell begegnet Reinhart in der ornamentalen Natur, in »künstlichen Anlagen« mit »dünne(m) vergoldete(n) Drahtgitter« und »Zierbeeten« (S. 119f.), kurz in »schönen und witzigen Anlagen« (S. 117). Diese Serie der vier Frauen und der Leitbegriff ist poetologisch zu lesen. Die »Brücke« ist Bild für die argute Basisoperation, das in den Ähnlichkeitsoperationen stattfindende »Überbrücken« der Gegensätze. Die gläserne Transparenz verweist auf das Ziel der arguten Argumentation und ihre perspektivische Veranschaulichung, das perspicere, das Durchsichtig-Machen. Witz, Schein und Ornament thematisieren das Zustandekommen dieser scheinhaften Transparenz, erinnern an die Wirkung einer ingeniösen Phantasie, die mit einem verfremdeten und radikalisierten ornatus die Welt der scheinhaften Ähnlichkeiten erzeugt. Im ornatus, im lusus verborum überkreuzen sich Produktionsbedingung und Effekt der imaginären Transparenz. Die Logik der concettistischen Argumente, der »argomenti urbanamente fallaci« wird im Erzählduell, das Reinhart mit der vierten der epigrammatischen Frauen ausficht, umgesetzt in Figurenkonstellationen und Handlungsführungen. Der materia des acumens, dem »Unwahrscheinlichen, Verwunderlichen und Rätselhaften« entspricht die materia der Novelle, die »unerhörte Begebenheit«.48 Die argute Bearbeitung der materia, die das acumen hervorbringt, vereinigt differentielle und nicht-differentielle Aspekte. In Oppositions- und Einheitsfiguren zeigen sich grundsätzlich drei Relationstypen: die Einheit (concordia),die Opposition oder, allgemeiner, Differenz (discordia) sowie schließlich die Differenz von Opposition/Differenz einerseits und Einheit andererseits (concors discordia oder discors concordia). Grundlage des erzählerischen Verfahrens nach dieser abstrakten Logik ist die Kombination von Figuren-Merkmalen. In »Regine«, der ersten der Binnenerzählungen, wird die Basisopposition von Mann und Frau ausgefaltet zur mehrfach codierten Opposition. Dem (a) wohlhabenden (b) Mann der (c) bürgerlichen Oberschicht aus der (d) neuen Welt wird die (a) arme (b) Frau der (c) Unter- und Dienstbotenschicht aus der (d) alten Welt gegenübergestellt. In der Opposition ist auch das Gemeinsame angelegt. Der Mann der neuen Welt war noch von »einfachen Sitten«, stellte noch »die ältere echte Art amerikanischen Wesens dar«. Dem vergleichbar hat die »arme Magd« noch Verbindung mit den »Tiefen uralten Volkstums« (S. 149): Beider gemeinsame Opposition zur zivilisatorischen Korruption ver!
Ebd„ S.114f.
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tieft sich in ihrer Begegnung zur kurzlebigen Utopie oder Illusion der Gleichheit. »Also lebten sie in rein menschlicher Lebensluft so beglückt, wie zwei ebenbürtige Wesen in stiller Heimlichkeit es nur sein konnten [...]« (S. 152f.). Der concordia des Humanen steht die discordia des Sozialen entgegen. In einer Pygmalion-Handlung versucht nun der Mann, die ihm nur won Natur aus< ebenbürtige Frau als sein Kultur-Werk zu sich heranzubilden. Diese Angleichung aber ist der Weg in die eigentliche Entfremdung. Auch die Entfremdung, die schließlich im Selbstmord der Protagonistin endet, stellt sich als Zusammenspiel von concordia und discordia dar. Die Reise, die die äußere Distanz von alter und neuer Welt überwinden sollte, enthüllt die Übereinstimmung des unheilbar Getrennten. Schon die Seefahrt nach dem Westen muß ein eigenartiger Zustand von Unseligkeit gewesen sein. Die wochenlange Beschränkung auf den engen Raum bei getrennten Seelen, die doch im Innersten verbunden waren, das wortkarge, einsilbige Dahinleben, ohne Absicht des Wehtuns, die hundert gegenseitigen Hilfsleistungen mit niedergeschlagenen Augen, das Herumirren dieser vier Augen auf der unendlichen Fläche und am verdämmernden Horizonte des Ozeans, in den Einsamkeiten des Himmels, um vielleicht einen gemeinsamen Ruhepunkt zu suchen, den sie in der Nähe nicht finden durften, alles mußte dazu beitragen, daß die Reise dem Dahinfahren zweier verlorenen Schatten auf Wassern der Unterwelt ähnlich war, wie es die Traumbilder alter Dichter schildern (S. 190f.).
Als zum Schluß die tödliche und zugleich vermeidbare Blockade der Kommunikation offensichtlich geworden ist, wird die Gemeinsamkeit des Trennenden, wird die concettistische affinitas von consentaneum und dissentaneum49 zum Handlungsplan des Schicksals erklärt: »Allein das Schicksal wollte, daß die beiden Gatten, jedes mit einem ändern Geheimnis, dasselbe aus Vorsorge und Schonung verbergend, an sich vorbei gingen und den einzigen Rettungsweg so verfehlten« (S. 198). Der abstrakte Konstruktivismus der arguten Relationen zeigt sich in deren Permutierbarkeit. Die soziale und kulturelle Kluft, die in »Regine« die Protagonisten trennt, ist in der zweiten Novelle als Widerspruch in die weibliche Heldin gelegt. »Die arme Baronin« lebt einen Klassenwiderspruch aus, der anschaulich wird in der Zweiteilung ihrer Wohnung. Die vermieteten Vorderzimmer beherbergen mit ihrer »ungewöhnlichen Ausstattung« die Hinterlassenschaft des adligen Lebensstils, »Sekretäre, feine Schränke, Luxusmöbel, Spieltische und Spiegelgebäude, Sofa's und weiche Polsterstühle im Überfluß [...]« (S.207f., Hervorh. G.v.G.). An diesen Überfluß grenzen die rückwärtigen Zimmer der Wohnung, in denen die Baronin selber haust: [...] das tiefe und düstere Zimmer, dessen kahle Wände von der Kälte bis zum Tropfen feucht waren; das nach dem Hofe hinausgehende Fenster bedeckte ein einfacher weißer Vorhang samt der dicken Stickerei von Eisblumen. Auf einem elenden Bette, das aus einem Strohsacke, einem groben Leintuche und einer jämmerlich dünnen Decke bestand, lag die Baronin (S. 217).
'Vgl. ebd., S. 113, S. 115.
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Daß diese aus Entgegengesetztem zusammengesetzte arme Baronin als argute Figur aufzufassen ist, wird ganz unmittelbar deutlich gemacht. Die Novelle beginnt mit einer buchstäblich arguten, >scharfen< und >spitzen< Situation. Brandolf, ein junger Rechtsgelehrter, eilte die Treppe zum ersten Stockwerk eines Hauses empor, in welchem eine ihm befreundete Familie wohnte, und wie er so in Gedanken die Stufen übersprang, stieß er beinah1 eine weibliche Person über den Haufen, die mitten auf der Treppe lag und Messer blank scheuerte. Es war ihm, als ob mit einem der Messer nach seiner Ferse gestochen würde; er sah zurück und erblickte unter sich das zornrote Gesicht eines, so viel er wegen des umgeschlagenen Kopftuches sehen konnte, noch jugendlichen Frauenzimmers, welches er für ein Dienstmädchen hielt. Grollend, ja böse blickte sie nieder auf ihre Arbeit, und Brandolf trat unangenehm betroffen in die Wohnung seiner Freunde. Dort untersuchte er den Absatz seines Stiefels und fand, daß wirklich eine kleine Schramme in das glänzende Leder gestoßen war (S.203).
Dieser aggressive Akt setzt eine Umkehrhandlung in Gang. Der mit dem Messer Attackierte schlüpft auch in die Pygmalion-Rolle. In seinem »Krieg der Menschlichkeit« wird er die Baronin, den scheinbaren »Teufel und Unhold« mit seinem »menschenfeindliche(n) und räuberische(n) Wesen« (S. 205) als ein »mysteriöses Bündel Unglück« (S. 218) kennenlernen und wird den »Trotz« der Baronin brechen, wird diesen »wahren Teufel von Unerbittlichkeit gegen sich und andere« (S. 219) zurückverwandeln in ein zartes, empfindsames Frauenzimmer: »ein sanftes Wollschäfchen mehr auf dem Markte« (S. 243). Die »Rettung« der armen Baronin, die Umkehr der arguten Ausgangshandlung wird begleitet von der Topik des »Scharfsinnigen«: »Brandolf hingegen wurde am gleichen Nachmittage noch sehr scharfsinnig [...].« Die Gerettete selbst wird zum Epigramm. Ihr Lächeln »erinnerte fast an den Text eines alten Sinngedichts« (S. 223). Daß die Umkehr der >Scharfen< zur Sanftmütigen ihrerseits wieder aggressive Schärfe freisetzt, zeigt die nachfolgende Verdoppelung der Umkehrhandlung, die nichts anderes als die Kulturtechnik des Umkehrens zum Thema hat. Die Hochzeitsfeierlichkeiten enden in einem »harten Spaß«, in dem Brandolf die früheren Peiniger der Baronin, seiner Frau, abstraft. Auf die offizielle »symbolische Feier« (S. 233) folgt ein »bacchische(r) Tumult« (S. 233) mit allen Merkmalen der karnevalesken Groteske. Das Fest inszeniert in seinen Riten und Bildern die populäre Praxis der concettistischen discors concordia. Die argute Dreieckslogik von Differenz und Einheit wird in einer Dreiergruppe von Erzählungen abgewandelt zur Zwei-zu-Eins-Konstellation der Figuren. »Die Geisterseher«, »Don Correa« und die abschließende Lebensgeschichte Lucies variieren das Motiv der simultanen oder sukzessiven »Doppelneigung« (S. 251). In den »Geistersehern« wird die argute Situation aufgebaut als vollkommen symmetrisches Verhältnis zweier Männer, die mit ihren konträren Eigenschaften als »Widerspiel« (S. 247) erscheinen und die zugleich in ihrem Verhältnis zur Protagonistin in ihrem »geteilten Glück und Mißglück« (S. 250) ganz gleich sind. Die Pointe der Erzählung ist, daß diese »affinitas dissentanei et consentanei« in einem witzigen und »plötzlichen« Einfalt aufgelöst wird. Beide Liebhaber werden derselben Prüfungssituation ausgesetzt, um in
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der Reaktion auf ihre »kuriose Aufgabe« (S. 267) ihre Verschiedenheit wieder freizusetzen und in einer »gewaltsame(n) Wahl« die »unglückliche Doppelliebe« wieder zu teilen und damit »zu heilen« (S. 269). »Don Correa« permutiert das Dreierschema. Die »Frau zwischen zwei Männern« wird variiert zum >Mann, der nacheinander zwei verschiedene Frauen heiratete Die erste Ehe wird vollzogen als ein gewaltsamer Machtkampf der Geschlechter. Der Gegnerschaft liegt als Gemeinsamkeit der »doppelte Schein« zugrunde, den beide Partner erzeugt haben. Der gewaltsame Ausgang war eine »unglückliche Frucht der Erfindung [...], die Correa ins Werk gesetzt, um sich glücklich zu verheiraten« (S. 300, Hervorh. G.v.G). Der Verstellte trifft auf eine Meisterin der Verstellung, eine Verbrecherin, die unfähig war, »die Selbstsucht, Willkür, die Liebe zum Laster und die vollendeten Künste der Heuchelei zu unterdrücken« (S. 301). Im mörderischen Ausgang, der die Besiegte vom Sieger trennt, offenbart sich beider Gemeinsamkeit im Verschiedenen: »Denn war sie schuldiger, weil das Geschöpf den wahren Menschen in ihm nicht geahnt hatte, als er, dem es mit der Bestie in ihr gerade so ergangen war?« (S. 301) Die zweite Ehegeschichte variiert die Pygmalion-Handlung aus »Regine«. Eine Sklavin aus Schwarzafrika, eine Eroberung des europäischen Kolonialismus, soll zur katholischen Braut herangezogen werden. Der Stand der christlichen Ehefrau soll sich als sublimiertes Sklavenschicksal erweisen. Die schwarze Zambo ist als Verkörperung der »natürlichen Demut« (S. 330) Gegenbild ihrer herrschsüchtigen und gewalttätigen Vorgängerin. Gemeinsam ist beiden Frauen ihre gewissermaßen strukturelle Doppelungdoppelt< durch ihre Heuchelei, durch den Widerspruch von Sein und Schein.50 Zambo ist >doppelt< durch das paradoxe Verhältnis von Demut und Freiheit, in die Pygmalion-Correa sie hineinerzieht. Erzogen zur »Freiheit ihrer Seele« (S. 330) fragt Zambo: »Hat das Meer auch eine Seele und ist es frei?«, um zu erfahren, daß sie wie das Meer nur die Freiheit hat, sich ihrem Schöpfer und Seefahrer Untertan zu machen. Lucies Jugendgeschichte, die dritte der Dreiecksgeschichten, stellt die Beziehung zu einem toten fiktiven Mann, zu Schillers Max Picolomini einerseits und zu einem lebendigen realen Mann, zu Lucies Vetter dar. Auch hier geschieht die Auflösung in einem >argutenwitzigen< Einfall. Um das Trennende zwischen ihr und ihrem Vetter zu überwinden, konvertiert Lucie heimlich zum katholischen Glauben. Aber in dieser neuen Gemeinsamkeit begründet liegt das endgültig Trennende, denn zum selben Zeitpunkt, zu dem Lucie katholisch wird, tritt der Vetter ein in den Orden der Redemptoristen (S. 373). Doch ehe sich in Lucies Jugendgeschichte die Ebenen der epigrammatischen Frauenbegegnungen und des epigrammatischen Erzählduells verschränken, 50
Vgl. dazu Wolfgang Preisendanz: Gottfried Kellers »Sinngedicht«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 82 (1963), S. 129-151.
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stellt der letzte von Lucies Erzählbeiträgen, ans Ende der concettistischen Figurenkonstellationen gestellt, noch einmal eine narrative Inszenierung des concettistischen Prinzips selber dar. »Die Berlocken«, der Uhrkettensc/zmwc/c zielen auf den ornatus und den im lusus verborum erzeugten täuschenden Schein. »Die Berlocken« erzählen von den concettistischen »Stufen sich komplizierenden Metaphorisierens«.51 Die erste Stufe bildet die konventionelle Liebesmetapher vom »Herzensraub«. Die zweite Stufe entsteht durch die Reifizierung dieser Metapher. Um die Uhr, die ihm Marie Antoinette geschenkt hat, mit Liebestrophäen zu schmücken, beschließt der Held der Erzählung, solchen Damen das Herz zu rauben, die ein Schmuckherz als Zeichen ihrer Liebe tragen. Manchmal raubt er nur das Schmuckherz, durchaus zum Verderben der Frauen, manchmal beide Herzen, wie die der kleinen Denise, »die zuerst ihr natürliches und dann ihr kleines Krystallherz verlor« (S. 338). Zuletzt kann der Räuber selbst nicht mehr unterscheiden, »ob er das kleine Schmuckherz oder das liebende Menschenherz verlangte« (S. 339). Im Besitz des ornatus dieser reifizierten Herzmetaphern begibt sich der Held auf die dritte Stufe der Metaphorisierung. Die täuschende Metapher wird in eine Täuschungshandlung mit Desillusionierungspointe umgesetzt. Mit seinen »Kleinödchen« (S. 340) geschmückt zieht Thibaut nach Amerika, ins Reich »der wahren Natur und freien Menschlichkeit«. Wie seine Kameraden trägt Thibaut »sein Stück Jean Jacques Rousseau im Leibe« und begeistert sich an »den idealen Naturzuständen« der Indianer (S. 341). Auch er versucht sich als Pygmalion und will eine Indianerin, eine andere Regine oder Zambo, will »das rote Naturkind [...] zu seiner rechtmäßigen Gemahlin [...] erheben. Wie würde das philosophische Paris erstaunen, dachte er sich, ihn mit diesem Inbegriff von Natur und Ursprünglichkeit am Arme zurückkehren und in die Salons treten zu sehen« (S. 342). Seinen Berlocken-Trophäen glaubt Thibaut eine lebende Trophäe, seinen Schmuckherzen ein »natürliches« Herz anfügen zu können. In einer witzigen Umkehr dreht sich das Argument um. Die Indianerin wünscht sich die Berlocken. Thibaut mißdeutet dies als an ihn gerichtetes Zeichen ihres Herzens. Als aber das Mädchen [...] die Hand aufs Herz legte und noch mit anderen Zeichen verriet, daß sie große Hoffnungen auf die Erfüllung ihres Wunsches gesetzt hatte, legte er diese Zeichen zu seinen Gunsten aus und änderte seine Gedanken. [...] Und am Ende bringt das gute Kind mir den kleinen Schatz, der so lange auf meiner Weste gebaumelt hat, getreulich wieder zu, und es wird sich gar witzig ausnehmen, wenn die Tochter des Urwaldes einst die Kleinode, bald dieses, bald jenes, vor den Augen unserer Damen an sich schimmern läßt (S.344, Hervorh. G.v.G).
»Witzig« in der Tat, nicht an der Indianerin, sondern an ihrem tätowierten, federngeschmückten Bräutigam wird Thibaut seinen Schmuck wiederentdecken, einem »Schatz von Schönheit und männlicher Kraft« (S. 346). »Immer näher kam der Donner-Bär mit seiner Bande; da riefen auf einmal mehrere Offiziere Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede (Anm.38), S. 117; vgl. oben S. 176ff.
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unter schallendem Gelächter: >Parbleu! der hat ja die Berlocken des Herrn von Vallormes an der Nase hängen!Opalherz der Tante Angelika< zerreißt schlagartig die Täuschung, die Argumente, die buchstäblich »urbanamente fallaci« sind. Denn die Täuschung der urbanen Pariser Salons, die Schmuckherzen könnten gegen ein natürliches Herz eingetauscht werden, der ornatus sei Tauschwert einer res, diese Täuschung verschwindet in der Erkenntnis, daß es immer nur um die Gleichheit scheinbar verschiedener Schmuckarten geht. Auf lächerliche, desillusionierende Weise sind die Tätowierungen und Kriegstrophäen des wilden Indianers dem Trophäenschmuck der Pariser Zivilisationswilden gleich. In »Regine«, dem tragischen Pendant der witzigen Indianerin, in der Geschichte vom Naturkind, das nicht aus sondern nach Amerika verschleppt wird, erscheint die oraafws-Thematik ins Bildmedium übersetzt. Dort werden einander gegenübergestellt ein »Studienkopf« der Titelheldin mit Draperie und »fremdartige(m) Aufputz« (S. 182f., Hervorh. G.v.G.) einerseits und ein »Bildnis der Angelika Kaufmann« andererseits, »den blühenden Kopf mit den vollen reichen Locken von einem grünen Efeukranze umgeben [...]« (S. 171). Der zeitgenössischen Ornament-Diskussion entsprechend steht gegen das äußerliche und »fremdartige« Nur-Ornamentale das ästhetisch erlaubte Ornament, das integrale Zeichen der dargestellten Gestalt, das Ornament, das im Kontext der künstlerischen Repräsentation eine dienende und steigernde Funktion besitzt. Wichtig aber ist vor allem die Entsprechung von bildnerischem Ornament in »Regine« und von mehrfach metaphorisiertem ornatus in den »Berlocken«. Beider Entsprechung verweist auf die alte diskursive Verschränkung von Perspektivismus und Concettismus. Im Ornament werden die medialen Bedingungen der Möglichkeit von imaginären Transparenzeffekten ikonographisch thematisiert. Im concettistischen ornatus wird der lusus verborum mit seinen täuschenden, scheinhaften Argumenten als Bedingung der Möglichkeit von imaginärer semantischer Transparenz aktiviert. Oder anders gewendet: Thema von Kellers realistisch kaschiertem Concettismus oder concettistisch konstruiertem Realismus ist »das Spannungsverhältnis von Wesen und Erscheinung, Sein und Schein, Kern und Schale, Gestalt und Vermummung, faktischer Wirklichkeit und Vorstellungswelt als der eigentliche Spielraum menschlicher Schicksale«.52 Thema ist aber auch in ornatus-Mouven wie den »Berlocken« das concettistische Verfahren selbst, die Konstruktion des Imaginären aus Ähnlichkeiten, genauer, aus »Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Ähnlichkeitsoperationen«.53 Der literarische Concettismus ist eine rhetorische Ähnlichkeitsoperation, die sich dem optischen Concettismus der Ornamente ähnlich macht. Rhetorischer ornatus und bildnerisches Ornament verschränken sich in metaphorischer Gleichung. Für den Perspektivismus 52 53
Preisendanz: Gottfried Kellers »Sinngedicht« (Anm.50), S.138f. Lachmann: Die Zerstörung der schönen Rede (Anm. 38), S. 132; vgl. oben S. 176ff.
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des Bildmediums gilt, daß er nach denselben geometrischen Konstruktionsregeln illusionistische Simulation, anamorphotische Verzerrung oder ornamentale Transformationen der Gegenstände erzeugen kann. Das heißt, in jedem Realismus des perspektivischen Bildparadigmas liegt der Concettismus, die verzerrende oder ornamentale Transformation als eine seiner konstruktiven Möglichkeiten schon verborgen. Drei Thematisierungsstufen lassen sich also in Kellers concettistischem Realismus unterscheiden: (1.) auf der Objektebene von Kellers Text artikuliert sich das Thema von Schein und Sein und auf einer verdoppelten Metaebene wird das (2.) ausgestellte literarische Verfahren des Concettismus (3.) interpretiert als argute Variante einer allen Realismen des perspektivischen Paradigmas gemeinsamen Konstruktionstechnik zur Hervorbringung des Scheins, der imaginären, vielleicht auch der virtuellen Welten. Diese aufs Prinzipielle, auf den Konstruktivismus des Imaginären zielende Verähnlichung von bildlichem und literarischem Verfahren bleibt buchstäblich Rahmenthema des Zyklus. Als Pendant zur Einführung, die wissenschaftliche Optik und Epigrammatik nebeneinander stellte, spielt der Schluß die Ähnlichkeit von Sinn-Bild und Sinn-Gedicht aus. Das Ende des concettistischen Novellenromans führt das Protagonistenpaar, das »ziervollste Frauenwesen der Welt« (S. 200) und den »gezierte(n) Novellist(en)« (S. 203) noch einmal durch eine concettistische Erlebniswelt. Zuerst durchwandern sie eine Landschaft argut gebauter Sinnbilder und sehen »einen Eichbaum, der eine schlanke Buche in seinen knorrigen Armen hielt«. - Kellers eigene Zeichnungen können zu derlei ikonographischem Concettismus die Vorlage bilden.54 Buchstäblich >scharf< und >spitz< ist die Vereinigung von Schlange und Krebs: In einem klaren Bache, der durch den Bergwald herunterfloß, kam eine schöne Schlange geschwommen und warf sich unfern den beiden Lustwandlern aufs Trockene; ein starker Krebs hing an ihrem Halse, vermutlich um sie anzufressen (S. 376).
Aus der Landschaft der arguten Bilder tritt das Paar ins Haus der Poeten, in ein Schuhmacherhaus, in dem Hans-Sachs-gemäß die wiederum argute Vereinigung von niederer Volks- und hoher Kunstpoesie stattfindet. Goethes >Jugendliedchen< »Mit einem gemalten Bande« wird ausgestattet mit »volksmäßigen Verzierungen« und einem »abscheulichen Idiom« (S. 378f.). Gerade in dieser poetischen concors discordia tritt »die unverwüstliche Seele des Liedes« (S. 378) hervor. Das ist auch lesbar als Kellers selbstironischer Kommentar zu seiner concettistischen >Verzierung< des realistischen Erzählens. Sie endet mit einem letzten »Wortspiel«, das Optisches im Verbalen anspricht. Reinhart nannte später seine schöne Frau, wie der Oheim, nur Lux, und, indem er das Wortspiel fortsetzte, die Zeit, da er sie noch nicht gekannt hatte - ante lucem, vor Tagesanbruch (S. 381). 54
Vgl. zum Beispiel: »Vordergrundstudie mit Felsen und Wurzelstock in grotesken Formen. Bleistift und Aquarell, entstanden um 1838.« In: Walter Baumann: Gottfried Keller. Leben. Werk. Zeit. Zürich, München 1986, S. 35.
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Der hochartifizielle Konstruktivismus von Kellers narrativem Concettismus hat eine Funktion, die der des nicht minder konstruierten Stifterschen Elementarismus verwandt ist. Beide Konstruktivismen reagieren auf die medialen Bedingungen des Wahrnehmungs- und Anschaulichkeitsdispositivs, beide übersetzen den medialen in literarischen Konstruktivismus und stellen damit die medialen Strukturen als Grundlagen der imaginären Wirklichkeitserzeugungen dar. Mediales Konstruieren spiegelt sich in literarischem Konstruieren. Beide, Stifter und Keller, überblenden mit ihrem konstruierten Anschaulichkeitsdispositiv ein konkretes »Wissen« und tun es damit den Zeitschriften, dem Bild- und Wortmedium ihres Erzählens gleich. Wie Stifters Bunte Steine handelt das Sinngedicht von der Anthropologie des ganzen Menschen. Kellers Held Reinhart wird von der naturwissenschaftlichen Optik, die in ihren frühneuzeitlichen Anfängen eine geometrisierte Blick- und Bildkonstruktion des Anthropos war, auf die Anthropologie der moralischen Natur verwiesen und mit ihr auf das ungelöste Problem, wie die Zerteilungen der menschlichen Natur in eine anschaubare Ganzheit zurückzuführen seien. Auch Keller zitiert die Vielfalt anthropologischen Wissens: Physignomie (»Regine«, S. 137), Ethnographie (Amerika in »Regine« und »Die Berlocken«, Afrika in »Don Correa«) oder, am ausführlichsten, die Rousseauistischen Grundlagen philosophischer Anthropologie und die ebenso Rousseauistischen Grundlagen der Geschlechter-Anthropologie, des Geschlechterkrieges. Diese Vielzahl der Anthropologien und Anthropologismen gerät mit der Vorausdeutung auf Darwin unter den Einheitsdruck des Monismus. Diesen Einheitsdruck beantwortet Keller mit einer »concettistischen Anthropologie«. Die Einheit des ganzen Menschen kann nur als >affinitas dissentanei et consentanei< konstruiert werden. Physikalische und moralische, männliche und weibliche Natur des Anthropos können nur metaphorisch, nur als >argomenti urbanamente fallaci< vereinigt werden, so wie der Haeckelsche Monismus Goethe und Darwin metaphorisch vereinigt hat, ohne freilich das Täuschende dieser Vereinigung sichtbar zu machen. In der Wissensvermittlung der Zeitschriften hat die Vielzahl der zersplitterten Anthropologismen zur alten Einheit des ganzen Menschen nur zurückgefunden durch das Anschaulichkeitsdispositiv des konstruierten Perspektivismus. Keller macht diese Zusammenhänge sichtbar und durchschaubar. Er übersetzt das perspektivische Dispositiv in einen analogen literarischen Konstruktivismus, den Concettismus, ein Verfahren, das wie der Perspektivismus auf Transparenz-Effekte aus ist, ein Verfahren, das aber zugleich offen ausstellt, daß seine imaginären Effekte auf Täuschung gegründet sind. Kellers concettistische Anthropologie zeigt, was der ganze Mensch immer war, die täuschende Konstruktion einer imaginären Einheit. Stifter hatte den Anthropos als Aggregat von Elementen konstruiert, Keller konstruiert ihn als scheinhafte Ähnlichkeitsoperation. Beide Autoren richten ihre Konstruktionen aus an den Konstruktionsregeln im Umkreis des Perspektivismus-Diskurses. Der Unterschied beider Orientierungen ist darin zu suchen,
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daß Stifter analog und mimetisch versucht, den perspektivischen corpora-Elementarismus nachzukonstruieren. Während Keller den Perspektivismus metaphorisch transcodiert und das genuin literarische Verfahren des Concettismus immer wieder metaphorisch rückbezieht auf sein optisch-perspektivisches Pendant. Stifter will semiotische Mimesis der perspektivistischen corpora-Konstruktion. Keller will, wie die Ornamentalisten unter den Perspektivisten, die Transcodierung der Mimesis in phantasia, will im freien Spiel der concettistischen Ähnlichkeiten zugleich die Konstruktionsregel und das unaufhebbar Imaginäre des Konstrukts zur Darstellung bringen. Wissen und Sehen sind imaginäre Konstruktionen, in den Bildungszeitschriften performativ und ostentativ, in den Erzähltexten Stifters und Kellers analytisch und reflexiv.
Für vielfältige Hilfe danke ich Rudolf Helmstetter und Thomas König
Eckhard Höfner
Wissenschaftsrezeption und Erzähler-Strategien im realistischen Roman des französischen und italienischen 19. Jahrhunderts
Was gibt denn der sogenannte Realismus der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen? Es ist unzweifelhaft seine Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu genießen wissen. Folglich muß man wohl glauben, das jetzige, uns eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen, nicht also in der Realität, sondern im Wissen um die Realität? So sehr hat die Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, daß die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen >Seligkeiten< an sich geworden sind. (Friedrich Nietzsche, Morgenröte, 1881)
1. Zu den Grundmerkmalen des literarischen >Realismus< in Frankreich - und in der Folge auch in Italien und zum Teil Spanien - zählt die Tatsache, daß er, gerade in seinen >kanonisierten< Autoren, ohne Referenz auf die (Natur-)Wissenschaften und deren Rezeption nicht zu behandeln ist. Für die realistische Literatur anderer europäischer Länder - Deutschlands, Englands, vor allem Rußlands - gilt das nicht in gleicher Weise.1 Dieser >Szientismus< regiert nicht nur Strukturen der histoire-Eb&ne, etwa Thematisierungen von Wissenschaftsfragen oder Figuren(-konstellationen, -hierarchien) wie den allgegenwärtigen Humanmediziner, sondern auch die Erzählformen und Erzählerstrategien; und er ist verantwortlich für die Tendenz dieser Literatur, der Zyklusbildung hohes Gewicht einzuräumen.2 1
Gerade in Italien werden Autoren, die sich von den gängigen Wissenschafts-Modellen absetzen, mit dem Hinweis verteidigt, der >russischen Schulepsychologische< Durchdringung nachsagt - und zwar ohne Rekurs auf die Wissenschaft >Psychologie< -, anzuhängen; vgl. Luigi Capuana: La crisi del romanzo. In: L.C.: Gli »ismi« contemporanei. Hg. von G. Luti. Milano 1898/1973. Solche Charakterisierung trifft auch Emilio de Marchi, der, als »idealista del positivismo«, wie ihn der Freund Rovetta nennt, dem verismo der »documenti umani« und der Thematisierung des struggle for life einen >gemäßigten Realismus< mit der Elaborierung einer »filosofia del cuore« entgegensetzt; vgl. die Diskussion um den Roman Demetrio Pianelli (1888). 2 Eine Liste der Ärzte als hierarchisch hoch angesiedelte Romanfiguren in der realistischen Literatur auch der Romania wäre lang; wir zitieren hier als Beispiel Luigi Capuanas Narrati-
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Daß dieser Zusammenhang in der Forschung nicht immer angemessen herausgestellt wurde, liegt zum einen gewiß in der Auffassung begründet, realistische Texte seien vorab als Darstellungen sozio-historischer Wirklichkeit zu lesen; zum anderen aber wohl auch darin, daß die Wahl dieser Präsentationskonzepte und Diskursstrategien nicht eineindeutig oder gar kausal aus Problemen der Wissenschaften und Wissenschaftsphilosophie abzuleiten ist; ihr Konnex ist ein historisch empirischer, kein logischer, wiewohl er im 19. Jahrhundert selbst nicht selten als notwendiger gesehen wurde. So wird etwa die Technik perspektivischen Erzählens und damit verbunden des discours indirect libre, die aus Einsichten in Wissenschaftsprobleme zur beherrschenden Erzählhaltung geworden war, beibehalten und als Kunstnotwendigkeit auch dann verteidigt, wenn das zugehörige Wissenschaftssystem nicht mehr vertreten, wenn ein anderer Typ von >Wissen< darstellungsrelevant wird.3 Von den vier zum Teil eng korrelierten Feldern, auf denen die Literatur sich mit der/den (Natur-)Wissenschaft(en) auseinandersetzen kann - der Status von Kunst; die Literaturtheorie; histoire- und discours-Ebene der Texte -, sollen Fragen der Theorie und Praxis der Vertextungsformen hier skizziert werden.
vik, deren Mediziner jeweils als zentrale Gestalten der Texte den Ansehens-Wandlungen der Wissenschaften folgen: Am ehesten dem Positivismus verhaftet, aber bereits ein Ungenügen am Mangel an Psychologie folgend in Giacinta, wird diese Figur, neben der medizinischen Sachkenntnis, mit einem Religiositäts-Bedürfnis ausgestattet in Profumo, in dem sie mit dem aus dem Theatre de Charcot bekannten, im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Thema der weiblichen Hysterie beschäftigt ist; nach einer Nebenrolle in // marchese di Roccaverdina wird sie in der Erzählung Un vampiro (1906; Cesare Lombroso gewidmet) mit dem Bereich des Übernatürlichen konfrontiert: da an der Faktizität der Erscheinung nicht gezweifelt werden kann, muß auf die Erweiterung der Wissenschaft gesetzt werden, die dergleichen Phänomene eines kommenden Tages würde erklären können; interessanterweise wird dabei versucht - wie unstimmig auch immer -, die Basis der Empirie und der Physiologie nicht zu verlassen: »Per la scienza c'e di reale soltanto Torganismo, questa compagine di carne e di ossa formante l'individuo e ehe si disgrega con la morte di esso, risolvendosi negli elementi chimici da cui riceveva funzionamento di vita e di pensiero. Disgregati questi... Ma appunto la quistione si riduce, secondo qualcuno, a sapere se la putrefazione, la disgregazione degli atomi, o meglio la loro funzione organica si arresti instantaneamente con la morte, annullando ipso facto la individualitä, o se questa perduri, secondo i casi e le circostanze, piü o meno lungamente dopo la morte ... Si comincia a sospettarlo ... [...]. I Vampiri sarebbero individualitä piü persistent! delle altre, casi rari, si, ma possibili anche senza ammettere l'immortalitä deiranima, dello spirito ...« 3 Vgl. Gustave Flaubert, bei dem man auf die Correspondance angewiesen bleibt, da sein Programm, den Autor bzw. den Erzähler weitestgehend zurückzudrängen, ihn auch auf die sonst im Realismus beliebten Vorwörter verzichten läßt; Emile Zola, etwa Le roman experimental; in Italien: Giovanni Verga, Luigi Capuana, Federico de Roberto: Gustavo Flaubert. In: F.d.R: Romanzi, Novelle e Saggi. Hg. von C. A. Madrignani. Milano 1984, S. 1607-1626; in Portugal: Jose Maria de £93 de Queiroz.
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2.
Der (bereits zusammengesetzte) Terminus >(Natur-)Wissenschaften< ist viel zu komplex, um für die vorliegende Aufgabenstellung operabel zu sein; selbst die Erstellung eines Systems dieser Wissenschaften - wiewohl wünschenswert, vielleicht notwendig - wäre hier kaum ausreichend, auch wenn damit klar gezeigt werden könnte, welche Disziplinen im 19. Jahrhundert einen hohen Entwicklungs-und Neuerungsschub erfahren, gleichwohl aber nicht in der Rezeption der Literaten auftauchen.4 Sucht man - methodologisch nicht unzulässig - nach Leitwissenschaften, so kann man sich von Michel Foucaults Hinweis auf die Felder Travail, vie, langage, Nationalökonomie, Biologie, Linguistik, leiten lassen, vor allem von seinen Ausführungen über die Historisierung weitgehend aller lebensweltlicher Verhältnisse, die den Einzeltaxonomien einen historischen Raum der Herausbildung, Entwicklung, Abhängigkeit der Phänomene eröffnen.5 Die Biologie, jedenfalls dort, wo das Konzept einer >Evolution< zum tragen kommt, das in allen Ausprägungen des bereits vor-darwinistischen 19. Jahrhunderts -Jean Baptiste Lamarck, Geoffroy Saint-Hilaire versus Georges Cuvier dem Historisierungs-Aspekt Fundierung gibt, erweist sich als die Wissenschaft mit der größten Rezeptionsd/c/zte gerade auch bei den Literaten, nicht zuletzt weil sie Analogien zur Gesellschaftswissenschaft) bereitzustellen verspricht: nicht nur, aber gerade bei Auguste Comte erscheint die Soziologie aus der Biologie ableitbar. Nicht zuletzt das erklärt die starke Rolle der Arzt-Figur in der Literatur als eines Vertreters einer anwendungsorientierten Wissenschaft, die physio-psychologisches Wissen auf den Menschen appliziert. Mit dieser Ableitung wird auch eine der relevanten Tendenzen im Wissenssystem und Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts berührt: die vielfältigen Versuche, per analogiam, Übertragungen von einer auf andere Wissenschaften vorzunehmen, gerade auf die nicht >reinen< Wissenschaftstypen wie Soziologie, Nationalökonomie; eine Tendenz, die früh schon einsetzt - literarisch umgesetzt etwa bei Honore de Balzac- und die durch die Darwinismusdebatte noch verstärkt wird. Der Zentralbegriff dabei ist, neben dem der >EvolutionOrganismus< und seiner Gesetze. Am Primat der Biologie besteht generell kein Zweifel; wo Grenzen der Analogie und der Modell-Übertragungsmöglichkeiten gesehen werden, wie etwa bei Herbert Spencer, geschieht das methodisch nicht ohne Einfluß einer wiederum biologischen Definitionsdebatte zu den Termini > Ana4
Zum Beispiel Boolesche Algebra; nicht-euklidische Geometrie; die (gegen das Diktum von Michel Serres: Feux etsignaux de brume: Zola. Paris 1975) Thermodynamik etc. 5 Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris 1966, S. 262-314. Eine präzise Zusammenfassung des biologischen und historischen Aspektes findet sich in einem Brief Flauberts vom 6.4.1853: »L'histoire, l'histoire et l'histoire naturelle, voilä les deux grandes muses de l'äge moderne. C'est avec elles que entrera dans les mondes nouveaux.«
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logie< und >HomologieStruktur< und >Funktion< neu virulent werden: letztere Fragestellung thematisiert auch die Literatur.6 Bei diesen Adaptationsbemühungen werden meist (theoretische wie wissenschaftsphilosophische) Unklarheiten und Widersprüche in den Positionen der Biologie selbst getilgt, so daß diese Disziplin als austheoretisierte und >positive< Wissenschaft gilt; nicht sie steht mehr in Frage, sondern die Möglichkeit, ihre Ergebnisse in anderen Disziplinen nutzbar zu machen.7 Wie relevant diese Skizze und diese Ausführungen auch sein mögen, zureichend sind sie noch nicht: jedenfalls nicht ohne weitere Bemerkungen zum Status der Systeme >Wissenschaft< und >Kunst/LiteraturWahrheitswerte< für sich reklamieren können, so daß die Disziplinen a, b, c... n durchaus zueinander in (Erkenntnis-) Konkurrenz treten (können).8 Auf der anderen Seite, vertreten vor allem in den Bemühungen zur Fundierung von >EnzyklopädienSich-Hineinversetzens< in die Psyche des historischen Menschen, so daß für Literatur und Philosophie die >rhomme-et-l'oeuvreschönen Künsten< und damit auch der Literatur jeweils ein fester Ort eingeräumt und zugewiesen war, der zunehmend verloren geht. Die Erstellungskriterien für solche holistischen Wissen(schaft)ssysteme freilich sind umstritten; die jeweils gewählten und vorliegenden werden immer wieder als ungenügend empfunden. Coleridge etwa beklagt das Ungenügen der >EncyclopedieWesenInnenweltGeschmack< als ästhetischem Regelsystem, behält - und genau das wird sich einschneidend ändern - die Kunst noch ihren festen Platz.10 Auguste Comte wählt, gegen die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts wie spätere Formen, etwa die Coleridges, zur Fundierung seines Wissenschaftssystem ein anderes Kriterium: die genannten hätten Klassifizierungsfehler begangen, so daß es ihren Systemen an Homogenität mangele; man müsse, um zu einer allgemeinen Klassifizierungstheorie zu gelangen - auch hier könne man sich wieder auf die Biologie stützen -, auf das Studium der zu klassifizierenden Objekte selbst konzentrieren, nicht von aprioristischen Annahmen ausgehen: also auf die Struktur der Einzelwissenschaften und auf deren Objektbereiche. Als erstes sei strenge >&eobachtungAnalyse< und observation, Fakt(en) und Gesetz(e) werden zu Schlagworten für Wissenschaft(-lichkeit) generell, für deren Einsatz auch die Literatur Kontive. Hg. von P. Arbousse-Bastide. Paris 1844/1963; Ernest Renan: L'avenir de la science. Paris 1848; Pierre Larousse: Grand Dictionnaire universel du XIXesiede. 15 Bde. Paris 18661876. 10 Samuel T. Coleridge: A Preliminary Treatise on Method. In: A.S. Snyder: S. T. Coleridge's Treatise on Method, as published in the Encyclopedia Metropolitana. London 1818/1934, III, §§3, 7; zur Kunst, I, 9. 11 Comte: Cours de philosophic positive (Anm.9), Bd. I; vgl. auch Comte: Discours preliminaire (Anm.9).
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texte und Bereiche sucht; die neuen Textbezeichnungen wie document(s) humain(s), fait(s), proces-verbal zeugen davon. Am dominantesten dabei - auch am umstrittensten, weil von den Realismus-Gegnern als pejorativer Begriff geführt - ist der auf die >Methode< zielende Terminus der >AnalyseTotalPessimistenWelt< durch die Wissenschaft fremd ist, und denen die Entwicklung der (Sozial-)Geschichte eher problematisch denn glücksverheißend erscheint, eingeschrieben.13 Einen Sonderfall in Frankreich bildet Flaubert, dessen Thematisierung der betise humaine und radikaler Perspektivismus auf einem Erkenntnis-Skeptizismus beruht, der sich nicht zuletzt aus dem anderen Typ von Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftsauseinandersetzung speist: aus der Desintegration und Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften und Erkenntnismodelle, so daß ihm 12
13
Romantik: vgl. etwa Victor Hugo: Preface de Cromwell [1827]. In: V.H.: Cromwell. Hg. von A. Ubersfeld. Paris 1968, S. 88: »Le genie qui devine plutöt qu'il n'apprend, extrait, pour chaque ouvrage, les premieres [regies] de l'ordre general des choses, les secondes de l'ensemble isole du sujet qu'il traite; non pas ä la fac.on du chimiste qui allume son fourneau, souffle son feu, chauffe son creuset, analyse et detruit; mais ä la maniere de l'abeille, qui vole sur ses ailes d'or, se pose sur chaque fleur, et en tire son miel, sans que le calice perde rien de son eclat, la corolle rien de son parfum.« - Gegner: vgl. etwa die Karikatur, die Flaubert am Seziertisch zeigt, das Herz Emma Bovarys herausschneidend und hochhaltend, die in La Parodie vom 5.12.1869 erschien (u.a. in: Jean de la Varende: Gustave Flaubert. Paris 1958/ Reinbek bei Hamburg 1958, S. 92). Vgl. auch die Kritik von Jules Amedee Barbey d'Aurevilly am Realismus/Naturalismus generell, der ihm als >Materialismus< gilt; etwa »La Madame Gervaisais de MM. Edmond et Jules de Goncourt n'est rien de plus qu'une analyse. Ce n'est point un roman«; ähnlich die krasse Flaubert-Kritik (in: Le roman contemporain. Paris 1902). Etwa Saint-Simon: Projet (Anm.9); Comte: Discourspreliminaire (Anm.9), S. 129-141: »intime solidarite entre la conception ency clopedique d'oü il [l'ordre fondamental] resulte, et la loi fondamentale d'evolution qui sert de base ä la nouvelle philosophic generate«; Renan: L'avenir (Anm.9); Pierre Joseph Proudhon: Philosophie du progres. Paris 1853; Spencer: System (Anm.6); Claude Bernard.
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die Widersprüchlichkeiten in den Einzelwissenschaften, die Diskontinuitäten in den Blick rücken, nicht die (holistischen) Wissen(schaft)ssysteme; Comtes Bemühungen erscheinen ihm denn als »profondement farce«.14 Die innertextuelle Präzision seiner »encyclopedie en farce«, des letzten Romans, Bouvard et Pecuchet, mit dem (geplanten) Untertitel Du defaut de methode dans les sciences, die der >Enzyklopäditis< der Epoche entgegengestellt wird, ist beachtlich und thematisiert Probleme, die sich bei Zola - zumindest auf der Ebene der Textproduktion - stellen.15 Die zwei Protagonisten, beide Schreiber, gelangen durch eine unverhoffte Erbschaft dazu, sich als Autodidakten (vgl. Biographie Comtes) der/den Wissenschaft(en) zu widmen, stürzen sich - mit ständigem Mißerfolg, der freilich nicht immer durch ihre Schuld bedingt ist - auf viele Disziplinen, >reine< wie angewandte, versuchen ihr Wissen in einer Art Volkshochschule (vgl. Comtes Bildungsprogramm für die unteren Schichten, das er auch durchführte) zu vermitteln, der eine getragen von Erkenntnisoptimismus positivistischen Typs, der andere vom Erkenntnispessimismus nicht Flauberts, sondern der konservativen Kreise und >MaterialismusBouvard et Pecuchel·. Napoli 1973.
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Evolutionismus vertrauen; trotz des Tadels vom Pfarrer, der sich für Cuvier ausspricht, weil bei diesem das Wort >Sintflut< eine Rolle spielt, bleiben sie dabei und adaptieren auch den Darwinismus, der in ihnen allerdings dann doch Zweifel aufkommen läßt bezüglich der »provenance de Phomme«; der Arzt Vaucorbeil, eine Autorität in Sachen Anthropologie, an den sie sich wenden, erweist sich, wiewohl kein Katholik, als Darwin-Gegner; zudem kann er ihnen, obgleich angeblich Spezialist, die Theorien des Vitalismus, Brownismus und Organizismus nicht hinreichend erklären: wohin man sich wendet, Unsicherheiten und Zweifel.17 Diese Unsicherheitserfahrung der beiden Protagonisten ist nicht auf ihr Studium der Biologie beschränkt, sondern zeigt sich in all ihren wissenschaftlichen, philosophischen, kunsttheoretischen, historischen Bemühungen; ein Problem des Regresses bzw. der Zirkularität stellt sich ihnen: Um die Wissenschaft zu erlernen/beherrschen, scheinen Kenntnisse in den Wissenschaften a, b, c etc. nötig; begänne man mit a, wäre wiederum auch die Kenntnis von vonnöten. Selbst Vorentscheidungen wie die nach »le rationnel« versus »Pempirique« werden für unlösbar erklärt.18 Also rekurriert man auf die Resume-Form des Total-Wissens, die Enzyklopädie. Aber dieser Reduktionismus löst das Problem nicht: Statt der widerstreitenden Meinungen in allen Aspekten und Einzelheiten bekommt man jetzt kontextlose Darstellungen der divergierenden Standpunkte und Kontroversen, gegliedert zwar, aber nach undurchsichtigen Gliederungskriterien; was man vor sich hat, sind nur noch »platitudes«, die unter die Kategorie des »comique des idees« fallen. Die Zusammenfassungen der Handbücher gehen am Zentralproblem der Wissensperspektivierung vorbei und erklären nicht die (Einzel-)Wissenschaft(en), sondern geben sie unwissentlich der Komik preis. Und die >Geschichte< selbst, deren Entwicklung Bouvard aus dem optimistischen Blickwinkel des Fortschritts, Pecuchet aus dem pessimistischen des Werteverlustes betrachtet, führt die beiden >Helden< durch den Zufall der Erbschaft von ihren beruflichen Schreibtischen der Tätigkeit als »copistes« weg, um sie nach dem enzyklopädischen Durchlauf durch alle Wissensgebiete eben dort wieder landen zu lassen, als »copistes« der »encyclopedic en farce«.19
17 18
19
Flaubert: CEuvres Completes (Anm. 15), Bd.2, S.230ff. Vgl. Höfner: Bouvard et Pecuchet (Anm. 15); die Deduktions- versus Induktions-Debatte ist im 19. Jahrhundert virulent. Auch die ambitioniert aus der Provinz aufgebrochenen >Helden< der Education sentimentale führt die Serie ihrer »echecs« - die Semantik des Scheiterns ist leitend bei Flaubert wieder in die Provinz zurück.
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3.
Comtes Wissenschaftssystem enthält, da es nur die >positiven< Wissenschaften umfaßt, im Gegensatz etwa zu d'Alembert oder den romantischen Enzyklopädievorstellungen etwa Coleridges, keinen festen Platz mehr für die >schönen KünstePositivierung< weiterer resp. aller Bereiche humaner Tätigkeit, die momentan noch im vor-positivistischen Stadium verharren, offen ist, auch nicht aus; im Gegenteil: Da dem Drei-Stadien-Gesetz nicht einfach der Status der >Hoffnung< zukommen soll, sondern der einer (kausalen) Gesetzmäßigkeit, ist ihre Integration nur eine Frage der Entwicklungszeit. Für den Augenblick teilen damit die >schönen Künste< die Situation aller angewandten Wissenschaften, von denen Comte noch nicht sprechen will, da es ihm um »speculation« vor »application« gehe, um die theoretischen Grundlagen, nicht um die praktische Umsetzung von Wissenschaften; denn noch verfüge man über keine zwischen Theorie und Praxis vermittelnden Doktrinen, da »les arts«, das heißt die Anwendungsbereiche von Wissenschaften, nicht von jeweils einer Fundamental-Wissenschaft abhingen, sondern von mehreren Impulse erhielten, so daß diese Relationen erst genau elaboriert und hierarchisiert werden müßten; das sehe man am Ingenieurwesen, auf das in der Vermittlungsfrage von Theorie und Praxis große Hoffnungen gesetzt werden, wie an der »agriculture«: »[...] und dasselbe läßt sich von den Schönen Künsten sagen.«20 Zola - einer der wenigen französischen Autoren, die von Comte tatsächlich beeinflußt sind21 - setzt hier an und versucht eben diese Leerstelle im System des Positivismus, im neuen »enzyklopädischen Baum« zu füllen, und zwar in (Literatur-)Theorie wie Praxis. Dabei, für die Theorie, nicht primär und ausdrücklich auf Comte, sondern auf Claude Bernards Introduction a l'etude de la medecine experimentelle zurückzugreifen, folgt der das System steuernden Fortschritts->Logikneuen< Medizin wird als Schritt in den nach Comte noch zu explorierenden Bereich zwischen Theorie und Praxis gesehen; die Medizin ruht auf den Comteschen Fundamentalwissenschaften auf, die Physiologie speist sich aus Physik, Chemie, Biologie; kann sie strikt positivistisch formuliert werden als »Physiologie scientifique«, stellt sie einen notwendigen nächsten Etappenschritt dar; da sie unmittelbar mit dem Humanbereich zu tun hat, böte sie die 20
Comte: Cours de philosophie positive (Anm.9), Legon II: »Hierarchie des sciences positive.« In diesem Punkt ähnlich: Andre-Marie Ampere: Essai sur la philosophie des sciences. 2 Bde. Paris 1838/1843. 21 Die Wirkung Comtes ist besonders überbewertet und unzulässig auch auf Autoren wie Flaubert ausgeweitet in: Hans-Joachim Müller: Der Roman des Realismus-Naturalismus in Frankreich. Wiesbaden 1978.
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Grundlage für den nächsten Basis-Schritt, der zugleich der zur Szientifizierung der Literatur wäre.22 Zola rekurriert bei dieser Unternehmung nun keineswegs ausschließlich auf >Ergebnisse< der neuen Wissenschaft(en), sondern auf deren >Methodenmilieux< und den Bereichen >MenschGesellschaft< sind dabei vielfältig - vorlagen, sondern, wiederum mit Rekurs auf Claude Bernard, auch in Einklang mit Comtes Vorrang der »speculation« vor der »application«, methodologische Überlegungen. Jeder »observateur«, so Bernard, interpretiere (Natur-)Phänomene »par anticipation«, bevor er sie »par experience« kenne; auch der »experimentateur« gehe, wie der Metaphysiker und Scholastiker, von einer Idee a priori aus. Setzten die letzteren aber diese Idee als »verite absolue« und deduzierten daraus logisch, so fasse der Experimentator, »plus modeste«, diese Idee nur als Frage auf, als »interpretation de la nature, plus ou moins probable, dont il deduit logiquement des consequences qu'ü confronts a chaque instant avec la realite au moyen de l'experience«, wobei - ganz im Gegensatz zu Comte - gilt, daß ihm die »causes premieres« ebenso verborgen bleiben wie »la realite objective des choses« (S. 60; Hervorhebungen E.H.). Auf diese Weise läßt die neue Methode die reine Deduktion hinter sich und will zugleich die bekannten Empirie- und Induktionsprobleme, wie sie durch und seit Bacon vertraut sind, lösen: »L'idee experimentale est done aussi une idee a priori, mais c'est une idee qui se presente sous la forme d'une Hypothese
22
Dem Drei-Stadien-Gesetz Comtes analoge Dreierschritte bei Claude Bernard: Introduction a l'etude de la medicine experimentale. Hg. von F. Dagonet. Paris (1865/1966, S. 60: »L'esprit humain, aux diverses periodes de son evolution, a passe successivement par Ie sentiment, la raison et V experience« - zitiert in: Emile Zola: Le roman experimental. Hg. von A. Guedj. Paris 1880/1971, S. 82, und immer wieder bei Zola selbst. Zum Zusammenwirken der Fundamental-Wissenschaf ten: Bernard: Introduction a l'etude de la medicine experimentale. - Zola: Le roman experimentale, S. 60: »Ce n'est lä qu'une question de degres dans la meme voie, de la chimie ä la physiologie, puis de la physiologie ä l'anthropologie et ä la sociologie. Le roman experimental est au bout.«; S. 74: »J'en suis done arrive ä ce point: le roman experimental est une consequence de revolution scientifique du siecle; il continue et complete la physiologie, qui elle-meme s'appuie sur la chimie et la physique; il substitue ä l'etude de l'homme abstrait, de l'homme metaphysique, l'etude de 1'homme naturel, soumis aux lois physicochimiques et determine par les influences du milieu; il est en un mot la litterature de notre äge scientifique, comme la litterature classique et romantique a correspondu ä un äge de scolastique et de theologie.« Bernards explizite Ausgrenzung von Philosophie und vor allem Kunst/Literatur aus dem Entwicklungsschema muß Zola als Denkfehler und Systeminkonsequenz erscheinen; der so zustimmend zitierte Bernard wird an Stellen daher kritisiert; vgl. Zola: Le roman experimentale, S.91f., 94. Zum Unterschied zwischen »medecine empirique« und »medecine experimentale« vgl. Bernard: Introduction a l'etude.
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dont les consequences doivent etre soumises au criterium experimental afin d'en juger la valeur« (S.60).23 Es ist der >starke< Status der >HypotheseRealitätenromantisch< vorbelastet, freilich nicht fallen darf -; aber es handelt sich um Fiktionen mit klarem epistemologischem Status, die im Rahmen einer Wissenschafts - Adäquanz stehen, einer Überprüfungs-Modalität gehorchen sollen. So durchaus »metaphorisch« wie zuweilen behauptet, ist der Methodenanspruch Zolas, zumindest hierin, also nicht, zumal dann nicht, wenn man mitbedenkt, daß im 19. Jahrhundert - man vergleiche wieder die Übertragbarkeitsvorstellungen durch Analogie/Homologie von einem wissenschaftlichen Bereich auf (einen) andere(n) - Aussagetypen als nicht-metaphorisch erscheinen konnten, die nach heutigen Standards Metaphern sind.29
4. Die Anordnung von Texten - nicht nur von Romanen - zu Zyklen ist in den romanischen Literaturen des 19. Jahrhunderts ein bemerkenswert häufig anzutreffendes Vertextungsverfahren; und es läßt sich zeigen, daß diese Zyklusbildung in den meisten Fällen vom Rekurs auf einen Wissen(schaft)styp abhängig ist. Auf der einen Seite stehen dabei Anordnungen in Taxonomien, in synchronen >tableauxGesetzen< verknüpft sind, Geschichtsdarstellung und Evolution(stheorie) einen Konnex bilden, zumeist in der Gestalt, daß biologisch-evolutionistische Erkenntnisse auf historische Verhältnisse übertragen werden. Dabei ist eine Teleologie - dem ie/os-Gedanken huldigt auch die'frühe Evolutionstheorie - unverkennbar, wo-
puncte der Wissenschaft betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches, in der Phantasie durchgeführtes Experiment, das Wort Experiment im buchstäblichen, wissenschaftlichen Sinne genommen. [...] Die Prämissen des poetischen Experiments: das sagt in einem Worte alles. Hier verknoten sich Naturwissenschaft und Poesie.« 29 Vgl. Serres: Feux et signaux de brume (Anm.4), S. 32 u.ö.
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bei das Endziel der Geschichte im Fortschritt bestehen kann, aber auch in der Negation dieses Optimismus.30 Das Musterbeispiel für den synchronen, taxonomischen Typ - ein Typ, der nach Foucault alle Merkmale der Wissensanordnung vor dem epistemologischen Bruch um 1810/1825 trägt - findet sich in der Comedie humaine Balzacs.31 Nun ist zwar richtig, daß Balzac die frühen Ausprägungen des Evolutionismus wie sie sich bei Lamarck und G. Saint-Hilaire finden - letzterem ist der Pere Goriot gewidmet - gekannt und für einige Vorstellungen von »milieu externe« genutzt hat; seine Zyklusbildung ist aber viel stärker etwa der Histoire naturelle Buffons verpflichtet. Seine Darstellung der »espece sociologiques« in Äquivalenz zu der »especes biologiques« - so eine der Kernformulierungen des Avant propos - führt zu einer taxonomischen Anordnung von Lebensbereichen, in denen Figuren als >individu-type< zu Protagonisten werden sollen; diese erweist sich dann noch als auf zwei hierarchisierten Abstraktionsstufen - Etudes philosophiques und Etudes analytiques - interpretiert.32 Der Anspruch zielt also auf ein totalisierendes >tableau< von synchronen Relationen; diachrone, >historische< Elemente vermittelt darin die »reapparition des personnages«, ein Kunstgriff, dessen Erfindung Balzac stolz hervorhebt, und der darin besteht, eine Reihe von Figuren in mehreren >milieux< agieren zu 3(1
Bekanntlich findet sich eine solche >Historisierung< auch in Ansätzen der Nationalökonomie: progressistisch im Marxismus; eher pessimistisch etwa bei Ricardo; vgl. etwa: Foucault: Les mots et les choses (Anm. 5), S. 265-275. 31 In ähnlicher Weise dachte offenbar Edmond de Goncourt an eine auf mehrere Romane sich erstreckende Darstellung eines möglichst repräsentativen Ausschnittes des sozialen Lebens, die nicht nur von ihm selbst, sondern von allen realistischen Autoren im Sinne einer >Schule< zu leisten sei, vgl. Edmond de Goncourt: Lesfreres Zemganno. Paris 1879, Preface: »Le jour oü l'analyse cruelle que mon ami, M. Zola, et peut-etre moi-meme [Anspielung vermutlich auf Edmond et Jules de Goncourt: Germinie Lacerteux. Paris 1864], avons apportee dans la peinture du bas de la societe, sera reprise par un ecrivain de talent, et employee ä la reproduction des hommes et des femmes du monde, dans des milieux d'education et de distinction, - ce jour-lä, le classicisme et sä queue seront tues. Ce roman realiste de l'elegance, 93 avait ete notre ambition ä mon frere et ä moi de l'ecrire. Le Realisme, pour user du mot bete, du mot drapeau, n'a pas en effet l'unique mission de decrire ce qui est bas, ce qui est repugnant, ce qui pue, il est venu au monde aussi, lui, pour definir dans de l'ecriture artiste, ce qui est eleve, ce qui est joli, ce qui sent bon, et encore pour donner les aspects et les profils des etres raffines et des choses riches: mais cela, en une etude appliquee, rigoureuse, et non conventionnelle et non imaginative de la beaute, une etude pareille ä celle que la nouvelle ecole vient de faire, en ces dernieres annees, de la laideur. [...] Quant aux FRERES ZEMGANNO, le roman que je publie aujourd'hui: c'est une tentative dans une realite poetique.« 32 Vgl. Felix Davins (zusammen mit Balzac redigierte) »Introduction« zu den Etudes philosophiques (1834):»Ainsi done, quand les Etudes de mosurs auront peint la societe dans tous ses effets, les Etudes philosophiqu.es en constaterons les causes, et les Etudes analytiques en creuseront \esprincipes. Ces trois mots sont la clef de cette ceuvre etourdissante par sa profondeur, surprenante par ses details, dont nous avons essaye de faire comprendre ici toute la portee« (in: Honore de Balzac: La Comedie humaine. Hg. von P. Citron. 7 Bde. Paris 1965, Bd.6, S.700-706, hier S.706. Buffon, vgl. Balzac: La Comedie humaine, Bd.l, S.51; dort auch genannt: Charles Bonnet (1760); Cuvier und G. Saint-Hilaire.
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lassen, während andere nur einer Umwelt zugeordnet sind, mit der sie in einer Wechselbeziehung, die eine Typisierung erlaubt, stehen.33 Dieses Tableau kennt nun allerdings eine (versteckte) Ordnung, nach der die >NaturRealität< geschaffen war, und die es herauszustellen gilt, eingefangen im Leitgedanken der »unite de composition«, die als Organisationsprinzip der >NaturRealität< eine »prinzipielle Einheit des Wissens« zu garantieren scheint und somit auch die Darstellung der >Realität< zu leiten hätte.34 Die Beibehaltung dieser eher metaphysischen denn aus der Wissenschaft des 18. wie des frühen 19. Jahrhunderts ableitbaren Größe zeichnet verantwortlich für einen Doppelaspekt sowohl der Balzacschen Wissenschaftsauffassung als auch seiner Poetik, der ihn in der Foucaultschen Umbruchzeit epistemologisch wie poetologisch situiert. Auf der einen Seite steht die Rezeption der neueren Bemühungen der histoire naturelle wie die Biologie immer noch heißt - hier: Cuviers und G. SaintHilaires, deren beträchtliche Differenzen Balzac im übrigen nicht zur Kenntnis nimmt -, die, in diesem Stadium ihrer Geschichte, der literarischen Mimesis insofern Anschlußstellen bot, als sie selbst sich stark mimetisch (»exacte representation«) verstand.35 Cuviers Programm inkludierte nun zwar keine (Teil-)Analogie und Übertragbarkeit auf die sozialen Verhältnisse, weil die »sciences morales« eine Affektenlehre elaborieren müßten, die die biologischen Regeln, Gesetze und methodisch-theoretischen Vorhersagemöglichkeiten aufgrund der »continuelle et incomprehensible mobilite du coeur« überstiege, bot aber eine, bei ihm gewiß nur rhetorisch gemeinte Aussicht, die Balzac als Anschlußstelle seiner Analogie >Natur< - >Sozietät< nutzen konnte, wobei er im Avant-propos immerhin die Vorsicht walten läßt, die späteren soziologischen Analogie-Modellen, vor allem denen im Zeichen des Sozial-Darwinismus, häufig abgeht: die nämlich, die Grenzen der Analogisierung anzugeben und die Unterschiede der beiden >Welten< nicht zu unterschlagen.36 Methodisch galt es dabei, literarisch wie wissenschaftlich, mit der observation und analyse der Phänomene zu beginnen und zu deren Vergleich fortzuschrei33
Zum Beispiel Honore de Balzac: Lepere Goriot: »[...], enfin toute sä personne [Mme Vauquer] explique la pension, comme la pension implique sä personne« (in: Balzac: La Comedie humaine [Anm.32], Bd. 2, S. 219. 34 Zitat: Winfried Wehle: Litterature des images. Balzacs Poetik der wissenschaftlichen Imagination. In: Hans Ulrich Gumbrecht, Karlheinz Stierle und Rainer Warning (Hg.): Balzac. München 1980, S.57-81, hier S.61; vgl. auch Eckhard Höfner: Literarität und Realität. Aspekte des Realismusbegriffs in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 1980, S. 90-97. 35 Georges Cuvier: Rapport historique sur les progres des sciences naturelles [...]. Paris 1810, S.4f.: »[...] nous pouvons nous representer la nature et les sciences comme deux vastes tableaux, dont Tun devrait etre la copie de l'autre«; »reproduire avec fidelite [...] Timmense et sublime ensemble des etres naturels.« 36 Ebd., S. 6: »Le genie seul, comme par une inspiration divine, sail [(la): la theorie des affections morales] diriger et fixer.« Vgl. Fußnote 13: Spencer.
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ten, wobei man, angeregt durch die paläontologischen Untersuchungen und Skelett-Rekonstruktionen von ausgestorbenen Tieren, mit denen der »Knochenpapst« Cuvier das Erstaunen eines breiten Publikums hervorrief, die jeweiligen verdeckten (historischen) Tiefenstrukturen zu rekonstruieren, da Strukturen wie Funktionen der Untersuchungsgegenstände offenbar festen Gesetzen den »causes« resp. »principes«, von denen Felix Davin spricht - gehorchten. Diese >AnalyseSyntheseBlut< zusammenfassen ließen, zumal dessen Modell selbst, unter den »Conditions organiques«, Ausdifferenzierungen in »races« und weitere in Verschiedenheiten des »Systeme nerveux« vorsieht; von daher konnte, mit Rekurs auf Wissenschaft, eine Verbindung zu Degenerationstheorien hergestellt werden.40 Und sie konnte versuchen, mit Ansätzen zur Genetik dabei einen historischen Vektor zu integrieren, implizierte doch ein arbre genealogique eine Vorstellung von Geschichtlichkeit; zugleich war das Bild des >Baumes< auch ein Organisationsprinzip für ein totalisierendes Wissenssystem. Die (Gesetze der) Vererbungslehre - eine im Entstehen begriffene Wissenschaft, die somit den Status der Anthropologie und auch den der Künste teilte, nämlich den, Hypothesen bilden zu können, ausgehend von den gesicherten >Fundamenten< der Physiologie und anderen bereits als >positiv< gesetzten Wissenschaften - bot(en) sich an; immerhin gab es Ansätze zu ihrer Übertragung Fragen nach der Determiniertheit von »race« und »milieu« - auch schon im Bereich der Kulturwissenschaften. 41 Daß dazu Zola auf ein Werk zurückgreift - und zwar trotz (partieller) Kenntnisse von damals >neueren< Ansätzen der Genetik, zum Beispiel denen August Weismanns -, das in Fachkreisen als >philosophischNatur< - Biologie/Medizin - steht dabei unter der Leitthese eines >Vitalismusmetaphysisches< Relikt, das aus seinem Ansatz an sich nicht ableitbar ist, auch bei Bernard findet: Durch Bernards Festhalten an diesem Theorem hatte es aber eine Art wissenschaftlicher Dignität und Gültigkeit erhalten, 44 Gemäß dem Modell Comtes und anderer bildet auch hier die Biologie die Grundlage für eine Gesellschaftswissenschaft, an der Pascal vor allem die diachrone Achse der Vererbung, der kulturellen Evolution, des Fortschritts interessiert; das Modell >Natur< wird also auf >KulturNatur< beschlossen, daß die Natur im Bereich der Vererbung nicht einer regelmäßigen Wiederkehr des Gewesenen unterworfen ist, sondern den einzelnen aus der Determinationskette entlassen kann; auch das ein evolutionistischer Gedanke. Pascal bleibt in seiner Tätigkeit nicht bei Lucas stehen; er verfolgt im Zuge seiner Forschungen die Ergebnisse der Zellforschung, liest Galton, nimmt vorweg »la theorie que Weismann devait faire triompher plus tard«, gelangt zur Hypothese eines »plasma germinatif«, das die Fähigkeit habe (de) »constituer un nouveau corps, totalement different de ceux dont il est le produit«.46 Seine Basis-Hypothese ist dabei nicht mit der Weismanns identisch; und das hat seinen Grund in der Analogie/Homologie/Struktur-Isomorphie >Natur< >KulturKultur< setzt Pascal auf ein Erziehungsprogramm, das geeignet wäre, erbliche Vorbelastungen, wie der Stammbaum sie Clotilde zuweist, wo nicht auszuschalten, so doch zu mindern; und bis zu Weismanns Forschungen hatte die These Lamarcks Gewicht, daß auch >erworbene< Fähigkeiten vererbbar seien. An der kulturellen Entwicklungsfähigkeit des Individuums, auch gegen jede Erblast, wird Pascal festhalten, auch wenn der Fortschritt seiner Disziplin ihm 44
Bernard: Introduction a l'etude (Anm.22), S. 142f.: »Ce groupement (d'elements chimiques) ne se fait que par suite des lois qui regissent les proprietes chimico-physiques de la mauere; mais ce qui est essentiellement du domaine de la vie et ce qui n'appartient ni ä la chimie, ni ä la physique, ni ä rien autre chose, c'est idee directrice de cette evolution vitale. Dans tout germe vivant, il y a une idee creatrice qui se developpe et se manifeste par l'organisation. Pendant toute sä duree, l'etre vivant reste sous l'influence de cette meme force vitale creatrice, [...].« 45 Serres: Feux etsignaux de brume (Anm.4), S.41: »L'histoire naturelle se propage dans l'histoire sociale«; S. 43: »Et si l'histoire naturelle convient ä l'histoire sociale, c'est toujours par la forme de l'arbre«. 46 Zola: Les Rougon-Macquart (Anm.40), Bd. 5, S.945f.
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die eigene Hypothese einer Vererbbarkeit - ein unausweichlicher Prozeß der Wissenschaft - falsifizieren sollte.47 Clotilde nun leidet an einer >natürlichen< Hypersensibilität, die, auf der Seite der >Kulturrichtigen< Wissens bereits gesichert ist. Ihren Einfluß auf Clotilde auszuschalten ist nicht leicht; Pascals Erziehungsprogramm, anfangs gegen den Widerstand Clotildes durchgeführt, mündet in Streit, sogar in »Rebellion« auf Seiten der jungen Frau. Ein Debattenfeld ist dabei von besonderem Interesse: die Integration der Kunst in den arbre des connalssances. Clotilde verfertigt präzise Zeichnungen nach der Natur, die Pascal für seine wissenschaftlichen Werke verwenden kann; aber sie aquarelliert auch nach ihrer Phantasie in Farben und Formen, die der Erzähler des Textes - hier, anfangs, nicht einer Meinung mit seinem Protagonisten - als künstlerische klassifiziert, die freilich den Erzieher Pascal einen Rückfall in die Familienerbkrankheit der »folie« befürchten lassen, und die er daher strikt zu verbieten versucht; im Verlauf des Textes freilich wird hier ein Erziehungsprozeß Pascals selbst sichtbar: Er revidiert seine streng >positivistische< Ansicht, die Kunst wird in das System integriert, wiederum >räumlich< darin sichtbar, daß am Schluß des Romans Clotildes »atelier« und Pascals Laboratorium im nämlichen Raum untergebracht sind. Die »imagination« enthält ebenso einen neuen Platz wie eine >gereinigte< Form von Religiosität, die auch bei Pascal selbst in der wiederkehrenden Rede von der Unerschöpflichkeit und dem »mystere«, das die Natur, bei allem Fortschritt der Wissenschaften, bilde, angelegt war. Das Gelingen von Pascals Erziehungs- und Bildungsprogramm - »Tu äs corrige mon heredite«, wie Clotilde sagt (S. 1154) - hat auch bei ihm eine Bildungserweiterung bewirkt, die im Rahmen der Zolaschen Vorstellung einer Szientifizierung auch der noch nicht verwissenschaftlichten Bereiche humaner Aktivitäten liegt. 47
Ebd., S. 946: »Et il s'attendait bien ä ce que sä theorie füt caduque un jour, il ne s'en contentait que cotnme d'une explication transitoire, satisfaisante pour l'etat actuel de la question, dans cette perpetuelle enquete sur la vie, dont la source meme, le jaillissement semble devoir ä jamais nous echapper.«
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Diese gegenseitige Wissens-Befruchtung wird in Form einer Liebesbegegnung vertextet,die zur Mutterschaft Clotildes führt: Das gemeinsame Kind, so darf man hoffen, wird endgültig von den biologischen wie gesellschaftlichen Erblasten befreit sein, erster Zeuge einer erlösten Menschheit, jedenfalls in der Perspektive der Mutter: »L'enfant etait venu, le redempteur peut-etre« (S. 1218). Die Biologie und Soziologie der Familiengeschichte wird, nach einem geschichtsphilosophischen Modell, transzendiert.48 Spätestens anhand dieser Textstrukturen konstatiert die Forschung einen epistemologischen Bruch, eine (Re-)Mythisierung; mag die Übertragung eines organizistischen biologischen Modells auf die Gesellschaft und Sozialgeschichte noch als wissenschaftlicher Ansatz des 19. Jahrhunderts vertretbar sein, die Ausweitung der Familiengeschichte auf eine Welt- und (säkularisierte) Heilsgeschichte, »Pextension d'une genealogie locale ä Thistoire globale de l'humanite«, scheint den Theorierahmen Zolas zu sprengen und wird im allgemeinen als künstlerisch wenig überzeugend gewertet.49 Diese Wertungen mögen verständlich scheinen, vergleicht man mit Zola und vor allem mit seinem Docteur Pascal die Modernität Flauberts, und vielleicht sogar ästhetischen Kriterien genügen; unproblematisch sind sie aber nicht. Zum einen ist unrichtig, daß Zola den eigenen Theorierahmen oder gar den der Wissenschaftsnormen generell des 19. Jahrhunderts völlig aufsprenge, weil, wie skizziert, weite Teile dieser Wissenschaft(en) geschichtsphilosophisch fundiert und fortschritts-optimistisch ausgerichtet sind; die Übertragung des Organismus-Konzeptes auf die Gesellschaft begleitet die Soziologie weit ins 20. Jahrhundert hinein. Zum anderen wird dabei der grundlegende Status >HypothesenRougon-Macquartrealistische< Mimesis zugunsten einer kruden Mischung aus Idylle, Utopie und Mythos entscheidet, [...]«. Das obige Zitat aus Serres: Feux et signaux de brume (Anm. 4), S. 55, der im übrigen als einer der wenigen gegen die Abwertung Zolas in diesem Punkt eintritt: »La genetique ou la chimie tracent un arbre, l'encyclopedie parcourt une echelle, et Pascal, parleur culturel, plonge dans une tradition et immerge dans une langue, fait l'annonce de ces diagrammes formeis au moyen d'enonce qui ramenent ici, par adherence, l'arbre de nos premiers parents, l'echelle de Jacob. II les actualise. Le mythe reste dense dans le savoir, et reciproquement. [...] Litterature, comme on dit, fille du mythe et du savoir« (49).
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Wiewohl Federico de Roberto durchaus Polemisches gegen Zola vorbringt, ist doch seine Familiengeschichte des sizilianischen Adelsgeschlechtes der Uzeda auf dem Modell der (genetischen) Vererbung, des korrumpierten >Blutes< und der Degeneration, die zu Zynismus, zu (Erb-)Krankheiten und zur »follia« führt, aufgebaut, wenn auch ohne die (Natur-)Wissenschaft(en) so zentral zu thematisieren wie Zola. Das Modell der Determiniertheit wird fast ausschließlich als ein historisches Gesetz dargelegt; und dieses Ablaufgesetz läßt hier für keinerlei Fortschrittshoffnung mehr Raum. Das Kind Pascals und Clotildes, das bei Zola die Hoffnung aufkommen ließ, die Determinationskette biologisch aufgesprengt zu haben, durch die »inneite« Pascals und die sorgfältige, letzten Endes den Bereich der Kunst einbeziehende Erziehung Clothildes im umweltunabhängigen (Experimentier-)Raum der »Souleiade«, und so beitragen zu können auch am politico-sozialen Wiederaufbau Frankreichs nach der Debacle, kehrt, intertextuell, als Inverse in den Vicere wieder: der ersehnte Erbe kommt als monströse, lebensunfähige Fehlgeburt nach qualvoller Schwangerschaft zur Welt; in Spiritus konserviert, landet der Fetus - die Inverse einer >hommage< an die Embryologie - im Familien->MuseumWeltbilder< der Figuren, auch deren betise (Flaubert), Autonomie erlangt und auf keinen allgemein verbindlichen Werterahmen und common sense zurückbezogen ist; - daß aus der Rezeptions-Unsicherheit über die Verbindlichkeit/den Stellenwert der einzelnen Figuren-Aussagen eine hohe Aktivierung des Lesers erreicht wird. Als ein, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund tretendes (grammatikalisches) Stil-/ Vertextungsmittel gilt dabei der discours indirect libre. Die Variationsbreite dieses »personalen Erzählens«54 ist beträchtlich; grob könnte man trennen in: - Erzählen aus wechselnden Perspektiven der Romanfiguren; zum Beispiel Flaubert: Mme Bovary; - Erzählen aus der Perspektive weitgehend einer Figur; etwa Flaubert: L'education sentimentale; de Roberto: L'illusione; Eca de Queiroz: Oprimo Basilio; - (»chorisches«) Erzählen aus einer anonymen Vielzahl von >Stimmensprecherlose< Texte nicht geben kann und die Romanfiguren als Träger von »points of view« in die Texte erst eingeführt werden müssen (vgl. etwa Lubomir Dolezel: The typology of the narrator: point of view in fiction. In: To Honor Roman Jakobson. 2 Bde. Den Haag 1967, Bd. l, S.541-552), diesen Erzähltyp auch als Variante des ER-Erzählens (Gerard Genette: Discours du recit. In: G. G.: Figures III. Paris 1972) auffassen, und zwar als eine die herkömmlichen »auktorialen« Funktionen stark reduzierende Form (vgl. Höfner: Literantat und Realität [Anm.34]). 55 Vgl. die Anklagerede des Staatsanwalts: »Qui peut condamner cette femme dans le livre? Personne. Teile est la conclusion. II n'y a pas dans le livre un personnage qui puisse la condamner. Si vous y trouver un personnage sage, si vous y trouver un seul principe en vertu duquel Padultere soil stigmatise, j'ai tort. Done, si, dans tout le livre, il n'y a pas un personnage qui puisse lui faire courber la tete; s'il n'y a pas une idee, une ligne en vertu de laquelle 1'adultere soit fletri, c'est moi qui ai raison, le livre est immoral!« (vgl. Le proces de Madame Bovary. In: Flaubert: (Euvres Completes [Anm.15], Bd.2, S. 724-750, hier S. 731). Das Urteil bestätigt, trotz des Freispruchs, den Vorwurf ebenso wie die Relation dieses Erzählens zum >RealismusModernität< ableiten. 56 Das Prinzip der impersonnalite wird auch in der Lyrik aufgegriffen und gegen die Prädominanz der Ich-Rolle in der Romantik gewendet; vgl. etwa Leconte de Lisle. 57 Vgl. Brief an Louise Colet, 6.4.1853; an M" e de Chantepie, 23.10. 1863; Preface aux »Dernieres Chansons«, poesies posthumes de Louis Bouilhet (1872). In: Flaubert: (Euvres Completes (Anm.15), Bd.2, S.759-765. 58 Vgl. Brief an Louise Colet, 16.1. 1852; an George Sand, 3.4. 1876; »Mais aucun des deux [Daudet und Zola] n'est preoccupe a vant tout de ce qui fait pour moi le but de Art, ä savoir: la Beaute«.
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Dieses Perspektivierungsproblem wird in der Rezeption vor allem Luigi Capuanas seiner epistemologischen Fundierung weitgehend entkleidet - wiewohl der italienische Autor den Gang der (positivistischen) Wissenschaft(en), wenn auch mit zunehmender Unzufriedenheit, die freilich nie in Anti-Wissenschaftlichkeit, sondern in die Hoffnung auf einen den Positivismus übersteigenden Wissen(schaft)styp umschlägt, aufmerksam verfolgt -, aber als Problem der forma der Kunst/Literatur relevant gesetzt.59 Wenn Flaubert seinen Erkenntnis-Skeptizismus in seiner Spätphase nochmals radikal zusammenfaßt - »II n'y a pas de Vrai! II n'y a que des manieres de voir« (Brief vom 3.2. 1880 an Leon Hennique) -, so wird damit auch deutlich, daß die Perspektiven-Sicht, als Thematisierung eines Verlustes von geschlossenen Weltsystemen und der Aufspaltung in (zum Teil untereinander non-kompatible) Sicht-und Verfahrensweisen epistemologisch >stärker< ist denn das Wissenschafts-Literatur-Szientifizierungsparadigma: Perspektivismus darf, als Ausfluß einer gewandelten Realitäts- und Wissenschaftserfahrung, als Grundkonstante des (romanischen) Realismus gelten. Und diese epistemologisch fundierte Perspektivierung ist zwar realimus-spezifisch, aber nicht an die Vertextungsstrategie »personalen Erzählens« gebunden, wenngleich diese Erzähltechnik der genannten Tendenz, die wiederum eine der möglichen Reaktionen auf die Wissenschaft darstellt, sehr entgegenkommt. Andere Erzählstrategien zu einer Perspektivierung der Ereignis-Wiedergabe sind möglich und zum Teil historisch gegeben, etwa in der Form des >mehrstimmigen< Briefromans oder aber in textbeherrschenden Figuren-Dialogen mit geringer Erzähler-Intervention; in Frankreich erscheint der Briefroman allerdings nach seiner beherrschenden Stellung in der Literatur des 18. Jahrhunderts als >demodeIch anti-romantischen ausgewiesen hat und so rezipiert wird, zwar aufzugreifen, die Allwissenheit des Erzählers, die dem neuen Realitätsbegriff wider59
Briefe; auch zusammenfassend: La crisi del romanzo. In: Capuana: G U »ismi« contemporanel (Anm. 1). 60 Vgl. Balzac: Preface zu Le lys dans la vallee (1835). In: Balzac: La Comedie humaine (Anm. 32), Bd.6, S.683f.: »Ainsi, le desir d'animer leurs creations a jete les hommes les plus illustres du siecle dernier dans la prolixite du roman par lettres. [...] Malgre l'autorite de la chose jugee, beaucoup de personnes se donnent encore aujourd'hui le ridicule de rendre un ecrivain complice des sentiments qu'il attribue ä ses personnages; et s'il emploie le/e, presque toutes sont tentees de le confondre avec le narrateur.« Spanien: vgl. Perez Galdos: La incognita (Brief); Angel Guerra (Dialogisierung).
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spräche und der Erkenntnis-Skepsis zuwiderliefe, abzubauen; mehr noch: diese Reduktion(en) selbst noch zu thematisieren.61 Noch wenige Spuren dieser Vertextungsbemühungen finden sich bei Balzac, dessen Erzählerprolixität bereits Auerbach ironisch vermerkte;62 betont verwendet findet sich das Vorgehen aber bereits bei Stendhal, der generell die Perspektivensicht als letzte Möglichkeit von >Weltobjektive< Bilder, sondern >Interpretationen< von >RealitätSpiegelOrdnung der Diskursewahrer< Realitätserkenntnis, die Ablehnung totalisierender, enzyklopädischer Modelle wird hier eskamotiert zugunsten der Leitwissenschaft Biologie/Soziologie, die, als unhintergehbar >wahrVitalismusModernität< des perspektivischen Erzählens wird damit zurückgenommen. Soweit die fragmentarischen Zyklen in Italien Schlüsse zulassen, kann man eine vergleichbare Tendenz zu einer »auktorialen« Rückkehr beobachten; das gilt sowohl für den Mastro-don Gesualdo Vergas im Vergleich zu den Malavoglia als auch vor allem für de Robertos Vicere im Vergleich zu L'illusione, dem, wie der Autor meint und die zeitgenössische Kritik ihm bestätigt, »monologo di 450 pagine«. Der Wechsel der Erzählhaltung ist aber keineswegs so radikal durchgeführt wie bei Zola - es bleibt eher bei einer Mischform: »auktorialer« Rahmen mit figuren-perspektivischen Passagen - und verfolgt keine expliziten didaktischen Ziele oder solche der Wissen(schaft)sdarlegung und Methodenzusammenfassung. Vermutlich läßt sich fragen, ob mit dem Prinzip des perspektivischen Erzählens als Leitprinzip der Vertextung überhaupt eine (totalisierende) Zyklus-Konzeption realisiert werden kann: Vergas Probleme mit dem geplanten dritten Roman sprechen ebenso dafür wie die Tatsache, daß die Verfechter der Perspektiventechnik - Flaubert, Capuana, E$a de Queiroz, auch Henry James - auf diese Kompositionsform von vorneherein verzichten, obgleich ihre Texte oftmals gleiche Thematiken - etwa den allgegenwärtigen Ehebruch - in verschiedenen sozialen Feldern durchspielen und deren nicht seltenes Strukturmerkmal eines >offenen< Endes hinreichend Anschlußmöglichkeiten böte.70 6.
Daß es geboten ist, zur Beschreibung des literarischen >Realismus< nicht primär auszugehen von der >Realität< und ihrer (gar >objektivenOffenes< Ende, etwa Flaubert: L'education sentimentale; ESchönen und Guten< zuschreiben, wie sie die Realismusdebatte in den Stellungnahmen der Realismuskritiker und weiter konservativer Kreise bis zum Jahrhundertende verfolgt, nicht gültig abwenden kann. 71 Die Reaktion seitens der neuen Literatur ist dabei auch ablesbar an der Wahl ihrer Vertextungsstrategien, die sich einerseits - Ebene des Literaturbegriffs gegen die Romantik wenden, aber andererseits ebenso abhängige Variable des Realitätsbegriffs sind. Eindeutig kann solches dargestellt werden am Komplex >Zyklus< - >Enzyklopädie< - >Wissen(schaft)ssystemLiteratur< zu fordern, ist seinerseits Reflex auf die >Gebietsansprüche< der sich ausdifferenzierenden Wissen(schaft)szweige, die ihrerseits die globalen Entwürfe in Frage stellen, aus deren Konkurrenz man auch die nicht nur Flaubert beherrschende Erkenntnisskepsis ableiten kann. Insofern ist die >Intertextualität< als Thematisierung von (anachronistischer) Literatur in (>modernerFarbenlehre< im Rahmen der Sophienausgabe (Salomon Kalischer: Goethe als Naturforscher und Herr Du BoisReymond als sein Kritiker. Eine Antikritik. Berlin 1883) klingen wissenschaftshistorische Motive an, vorzugsweise im Vergleich Goethes mit Du Bois-Reymonds positiver Gegenfigur Voltaire. Siehe außerdem Max Schasler: Goethe als Naturforscher und Herr Du BoisReymond. In: Die Gegenwart 23 (1883), S. 7-10. 2
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tige Wirkung gehabt. Sie mag wohl am ehesten noch auf Wissenschaftshistoriker und -philosophen einen Reiz ausüben. Stellt sie doch den günstigen Fall einer leicht zugänglichen und übersichtlichen, dabei dennoch thematisch recht breit ansetzenden Ablehnung dar, die überdies einer ganzen Forschungskonzeption gilt. Soweit aus dem Studium von Ablehnungen, seien es großformatige, wie die Verdrängung des Cartesianismus oder des Geozentrismus, seien es kleindimensionierte Zurückweisungen, wie beispielsweise die von Daten-Fälschungen in der Art des Piltdown-Betruges, ersichtlich ist, folgen sie keiner angebbaren Regel. Es gibt durchschlagende argumentative Infragestellungen neben Ablehnungen auf der Grundlage diffuser oder gar falscher Vorstellungen. Es findet sich vielgestaltige Kritik, nicht selten aber auch kaum elementare Vertrautheit mit dem Abgelehnten oder gar nur eine unerläuterte feindliche Haltung. Das von Thomas S. Kühn wirkungsmächtig in Umlauf gebrachte Diktum Plancks, wonach sich wissenschaftliche Auffassungen erst mit dem Aussterben ihrer Befürworter erledigen, ist in seiner Allgemeinheit nicht gültig,5 aber es entspricht einer dem gegenwärtigen Diskussionstand angemessenen Skepsis gegenüber der eiligen >Rationalisierung< wissenschaftsgeschichtlicher Umwälzungen. Das Problem ist an beliebigen Exempeln leicht zugänglich: Zum Beispiel würde jeder von uns die ptolemäische Astronomie abweisen, aber doch wohl am wenigsten unter Hinweis auf ihre tatsächliche Schwächen - der Inhalt des Almagest ist kaum über den kleinen Kreis professioneller Forschungshistoriker hinaus bekannt -, vielmehr unter Berufung auf undurchschaute, großenteils im 19. Jahrhundert in Umlauf gekommene, zum Teil groteske Projektionen.6 Die Lehre aus der Uneinheitlichkeit wissenschaftshistorischer Befunde kann freilich nicht in der einseitigen Skepsis gegenüber nationalisierendem Beurteilungen liegen. Die Einschätzung der Ablehnung Goethescher Naturforschung hängt nicht, wie es in einer sonst verdienstvollen Studie heißt, am »Verständnis des Irrationalen«7 in der Wissenschaftsgeschichte bzw. der Wissenschaft überhaupt. Begonnen werden muß mit der breiteren, pyrrhonisch zu handhabenden Einstellung, daß es derzeit keine gesicherte pauschale Bestimmung von Wissenschaft unter dem Vernunftaspekt gibt. Mit etwas Anstrengung läßt sich vermutlich jeder berühmte Forschungsakteur im Blick auf die gängigen Rationalitätskriterien sowohl als vernünftig wie auch als unvernünftig einstufen. Die Vernunftstürmereien der 70er Jahre sind nur die Kehrseite der realitätsenthobenen Vernünfteleien etwa im Stile des Kritischen Rationalismus. Blenden wir diese 5
Es wird u.a. durch Max Planck selbst widerlegt (John T. Blackmore: Is Planck's >Principle< True. In: The British Journal for the Philosophy of Science 29 [1978], S. 347-349). 6 Vgl. als Verbreitetestes Beispiel den immer wieder reproduzierten mittelalterlichen Holzschnittewigen< Inhalten der Wissenschaftsphilosophie fragen.26 Es sind dies die Fragen nach Verläßlichkeit und Legitimität des Beobachtern, Explorierens und Experimentierens, der Abhängigkeit von Geräten, der Herkunft und des Ausweises von Theorien, des Verhältnisses zu Mythos und Metaphysik, der Esoterik und Exoterik, der Alternativen zum realen Gang der Forschung usw. Welche dieser Stoffe in Goethes Faustdichtung ergriffen werden und welche nicht, wäre ein eigenes Thema. Aber im Kontext dieser Betrach23
Die Leibniz/Clarke-Kontroverse datiert von 1715/16. Sogar die große Meridianexpedition der Pariser Akademie liegt den >Elementen< voraus. 24 Karl von Littrow: Ueber das Zurückbleiben der Alten in den Naturwissenschaften. Wien 1869. Littrow orientiert sich wesentlich an den Verdikten des von ihm übersetzten und ergänzten William Whewell (Geschichte der inductiven Wissenschaften. 3 Bde. Leipzig 1840). 25 Du Bois-Reymond: Culturgeschichte (Anm.20), S. 249. 26 Vgl. allgemein die Unterscheidung zwischen >topischen< und >perennialen< Vorstellungen bei S.H. Olsen: Thematic Concepts: Where Philosophy Meets Literatur. In: Philosophy and Literature. Hg. von A. Phillips Griffiths. Cambridge 1984 (= Royal Institute. Philosophical Lecture Series 16), S. 75-93.
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tungsweise erhielte auch Du Bois-Reymonds eigene Vorstellung von Dichtung als Anregungsinstanz einen besseren Sinn.
>Daten< »Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinne existiert gar nicht«, schreibt Justus von Liebig.27 Dagegen sieht Du Bois-Reymond die Naturwissenschaft fundiert in der »auf sicherem Grunde weilenden Empirie« (432). Da mag man erwarten, daß die Goethe-Schelte sich vorrangig auf Empirisches oder, wie es auch heißt, die »schöne grüne Weide der Wirklichkeit« (432) bezöge. Die Anbahnung, Annahme oder Verwerfung von Goethes Theorien müßte einem wie auch immer zu präzisierenden Empirismus folgend mit gesicherten Daten in Zusammenhang gebracht werden. Auffälligerweise spielt weder diese Gedankenfigur noch überhaupt sachbezogene Kritik an Goethes Empirie bei Du Bois-Reymond eine Rolle. Er konzediert bescheidene Erfolge Goethes bei der Erfassung der Pflanzenmetamorphose, in der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere und bei der Entdeckung des Zwischenkieferknochens, die jedoch deshalb nicht sehr hoch einzuschätzen seien, weil andere ihm zuvorgekommen bzw. unabhängig darauf gestoßen wären. Die gedankliche Konfusion ist offenkundig. Statt sich an den >sicheren Grund< der Empirie zu halten, erörtert Du Bois-Reymond die Prioritätsrechte der Empiriker. Diese Merkwürdigkeit verdeckt Verhältnisse, die Du Bois-Reymond verkehrt dünken müßten: Lassen sich doch Goethes Beobachtungen und Versuche ungleich leichter auf die >schöne grüne Weide der Wirklichkeit beziehen, das heißt mit unserem geläufigen Wirklichkeitsverständnis in Einklang bringen, als beispielsweise Newtons - von komplexen Objekttheorien und raffinierten, eigene Gerätetheorien fordernden, Apparaturen abhängigen - Datenbefunde. An anderer Stelle räumt Du Bois-Reymond denn auch ein, Natur sei nicht das konkret Wahrgenommene, nicht die »schlichte Anschauung«. Wirklich sei vielmehr die mathematisch gefaßte Gesetzmäßigkeit.28 Sieht man von der Mathematisierungsforderung ab, tendieren Goethe und Du Bois-Reymond nicht völlig unterschiedlich. Zwar entspricht die Goethesche Anschauung eher dem Ideal unverstellter Empirie, aber sie basiert sowenig wie Du Bois Reymonds Experimentieren auf der Illusion eines unvermittelten Zugriffes auf die Natur. Die Farbenlehre repräsentiert nicht das Lichtphänomen, sondern erschließt die Farbwahrnehmung, handelt von Farben, insofern sie »dem Auge, teils völlig,
27
Justus von Liebig: Ueber Francis Bacon von Verulam und die Methode der Naturforschung. München 1863, S. 49. 28 Vgl. Brigitte Lohff. Emil Du Bois-Reymonds Theorie des Experiments. In: Naturwissen (Anm. 15), S. 117-128, bes. 125.
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teils größtens zugehören«.29 Wie sind die in dieser Hinsicht von Goethe getroffenen Feststellungen, etwa über Farbstreifen an den Kanten, wenn man eine weiße auf einer schwarzen Vorlage plaziert, einzuschätzen? Auch Hermann von Helmholtz,30 der Goethes Ansatz nachdrücklich verteidigt, hat ihm die physikalische Relevanz abgesprochen und die Farbenlehre in den Bereich psychologisch-ästhetischer Betrachtung abgeschoben, nicht ohne allerdings deren Anregefunktion zu betonen. In der Tat ist die eigentliche Physiologie des Farbensehens eine Sache erst unseres Jahrhunderts31 - was aber zugleich bedeutet, daß weder Helmholtz noch Du Bois-Reymond die von Goethe beobachteten Tatbestände sinnvoll einstufen konnten. Es handelte sich - anders als Du Bois-Reymond suggeriert - weder um unsinnige Empirie noch um fehlerhafte Befunde, vielmehr um Daten, für die es in den damals anerkannten theoretischen Ansätzen keine überzeugende Deutung gab.
>Begriffe< Nach Du Bois-Reymond »verschwindet in Goethe neben dem Dichter der Naturforscher« (440) - eine Behauptung, die es vielleicht erwarten ließe, das Verhältnis von dichterischer und wissenschaftlicher Sprache geklärt zu finden. »Goethe und kein Ende« enthält nichts dergleichen. Dem merklich pejorativen Grundton entspricht an anderer Stelle (s.u.) die Behandlung ästhetischer Momente als Kennzeichen einer zurückgebliebenen Epoche. In dieser Verbindung ergibt sich implizit die Festlegung, daß Wissenschaft dichterische Sprache abstreife, und zwar aus der Behauptung, es sei »die Literatur das wahre intranationale [...und] die Naturwissenschaft das wahre internationale Band der Völker«.32 Anders ausgedrückt, die Begriffe der Wissenschaft seien nicht nationalsprachlich relativ. Damit kann sich außer ein paar hartgesottenen Relativisten jeder abfinden. Aber sind poetische Texte in jeder Hinsicht stärker an ein originäres Idiom gebunden? Und umgekehrt: zeigen nicht auch wissenschaftliche Texte noch des 19. Jahrhunderts so etwas wie nationale Stile?33 Du Bois-Reymonds Bestimmungen führen in ihrer Undifferenziertheit auf einen wissen29
Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Erste Abteilung, Band4. Hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle. Weimar 1955,8.25. 30 Hermann von Helmholtz: Goethe's Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen. Rede, gehalten in der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar den 11. Juni 1892. Berlin 1892. 31 Die späteren Forschungen von Edwin Land u.a. sowie ihr Verhältnis zu Goethes und Newtons Auffassungen werden diskutiert bei Dennis L. Sepper: Goethe contra Newton Polemics and the Project for a New Science of Color. Cambridge 1988, S. Iff. 32 Du Bois-Reymond: Culturgeschichte (Anm.20), S.272. 33 Vgl. etwa Duhems Nationen-Typologie. Pierre Duhem: Ziel und Struktur der mathematischen Physik [1906]. ND Hamburg 1978, Kap. 4.
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schaftshistorischen Holzweg. Was soll unter seinen Prämissen beispielsweise die Hinwendung zur Nationalsprache im Zeitalter Galileis besagen, und welchen Sinn hätte der ausschließliche Gebrauch der lingua franca Latein bei den Gelehrten des >ästhetisch-spekulativen< Zeitalters gehabt? Es gibt in Verbindung mit der Goethe-Kritik kein Anzeichen für die in anderen Zusammenhängen durchaus bedachte34 Einsicht, daß die wissenschaftliche Arbeit stets an Formen gebunden ist,35 in der Darstellung Literatur bedeutet, stilistischen und rhetorischen Konventionen folgt und nicht selten auch von den Akteuren der Forschung ästhetisch beurteilt wird.36 Der Grund für Du BoisReymonds Haltung mag in der durch die Vielzahl der Demonstrationsapparate und -vorschlage bezeugten Bevorzugung des Autoptischen liegen. Die literaturtheoretische Gattungsbestimmung wäre mit Sicherheit als Provokation empfunden worden. Aus der Sicht der Poetik des Aristoteles gesprochen, handelt es sich bei experimentellen Demonstrationen um Nachahmung durch Handlung, um Theater. Eine Rolle mögen auch die vor allem mit dem Namen seines Weggefährten Karl Ludwig verbundenen und von Du Bois-Reymond mitgetragenen Bemühungen um eine Automatisierung bzw. Entsubjektivierung der physiologischen Datenerhebung spielen.37
>Theorien< Da Goethe nach Du Bois-Reymond »das Organ für die theoretische Naturwissenschaft in ihrer höheren Gestalt« (435) fehlt, fällt die Erörterung der theoretischen Komponente der Goetheschen Naturforschung naturgemäß recht knapp aus. Sie besteht in der Zubilligung des biologischen Evolutionismus. Es heißt, Goethe habe die »Stammesverwandtschaft der Lebewesen« erkannt, die eigentliche Schwierigkeit, die »Gründe der älteren zoologischen Schule für Unveränderlichkeit der Species« indessen ignoriert (439). Das klingt recht geheimnisvoll, kann aber nichts anderes meinen, als daß Goethe wie alle Evolutionisten der Zeit das Problem der Unfruchtbarkeit von Hybriden (>MauleselproblemHeroenPrinzipien< stoßen - als auch unberührt vom Gang der Grundsatzdiskussion über den Theoriebegriff selbst. Immerhin wird bereits in den Vorlesungen über Analytische Mechanik,39 die Carl Gustav Jacobi 1847/48 in Berlin hielt, jene Auffassung auf den Weg gebracht, die als >formalistische< bzw. >modelltheoretische< Interpretation unser modernes Verständnis von Theorien bestimmt.
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Die Problematisierung jeder weitreichenden Erdaltersbestimmung, einer notwendigen Bedingung des Selektionismus, ist die Kehrseite der Eis- und Wärmetod-Debatten. Vgl. Helmut Pulte: Darwin in der Physik und bei den Physikern des 19. Jahrhunderts. In: Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert. Hg. von Eve Marie Engels. Frankfurt/M. 1995,5.105-146. 39 Carl Gustav Jacobi: Vorlesungen über Analytische Mechanik. Hg. von Helmut Pulte. Braunschweig, Wiesbaden 1996.
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> Argumentation < Du Bois-Reymond sieht bei Goethe im Kontext des Evolutionismus »lockere Betrachtungen« (439), in Fausts Aussagen »logisch Unversöhnbares«. Läßt man letzteres außer acht - bekanntlich ist die Überbietung des Widerspruchs, das Paradoxon, ein altehrwürdiges poetisch-rhetorisches Privileg -, bleibt die Frage nach dem argumentativen Charakter von Goethes Naturkunde und ihrer Stellung im Korpus wissenschaftlicher Darstellungen. Wer je einen Blick in ein Werk wie beispielsweise Maxwells einige Jahre vor Du Bois-Reymonds Rede erschienenen Treatise on Electricity and Magnetism wirft und ihn mit Goethes Bemerkungen über den Magnetismus vergleicht, dem wird es nicht leicht fallen, beides demselben Thema zuzuordnen. Aber Galvanis De viribus electricitatis (1791) verhielte sich zum Treatise kaum anders. Wie fast jede beliebige Textpassage ausweist, erläutert und begründet Goethe seine Feststellungen durchaus, wobei der logische Zusammenhang zuweilen >lockerer< ausfällt als in anderen Dokumenten der Wissenschaftsgeschichte. Unter den zeitgenössischen Werken repräsentiert etwa Laplaces Mecanique celeste einen völlig anderen Stil. Aber theoretische Mechanik ist eben keine Naturhistorie. Und mögen die Schriften Bonnets, Hallers, Huttons oder Buffons in der einen oder anderen Hinsicht ein von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten deutlich abweichendes Erscheinungsbild aufweisen, im Vergleich zur Mecanique bilden sie keinen auffälligeren Kontrast. Du Bois-Reymond hebt den Vorwurf fehlender argumentativer Festigung im weiteren selbst wieder auf, indem er Goethe auf die Seite des Deduktivismus stellt und ihm mangelnden Respekt vor dem Induktionsprinzip vorwirft (431). Die kämpferische Betonung des Induktionsprinzips ist keine besondere Vorliebe Du Bois-Reymonds oder gar ein Spezifikum der Goethe-Kritik. Es handelt sich um eine noch nicht hinreichend aufgeklärte methodologische Verhärtung des 19. Jahrhunderts, die sich nur sehr bedingt mit den zeitgenössischen Entwicklungen der Forschungspraxis harmonisieren läßt und ihre letzte bedeutende Spur noch in der befremdlichen Einleitung der ersten Darstellung der Relativitätstheorie hinterlassen hat.40 Der Einwurf, nicht induktiv gearbeitet zu haben, gehört zum Standardrepertoire beispielsweise auch der Kritik an Darwin.41 40
»Beispiele ähnlicher Art [d.h. Beobachtungen an einem Magneten gegenüber einem ruhenden Leiter und vice versa], sowie die mißlungenen Versuche, eine Bewegung der Erde relativ zum >Lichtmedium< zu konstatieren, führen auf die Vermutung, daß [...] für alle Koordinatensysteme, für welche die mechanischen Gleichungen gelten, auch die gleichen elektrodynamischen und optischen Gesetze gelten, wie dies für die Größen erster Ordnung bereits erwiesen ist.« Albert Einstein: Zur Elektrodynamik bewegter Körper. In: Annalen der Physik 17 (1905), Nr. 322, S. 891-921, hier S. 891 (Hervorhebung nicht im Text). 41 Ironischerweise beruht ausgerechnet Lord Kelvins gegen Darwin gerichtete Schätzung des Erdalters auf einer verfehlten Induktion, genauer gesagt, auf der voreiligen Annahme, alle Energiequellen, die zur Erwärmung der Erde beitragen, kalkuliert zu haben und deshalb die maximale Wärmedauer zu kennen.
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Aber was ist damit gemeint? Anders als die einhellige Berufung auf das Patronat Bacons vermuten läßt, fällt der Induktionsbegriff der großen Methodologen, wie des jüngere Herschel, J.St. Mills, Schleidens oder Whewells, sehr verschieden aus. Die Kantianer unter ihnen interessieren sich nicht für einfache Generalisierungen. Ihnen geht es unter dem Stichwort >Induktion< um ein begriffliches Arrangement des empirischen Materials unter bestimmten Gesichtspunkten, m.a.W. sie pflegen lediglich induktivistische Redeweisen.42 Strenggenommen beginnt die Einschränkung des Induktivismus bereits mit Bacon selbst, für den die Enumeration von empirischen Instanzen bloße Vermutung war und der sich deshalb der sog. eliminativen Spielart der Induktion verschrieben hatte. Du Bois-Reymond nimmt keine der in diesem Zusammenhang wichtigen Unterscheidungen auf, an die besonders einflußreich etwa J. St. Mill erinnert hat. Davon abgesehen war in der ersten Jahrhunderthälfte selbst seitens gestandener Empiristen vom Zuschnitt des in der Goethe-Rede freundlich erwähnten (431) jüngeren Herschel der spekulativen Hypothese unter der Bedingung nachträglicher Rechtfertigung freie Bahn gegeben worden.43 Die hypothetisch-deduktive Methode war nach ihrer Wiedergewinnung durch die Forscher der Genfer Schule jahrzehntelang wieder gängige Münze gewesen. Bei der später einsetzenden Abwehr der hypothetischen Deduktion ist weitgehend unbemerkt geblieben, daß der eigentliche Stein des Anstoßes, die romantischen Naturphilosophien Schellings und Hegels, ungeachtet ihrer zahlreichen Berührungspunkte mit den Auffassungen Goethes nicht hypothetizistisch, sondern aprioristisch und certistisch tendieren.44 Goethes Variation der Phänomene, sein Beharren auf der Anschauung und seine vorsichtige Idealisierung des Festgestellten als »reines Phänomen« auf bestimmte induktivistische oder deduktivistische Methodologien zu beziehen, könnte vielleicht eine reizvolle Aufgabe sein. Du Bois-Reymond diffuse Antithetik wäre bei ihrer Bearbeitung wohl nur Ballast - nicht von der Frage zu reden, ob der propagierte Induktivismus sich mit seinen eigenen Rahmenvorstellungen, speziell mit der durch jedwede denkbare Erfahrung unterbestimmten Unterstellung eines allumfassenden kausalen Mechanismus (s.u.) in der Natur verträgt, und auch nicht davon, wie die durchgehend axiomatisch-deduktiven Arbeiten seiner Forschungshelden, Newtons Principia, Lagranges Mecanique analytique usw. in sein Bild passen. 42
Vgl. dazu bes. Gerd Buchdahl: »Leitende Prinzipien und Induktion: Matthias Schieiden und die Methodologie der Botanik« im Anhang zu: Matthias Jakob Schieiden: Wissenschaftsphilosophische Schriften. Hg. von Ulrich Charpa. Köln 1989, S. 315-345, und Ulrich Charpa: Methodologie der Verzeitlichung - Schieiden, Whewell und das entwicklungsgeschichtliche Projekt. In: Philosophia Naturalis. 25 (1988), S. 75-109, bes. S.84ff. 43 Vgl. Ulrich Charpa: John F.W. Herschels Methodologie der Erfahrungswissenschaft. In: Philosophia Naturalis 24 (1987), S. 121-148. 44 Siehe bes. F.W. Schellings »Miscellen vom Herausgeber« in der Zeitschrift für speculative Physik, Bd. l, S. 122-131; dazu Reinhard Lauth: Die Genese von Schellings Konzeption einer rein aprioristischen spekulativen Physik und Metaphysik aus der Auseinandersetzung mit Le Sages spekulativer Mechanik. In: Kant-Studien 75 (1985), S. 75-93.
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Aufschlußreich ist auch der Blick auf Du Bois-Reymond eigene Schriften. Die Untersuchungen über die thierische Electricität^ und die anderen Abhandlungen zur Muskel und- und Nervenphysik ähneln nicht entfernt den Musterexemplaren der analytischen Mechanik. Pejorativ ausgedrückt, handelt es sich um Sammelsurien eines großen Experimentators. Sie enthalten eine unübersehbare Fülle von Einzelbeobachtungen, Explorationen und vor allem sinnreichen Prozeduren zur Erzeugung mehr oder minder interessanter Effekte: In meinem Munde wurde ein Gastroknemius [d.i. ein Wadenmuskel] binnen 35' todtenstarr, reactions- und stromlos. In destillirtem Wasser von 400° C. geschah dasselbe bereits nach 25'. In destillirtem Wasser von 500° zieht sich ein Adductor magnus Cuv. [d.i. ein anderer Muskel] binnen 2' zu einem unförmlichen Klumpen zusammen, und ist reactions- und stromlos. Noch langsamer geschieht dies in trockener Luft von der gleichen Temperatur. In Dampf von 500° tritt die Wirkung nicht ganz so schnell ein.46
Usw. Physiologische Silvae silvarum, über die - wie er im Vorwort der Untersuchungen über die thierische Electricität freimütig einräumt - der Forscher selbst teilweise den Überblick verloren hat.47 Das sagt nichts über ihren möglichen Wert, aber einiges über die Abwegigkeit seiner Orientierung an Werken vom Typ der Principia.
>Prinzipien< Prinzipien haben verschiedene Bestimmungen. In ihren beiden Hauptfunktionen geben sie zum einen als metaphysische Setzungen vor, wovon in einem Forschungsbereich die Rede ist, zum anderen normieren sie als methodologische Maximen wissenschaftliche Verfahren. Kantianer wie der Du Bois-Reymond durch Müllers Labor verbundene Matthias Schieiden, der Begründer der Zelltheorie, neigten allerdings dazu, auch metaphysische Prinzipien als Maximen zu betrachten. Du Bois-Reymonds Haltung in bezug auf metaphysische Annahmen geht aus seinem bekanntesten philosophischen Beitrag, dem Vortrag »Über die Grenzen des Naturerkennens« 48 (1872) hervor: »Naturerkennen [...] ist Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome. [...] Die Sätze der Mechanik [...] tragen in sich dieselbe apodiktische Gewißheit wie die Sätze der Ma45
Emil Du Bois-Reymond: Untersuchungen über die thierische Electricität. 2 Bde. Berlin 1848/ 49. 46 Ebd., Bd.2, S. 178. 47 Ebd., Bd. l, S.XIIf.; Stellenhinweis und Kommentar bei Christoph von Campenhausen: Elektrophysiologie und physiologische Modellvorstellung bei Emil Du Bois-Reymond. In: Naturwissen (Anm.15), S. 79-104, S.83f. 48 Emil Du Bois-Reymond: »Über die Grenzen des Naturerkennens«, ergänzt abgedruckt in: Du Bois-Reymond: Reden (Anm.3), S. 105-140; ausführlich zum daraus abgeleiteten Finitismus und der Ignorabimus-Oebatte vgl. Dietrich von Engelhardt: Du Bois-Reymond »Über die Grenzen des Naturerkennens«. In: Communicationes de historia artis medicinae 80(1976), S. 9-25.
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thematik.«49 Der erste Satz verrät eine undurchschaute deduktivistische Strategie reinsten Wassers, der zweite macht klar, daß Du Bois-Reymond - darauf abgestimmt - keine mechanistische Maxime vertritt, sondern die Mechanik als Bündel unbezweifelbar wahrer Einsichten betrachtet. Unter dieser Voraussetzung, einer offenkundigen Verwechslung des faktisch engen Verhältnisses von Mathematik und Mechanik mit einer wechselseitigen Gewißheitsgarantie,50 würdigt er die abweichenden materialen Auffassungen Goethes keiner näheren Beachtung.51 Die Rahmenkritik entfaltet sich einsinnig methodologisch aus dem Vorwurf der »falschen Richtung«, welche Goethe der »damals durch die sogenannte Naturphilosophie schon hinlänglich bethörten Wissenschaft« (436) gegeben habe. Die falsche Wegweisung liege in der Abwehr - des Experimentes, - der Mathematisierung und - des Kausalprinzips. Der allgemein konstatierte »Widerwille gegen den physikalischen Versuch und dessen mathematische Behandlung« sei u.a. ein Leitmotiv seiner »gehässigen Polemik gegen die Newton'sche Farbenlehre« (430). Nun hat Goethe bekanntlich in beträchtlichem Umfang experimentiert, wie auch andererseits der physikalische Versuch nicht für die empirische Komponente der Wissenschaft überhaupt steht. Das Additum »mathematische Behandlung« paßt gewiß negativ zu Goethes vielfach geäußerten Vorbehalten hinsichtlich der »Mathematik und deren Mißbrauch«, wie es in seinem Aufsatz von 1826 heißt. Es wäre vielleicht zu bedenken, daß Goethe - hierin im Einklang mit den zeitgenössischen Vertretern der Disziplin - Mathematik einseitig als Theorie der Quantitäten auffaßt, und zu prüfen, inwieweit Du Bois-Reymonds Reaktion auch auf eben diesem m
Du Bois-Reymond: Grenzen (Anm.48), S. 105f. Die mögliche Fehlbarkeit der Mathematik, nicht zu reden von der ihrer physikalischen Anwendung auf natürliche Phänomene, ist längst vor Du Bois-Reymond anerkannt, wenn auch selten konsequent thematisiert worden. Ausnahmen bilden etwa die schon erwähnten Vorlesungen Carl Gustv Jacobis, speziell die über Analytische Mechanik von 1847/48, sowie Bernhard Riemanns Habilitationsvortrag Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen (1854), Göttingen 1867. 50 Du Bois-Reymond bewegt sich deutlich auf der Bahn des 18. Jahrhunderts. Vgl. Kants Behauptung, wonach in jeder »Naturlehre sei nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist« (Immanuel Kant: Meaphysische Anfangsgründe, Vorrede VII, 190f.), oder Lagranges Deutung der Mechanik als eines Teiles der Mathematik (»Alle welche die Analysis lieben, werden mit Vergnügen sehen, daß die Mechanik ein neuer Zweig derselben wird, und werden mir Dank wissen, daß ich die Herrschaft derselben in dieser Weise ausgedehnt habe.« Joseph Louis Lagrange: Analytische Mechanik, Hg. von Hermann Servus. Berlin 1887, S. 6). Den Fortbestand der kurios anmutenden Vermischung dokumentiert noch der anonyme Beitrag »Physiologie« in Meyers Konversationslexikon (1908), wo es heißt, die Physiologie zeige »außerordentlich zahlreiche Tatsachen, deren Richtigkeit jederzeit durch logisch-mathematische Deduktion bewiesen werden kann«, Bd. 15, S. 852. 51 Es wird lediglich vermerkt, daß die moderne »rein mechanische Weltconstruction« ihm »verhaßt« gewesen wäre; vgl. S.439.
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eingeschränkten - und für einen Zeitgenossen Riemanns anachronistischen Verständnis beruht. Die Mathematik des Jahres 1882 ist keine Quantitätenlehre, sondern eine allgemeine Begriffswissenschaft.52 Das damals durchgesetzte moderne Verständnis des Mathematischen hat es später Heisenberg und von Weizsäcker ermöglicht, einige Gedankenfiguren Goethes beispielsweise auf die mathematische Theorie der Symmetrie zu beziehen. Es sei noch hinzugefügt, daß Du Bois-Reymond in seinen eigenen mathematisierenden Bemühungen, selbst unter dem begrenzten Aspekt seiner eigenen Mathematikvorstellung, nicht allzuweit, nämlich nicht über vergleichsweise simple quantitative Funktionsbestimmungen, hinausgelangt. Die Schriften zur Elektrophysiologie enthalten eine Reihe von Proportionsangaben und erstmalig in der Physiologie Verlaufsdarstellungen für Daten in einem Koordinatensystem, aber von einer tiefgreifenden Mathematisierung ist Du Bois-Reymond weit entfernt.53 Das ist für sich genommen kein Makel, sondern gerade zu erwarten, wenn Forschung neue Wege geht. Maxwell bringt die bahnbrechenden Leistungen Faradays im Treatise damit in Zusammenhang, daß der ehemalige Buchbinder Abstand von den zeitgenössischen mathematischen Techniken hatte und eine unbeeinträchtigte Intuition entwickeln konnte.54 Qualitative Einsichten schließen Quantifizierungen nicht nur nicht aus, sie sind die übliche förderliche Voraussetzung. Du Bois-Reymond selbst war in seinen frühen Veröffentlichungen weit davon entfernt, überhaupt Meßergebnisse mitzuteilen. Die von ihm aufgewiesenen Effekte, oft nur minimale Zuckungen von Nerven, waren bei weitem zu geringfügig, um quantitativ bestimmt zu werden.55 »Wird ein beliebiger Punkt des natürlichen oder künstlichen Längsschnittes eines Nerven mit einem gleichfalls beliebigen Punkte des (künstlichen) Querschnittes desselben Nerven dergestalt in Verbindung gebracht, dass dadurch keine Spannung gesetzt wird: so zeigt eine in den unwirksamen Bogen eingeschaltete stromprüfende Vorrichtung gleichwohl einen Strom an, der von dem Punkte des Längsschnittes in dem Bogen zu dem Punkte des Querschnittes gerichtet ist.« Das mag eine fruchtbare und wegweisende Feststellung sein (Du Bois-Reymond akzentuiert sie denn auch als »Gesetz des Nervenstromes«56) - aber mit mathematischer Physik hat sie kaum mehr zu tun als Goethes Farbenlehre. Es handelt sich offenkundig um eine einfache empirische Verallgemeinerung, die überdies keinerlei Kausalhinweis enthält. Du Bois-Reymond abschätzige Formulierung erweckt den Verdacht, daß 52
»Die Mathematik stellt Relationen zwischen den mathematischen Begriffen auf, welche den Erfahrungstatsachen entsprechen sollen.« Moritz Pasch: Vorlesungen über neuere Geometrie. Leipzig 1882, S. 17. " Zur Auffassung von Mathematisierung als Darstellung einfacher funktioneller Abhängigkeiten vgl. Lohff: Theorie (Anm.28), bes. S. 120ff. 54 Vgl. James Clerk Maxwell: Lehrbuch der Electricität und des Magnetismus. Berlin 1883, Bd. l, S. Vif. 55 Vgl. von Campenhausen: Elektrophysiologie (Anm.47), bes. S.78ff. 56 Du Bois-Reymond: Untersuchungen (Anm.45), Bd. 2, S. 262.
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er weder seine Forschungshistorie reflektiert, noch sich allgemein über die Anbahnung von Quantifikationen im klaren war. Dafür spricht auch die Indienstnahme der paradigmatisch gegen Goethe gewendeten prismatischen Versuche Newtons (auf die fehlende theoretische Thematisierung wurde bereits hingewiesen). Ausgerechnet der »Hokuspokus«57 der Opticks ist in der Hauptsache eine qualitative und obendrein nur sehr bedingt empirische Angelegenheit. Von den vier wesentlichen in diesem Zusammenhang aufgestellten Thesen Newtons58 kommen immerhin drei ohne Mathematisierung aus: 1. Weißes Licht besteht aus Licht verschiedener Farben. 2. Die prismatisch gewonnenen Farben sind homogen. 3. Bei der Mischung der homogenen Farben entstehen wieder zerlegbare Farben. Die 4. These behauptet, daß zwischen Brechungsindex und Farbe ein quantitativer Zusammenhang besteht. Der vornehmlich qualitative Charakter des Experimentes mag denn auch Goethes eigene Kritik erleichtert haben, die ja außer durch Prinzipielles auch durch eine mißglückte Wiederholung von Newtons Experiment befördert wurde. Goethe sah aufgrund eines fehlerhaften Arrangements durch Büttners Prismen etwas anderes, als er Newtons Phänomene reproduzieren wollte. Die Differenz zwischen Newtons und Goethes Konzeption, wie sie in den Überlegungen zum »Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt« niedergelegt ist, resultiert nicht aus der Abneigung gegen das Experimentieren, und auch die Mathematisierung spielt nur eine untergeordnete Rolle. Was Newton unternimmt, aber Du Bois-Reymond offenkundig methodologisch nicht einzuordnen weiß, ist die alte, doppelgesichtige > Analyse der Phänomene«, wie Newton selbst sie - auf eine allerdings verquere Weise - in der Query 31 beschrieben hat:59 Ein prima vista simples Phänomen wird zerlegt und begrifflich neu gefaßt - ein Vorgang, dem Goethe die Sorge um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt entgegensetzt, der aber ohnehin nur eine von vielen Spielarten des Experimentierwesens repräsentiert. Weiter heißt es, gehe Goethe auch der »Begriff der mechanischen Causalität« (434) gänzlich ab. Der Einwand, auch das Kausalprinzip sei keineswegs allgemein akzeptiert, ergänzt etwa durch den Hinweis, die Instrumentalisten ersetzten das Ideal der Kausalerklärung durch das der Beschreibung, wird von Du Bois-Reymond bereits vorweggenommen. Autoren wie etwa Kirchhoff zielen 57
Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Erste A bteilung, Band 6. Hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle. Weimar 1957, S. 140. 5X Zur Einführung Rom Harre: Great Scientific Experiments. Oxford 1981. S. 166-175. Tiefer greifend Alfred R. Hall: All was Light - An Introduction to Newton 's Opticks. Oxford 1993. Kap. 3. 5I) Nach Newtons Aufriß, der nicht ohne weiteres mit seiner Praxis kongruiert, handelt es sich um eine sowohl heuristische als auch eine beweisende Operation, die er überdies mit der Induktion verschränkt. Diesem Schillern ordnet sich auch der irreführende Gebrauch des Ausdrucks >experimentum crucis< für die Dekomposition zu. Vgl. Noretta Koertge: Analysis as a Method of Discovery. In: Scientific Discovery, Logic and Rationality. Hg. von Thomas Nickles. Dordrecht 1980, S. 139-157, hier S. 149ff.
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s. E. wenn nicht auf ursächliches Erklären, so doch auf etwas ab, das unserem Erklärungsbedürfnis gleichermaßen genüge, nämlich der Beschreibung in der Sprache der Mechanik (432ff.). Wohl aufgrund seines eigenen - durch den explanativen Gehalt seiner Physiologie nicht entfernt eingelösten - mechanistischen Kausalismus übersieht Du Bois-Reymond freilich den Punkt, von dem eine instrumentalistisch ansetzende Goethe-Kritik ihren Ausgang nähme: dem des Verdachts einer im Vergleich zur mechanischen Erfassung geringen Ökonomie. Goethes Beschreibungen sind terminologisch uneinheitliche Gebilde, stilistisch bestimmt vom Prinzip der >ubertasRettung der Phänomene< steht und andererseits der Kausalismus der traditionelle Verbündete des realistischen Hypothetizismus ist. Vgl. die Literaturübersicht von Craig Dilworth: Empiricism versus Realism - The Debate During the Past 150 Years. In: Studies in History and Philosophy of Science 21 (1990), S. 431^62. 62 Vgl. Helmut Pulte: Zum Niedergang des Euklidianismus in der Mechanik des 19. Jahrhunderts. In: 16. Deutscher Kongreß für Philosophie - Neue Realitäten. Sektionsbeiträge. Hg. von der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland. Berlin 1993, S. 833-840.
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chanik, als nach Lord Kelvins63 berühmtem Wort längst dunkle Wolken aufgezogen waren.
Fazit Du Bois-Reymonds Versuch, die Goethesche Naturforschung aus dem Bezirk >objektiver< und >empirischer< Wissenschaft zu verbannen, vollzieht sich ironischerweise in der Hauptsache als personalisierende und >rahmenexacten< Biologen ist wahrhaft nonsens!« (Metaphysik und Naturphilosophie. Briefwechsel zwischen Eduard von Hartmann und Ernst Haeckel. Hg. Bertha Kern-von-Hartmann. In: Kant-Studien 48 [1956/57] H. 4, S. 7; zit. nach Walter Gebhard: »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1984, S. 308). 13
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»Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Philosophie« (3) - als reflexionsloser Empirie und spekulativer Metaphysik - überwinden. Im Zeitalter wachsender Spezialisierung und positivistischer Dekonzentration des Wissens wagt Haeckel nochmals den Schritt zur einheitlichen Weltdeutung. Bei seiner monistischen Synthese von Naturwissenschaft und Philosophie hat allerdings die erste Komponente das deutliche Übergewicht; Haeckel vertraut auf die Allgemeingültigkeit naturwissenschaftlicher Erklärungsmuster. Er deklariert die Naturwissenschaft, die »alle sogenannten Geisteswissenschaften in sich aufgenommen« (10) habe, zur Leitdisziplin der modernen Kultur.
2.
Der Titel Die Welträtsel nimmt Bezug auf die aktuelle Auseinandersetzung um den Stellenwert der Naturwissenschaften und ihrer Reichweite für die Welterklärung. Er führt zum programmatischen Kern des Werkes, denn er signalisiert Haeckels Anspruch, jene Kardinalprobleme zu klären, die der Physiologe Emil Du Bois-Reymond in seiner bekannten Rede vor der Berliner Akademie 1872 als wissenschaftlich nicht lösbar eingestuft hatte. Zwei wesentliche »Grenzen des Naturerkennens« - so der Titel von Du Bois-Reymonds Rede - hätten die Forscher zu respektieren: die Relation von Kraft und Stoff wie die von Materie und Bewußtsein könne mittels naturwissenschaftlicher Methoden nicht erhellt werden.17 Haeckel dagegen erklärt diese Grenzen für hinfällig und die unlösbaren Fragen< Du Bois-Reymonds für beantwortet. Gegen das damals von Rudolf Virchow an die Wissenschaftler ausgegebene Motto »restringamur!« setzt er den Imperativ »impavidi progrediamur!« und sein Vertrauen, daß sich die Welt vollständig auf naturwissenschaftlich-mechanische Gesetzmäßigkeiten zurückführen lasse. Entscheidend für die Erweiterung seines Blickfeldes - Haeckel hatte seine wissenschaftliche Laufbahn mit der Erforschung der Radiolarien auf einem der entlegensten Seitenzweige der Zoologie begonnen - wurde die Bekanntschaft mit Darwins Evolutionstheorie. In ihr fand er die synthetisierende Ordnungsvorstellung, die ihm den Zusammenhang zwischen den empirischen Einzelkenntnissen verbürgte. Indem ihm die Evolutionstheorie den Blick vom Kleinsten auf das Größte freigab, bot sie den »Schlüssel zur monistischen Erklärung« (104) der Welt. Haeckel deklarierte den Begriff der >Entwicklung< zum »Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf
17
Vgl. dazu Dietrich von Engelhardt: Du Bois-Reymond »Über die Grenzen des Naturerkennens« - Eine naturwissenschaftliche Kontroverse im ausgehenden 19. Jahrhundert. In: Orvostörteneti Közlemenyek. Communicationes de Historia Artis Medicinae Budapest 22 (1976), No. 4, S. 9-23, bes. S. 10-12.
Wissenschaft als Weltanschauung
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den Weg ihrer Lösung gelangen können«.18 Unter >Entwicklung< verstand er in enger Anlehnung an Darwin die absichtslose Prozeßhaftigkeit eines durch Selektion und Daseinskampf vorangetriebenen Naturgeschehens.19 Haeckels Monismus basiert inhaltlich im wesentlichen auf zwei Grundgedanken. Erstens leitete er aus der Evolutionstheorie die Vorstellung von einer kontinuierlichen historischen Stufenleiter des Lebens ab. Wenn die Natur eine unauflösbare Einheit, »ein überall zusammenhängendes >LebensreichWissen< nämlich scheint die viel diskutierten Vermittlungsprobleme zwischen Gesellschaft / Realität / Sozialgeschichte und >schöner< Literatur gelöst zu haben; es ist eine (textuelle) Form dieser Vermittlung und entgeht dabei gleichsam en passant allen methodologischen Fallstricken, die durch die Hypostase einer von Literatur unabhängigen Referenz >Sozialgeschichte< gelegt werden. So zieht der von Michael Titzmann geprägte und seither viel benutzte Begriff des »kulturellen Wissens«6 die Konsequenzen aus den Theorie-Problemen der Sozialgeschichtsschreibung und kann statt >Literatur< und >Sozialgeschichte< die literarischen Texte direkt mit den historischen Vorstellungskomplexen einer Epoche verbinden. Die Wissenschaftsgeschichte als neue Referenz der Literaturgeschichtsschreibung ist zudem abrufbar in Texten, die bisher zumeist unbemerkt geblieben oder sträflich vernachlässigt worden sind,7 und ein Forschungsgebiet liegt plötzlich brach, das Literatur mit Wissenschaftsgeschichte in Beziehung setzt und dabei einen großen, mancherorts sogar noch unüberschaubaren Komplex an Einflüssen, Subtexten, Spiegelverhältnissen, verborgenen Traditionen, Hintergründen und historischen Deutungsmustern zu Tage fördert. Die Wissenschaftsgeschichte freilich bleibt eine Referenz, die meist nur als gewaltiger Informationsspeicher in den Blick gerät, und die literaturwissenschaftlichen Interpretationen zeichnen in der Regel jene Impulse nach, die von der Wissenschaftsgeschichte auf die Literatur ausgehen, vertrauen auf die Evidenz sowie die Selbstexplikation des in den Wissenschaften aufbewahrten >Wissens< und bringen stets neue Einblicke in literarische Texte, ohne dabei freilich mung des Naturalismus-Begriffs und zur Herleitung totalitärer Denkformen. Tübingen 1992; Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg 1993; Helga Winter: Naturwissenschaft und Ästhetik. Untersuchungen zum Frühwerk Heinrich Manns. Würzburg 1994. 6 Vgl. Michael Titzmann: Kulturelles Wissen - Diskurs - Diskurssystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für Französische Sprache und Literatur 99 (1989), S.47-61; Michael Titzmann: Skizze zu einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: M.T. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 395-438. Ebenso: Claus-Michael Ort: Vom Text zum Wissen. Die literarische Konstruktion sozio-kulturellen Wissens als Gegenstand einer nicht-reduktiven Sozialgeschichte der Literatur. In: Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hg.) in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert: Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der » Theoriedebatte«. Stuttgart 1992, S. 409^41; Thome: Autonomes Ich (Anm.4), S. 1-20. 7 Vgl. etwa Wolfgang Proß: Die Verspätung der wissenschaftsgeschichtlichen Debatte in der deutschen Literaturwissenschaft. In: Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt (Hg.) in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert: Wie international ist die Literaturwissenschaft? Methoden- und Theoriediskussion in den Literaturwissenschafte: kulturelle Besonderheiten und interkultureller Austausch am Beispiel des Interpretationsproblems (19501990). Stuttgart, Weimar 1996, S. 145-167.
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immer zu grundlegend neuen interpretatorischen Ergebnissen zu gelangen. Die Folge ist eine zunehmende Tendenz, Literatur zu marginalisieren und nur noch Wissenschaftsgeschichte zu schreiben - oder aber Wissenschaftsgeschichten und Interpretationen nebeneinander zu stellen und auf das Zusammenwirken der zwei getrennten methodischen Geleise zu vertrauen. Unabhängig von diesen Entwicklungen in der deutschen Literaturwissenschaft hat sich in den USA in den letzten fünfzehn Jahren ein New Historicism herausgebildet, der ebenfalls genau diese Austauschbeziehungen zwischen Literatur und >kulturellem Wissen< thematisiert und sogar zu seinem wichtigsten Anliegen erklärt hat.8 Wie aber geht der New Historicism und die von ihm ausgerufene »Poetik der Kultur« 9 mit dem außerliterarischen >Wissen< um? Zunächst ebnet der neue Historismus amerikanischer Provenienz die Kluft zwischen Text und Geschichte (zwischen Literatur und Sozialgeschichte) diskursanalytisch ein und löst damit - ähnlich wie der deutsche Trend zur Wissenschaftsgeschichte - die Aporien einer in die epistemologische Falle geratenen Literaturgeschichte bzw. Sozialgeschichte der Literatur auf.10 Nicht zufällig beziehen sich auch die new historicists auf außerliterarische >Quellen< und auf wissenschaftsgeschichtliche >DokumenteDiskursformation< eines epochalen >WissensEinflußforschung< also wird der literarische Text nicht mehr privilegiert, und anders als in neueren deutschen Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte ist stets und emphatisch von »Austauschbeziehungen« (»negotiation«, »circulation«, »exchange«) die Rede.12 Wissenschaftliche Diskurse und >schöne< Literatur werden als ein fortlaufender Text konstruiert und interpretiert, in dem dasselbe >Wissen< zirkuliert. 8
Repräsentativ für den New Historicism sind die von H. Aram Veeser herausgegebenen Sammelbände (The New Historicism. New York, London 1989; The New Historicism Reader. New York, London 1994) sowie der Überblick New Historical Literary Study. Essays on Reproducing Texts, Representing History. Hg. von Jeffrey N. Cox und Larry J. Reynolds (Princeton 1993). Eine Auswahl maßgeblicher Texte jetzt bei Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturwissenschaft als Poetik der Kultur. Frankfurt 1995. 9 Vgl. Louis A. Montrose: Professing the Renaissance. The Poetics and Politics of Culture. In: H. Aram Vesser (Hg.): The New Historicism. New York, London 1989, S. 15-36; Stephen Greenblatt: Gründzüge einer Poetik der Kultur. In: S.G.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin 1991, S. 107-122. 10 Vgl. Peter Uwe Hohendahl: Nach der Ideologiekritik. Überlegungen zu geschichtlicher Darstellung. In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich und Klaus R. Scherpe (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990, S. 77-90. 11 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt 1973. 12 Ein grundlegender Initialtext des New Historicism hierfür: Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Berkeley, Los Angeles 1988.
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Die Folge dieser Zirkulation aber ist eine wechselseitige Bewegung und Beziehung: Das (natur-)wissenschaftliche Wissen wird ebenso fiktionalisiert wie die Literatur, es enthüllt dieselben oder aber andere literarische, rhetorische und narrative Elemente - je nachdem das >Wissen< durch den jeweiligen Kontext festgelegt, verschoben und verändert wird. Die »Austauschprozesse« in beiden Richtungen beziehen sich deshalb in erster Linie auf diejenigen rhetorischen Figuren, die >Wissen< jeweils etablieren und zirkulieren lassen.13 Im folgenden will ich die hier nur angedeutete Diskussion im Hinblick auf die Wissenschaftsgeschichte um 1900 fortführen und dabei zwei grundsätzliche Fragen in den Blick rücken. Erstens: Inwieweit läßt sich das (natur-)wissenschaftliche und außerliterarische >Wissen< um 1900 als >literarisch< deuten und erlaubt Rückschlüsse auf seine jeweilige Verwendung in >schöner< Literatur. Zweitens: Welche synchronen und diachronen Veränderungen und welche unterschiedlichen Funktionen lassen sich im Transfer dieses >Wissens< von der Wissenschaft zur Literatur und umgekehrt erkennen? Der Wissenschaftsgeschichte der Literatur um 1900 ging es in der Regel um Erhellung eines Einflusses, dessen Kenntnis - auch aufgrund des wissenschaftsgeschichtlichen Siegeszugs der Psychoanalyse - versunken war. Nach der Diagnose ihres Einflusses auf die Literatur und in der Literatur geht es mir nun darum, die Zirkulation dieses Wissens skizzenhaft und probeweise anzudeuten. Zunächst möchte ich einige Aspekte der Wissenschaftsgeschichte rekonstruieren, sodann gehe ich den Austauschbeziehungen anhand zweier repräsentativer und auch formal unterschiedlicher Werke nach: Thomas Manns Buddenbrooks und Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs.1*
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Welches Wissen verbirgt sich in der modernen Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts - noch vor dem Einfluß der Psychoanalyse? Zu den Gemeinplätzen etwa gehört es, daß die Literatur der europäischen decadence ohne Medizinge13
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In der inneramerikanischen Diskussion wurden auch die beiden Gefahren bereits genannt, die sich aus diesem Verfahren ergeben (haben): zum einen eine neue Rückkehr zur >Geschichtefoucaultianischen< Impulse ein »business as usual« ermöglicht (Joseph Litvak: Back to the Future. A Review Article on the New Historicism, Deconstruction, and Nineteenth-Century Fiction. In: Texas Studies in Language and Literature 30 [1988], S. 120-149, hier S. 135), zum anderen die formalistische Ausweitung der Rhetorik auf die gesamte Geschichte, eine rhetorisch-ästhetische Indienstnahme der Geschichte als eines beliebig konstruierten Textes, ein leerer metaphorischer Austausch rhetorischer Figuren, wo früher als »missing link« zwischen Text und Geschichte die Ideengeschichte (history of ideas) dazwischengeschaltet war (Alan Liu: The Power of Formalism. The New Historicism. In: English Literary History 56 [1989], S. 721-771; Hayden White: New Historicism. A Comment. In: H. Aram Vesser [Hg.]: The New Historicism. New York, London 1989, S. 293-302). Im folgenden nehme ich einige Aspekte meiner Habilitationsschrift auf: Familienmänner. Über den Literarischen Vorsprung moderner Männlichkeit. München 2001.
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schichte - >degenerationEntartung< - kaum zu denken ist; die einst durch Hermann Bahr popularisierte »Nervenkunst« wiederum hat allein aufgrund ihrer markanten Benennung den Blick auf Psychologie, Neuropathologie und Psychiatrie des späten 19. Jahrhunderts gelenkt.15 Sowohl die Vielschichtigkeit und die Bestandsformen dieses Wissens als auch seine Funktionalisierung in >schöner< Literatur gehören jedoch nach wie vor eher zu den Randbezirken einer Einfluß- und Wirkungsforschung, die sich in der Regel auf einzelne Stichworte und wenige exemplarische Einzelstudien beschränkt. Die Gründe liegen zum einen in dem Wissensgebiet selbst, in dem sich zahlreiche, heute nur noch wissenschaftsgeschichtlich interessante Traditionslinien und Einzeldisziplinen vermischen, zum anderen aber in den ungeklärten Transferleistungen zwischen diesen Wissenschaften und einer Literatur, bei der noch nicht einmal klar ist, ob sie sich dieser Wissensbestände bloß bedient oder gar selbst ein Konglomerat von Fallstudien repräsentiert. Die Unklarheit ist nicht allein ein Problem der späteren Interpreten. Schon die Zeitgenossen rätselten über die Beziehungen zwischen den Wissenschaften und den Fiktionen, wie sich am exemplarischen Fall der deutschen Rezeption von Zolas Rougon-Macquart-Zyklus (1871-93), jenem über Jahre hinweg kommentierten Ereignis französischer Literatur, nachzeichnen läßt. Die Wissenschaftlichkeit des gesamten Romanprojekts wird in der deutschen Rezeption eher angezweifelt und kritisiert.16 Ludwig Pfau etwa sieht in der Wochenschrift Nord und Süd 1880 die Zolasche »Naturgeschichte der Erblichkeit« nur ungenügend motiviert: »ein toll gewordener Darwinismus, der die Physiologie der Fortpflanzung in die Phantasmagoric der Romantik übersetzt«.17 Georg Lebedour vermerkt 1893 in der Freien Bühne aus Anlaß des Erscheinens des letzten Rougon-Macquart-Romans, Le docteur Pascal, daß Zolas »Vererbungsmärchen« jedenfalls »recht viel Poesie und wenig Wissenschaft«18 enthält. Die Kritik an der Wissenschaftlichkeit aber heißt nicht, daß die beiden Sphären getrennt gehalten werden - oder daß dies auch nur gewünscht gewesen wäre. Der Standort der Zolaschen naturwissenschaftlichen Forschung wird zwar abgelehnt, der Mythos der Vererbung und die naturwissenschaftlichen Gesetze aber sollen ihre Gültigkeit gerade für die Literatur behalten: so wenn Ludwig Pfau die wissenschaftliche Frage lediglich auf ein Feld zukünftiger Forschung verschiebt, wo dann die »Geheimnisse der Procreation« unweigerlich »mehr und 15
Vgl. Klaus Bohnen, Uffe Hansen und Friedrich Schmöe (Hg.): Fin de Siede. Zu Naturwissenschaft und Literatur der Jahrhundertwende im deutsch-skandinavischen Kontext. Kopenhagen, München 1984 (= Text & Kontext Sonderreihe, Bd. 20); Thome: Autonomes Ich (Anm.4). 16 Vgl. Winthrop Root: German Criticism of Zola. New York 1961, S.26ff. 17 Ludwig Pfau: Emile Zola [1880]. In: Manfred Brauneck und Christine Müller (Hg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1900. Stuttgart 1987, S. 657. 18 Georg Lebedour: Zola's Docteur Pascal. In: Die Freie Bühne 4 (1893), S. 1058-1061, hier S. 1060.
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mehr entschleiert werden« dürften, 19 wenn Julius Rodenberg in der Neuen Rundschau im Exempel der Zolaschen Familiengeschichte jene »Brutstätten« erkennt, »aus denen die Leute der Commune hervorgekommen sind«,20 oder wenn ein anderer Kommentator spekuliert, wie der Romanzyklus wohl ausgefallen wäre, »wenn Zola eine gesunde Familie zu seinem Experiment genommen hätte«.21 Ob nun Ludwig Pfau die »Zufälligkeit einer Familiengeschichte« beanstandet, gegenüber der vielmehr das »Facit lausender von Generationen und ihrer Mischungen«22 notwendig gewesen wäre, oder ob die »ganze erbliche Nevrose der Familie Rougon-Macquart mit der Treue eines medicinischen Gutachters erzählt« wird23: Die Austauschbeziehungen zwischen den Wissenschaften und der >schönen< Literatur sind schon damals umkämpft, vielfältig und unklar. Auf der anderen Seite stehen diese Beziehungen aber stets außer Frage und werden nahezu ständig bemüht, wenn es darum geht, literarische Werke zu kommentieren. Hofmannsthal etwa setzt 1893 das Werk Jens Peter Jacobsens von den »alten psychologischen Romanen« ab: Dort - in den Werken des poetischen Realismus - werde lediglich »der Inhalt des Seelenlebens dargestellt«, bei Jacobsen aber »die Form davon,psychiatrisch genau beobachtet; das Sichdurchkreuzen, das Aufflackern und Abirren der Gedanken, die Unlogik, das Brodeln und Wallen der Seele«.24 Theodor Wolff hatte 1889 im Vorwort der ersten deutschen Übersetzung von Niels Lyhne diesselbe »scharfe naturwissenschaftliche Beobachtungsgabe Jacobsens als eine ins höchste gesteigerte Feinfühligkeit erklärt«25 - und zugleich mit dem Inhalt des Romans in Verbindung gebracht: »Mit der Geistesrichtung Jacobsens hängt es zusammen, daß die Laufbahn seiner Helden fast immer abwärts führt. Dort, wo das Werk den Höhepunkt erreichen sollte, ist der Held am Ende des Niedergangs angelangt.«26 Die Leitideen solcher naturwissenschaftlicher und medizinischer Referenzen sind regelmäßig »Vererbung« und jene »psychiatrisch« diagnostizierte »Feinfühligkeit«, die im medizinischen Wissen der Zeit als »Neurasthenie« bezeichnet wird. Beides verteilt sich auf unterschiedliche Wissensgebiete wie Biologie, Psychiatrie, Völkerkunde, Medizin und Psychologie; gemeinsam aber ist ihrer 19
Pfau: Emile Zola (Anm. 17), S.647. Julius Rodenberg: Der Verfasser des »Assommoir«. In: Deutsche Rundschau 20 (1879), S.480-487, hier S.481. 21 Wilhelm Weigand: Der Niedergang des Naturalismus in Frankreich. In: Die Gegenwart 35 (1889), S. 229-231, hier S. 230. 22 Pfau: Emile Zola (Anm. 17), S. 647. 23 Theophil Zollnig: Ein tugendhafter Roman von Zola. In: Die Gegenwart 34 (1888), S. 296299, hier S. 298. 24 Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen. Frankfurt 1959 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. von Herbert Steiner), S. 100 - Hervorhebung W.E. 25 Theodor Wolff: Einleitung zur ersten deutschen Ausgabe [1889]. In: Jens Peter Jacobsen: Niels Lyhne. Stuttgart 1984, S. 247-255, hier S. 250. 26 Ebd., S. 249. 20
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Verwendungsweise ein narratives Element, wie es in Wolffs Kommentar über die »Laufbahn« des Helden zum Ausdruck kommt: Sowohl Vererbung als auch »ins höchste gesteigerte Feinfühligkeit« verweisen auf ein Geschehen, das in den Geschichten von Familien und Krankheitsverläufen thematisiert und in den Wissenschaften wie in der literarischen Erzählung mit Hilfe narrativer Muster inszeniert und repräsentiert wird. Die zeitgenössischen Wissenschaften öffnen hier wie von selbst einen imaginativen Raum narrativer Möglichkeiten, die zwischen Wissenschaften und literarischer Darstellung oszillieren (Beispiel Zola), und die literarischen Verfahrensweisen bedienen sich des medizinischen Wissens mit Hilfe der dort schon vorgeprägten Darstellungsmöglichkeiten. So fällt es einem Max Nordau umgekehrt leicht, die Literatur seiner Zeit selbst als spezifische und genau bezeichnete Krankheitsfälle auszugeben: »Der Arzt [...] erkennt in der fin-de-siecle-Stimmung, in den Richtungen der zeitgenössischen Kunst und Dichtung, in dem Wesen der Schöpfer mystischer, symbolischer, >decadenter< Werke [...] auf den ersten Blick das Syndrom oder Gesammtbild zweier bestimmter Krankheits-Zustände, mit denen er wohlvertraut ist, der Degeneration oder Entartung und der Hysterie, deren geringere Grade als Neurasthenie bezeichnet werden.«27 So wie hier die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaftsgebieten sowie zwischen (Natur-)Wissenschaft und Literatur fließend sind, so unbestimmt sind die Inhalte des medizinischen Wissens selbst, das sich in der >schönen< Literatur verbreitet. Statt genauer Krankheiten lassen sich dabei eher Wissensfelder, Diskurse und kulturelle Praktiken angeben, die sich hinter der jeweiligen und zumeist unklaren Diagnostik verbergen. Die »Mythologie der Vererbung«28 etwa zielt auf einen Diskurs über >FamilieNeurasthenie< verweist wie ihr weibliches Pendant der >Hysterie< auf eine spezifische Wissenschaft vom Geschlecht, wie sie sich im Wissen der Biologie, der Degenerationspsychiatrie und der Medizin formiert. Sowohl die Vererbungstheorie als auch die Kategorien Neurasthenie/Hysterie sind Teil eines umfassenden Ordnungssystems der Familie und der Geschlechter, welches der Medizingeschichte und der Anthropologie des späten 19. Jahrhunderts zugrundeliegt und in den empirischen Daten der Medizin selbst oft gar keine eindeutige Bestätigung findet.29 >Sexualität< und >Geschlecht< fungieren demnach als dieje27
Max Nordau: Entartung. 2 Bände. Berlin 1892, Bd. l, S. 30f. Zu den wissenschaftlich-medizinischen Kriterien von Nordaus Literaturkritik vgl. Thomas Anz: Gesund oder krank? Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 1989, S. 33-52. 28 Jean Borie: Mythologies de l'heredite au XIXe. Paris 1981. 29 Zur Neurasthenie/Hysterie mögen einige Andeutungen genügen (im Anschluß an Ursula Link-Heer: »Männliche Hysterie«. Eine Diskursanalyse. In: Ursula Becher und Jörn Rüsen (Hg.): 'Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung. Frankfurt 1988, S. 364-396). In der zweiten Jahrhunderthälfte hatte der amerikanische Nervenarzt George M. Beard den Begriff der »Neurasthenie« geprägt: eine in Deutschland als »Nervenschwäche« übersetzte Krankheit,
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nigen Diskurse, die unabhängig von einzelnen Fallgeschichten das anthropologische und medizinische Wissen der Zeit konstituieren und sich deshalb auch gewissermaßen frei zwischen den Grenzen der Wissenschaften und Literatur die zunächst als eine Folge der modernen Lebensumstände - Industrialisierung, Großstadt, Reizüberflutung - interpretiert wird (Georg M. Beard: Die Nervenschwäche [NeurasthenieJ. Ihre Symptome, Natur, Folgezustände und Behandlung. Nach der 2. Auflage ins Deutsche übertragen und mit einem Vorwort versehen von San.-Rath. Dr. M. Neisser. Leipzig 1881). Bald darauf verbreitet sich der Begriff über das medizinische Fachwissen hinaus und wird - wie die Hysterie - zum Zeichen einer geradezu epidemischen Nervenkrankheit, die eine Fülle an medizinischen und populären Schriften hervorbringt und bald auch das literarische Leben der Zeit, die »Nervenkunst«, beherrscht. Zugleich führt jede Rede von den »Nerven« auch zu einem Diskurs über Unterschiede und Grenzziehung zwischen den Geschlechtern. So wird in der gleichzeitig stattfindenden Diskussion über Hysterie die Krankheit zwar längst nicht mehr mit der Gebärmutter assoziiert, sondern zunehmend in das Gehirn und das Nervensystem verlegt (vgl. zuletzt Thome: Autonomes Ich [Anm.4], S. 196ff.), sie gilt jedoch weiterhin als spezifisch weibliche Krankheit, während die Neurasthenie besonders bei Männern diagnostiziert zu werden scheint - ein Befund, der mit der Physiologie und den Lebensumständen der Geschlechter begründet zu werden pflegt. »Das Weib« - so der Münchner Nervenarzt Leopold Loewenfeld - ist »wegen seiner Gehirnorganisation und seiner hierdurch bedingten seelischen Konstitution sehr erheblich (in Deutschland mindestens 6mal) mehr zur Hysterie disponirt als der Mann« (Leopold Loewenfeld: Die moderne Behandlung der Nervenschwäche [Neurasthenie], der Hysterie und verwandter Leiden. Wiesbaden 1895, S. 6). Die Häufigkeit der »Nervenschwäche« beim Mann hingegen liegt laut einem Handbuch der Neurasthenie von 1893 nicht in einer »erhöhten Disposition«, sondern in der ungleich >moderneren< Situation des männlichen Geschlechts, nämlich »darin, dass dem Manne beim Kampf ums Dasein der schwierigere Theil zufällt, dass er durch seinen Beruf, seine Sorgen, seine Excesse viel öfter sich denjenigen Schädlichkeiten aussetzt, welche Neurasthenie hervorrufen« (Rudolph von Hösslin: Aetiologie. In: Franz Carl Müller: Handbuch der Neurasthenie. Leipzig 1893, S. 62-86, hier S. 66). Selbst der medizinischen Lehrmeinung nach sind jedoch »strenge Grenzen zwischen Hysterie und Neurasthenie« nicht zu ziehen. In beiden Fällen zeigen sich mit einer »gesteigerte(n) Reizbarkeit im Bereiche des Nervensystems« und denselben »nervösen Schwächezustände(n)« ähnliche Symptome und - abgesehen von den klassisch hysterischen Anfällen - »gleichartige, nur hinsichtlich ihrer Intensität und ihrer Ausbreitung über die Nervenapparate schwankende Veränderungen« (Loewenfeld 1895, S.6ff.). Weibliche Hysterie und männliche Neurasthenie sind Ordnungs- und Interpretationskategorien, mit denen dieselben medizinischen Symptome auf jeweils andere Weise in die Geschlechter-Ordnung eingefügt werden, mit denen die Grenzen der Geschlechter neu gezogen und zugleich auf deren >normale< Konstruktionen und >krankhafte< Abweichungen verpflichtet werden. Die Symptome der weiblichen Hysterie entstehen im weiblichen Innenraum, weil extreme »Reizbarkeit« und »Schwächezustände« Eigentümlichkeiten des weiblichen Geschlechtscharakters per se sind. Männliche Neurasthenie wird von außen infiziert, weil sie die schon bestehende innere Männlichkeit Nervenstärke - erst außer Kraft setzen muß. Wenn Männer ohne Außeneinwirkung neurasthenisch sind, mangelt es an innerer Männlichkeit, und es läßt sich Hysterie diagnostizieren. »Männer von weibischem Charakter« werden deshalb auch ohne äußeren Einfluß zur weiblichen Krankheit tendieren. Sie sind allein durch ihre »psychische Beschaffenheit zur Hysterie disponirt« (Loewenfeld 1895, S. 6). Die Hysterie hingegen wird zu einem inneren Bestandteil des Weiblichen erklärt: »Es ist das speziell Weibliche in dem seelischen Verhalten des Weibes, das, was die Frau in ihrem Denken, Fühlen, Wollen vom Manne unterscheidet, was auch ihre überwiegende Disposition zur Hysterie begründet: Die stärkere Entwickelung der emotionellen Seite der Psyche, des Gefühllebens, das Zurücktreten der kalt abwägenden Intelligenz - das Ueberwiegen des Herzens über den Verstand - und die geringere
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bewegen. Fragen der >FiktionUmsetzung< und des >Einflusses< sind hier weitgehend außer Kraft gesetzt, geht es doch um gleichermaßen untergründige und teils verborgene Repräsentationen, die jeweils vor der Differenzierung in Wissenschaft und Literatur zum kulturellen Wissen< des späten 19. Jahrhunderts gehören. Nun zeigen sich die typisch >dekadenten< Phänomene in der Literatur der Jahrhundertwende (zumindest in Deutschland) zu einer Zeit, als die Legitimation des diesbezüglichen medizinischen Wissens schon wieder bedroht ist und die zugehörige Diagnostik aus dem naturwissenschaftlichen Wissensbestand verschwindet. Sowohl die Vererbungstheorie als auch die geschlechtlich differenzierten Symptome der Neurasthenie und Hysterie verlieren um 1900 nicht nur schnell an Kredit, sondern scheiden als Erklärungsphänomene aus dem Kanon der medizinischen Symptomatologie zunehmend aus. Der »Verfall einer Familie«, die »letzten« Helden aussterbender Adelsgeschlechter, der neurasthenische Zerfall männlicher Körper - diese >klassischen< Topoi der decadence-Literatur sind bald nur noch als literarische Motive präsent, und als solche werden sie von der Literaturwissenschaft auch rezipiert (allenfalls mit dem Verweis auf die jeweils anachronistischen medizinischen Subtexte). Die Kontextgebundenheit dieser >biologisch-medizinischen< Phänomene scheint ihre Bedeutung für die anderweitig interpretationswürdigen literarischen Texte zu schmälern; ihre Ausbildung der Willensenergie« (Leopold Löwenfeld: Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysterie. Wiesbaden 1894, S. 37). Unter der Hand - in diesem Fall der des Mediziners - verwandelt sich das empirische Material der hysterischen und neurasthenischen Fälle also in eine Figuration von Männlichkeit und Weiblichkeit, und während die »Natur« der Frau aufgrund ihres Reichtums geschlechtsspezifischer Anlagen - Emotion, Gefühl, Sensiti vität, Herz - zur Hysterie neigt, ist der neurasthenische Mann in erster Linie durch einen Mangel gekennzeichnet, das heißt durch ein Fehlen von »Willensenergie«, die ihn handlungsfähig und den Umwelteinflüssen überlegen machen würde. Die Neurasthenie läßt den Mann hinter seinen Geschlechtscharakter zurückfallen, erzeugt eine weibliche »Empfindlichkeit« und verwandelt ihn in einen tendenziell weiblichen Geschlechtscharakter, die Hysterie dagegen ist eher Ausdruck einer Übertreibung und Verstärkung der weiblichen »Natur«. Die Zuschreibung neurasthenischer Symptome auf Umweltreize ist daher bereits eine Reaktion, eine diskursive Strategie, die den männlichen Körper als einen von innen primär weniger reizbaren Organismus konstruiert. Die literarische »Nervenkunst« und die literarische Bewegung der decadence bewegen sich daher ständig in einem Diskurs, der die Auflösung von Männlichkeit zum Thema hat. Jedes Mal, wenn die verfeinerten Nerven< und die >Willensschwäche< als die zentralen Bestandteile der decadence-Imagination in den Blick geraten, sind auf diese Weise die Grenzen der Geschlechter und die kulturellen und medizinischen Konstruktionen der Männlichkeit thematisiert. Naturalistische Milieutheorie wie decadence handeln in diesem Kontext immer von der Auflösung männlicher Ich-Zustände, ob sie bei Hermann Bahr emphatisch begrüßt - »azurne Wollust, wenn die entzügelten Nerven träumen« (Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus [1891]. In: H.B.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904. Hg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1968, S. 33-102, hier S. 89) - oder beim Nervenarzt immer subtiler als geschlechtliche Deformationen diagnostiziert werden, in der Erkenntnis, »daß auch die scheinbar rein geistigen Abweichungen vom Geschlechtstypus krankhafte Erscheinungen sind« (Julius Möbius: Geschlecht und Entartung. Halle 1903, S. 5).
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gewissermaßen literarische Verspätung wird der Phasenverschiebung des kulturellen Wissens gutgeschrieben; ihre Entstehung in den >obskuren< Theoremen des späten 19. Jahrhunderts (>EntartungSozialdarwinismusWissen< beim Transfer von den Wissenschaften in die Literatur verändert, welche neue Funktionen dieses Wissen in beiden Bereichen jeweils erhält, und schließlich welche fiktiven und literarischen Komponenten eines in den Wissenschaften >neutral< und >objektiv< aufbewahrten Wissens durch diesen Transfer erst enthüllt werden. Der Austausch des naturwissenschaftlichen >Wissens< zwischen den dafür vorgesehenen Einzeldisziplinen und den Erzählmodellen der >schönen< Literatur - so die vorläufige These - bringt einen Geschlechter-Text zum Vorschein, der die Wissenschaftsgeschichte durchsichtig macht für einen in ihr selbst eher verborgenen Diskurs: Dieser aber handelt von einer Geschichte der Männlichkeit, die erst in der erzählenden Literatur zu Tage tritt und mit der Psychoanalyse keineswegs zu Ende ist.
2. Für Thomas Manns Buddenbrooks muß die Produktivität einer wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellung heute erst entdeckt werden.30 Die Forschung stand bisher im Zeichen zweier Richtungen, von denen die eine dem sozialgeschichtlichen Gehalt der Familiengenealogie nachspürt, die andere hingegen die eigensinnige strukturelle und philosophische Konzeption des Romans in den Vordergrund stellt. Daß der von Thomas Mann - bekanntlich mittels seiner eigenen Familie - rekonstruierte Verfall der Buddenbrooks die Sozialgeschichte des deutschen Bürgertums auch nur annähernd widerspiegelt, gehört zu den längst widerlegten Irrtümern der früheren Forschungsgeschichte.31
1
Vgl. dazu den knappen Hinweis bei Thome: Autnomes Ich (Anm.4), S. 176f. Sie steht bekanntlich im Banne von Lukäcs. Zur Korrektur: Michael Zeller: Väter und Söhne bei Thomas Mann. Der Generationsschritt als geschichtlicher Prozeß. Bonn 1976; Jochen Vogt: Thomas Mann. »Buddenbrooks«. München 1983. Manns Resümee in Lübeck als geistige Lebensform (1925) hingegen, sein erster Roman beinhalte »ein Stück Seelengeschichte des europäischen Bürgertums« (Thomas Mann: Selbstkommentare: »Buddenbrooks«. Frankfurt 1990, S. 70), war geeignet, den Blick auf die >mentalitätsgeschichtlichen< Aspekte der Buddenbrooks zu lenken, auf die von Nietzsche übernommene decadence-Psychologic (vgl. Herbert Lehnert: Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion. Stuttgart 1965, S.26ff.; Hans Rudolf Vaget: Der Asket und der Komödiant: die Brüder Buddenbrooks. In: Modern Language Notes 97 [1982], S. 656-670), auf den von Schopenhauer beeinflußten und in der Schopenhauer-Lektüre des Thomas Buddenbrooks zum Ausdruck kommenden Pessimismus (vgl. Erich Heller: Der ironische Deutsche. Frankfurt 1976, S.9ff.; Peter Pütz: Die Stufen des Bewußtseins bei Schopenhauer und den Buddenbrooks. In: Beda Allemann und Erwin Koppen (Hg.): Teilnahme und Spiegelung. Festschrift für Horst Rüdiger. Berlin 1975, S. 443^52) sowie auf die bei Schopenhauer und Nietzsche vorgeprägte Dialektik von nach-
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Erst Jochen Vogt ist es 1983 wieder gelungen, die sozialgeschichtliche Perspektive auf die Buddenbrooks zu rehabilitieren, zugleich aber die philosophische Konzeption des Romans einzubeziehen. Er zeigte, daß die im ersten Teil des Romans dargestellte Familiengeschichte mit den Thesen der historischen Familienforschung über den Zerfall des >Ganzen Hauses< in frappanter Weise übereinstimmt.32 Der zweite Teil des Romans hingegen scheint sich von dieser Sozialgeschichte ebenso zwingend wieder zu entfernen, und die von Schopenhauer und Nietzsche beeinflußte Darstellung eines zyklischen Verfallsgeschehens überführt nach Vogt die Familienchronik in eine philosophische Beispielgeschichte. Die Schicksale der Figuren lösen sich dabei in exemplarische Sonderfälle auf, in der statt einer Sozialgeschichte eher literarische Typenhaftigkeit zum Vorschein kommt. Die »Familie« verliert deshalb am Ende gänzlich ihre Bedeutung und hat, Vogt zufolge, ihren Stellenwert innerhalb des Romans regelrecht vertauscht, indem sie vom sozialgeschichtlich typischen Fall zum bloß zufälligen Träger philosophischer Ideen reduziert wird.33 Das zeitgenössische kulturelle Wissen über Familie aber geht in diesen so sorgsam ausgemessenen Deutungssphären von Sozial- und Ideengeschichte kaum auf. Eine Familiengeschichte liegt dem Roman nämlich auf eine ganz andere Weise zugrunde: in den Versatzstücken der Degenerationspsychiatrie und in den Krankengeschichten der männlichen Buddenbrooks-F'igur&n. Statt diesem medizingeschichtlichen Hintergrund nur beiläufige und oberflächliche Aufmerksamkeit zu schenken, läßt sich an ihm sogar der Zusammenhang und die Konstruktion des gesamten Romans aufzeigen; die sozialgeschichtlichen Berührungspunkte wie die philosophischen Kontexte der Buddenbrooks könnten sich in dieser Perspektive dann ihrerseits als bloße Nebenschauplätze eines medizinischen »Falles« enthüllen, der in viel weitergehendem Ausmaß die >Wirklichkeit< des Fin de siecle konstruiert und den >Realismus< des Romans inszeniert. Das >naturwissenschaftliche< Wissen der Zeit wird dabei nämlich nicht lassender Vitalität und zunehmender ästhetischer Sensibilität (Helmut Koopmann: Die Entwicklung des »intellektuellen Romans« bei Thomas Mann. Untersuchungen zur Struktur von »Buddenbrooks«, »Königliche Hoheit« und »Der Zauberberg«. Bonn 1962; Herbert Lehnert: Thomas Mann. »Buddenbrooks«. In: Paul Michael Lützeler (Hg.): Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Königstein/Ts. 1983, S. 31^9). In dem Maße, wie sich der ökonomisch-soziale Niedergang der Buddenbrooks als wenig repräsentativ auswies, rückte die philosophische »Strukturlinie« (Lehnert 1965) ins Zentrum, die den zugrundeliegenden sozialen Stoff des Romans in ein weitgehend autonomes erzählerisches Modell überträgt und dort nach ideengeschichtlichen Gesichtspunkten ordnet. Vgl. zuletzt etwa Hans Wyslings Handbuch-Essay über die Buddenbrooks: »Umgekehrt aber ist dieser Weltstoff im Werk dermaßen durchkomponiert, daß den Charakteren und den Abläufen ein hoher Grad artistischer Eigenständigkeit zukommt: Figuren und Handlungsfolgen sind dermaßen durchkonstruiert, daß sie sich weitgehend von der beobachteten und erlebten Realität lösen: absolut werden« (Hans Wysling: »Buddenbrooks«. In: Helmut Koopmann (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 1990, S. 363-384, hier S. 379). 32 Vogt: Thomas Mann (Anm.31), S.29ff. 33 Ebd., S.107f., S.114f.
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bloß in einer literarischen Familiengeschichte dokumentiert, sondern in eine narrative Form übersetzt. Auf diesem Weg rückt der fiktionale Charakter der Vererbungs- und Degenerationstheorien ebenso ins Licht, wie dabei auch ein bisher verborgenes Wissen über diesen zugrundegelegten Text zum Vorschein kommt - der Geschlechter-Text der Degeneration. Schon in den Brüdern Christian und Thomas Buddenbrook finden sich statt der psychologisch gedeuteten Religiosität des Vaters Jean Buddenbrook die deutlichen Zeichen der Neurasthenie,34 und nahezu das gesamte Romanporträt des Christian Buddenbrooks läßt sich en detail den Fallstudien medizinischer Lehrbücher über Neurasthenie entnehmen. Bei Thomas Buddenbrook sind die Symptome zwar weniger offensichtlich, die Krankheit bildet dort aber die Grundlage einer heroischen Anstrengung, die Merkmale der Nerven- und Lebensschwäche durch »asketische Ideale« und eine theatralische Formkunst getreu der Vorgaben Nietzsches zu maskieren.35 Um so deutlicher aber werden die Verfallszeichen in die Reflexionen dieser Figur und des Erzählers verlagert. Es entsteht eine Meta-Ebene des medizinischen Diskurses, die dem Ursprung der Symptome nachgeht: »Unsere Wünsche und Unternehmungen gehen aus gewissen Bedürfnissen unserer Nerven hervor, die mit Worten schwer zu bestimmen sind.«36 Während Christian die unerklärliche neurasthenische Auflösung des männlichen Körpers kommentiert und ein ätiologisches exemplum hereditärer Degeneration - das Resultat einer Familiengeschichte - statuiert, sinniert Thomas über den Verlust einer Instanz, die das Ich widerstandslos der Umwelt ausliefert. Körper und Nerven sind im Falle der männlichen Neurasthenie nicht mehr selbstbestimmt, sondern den äußeren Reizen und Einflüssen preisgegeben,37 und da Thomas gewissermaßen den Kampf um diese Selbstbestimmung aufgenommen hat, ist er - nach einem äußeren geschäftlichen Mißerfolg - den verborgenen inneren Ursachen fehlender Entschlußkraft und dem Mangel des neurasthenischen Mannes auf der Spur.
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Als da sind: eine »neurasthenische Willensschwäche«, die einerseits zur »mangelnden Selbstbeherrschung in Zuständen psychischer Erregung«, andererseits zur »Vernachlässigung gewohnter Rücksichten auf die herrschende Etiquette und die persönliche Würde« führt (Löwenfeld: Pathologie und Therapie [Anm.29], S. 109), sodann die »Zwangsvorstellungen« und »Angstzustände« der Neurastheniker (Löwenfeld: Pathologie und Therapie [Anm.29], S. lllff.), »ziehende, stechende Schmerzen«, vor allem in den Extremitäten (Wilhelm Wilke: Nervosität und Neurasthenie und deren Heilung. Hildesheim 1903, S. 77), schließlich der den Neurastheniker kennzeichnende »Hang zu anhaltender subtiler Analyse seines eigenen Zustandes« (Theodor Dunin: Grundsätze der Behandlung der Neurasthenie und Hysterie. Berlin 1902, S. 6). 35 Vgl. Vaget: Der Asket und der Komödiant (Anm.31). 36 Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt 1960, Bd. I, S. 418 (fortan zit. als MW mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl). 37 Vgl. Anm.29.
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Mir ist, als ob mir dergleichen früher nicht hätte geschehen können. [...] Was ist der Erfolg? Eine geheime, unbeschreibliche Kraft, Umsichtigkeit, Bereitschaft... das Bewußtsein, einen Druck auf die Bewegungen des Lebens um mich her durch mein bloßes Vorhandensein auszuüben ... Der Glaube an die Gefügigkeit des Lebens zu meinem Gunsten ... Glück und Erfolg sind in uns. Wir müssen sie halten: fest, tief. Sowie hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her, widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluß (MW I, 430).
Jene »geheime, unbeschreibliche Kraft«, die Thomas Buddenbrook nicht mehr zur Verfügung hat, jenes »mit Worten schwer« zu bestimmende »etwas«, das die Aktivität des Firmennachfolgers in die Passivität des Neurasthenikers verwandelt, all diese Symptome sind in der Neurasthenie-Literatur klinisch und wortwörtlich als »Erlahmung des Willens« und als »Gefühl der Ermüdung«38 aufgezeichnet, ohne doch weniger »unbeschreiblich« zu sein. Der Roman aber versetzt den Krankheitsfall in eine Familiengeschichte, und dadurch kommt hinter der Diagnose eines Mangels und der Instanz des »Willens« auch der Konstruktionsprozeß einer Männlichkeit ins Spiel, die im Falle der Buddenbrooks offensichtlich zu versagen droht. Dieses Versagen wird in zwei Formen thematisiert, in der Auflösung des männlichen Körpers und in dem Niedergang der Familie. Beides formiert die Struktur der Buddenbrooks-Geschichte, und beides übersetzt medizinische Figurationen (Neurasthenie, Degeneration) in einen narrativen Prozeß, der hinter der diagnostischen Beschreibung vor allem die geschlechtsspezifischen Implikationen zum Vorschein bringt. Zunächst einmal ist der von Thomas Buddenbrook festgehaltene und gesuchte »Wille« nicht nur der Wille des Vaters, vielmehr besteht die ganze Geschichte dieses Buddenbrook-Sohnes aus dem Versuch, sich an die Stelle des Vaters zu setzen. Jede Hoffnung, jede Anstrengung, sich dem neurasthenischen Symptom zu entziehen, beginnt mit der Berufung auf die Väter. Thomas Buddenbrook reiht sich bei wichtigen Entscheidungen selbst in die »Kette« seiner Vorfahren ein - »wir, Urgroßvater, Vater und ich« (MW I, 453) -, und die Schwäche der »Nerven« geht einher mit der »Erinnerung an die Vergangenheit, an seinen Vater« (MW I, 491). Im Laufe des Romans bekommt Thomas Buddenbrook immer mehr die einzige paternale Funktion übertragen, und er selbst identifiziert die innere Instanz des Willens immer mehr mit dieser Funktion. Unmittelbar nach der medizinischen Selbstbeobachtung des Thomas Buddenbrook folgt eine »erbitterte Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn« (MW I, 433), da sich der neue Firmenchef bei der Testamentsauszahlung an Claras Mann Tiburtius übergangen fühlt. Nun muß er »im Hause seiner Väter« (MW I, 435) auch gegenüber der eigenen Mutter den Status des Sohnes ablegen, die Position des Vaters übernehmen und als ein fiktiver Ehemann das eigenmächtige Verhalten der Frau maßregeln: »Und ich entgegne dir, meine liebe Mutter, daß [...] meine Eigenschaft als Sohn zu Null wird, sobald ich dir in Sachen der Firma und der Familie als männliches Oberhaupt 38
Dunin: Grundsätze der Behandlung (Anm.34), S. 14, S. 16.
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und an der Stelle meines Vaters gegenüberstehe...!« (MW I, 432) In gleicher Weise werden alle familialen Beziehungen des Romans in die Vater-Rolle des Thomas Buddenbrook umgeschrieben. Die Schwester Antonie bleibt Kind und Tochter, der Bruder Christian fällt durch die neurasthenische Auflösung der Männlichkeit und durch die von Thomas angenommene paternale Funktion ebenfalls in die Position eines Sohnes zurück.39 Thomas Buddenbrook ist nicht nur der Nachfolger des Vaters, seine paternale Funktion ist überzeichnet und überdeterminiert. Er ist der einzig übriggebliebene Vater und Mann, und er selbst versetzt sich immer mehr in genau diese Position, um jene »geheime unbeschreibliche Kraft« festzuhalten, die ihm zunehmend verlorengeht. Paradoxerweise wird dabei gerade der Verlust der paternalen Instanz sichtbar, die Thomas zwar einnimmt, die ihm selbst aber fehlt. Dieser Verlust des männlichen Willens wiederum ist weniger auf das philosophischsymbolische als auf das familiale Szenario des Romans bezogen - und folgt dort dem umgekehrten Weg, das heißt er führt vom Vater zur Mutter und von der Männlichkeit zur Weiblichkeit. Kurze Zeit nur, nachdem sich der Firmennachfolger als »männliches Oberhaupt« gegenüber der Mutter behaupten mußte, am Tag des Firmenjubiläums, als sich Thomas durch »Erinnerung« an den Vater aufzurichten versucht, geraten die Glückwünsche und die »Umarmung« der Mutter zur Aufkündigung all dessen, was ihn vorher auf das Gesetz des Vaters verpflichtet hatte. Den Senator befiel eine Schwäche in dieser Umarmung. Es war, als ob in seinem Inneren sich etwas löste und ihn verließ. Seine Lippen bebten. Ein hinfälliges Bedürfnis erfüllte ihn, in den Armen seiner Mutter, an ihrer Brust, in dem zarten Parfüm, das von der weichen Seide ihres Kleides ausging, mit geschlossenen Augen zu verharren, nichts mehr sehen und nichts mehr sagen zu müssen ... (MW I, 481).
Die zuvor schon beschriebenen neurasthenischen Symptome - »Schwäche«, eine sich im »Innern« lösende Kraft - sind hier in eine rückläufige familiale Bewegung und in ein unverhohlenes Bedürfnis nach embryonaler Geborgenheit übersetzt. Und so wie sich Thomas Buddenbrook hier in einen von der Mutter geschützten Sohn zurückverwandelt, so rückt er im selben Moment auch an die 19
Thomas selbst aber kämpft gerade durch die Übernahme des väterlichen Gesetzes gegen die Abwärtsbewegung seiner eigenen Krankheit an. In der großen Streitszene mit Christian bekennt er die innere Ähnlichkeit mit dem decadent, um sich sogleich mit der Attitüde des Vaters dagegen zu wehren: Er spricht Christian die >Volljährigkeit< ab - »das mit dem erwachsenen Menschen< ist etwas sehr Äußerliches bei dir!« (MW 1,576) - und rückt, als Christian die unehelichen Kinder seiner Geliebten adoptieren und der Familie zuführen will, auf der Stelle in die Rolle des strafenden Vaters: »Ich verbiete es dir, hörst du? ich verbiete es dir! [...] Ich lasse dich für kindisch erklären, ich lasse dich einsperren, ich mache dich zunichte! Verstehst du mich?!« (MW 1,581) Christian findet sich dadurch - auch in der ihm zugedachten Rhetorik - an der Seite des >Kindes< Tonys wieder und ist gleichzeitig seiner Männlichkeit beraubt - wie Tony selbst es bestätigt, die ihrem Bruder Thomas im gleichen Atemzug die ganze Fülle der väterlichen Macht überträgt: »Du mußt für uns denken und handeln, denn Gerda und ich sind Weiber, und Christian...nun, Gott sei mit ihm!... Wir können dir nicht Widerpart halten [...]« (MW I, 586).
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Seite seines eigenen Sohnes Hanno. Dieser nämlich wiederholt an demselben Festtag die Geste seines Vaters, als er unter vergeblicher Anstrengung ein Gedicht aufsagen soll und das abseits stehende Kindermädchen Ida ins Auge faßt: »Ein übergroßes Bedürfnis befiel ihn, sich an sie zu schmiegen, sich von ihr fortbringen zu lassen und nichts zu hören als ihre tiefe, beruhigende Stimme [...]« (MW 1,484). Sind Vater und Sohn in dieser Reaktion vereint, so wechselt Thomas im selben Augenblick wieder auf die Seite des eigenen Vaters und nimmt in der Bestrafung Hannos auch gegen die eigene »Schwäche« Partei. Statt der Stimme Idas »klang die Stimme des Vaters«, der seinem Sohn »Festigkeit und Männlichkeit« (MW 1,485) zuteilen will und mit dem Vorwurf fehlender männlicher Geschlechtlichkeit auch sich selbst denunziert: »Bist du denn ein kleines Mädchen?« (MW I, 486) So wie Thomas in seinem Sohn Hanno die »Abzeichen seiner väterlichen Familie« sucht - und sie dann doch nur »äußerlich« und »körperlich« (MW I, 508) findet, so ist auch er selbst innerlich gespalten zwischen einer paternalen Instanz und der ihr entgegengesetzten mütterlichen Welt. Aber anders als Hanno, der bereits Teil dieser Welt geworden ist, befindet sich Thomas Buddenbrook in einem ständigen Zwiespalt, der nur noch die Opposition zwischen Vater-Position und dem Verfall der eigenen Männlichkeit zuläßt. Während Thomas in seinem Sohn noch die »Eigenschaften der Männlichkeit [...] anzureizen und zu entwikkeln« (MW 1,520) sucht, sind Vater und Sohn gleichzeitig von dem »Bedürfnis« überwältigt, zu einem imaginären mütterlichen Körper zurückzukehren, »nichts« mehr »sehen«, »hören« und »sagen« zu müssen (MW I, 481, 484). In der zentralen Figur des Thomas Buddenbrook aber wird der Prozeß deutlich, der dabei die väterliche und mütterliche Position im Innern der männlichen Subjektivität selbst voneinander entfernt hat - ein Prozeß der Geschlechter-Geschichte des 19. Jahrhunderts, auf den wiederum die Medizingeschichte reagiert und Figuren der Neurasthenie und der Degeneration >erfindetVaters< und der Gemeinschaft mit Hanno, in der er ebenfalls zum >Sohn< - zu seinem eigenen Sohn wird, macht die Dichotomie von väterlich-männlicher Geschichte und einer dazu rückläufigen Bewegung - Zerfall, Degeneration, Auflösung, Rückkehr zur Mutter, Fin de siecle - deutlich, in der sich der Konstruktionsprozeß von Männlichkeit um 1900 befindet. Die Gemeinsamkeit mit seinem Sohn Hanno bringt freilich die Buddenbrooks-Geschichte der Väter zu einem Stillstand, und die berühmte Schopenhauer-Szene des Romans bringt beide hervorgetretene Figuren dieser Geschichte zusammen - die Auflösung des Körpers und den Untergang einer paternalen Erzählung. Thomas Buddenbrook, dessen metaphysischer Glaube stets darauf hinauslief, »daß er in seinen Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde« (MW I, 652), entdeckt in der Schopenhauer-Lektüre nun die »Auflösung« eines paternalen Zwangs, der die Familien und Individuen als »Glieder einer Kette« (MW 1,148) miteinander verbindet: Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn! [...] Die Mauern seiner Vaterstadt [...] taten sich auf [...]. Die trügerischen Erkenntnisformendes Raumes, der Zeit und also der Geschichte, die Sorge um ein rühmliches, historisches Fortbestehen in der Person von Nachkommen, die Furcht vor irgendeiner endlichen historischen Auflösung und Zersetzung, dies alles gab seinen Geist frei [...] (MW I, 657).
Zugleich aber übersetzt die Szene dieser Lektüre eine philosophische Erkenntnis wiederum in dieselbe Bewegung und dieselben Positionswechsel, die sich im neurasthenischen Symptom des Senators und in der Szene mit seinem Sohn 41
Eine erste Beschreibung dieser Geschichte - noch vor Medizin und Psychiatrie - findet sich in einem Initialtext der entstehenden Familientheorie und Ethnologie: Bachofens Das Mutterrecht (1861). 42 Vgl. Link-Heer: Über den Anteil der Fiktionalität an der Psychoanalyse des 19. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 13 (1983), S.280-301. 43 Vgl. Robert A. Nye: Masculinity and Male Codes of Honor in Mondern France. New York, Oxford 1993.
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Hanno gezeigt hatten. Thomas Buddenbrook befindet sich direkt vor der Lektüre in einer Situation, in der sich das »hinfällige Bedürfnis« von Vater und Sohn, die Auflösung der Männlichkeit, bereits wieder ankündigt. Der »Sirupgeruch« einer nahen »Zuckerbrennerei« vermischt sich mit dem hochsommerlichen »Duft des Flieders«; die Natur-Geräusche - Vogelgesang, Springbrunnengeplätscher - wirken »besänftigend« auf den Senator und sind dabei ihn »einzulullen« - eine maternale Symbolik, die Thomas deshalb auch sofort »von sich zu scheuchen« beginnt: »Ich muß denken, sagte er beinahe laut... Ich muß alles ordnen, ehe es zu spät ist...« (MW I, 653f.) Auf die eigenmächtige Inanspruchnahme Schopenhauers für die Zwecke Thomas Manns und Thomas Buddenbrooks ist oft hingewiesen worden.44 Darüber hinaus läßt sich an der philosophischen Sprache zeigen, wie auch das philosophische >Wissen< des Schopenhauer-Textes in den geschlechtsspezifischen Kontext des Romans übersetzt, wie die der Szene zugrundegelegten Passagen aus Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung zu diesem Zweck regelrecht von einem >männlichen< in einen >weiblichen< Text umgeschrieben werden. Nur ein »nachdenkender und wohlgeregelter Verstand«45 vermag sich bei Schopenhauer über die Bedeutung des Todes - »mittelst der Reflexion«46 - klarzuwerden. Nur das »Gefühl« läßt über den Tod trauern, während gerade die »Vernunft [...] uns auf einen höhern Standpunkt stellt«47 und das >Leben< von der Warte der »Erkenntniß«4* zu deuten versucht. Gerade diese Ordnung des »Denkens«, mit der Thomas Buddenbrook sich auf das paternale Gesetz verpflichten will, ist jedoch schon in der »einlullenden« Szenerie dieser Lektüre außer Kraft gesetzt, und Kontext wie Metaphorik zeigen deutlich, wie sich die Aktivität des >männlichen< Erkennens in Schopenhauers Text in die fast religiöse Erfahrung und die erotisch-passive - >weibliche< - Hingabe des Senators verwandelt: Thomas Buddenbrook [...] fühlte, wie seine Brust dabei vor innerlichem Schluchzen erzitterte. [...] Er sah, er wußte und verstand wieder nicht das geringste mehr und ließ sich tiefer in die Kissen zurücksinken, gänzlich geblendet und ermattet von dem bißchen Wahrheit, das er soeben hatte erschauen dürfen. Und er lag stille und wartete inbrünstig, fühlte sich versucht, zu beten, daß es noch einmal kommen und ihn erhellen möge. Und es kam. Mit gefalteten Händen, ohne eine Regung zu wagen, lag er und durfte schauen. [...] wie im Rausche emporgehoben von einem Glück, dem keins in der Welt an schmerzlicher Süßigkeit zu vergleichen (MW I, 656-658).
Eine philosophische »Erkenntniß« verkehrt sich in die Erinnerung an die »erste hoffende Liebessehnsucht« (MW I, 655), an die Stelle der ordnenden »Ver44
Zuletzt (zusammenfassend) von Gero von Wilpert: Die Philosophie. In: Ken Moulden und Gero von Wilpert (Hg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1988, S. 293-304. 45 Arthur Schopenhauer: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1990, Bd. II, S. 546. 46 Ebd. S. 550. 47 Schopenhauer: Werke in fünf Bänden (Anm.45), Bd. I, S. 372. 48 Ebd. S. 374.
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nunft« tritt ein passiver und aufnahmebereiter Körper, die theoretische Unterweisung entpuppt sich als Apotheose der Auflösung. Bis in die Wortwahl hinein verweisen Sprache und Metaphorik - das »Zurücksinken«, die »Mattigkeit« und die »Süßigkeit« - wiederum auf die Einheit mit dem Sohn Hanno, der dieselbe Körper-Erfahrung zuvor in einer Musik-Szene vorgeführt hatte: [...] dieses entzückende und befreite Hineinsinken in H-Dur? Ein Glück ohnegleichen, eine Genugtuung von überschwenglicher Süßigkeit. [...] die Wonne [...] kam, kam über ihn; [...] ermattet und überwältigt sank sein Kopf auf die Schulter nieder, seine Augen schlössen sich, und ein wehmütiges, fast schmerzliches Lächeln unaussprechlicher Beseligung umspielte seinen Mund [...] (MW I, 506f.).
Die Schopenhauer-Lektüre führt zu keiner (männlichen) Erkenntnis, sondern zur (kindlichen) Rückkehr in die Gemeinschaft mit Hanno: Zu »willensschwach« (MW 1,659), um über die Zeit zur weiteren Lektüre zu verfügen, »geschah es«, daß der philosophische Dilettant »matt zurücksank zu den Begriffen und Bildern, in deren gläubigem Gebrauch man seine Kindheit geübt hatte« (MW I, 660). Zu »willensschwach« für die Firmennachfolge, für die Nachkommenschaft, für die Philosophie - das neurasthenische Leiden des Thomas Buddenbrook enthüllt sich als Abweichung und als Rückzug von einer paternalen Geschichte, die sich in Hannos gänzlicher Abkehr von den »Buddenbrooks« vollendet. Die Schwäche der Männlichkeit ist dabei immer schon in die Körper-Metaphorik der Auflösung übersetzt, und so wie es dem Senator nicht gelingt, »Kräfte zu sammeln«, sich etwas »fest und unveräußerlich zu eigen (zu) machen«, so zerfällt auch die Sprache, in der sich ihm die philosophische Erfahrung vermittelt: »nicht in Worten und aufeinanderfolgenden Gedanken, sondern in plötzlichen, beseligenden Erhellungen seines Inneren« (MW I, 658). Eine »Seligkeit«, die das Musik-Erlebnis des Sohnes wiederholt, ein »style de decadence«, der die von Bourget49 und Nietzsche50 beschriebene Zerstörung der Sprache als die Symptome einer neuen »Nervenkunst« ausweist. Damit haben in den Buddenbrooks die medizinischen Kankheitssymptome der »Degeneration« einer Familie und der »Neurasthenie« nicht nur eine Geschichte erhalten; die Figuren des zeitlichen Niedergangs und der körperlichen Auflösung haben sich zugleich als Figuren und Symptome einer männlichen Ge49
50
Vgl. die Passage bei Bourget: »Un style de decadence est celui oü l'unite du livre se decompose pour laisser la place ä l'independance de la page, oü la page se decompose pour laisser la place ä l'independance de la phrase, et la phrase pour laisser la place ä l'independance du mot« (Paul Bourget: (Evres completes. Critique I. Essais de Psychologie Contemporaine. Paris 1899, S. 15f.). »Das Wort wird souverän und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen - das Ganze ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der decadence: jedesmal Anarchie der Atome [...]. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt« (Friedrich Nietzsche: Werke in fünf Bänden. Hg. von Karl Schlechta. 6. Aufl. München 1969, Bd. II, S. 917).
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schichte enthüllt, als eine geschlechtsspezifische Imagination, die den narrativen Subtext dieser Wissensschaftsgeschichte aufdeckt und zugleich ihren geschlechtsspezifischen Metatext beschreibt. In der Metaphorik und der Meta-Erzählung der >Degeneration< geht die Krankheit zumeist vom weiblichen Körper aus, um dann durch die Männer fortgepflanzt zu werden, bis sich die krank gewordenen Körper wiederum an der Mutter Erde regenerieren - oder auch nicht. So wie Körper im 19. Jahrhundert oft >weiblich< konnotiert sind, so sind es auch >Krankheiten< und kranke Männer. Die medizinische Imagination des 19. Jahrhunderts hat diese Figuration der Geschlechter mit der Symptomatik der Degeneration und der Nervenkrankheiten miterzeugt. Indem die Literatur von Zola über Thomas Mann und Thomas Hardy bis zu Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge diese Geschichte der Degeneration jedoch auf spezifische Weise erzählt,51 rückt sie einen in der Medizingeschichte selbst eher verborgenen Geschlechter-Text noch stärker, manchmal sogar überhaupt erst in den Blick. Die Medizingeschichte, die sich im 19. Jahrhundert selbst zu feiern beginnt, weil sie in ihrer positivistischen Orientierung die >nackten Tatsachen< erobert und den illusionslosen ärztlichen Blick etabliert hat,52 hat die Gesetze der >Degenereszenz< als Tatsachenwissen ausgegeben und so die imaginativen Potentiale und Effekte eher heruntergespielt. Diese sind eher zwischen den Zeilen zu lesen, so wenn Carl August Wunderlich in seiner Geschichte der Medizin (1859) eine bestimmte Schulbildung des berühmten Mediziners Schönlein beschreibt, in der die Entstehungsgeschichte der Krankheiten durch deren »Zeugung« analog zur Entstehung des menschlichen Organismus - erklärt wird. Dabei geben einige als »männlichen Factor die Gelegenheitsursache, als den weiblichen die Krankheitsanlage des Individuums an«.53 Ebenso werde die Krankheit bekämpft: »theils [...] überwunden durch die Kräfte des Mutterorganismus, theils gewaltsam durch die Medicamente des Arztes.«54 Wunderlich referiert hier nur eine bestimmte medizinhistorische Position, die Geschlechterbestimmungen setzen sich jedoch in seiner eigenen Darstellung unterschwellig fort. Wunderlich selbst rechnet es wenig später zu den Glanzleistungen der »Medizin in der Gegenwart«, daß sie »in dem kranken Menschen einen Organismus«55 sieht, der also eng verbunden und metaphorisch konnotiert ist mit dem kurz zuvor er-
51
Vgl. jetzt (für die französische und englische Literatur): Daniel Pick: Faces of Degeneration. A European Disorder 1848-1918.2. Aufl. Cambridge 1993; William Greenslade: Degeneration, Culture and the Novel. Cambridge 1994. 52 Vgl. Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt/M. 1988, bes. S. 69-72. 53 Conrad August Wunderlich: Geschichte der Medizin. Vorlesungen gehalten zu Leipzig im Sommersemester 1858. Stuttgart 1859, S. 342. 54 Ebd., S. 343. "Ebd., S. 364.
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wähnten Ursprung der Krankheit und dem Ursprung des Körperlichen, dem »Mutterorganismus«.56 Die Medizingeschichte enthüllt hier selbst eine mythische Geschlechter-Erzählung: von den inneren weiblichen Organismen und den von außen »gewaltsam« operierenden Ärzten (ähnlich dem >inneren< hysterischen Organismus des >Weibes< und den von außen kommenden Gefahren der Neurasthenie), von der >weiblichen< Krankheit und der >männlichen< Medizin, die sich darauf »zu concentrieren hat, die menschlichen Leiden im Grossen und Kleinen, die sich auf Störungen des Organismus beziehen, abzuhalten, zu vermindern und zu beseitigen«,57 von weiblichen Körpern und männlichen Vererbungslinien, die sich dort kreuzen, abwechseln und fortsetzen. Die Literatur bedient sich nicht bloß dieses Geschlechter-Textes, sie bringt ihn vielmehr durch ihre Geschichten mit hervor, ja, sie macht die narrativen Konzepte und deren kulturelle Funktion noch deutlicher sichtbar. Als die wissenschaftliche Legitimation des Vererbungsmythos und der ausschließlich männlichen Neurasthenie nach 1900 schwindet, bleiben die dort zugrundegelegten Geschlechterfunktionen in der >schönen< Literatur wirksam, werden aufbewahrt und fortgesetzt.58 Die hier beobachtete Zirkulation von Wissensbeständen also lenkt den Blick auf gemeinsame kulturelle Figurationen sowie deren unterschiedliche Verwendbarkeit in Wissenschaften und Literatur. Die literarische decadence und Thomas Manns Buddenbrooks vergegenwärtigen die Vererbungsmythologie der >Degeneration< als eine Phantasie über Männlichkeit, die in ihren kulturellen Funktionen bedroht ist.59 Die der decadence folgende Geschichte der europäischen Literaturen - aber auch die gesamte Psychoanalyse60 - läßt sich als ein großer Versuch interpretie56
Zudem gilt Johann Lucas Schönlein noch um 1900 als »der Begründer der modernen klinischen Methode« (August Hirsch: Geschichte der medizinischen Wissenschaften in Deutschland. München, Leipzig 1893 [= Geschichte der Wissenschafte in Deutschland. Neueste Zeit. Bd.22], S. 599): Seine Schule spielt demnach (schon bei Wunderlich) eine große Rolle in der später von Foucault beschriebenen Geburt der Klinik (Anm.52). 57 Wunderlich: Geschichte der Medizin (Anm.53), S. 365. 58 Analog der einst von Wolf Lepenies entworfenen Funktion einer Literatur, die im 19. Jahrhundert viele der aus den Wissenschaften ausgewanderten Fragen weiter bearbeitet und für das 20. Jahrhundert >konserviert< (Wolf Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor. Über konservierende Funktionen der Literatur. In: Akzente 25 [1978], S. 129-147). 59 Vgl. dazu auch George Mosse: Masculinity and the Decadence. In: Roy Porter und Mikulas Teich (Hg.): Sexual Science, Sexual Knowledge. The History of Attitudes to Sexuality. Cambridge 1994, S.251-266. Zur Geschichte einer derart bedrohten Männlichkeit im 19. Jahrhundert liegen bislang lediglich amerikanische Arbeiten vor: vgl. E. Anthony Rotundo: American Manhood. Transformations in Masculinity from the Revolution to the Modern Era. New York 1993; Michael Kimmel: Manhood in America. A Cultural History. New York u.a. 1996. H) Die Entstehung der Psychoanalyse ist selbst nur eine Antwort auf den hier aufgezeigten medizinigeschichtlichen Zusammenhang. Nicht von ungefähr bedient sie sich dezidiert literarischer Elemente, und nicht von ungefähr verwandelt sie die Neurasthenie-Figuren des Verfalls und der Auflösung wieder in eine narrative Geschichte und einen erfolgreichen Vater-
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ren, die dort unterbrochene Geschichte der Männlichkeit, jene aufgelöste paternale Geschichte wieder in Gang zu bringen. Thomas Mann selbst hat einen Weg dazu vorgezeichnet: Seine Buddenbrooks führen den »style de decadence« in der ästhetischen Erfahrung der letzten Buddenbrook-Männer zwar vor, der Roman selbst aber präsentiert das genaue Gegenteil. Die narrative Komposition des Romans nämlich ist seinem inhaltlichen Thema - decadence, »Willensschwäche«, Auflösung - genau entgegengesetzt: ein Musterbeispiel der narrativen Formstrenge und der abgemessenen Komposition. Folgerichtig hat Thomas Mann später - in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) - die »Männlichkeit des Werkes« (MW XII, 191) betont, gerade im Zusammenhang mit den Buddenbrooks und der europäischen decadence, denen Thomas Mann nun die Ideale einer neuen deutschen Männlichkeit gegenüberzustellen versucht. Und so wie die ästhetische »Form« hier als Antwort auf den Geschlechter-Text der decadence fungiert, so produziert die Literatur selbst ihre Antworten auf die Geschichte der medizinischen Wissenschaften - auch wenn die in der Medizin gestellten Fragen längst wieder aus dem offiziellen >Fachwissen< verschwunden sind.
3. Ähnlich wie bei den Buddenbrooks wurden die Interpretationen von Richard Beer-Hofmanns Der Tod Georgs durch Aspekte der Wissenschaftsgeschichte nicht nur bereichert, sondern zugleich auf eine wesentlich neue Grundlage gestellt. Auch hier fielen die Forschungsergebnisse zuvor auseinander in sozialgeschichtliche Erklärungsmuster, die sich am Leitfaden des isolierten - und psychopathologischen - Künstler-Ichs um 1900 orientierten,61 und in eher >immanente< Deutungen, die den Roman als Exempel eines impressionistischen und avantgardistischen Textes - Formlosigkeit, innerer Monolog, Traumsequenzen - vorführten.62 Statt der Medizingeschichte ließen sich bei Beer-Hofmann zunächst eher zeitgenössische Konzepte der Erkenntnistheorie aufweisen, die dem Romantext jeweils unterlegt sind und Handlung wie Romanfigur steuern. Sohn-Text, der von der decadence und von der hier aufgezeigten Medizingeschichte dezidiert fortführt. 61 Hartmut Scheible: Nachwort. In: Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 120-160; Hartmut Scheible: Literarischer Jugendstil. Eine Einführung. München, Zürich 1984; Rainer Hank: Mortifikation und Beschwörung. Zur Veränderung ästhetischer Wahrnehmung in der Moderne am Beispiel des Frühwerks Richard Beer-Hofmanns. Frankfurt u.a. 1984; Wolf Wucherpfennig: Gesetz und Sinnlichkeit. Zur dichterischen Entwicklung Beer-Hofmanns. In: Etudes Allemandes et Autrichiennes. Hommage a Richard Thieberger. Paris 1989, S. 453-472. 62 Jens Malte Fischer: Richard Beer-Hofmanns »Der Tod Georgs«. Sprachstil, Leitmotive und Jugendstil in einer Erzählung der Jahrhundertwende. In: Sprachkunst 2 (1971), S. 211-227; Iris Paetzcke: Erzählen in der Wiener Moderne. Tübingen 1992, S. 71-93.
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Die Desorientierung des Helden Paul etwa, den der Tod seines Freundes Georg in ein Labyrinth von Erinnerungen, Selbstreflexionen und Phantasien führt, wurde dabei als Konsequenz der von Ernst Mach vorgebrachten Thesen über das >unrettbare Ich< interpretiert. Die im Roman zuletzt angestrebte >Lösung< aber, die jenen Zustand aufhebt und im Namen eines erkenntnistheoretischen »Gesetzes«, einer neuen Harmonie zwischen Ich und Welt sowie im Rückgriff auf die jüdische Religion die >Krise< des Helden überwindet, steht im Zeichen der monistischen Theorien der Jahrhundertwende. Die Rezeption Machs und der Monismus-Theorien Haeckels etwa ließ sich folgerichtig bis in die Einzelheiten der Einflußforschung hinein belegen.63 Von Mach bis zum Monismus beschreibt Der Tod Georgs somit eine Geschichte, deren wissenschaftsgeschichtliche Referenztexte sowohl Handlung als auch Form des Romans informieren. Auch hier jedoch lassen sich Text und Wissenschaftsgeschichte nicht einfach ineinander abbilden, ohne dabei mehr als gegenseitige Einflüsse und zumeist die Abhängigkeit der >schönen< Literatur von wissenschaftsgeschichtlich etablierten Theorien festzustellen. Auch in diesem Fall aber läßt sich zugleich ein anderer Text nachweisen, der sich in den naturwissenschaftlichen Referenztexten verbirgt und gerade erst in den literarischen >Fallgeschichten< zum Vorschein kommt. Der zumeist übersehene Beginn des Romans gibt dazu die ersten Hinweise. Nicht den Namen des Helden Paul trägt Richard Beer-Hofmanns Roman Der Tod Georgs im Titel, sondern den des schon zu Beginn sterbenden Freundes eine Verschiebung, die auf die Bedeutung dieses Todes für die Reflexionen, die Träume und die inneren Monologe des >eigentlichen< Helden aufmerksam macht. Statt diesen »Georg« jedoch sogleich aus den Augen zu verlieren, lohnt es sich, den Titelhelden etwas genauer anzusehen - zumal am Beginn des Romans, wo der Text eigentlich noch gar nichts von jener Modernität verrät, durch die Der Tod Georgs zu »einem paradigmatischen Text der Jahrhundertwende«64 und einem Schlüsseltext der Wiener Moderne avancieren konnte. Der Roman setzt >realistisch< ein. Ort der Szene ist ein Gespräch Pauls mit einem nicht näher benannten »Doktor«, und sie reden über die berufliche Karriere Georgs, der auf einer Reise von Südtirol nach Heidelberg bei Paul Station macht. Der »Doktor« vermutet Georg noch auf der Stufe eines »Assistenten« - »Ja hat er denn nicht mehr seine Assistentenstelle in Berlin?« - und wird von Paul sofort eines besseren belehrt: »Aber Doktor, lesen Sie denn keine Zeitungen? Georg ist als Professor nach Heidelberg berufen worden!« Der unverfängliche Gesprächston verliert sich beim Sprechen über Georgs Ruhm, die »Stimme« des Doktors klingt »neidisch traurig«: »Der hat's gut! [...] kaum ist er Doktor, bekommt er eine Assistentenstelle, und jetzt - nach vier Jahren - eine Profes63
64
Vgl. Stefan Scherer: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne. Tübingen 1993, S.340ff. Ebd., S. 193.
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sur!«65 Der »Doktor« selbst also ist noch auf der ersten Stufe, und auch Paul wünscht sich sogleich an Georgs Stelle: »So hätte er sein mögen, wie der!« Während Georg nebenan schläft, phantasiert Paul ein Bild des Freundes, das all die Fin-de-siecle-Symptome von Krankheit und Willensschwäche ins genaue Gegenteil verkehrt: »So stark und gesund im Empfinden, wie der da drinnen; und den Willen, den starken Willen, und den Glauben an das, was er wollte, hätte er haben mögen!« (TG 4) Das Männerbild, das Paul und der Doktor auf Georg projizieren, gilt nicht dem Verlauf und dem Abschluß einer beruflichen Laufbahn und eines männlichen Lebens, sondern einem Beginn, dem vollendeten Übergang in die Unabhängigkeit und die Würde eines beruflichen Standes, dem Anfang einer männlichen Existenz: »und einen Vollbart trägt er, und stärker ist er geworden« (TG 3). Am Anfang des Romans also steht ein Männergespräch, voll Neid und Bewunderung für einen Romanhelden, der von der decadence verschont geblieben ist. Die Forschung hingegen hat diesen Anfang nie beachtet, und das, obwohl sich daran die ganze Phantasie des Helden - »So hätte er sein mögen, wie der!« - entzündet, und obwohl das viel diskutierte Roman-Thema der Ich-Krise sich zunächst als eine durchaus >realistische< Konkurrenz unter Männern - zwischen Doktor, Assistent und Professor - präsentiert. Das >unrettbare Ich< also entpuppt sich hier als eine unvollständige Männlichkeit, und in Georg erblicken die »neidischen« Männer zu Beginn des Romans nichts anderes als die ihnen vorenthaltene Vollendung der Männlichkeit, nämlich den vollzogenen »Übergang« Georgs vom »Assistenten« zum »Professor«.66 Der Tod Georgs hat genau diesen »Übergang« zu seinem Thema, denn so wie zu Beginn über Georgs Vollendung räsoniert wird, so rückt durch Georgs plötzlichen, immer nur angedeuteten Tod dieser transitorische Augenblick der Männlichkeit in den Mittelpunkt des darauffolgenden Romangeschehens: »Und an der Schwelle von Ruhm, Macht und Glück, war Georg nun gestorben« (TG 68). Georgs Tod bildet also den Anlaß für einen Roman, der die Themen von »Vergänglichkeit« und »Tod « in sein Zentrum stellt;67 die im Text beschriebene »Krise eines isolierten, >nervösen< Helden«68 aber ist in einem präzisen Sinn auf Georgs Zustand an der 65
Richard Beer-Hofmann: Der Tod Georgs. Stuttgart 1980, S. 3 (im Text fortan als TG mit Seitenzahl). 66 Was dieser Übergang mit »Männlichkeit« zu tun hat, erhellt schlagartig eine Passage aus Georg Simmels Aufsatz Zur Psychologie der Frauen (1890), der zehn Jahre zuvor - am Beispiel der Begriffe von »Braut« und »Bräutigam« - über die unterschiedlichen Geschlechtsbezeichnungen reflektiert. Während im Begriff der »Braut« bereits der Klang der Vollkommenheit Hege, die »Einheitlichkeit und Ganzheit im Wesen der Frau«, verweise der analoge Status auf der Seite des Mannes eher auf einen Mangel: »Über der Vorstellung Bräutigam schwebt ein leiser Hauch von Humor, wie über allen Verhältnissen von Männern, die einen Übergang, eine Halbheit, ein erst Werdendes bedeuten: Kandidat, Privatdozent, Aspirant usw.« (Georg Simmel: Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Frankfurt 1985, S.44f.). 67 Scherer: Beer-Hofmann (Anm.63), S.213ff., S.290ff. 68 Hank: Mortifikation und Beschwörung (Anm.61), S. 154.
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»Schwelle« zur Männlichkeit bezogen - und die Phantasien Pauls kreisen um Möglichkeiten und Wege, diese »Schwelle« selbst zu überschreiten. Der Tod Georgs enthüllt sich in dieser Perspektive als ein Roman über männliche Initiation, und bereits das erste Gespräch zwischen Paul und dem Doktor weist auf einen weithin übersehenen Aspekt, der die Ich-Krise des Textes sogleich geschlechtsspezifisch überformt. Eine zweite, unmittelbar folgende Geschichte nimmt dieses Thema auf: Paul imaginiert sich eine unberührte Natur-Landschaft, »über die das Leben noch nicht gekommen war«, ebensowenig aber auch »sein heißer Atem« (TG 8). Die anthropomorphic Wendung verwandelt Natur in das Bild einer femme fragile: »ihre verschlossenen knospenden Formen schienen den Tag zu erwarten, an dem die Liebe schwellen und öffnen würde, was jetzt noch verschüchtert schlief« (TG 6). In dieser Vision wird eine andere Form der »Schwelle« sichtbar, deren Überschreitung zum Objekt einer männlichen Phantasie wird. Sie erscheint als Metapher eines >weiblichen< nebelverhüllten Tales zwischen Bergen, das wie Georgs Tod zum Ausgangspunkt einer männlichen Initiationsgeschichte wird - vor der Verwandlung der unfruchtbaren femme fragile in ein fruchtbares >Landunrettbares Ich< - sich befindet. Der Tod Georgs entwirft damit zwei männliche Geschichten, eine von Georg vorgeführte berufliche Karriere und eine von Paul imaginierte und doch scheiternde Aneignung der Weiblichkeit. Aber der Tod unterbricht nicht nur abrupt Georgs Männlichkeits-initiation, er läßt ihn zudem noch in das Reich der Mutter zurückkehren - eine im Roman leitmotivische Wendung, die noch einmal die Geschlechter-Position des Romans unterstreicht: »Wie eine Mutter, vorsichtig von den Armen der Wärterin, ihr schlafendes Kind empfängt - so hatte ihn, der schlummernd aus den Armen des Lebens glitt, leise, unmerklich, der Tod empfangen« (TG 87). Auch der im Roman als eine weitere Traumvision geschilderte Fruchtbarkeitskult des Astarte-Mythos enthält die Bilder einer übermächtigen, todbringenden Mutter, die einerseits auf Pauls Kindheitsgeschichte zurückgehen, ande69
Vgl. dazu die einschlägigen Darstellungen bei Arianne Thomalla: Die »Femme fragile«. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende. Düsseldorf 1972; Hans Hinterhäuser: Präraffaelitische Frauengestalten in romanischer Prosa. In: Roger Bauer (Hg.): Fin desiecle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Frankfurt 1977, S. 250-282.
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rerseits aber selbst eine mythische Kindheitsgeschichte der Menschheit nacherzählen, als nämlich die Schöpfer des Tempels ihre Tempelbilder schufen: »Heilige halbvergessene Lieder, die man ihrer Kindheit gesungen, erhoben sich zitternd in ihnen, als sie jene Bilder schufen - mehr in frommem Erinnern an die Mutter als in Frömmigkeit gegen Götter [...]; und sie schufen - wie Kinder, geängstigt, mit bangen Stimmen im Dunkel singen« (TG 22). Ob in den Reflexionen über Georgs Tod, in den >mythologischen< Begleittexten des Romans oder in Pauls Überlegungen über die Kontinuität und die Konturen der eigenen Existenz: Immer wieder variiert Der Tod Georgs Figuren des Todes, des Abbruchs und der Auflösung, die den Blick des Helden und des Lesers zurücklenken zu den beiden Ausgangspunkten, dem Übergang Georgs zur Männlichkeit und der »Schwelle«, an der Paul die femme fragile nicht in die (Familien-)Geschichte der eigenen Männlichkeit - in einen >schwellenden< Mutterleib - verwandeln kann. In Zusammenhang damit steht die labyrinthische und >moderne< Struktur dieses Romans. Statt der kohärenten Linearität von Ereignissen triumphiert die Gleichzeitigkeit der vom Leser zunächst schwer zu entwirrenden Bewußtseinsfragmente und Handlungsmomente; statt der Ordnung eines erzählenden Ich dominiert das Ineinander unterschiedlichster Erzählebenen zwischen >WirklichkeitLösung< des Romans ist genau auf das zuvor durchgespielte zweifache Scheitern einer männlichen Initiation bezogen. Auf einem Spaziergang neigt sich Paul über den Wasserspiegel eines Brunnens und nimmt nun nicht mehr, wie noch kurz zuvor in einer Traumszene am See, sein eigenes »Antlitz« (TG 48) wahr, sondern »zwei Frauen« (TG 95). Das Bild der femme fragile wird noch einmal aktiviert. Es ist nun aber mit einer fürsorglichen und lebensspendenden Geste vertauscht, wenn sich die beiden Frauen - Mutter und Tochter wie in der Eingangsszene (TG 15f.) - an den Rand des Brunnens begeben, um die Fische zu füttern. Dieser Wechsel wird noch verstärkt durch die Skulptur in der Mitte des Brunnens, eine »fischgeschwänzte Frau« auf einem Delphin, die »ihren reifen, überquellenden Leib« (TG 96) zur Schau stellt. Paul erinnert sich an seinen Traum von der sterbenden Frau, an eine ähnliche »schmale Hand mit welken Fingern« (TG 97), und doch dient die plötzlich einsetzende »Erinnerung« (TG 97) nur dazu, die Veränderung der Szene mitzuteilen: Aus dem einst unfruchtbaren Territorium der femme fragile sind Metaphern des weiblichen Lebens, der Sexualität und der Fruchtbarkeit geworden. Zugleich verwandelt sich das >unrettbare Ich< des Helden in eine der Erkenntnis fähige Subjekt-Position. Die Landschaft ordnet sich der Wahrnehmung unter, »man verstand« den »Wuchs« der Bäume, auf den »Feldern« war alles »deutlicher« zu erkennen, Welt und Wahrnehmungsweisen gewinnen Kontur: »Die Fernen schwammen nicht im Dunst; in sicheren Linien schieden sie sich von den Wolken« (TG 90). Diese »Erkenntnis« des Helden weist zurück auf einen vorausgegangenen Mangel, nämlich auf die zuvor nur fragmentarische Wahrnehmungsfähigkeit
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des Helden und auf eine narrative Diskontinuität, die auf einen abgebrochenen Weg des anfangs sehnsüchtig zu Georg aufschauenden Paul verweist. Kurz zuvor hatte Paul noch gezweifelt, ob vergangene Empfindungen »wirklich ihm gehört« haben, ob es in ihm »leer« war und dadurch »nichts« vorzufinden ist, »das unvergänglich in ihm war« (TG 92) - ein Zweifel an der Kontinuität der eigenen Erfahrung, aber auch an der zu Beginn in Georg verkörperten »Kraft« eines »Willens«, mit dem das Ich gerade nicht - wie im neurasthenischen Zustand des decadence-Helden - zum Objekt der Außenwelt degradiert würde. Nun entdeckt Paul seinen eigenen Willen zur männlichen Produktivität: »Gerechte Wege ging alles; ein jedes das Gesetz erfüllend, das ihm vorgeschrieben; das in seinem Samen schlief, keimend erwachte, unerkannt sein tiefster Wille war, und erkannte die Vollendung seiner Schönheit« (TG 108). Die Vision einer lebensspendenden Weiblichkeit ist genau dort plaziert, wo sich Paul auch an einer neuen »Schwelle« zur »Erkenntnis« (TG 107) befindet, und diese Erkenntnis ist somit von der geschlechtsspezifischen Perspektive des Romans nicht abzulösen. Die Umkehrung der Weiblichkeitsfunktion - vom Tod zum Leben, von einer sterbenden femme fragile zur »lebenerfüllten reichentfalteten Nacktheit der Frau auf dem Delphin« (TG 96) - setzt den Helden erst in den Stand, sich in eine neue Kontinuität der Wahrnehmung zu begeben. Zugleich ist unter dem metaphysischen Text dieser >Rettung< die Metaphorik von Zeugung, Geburt und Fruchtbarkeit kaum zu übersehen, die in einer semantischen Doppeldeutigkeit dieser neuen »Erkenntnis« zugleich einen Triumph männlicher Zeugungs- und Schöpfungskraft inszeniert: »Keiner durfte für sich allein sein Leben leben. Er sprach; und ein Wind faßte sein Wort und trug es und senkte es in ein fremdes Leben, in dem es keimte und aufwuchs, es zersprengend vielleicht, und vielleicht ihm reiche Frucht und Segen schenkend« (TG 109). Aus der fragilen »Seele« des Helden, die anfangs ebenso »leer« war wie die der femme fragile, ist ein männlicher Schöpfer geworden, und so wie zuvor die Zirkularität und die Fragmentarisierung des Bewußtseins mit der Imago der Mutter verbunden war, so ist nun mit der spirituellen Zeugungskraft zugleich ein paternaler Text entstanden, in dem »jeder mit allem Früheren verflochten« und alles »aus Geschicken der Vorfahren vererbt« (TG 109) ist. Die Inthronisation des biblisch-jüdischen Vater-Gottes, mit dem am Ende des Romans die »Gerechtigkeit« einer Religion triumphiert und Paul in dem »Blut« der »Vorfahren« (TG 114) sich zuletzt aufgehoben fühlt, ist dem Bild der archaischen Mutter im Astarte-Kult entgegengesetzt,™ die Wegstrecke von der Mutter zum Vater verheißt »ein neues Leben« (TG 107), nämlich die Übernahme einer Position innerhalb einer Geschichte, die nun wieder Fortsetzung und Kontinuität ermöglicht. Und während Georgs Tod immer als eine Rückkehr zur Mutter umschrieben wurde und den Abbruch eines männlichen Weges anzeigte, kann nun, wo 711
Hank: Mortifikation und Beschwörung (Anm. 61), S. 165; Jacques Le Rider: Das Ende der Illusion. Die Wiener Moderne und die Krisen der Identität. Wien 1990, S. 199.
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die Vorfahren und die Nachkommen in den Blick rücken, zum ersten Mal vom Tod der Mutter die Rede sein: in Pauls euphorischer Phantasie über das Los des Menschen, »auserlesen« zu sein und die »Verheißungen und den Segen einer sterbenden Mutter an ihrem Kinde zu erfüllen« (TG 110). Das Ende des Romans, die monistische Überwindung der >Ich-Krise< und der Auftritt des jüdischen Vater-Gottes, kommt aus dieser Perspektive keineswegs unvermutet. Vielmehr ist die dem Roman von Beginn an eingeschriebene Geschichte der Männlichkeit endlich ans Ziel gekommen und hat die seither umkreiste »Schwelle« überschritten. Der »Samen« (TG 31) und das »Blut« (TG 33) des Astarte-Kultes, einst einem Todeskult geopfert, gehören nun ganz dem männlichen Helden und seinen väterlichen Ahnen. Paul, der sich zunächst selbst in einen >nervösen< Organismus zu verwandeln drohte, hat nun diesen Organismus, das »Blut« seiner »Vorfahren«, das »in ihm floß« (TG 114), in eine männliche Geschichte, in die narrative Struktur der männlichen Geschlechtsidentität verwandelt.71 Eine Initiation ist vollzogen, die Paul an die Seite der Väter versetzt und zugleich die Fin-de-siecle-Symptome - Schwäche, Krankheit, Willenlosigkeit - kuriert. Den archaischen Begriffen »Leben«, »Gesetz«, »Blut«, »Vorfahren« liegt eine geschlechtliche und am Ende fast rituell wiederholte und in biblisch-jüdische Rhetorik gekleidete Bedeutung zugrunde, die dem Helden immer mehr die Aktivität, die Verantwortung und gewissermaßen den Alleinvertretungsanspruch in dem Prozeß von Zeugung, Geburt und Fortpflanzung überschreibt. Nun vermag Paul nicht mehr diejenigen »glücklich« zu preisen, »die jung gestorben waren« (TG 110), und am Ende ist er zu dem geworden, den er in Georg sah: »So hätte er sein mögen, wie der!« Hinter der erkenntnistheoretischen >Ich-Krise< und den monistischen Angeboten der Naturwissenschaften und Naturphilosophie um 1900 taucht auch hier ein männlicher Geschlechter-Text auf: zu Beginn die Zeichen der männlichen Neurasthenie, das Versagen vor der unfruchtbaren femme fragile, der Schrekken der Mutter-Imago, der Abbruch des Erzählens - und am Ende die Tradition der Ahnen, die männliche Zeugungskraft, die narrativ geordnete Geschichte. Damit präsentiert Der Tod Georgs wie Thomas Manns Buddenbrooks einen Text, der sich hinter den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen ReferenzTheorien versteckt: einen Familienroman über männliche Initiation, eine Verlagerung der Subjekt-Thematik auf geschlechtliche Positionen und Erzählungen, die nun ihrerseits in den (natur-)wissenschaftlichen Theoremen lesbar sind.72 71
Seine sich zuvor »endlos im Kreise« (TG 107) drehende Existenz ist nun in die Linearität einer Geschichte überführt, in den »nichtreißenden Faden des großen Lebens«, in dem »ein jeder mit allem Früheren verflochten« (TG 109) ist. Die >moderne< Auflösung des Erzählens in Bewußtseinsstrom und inneren Monolog ist am Ende des Romans folgerichtig auch wieder in die >traditionelle< Form des auktorialen Erzählens zurückgeführt. Vgl. hierzu Paetzke: Erzählen in der Wiener Moderne (Anm.62), S. 88; Scherer: Beer-Hofmann (Anm.63), S.287. 72 Der Held in Beer-Hofmanns Roman etwa hat teil an einem Geschehen, das zur selben Zeit
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Wie die Buddenbrooks variiert Der Tod Georgs die Figuren und Metaphern der Auflösung und des Niedergangs, zugleich aber führt diese Geschichte des Fin de siecle durch das >Ende< hindurch und macht sie als zu leistende männliche Passage zwischen Mutter-Imago und paternaler Verheißung kenntlich. Während die Buddenbrooks Niedergang und Auflösung als Teil einer männlichen Familiengeschichte inszenieren und die ästhetische Form des Romans dagegen setzen, zeichnet Der Tod Georgs dieselbe Figur der Auflösung mit Hilfe der ästhetischen Form nach und wendet den dahinter stehenden Referenztext des >Niedergangs< am Schluß in eine neue Erzählung über Kontinuität, die der >Auflösung< wiederum eine neu errungene Männlichkeit entgegensetzt. Auf unterschiedliche Weise haben sich beide Texte dabei der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Theorien bedient, haben sie in Erzählung überführt und in unterschiedlicher Weise darauf reagiert. Zugleich aber haben sie durch die spezifische Verwendung der in den naturwissenschaftlichen Theorien enthaltenen Figuren auch ein gemeinsames zugrundeliegendes Wissen enthüllt: eine Figuration der Geschlechter, eine Imagination über Familie und eine Konstruktion von Männlichkeit, wie sie am Übergang zum 20. Jahrhundert wissenschaftliche und literarische Texte gleichermaßen produzieren. Dieses >Wissen< sucht sich neue Wege, nachdem es aus den naturwissenschaftlichen und medizinischen Wissensgebieten - durch die Psychoanalyse und in der Psychoanalyse - wieder verdrängt worden ist: Es wird Teil einer literarischen Kultur, die fortan fiktive Genealogien von Familien sowie die Auflösung und Rekonstruktion von Männlichkeit aufs neue thematisiert.
4.
Die hier gewonnenen Ergebnisse lassen sich für die Verfahrensweisen einer »Poetik der Kultur« verallgemeinern. In Frage stehen Gemeinsamkeiten rhetoWilhelm Bölsche als eine Entwicklungsgeschichte der Liebe in welthistorischen Maßstäben rekonstruiert: das Liebesleben in der Natur (1898-1902), das schon mit jener »Zeugung« und »Unsterblichkeit« beginnt, die Beer-Hofmann erst am Ende als Lösung ausgibt. Bölsche nämlich überschreibt der ganzen Naturgeschichte ein sinnvolles Geschehen, das mit der ersten »Zeugung« sofort eine gigantische paternale Erzählung entstehen läßt: »Durch sie war eine >Menschheit< überhaupt da, ein Denken über Generationen hinweg, ein Fortleben der Tradition, ein Faden des Denkinhalts« (Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe [1898-1902]. Zwei Teile. Jena 1909, Bd. I, S. 77. Kursivierung wurde getilgt). Die Parallelen sind deutlich. Bölsche präsentiert in seinem entwicklungsgeschichtlichem Panorama die »Natur« als Ort und Körper, in die sich diese paternale Geschichte einzeichnet. Der »Faden des Denkinhalts«, der sowohl in Machs Die Analyse der Empfindungen als auch in den Erzählprojekten der Moderne - bis zur »Unverständlichkeit« der »Textur« zerbrochen ist (vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916. Tübingen 1994), wird hier wieder geknüpft, in einem naturwissenschaftlichen Märchen, das einen männlichen Zeugungsakt umschreibt: »auf dem Wege vom Blut zum Geist« (Bölsche 1909, Bd. I, S. 39).
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rischer Figuren und narrativer Strukturen in literarischen Werken und (natur-) wissenschaftlichen Diskursen, deren Zirkulation jeweils wechselweise zugrundeliegende und verborgene neue Texte sichtbar macht. Im vorliegenden Fall war es die Geschlechter-Geschichte, die sich weder in den zeitgenössischen Wissenschaften noch in den literarischen Texten allein >unterbringen< läßt, die sich vielmehr genau durch diese Zirkulation des Wissens konstituiert.73 Gerade deshalb aber gewinnen hier die Austauschbeziehungen zwischen theoretischem Wissen und erzählender Literatur an Bedeutung: Hier zeigen sich nicht nur Zusammenhang und Vielfältigkeit der über formale, rhetorische und narrative Elemente verbundenen Wissensbereiche, es kommen auch diejenigen historischen Veränderungen in den Blick, die Wissensbestände verschieben, auslagern, fiktionalisieren und weiterleben lassen. Die Vision eines (natur-)wissenschaftlichen Fortschritts, der Wissensbestände auf Wahrheit prüft und per Falsifikation aussondert, enthüllt sich auch hier - wie so oft - als Fiktion.
73
So läßt sich erklären, warum - neben der Renaissance-Forschung - vor allem Arbeiten aus dem Bereich der »gender studies« und des 19. Jahrhunderts zu exemplarischen Vorzeigemodellen des »New Historicism« werden konnten (vgl. die Forschungsberichte bei Litvak: Back to the Future [Anm. 13] und Judith Lowder Newton: History as Usual? Feminism and the »New Historicism«. In: H. Aram Vesser [Hg.]: The New Historicism. New York, London 1989, S. 152-167). Prominente Beispiele sind: Jane Tompkins: Sensational Designs. The cultural Work of American Fiction, 1790-1860. Oxford 1985; Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literatue and Male Homosocial Desire. New York 1985; Catherine Gallagher: The Industrial Reformation of English Fiction: Social Discourse and Narrative Form, 18321867. Chicago 1985; Nancy Armstrong: Desire and Domestic Form. A Political History of the Novel. New York, Oxford 1987; Davidoff und Hall: Family Fortunes (Anm. 40); Mary Poovey: Uneven Developments. The Ideological Work of Gender in Mid-Victorian England. Chicago 1988; Gillian Brown: Domestic Individualism. Imagining Self in Nineteenth-Century America. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1990; Nancy Armstrong und Leonard Tennenhouse: The Imaginary Puritan. Literature, Intellectual Labor and the Origins of Personal Life. Berkeley, Los Angeles, Oxford 1992; Roddey Reid: Families in Jeopardy. Regulating the Social Body in France, 1750-1910. Stanford 1993.
Thomas Borgard
Robert Musils früher Beitrag zur Wissensgeschichte im Einflußbereich Lotzes und Fechners
Wir Deutschen haben - außer dem einen großen Versuch Nietzsches - keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst.1
1. Wissenssoziologische Ausgangspunkte: Vom »Weltbild« zur »Weltanschauung« Aussagen zum Bedeutungshorizont der um 1900 situierten Literatur werden durch das Erscheinen »weltanschaulicher« Schriften erschwert.2 Weil dieses Quellenmaterial in seiner Gesamtheit noch kaum rekonstruiert ist, kommen Fragen zum Kontext auf einem schwankenden Untergrund zu stehen. Die folgenden Bemerkungen sollen mit Blick auf Fechner und Lotze einige Ansatzpunkte liefern; beide werden in dem historischen Moment publizierend tätig, an dem sich der genannte Schrifttyp konstituiert, nämlich zum Zeitpunkt des Niedergangs der idealistischen Systemphilosophie unter dem Druck der von der Formulierung der Energiegesetze und dem Verständnis zellularer Ernährungsvorgänge geprägten Erfahrungswissenschaften.3 Ihre geistige Entwicklung, de1
Robert Musil: Anmerkung zu einer Metapsychik (Angaben s. Anm.21). Vgl. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1890-1910. Hg. v. Erich Ruprecht u. Dieter Bänsch. Stuttgart 1981, S.XVIIff. 3 Die bahnbrechenden Werke sind: Matthias Jakob Schieiden: Beiträge zur Phylogenesis. In: Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin. Hg. v. Johannes Müller. Berlin 1838, S. 137-176; Theodor Schwann: Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in der Struktur und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen. Berlin 1839; Robert Mayer: Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur. In: Annalen der Chemie und Pharmacie 42 (31. Mai 1842), S.233ff.; Hermann von Helmholtz: Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung, vorgetragen in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 23. Juli 1847. Berlin 1847. In einer Ergänzungsschrift zur 1869 erschienenen Philosophie des Unbewussten hat Eduard von Hartmann die Konsequenzen dieser Entdeckungen für seine Seelenlehre zusammengefaßt: »Das [...] Angestrebte - die Anwendung des Gesetzes der Erhaltung der Kraft auf den Motivationsprocess - wird [...] erreicht durch Beseitigung aller metaphysischen Eingriffe des Unbewussten und das Anerkenntniss, dass der Motivationsprocess in dem Process der Hirnschwingungen ohne jeden metaphysischen Rest erschöpft ist und dass in den Leistungen und Handlungen des Organismus keine Kraft zu Tage tritt, als welche entweder durch die erregenden Reize oder durch die Nahrungsmit2
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ren Beachtung eine präzisere Zuordnung der Wissens- zur Literaturgeschichte als in üblichen Epochenzuteilungen ermöglicht, wirft ihr Licht in doppelter Hinsicht auf die Jahrhundertwende voraus: So kann sich die monistische Traktatistik um 1900 auf die im 19. Jahrhundert entwickelte Praxis berufen, das empirisch gewonnene Wissen in eine umfassende Weltdeutung einzubeziehen, wobei popularisierende Effekte die soziale Relevanz dieses Wissens bewahren sollen; andererseits vermag die akademische Philosophie Überlegungen zu einer ausschließlichen Beschäftigung der Metaphysik mit methodologischen Fragen beizusteuern. Eine besondere Bedeutung erhalten die zu Leitwissenschaften aufsteigenden, unterschiedlich akzentuierten Psychologien: sie vermögen die schon allein aus handwerklichen Gründen für den Schriftsteller unentbehrlichen Kenntnisse über das emotionale Erleben und Handeln des Menschen entscheidend zu vertiefen. Mit den Zentenarfeiern zu Fechners Geburtstag (1901) erreicht dessen Rezeption in den Zirkeln des Friedrichshagener Dichterkreises, bei Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, einen Höhepunkt.4 Zur Analyse der Funktion Fechners ist auf die Differenzierungsprozesse zu rekurrieren, deren Abbau gesellschaftlich monopolisierter Ordnungs(an)gebote zugunsten einer Atomisierung der Wissensbestände und dem anschließenden Bedürfnis nach einer Zusammenschau der disjecta membra verläuft. Fechner, so Bölsche, sei der begeisterte Apostel einer allgemeinen Weltanschauung [...], die im klarsten NovalisSinne ausgesprochene Harmonie, konsequentester monistischer Optimismus war. Kein Gedanke bei ihm, daß die exakten Resultate der Naturforschung je die Köpfe und die Herzen der Menschen wirklich bedrücken und belasten könnten. Auf der eisernsten Kausalität, dem unerschütterlichsten Walten der Naturgesetze gerade sollte sich eine philosophische Gesamtanschauung der Dinge aufbauen lassen, die die Welt, die allgemeine Naturentwicklung, die Menschheit und den Einzelmenschen mit einer wahren Orgie von Licht, Hoffnung, Zukunftsaussichten der idealsten Art überschüttete.5
Gedacht wird an die naturphilosophischen Schriften Fechners, die zum Teil in mehreren Auflagen bzw. gekürzten Abdrucken vorlagen und bereits im Titel die Marschrichtung induktiv-analogen Denkens vorgaben: Das Büchlein vom Letel in denselben eingeführt ist, wobei erstere als Auslösungsmittel der durch den Assimilationsprocess aufgespeicherten chemischen Spannkraft dienen.« Eduard von Hartmann: Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiologie und Deszendenztheorie [1872]. 2. verm. Aufl. Berlin 1877, S. 103. 4 Vgl. Wilhelm Bölsche: Fechner. In: Hinter der Weltstadt. Friedrichshagener Gedanken zur ästhetischen Kultur [1901]. Jena/Leipzig 1912, S. 259-347; Bruno Wille: Materie nie ohne Geist. Berlin/Bern 1901; - Das lebendige All. Idealistische Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Grundlage im Sinne Fechners. Hamburg/Leipzig 1905; - Offenbarungen des Wacholderbaums. Roman eines Allsehers. 2 Bde. Jena 1901. Wille bekennt sich im Anschluß an Haeckels Berichte über »Zellenseelen« zu einem »Kultus der Materie«, den er im Sinne Fechners »analogisch« auf seine Theorie der »Kulturzellen« ausdehnt (Wille: Materie nie ohne Geist, S.26ff.). Zur Bewegung insgesamt vgl. Gertrude Cepl-Kauffmann u. Rolf Kauffeldt: Berlin-Friedrichshagen: Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis. München 1994. 5 Bölsche: Fechner (Anm.4), S. 263.
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ben nach dem Tode (1836), Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen (1848), Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung (1851), Ueber die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden (1861), Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwickelungsgeschichte der Organismen (1873), Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht (1879). Der Einfluß des naturwissenschaftlich außerordentlich beschlagenen Fechner6 auf die genannten Kreise ist vor dem Hintergrund des Kampfes der unterschiedlichen weltanschaulichen Parteien gegen die kirchliche Orthodoxie zu sehen7 und des gleichzeitigen Wunsches, inakzeptable Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu vermeiden. Gerade in bürgerlichen Kreisen sollte der Eindruck der »Sinnlosigkeit« vermieden werden, als ob »sich zufällig, in der Unzählbarkeit der Zufälle, auch einmal eine Anzahl glatt harmonisch verlaufender Wellen« bilden würde.8 Durch die Aufgabe transzendenzmetaphysischer Optionen9 und dem nach wie vor bestehenden Verlangen nach Beständigkeit und Unveränderlichkeit 10 wurde das Problem der Kontingenz zur zentralen Herausforderung, welche der monistische Optimismus, methodisch betrachtet, auf ziemlich naive Weise überwindet und deshalb, wie zu zeigen ist, von Musil kritisiert werden konnte. Die alltagssprachlich wie in der Wissenschaftssprache verwendeten Begriffe werden als irrtumsfrei behandelt, und zwar in dem Sinne, als die Möglichkeit eines lediglich hypothetischen Charakters der angenommenen Basissätze ausgeschlossen wird. Dies zeigt der häufige Rekurs auf unmittelbare Wahrnehmungsevidenzen und der unbedingte Glaube an die Darstellungsfunktion der Sprache aufgrund der angenommenen zeitlichen Sprachkontinuität. 11 Die intersubjektive Gültigkeit wird dabei durch die Verwendung ästhetisch bestimmter Strukturen und eine entsprechende Semantik unterstrichen, womit die Differenz zwischen gestaltungsschöpferischen und erkennend nachvollziehenden Prozessen eingeebnet wird.12 6
Vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt/M. 1984 (Registerangaben zu Fechner); Michael Heidelberger: Die innere Seite der Natur. Gustav Theodor Fechners wissenschaftlich-philosophische Weltauffassung. Frankfurt/M. 1993. 7 Vgl. Wilhelm Bölsche: Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungsgeschichte der Liebe. Zwei Teile in 3 Bdn. [1898-1903]. Stark verm. u. umgearb. Ausg. Jena 1924. Bd.2.2., S.600: »Wir sind uns einig, nicht wahr, daß niemals in der Weltgeschichte eine >Moral< von einem übernatürlichen Himmel heruntergeregnet ist.« "Ebd., S. 698. 9 Zur wichtigen Unterscheidung zwischen Transzendenz- und Immanenzmetaphysik vgl. Wolfgang Stegmüller: Metaphysik, Wissenschaft und Skepsis. Frankfurt/M./Wien 1954, S. 151-155. 10 Vgl. Gerhard Gamm: Die Macht der Metapher. Im Labyrinth der modernen Welt. Stuttgart 1992,8.36. " Daß sich »vorrationale« Entschlüsse allerdings nie gänzlich ausschalten lassen, betont Stegmüller: Metaphysik, Wissenschaft und Skepsis (Anm.9), S.270f. 12 Übermittlerin der Weltanschauung ist die Dichtung, wie Wille Fechner in seinen Offenbarungen des Wacholderbaums gegenüber einem fiktiven Gesprächspartner, einem Vertreter des Rationalismus, bekennen läßt: >»Ihre Phantasie, Herr Professor, ist bestechende >Phan-
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Bezüglich der Rolle der Kunst ist nun eine weitere, wissenssoziologische, Auskunft erforderlich: Von der Konzentration auf ein kirchlich bestimmtes Modell der Weltinterpretation enthoben, vermögen die Künstler der Jahrhundertwende in Konkurrenz zu religiösen Gemeinschaftsbildungen zu treten, wobei sie in sezessionistischen Gruppen und Bünden13 eigene Konzepte zur Transzendenzversicherung entwickeln.14 Ein para-religiöses Kunstbewußtsein15 betasie?< Fechner lächelte bitter. >Sie meinen das offenbar geringschätzig - wie man die wundervolle Gabe, analogisch zu schließen und neue Zusammenhänge zu entdecken, leider in Gelehrtenstreiten zu behandeln pflegt. Phantasie ist fruchtbare Forschung, eine Art Experiment, ein Gedankenexperiment. Jede Weltanschauung ist Phantasie, ist eine philosophische Dichtung.Wahren, Guten und Schönem, welcher der Kern unserer neuen monistischen Religion bildet, finden wir reichen Ersatz für die verlorenen anthropistischen Ideale von >Gott, Freiheit und Unsterblichkeit^ [...] Bei völlig folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchsten Principien auf das Gesamtgebiet des Kosmos - der organischen und anorganischen Natur -, nähern sich die Gegensätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konsequentes Denken bleibt eine seltene Natur-Erscheinung! Die große Mehrzahl aller Philosophen möchte mit der rechten Hand das reine, auf Erfahrung begründete Wissen ergreifen, kann aber gleichzeitig nicht den mystischen, auf Offenbarung gestützten Glauben entbehren, den sie mit der linken Hand festhält. Charakteristisch für diesen widerspruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt zwischen der reinen und der praktischen Vernunft in der kritischen Philosophie des höchstgestellten neueren Denkers, des großen Immanuel Kant. Dagegen ist immer die Zahl derjenigen Denker klein gewesen, welche diesen Dualismus tapfer überwanden und sich dem reinen Monismus zuwendeten. [...] Die Verschmelzung der anscheinenden Gegensätze, und damit der Fortschritt zur Lösung des fundamenta-
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genzproblematik und das verschleiernde Auftreten des Monismus werden sowohl von Troeltsch als auch von Musil zu einer Abrechnung mit jenen Autoren genutzt, die bereit sind, eine »zweite Art Erkenntnis« zu postulieren, »die, gegen die wissenschaftliche gerichtet, bestehen könnte.«25
2. Das psychologische Paradigma Üblicherweise rekurriert die Literaturgeschichtsschreibung der Jahrhundertwende auf Aspekte der Nietzsche- und Schopenhauer-Rezeption, klammert aber die vorfreudsche Bewußtseinstheorie weitgehend aus, obwohl Maria Dorer bereits 1932 auf ihre Bedeutung hingewiesen hat.26 Es ist an Robert Musil zu zeigen, - und die Exzerpte und Tagebucheintragungen bestätigen diese Disposition -, daß er in der literarischen Gestalt seiner Prosaschrift Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) mit dem Anspruch auftritt, Aussagen über den Menschen zu produzieren, für die das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Humanwissenschaft grundlegend ist. Musil wurde im Jahr 1908, zwei Jahre nach Erscheinen seines Erstlings, bei Carl Stumpf - einem Schüler Lotzes - über Ernst Mach27 promoviert,28 also einen Autor, dessen Wissenschaftsphilosophie len Welträtsels, wird uns aber durch das stetig zunehmende Wachstum der Naturerkenntnis mit jedem Jahre näher gelegt. So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung hingeben, daß das zwanzigste Jahrhundert immer mehr jene Gegensätze ausgleichen und durch Ausbildung des reinen Monismus die ersehnte Einheit der Weltanschauung in weiten Kreisen verbreiten wird. Unser größter Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, hat dieser Einheitsphilosophie schon im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts den vollendetsten poetischen Ausdruck gegeben in seinen unsterblichen Dichtungen: Faust, Prometheus, Gott und Welt\ [...]« Ernst Haeckel: Die Welträtsel: Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie [1899]. Stuttgart 1984 (Nachdruck d. 11. verb. Aufl. Leipzig 1919), S.479-481. 25 Musil: Das Geistliche, der Modernismus und die Metaphysik. GW 8, S. 989. - Mit seinem Begriff des »religiösen Apriori« kommt Troeltsch freilich einer dezisionistischen Lösung nahe. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf u. Hartmut Ruddies: Ernst Troeltsch: Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht. In: Grundprobleme der großen Philosophen. Hg. v. Josef Speck. Philosophie der Neuzeit IV. Göttingen 1986, S. 128-164. 26 M[aria] Dorer: Historische Grundlagen der Psychoanalyse. Leipzig 1932. Vgl. auch Kurd Lasswitz: Gustav Theodor Fechner. Stuttgart 1896; Max Dessoir: Geschichte der neueren deutschen Psychologie. 2., völlig umgearb. Aufl. Erster [einziger] Band. Berlin 1902; Stanley Hall: Die Begründer der Modernen Psychologie: Lotze, Fechner, Helmholtz, Wundt. Übers, u. m. Anm. vers. v. Raymund Schmidt, eingef. v. Max Brahn. Leipzig 1914; Max Wentscher: Fechner und Lotze. München 1925; Georg Weiss: Herbart und seine Schule. München 1928. 27 Musils Erstlektüre Machs, vor allem der Populärwissenschaftlichen Vorlesungen (1896), ist bereits früher anzusetzen. Vgl. Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frise. 2., neu durchges. u. ergänzte Aufl. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 20 (»Tagebücher Heft 4: 18997-1904 oder später«). 28 Musils Dissertation wurde 1980 zusammen mit Arbeiten, die er als Ingenieur und »Fachbeirat im Bundesministerium für Heerwesen« anfertigte, als Reprint erneut abgedruckt: Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek bei Hamburg 1980. Wie aus dem beigegebenen Vorwort von Adolf Frise hervorgeht, war sich Musil noch in späteren Jahren nicht sicher, ob er die wissenschaftliche
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in der ästhetischen Debatte der Jahrhundertwende eine prominente Rolle spielt,29 dem Stumpf selbst jedoch durchaus kritisch gegenüberstand.30 Wie läßt sich der literarische Text zuordnen? Zunächst geht es Musil darum, das psychologische Paradigma zu erfassen, wie es sich im Konzept eines Denkens aus »Reiz« und »Bewegung« darstellt. Die vielgestaltigen psychologischen Prozesse resultieren dabei aus Verbindungen des Körperbewußtseins und der unwillkürlichen Vorgänge mit den bewußt gewordenen psychischen Aktivitäten (Erinnerungen). Fechners »Psychophysik« lieferte Mach das Vorbild,31 bezog sich aber ihrerseits auf den vor allem in Österreich verbreiteten Herbart.32 Man vergleiche Musils Schilderung der Bozena-Episode, vor allem Törleß' unwillkürliche erotische Assoziationsverkettung mit dem Eindruck seiner Mutter: alle diese Fragen [...] waren nur Ausflüchte, Umschreibungen der Tatsache, daß vorbewußt, plötzlich, instinktiv ein seelischer Zusammenhang gegeben war [...]. Törleß sättigte sich mit den Augen an Bozena und konnte dabei seiner Mutter nicht vergessen; durch ihn hindurch verkettete die beiden ein Zusammenhang: Alles andere war nur ein sich Winden unter dieser Ideenverschlingung. Diese war die einzige Tatsache. Aber durch die Vergeblichkeit, ihren Zwang abzuschütteln, gewann sie eine fürchterliche, unklare Bedeutung [...]. Törleß sah im Zimmer umher, um dies loszuwerden. Aber alles hatte nun schon diese eine Beziehung angenommen.33
Der Vernunftautonomie widerspricht der Zwang, mit dem Törleß von dem Wahrgenommenen ergriffen wird. Die sinnlichen Eindrücke erzeugen, indem sie Verbindungen mit dem Unterbewußtsein eingehen, in Törleß zunächst eine Karriere dem Dichterberuf nicht besser hätte vorziehen sollen, zumal damals ein (von ihm abgelehntes) Angebot Alexius Meinongs vorlag, sich bei ihm zu habilitieren. 29
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Vgl. Manfred Diersch: Empiriokritizismus und Impressionismus. Über Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien. Berlin (Ost) 1973.
Über die Beziehung Musil-Stumpf vgl. Margret Kaiser-El-Safti: Robert Musil und die Psychologie seiner Zeit. In: Robert Musil. Dichter, Essayist, Wissenschaftler. Hg. v. Hans-Georg Pott. München 1993, S. 126-170, bes. S. 147-157. 31 Vgl. Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik. 2 Bde. Leipzig 1860 sowie, bedeutsam vorbereitend, - Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits. Vom Standpunkt der Naturbetrachtung. 3 Bde. Leipzig 1851. Bd. 2, S. 373-386 (»Kurze Darlegung eines neuen Princips mathematischer Psychologie«). Aus Bewunderung für Fechner hatte Mach die Absicht, die Analyse der Empfindungen Fechner zu widmen, was dieser jedoch von sich wies. Vgl. das Vorwort von Gereon Wolters zu Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen [1886]. Hg. v. Gereon Wolters. Darmstadt 1985 (Nachdruck d. 9. Aufl. Jena 1922) sowie Gereon Wolters: Verschmähte Liebe. Mach, Fechner und die Psychophysik. In: G. T. Fechner und die Psychologie. Internationales Gustav-Theodor-Fechner-Symposion Passau 1987. Hg. v. Josef Brozek u. Horst Gundlach. Passau 1988, S. 103-116. 32 Die Lehren Herbarts konnten sich aufgrund schulisch-institutioneller Voraussetzungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts systematisch auf dem Territorium der Donaumonarchie ausbreiten. Vgl. Roger Bauer: Der Idealismus und seine Gegner in Österreich. Heidelberg 1966; William M. Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938. Wien/Köln/Graz 1974, S.285ff.; Georg Jäger: Die Herbartianische Ästhetik - ein österreichischer Weg in die Moderne. In: Die österreichische Literatur. Ihr Profil im 19. Jahrhundert (1830-1880). Hg. v. Herbert Zeman. Graz 1982, S. 195-219. 33 Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. GW 6, S. 7-140, Zitat S. 33.
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»unklare, gefühlsmäßige Einsicht«,34 die sich erst allmählich zu größerer Klarheit erhebt. Das Vokabular, das Musil für die Vorstellungsaktivität im Bild des »hell« und »dunkel« Werdens verwendet, ist dem Herbartianismus verpflichtet, und zwar der Anschauung vom Aufsteigen und Niedersinken der Vorstellungen unter die »Schwelle« des Bewußtseins und dem »psychologischen Gesetz der Verschmelzung und Complication«.35 Man vergleiche die folgende Stelle aus einem herbartianischen Schulbuch des Jahres 1868: Dem Leidenschaftlichen kehrt die Vorstellung, an der seine Leidenschaft haftet, unaufhörlich zurück, drängt sich wider seinen Willen in all' sein übriges Thun und Denken ein, um es zu stören. Daher die Klage der von einer heftigen Leidenschaft Ergriffenen, daß sie sich in allem Geschäft gehindert sehen, und unfähig sind, etwas mit Besonnenheit zu betreiben [...]. Denkt man sich nämlich jede Vorstellung in einem gewissen Streben zur Thätigkeit, gleichsam in einer Bewegungsspannung, so wird stets diejenige am leichtesten erweckt werden, welche sich in der größten Spannung befand, oder deren Streben mit der Richtung des neuen Stoßes (oder Reizes) zusammenfällt. Wer vorherrschend von einer Vorstellung erfüllt ist, dem wird diese durch jeden neuen Anstoß wieder lebendiger erregt. Diese vorherrschenden Vorstellungen nämlich sind für die Reproduction stark durch ihre Verbindungen. Die gewöhnlichsten Umgebungsvorstellungen können sogleich zu ihnen leiten, und sie drängen herzu. Wäre die Vorstellung der Leidenschaft nicht in so vielfache Verbindung gebracht, und dadurch zu einer solchen Stärke gelangt, sie würde viel eher zu bändigen sein.36 34
Ebd., S. 12. Vgl. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Metaphysik, nebst den Anfängen der philosophischen Naturlehre. Zweiter, systematischer Theil [1829]. In: Sämtliche Werkein chronologischer Reihenfolge. Hg. v. Karl Kehrbach u. Otto Flügel. 19 Bde. Langensalza 1887-1912 (Nachdruck Aalen 1989). Bd. 8., S. 55. 36 Mathias Amos Drbal: Empirische Psychologie. Ein Lehrbuch zum Unterrichte für Gymnasien und Pädagogien, sowie zur Selbstbelehrung. Wien 1868, S. 107f. Große Verbreitung fanden die Lehrbücher von Gustav Adolf Lindner: Lehrbuch der empirischen Psychologie nach genetischer Methode. Graz 1858; - Einleitung in das Studium der Philosophie mit Rücksicht auf das Bedürfnis der Gymnasien entworfen. Wien 1866. - Herbart kritisierte entschieden die Lehre von den »Seelenvermögen«, auf die sich Kants Kategorientafel bezogen hatte. Sie ist für ihn das Ergebnis eines Verfahrens, das a) den abgeleiteten Charakter des Denkens aus sinnlichen Dispositionen verkennt und b) von ontologischen Vorannahmen über substantiell wirkende Kräfte ausgeht. Das gravierendste Problem des Idealismus, das Problem des Selbstbewußtseins, welches Herbarts Lehrer Fichte so radikal gelöst hatte, ist Ausgangspunkt der Überlegungen zu einer wissenschaftlichen Neugründung der Psychologie: »Zuerst [...] findet der Mensch Sich [sie!] (aber noch nicht als Ich) in äußerer Wahrnehmung, nebst den Gefühlen von körperlicher Lust und Unlust. Er sieht seine Hände, er betastet seinen Leib, er sieht selbst dieser Betastung zu, und fühlt sie zugleich in den betastenden und betasteten Gliedern. Weiterhin kommt die Beylegung von Bildern äußerer Dinge, die Voraussetzung des Subjects vor den Objecten; die Bestimmung des Subjects als Trieb, sowohl zum Thun als zur Hingebung; sammt der innern Wahrnehmung. Noch später wird der Besitz und das Wechseln der Bilder, sammt dem was daran hängt, für das Vornehmste und Wesentlichste erkannt; der Mensch schreibt sich eine Seele [...] zu, und achtet dieses für vorzüglicher als den Leib. Auf dieser Stufe wird die innere Wahrnehmung für die Erkenntnißquelle des wahren Selbst gesehen [...]. Nun aber kommt die philosophische Reflexion; diese macht wiederum der innern Wahrnehmung die ächte Selbsterkenntniß streitig; sie will nicht von dem Zeitwesen, dem Individuum, sondern von dessen beharrlicher Grundlage unterrichtet seyn. Jetzt entdeckt es sich allmählig, daß die Wahrnehmung [...] der Substanz der Seele [...] mangele; und daß eine solche Substanz müsse hinzugedacht seyn [...]. Dennoch aber bleibt das Ich, die eigentliche, immer gleiche Identität des Vorstellenden und Vorgestellten. 35
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Musils Beitrag zur Vorstellungsmechanik und zur unauflösbaren Struktur des Unterbewußten schließt hier an; aufgrund der fragmentierten Psyche findet die Wiedererneuerung früherer Zustände keinen sicheren Einstieg, so daß die Erzählung letztlich an jedem beliebigen Punkt ansetzen kann: Er [d.i. Törleß] hatte die Erinnerung an einen fürchterlichen Sturm in seinem Inneren, zu dessen Erklärung die Gründe, die er jetzt noch in sich dafür vorfand, beiweitem [sie!] nicht ausreichten. »Also mußte es wohl etwas viel Notwendigeres und Tieferliegendes gewesen sein,« schloß er, »als was sich mit Vernunft und Begriffen beurteilen läßt...« Und das, was vor der Leidenschaft dagewesen war, was von ihr nur überwuchert worden war, das Eigentliche, das Problem, saß fest. Diese wechselnde, seelische Perspektive je nach Ferne und Nähe, die er erlebt hatte. Dieser unfaßbare Zusammenhang, der den Ereignissen und Dingen je nach unserem Standpunkte plötzliche Werte gibt, die einander ganz unvergleichlich und fremd sind ...37
Zur Rekonstruktion aus den Empfindungen und Zuständen des Unterbewußten tritt die Frage nach den kognitiven Inhalten hinzu, allerdings ohne irgendeine Objektivität zu antizipieren, welche das Bewußtsein transzendieren würde. Dies wird von Törleß' Religionslehrer indirekt bestätigt, dessen Rede von der »Seele« Basinis nicht zu deuten ist, wie es der Theologe will, sondern lediglich einen kognitiven und emotionalen, nur im Selbstbezug erfahrbaren, Komplex bezeichnet - ohne jedes ontologische Fundament. Gleiches gilt für den Bereich gesellschaftlicher Normen, dem der Internatsdirektor samt Klassenvorstand, Religionslehrer und Mathematikprofessor angehören. Ihre Moralvorstellungen sind Ausdruck sprachlich sanktionierter Herrschaftsinstanzen: Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden. Als etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und als etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte.38
Das Thema des konventionellen Sprechens rückt Musils Text in die Nähe von Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprächet Da der Mensch über keinen privilegierten Standpunkt außerhalb der Erfahrung verfügt, kann er sich nicht durch Vernunftkritik, aber auch nicht durch Glaubensbekenntnisse, über die Wirklichkeit aufklären, sondern ist darauf angewiesen, das Erfahrene sukzessiDieses Ich erscheint als ein Gegebenes, [...] selbst nach Absonderung des Individuellen, was die innere Wahrnehmung darbot. Dafür wird eine eigne Art der Erkenntniß erfunden; ein reines, intellectuelles Vermögen, (wie bey KANT und FICHTE [...]).« Herbart überlegt sogar, den Begriff des »Ich« zu verwerfen, weil das psychologische Denken hier keinen festen Punkt finden kann; stattdessen wird es auf das »Object einer Vorstellungsreihe« verwiesen, die nicht immer bewußt ist. Vgl. Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft. Neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik. Zweiter analytischer Theil [1825]. Werke Bd. 6, S. 186 u. S. 190 sowie - zur Deutung von Leibniz' »kleinen Vorstellungen« - dass. Erster synthetischer Theil [1824]. Werke Bd.5, S.216-219. 37 Musil: Törleß. GW 6,139. 38 Ebd., S. 64. 39 Vgl. Andreas Berlage: Empfindung, Ich und Sprache um 1900. Ernst Mach, Hermann Bahr und Fritz Mauthner im Zusammenhang. Frankfurt/M. [u.a.] 1994.
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ve zu einem kohärenten »Bild« zu ordnen, welches ihm innerweltlich zur Orientierung dient, außerweltlich aber bedeutungslos bleibt.40 Mauthner verbindet diese Einsicht mit einer evolutionären Theorie des Wissens im Verständnis der »Zufallssinne«: Die fünf Sinne des Menschen sind das Ergebnis biologischer Anpassung an spezielle Umweltbedingungen, die das Überleben der Gattung sichert sowie die zeichenhaften Formen der Kultur bestimmt. So ist die Adäquanz von Sinneseindruck und seiner jeweiligen Interpretation Ausdruck dieser Genese und gleichzeitig der Selbstprojektion des Menschen. Da alle Organe evolutionsbiologisch »geworden« sind, kann auch die ausgebildete Sprache keinen Zugang zur Wirklichkeit (im streng physikalischen Sinne) oder zu einer überzeitlichen Wahrheit finden.41 Während Mauthner die Wertfrage reduziert auf die gegebenen »Interessen der Organismen«,42 führen die von Fechner ausgehenden Weltanschauungslehren ihre Argumentation über die Aussage >Seelen sind Substanzendie Substanzen sind Seelentiefer Psychologe< sein, um 1920 gilt Psychologie als Beschimpfung«,102 ist ihm Rahmen der frühen Textzeugnisse zu lesen; sie weist auf die freilich auch von spekulativen >Rückfällen< begleitete Ausbildung einer neuen geistigen Axiomatik hin, die hier erneut im Rückblick auf die Verhältnisse im 19. Jahrhundert zu erläutern ist.
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Lotze: Logik (1874), S.592f. (Kursivierungen; T.B.). In Frage kommt hier erneut der vermittelnde Einfluß Stumpfs. Vgl. Margret Kaiser-El-Safti: Carl Stumpfs Lehre vom Ganzen und den Teilen. In: Axiomathes quarderni del centro studi per la filosofia mitteleuropea 5 (1994), S. 87-122. 99 Vgl. etwa Musil: Törleß. GW 6, 64f. 100 Ebd., S. 136f. Mit den Werken des Gestaltpsychologen Kurt Lewin, einem Schüler Ernst Cassirers, hat sich Musil später (gegen Ende der 1920er Jahre) auseinandergesetzt. Vgl. Musil: Tagebücher (Kommentarband, Registerangaben). 101 Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (Anm.28), S. 109. 102 Robert Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind [1921]. GW 8, S. 1042-1059, Zitat S. 1052. 98
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5. Die Ablehnung des naturwissenschaftlichen Einheitsbildes und der Anspruch auf >Verwissenschaftlichung< der Literatur Max Scheler, den Musil noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kennengelernt hat,103 erklärt in seiner bei Rudolf Eucken eingereichten Habilitationsschrift das »geistige Leben« in einer doppelten Polemik gegen die »transzendentale und die psychologische Methode« zu einer »Wirklichkeit, die in ihrer Form des Seins zugleich über sich selbst hinausdeutet«.104 Daran schließt sich die Diskussion an, wie Werte wieder in die (metaphysische) Erarbeitung der Seinskategorien eingebracht werden können, und zwar im Umfeld eines schon in Musils Dissertation beleuchteten Arguments. Es handelt sich um die Frage, ob der Empiriokritizismus die »Naturnotwendigkeit« geleugnet habe. Scheler bezieht sich dabei auf das Prinzip der Denkökonomie; im Unterschied zu Musils vorsichtigeren Stellungnahmen geht es Scheler um eine Begründung der Wesenserkenntnis als Werterkenntnis:105 Metaphysik wird ihm zum »Wagnis der Vernunft [...], das in seiner Unbedingtheit keines anderen Wirklichen zu seiner Existenz bedarf und von der psychophysischen Organisation des Menschen nicht bedingt wird.«106 Der neuzeitlich »antimetaphysisch verstandene Primat der Anthropologie« wird damit umgruppiert zur Begründung einer neuen Verbindung von Metaphysik und Menschenbild.107 Ihre Wirkung ist indes durch wissenssoziologische Einsichten begrenzt, an denen Scheler partizipiert; sie betonen die Arbitrarität des menschlichen Handelns und lassen normative geschichtsphilosophi1(13
Vgl. Musil: Tagebücher (Anm. 27), Heft 24:1904/05, S. 127 und Heft 7:30. März 1913-11. Januar 1914, S.267. 104 Max Scheler: Die transzendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik [1900]. In: Gesammelte Werke Bd. 1. Frühe Schriften. Mit einem Anh. hg. v. Maria Scheler u. Manfred S. Frings. Bern/München 1971, S. 197-335, hier S. 321. 105 Zunächst Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (Anm.28), S.121f.: »[...] wir konnten wohl die Leugnung der Notwendigkeit mit der Tatsache in Zusammenhang bringen, daß die Naturgesetze in einer idealisierenden Weise begrifflich gefaßt werden, der Nachweis aber, daß wegen dieses Umstandes hinter den Gesetzen keine Notwendigkeit stehen könne, wurde uns nicht gegeben. Und ebensowenig jener zweite, gleich dringend erforderliche, daß man auch dann noch zu einer erkenntnistheoretischen Haltung gelangen könnte, die mit den Ergebnissen und Forderungen der exakten Forschung im Einklang bleibt, wenn man wirklich (was im Gegebenen ja nicht der Fall ist) die Leugnung der Naturnotwendigkeit in allen ihren Konsequenzen durchführen würde.« Vgl. jetzt die Ausführung bei Max Scheler: Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt [1926], In: Werke Bd. 8. Die Wissensformen und die Gesellschaft. 2., durchges. Aufl. mit Zusätzen hg. v. Maria Scheler. Bern/München 1960, S. 191-382, hier S.254: »Weder bei Mach und Avenarius noch bei Bergson [...] läßt sich begreifen, wie denn ohne Voraussetzung ontischer und realer Konstanten im Naturgegebenen selbst es überhaupt möglich sei, die Welt nach dem Ökonomieprinzip zu denken.« Über Machs Prinzip vgl. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, S.40f. sowie - Die Principien der Wärmelehre Historisch-kritisch entwikkelt [1896]. 4. Aufl. Leipzig 1923, S. 391-395. 106 Scheler: Erkenntnis und Arbeit (Anm. 105), S. 219. 107 Vgl. Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, S.382ff.
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sehe Systematisierungen problematisch erscheinen. Die sozialgeschichtliche Lage bestimmt die jeweiligen Konjekturen, auch wenn diese in abstraktem Gewand auftreten: Die unabhängig Variable, die beide Formenreihen von Wissen und Arbeitstechnik bestimmt, ist [...] die je vorhandene Triebstruktur der Führer der Gesellschaft [...]- in engster Einheit mit dem, was ich »Ethos« nenne, d.h. den je herrschenden und geltenden Regeln des geistigen Wertvorziehens; sagen wir der Einfachheit halber kurz: mit den leitenden Werten und Ideen, auf welche die Führer der Gruppen und in ihnen und durch sie hindurch die Gruppen selbst gemeinsam hingerichtet sind.108
Abgesehen von dem dort nicht verwendeten, problembeladenen Vokabular, ergeben sich im Törleß ähnliche Konsequenzen. Die Gestaltung der von der Schulleitung angeordneten Untersuchung mit Verhör in der Schlußszene zeigt Musterbeispiele dynamischen Sozialverhaltens unter dem Gesichtspunkt der Gruppenzugehörigkeit: Sie wälzten alle Schuld auf Basini, und die ganze Klasse bezeugte es Mann für Mann, daß Basini ein diebischer, nichtswürdiger Kerl sei [...]. Kurz, es war eine wohlverabredete Komödie, von Reiting glänzend inszeniert, und alle ethischen Töne wurden zur Entschuldigung angeschlagen, welche in den Ohren der Erzieher Wert haben.109
Die Konfrontation mit der allgegenwärtigen Entfaltung von Herrschaft in konkreten sozialen Situationen verstärkt den Eindruck einer objektiven Bedeutungslosigkeit der Dinge und stellt sowohl den Symbolismus als auch die kommunikative Funktion der Sprache in Frage: dies erzeugt die »Einsamkeit«, welche Törleß beklagt.110 Aber es ergibt sich für die Schriftsteller um 1900 im Moment der Nivellierung der Gegenstände die Aussicht auf eine prophetische Technik.111 Bei Musil ist die im Spannungsverhältnis zwischen Mathematik und Religion hervortretende Stummheit der Objekte Anlaß für die Darstellung einer doppelten Realität: Langsam und vorsichtig wandte er den Kopf und sah umher, ob sich denn wirklich alles verändert habe. Da streifte sein Blick von ungefähr die graue, fensterlose Mauer, die hinter seinem Haupte stand. Sie schien sich über ihn gebeugt zu haben und ihn schweigend anzusehen. Von Zeit zu Zeit kam ein Rieseln herunter, und ein unheimliches Leben erwachte in der Wand. [...] Törleß hörte das Schlagen seines Herzens. Dann kam wieder ein leises, flüsterndes, versickerndes Rieseln ... Und diese Geräusche waren das einzig Lebendige in einer zeitlosen schweigenden Welt... 108
Max Scheler: Probleme einer Soziologie des Wissens [1924]. Werke Bd. 8, S. 15-190, Zitat S. 93. Vgl. auch Max Weber: Wissenschaft als Beruf [1919]. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 582-613, hier S. 603: »Die Unmöglichkeit wissenschaftlichen Vertretung von praktischen Stellungnahmen - außer im Falle der Erörterung der Mittel für einen als fest gegeben vorausgesetzten Zweck - ist prinzipiell deshalb sinnlos, weil die verschiedenen Wertordnungen der Welt in unlöslichem Kampf untereinander stehen.« 109 Musil: Törleß. GW 6,132f. 110 Vgl. ebd., S.24f. 111 Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief [1902]; zit. nach Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hg. v. Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 148: »Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden.« 112 Musil: Törleß. GW 6, 66.
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Diese Position, Törleß' scheinbarer Sprachverlust, bedeutet eine Absage an das naturwissenschaftliche Einheitsbild des 19. Jahrhunderts. Dieses war, wie gesagt, seit den Innovationen von Schieiden und Schwann113 vom Verhältnis Ganzes/Teile ausgegangen. Der später Bedeutung erlangende Gedanke von der Übersummativität des Ganzen ließ seine Anpassung an eine synthetische Denkfigur erkennen: das Ganze ist unfähig, ohne seine Teile zu existieren, welche seine Realität begründen;114 gleichzeitig soll es aber etwas mehr sein als die bloße Summe dieser Teile, d.h. etwas, welches diese Teile in seiner beständigen Wirkung durchdringt. Der theologische Dualismus soll auf gar keinen Fall erneuert werden, vielmehr die Verbindung von Gott und Welt herausgestellt und ihr harmonischer Charakter in der Naturbetrachtung anschaulich werden.115 In Gottfried Kellers Gedicht »Stille der Nacht« findet die Vorstellung von der Selbstregulation ihr musterhaftes literarisches Äquivalent, nämlich in der Semantik >ruhig< waltender Naturgesetze: Ich sinne, wo in weiter Welt Jetzt sterben mag ein Menschenkind Und ob vielleicht den Einzug hält Das viel ersehnte Heldenkind. Doch wie im dunklen Erdental Ein unergründlich Schweigen ruht, Ich fühle mich so leicht zumal Und wie die Welt so still und gut. Der letzte leise Schmerz und Spott Verschwindet aus des Herzens Grund; Es ist, als tat' der alte Gott Mir endlich seinen Namen kund.116
Nun setzte aber die Einordnung des Menschen in den »Kreislauf des Lebens« Negationen jeglicher übernatürlicher Eigenschaften der Seele frei, oder anders gesagt: die mehr oder minder brutalen Spielarten des Materialismus sorgten da-
113
Vgl. die in Anm. 3 angegebene Literatur. Vgl. Hermann Lotze: Ueber den Begriff der Schönheit [1845]. In: Kleine Schriften (Anm.84) Bd. l, S.291-341, hier S.312: »Jene Zweckvollendung [...] hat drei Glieder; das erste ist der werthvolle Sinn des Gedankens, der seiner ihm nie ganz entgehenden Verwirklichung zustrebt; das zweite die Reihe der wirkenden Ursachen, die jenen Sinn vollziehen; das dritte das Reich allgemeiner Gesetze, die gleichgültig für alle Gestalt bestimmter Erfolge, nur durch die bestimmte Anordnung der wirkenden Kräfte, die ihnen gehorchen, zu diesem Ziele einer sinnvollen Erscheinung hingelenkt werden.« 115 Vgl. Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne. Weinheim 1991, S.26f. 116 Gottfried Keller: Sämtliche Werke in sieben Bänden. Hg. v. Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Kai Kauffmann, Dominik Müller u. Peter Villwock. Bd. 1. Gedichte. Hg. v. Kai Kauffmann. Frankfurt/M. 1995, Zitat S. 387. Man vgl. auch das im selben Ton gehaltene Gedicht »Abendlied« (S. 407.) 114
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für, daß die Vorstellung vollständiger Erklärbarkeit117 die Weltanschauung nicht beruhigen konnte; ganz im Gegenteil: was Lotzes Mikrokosmus durch seinen Rekurs auf die Art und Weise bewältigen konnte, wie Goethe und Herder (auf chemischer Grundlage der »Beharrung«, »Vereinigung« und »Verähnlichung«) das Problem einer harmonischen Naturbetrachtung gelöst hatten,118 stand um 1900 wieder auf der Tagesordnung,119 allerdings unter negativen Vorzeichen. Denn der Weg von der Naturbetrachtung zum »spinozistischen Enthusiasmus des Künstlers« im Sinne Goethes oder der Romantiker ist durch das Gefühl der Einsamkeit angesichts der Eindrücke versperrt, in denen die Dinge in von poetischer Bedeutung abgezogener Nacktheit erscheinen: Der Himmel schwieg. Und Törleß fühlte, daß er unter diesem unbewegten, stummen Gewölbe ganz allein sei, er fühlte sich wie ein kleines lebendes Pünktchen unter dieser riesigen, durchsichtigen Leiche.
Damit gewinnen Bilder erneut an Aktualität, wie sie Georg Büchner - die von Karl Emil Franzos und Paul Landau herausgegebenen Werkausgaben erscheinen 1879 und 1909 - festgehalten hatte.121 Dem im weltanschaulichen Rahmen des »Zusammenhangs der Dinge« auftretenden Optimismus steht jetzt die äußerst angstbesetzte Auffassung gegenüber, daß naturwissenschaftliche Aussagen unanschaulich, »indifferent«, d.h. sozial bedeutungslos (geworden) sind und die Weltanschauung zur sittlichen »Entscheidung« drängen.122 Alois Riehl, 117
Vgl. Jacob Moleschott: Der Kreislauf des Lebens. Physiologische Antworten auf Liebig's Chemische Briefe [1852]. 2. Aufl. Mainz 1855, bes. S. 32-35 u. S. 406-419. 118 Deutlich in dieser Tradition stehend: Lotze: Mikrokosmus. Bd.2. 3. Aufl. Leipzig 1878, S.39f.; Bölsche: Liebesleben (Anm.7), Bd.2.2., S.604: »Wenn irgend etwas [...] sicher ist, so ist es der unaufhaltsame Fortschritt sozialen Anschlusses mit immer glücklicherer Ordnung in der Menschheit. Hier waltet eine so schlichte Logik wie zwischen den Glasteilchen eines Kaleidoskops, die eine Weile durcheinander rollen mögen, dann aber unerbittlich in ein bestimmtes Harmoniemuster einfallen müssen.« Zum Problem der Bewältigung der Spinozistischen natura operativa im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert vgl. die in Anm. 121 genannte Sekundärliteratur; zu Herders chemisch-physikalischem Modell in den sich auf das 15. Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit auswirkenden SpinozaGesprächen vgl. Johann Gottfried Herder: Werke. Hg. v. Wolfgang Proß. Bd. 2. Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München/Wien 1987, S. 829. 119 Für Bölsche gilt es unbedingt zu vermeiden, daß die Weltanschauung »einen Schluß wie Werther« bekommt. Bölsche: Liebesleben (Anm.7), Bd.2.2., S.697. 1211 Musil: Törleß. GW 6, S. 66. 121 Zum historischen Ort der metaphorischen Gleichsetzung von »Gott/Nichts, Schöpfung/ Grab« bei Büchner vgl. die Aufsätze von Wolfgang Proß: Naturgeschichtliches Gesetz und gesellschaftliche Anomie: Georg Büchner, Johann Lucas Schönlein und Auguste Comte. In: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsarbeiten zum 19. Jahrhundert. In Verbindung mit Günter Häntzschel u. Georg Jäger hg. v. Alberto Martino. Tübingen 1977, S. 228-259; - Die Kategorie der »Natur« im Werk Georg Büchners. In: Aurora 40 (1980), S. 172-188; - Spinoza, Herder, Büchner: Über »Gesetz« und »Erscheinung«. In: Georg Büchner Jahrbuch 2 (1982), S. 62-98. 122 Vgl. Bölsches Hinweis auf den »Entropietod« und die ihn überwinden sollende sittliche Stimmung: »Es ist das A und O unsrer gesamten Betrachtung gewesen, daß auch die körperlichen Liebesdinge zuletzt alle verklärt werden sollten in etwas geistig Reines, etwas durch
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Thomas Borgard
Co-Referent in Musils Promotionsverfahren, benennt im fünften seiner Vorträge zur Philosophie der Gegenwart die Probleme, die sich aus einer auf dem Energieerhaltungssatz aufbauenden Weltinterpretation ergeben: Eine Theorie des Geistes, die sich auf dieser Grundlage abarbeitet, ist a limine eine materialistische. Riehl konzediert der Naturwissenschaft, keine unzulässigen Kausalsprünge vollziehen zu dürfen und lehnt den Spiritismus ab;123 im sechsten Vortrag sieht er sich genötigt, einen Dualismus zwischen Naturkenntnis und wertphilosophischer Deutung zu statuieren,124 »Wissenschaft und Lebensweisheit treten«, wie Ernst Troeltsch die Position Riehls kommentiert, »weit auseinander«.125 Während die Naturwissenschaften ein existentiell gleichgültiges, nicht mehr ohne weiteres in Dichtung integrierbares Wissen produzieren, diagnostizieren die Schriftsteller die »anthropomorphe Enge der Sprache«.126 Daß sich mit den Kenntnissen über die äußere Natur die introspektiven Einsichten nicht ebenso vermehren, hat bereits Raabes bedeutende Prosaschrift Prinzessin Fisch (1882/83)127 ausgesprochen: Es ist viel leichter, auf alles um sich als auf das Geringste in sich zu achten und sich dabei nicht zu irren. Mehrere Philosophen meinen sogar, das letztere sei noch niemand eelungen.128
und durch Sittliches.« Bölsche: Liebesleben (Anm.7), Bd.2.2., S. 700. Zur literarischen Verarbeitung des Entropiesatzes vgl. Joachim Metzner: Die Bedeutung physikalischer Sätze für die Literatur. In: DVjs 53 (1979), S. 1-34. Über die »Trivialisierung« naturwissenschaftlichen Wissens im Verlauf des 19. Jahrhunderts vgl. Friedrich H. Tenbruck: Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß. In: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft: der Fall der Moderne. Opladen 1989, S. 143-174. 123 Vgl. Alois Riehl: Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. Acht Vorträge [l 902]. 3. durchges. u. verb. Aufl. Leipzig 1908, S. 167. »In diesen geschlossenen Naturverlauf [...] kann eine nicht-physische Ursache nicht eingreifen, denn sie hätte nichts mehr zu bewirken, aus ihm [kann] eine nicht-physische Wirkung nicht hervorgehen, denn jede Wirkung ist bereits völlig bestimmt.« Über Riehls Kritik an der Vorstellung eines »Atombewußtseins« vgl. ebd., S. 168ff. Gemeint ist der in Ueberwegs Philosophiegeschichte als der »bedeutendste Kopf des deutschen Spiritismus« bezeichnete Carl du Prel. Vgl. Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie, S. 620. 124 Zunächst heißt es: »Werte schaffen Kultur; aus Werten ist das Reich des Menschen mit allen seinen Institutionen aufgebaut auf dem Boden der Natur.« Riehl: Philosophie der Gegenwart, S. 184. Die Evolutionstheorie hätte ein Interpretationsmuster geliefert, wonach die Kulturgeschichte als eine Fortsetzung der Naturgeschichte zu begreifen sei; doch ist »Natur« letztlich eine unbrauchbare Kategorie: »Werte [...] sind die Prinzipien, die innere gestaltende Form dessen, was wir als Lebensanschauung bezeichnen und von der wissenschaftlichen Weltbetrachtung unterscheiden. Die Probleme der Lebensanschauung sind Wertprobleme« (ebd.). 125 Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme (Anm. 17), S. 534. 126 Metzner: Die Bedeutung physikalischer Sätze (Anm. 122), S. 34. 127 Ursprünglich erschienen im 53. Band von Westermanns Monatsheften. 128 Wilhelm Raabe: Prinzessin Fisch. Eine Erzählung. In: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. v. Karl Hoppe. Bd. 15. Göttingen 1964, S. 191-386, Zitat S. 209.
Roben Musils früher Beitrag zur Wissensgeschichte
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Die Beziehung zwischen der Auflösung des »Zusammenhangs der Dinge« und der Bedrohung der Identität des Subjekts in der Epoche Musils ist dadurch vorgegeben.129 Damit werden das Projekt der bürgerlichen Erziehung und mit ihr der klassische Bildungsroman fragwürdig, dem Raabes Text nachzuspüren versucht. Allerdings hat kein deutschsprachiger Schriftsteller des sogenannten »Realismus« die Linien der Auseinandersetzung deutlicher markiert als Raabe. Von signifikanter Bedeutung ist die Figur des Bruseberger. Dieser vertritt seinem jungen Zögling Theodor gegenüber die Auffassung: »möglich ist einem Menschen mit Bildung alles!« Das soll die Beschäftigung mit dem »Zusammenhang der Dinge« bewerkstelligen, die nach Art von Wielands Schwärmerkuren130 von einer allzu blühenden Phantasie befreit und »tiefste Einblicke in das Verhältnis von Ursache und Wirkung« gewährt.131 Doch wie der Fortgang der Erzählung zeigt, erfolgt die Erziehung gerade nicht durch akademisch gebildete Autoritäten. Dargestellt wird vielmehr die Erziehung des Menschen durch die Phantasie, den Traum und die optische Täuschung des jungen Leibes und der kindischen Seele des Menschen!132
Raabes Figurensatz wird ergänzt durch zwei Naturforscher, deren Tätigkeit kein nutzbares Wissen mit sich bringt und auch sie selbst nicht über kindlichen Verstand zu heben vermag: Vor den buntnaiven Sammelkästen und exotischen Herbarien des vielgewanderten, enthusiastischen Dilettanten stand der Professor wie ein Kind vor einer überreichen Weihnachtsbescherung; Papa Pepe aber brachte [...] täglich mehr wissenschaftliches System in sich hinein.133
Hier wird erneut der sich ständig der Rede vom »Zusammenhang der Dinge« bedienende, deutlich lebenserfahrenere Bruseberger interessant. Seine Einsicht in die von Egoismus und Ausbeutung geprägten gesellschaftlichen Zustände schreibt die ständige Unsicherheit äußerer Lebensbedingungen fest. In einer folglich als >unruhig< bezeichneten Welt wird der Blick wieder subjektiver, denn: da gilt nur das innerste Gefühl auch in der Einbildungskraft, und gelehrte, gute und wissenschaftliche Bücher braucht man dazu weder geschrieben noch gebunden zu haben. Hier kommt die Wissenschaft nur aus dem Gefühl und die mögliche Beruhigung nachher einzig und allein aus dem Studium von dem Zusammenhang. 1
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Zur Bedeutung dieser Metapher in Literatur und Philosophie des 19. Jahrhunderts vgl. -gegenüber Fechner und Lotze allerdings mit gelegentlichen unsachlichen Wertungen - die Studie von Walter Gebhard: »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1984. 110 Das Bild der »Prinzessin Fisch« entnimmt die Erzählung einem - Wielands Neuem Amadis verpflichteten - Gedicht Goethes. 131 Vgl. Raabe: Prinzessin Fisch (Anm. 128), S.212f. 112 Ebd., S. 348. '"Ebd., S. 303. 114 Ebd., S. 276.
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Der frühe Musil möchte die bei Raabe angesprochenen Bereiche des Denkens analytisch zugänglich machen, wofür herkömmliche wissenschaftliche Methoden nicht ausreichen. Im Gegensatz zum Theologen Troeltsch kommt es ihm nicht auf inhaltliche oder gar normative Komponenten an; er formuliert vielmehr ein methodisches Interesse, das holistische Grenzüberschreitungen ä la Bölsche kritisiert. Weit entfernt davon, der Analogie von naturphilosophischer Erkenntnis und Mathematik oder dem »Tapferkeitsluxus der reinen Ratio«135 die Entdeckung der kosmischen Geheimnisse zuzutrauen, überwiegt deshalb eine gewisse Skepsis, welche der Kenntnis der komplexen Beziehungen zwischen den verschiedenen Dispositionen des Menschen entspricht. Deren Inkohärenz ist formal bereits durch die Strukturen des Bewußtseins vorgegeben. Für die Aufhebung des harmonisch-synthetischen Kanons und die Entwicklung zur Analytik, d.h. in der Literatur zu innerem Monolog und Montagetechnik, ist folgenreich, daß das erkennende Subjekt im Moment seiner Schwächung als »allmächtig« erscheint.136 Der germanistischen Rede von der »Sprachkrise« der Jahrhundertwende ist nachdrücklich zu widersprechen, denn der Blick auf das »Unendliche« engt den Spielraum literatursprachlicher Möglichkeiten keinesfalls ein: wo die Welt im Kopf des Autors entsteht, erscheint einer »phantastischen« Literatur »Alles möglich«.137 Anhand der im Gefolge der Denkbewegungen vor allem des späten Lotze auftretenden Trennungslinien zwischen Natur- und Humanwissenschaften verfolgt Musil poetische und wissenschaftliche Fragestellungen parallel; literarische Fiktionen werden als hypothesenbildende Instanzen betrachtet.138 Weil Musil zur Annäherung an die Folgeprobleme einer zunehmenden >Verweltanschaulichung< des Wissens im öffentlichen Raum die Rationalisierung des Irrationalen für den einzig gangbaren Weg hält, indes nicht im Sinne einer »reinen Vernunft«, erhebt sich der Anspruch auf die >Verwissenschaftlichung< der Literatur: Dichter sind analytisch. [...] Die infinitesimale verstehende Auflockerung des Menschen ist gewiß nicht der Neue Mensch, aber sie ist trotzdem die einzige Situation für jeden, der die Gabe hat, neue Menschen zu erzeugen. Man sei gegen nichts so mißtrauisch wie gegen alle Wünsche nach Entkomplizierung der Literatur und des Lebens, nach homerischer oder nach religiöser Stimmung, nach Einheitlichkeit und Ganzheit.139
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Robert Musil: Der mathematische Mensch [1913]. GW 8, S. 1004-1008, Zitat S. 1006. Vgl. auch Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (Anm. 115), S.85ff. 137 Paul Scheerbart: Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman mit 83 merkwürdigen Geschichten [1902]. Frankfurt/M. 1990, S. 117. 138 Vgl. Gerd Müller: Dichtung und Wissenschaft. Studien zu Robert Musils Romanen >Die Verwirrungen des Zöglings Törless< und >Der Mann ohne Eigenschaften. Uppsala 1971, S. 108ff. 139 Robert Musil: Analyse und Synthese [1913]. GW 8, S. 1008f. 136
Peter Matussek
Tod und Transzendenz im geistigen Raum Das Gedächtnistheater des jungen Hofmannsthal Welch ein Erlebnis aber auch, dieses neunzehnte Jahrhundert, so wie der deutsche Geist es durchzumachen hatte, [...] bis endlich in diesem ganzen scheingeistigen Bereich die Luft unatembar wurde, bis endlich aus diesem Pandämonium von Ideen, die nach Lebenslenkung gierten - als ob es lebenslenkende Ideen geben könnte -, er sich losrang, unser suchender deutscher Geist, bewährt mit dieser einen Erleuchtung: daß ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist - daß im halben Glauben kein Leben ist, daß dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist: daß das Leben lebbar nur wird durch gültige Bindungen.1
Mit beschwörenden Worten gedenkt Hugo von Hofmannsthal in seiner berühmt gewordenen Rede »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation« der Überwindung des 19. Jahrhunderts, dessen komplementäre Fehlentwicklungen -der »scheingeistige Bereich« eines philiströs auftrumpfenden Bildungskanons und das »Pandämonium« eines abgehobenen Wissenschaftsidealismus - die Ansprüche der Lebenswirklichkeit zunehmend erstickten oder ignorierten. Im Spannungsfeld zwischen der »Verengung des Raumes« zur rigiden Topik einerseits und der »Vergeudung des Raumes« in romantischer Schwärmerei andererseits entwirft der Dichter die Vorstellung eines »Geistraumes«, der nicht topographisch - durch die Errichtung einer »geistigen Besitzordnung« oder das »Wohnen auf dem Heimatboden« - bestimmt ist und dennoch Verbindlichkeit beansprucht: »Alles Höhere, des Merkens Würdige aber, seit vielen Jahrhunderten, wird durch die Schrift überliefert.« 2 Der literarische Gedächtnisraum, von dem Hofmannsthal redet, ist als übernationaler und atopischer das genaue Gegenmodell zu dem des 19. Jahrhunderts, der in der Errichtung von Nationalmuseen und Literaturarchiven seine monumentalistische Manifestation hatte, und dessen nur scheinbar konträres Pendant die vergeistigte und insofern nicht weniger »hybrid gewordene Wissenschaft« war, die ihre Vertreter zu »raumlosen Gefangenen« ihrer Gedankenwelten machte.3 Als Ursprung beider Tendenzen aber sieht Hofmannsthal »jene Geistesumwälzung des sechzehnten Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen«; was in ihnen als reziproke Vereinseitigung anhob, sei zu korrigieren durch eine »innere Gegenbewe1
Hugo von Hofmannsthal: Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. In: H.v.H.: Reden und Aufsätze III (1925-1929). Aufzeichnungen. Frankfurt/M. 1980 (= Gesammelte Werke in Einzelbänden) S. 24-41, hier S. 39. 2 Ebd., S. 40, S. 30, S. 24. 3 Ebd., S. 34.
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gung«, ja eine »konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt«. »Ihr Ziel«, so lautet sein abschließender Ausblick, »ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könnte.«4 Die neue deutsche Wirklichkeit sollte anders aussehen als diejenige, die Hofmannsthal am 10. Januar 1927 vor seinen Zuhörern an der Münchner Universität imaginierte. Die Realität folgte vielmehr den Antizipationen der nationalsozialistischen Propaganda, wie sie etwa Josef Nadler bereits drei Jahre vor der >SchrifttumsSchrifttumsSchrifttumsnicht Weniges vom heutigen Weltzustand anticipiert< glaubt.9 Das Jugenddrama, das ursprünglich Der neue Todtentanz heißen sollte,10 sei daher im folgenden daraufhin untersucht, inwieweit es als dichterische Frühform jener Denkfigur angesehen werden kann, die schließlich von der >SchrifttumsSchrifttumsSchrifttumsGeschichte der Philosophie< verurteilt er die klassische ars memoriae als »eine schlechte Kunst«, die zu »heillosesten Kombinationen« führe. Die einzige Einschränkung seines Verdikts macht er bei Giordano Bruno, dessen mnemonische Schriften »der Kunst eine tiefere innere Bedeutung gegeben« hätten.18 In diesem Sinne vollzieht Hegel eine folgenreiche Binnendifferenzierung des Memoria-Begriffs, die mit einer Neubewertung des Vergessens einhergeht: Unter Gedächtnis versteht er nurmehr ein »Beinhaus der Wirklichkeiten«, ja einen »Galgen, an dem die griechischen Götter erwürgt hängen«,19 das Erinnern dagegen etymologisch als »Sich-innerlich-machen, Insichgehen«.20 Kierkegaard greift diese Unterscheidung auf und deutet sie existentialistisch um. In Entweder - oder beschreibt er die Situation des modernen Ästheten in einem entsprechenden Bild, das nicht nur Hofmannsthals Gedicht »Nox Portensis Gravida« erstaunlich nahekommt,21 sondern auch der Klage Claudios: Mein Leid ist meine Ritterburg, die einem Adlerhorste gleich hoch auf des Berges Spitze zwischen Wolken liegt; niemand kann sie erstürmen. Von ihr stoße ich hernieder in die Wirklichkeit und packe meine Beute; jedoch ich bleibe nicht da unten, ich bringe meine Beute heim, und diese Beute ist ein Bild, das ich hineinwebe in die Tapeten meines SchlosT) ses. Allda leb ich einem Toten gleich.
Auch Kierkegaard konstruiert seinen Begriff des Erinnerns aus der Hegeischen Antithese zum Gedächtnis. »Unter Entgegensetzung wider das im Gedächtnis Behalten«, schreibt er in den Stadien, »begehre ich mit Themistokles, vergessen zu können; sich erinnern aber und vergessen sind keine Gegensätze.«23 Für Nietzsche schließlich wird das »Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen [...] unhistorisch zu empfinden«, zur Bedingung des Lebensglücks schlechthin,24 und er äußert die Vermutung, es sei »nichts furchtbarer
18
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III. In: G.W.F.H.: Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt/M. 1995, Bd.20, S.39 und 33. 19 Hegel: Frühe Schriften. In: G.W.F.H.: Werke (Anm. 18), Bd. l, S.346 und 432. 2(1 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. In: G.W.F.H.: Werke (Anm. 18), Bd. 19, S.44. 21 Vgl. Karl Pestalozzi: Sprachskepsis und Sprachmagie im Werk des jungen Hofmannsthal. Zürich 1958, S. 87. 22 Sören Kirkegaard: Entweder / Oder. (3. Aufl.). Gütersloh 1993, S.45f. 23 Sören Kirkegaard: Stadien auf des Lebens Weg. Band 1. (3. Aufl.). Gütersloh 1991, S. 13. 24 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: F.N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bände. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München, Berlin, New York 1988, Bd. l, S. 243-334; vgl. insbes. S.248ff.
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und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik«.25 Der Umschlag des dramatischen Konflikts in Hofmannsthals »neuem Todtentanz« ist vor dem historischen Hintergrund dieser Gegenbewegungen zum topisch-mnemonischen Gedächtnisraum zu sehen. Wie in Hegels »Beinhaus« kommt Claudio sich vor, wenn er das abgestorbene Leben der Kunstgeschöpfe in seinen Truhen und Vitrinen aus »toten Augen« (282) betrachtet; und er findet die Rettung vor seiner exzentrischen Selbstzerstreuung in »tausende Vergleiche« analog zur Hegeischen Wendung gegen eine Gedächtnistechnik, die zu den »heillosesten Kombinationen« führt, durch ein er-innerndes Insichgehen. Wie Kierkegaards Dichter »einem Toten gleich« in Gedanken lebend, kommt Claudio schließlich doch zur Anamnesis der eigenen Existenz, indem er ein amnesisches Begehren nach Art des Themistokles entwickelt. »Unfähig des Vergessens« wie Nietzsches unglücklicher Geschichtsschreiber, wird er endlich lernen, »unhistorisch zu empfinden«. Doch der Preis dafür ist hoch: Nur der Tod kann ihn noch »lehren, / Das Leben [...] einmal ehren« (291). Erst bei den morbiden Klängen der Todesgeige vermag Claudio sich jenen »langersehnten Schauern« hinzugeben, die sein adynamischer Gedächtnisraum, seine «Rumpelkammer voller totem Tand« vermissen ließ. »Rücklebend« die musealen Insignien um sich her vergessend, wird er in die eigene Vergangenheit versetzt, als noch »alle Dinge / dem liebenden Erfassen nahgerückt« waren und er sich von ihnen noch »beseelt und tief entzückt« fühlen konnte. Die Speicherlast des »allzu alten, allzu wirren Wissens /[...] Vergeht, von diesem Laut des Urgewissens« (287). Statt dessen erscheinen ihm nun die Geister von drei Verstorbenen, an denen er schuldig wurde: seine Mutter, die verlassene Geliebte und der Freund. Sie wecken seine Reue über die Gleichgültigkeit, Treulosigkeit und zersetzende Kälte, mit denen er ihnen begegnet war. Das eingeklagte Gefühl für seine Mitmenschen stellt sich in dem Moment ein, als ihm bewußt wird, daß er sie endgültig verloren hat. Beim Entschwinden des Erinnerungsbildes seiner Mutter spürt er erstmals »alle Wurzeln [...] nach ihr sich zuckend« drängen (293). So wird die Begegnung mit dem Tod zur Voraussetzung einer erinnernden Vergegenwärtigung. »Erst da ich sterbe, spür ich, daß ich bin«, erkennt Claudio, und beschließt: »Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!« (297) Mit der Verwunderung des Todes darüber, daß die Menschen »Wege noch im Ewig-Dunkeln finden« (298), endet das Stück. In der Tat rühren Claudios letzte Worte an ein Mysterium, die Koinzidenz von Leben und Tod, die ewig rätselhaft bleiben muß. Was aber bedeutet Claudios Sterben für die darin artikulierte Ästhetismusproblematik? Ist der >Tod des ÄsthetenStoizismus des Horaz< bis in die >Resignationsphilosophie< seiner eigenen Tage« - gemeint sind hier Baudelaire und Schnitzler - reicht.34 Macht es da überhaupt noch Sinn, den einzelnen Verweisspuren nachzugehen? Ist es nicht müßig zu überlegen, ob Claudios Vers »Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!« von Euripides, Hölderlin, Schopenhauer oder Shakespeare herrühren könnte?35 Eine positive Antwort könnte sich daraufstützen, daß jenes »Übermaß / Geträumten Fühlens«, das Claudio »erwachen« macht, seine poetische Analogie im Übermaß der literarischen Phantasien hat. Aber geht daraus schon eine vergleichbare Erweckungsfunktion hervor? Manche Kritiker glauben eher das Ge28 29 30
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Vgl. Hofmannsthal: Kommentar (Anm. 10), S. 484. Diese Anregung vermutet Alewyn: Der Tod des Ästheten (Anm. 26), S.75f. Vgl. hierzu Hinrich C. Seeba: Kritik des ästhetischen Menschen. Hermeneutik und Moral in Hofmannsthals >Der Tor und der TodDichter< gemacht, dieses Bedürfnis nach dem künstlichen Leben.«38 Auch dies ist ein Beleg dafür, daß Hofmannsthal die von ihm diagnostizierte Krise des Ästhetentums nicht durch die Rückkehr zum »wirklichen Leben« zu überwinden suchte, sondern durch das Hervorkehren seiner Künstlichkeit. Explizit wehrt er sich gegen das Rezeptionsstereotyp, daß die in Der Tor und der Tod dargestellte Künstlerproblematik aus dem »Selbstvorwurf einer dürftigen Natur« resultiere. Vielmehr sei das Drama »aus einer inneren Herrlichkeit und Fülle hervorgegangen«.39 Es genügt freilich nicht, diese Fülle nur zu konstatieren. Um ihren eschatologischen Gehalt freizulegen, bedarf es einer näheren Einlassung auf ihre Anspielungen. Denn sie betreffen nicht nur die sprachliche Oberfläche, sondern auch die Thematik und Problemstellung des Dramas. Diesbezüglich grundlegend sind Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs,40 Lenaus Faust und insbesondere natürlich der Goethesche, dessen Eingangsverse in einer von Alfred Kerr »fast parodistisch« genannten Penetranz aufgegriffen werden.41 Die parodistische Wirkung gehört aber durchaus zu den von Hofmannsthal bewußt in Kauf genommenen Konsequenzen seines Verfahrens, »Herrlichkeit und Fülle« auszudrücken: »es ist ein Hauch von jugendlicher Selbstironie über dem ganzen Ding«, schreibt er in dem erwähnten Brief. Der überzogene Anspielungsreichtum soll durchklingen. Dennoch ist das kein Selbstzweck, sondern Aspekt einer Sprachdynamik, die sich um so mehr entfaltet, je mehr sich der Rezipient ihren Assoziationen überläßt. Wie genau Hofmannsthal einer solchen Rezeption vor36
Hier bezogen auf den Jedermann. In: Der Tag, Nr. 284, 3.12. 1911. Illustrierte Zeitung. Anton Kuh: Metaphysik und Würstl. Zürich 1987, S. 279. 38 Brief an Edgar Karg von Bebenburg, 6.9. 1892. In: Hugo von Hofmannsthal, Edgar Karg von Bebenburg: Briefwechsel. Hg. von Mary E. Gilbert. Frankfurt/M. 1966, S. 19. 39 Brief an Felix Braun, 22.9.1920. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1968, S. 416. 40 Für Manfred Hoppe ist dies die entscheidende Grundlage. Vgl. Hoppe: Literatentum (Anm.15), S. 50. 41 Alfred Kerr: Hugo von Hofmannsthal [1900]. In: A.K.: Gesammelte Schriften. Berlin 1917, R. l, Bd. l, S. 153. 37
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gearbeitet hat, sei im folgenden an der Hauptspur des Verweisgeflechts demonstriert.
3. Die Fokussierung auf Goethes Faust hat sich allerdings sogleich mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, eine überholte Forschungsposition zu restaurieren. Gotthart Wunberg stellt diesbezüglich fest: »Auf die Verwandtschaft mit Goethes Faust ist vor allem im Zusammenhang mit Der Tor und der Tod immer wieder hingewiesen worden. Schon eine halbe Generation später empfand man das als unangenehm.«42 Selbst ein so subtiler Hofmannsthal-Interpret wie Peter Szondi, der die Renaissance-Bezüge des Dramas nicht aus der Nähe zur Faustfigur, sondern zum Tod des Tizian herleitet, vermag sich die »oft ans Peinliche grenzende Nähe der Sprache des Tor und Tod zur Goetheschen Dichtung« nicht recht zu erklären. Er schreibt: Es bleibt merkwürdig, daß der junge Hofmannsthal seinen doch schon im Tod des Tizian nicht nur selbständigen, sondern auch meisterhaft gehandhabten Stil um einer thematischen Verwandtschaft willen - auch der Auftritt des Todes erinnert an Mephistos Eintreten in Fausts Studierkammer - oder von dieser Verwandtschaft verführt, in solchem Ausmaß wieder opfern konnte.43
Die von Szondi wie auch von anderen empfundene 44 »Peinlichkeit« indessen resultiert nicht etwa aus der Tatsache, daß die Parallele falsch wäre, sondern daß sie fälschlich als bloßes Oberflächenphänomen wahrgenommen wird. Denn sie besteht nicht nur, wie seit Alfred Kerr immer wieder allzu einfach konstatiert wird, im Duktus der Verse, sondern vor allem in der Tiefenstruktur der Konfliktkonstellation, die nicht so rasch auszuschöpfen ist. In - freilich problematischer Nationalfärbung - stellt Rudolf Borchardt fest: »Seit Werther und Faust [...] ist Claudio der erste deutsche Typus eines Lebenszwiespaltes, wie nur höhere Gesellschaften ihn ausbilden und sich angleichen können.« 45 Auch unter Fortlassung des »unsterblichen germanischen Schmerzzustandes«, mit dem Borchardt die Verwandtschaft begründet, bleibt seine Beobachtung gültig, daß Hofmannsthal im Rekurs auf Goethes Drama an einer »abgebrochenen Kontinuität fortarbeitet«: Fausts Monologe, sagt er, hätten »Folgen für den Stil und die äußere Farbe [von Tor und Tod] bis in die Konzeption, bis ins Szenische, bis 42
Gotthart Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur. Stuttgart 1965, S. 103, Anm. 52. 43 Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siede. Studienausgabe der Vorlesungen. Bd. 4. Hg. von H. Beese. Frankfurt/M. 1975, S. 258. 44 So schrieb etwa Heinrich Eduard Jacob über Hofmannsthals Jugenddrama: »Es war selbständiger - wenn auch keineswegs in der äußeren, peinlich goethisierenden Form -« In: Die Aktion 43 (11.12.1911), Sp. 1356. 45 Rudolf Borchardt: Rede über Hofmannsthal. In: R.B.: Reden. Stuttgart 1955, S. 45-103, hier S. 94.
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in die Sprache und ihr Bildliches hinein«. Dabei sei aber Hofmannsthals Drama niemals der Versuchung ausgesetzt [...], dem Tone, den es umbildet, zu erliegen, so wenig es durch das Goethesche Mittel hindurch auch noch hanssachsisch zu werden in Gefahr ist, sondern von der Gattung nur ihre festen Motive, vom Metrischen nur den Schatten seines Umrisses, vom Szenischen nur sein stehendes Verhältnis von Aktion und Rede, die mimische Entwikkelung des Wortes aus der Geste gegen seine Welt entlehnt, - so weit und innerlich faßt es sein Verhältnis zum Stilmuster.46
Denn selbstverständlich ist Hofmannsthal kein Goethe-Kopist, sondern er modifiziert den Prätext in durchaus eigenständiger Weise. Zu Recht beschreibt auch Mathias Mayer »Claudios Rolle als die eines Faust des Fin de siecle«,47 und betont damit die Differenz in der Gemeinsamkeit. Um aber diese Differenz und somit die Spezifik des Hofmannsthalschen Stils herauszuarbeiten, ist es nötig, den Gemeinsamkeiten auf den Grund zu gehen. Dies ist in der Forschung, allem Anschein zum Trotz, eben doch kaum geleistet worden. Die Nähe zum Faust wird in einschlägigen Arbeiten entweder gar nicht beachtet48 oder nur en passant erwähnt.49 Auch dort, wo sie völlig angemessen als literarischer Firnis von »vagen Erinnerungen« des Vergangenen wahrgenommen wird, bleibt die Frage nach dem Ursprung dieser atmosphärischen Qualität offen.50 Eine jüngere Veröffentlichung zu Hofmannsthal - Uwe Steiners Die Zeit der Schrift, die auch ein ausführliches Kapitel über Der Tor und der Tod enthält - streift die Faust-Parallele mit wenigen Sätzen, um sie sogleich als unergiebig abzutun: War dieser [Faust, P.M.] jedoch ein an allen Fakultäten bewanderter Gelehrter, so betitelt Hofmannsthal seinen Protagonisten ausdrücklich als Toren, eben weil dieser der alphabetise verfallen ist. [...] Faust scheitert in seiner Suche nach dem die Buchstaben- und Wissensmassen zusammenhaltenden transzendentalen Signifikat. Darum verläßt er die Studierstube und geht vom Buch gleich zur Natur über. Claudio dagegen mißlingt der hermeneutische Sprung aus dem Studierzimmer ins Leben bzw. ins Signifikat, weil sich die Schrift selbst als unüberwindbare Barriere erweist.
Die Trefferquote dieser schwungvoll hingeworfenen Bemerkungen zeigt, wie nötig eine gründliche Untersuchung der Verbindungslinien zwischen beiden Werken nach wie vor ist: Zunächst einmal kann kein Zweifel daran bestehen, daß auch Claudio ein universell gebildeter Gelehrter ist; gleich Faust, der sich 46
Ebd., S. 102f. Mathias Mayer: [Artikel:] Der Thor und der Tod. In: Kindlers Neues Literatur-Lexikon. Hg. von Walter Jens. Studienausgabe. München 1996, Bd.7, S. 1017f., hier S. 1018. 48 Vgl. Grete Schaeder: Hugo von Hofmannsthal und Goethe. Hameln 1947; Martin Erich Schmid: Symbol und Funktion der Musik im Werk Hugo von Hofmannsthals. Heidelberg 1968; Hoppe: Literatentum (Anm. 15), 49 Vgl. neben Szondi, auf den bereits hingewiesen wurde, etwa Walter H. Perl: Das lyrische Jugendwerk Hugo von Hofmannsthals. Berlin 1936, S. 45, und Alewyn: Der Tod des Ästheten (Anm. 26), S. 64-77, hier S.70f. 50 Vgl. Pestalozzi: Sprachskepsis (Anm. 21), S. 92. 51 Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke. München 1996, S. 90.
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dennoch »so klug als wie zuvor« (V. 359) fühlt, sitzt er in seinem Studierzimmer und reflektiert darauf, daß seine Existenz »wie ein Buch« ist, »Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift, / Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift« (285, Hv. P.M.) - auch er also sucht durchaus nach dem »transzendentalen Signifikat«. Und daß Claudio von seinem Autor gleichwohl als »Tor« bezeichnet wird, bringt ihn schon gar nicht in einen Gegensatz zu Goethes Faust, sondern unterstreicht abermals die Gemeinsamkeiten: »Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise«, sagt Mephisto im Vorspiel auf die Frage des »Herrn«, ob er den Faust kenne (V. 299,301). »Da steh' ich nun, ich armer Tor« (V. 358), klagt dieser, nachdem er vergeblich der scholastischen Wortwissenschaft nachjagte - eine »alphabetise« par excellence, vor der er aus eigener Erfahrung dann seinen Famulus Wagner warnt: »Sei er kein schellenlauter Tor!« (V. 549) Hofmannsthal hat sich bemüht, diese Analogie explizit kenntlich zu machen, indem er der Bezeichnung »Tor« für Claudio das Attribut »schellenlaut« hinzufügt (291) - für manchen seiner Interpreten wohl immer noch nicht explizit genug. Die Behauptung schließlich, daß Faust im Unterschied zu Claudio seine Studierstube verlasse und »vom Buch gleich zur Natur« übergehe, trifft vollends daneben. »Flieh! auf! hinaus ins weite Land!« ruft Faust und stürzt sich - auf das »geheimnisvolle Buch, / Von Nostradamus' eigner Hand« (V.418f.). Die Unterweisung der Natur (vgl. V. 423) sucht Faust eben nicht »draußen«, im unmittelbaren Erfassen des »transzendentalen Signifikats«, sondern in den Signifikanten, im »Zeichen des Makrokosmus« (vor V. 430) und im »Zeichen des Erdgeistes« (vor V. 460). Wenn Claudio - nach einem kurzen Fensterblick ebenfalls nicht den »graden Weg« ins Leben (283) wählend - sein eigentliches Existenzerlebnis im Studierzimmer hat, das ihm vorkommt, »Als strömte von den alten, stillen Mauern / Mein Leben flutend und verklärt hinein«, und ihn in ein »jugendliches Meer« wirft (287), so spielt diese Flutmetaphorik in doppelter Hinsicht auf Fausts »Zeichentrinken«52 an. Bei der Makrokosmosvision heißt es: »Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick / Auf einmal mir durch alle meine Sinnen! / Ich fühle junges, heil'ges Lebensglück / Neuglühend mir durch Nerv' und Adern rinnen« (V. 430-433). Und die Zeichenwirkung des Erdgeistes offenbart sich ihm als »Lebensfluten« (V. 501), als »ewiges Meer« (V. 505). Der Äquivokationen und Analogien ließen sich noch zahlreiche weitere nennen. Die angeführten Beispiele mögen indes genügen, um deutlich zu machen, daß beide Texte in einem innigen Korrespondenzverhältnis stehen. Erst auf der Grundlage dieser Einsicht lassen sich die Spezifika des Hofmannsthalschen Dramas näher bestimmen. Die Frage lautet: Warum sind Sprachduktus und Problemstellung von Der Tor und der Tod - eines zweifellos zeitgemäßen Stücks - derart nah an ein so überladenes Literaturerbe wie den Eingangsmonolog des Faust angelehnt? Welche Konturierung für den dramatischen Kon52
So Friedrich Kittler: Aufschreibsysteme. Anm. 10 irrtümlich beruft.
München 1987, S. 13, auf den sich Steiner in
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flikt seines modernen Helden und dessen Lösung durfte Hofmannsthal von dieser Reminiszenz erwarten, die er einerseits unmißverstänlich hervorkehrt und andererseits doch in einen derart eigensinnigen Handlungskontext einarbeitet, daß sie von vielen Interpreten für marginal gehalten werden kann? Um die Antwort in einer knappen Formel vorwegzunehmen: Hofmannsthal beglaubigt den Erinnerungsprozeß Claudios durch die Poetik einer transformatorischen Intertextualität, die den zum Zitat geronnenen Phänotext durch Rückverweis auf seinen latenten Genotext reanimiert. Dies bedarf freilich der Erläuterung. Die Unterscheidung zwischen dem Phänotext der sichtbaren Aussagen und dem Genotext strukturierender Syntagmen geht ebenso wie der Begriff der Intertexutalität auf Julia Kristeva zurück.53 Renate Lachmann hat diese Terminologie für die Analyse der Funktion literarischer Erinnerungstechniken fruchtbar gemacht. Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung einer latenten Kontinuität zwischen den Gedächtnisarchitekturen der antiken Mnemotechnik mit ihrem Prinzip der loci et imagines und der Struktur literarischer Texte: »So wie der Text in das Gedächtnistheater der Kultur als in einen Außenraum eintritt, entwirft er dieses Theater noch einmal, indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt.« Durch den Medienwechsel findet freilich eine Transformation des adaptierten Modells statt. Die nun von literarischen Tropen eingenommene Stelle der imagines entbindet diese von ihrer topographischen Anordnung; ihre Beziehungen untereinander sind nicht mehr nur als explizit gespeichertes Wissen, sondern zugleich als implizites, dem Assoziationsprozeß der Lektüre übereignetes Wissen präsent. In diesem Spannungsfeld, im »Raum zwischen den Texten«, entfaltet sich nach Lachmann der »eigentliche Gedächtnisraum« der Literatur.54 Dabei unterscheidet sie drei Modelle der Intertextualität: Partizipation, Tropik und Transformation.55 Zweifellos lassen sich alle drei Modelle in Der Tor und der Tod wiederfinden. Die partizipierende Wiederholung und Nachahmung der vergangenen Texte liegt ebenso vor wie der tropische »Kampf gegen die sich in den eigenen Text notwendig einschreibenden fremden Texte«.56 Insbesondere aber ist Hofmannsthals Drama, das seinen Helden in einem »Übermaß geträumten Fühlens« zum erinnernden Erwachen bringt, ein hervorragendes Beispiel einer intertextuellen Transformation des mnemonischen Gedächtnisraums. Mit der Fülle seiner literarischen Verweise, die stets implizit bleiben, erfüllt es Lachmanns Kriterium einer »über Distanz, Souveränität und zugleich usurpierende Gesten sich vollziehende [n] Aneignung des fremden Textes, die diesen verbirgt, verschleiert, mit ihm spielt, durch komplizierte Verfahren unkenntlich macht, 53
Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt/M. 1978, S. 94-97. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt/M. 1990, S. 35. 55 Ebd.,S.38ff. 56 Ebd., S. 39. 54
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respektlos umpolt, viele Texte mischt«.57 Es bedarf indessen einer genaueren Analyse, um die Spezifik der Hofmannsthalschen Reanimationsbewegung zu verstehen. Claudios Konflikt spannt sich auf zwischen den beiden in der eingangs erwähnten >SchrifttumsFaustSpur< erkennen, wie die Platoniker sagen, ihre »entfernte Wirkung« - in den Worten der Peripatetiker, ihre >Hülle< - im Sinne der Kabbalisten, ihre >Rückenansicht< - nach der Lehre der Talmudisten oder - mit den Apokalyptikern zu reden - nur ihr >SpiegelbildSchattenrißRätselSchrifttumsWeltanschauungsliteratur< verstehe ich ein Korpus von Texten, die den expliziten Anspruch erheben, die >Weltanschauung< des Verfassers argumentativ darzustellen. In aller Regel verbinden sich dabei breite Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen. Allem Anschein nach hat der Begriff >Weltanschauung< sein bestes Ansehen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo er zum Schlüsselwort der >Intellektuellendiskurse< aufsteigt und demgemäß in ganz unterschiedlichen Wissenskontexten und Textsorten auftaucht.1 Zur Begriffsgeschichte (>Welt< und Komposita) vgl. allgemein Hermann Braun: Welt. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Bd.7. Stuttgart 1992, S.433-510. Braun notiert die Inflationierung des Begriffs im späten 19. Jahrhundert und bestimmt zutreffend, aber passager dessen Bedeutung. Er meine die private Stellungnahme zu den allgemeinen Lebensfragen, halte aber trotz der damit gegebenen Subjektivierung und Pluralisierung am latenten Anspruch auf allgemeine Geltung fest (vgl. S. 439). Die Frage, wie Texte des 19. Jahrhunderts mit dieser Aporie umgehen, ist damit zwar vorbereitet, aber kaum gestellt und nicht beantwortet. Die Bedeutung, die >Weltanschauung< nach 1850 angenommen hat, darf nicht mit dem Gebrauch des Begriffs im deutschen Idealismus verwechselt werden. Der erste Beleg findet sich in Kants Kritik der Urteilskraft und zwar in der »Analytik des Erhabenen« (KdU §26). In der >Weltanschauung< wird das »Unendliche der Sinnenwelt [...] unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt«, der »durch Zahlenbegriffe nie ganz gedacht werden kann«. Voraussetzung für diese Operation ist ein »Vermögen des Gemüts, das selbst übersinnlich ist« und »dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: I.K.: Kritik der Urteilskraft und Naturphilosophische Schriften, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1957 [= Werke V], S. 233-620, hier S. 341). Die weitere Geschichte des Begriffs im nachkantischen Idealismus braucht hier nicht verfolgt zu werden (vgl. dazu Braun, S. 471^77). Entscheidend ist, daß das Wort transzendentale Vermögen der welterzeugenden Subjektivität, nicht aber die in psychischen Besonderheiten beruhenden Fähigkeiten eines Individuums bezeichnet und nichts mit einer Menge von zusammenhängenden Meinungen über die letzten Fragen< zu tun hat. Trotz der scharfen Differenz mag es Zusammenhänge geben. Blumenbergs Vermutung, die Karriere des Begriffs im 19. Jahrhundert beruhe darauf, daß er weder durch die Anschauung noch durch begriffliche Folgerungen einlösbar sei und deshalb für intellektuelle Hochstapelei anfällig mache, hat manches für sich (vgl. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt/M. 1986, S. 9). Ich möchte hier diesem Hinweis nicht weiter nachgehen, weil mir die Fragen nach dem Wissensbedarf, der die >Hochstapeleien< provoziert hat, und nach den Texten, mit denen sie plausibilisiert werden, wichtiger erscheint als die Vorgeschichten des
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In dieser Zeit produzieren prominente, auch fachwissenschaftlich anspruchsvolle Autoren wie zum Beispiel Gustav Theodor Fechner, David Friedrich Strauß, Ernst Haeckel, Wilhelm Bölsche oder Otto Weininger Weltanschauungstexte, die hohe Auflagen erreichen und vom Laienpublikum ebenso rezipiert werden wie vom akademischen Establishment. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hingegen sinkt der Begriff, wie seine exzessive Verwendung im Schrifttum des Nationalsozialismus zeigt,2 in den Sprachgebrauch der Pseudointellektuellen und Halbgebildeten ab.3 Die historisch fixierbare Konjunktur des Begriffs und der Sache rechtfertigt eine Untersuchung, die dem Status der >Weltanschauung< im Wissenssystem gerade dieser Zeit gilt. Dabei ergibt sich, wie bei aller Ideen- oder Denkgeschichte, die soziologische Frage nach den gesellschaftlichen Strukturen, die den offenbar immensen gesellschaftlichen Bedarf an solchen Texten plausibel machen können. Die historische Rekonstruktion wird auf eine wissenschaftstheoretische Analyse des Konzepts >Weltanschauung< angewiesen sein. Steht doch zu vermuten, daß die Vermengung der divergenten >Diskurse< zu Kompatibilitätsproblemen und Widersprüchen führen wird. Die Bestimmung solcher >BrücheWeltanschauung< innerhalb der Rationalitätskriterien und Ideologien des 19. Jahrhunderts. Die Verquickung der >Disdabei verwendeten semantischen Materials. Es versteht sich von selbst, daß der Weltanschauungsdiskurs auch als philosophisch unreflektierter Beitrag zur Explikation eines >kosmologischen< oder >existentiellen< Weltbegriffes gelesen werden kann oder sich >irgendwie< und unausgesprochen um die Frage bewegt, ob das All des Seienden (Welt) Objekt der Erkenntnis oder Idee zur Verknüpfung von Begriffen sei. Auch dieser Aspekt sei vernachlässigt, weil sich das historisch doch wohl hochrelevante Phänomen nicht erfassen läßt, wenn es primär als defizitäre Hochphilosophie< behandelt wird. 1 Neben Hitlers Mein Kampf"vgl. als >intellektuelles< Beispiel: Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. 59.60. Aufl. München 1935. Als >populäre< Darstellung der >Weltanschauung< vgl. Adolf Hitler. Bilder aus dem Leben des Führers. Hamburg-Bahrenfeld 1935. 3 Das Verschwinden des diskreditierten und antiquierten Begriffes, wer würde heute noch von >seiner Weltanschauung< sprechen, muß freilich nicht ausschließen, daß die Sache selbst unter anderem Namen weiterlebt. Ich vermute, daß beispielsweise in der ökologischen oder feministischen Literatur der Gegenwart Nachfolgekonzepte der >Weltanschauungsliteratur< auszumachen sind. So erscheinen in den einschlägigen populären Taschenbuchreihen autobiographische Schriften von Frauen, die nicht den >ganzen Lebensgang< zu ihrem Gegenstand haben, sondern einen Emanzipationsprozeß, der in eine feministische >Theorie< (mit tiefenpsychologischen, historischen, soziologischen usw. Annahmen) mündet und diese durch die Erfahrung bestätigt. Mehr expositorisch angelegte Texte appellieren wiederum an die eigenen Erfahrungen der Leserinnen und malen lebensweltliche Szenen aus, die im konkreten Bild das Allgemeine der patriarchalischen Gesellschaft erscheinen lassen - daß dies alles Merkmale der Weltanschauungsliteratur sind, wird weiter unten noch zu zeigen sein. Beim Vergleich mit Schriften des 19. Jahrhunderts müßten sich freilich auch strukturelle und funktionale Differenzen feststellen lassen. Dies alles kann hier nicht weiter verfolgt werden.
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kurse< wirft aber auch die genuin textwissenschaftliche Frage nach den Schreibverfahren auf, mit denen inhomogene Wissensmaterialien homogenisiert werden und die >wüste Kombinatorik< mit dem Schein der Plausibilität ausgestattet wird. Hier wird die >Anfangsvermutung< gelten dürfen, daß sich die >Weltanschauungsliteratur< trotz sachlicher Divergenzen und trotz unterschiedlicher ideologischer Ausrichtungen und intellektueller Standards eines relativ konstanten Texttyps bedient, der die argumentative Kaschierung von >Brüchen< mit >literarischen< Mitteln stützt. Angesichts des Phänomens >Weltanschauung< erweisen sich ideengeschichtliche, wissenssoziologische, wissenschaftstheoretische und textanalytische Fragestellungen als interdependent. Damit ist ein interdisziplinäres Programm skizziert, dessen Ausführung über die Möglichkeiten eines einzelnen geht, zumal die Forschung kaum vorgearbeitet hat.4 Ich kann deshalb nur einige unvorgreifliche Erwägungen zum Konzept >Weltan4
Das Desinteresse, auf das das Korpus der >Weltanschauungsliteratur< stößt, ist nicht weiter verwunderlich, liegt es doch am Außenrand aller einschlägigen Fächer. Aus der Perspektive der Philosophie sind die Argumentationen trivial oder so offenkundig widersprüchlich, daß sie die kritische Auseinandersetzung nicht lohnen. Beispielsweise erhebt Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Frankfurt/M. 1983 den Anspruch, die historischen Verzeichnungen zu korrigieren, die für unsere Kenntnis des 19. Jahrhunderts durch die Konzentration auf die >großen Namen< entstanden sind, ignoriert aber das Phänomen Weltanschauung fast ganz. Der Wissenschaftsgeschichte, die sich an Entdeckungen und Innovationen orientiert, erscheinen die einschlägigen Werke als eher abstruse Nebenarbeiten mehr oder weniger verdienstvoller Forscher, für die Literaturwissenschaft gehören sie nicht zur >schönen Literatur< oder auch nur zu den Paratexten, die die literarische Produktion begleiten. Für >gender studies< gibt es ergiebigere Quellen. Dies schließt nicht aus, daß einzelnen Autoren und Ideenkomplexen (etwa dem Darwinismus, Weiningers Antifeminismus und Antisemitismus, Hitlers >WeltanschauungWeltanschauung< aus der Fülle disparater Quellen erarbeiten würde, und eine bibliographische Erfassung der Weltanschauungstexte. Innovativ ist hingegen Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, hg. von Volker Drehsen und Walter Sparn. Berlin 1996. Die Publikation der Forschergruppe bestimmt die Weltanschauungsdiskussion zutreffend, aber allgemein als Krisenphänomen, verliert sich dann aber doch wieder rasch in Einzelstudien, die das Gesamtphänomen >Weltanschauung< aus dem Blick verlieren. Für die Bestimmung des Texttyps habe ich keine Vorarbeiten ermitteln können, doch sind die Untersuchungen zur Literatur des Monismus anregend. Vgl. Walter Gebhard: »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1984 (= Hermaea 47), Wolfram Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung im 19. Jahrhundert. Studien zu Wilhelm Bölsche. Würzburg 1993 (= Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 99), Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende. Tübingen 1993 (= Studien zur deutschen Literatur 125), Werner Michler: Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859-1914. Wien u.a. 1999 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen 2). Freilich ist bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine Reihe von Analysen entstanden (prominente Namen sind Dilthey und Jaspers), die die Beunruhigung über die neue Pluralität der Weltanschauungen aufzuarbeiten suchen und des-
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schauungWeltanschauung< Der einschlägige Artikel des Grimmschen Wörterbuchs läßt einige Rückschlüsse auf die historische Semantik des Begriffs > Weltanschauung< zu, da die Explikation aus wissenschaftlichen und philosophischen Texten verschiedener Provenienz kondensiert ist. >Weltanschauung< ist zunächst vom >Weltbild< unterschieden, unter diesem verstehe man »die Zusammenfassung und gedankliche Verarbeitung der ergebnisse der naturwissenschaften zu einer wissenschaftlichen (oder auch naturphilosophischen) gesamtschau«, die »Weltanschauung überschreitet dagegen wesentlich die grenzen der einzelwissenschaften, sie ist eine wertende Stellungnahme zum ganzen der weit und schliezt darum eine antwort auf die letzten fragen nach Ursprung, sinn und ziel der weit ein«.5 Auffällig ist die Betonung der Naturwissenschaften, deren Differenzierung in hochspezialisierte Einzeldisziplinen stillschweigend vorausgesetzt ist. Die Erarbeitung eines >Weltbildes< ist eine synthetische Leistung, die eben diese Spezialisierung ausgleicht, indem sie die >Welt< oder das >Weltsegment< rekonstruiert, das durch eine Wissenschaft entworfen wird, und darin die Ergebnisse der Einzeldisziplinen einordnet. In diesem Sinne könnte man beispielsweise von einem >Weltbild< der klassischen Mechanik sprechen, das >Welt< als System von gesetzmäßig bewegten Massenpunkten im unendlichen, dreidimensionalen Raum konzipiert. Die >Weltanschauung< überbietet diese Synthese, da sie Weltbilder für eine Lösung der traditionell >letzten Fragen< hin funktionalisiert, etwa, um im Beispiel zu bleiben, entscheidet, ob das >Weltbild< der klassischen Mechanik eine zureichende Beschreibung der >ganzen Welt< gibt und somit zum mechanistischen Materialismus weitergerechnet werden kann oder ob nur eine Beschreibung der unbelebten Materie erreicht ist. Da das Entwerfen einer >Weltanschauung< auch als wertender Akt gedacht ist, verbinden sich mit der Theorie Handlungsanweisungen im Sinne der praktischen Philosophie. Der >Weltanschauung< werden damit Merkmale zugeschrieben, die in der europäischen Tradition dem großen philosophischen System oder einer theologisch und metaphysisch elaborierten Religion zukommen. >Weltanschauungen< haben mit philosophischen Systemen gemeinsam, daß sie, zumindest ihrem Selbstverständnis nach, ihre Aussagen hierarchisieren und die Mannigfaltigkeit des in ihnen enthaltenen Wissens durch eine leitende Idee halb mehr zum Phänomen selbst als zu dessen Erforschung gehören. Darauf ist später noch einzugehen. 5 »Weltanschauung«. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 14. Bd. I. Abt., 1. Teil. Leipzig 1955, Sp. 1529-1538, hier Sp. 1532.
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organisieren. Sie verfügen, wie die für die Weltanschauungsliteratur so überaus anregende Philosophie Schopenhauers, über einen >einzigen GedankenWeltanschauung< im emphatischen Sinne meint demgemäß gerade diese fundierende Perspektive, von der aus Wissensmaterial gedeutet wird. So definiert Freud: »Ich meine also, eine Weltanschauung ist eine intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in der demnach keine Frage offen bleibt und alles, was unser Interesse hat, seinen bestimmten Platz findet.«7 Nach Otto Weininger bedarf die Erörterung von Fragestellungen, die »mit allen tiefsten Rätseln des Daseins im Zusammenhange« stehen, der »sicheren Führung einer Weltanschauung«, um »praktisch oder theoretisch, moralisch oder metaphysisch« aufgelöst werden zu können. Eine so verstandene »Weltanschauung ist an sich produktiv«, weil »alle besondere Einsicht von tieferer Wahrheit durch sie erst hervorgetrieben« wird, sie kann aber nicht »aus einer noch so großen Summe speziellen Wissens synthetisch erzeugt werden«.8 Die Weltanschauung entspringt einem kreativen Akt. Dies hat zur Konsequenz, daß die Genesis der übergeordneten Annahme< mehr oder weniger offen auf ein Subjekt zurückgeführt und mit dessen individueller Beschaffenheit erklärt wird. Nach Wilhelm Dilthey kann die scheinbar grenzenlose Mannigfaltigkeit der philosophischen Meinungen durch das Verfahren des historischen Vergleichs nach drei Grundtypen geordnet werden (Naturalismus, Idealismus der Freiheit, objektiver Idealismus). Die Entscheidung des philosophierenden Subjekts für einen der drei logisch möglichen Typen ist nicht Resultat des Denkens, sondern eines dem Denken vorausgehenden Prozesses, der im >Leben selbstLebenserfahrung< und in der >Stellung zum Lebensproblem< gegründet ist und der durch die philosophische Theoriebildung gewissermaßen rationalisiert wird.9 Dilthey verzichtet auf die psychologische Erklärung solcher Basisentscheidungen, da die Wege ihrer Bildung unbekannt seien, und wendet sich statt dessen einem Überblick über die historische Variabilität der Typen 6
Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. 1. Bd., hg. von Arthur Hübscher. Wiesbaden 1965, S. VII-VIII (= Sämmtliche Werke Bd.2). 7 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: S.F.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge, Frankfurt/M. 1969 (= Studienausgabe Bd.l), S. 586. 8 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. 25. unv. Aufl. Wien u. Leipzig 1923, S. VIII. 9 Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen. In: Weltanschauung, Philosophie und Religion, hg. v. Max Frischeisen-Köhler. Berlin 1911, S.3-51, hier S.7-16. Übrigens kommt die Psychologisierung der Weltanschauung ebenfalls zur Annahme einer leitenden Idee. So läßt sich für Dilthey ein metaphysisches System als rationale Ausarbeitung einer >Intuition< bestimmen, die eins ist mit der typischen Lebensverfassung< und dem >Charakter< seines Schöpfers (ebd., S. 2829).
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zu.10 Spätere Autoren suchen diese Lücke zu schließen, wobei schon ein kursorischer Überblick über die Erklärungsversuche die bunte Vielfalt der wissenschaftlichen Konzepte Revue passieren läßt. Für Otto Weininger ist die Wahl des Weltanschauungstypus vom individuellen Mischungsverhältnis der männlichen und weiblichen Charakteranteile anhängig. Der Idealismus der Freiheit in der Terminologie Diltheys ist exquisit männlich, während die Neigung zu Empirismus, Positivismus und Hedonismus (der >Naturalismus< Diltheys) auf einen femininen Charakter schließen läßt.11 Für Karl Jaspers gründen Weltanschauungen in persönlichen Einstellungen, die die verstehende Psychologie nachvollziehen kann,12 während bei Carl Gustav Jung die persönliche Weltanschauung die Vollendung der Individuation anzeigt.13 Neben solchen Spekulationen über die Psyche von Individuen stehen Zuschreibungen von Weltanschauungen an Kollektive. Nach David Friedrich Strauß kommt der >neue Glaube< der stillen Gemeinde der Aufgeklärten zu, die geradezu zu einer Kirche ohne Kult und Institutionalisierung stilisiert wird.14 Daneben steht die Berufung auf nationale Mentalitäten oder Rassen,15 während die entstehende Wissenssoziologie die Weltanschauungen an Schichten, gesellschaftliche Strukturen oder Klassen16 bindet. Diltheys Typologie liegt die Überzeugung zugrunde, daß sich die >übergeordneten Annahmen< nicht beweisen lassen und einander nicht widerlegen können.17 Konsequenz ist schon hier ein Relativismus, der durch die verschiedenen wissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Analysen des Weltanschauungsträgers weiter verschärft wird. Wenn >Weltanschauungen< nur noch Manifestationen individueller psychischer Dispositionen oder kollektiver Mentalitäten sind, dann sagen sie viel über ihre Träger, aber wenig über die >Welt< aus. Andererseits können Weltanschauungen ihre universale Deutungskompetenz nur beanspruchen, wenn ihre Sätze allgemeingültig sind. Bezeichnend für diese Paradoxie ist, daß Weiningers epochemachende Weltanschauungsschrift als philosophische Dissertation eingereicht und approbiert wurde und damit dem wissenschaftlichen Diskurs zuzurechnen ist. Nun stehen die zitierten Stimmen, die das Skandalon der >bloßen Subjektivität offen aussprechen, am Ende mei10
Vgl. ebd., S. 31ff. Vgl. dazu auch Odo Marquard: Weltanschauungstypologie. Bemerkungen zu einer anthropologischen Denkform des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. In: O.M.: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Frankfurt/M. 1973, S. 107-121. " Weininger: Geschlecht (Anm.8), S. 190-204. 12 Vgl. Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. 6. Aufl. Berlin u.a. 1971. 13 Vgl. Jolande Jacobi: Die Psychologie von C. G. Jung. Eine Einführung in das Gesamtwerk, mit einem Geleitwort von C.G. Jung. Frankfurt/M. 1977, S. 134. 14 Vgl. David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. Bonn 1887, S. 2-4 (= Gesammelte Schriften 6). 15 Vgl. Houston Stewart Chamberlain: Arische Weltanschauung. Berlin 1905. 16 Vgl. Philosophisches Wörterbuch, hg. von Gerhart Klaus und Manfred Buhr, 2. Bd., 8. Aufl. Berlin 1972, vor allem die Artikel »Weltanschauung«, S. 1147-1149. und »Weltbild«, S. 1149. 17 Vgl. Dilthey: Die Typen der Weltanschauung (Anm.9), S. 3-6.
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nes Untersuchungszeitraums und markieren den Übergang von der Produktion von >Weltanschauungsliteratur< zu deren Analyse. Die Etablierung des Forschungsgegenstandes >Weltanschauung< läßt sich vor diesem Hintergrund als Symptom einer Krise deuten, die durch die Einsicht in die Subjektivität der einschlägigen Produktionen ausgelöst wurde. Dieser Verdacht ist freilich naheliegend und demgemäß auch schon in der älteren Diskussion unterschwellig präsent, wird aber in der >Wissenslatenz< gehalten. Der Subjektivismus darf nicht gewußt werden, wenn sich der Streit um die gültige Weltanschauung nicht selbst aufheben soll. Daß eine so aporetische Diskussion überhaupt geführt wurde, läßt einen so hohen Bedarf an >Weltanschauungswissen< vermuten, daß die >Gesellschaft< die Widersprüche der Theorie um seinetwillen ertragen hat. Die soziologische Plausibilisierung dieses Bedürfnisses, das zeitgenössische Stimmen als Sehnsucht nach einer >Weltanschauung< oder nach einer >neuen Religion< notieren,18 könnte die Wissensgeschichte an die Sozialgeschichte anschließen. Man wird prima facie annehmen dürfen, daß die Konjunktur der >Weltanschauung< eine Phase im Prozeß der Modernisierung markiert. Fortgeschritten moderne Gesellschaften zeichnen sich durch die Pluralität miteinander konkurrierender und einander ausschließender Meinungen aus. Zugleich ist die Übernahme von >Sinnangeboten< nicht mehr durch die soziale Position der Subjekte begrenzt.19 Die freie Verfügbarkeit hat wiederum zur Konsequenz, daß weltanschauliche Entscheidungen nur den Subjekten und ihrer jeweiligen Besonderheit zugerechnet werden können, die sich alle wechselseitig zu tolerieren haben. Die Entscheidung für eine Weltanschauung kann unter den Denkgewohnheiten des 19. Jahrhunderts nur als Niederschlag von Erfahrungen erklärt werden, die bei einem jeden anders ausfallen müssen. Diese genetische Betrachtungsweise läßt sich wiederum auf die Weltanschauungen von gesellschaftlichen Formationen und von ganzen Kulturen übertragen. Unter dieser Perspektive erweist sich, 18
Max Frischeisen-Köhler setzt in seiner »Einleitung« in Weltanschauung (Anm.9), S. IXXVIII, hier bes. S. IX das »Bemühen [...] um eine einheitliche Welt- und Lebensbetrachtung« als allgemein bekannt voraus. Die Zeit >ringe< darum, obwohl sie sich der Schwierigkeiten (Kritik der Metaphysik, Pluralität der philosophischen Systeme, historischer Relativismus) bewußt sei. Der Weltanschauungsdiskurs berührt sich hier mit der antimodernen Kulturkritik, die in der Regel auch eine >WeltanschauungKampfes< (ein Schlüsselwort) gedacht. Vgl. Wilhelm Schmidt: Der Kampf der Weltanschauungen. Berlin 1904. Ders.: Der Kampf um den Sinn des Lebens. Berlin 1907. Vgl. dazu auch Walter Müller-Seidel: Ästhetik und Ideologie des Kampfes. Ein Kapitel zur deutschen Literatur zwischen 1900 und 1933. In: Power and Spirit, hg. von Siegfried Jäkel. Turku 1993, S. 133152 (= Annales Universitatis Turkuensis B 199). Unter der Prämisse, daß Weltanschauungen Manifestationen von >Persönlichkeits-< oder >Kollektivsubstanzen< sind, bekommt der >Kampf der Weltanschauungen ein massives soziales Aggressionspotential, das vom akademischen Verbalradikalismus bis zum nationalsozialistischen Vernichtungsterror reichen kann. 22 Vgl. Strauß: Der alte und der neue Glaube (Anm. 14), S. 26-52 (zur historischen Bibelkritik) und S. 142-151 (zur teleologischen Naturbetrachtung). 21 Zur Apologie der Theologie vgl. bereits Uwe-K. Ketelsen: Die Naturpoesie der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung: alter Universalismus und neues Weltbild. Stuttgart 1974 (= Germanistische Abhandlungen 45). Zur Historisierung der christlichen Dogmatik schon bei Newton selbst vgl. Martin Mulsow: Orientalistik im Kontext der sozinianischen und deistischen Debatten um 1700. Spencer, Grell, Locke und Newton. In: Scientia Poetica 2 (1998), S. 27-57. Dies schließt freilich nicht aus, daß die Weltanschauungen, vor allem auf naturwissenschaftlicher Grundlage, physikotheologische Argumentationsfragmente beerben. Strauß selbst formt Darwins Theorie dergestalt um, daß 21
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Lücke, die der Zerfall des Christentums gelassen hat. Bezeichnend ist an dieser Herleitung der >Weltanschauung< aus dem Prozeß der Säkularisierung, daß nicht einfach die Naturwissenschaften die Welterklärungs- und Sinnstiftungskompetenz des Christentums übernehmen, sondern diese Rolle wieder einem >Glauben< zufällt, der den Wissenschaften erst noch aufhelfen muß und mit ihnen wohl kompatibel, aber nicht identisch ist. Die Argumentation legt zwei Folgerungen nahe: Im Bedürfnis nach einem Glauben deutet sich bei aller so entschieden vorgetragenen Wissenschaftsgläubigkeit eine Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften an, die eine deutliche Differenz zur Konstellation um 1850 markiert. Zugleich kann nach dem Abschied von der biblischen Offenbarung und der Ideologischen Naturbetrachtung der neue Glaube nur noch >bloß subjektiv< sein, eben weil sich die >Realien< aufgelöst haben, die ihn bezeugen. Strauß bestimmt denn auch mit einem Bezug auf Schleiermacher das Bleibende der Religion als Gefühl der Abhängigkeit vom Universum.24 Eben diese Verschränkung von Gefühl und Naturwissenschaft soll historisch ausgedeutet werden. Daß der rasante Fortschritt der Naturwissenschaften nicht nur über technische Innovationen die Lebensverhältnisse der europäischen Menschheit revolutioniert, sondern auch Probleme der Kosmologie, Biologie, Anthropologie und Psychologie gelöst hat, an denen sich Religion und Philosophie vergeblich versuchten, ist communis opinio der Zeit.25 Der Zusammenbruch der romantischen Naturspekulation erweckt, wie an Ludwig Büchners Kraft und Stoff zu zeigen ist, die Hoffnung, eine materialistisch-monistische Philosophie könne alle Phänomene der wirklichen Welt auf die gesetzmäßige Bewegung der Materie zurückführen, indem sie die »ebenso einfachen, als unvermeidlichen Consequenzen einer vorurteilslosen empirisch-naturphilosophischen Naturbetrachtung« zieht. Die Naturwissenschaft wird zur »Basis der Philosophie«, den philosophischen Generalisierungen der empirischen Erkenntnisse kommt dabei der Status der Evidenz zu.26 Eben dieser materialistische Reduktionismus wird, selbst wenn die Autoren am Wissenschaftsmaterialismus festhalten, rasch problematisch, weil er nicht den Rationalitätskriterien der harten experimentellen Forschung genügen kann. Deshalb erklärt der Materialist Emil Du Bois-Reymond in seiner legendären »Ignorabimus«-Rede die Frage nach dem Wesen von der Natur, wenn auch metaphorisch und mit aller Vorsicht, Merkmale zugeschrieben werden, die in der Tradition dem Schöpfergott zukommen (Wille, Bewußtsein, Intention). Ähnlich argumentiert Haeckel. 24 Vgl. Strauß: Der alte und der neue Glaube (Anm. 14) S. 93-98. 25 Eine umfangreiche Blütenlese ist leicht zu erstellen. Als typisch vgl. etwa Ernst Haeckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. In: E.H.: Gemeinverständliche Werke, Bd. 3. Leipzig und Berlin 1924. S. 1-424, hier S. 7-28. Ähnlich schon Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1856, S. VI-VII. An die Bestrebungen der Geisteswissenschaften allgemein, auf den >Triumphwagen< der Naturwissenschaften aufzusteigen, sei nur pauschal erinnert. 26 Vgl. Büchner: ebd., S. VI und S. VIII.
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Materie und Kraft, nach dem Ursprung der Bewegung und nach der Entstehung der einfachen Sinnesempfindungen und des Bewußtseins für gänzlich transzendent und unlösbar.27 Die Begrenzung der Tragweite naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zieht deren Fragmentierung nach sich. Gerade die problematischen Übergriffe auf die Psychologie, Anthropologie oder Kosmologie haben bei den Vulgärmaterialisten die Lücken zwischen den wohl bestätigten Wissensbeständen gefüllt und die Komplettierung des >Weltbildes< gefördert. Demgegenüber zeichnet sich am Ende des Jahrhunderts die Differenzierung in Spezialdisziplinen ab, deren Ergebnisse untereinander nicht anschließbar sind.28 Ein solch unabgeschlossenes und bei der Klärung der >letzten Fragen< enttäuschendes Wissen läßt wiederum, wie schon die Zeitgenossen beklagen, menschliche Trostbedürfnisse unbefriedigt.29 Es liegt nahe, die Lücken der Naturwissenschaften mit Relikten der philosophischen Tradition aufzufüllen, zumal sich >idealistische< oder allgemein >metaphysische< Konzepte am Ausgang des philosophischen Zeitalters auf die Erfahrung zu gründen suchen und sich den Wissenschaftsstandards annähern. So konstatiert etwa Rudolf Haym 1857 die Diskreditierung aller philosophischen Deduktion aus Begriffen und den Zusammenbruch des allmächtigen Hegeischen Systems. Ergebnis dieses Umschlags sei die Hinwendung zur Untersuchung der wirklichen Welt< und damit die Emanzipation der empirischen Wissenschaften von den Vorgaben der systematischen Philosophie. Die Umorientierung soll aber gerade nicht in den Wissenschaftsmaterialismus führen, sondern zu einer Neubegründung des Idealismus. Die »Wahrheit und Wirklichkeit der göttlichen Ideale« lasse sich nicht spekulativ begründen, sondern sei aus der Empirie selbst abzulesen. Dafür ist die Geschichte besonders geeignet, weil in ihrem »ewig lebendigen Prozeß des Menschengeistes« das wahrhaft Ideale am besten faßbar 27
Vgl. Emil Du Bois-Reymond: Über die Grenzen der Naturerkenntnis. In: E.B.-R.: Vorträge über Philosophie und Gesellschaft, hg. von Siegfried Wollgast. Berlin 1974, S. 54-77. Zu denken ist auch an die von Rudolf Virchow in den siebziger Jahren vollzogene Korrektur seiner früheren Auffassung, alle körperlichen und geistigen Vorgänge im menschlichen Organismus könnten auf die Mechanik des Zellenlebens zurückgeführt werden. 28 Zur > Ausdifferenzierung< vgl. Rudolf Stichweh: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890. Frankfurt/M. 1984, zu den politischen Funktionen und Implikationen auch Pierangelo Schiera: Laboratorium der bürgerlichen Welt. Deutsche Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1992, als instruktive Darstellung der Einzeldisziplinen vgl. Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im 79. Jahrhundert. Acht Gespräche der Georg-Agricola-Gesellschaft zur Förderung der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, hg. von Wilhelm Treue und Kurt Mauel. 2 Teile. Göttingen 1976 (= Studien zu Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft im Neunzehnten Jahrhundert 2/3), zur >Stimmung< der Wissenschaftler vgl. Jochen Zwick: Akademische Erinnerungskultur, Wissenschaftsgeschichte und Rhetorik im 19. Jahrhundert. Über Emil Du Bois-Reymond als Festredner. In: Scientia Poetica l (1997), S. 120-139. M Zu den beiden letzten Aspekten vgl. allgemein Hamacher: Wissenschaft, Literatur und Sinnfindung (Anm 4), bes. S. 29, S. 102-103 u. S. 176. Zum >Sinndefizit< vgl. die desillusionierte Geburtstags- und Lebensbilanz des Protagonisten in Wilhelm Bölsche: Die Mittagsgöttin. 2 Bde. 4. Aufl. Jena 1910, hier Bd. l, S.3-11.
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sei.30 Die unterschiedlichen idealistischen Positionen lassen sich geradezu nach den elementaren Erfahrungen klassifizieren, auf die sie sich berufen und die sie mit Theoriefragmenten der alten Systeme anreichern. Neben der Schau des Höheren in der Geschichte steht die Selbsterfahrung eines auf absolute Werte verpflichteten und deshalb nicht materialistisch reduzierbaren Gewissens,31 die individuelle Einheit des Denkens und Empfindens32 oder die Lebendigkeit des organischen Gebildes.33 Die unterschiedlichen Ansätze haben wiederum unterschiedliche monistische oder dualistische Konsequenzen. Jenseits solcher Divergenzen etabliert die These, das in der Erfahrung Gegebene enthalte Zeichen oder Hinweise auf ein Höheres, das solchermaßen fast schon in die Wahrnehmung gebracht werden kann, eine erfolgreiche Denkfigur, die Weininger schlüssig formuliert hat: 30
Vgl. Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwickelung, Wesen und Werth der Hegeischen Philosophie. Berlin 1857, S. 12-13. 31 So Paul Ernst: Das Drama und die moderne Weltanschauung. In: P.E.: Der Weg zur Form. Abhandlungen über die Technik vornehmlich der Tragödie und Novelle. München 1928, S. 30-48. Z.B.: »Nicht in der Einsicht liegt unser Wesen, sondern darin, daß wir Werte erblikken, die uns das Herz brennen machen. Sittlich kann nur der Mensch sein, und deshalb liegt alle menschliche Größe in der Sittlichkeit« (S. 44) oder: »Ich selbst glaube an ein jenseitiges Ich, von dem unser diesseitiges Ich nur ein schwaches Bild ist« (S. 40). Oder vgl.: »Das, was einem Menschen, einem Manne, ein aufrichtiges Verhältnis zur Idee der Wahrheit ermöglicht, und was ihn deshalb einzig an der Lüge zu hindern imstande ist, das kann nur etwas von aller Zeit Unabhängiges, durchaus Unveränderliches sein, welches die alte Tat im neuen Augenblick ganz ebenso als wirklich setzt wie im früheren, weil es es selbst geblieben ist, an der Tatsache, daß es die Handlung so vollzogen hat, nichts ändern läßt und nicht rütteln will; es kann nur dasselbe sein, auf das alle diskreten Erlebnisse bezogen werden, und das so ein kontinuierliches Dasein erst schafft: es ist eben dasselbe, das zum Gefühl der Verantwortlichkeit für die eigenen Taten drängt und den Menschen alle Handlungen, die jüngsten wie die ältesten, verantworten zu können trachten läßt, das zum Phänomen der Reue, zum Schuldbewußtsein führt, das heißt zur Zurechnung vergangener Dinge an ein ewig Selbes und darum auch Gegenwärtiges, zu einer Zurechnung, die in viel größerer Freiheit und Weite geschieht, als durch das öffentliche Urteil und die Normen der Gesellschaft je geschehen könnte [...]. Was ist nun jenes über Zeit und Veränderung Erhabene, jenes >Zentrum der Apperzeption