Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter: Wissen - Literatur - Mythos 9783050061221, 9783050052069

This volume is a collection of articles on the genesis of cultural traditions in the Middle Ages. A focus is placed on t

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German Pages 329 [332] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Europäische Kontinuitäten
Wissen und Literatur im Kontext der europäischen Tradition (Einleitung)
Kulturtransfer und Identitätsbildung. Mit einen Ausblick auf die Lyrik Reinmars
Genealogische Strukturprinzipien als Schnittstelle zwischen Antike und Mittelalter. Dynastische Tableaus in Vergils ›Aeneis‹, dem ›Roman d’Eneas‹ und Veldekes ›Eneasroman‹
Dû bist mîn, ich bin dîn(MF 3,1) – ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse
Verborgen schatz und wistuom. Transformationen gelehrten Wissens in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin
Kontinuitäten eines »Klassikers«. Zur spätmittelalterlichen deutschen Rezeption der ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius
Humanismus und Volkssprache. Renaissancedichtung am Heidelberger Hof zur Zeit Friedrichs II. (1544–1556)
Biblische Tragödie. Die Enthauptung Johannes des Täufers in den Dramen Johannes Aals, Hans Sachs’ und Simon Gerengels
Transformationen europäischer Mythen
Mythos und europäische Tradition (Einleitung)
Stadtgründungsmythos und Frühhumanismus. Wandel und Kontinuität im Geschichtsbewusstsein des 15. Jahrhunderts
Caesar als Integrationsfigur im Mittelalter?
Das Schlaraffenland – ein europäischer Mythos? Zur historischen Semantik einer literarischen »Dekonstruktion«
Zwischen Bedeutsamkeit und Bedeutung. Zum Status des Mythischen im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven
Die Konstruktion kulturellen Erbes. Zur Aufnahme des ›Nibelungenliedes‹ in das Weltdokumentenerbe der UNESCO
Personen- und Werkregister
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Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter: Wissen - Literatur - Mythos
 9783050061221, 9783050052069

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Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter

Manfred Eikelmann, Udo Friedrich (Hg.)

Praktiken europäischer Traditionsbildung im Mittelalter Wissen – Literatur – Mythos unter Mitarbeit von Esther Laufer und Michael Schwarzbach

Akademie Verlag

Titelbild: Jupiter und Europa. In: Franz von Retz, ›Defensiorum virginitatis beatae Mariae‹. Forschungsbibliothek Gotha, Xyl 8. Einbandkonzept: hauser lacour Einbandgestaltung: pro:design, Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-005206-9 978-3-05-006122-1

 

Inhalt

Vorwort .....................................................................................................................

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Europäische Kontinuitäten Wissen und Literatur im Kontext der europäischen Tradition (Einleitung) von Manfred Eikelmann (Bochum) ...........................................................................

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Kulturtransfer und Identitätsbildung. Mit einen Ausblick auf die Lyrik Reinmars von Ricarda Bauschke (Düsseldorf) .........................................................................

29

Genealogische Strukturprinzipien als Schnittstelle zwischen Antike und Mittelalter. Dynastische Tableaus in Vergils ›Aeneis‹, dem ›Roman d’Eneas‹ und Veldekes ›Eneasroman‹ von Timo Reuvekamp-Felber (Kiel) ..........................................................................

57

Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1) – ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse von Annette Gerok-Reiter (Tübingen) .......................................................................

75

Verborgen schatz und wistuom. Transformationen gelehrten Wissens in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin von Silvia Reuvekamp (Düsseldorf) ..........................................................................

99

Kontinuitäten eines »Klassikers«. Zur spätmittelalterlichen deutschen Rezeption der ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius von Bernd Bastert (Bochum) .................................................................................... 117 Humanismus und Volkssprache. Renaissancedichtung am Heidelberger Hof zur Zeit Friedrichs II. (1544–1556) von Anna Kathrin Bleuler (Salzburg) ....................................................................... 141

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Inhalt

Biblische Tragödie. Die Enthauptung Johannes des Täufers in den Dramen Johannes Aals, Hans Sachs’ und Simon Gerengels von Regina Toepfer (Frankfurt am Main) ................................................................ 161

Transformationen europäischer Mythen Mythos und europäische Tradition (Einleitung) von Udo Friedrich (Köln) ........................................................................................ 187 Stadtgründungsmythos und Frühhumanismus. Wandel und Kontinuität im Geschichtsbewusstsein des 15. Jahrhunderts von Andreas Hammer (Köln) ................................................................................... 205 Caesar als Integrationsfigur im Mittelalter? von Almut Suerbaum (Oxford) ................................................................................. 229 Das Schlaraffenland – ein europäischer Mythos? Zur historischen Semantik einer literarischen »Dekonstruktion« von Hans Rudolf Velten (Berlin) .............................................................................. 245 Zwischen Bedeutsamkeit und Bedeutung. Zum Status des Mythischen im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven von Ulrich Hoffmann (Münster) .............................................................................. 269 Die Konstruktion kulturellen Erbes. Zur Aufnahme des ›Nibelungenliedes‹ in das Weltdokumentenerbe der UNESCO von Elke Brüggen (Bonn) ......................................................................................... 303 Personen- und Werkregister ..................................................................................... 325

Vorwort

Der Prozess der Globalisierung und seine politischen, ökonomischen und medialen Dynamiken stellen Europa vor die Herausforderung, seinen geostrategischen Ort und sein kulturelles Selbstverständnis neu zu überdenken. Die bei allen Reibungsverlusten erfolgreichen europäischen Integrationsbemühungen der letzten Jahrzehnte, die vor allem Politik und Ökonomie betreffen, werden inzwischen von einem weitaus fragileren Prozess der sozialen und kulturellen Integration begleitet. Ob man den Geltungsverlust ehemals prägender und verbindender europäischer Ideen und Werthorizonte (Christentum / Latinität) beklagen muss, ist umstritten. Vielleicht eröffnet er aber auch die Chance, die Vorstellung eines einheitlichen christlichen Europa, wie sie seit der Neuzeit idealisierend auf die Epoche des Mittelalters projiziert wurde, grundsätzlich in Frage zu stellen und sich auf die Vielfalt und Komplexität von Kommunikationsprozessen zu besinnen, über die die Länder Europas seit je in Kontakt standen. Europäische Tradition in diesem Sinne orientiert sich nicht mehr an vermeintlich großen Leitideen, sondern an den konkreten kulturellen Austausch- und Transferprozessen, die ihre je eigene europäische Geschichte besitzen. Dass Identität, sei es individuelle oder kollektive, keine substantielle, statische Kategorie ist, sich vielmehr erst in Auseinandersetzung mit synchroner Differenz und in Verarbeitung diachroner Erfahrung dynamisch modelliert, lässt für die Frage nach der europäischen Identität neben der Förderung kultureller Kommunikation auch eine Neubesinnung auf geschichtliche Traditionslinien und die an ihnen ablesbaren Spielräume kultureller Verflechtung sinnvoll erscheinen. Mit dem Thema ›Deutsche Literatur und Sprache im europäischen Kontext‹ bot der Deutsche Germanistentag 2010 (Freiburg im Breisgau, 19. bis 22. September) Gelegenheit, aus mediävistischer Perspektive europäische Traditionslinien der deutschen Literatur des Mittelalters nachzuzeichnen. Leitend war dabei der Gedanke, dass deutsche Literatur und Sprache seit den Anfängen von ihrer europäischen Vernetzung leben und zu den frühen Medien des Transfers von Wissen aus der Gelehrtenkultur in laikale Rezeptionskontexte gehören. Weil auch der wechselseitige Austausch mit anderen europäischen Kulturen bis in das Mittelalter zurückreicht, ist es nicht abwegig, diese Epoche als europäisch zu bezeichnen.

Vorwort

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Der vorliegende Band ist ursprünglich aus Beiträgen zur Sektion ›Europäisches Erbe und interkultureller Transfer‹ hervorgegangen, die im Rahmen des Freiburger Germanistentages stattgefunden hat. Im Zuge der Planung des Bandes haben sich zudem mehrere jüngere Mediävistinnen und Mediävisten bereitgefunden, an der Diskussion seiner zugleich kultur- wie literaturwissenschaftlich ausgerichteten Thematik mitzuwirken und sie durch eigene Forschungen zu bereichern. Die Vielfalt der inhaltlichen Aspekte sowie die Intensität der methodologischen Diskussion, die sich ergeben haben, manifestieren sich in den Themen und Fragestellungen der Beiträge, die immer wieder auch über die disziplinären Grenzen des germanistischen Fachgesprächs hinausgehen. Der Dank der Herausgeber gilt zuerst den Beiträgern, die das komplexe Thema aus der Sicht ihrer jeweiligen Forschungsinteressen in den Blick genommen haben. Er gilt zugleich dem Deutschen Germanistenverband und namentlich Ina Karg (Göttingen), denen für die Förderung und Organisation der Rahmensektion ›Europäisches Erbe‹ zu danken ist. Auch Bibliotheken haben zum Gelingen des Bandes beigetragen und bereitwillig Digitalisate zur Verfügung gestellt. Die Forschungsbibliothek Gotha hat freundlicherweise den Abdruck des ›Europa‹-Holzschnitts aus der Inkunabel von Franz von Retz, ›Defensorium virginitatis beatae Mariae‹, Xyl 8, und die Bayerische Staatsbibliothek München den des Textbeginns der ›Consolatio Philosophiae‹ des Grüninger-Drucks von 1501, Res/2 A.lat.b. 34, sowie der Europakarte aus Sebastian Münsters ›Cosmographia‹, 2 Geo.u. 70, erlaubt. Die redaktionelle Arbeit lag weitgehend in den Händen von Esther Laufer (Bochum) und Michael Schwarzbach (Köln). Janine Westphal (Bochum) hat die Vorbereitung der Druckvorlagen hilfreich unterstützt. Bochum und Köln, im September 2013 Manfred Eikelmann

Udo Friedrich

Europäische Kontinuitäten

Wissen und Literatur im Kontext der europäischen Tradition (Einleitung) von Manfred Eikelmann

Tradition als Produkt kulturellen Handelns Mit den Begriffen ›Tradition‹ und ›Traditionsbildung‹ verbindet sich oftmals die Vorstellung einer rückwärtsgewandten, geradezu statischen Kultur, in der die Geltung von Gewissheiten, Wahrheiten und Normen durch den Rekurs auf überliefertes Wissen verbürgt wird. Als exemplarisch für traditionalistisches Verhalten, das an Überlieferung, Herkommen und Gewohnheit bewusst festhält und Widerstand gegen jede Veränderung leistet, werden noch heute auch die Gesellschaften des Mittelalters gesehen, wobei sie häufig als Gegenbild zu der »in der Neuzeit immer zunehmenden Akzeleration und Änderung aller Dinge«1 erscheinen. Wie wenig jedoch »das abendländische Mittelalter« zur Typik der in solchem Sinne »traditionsgeleiteten Kulturen« passt, hat der Historiker ARNO BORST klargestellt, der betont, dass sich das Mittelalter »auf die Stabilität einer einheitlichen Tradition nicht verlassen« konnte: Die Sehnsucht nach stabilisierenden Traditionen ist vor allem im Frühmittelalter groß. Aber mittelalterliche Überlieferungen sind schon im Frühmittelalter heterogen und widersprüchlich; auf sie kann man nicht bauen. Alle Lebenskreise müssen immer wieder in der kleinen Gemeinschaft und für den Augenblick, durch Konventionen entscheiden, welche Traditionen gelten sollen. Sie verstehen sich nie von selbst.2

Gerade wenn man Tradition nicht einfach als ›vorhanden‹ oder ›gewachsen‹ voraussetzt, ist andererseits doch nicht zu verkennen, wie zentral der immer neue Rekurs auf Tradition und Autoritäten früherer Zeiten im Mittelalter ist. Dies gilt nicht nur im Vergleich zu anderen Epochen und Kulturen, sondern auch, weil sich Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung der Menschen des Mittelalters tatsächlich stark an Überlieferung und tradiertem Wissen ausgerichtet haben. Zu denken ist nur an die autoritative Geltung

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MAX WEHRLI, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine Einführung, Stuttgart 1984, S. 95. ARNO BORST, Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979, S. 674. BORST setzt sich darin kritisch mit der Auffassung des Soziologen DAVID RIESMAN auseinander, wonach traditionsgeleitete Gesellschaften unterentwickelt sind.

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Manfred Eikelmann

der Bibel und ihre in allen Lebensbereichen greifbare Präsenz als »kultureller Text«3, der den Umgang mit der von Gott geschaffenen Welt orientiert und in mehrfacher Hinsicht – religiös, sozial, personal – identitätsstiftend wirkt. Selbst Verfasser bedeutender mittelalterlicher Werke nehmen in Anspruch, nur die Wahrheit ihrer Quellen wiederzugeben und sie allenfalls besser als ihre Vorgänger zur Geltung zu bringen. Allerdings hat demgegenüber die mediävistische Forschung in jüngerer Zeit das erhebliche Gestaltungs- und Erneuerungspotential erkannt, das die für das Mittelalter charakteristischen Formen des Verhaltens gegenüber tradiertem Wissen kennzeichnet, zum Beispiel in genealogischen Herkunftskonstruktionen4, in der Praxis der interpretatio christiana antiker Texte5 oder den verschiedenen Formen literarischer aemulatio6. Dabei hat sich nicht nur gezeigt, dass es verstärkt Übergangs- und Umbruchzeiten sind, in denen sich die Einstellungen zur Tradition wandeln und neue Geltungsmuster herausgebildet werden; vielmehr hat sich in methodischer Hinsicht geklärt, »daß es nicht darum gehen kann, schlicht Traditionsbrüche zu notieren, sondern daß die Aufgabe darin bestehen muß, die vielfältigen Möglichkeiten zu erkunden, nach denen sich Tradition und Innovation verschränken. Das Neue stellt sich immer wieder und auf mannigfache Weise im Alten dar, wobei es dieses bald mehr verwandelt und bald mehr unter wechselnden Aspekten darüber verfügt.«7 In den Blick zu nehmen ist daher das komplexe Verhältnis von ›alt‹ und ›neu‹, dem sich nur beikommen lässt, wenn man den ganz unterschiedlichen Aneignungs-, Rezeptions-, Abgrenzungs- und Weiterentwicklungsphänomenen im Spannungsfeld von Tradition und Innovation nachgeht. Unter dieser Perspektive meint ›Tradition‹ so viel wie die Weitergabe geistiger Inhalte und Kulturgüter durch die Zeiten.8 Dieses Verständnis, das seinen Ursprung und sein

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ALEIDA ASSMANN, Was sind kulturelle Texte?, in: Literaturkanon, Medienereignis, Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, hrsg. von ANDREAS POLTERMANN, Berlin 1995, S. 232–244, hier S. 237f. Vgl. den Beitrag von REUVEKAMP-FELBER; weiterhin BEATE KELLNER, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, bes. S. 104–127. Exemplarisch ist dafür die mittelalterliche deutsche Boethius-Rezeption; vgl. CHRISTINE HEHLE, Boethius in St. Gallen. Die Bearbeitung der ›Consolatio Philosophiae‹ durch Notker Teutonicus zwischen Tradition und Innovation (Münchener Texte und Untersuchungen 122), Tübingen 2002; Boethius Christianus? Transformationen der ›Consolatio Philosophiae‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von REINHOLD F. GLEI, NICOLA KAMINSKI, FRANZ LEBSANFT, Berlin/New York 2010. Vgl. zuletzt mit Blick auf Spätmittelalter und Frühneuzeit die Forschungsdiskussion bei JAN-DIRK MÜLLER, ULRICH PFISTERER, Der allgegenwärtige Wettstreit in den Künsten der Frühen Neuzeit, in: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620), hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER u.a. (Pluralisierung & Autorität 27), Berlin/Boston 2011, S. 1–32. Traditionswandel und Traditionsverhalten, hrsg. von WALTER HAUG, BURGHART WACHINGER (Fortuna vitrea 5), Tübingen 1991, S. V. Einen Überblick zu grundsätzlichen Aspekten geben RENATE LACHMANN, CAROLINE SCHRAMM, Tradition, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3 (2003), S. 660–663; speziell zur

Wissen und Literatur

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Modell in Übertragungshandlungen des römischen Rechts hat, schließt die doppelte Verwendung des Begriffs im Sinne von Überlieferungsvorgang (actus tradendi) und Überlieferungsinhalt (traditum) durchaus ein, es zielt jedoch primär auf die »Formen aktiver Herstellung von Kontinuität« und damit auf Prozesse des Tradierens, die garantieren, »daß Texte, Gedanken, Verhaltensformen, Werte durch die Zeit an nachfolgende Generationen weitergegeben werden.«9 Weil die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart in solchen Prozessen also nicht ›naturwüchsig vorhanden‹ ist oder ›wie von selbst entsteht‹, sondern erst gestiftet, hergestellt und bewahrt werden muss, sind Traditionen stets als Produkt sozialen und kulturellen Handelns zu begreifen.10 Bei einem kritischen Zugang ist daher gezielt zu fragen, unter welchen Bedingungen Tradition entsteht und sogar ›erfunden‹ wird, ob und wie sich in einer Kultur dabei neben offiziell kanonisierten auch abweichende Traditionen bilden. Nicht zuletzt gewinnen die Fragen nach den Medien und Trägern des Tradierungsvorgangs an Bedeutung, danach, in welcher Form die Prozesse der Weitergabe des Überlieferten verlaufen und inwiefern sie an bestimmte materielle Realisierungsformen, Akteure und Trägergruppen, Institutionen und Rezeptionszentren gebunden sind.

Europäisches Erbe: Kontinuitäten und Diskontinuitäten »Die literarische Tradition ist das Medium, in dem der europäische Geist sich seiner selbst über Jahrtausende versichert.«11 Im Zeichen dieses monumentalen Traditionsanspruchs hat es ERNST ROBERT CURTIUS in seinem 1948 erschienenen ›Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter‹ unternommen, überzeitliche kulturelle Kontinuität der Literatur der griechisch-lateinischen Antike an den europäischen Schriftkulturen der Spätantike und des Mittelalters und von da bis in die Neuzeit nachzuweisen. Der Versuch, »die Einheit dieser Tradition in Raum und Zeit mit neuen Methoden zu beleuchten«, so sagt er, sei

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Wort- und Begriffsgeschichte SIEGFRIED WIEDENHÖFER, Tradition, Traditionalismus, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6 (1990), S. 607–649, bes. S. 608–611. ALEIDA ASSMANN, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999, S. 63. Vgl. grundsätzlich dazu WILFRIED BARNER, Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung, in: Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke, hrsg. von GUNTER GRIMM, Stuttgart 1975, S. 85–100, 379–382. Dass die Analyse von Traditionen neben der Frage nach den Tradenten auch die Formen der medialen Übermittlung der tradierten Inhalte einschließt, stellt zwar keine grundsätzlich neue Einsicht dar, weil es in vielen Fällen die Beschaffenheit des Medium ist, die auch aus Sicht der Akteure die Weitergabe des Überkommenen garantiert (z.B. Schrift, Pergament/Papier); doch lassen sich bisherige Ansätze anhand neuerer mediologischer Ansätze weiterführen; vgl. RÉGIS DEBRAY, Einführung in die Mediologie, Bern/Stuttgart/Wien 2003, S. 129–162. Für den Hinweis auf DEBRAYs Arbeit danke ich CHRISTINA LECHTERMANN. ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 91978, S. 398.

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Manfred Eikelmann

»aus Sorge für die Bewahrung der westlichen Kultur« motiviert gewesen.12 Tradition bedeutet für CURTIUS daher Sicherung der kulturellen Kontinuität des europäischen Erbes, wie es historisch selbst »unter Barbaren- und Sarazenen-Stürmen in den Klöstern des frühen Mittelalters«13 gepflegt worden sei: Kontinuität! Sie trat uns in hundert Formen entgegen, die wir nicht rekapitulieren wollen. Sie vollzieht sich auf allen Stufen, vom Erlernen der Rudimente bis zum bewußten, beglückten Ergreifen eines Erbes; vom Zusammenstückeln eines Cento bis zu einer Meisterschaft des lateinischen Verses, die den antiken Mustern gleichkommt – es gibt mittelalterliche Gedichte, bei deren Datierung noch die Philologen des 19. Jahrhunderts um ein Jahrtausend geschwankt haben. […] Tradition kann systematisch und buchstäblich übermittelt werden, wie in der mittelalterlichen Schule. Die Rezeption kann imitativ sein, wie im 8. und 9. Jahrhundert; produktiv wie im 11. und 12. Sie kann auf unwilligen Widerstand stoßen (Florebat olim …); auf offene Revolte; auf Apathie. Es gibt aber auch bewußtes Rückgreifen auf entlegene Bestände, wobei Jahrhunderte übersprungen werden.14

Was CURTIUS so geltend macht, ist »die substantielle, in einem Netzwerk von Motiven sichtbare Kontinuität des klassischen Erbes der Antike« 15, eine Kontinuität, an der er seine in hohem Maße zeitgebundene Vorstellung von kultureller Identität – das durch nichts zu ersetzende »Erbe des europäischen Geistes«16 – festmacht. Dabei liegt auf der Hand, dass es kaum eine Phase der europäischen Kultur gibt, in der Wissen und Literatur der Antike keine bedeutsame Rolle gespielt hätten, doch zielt CURTIUS’ Kontinuitätsthese nicht nur auf ein Panorama der in verschiedensten Traditionslinien – Sprache, Schrift, Dichtung, Künste, Philosophie, Wissenschaften – erkennbaren Antikerezeption, sondern auf eine Neubewertung der Literatur des lateinischen Mittelalters, weil »keine Strecke der europäischen Literaturgeschichte so wenig bekannt und bewandert [ist] wie die lateinische Literatur des frühen und hohen Mittelalters. Und doch erhellt aus der historischen Auffassung Europas, daß gerade diese Strecke als Verbindungsglied zwischen der untergegangenen antiken und der sich so sehr langsam herausbildenden abendländischen Welt eine Schlüsselstellung einnimmt.«17 Dass dies »das folgenreiche Signal« für eine die Grenzen der einzelnen Nationalphilologien überschreitende Erforschung der europäischen Literatur war, hat MAX WEHRLI noch 1984 im wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick konstatiert: Indem CURTIUS »die absolute Dominanz der lateinischen Tradition für die gesamte, auch die volkssprachliche Literatur«18 darstellt, habe er nicht nur zur Aufdeckung europäischer Kontinuitäten wesentlich beigetragen, sondern auch 12 13 14 15

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Ebd. S. 9. Ebd. S. 398. Ebd. S. 395f. HANS ROBERT JAUSS, Die klassische und die christliche Rechtfertigung des Häßlichen in mittelalterlicher Literatur, in: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hrsg. von DEMS. (Poetik und Hermeneutik 3), München 1968, S. 143–168, hier S. 146. CURTIUS [Anm. 11], S. 398. Ebd. S. 22. WEHRLI [Anm. 1], S. 15.

Wissen und Literatur

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die heutige interdisziplinäre Ausrichtung der Mittelalter-Forschung mit initiiert. Im Kontext aktueller Diskussionen steht die christliche Einheitskultur des europäischen Mittelalters zwar in Frage,19 doch betrifft das keineswegs die dominierende Stellung der mittelalterlichen Latinität sowie die lateineuropäische Transformation der Antike durch das Christentum. Entsprechend gilt für die volkssprachlichen Literaturen, dass sie nicht aus sich heraus, sondern vielmehr nur in Verbindung mit der lateinischen Sprache, Schrift und Buchliteratur der mittelalterlichen Bildungskultur gesehen werden können, was gegenwärtig verstärkt in der Frage nach den spannungsreichen Austausch- und Transferprozessen zwischen Latein und Volkssprache, gelehrter Kleriker- und Laienwelt zum Ausdruck kommt. Dem Versuch, die mittellateinische Literatur als verpflichtendes kulturelles Erbe und Identität stiftenden »Hort der Tradition«20 zu restituieren, war kein Erfolg beschieden. Insbesondere das bei CURTIUS entfaltete Traditionskonzept hat vehemente Kritik erfahren, weil es dazu tendiert, Literatur aus ihren historischen Kontexten herauszulösen und – anders als der auf geschichtliches Verstehen gerichtete Rezeptionsbegriff21 – einer substantialistischen Überhöhung von literarischer Tradition zuarbeitet. So berechtigt dieser Einwand aber dann auch ist, so richtig ist der Hinweis, dass die Kritik »mit ihrer polemischen Etikettierung von Substantialismen andere mögliche Zugänge zum Problem der Tradition«22 verstellt. Den historischen Aufschlusswert des Traditionsbegriffs in Abrede stellen heißt, die konstruktiven und funktionalen Momente zu vernachlässigen, die zu Prozessen des Tradierens zweifellos gehören und oftmals ihren Kern bilden. Die Art und Weise, wie Traditionen konstruiert und funktionalisiert werden, verlangt eindringliche Analysen, da es einen Unterschied macht, ob sich ein Autor auf einen bestimmten Gewährsmann und eine Quelle beruft, oder ob er, wie es etwa in Dichterkatalogen geschieht, Listen mit maßgebenden Vorgängern und Werken in Szene setzt. In Genealogien, die als Modell literarischer Traditionsbildung gelten können, ist es zentral, ob eher der Ursprung oder die Kontinuität einer Deszendenz bis in die Gegenwart im Vordergrund steht. Richtet sich die Aufmerksamkeit entsprechend auf die in den Akten der Weitergabe repräsentierten Formen der Aneignung, Fortführung und Neugestaltung des Überlieferten, so erweist sich Tradition durchaus als analytisch leistungsfähige Beschreibungskategorie. 19 20 21

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Vgl. dazu unten den Abschnitt ›Kulturelle Diversität des Mittelalters‹. ASSMANN [Anm. 9], S. 78. Polemischen Ausdruck hat diese Kritik bei HANS ROBERT JAUSS erhalten, für den bei CURTIUS die »Erkenntnis des Bleibenden im fortwährenden Wechsel entpflichtet von der Mühe des historischen Verstehens« und der in dessen Mittelalter-Buch die »zur höchsten Idee erhobene Kontinuität des antiken Erbes« sieht (Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: HANS ROBERT JAUSS, Literaturgeschichte als Provokation [Edition Suhrkamp 418], Frankfurt am Main 1970, S. 144– 207, hier S. 153f.). Vgl. für die wissenschaftshistorische Bewertung der Debatte HANS ULRICH GUMBRECHT, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Karl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss (Edition Akzente), München 2002, S. 69f. ASSMANN [Anm. 9], S. 79; vgl. BARNER [Anm. 10], S. 93f., mit differenzierenden Hinweisen zu CURTIUS’ Ansatz und dessen in der jüngeren Toposforschung erkennbaren methodischen Risiken.

Manfred Eikelmann

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Allerdings, so muss man ergänzen, hat sich die Debatte um die Kontinuität und Diskontinuität des Erbes der Antike auch an anderen Fragen entzündet. Das zentrale Beispiel dafür liefern die wiederholten Versuche, die mittelalterliche Poetik als Fortsetzung der Tradition der antiken Rhetorik zu verstehen. Namentlich ERICH AUERBACH hat dem widersprochen und gegenläufig mit seinen Forschungen zu »den unantiken Erscheinungen des sermo humilis, der Stilmischung, des kreatürlichen Realismus und der figuralen Geschichtsdeutung die spezifischen Züge der christlichen Poetik und Kunst des Mittelalters«23 profiliert. Zu bedenken ist dies nicht nur, weil die Frage einer christlichen Ästhetik und ihrer Abgrenzung gegen die Maßstäbe der klassischen antiken Literatur nach wie vor virulent ist, darüber hinaus führen die mit dem Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität verbundenen Probleme auch an die oft nur latent mitgeführte Frage nach der vermeintlichen Einheit des europäischen Mittelalters, seiner kulturellen Homogenität wie Heterogenität heran.

Kulturelle Diversität des Mittelalters Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.24

1799 – nach dem Glaubensschisma des Reformationszeitalters, den Religionskonflikten des Dreißigjährigen Kriegs, der mit der Französischen Revolution einsetzenden Säkularisierung – beschwört Novalis in seiner Schrift ›Die Christenheit oder Europa‹ das abendländische Mittelalter: als friedliches Miteinander der Völker, als Zeit religiöser Gemeinsamkeit – und als utopisches Gegenbild zur eigenen Gegenwart. Vom »Tage der ersten Vorlesung an Gegenstand heftigster Kontroversen«25, ist seine Schrift noch immer das vielzitierte Beispiel dafür, wie zu Beginn der Neuzeit die idealisierte Vorstellung eines einheitlichen christlichen Europa auf die Epoche des Mittelalters projiziert wurde. In der geschichtsphilosophischen Reflexion von Novalis gründet die geographisch wie politisch umfassende Einheit des gesamten Mittelalters auf Religion, und erst durch die Reformation hat diese »ihren großen politischen friedestiftenden Einfluß, ihre eigentümliche Rolle des vereinigenden, individualisierenden Prinzips, der Christenheit«26 verloren. So oft dieses frühromantische Mittelalter-Bild auch zitiert und kritisiert wurde, erstaunlich ist, dass es noch in jüngster Zeit den Diskussionsanstoß für die Frage nach den räumlichen Grenzen und der politisch-kulturellen Idee eines christlichen Europa gege23

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JAUSS [Anm. 15], S. 147; vgl. ERICH AUERBACH, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958. Novalis, Werke, hrsg. und kommentiert von GERHARD SCHULZ, 2., neu bearb. Aufl. München 1981, S. 499–518, hier S. 499. SCHULZ, ebd. S. 799. Ebd. S. 504.

Wissen und Literatur

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ben hat. In der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung zu Europa im Mittelalter wurde etwa gezeigt, dass sich zwar »der Europabegriff von Novalis weder früher noch heute mit dem geographischen Begriff Europas zur Deckung bringen« lässt, dass jedoch auf den geographischen Raum bezogene Begriffe wie christianitas und res publica christiana gleichwohl das Problem aufwerfen, ob es »wenigstens so etwas wie ein einheitliches, durch Religion zusammengehaltenes Europa oder Teileuropa«27 gab. Grundsätzlicher, nämlich bei der Frage, ob es ein einheitliches Mittelalter überhaupt gibt oder ob dies nur eine spätere Projektion ist, setzen dagegen die Überlegungen in den historischen Kulturwissenschaften an. Die von Novalis entwickelte »politisch-religiöse Vision« ist dabei Beispiel für »das Bild vom Mittelalter als einer geschlossenen Epoche«, das als zählebiges »Einheitsphantasma« seit Humanismus und Romantik den Blick auf das Mittelalter leitet, einen Blick, der unhinterfragt bleibt, da die »Moderne ihrem Selbstverständnis nach durch Pluralismus der Werte, Normen, Lebensformen gekennzeichnet [ist], der irgendwann in der Frühen Neuzeit ausbricht und Einheit und Geborgenheit zerstört.«28 Um diese wirkmächtige Vorstellung zu korrigieren, arbeitet die Mediävistik derzeit verstärkt die für das Mittelalter bestimmenden kulturinternen Differenzen und Spannungsverhältnisse29 heraus, die für sich genommen zwar nicht neu sind, nun aber in eine veränderte Perspektive rücken, bei der Diversität und Heterogenität statt Einheit und Homogenität als Epochenmarker zu Geltung kommen. In dieses Bild, das zu Recht die Vielgestaltigkeit der Epoche akzentuiert, gehören allerdings auch kulturelle Kontinuitäten und Traditionen. So kennt das Mittelalter einerseits Traditionen von langer Dauer, die Gemeinsamkeit und Identität stiften, ohne unmittelbar zum Prozess europäischer Einigung zu gehören oder direkt zu ihm hinzuführen. Zu denken ist etwa an Herrscher- und Heldengestalten, die als Gründerfiguren legitimierende Funktionen erhalten,30 oder auch an klassische Literaturwerke und an 27

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KLAUS HERBERS, Europa und seine Grenzen im Mittelalter, in: Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa, hrsg. von KLAUS HERBERS, NIKOLAS JASPERT (Europa im Mittelalter 7), Berlin 2007, S. 21–41, hier S. 34; vgl. weiterhin die Novalis-Kritik bei MICHAEL BORGOLTE, »Europa, ein christliches Land«. Religion als Weltstifterin im Mittelalter, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 1061–77. Seit dem »ausgehenden 13. Jahrhundert«, so resümiert MICHAEL NORTH, Europa expandiert 1250– 1500 (Handbuch der Geschichte Europas 4), Stuttgart 2007, S. 13, ist das Mittelalter »eine Zeit der zunehmenden Wahrnehmung Europas und seiner Abgrenzung nach außen«. Beobachtet ist dies an Höhenkamm-Phänomenen wie der Europa-Publizistik des Enea Silvio Piccolomini. Zu klären wäre, welche Rolle in diesem Kontext die volkssprachliche Literatur und ihre Diskurse spielen. JAN-DIRK MÜLLER, Mittelalterlich, in: Mittelalterforschung, hrsg. von BRUNO BLECKMANN, Düsseldorf 2012, S. 33–45, hier S. 38f. Vgl. die Reflexion der Forschung bei URSULA PETERS, Postkoloniale Mediävistik? Überlegungen zu einer kulturwissenschaftlichen Spielart der Mittelalter-Philologie, Scientia Poetica 14 (2010), S. 205–237, hier S. 214f. So nahe es etwa liegt, Herrscher- und Heldengestalten wie Karl den Großen, Caesar oder Artus als europäische Integrationsfiguren verstehen zu wollen, so differenziert müssen die Gründe für deren überzeitliche Präsenz betrachtet werden. Zu klären ist nicht nur, was diese Gestalten das ganze Mit-

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Mythen, die als kulturprägende Texte und Narrative die eigene Weltdeutung steuern.31 Setzt man andererseits bei dem konkreten Umgang mit Traditionen und den Formen der Traditionsbildung an, so fällt auf, dass in der Praxis heterogene Diskurse und Wissensinhalte verschiedenartiger Herkunft verbunden und aus dem interferierenden Zusammenspiel unterschiedlicher lateinischer wie volkssprachlicher, gelehrter wie laikaler, antiker wie aktuell mittelalterlicher, höfischer wie mythischer Vorstellungen neue Sinnzusammenhänge und Traditionsansätze gewonnen werden. Obwohl die lateinische Gelehrtenkultur in solchen Prozessen eine dominierende Rolle spielt, sind diese kulturellen Praktiken zweifellos auch für die volkssprachliche Literatur zentral, so dass die spannungsreiche Diversität der kulturell präsenten Stimmen immer wieder als Substrat für das Stiften, Herstellen und Bewahren von Tradition erscheint.32 Im Unterschied zum heutigen Verständnis von kulturellem Erbe ist daran zu erinnern, dass das Mittelalter keine nationalen Grenzen und damit auch keine Nationalliteraturen wie heute kennt. Geprägt ist es hingegen durch die Auseinandersetzung mit dem verpflichtenden Erbe europäisch übergreifender und vernetzter Wissenstraditionen. Nicht nur in seinen offiziellen leitenden Diskursen – vor allem dem der lateinischchristlichen Transformation der Antike – verfügt die Epoche daher über spezifische Praktiken, die es erlauben, neue Wissenskulturen und Traditionen zu generieren und formieren.33 Gerade auch die nicht selten abweichenden und experimentellen Formen des Traditionsverhaltens in der volkssprachlichen Literatur gehören dazu. Diese kulturellen Praktiken sind daher mit dem Blick auf die im Lateinischen und in der Volkssprache unterschiedlich verfügbaren Formen des Traditionsbezugs und der Traditionsbildung zu erkunden.

Traditionsbildung in Latein und Volkssprache Angesichts der vielen Aspekte, die das Thema hervorruft, wundert es nicht, dass sich an der Frage nach dem kulturellen Erbe immer wieder Diskussionen festmachen, und zwar gerade solche, denen es um das spezifische poetische Profil und die kulturelle Relevanz von Literatur in der Volkssprache geht. Für die deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters ist dies der Fall, wenn man sie in ihrem Verhältnis zur dominierenden mittelal-

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telalter hindurch für Gruppen und Gemeinschaften politisch und kulturell bedeutsam macht, sondern auch, inwiefern ihre Wirkung literarisch und diskursiv erzeugt ist; vgl. dazu: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, hrsg. von BERND BASTERT, Tübingen 2004. Einen Überblick zur europäischen Mythen-Rezeption gibt die Einleitung von FRIEDRICH. Vgl. die Beiträge von GEROK-REITER, REUVEKAMP und TOEPFER. Mit ›Praktiken‹ sind hier solche diskursiven Verfahren und Techniken gemeint, die, oftmals institutionell geregelt und von Interessen abhängig, einen Gegenstand nicht nur darstellen, sondern auch erst konstituieren; vgl. MICHEL FOUCAULT, Archäologie des Wissens (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 356), Frankfurt am Main 31988, S. 74.

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terlichen Latinität, sowie in ihren Beziehungen zu den volkssprachlichen Literaturen der Romania sieht, die sich parallel zum Deutschen etablieren. Will man die Akzente richtig setzen, gilt es zunächst zu klären, was in diesem Rahmen mit Dominanz der lateinischen Schrift- und Buchkultur gemeint ist, um dann nach Berührungspunkten und Austausch mit der volkssprachlichen Literatur zu fragen: Die Dominanz des Lateinischen hat ihre Ursache in dem noch unsere Gegenwart, besonders unser Bildungssystem prägenden Bündnis von Christentum und Antike. In dem Maße, wie in der Spätantike die schon von Paulus eingeleitete Intellektualisierung der von Jesus von Nazareth verkündeten Fischer- und Bauernreligion Platz griff und Gelehrte wie Augustinus, Boethius oder Cassiodor zu Wortführern wurden, verband sich das überlegene Prestige der antiken Kultur mit dem universalen Geltungsanspruch der christlichen Religion; die antike Wissenschaft verhalf ihr dazu, ihn zum Welterklärungsanspruch auszubauen. Orte des Glaubens wurden gleichzeitig Orte der Wissenschaft, Klöster waren von Cassiodor an der Pflege der antiken Tradition verpflichtet. Diese Tradition war Schriftüberlieferung, ihre Pflege geschah durch schriftliche Wiedergabe, Schrift aber war die Domäne der Kirche, sie hat dem abendländischen Erbe die Vorstellung von der Schriftlichkeit der Literatur eingeprägt.34

Beschrieben sind damit die Grundlagen der lateineuropäischen Wissenskultur, wie sie für den offiziellen Gelehrtendiskurs seit dem Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter in Anschlag zu bringen sind. Pflege und Weitergabe der überlieferten Texte erscheinen als Strom kontinuierlicher Quellenarbeit und kommentierender Wissensgewinnung. Tradition ist an das Medium des Buches gebunden, das den autoritativen Geltungsanspruch gerade der kanonischen Werke bis in die Seitengestaltung sichtbar macht. Die durch die Zeiten gehende Kontinuität dieser hochspezialisierten Schrifttradition ist institutionell gesichert – durch Überlieferung in Klöstern, doch auch den schulisch-universitären Unterricht, wie ihn etwa Wissenskompendien und Schulhandschriften bezeugen. Ein aspektreiches Beispiel für die Überlieferung eines klassischen Werkes der lateinischen Literatur bietet die Texttradition der um 524/525 entstandenen ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius. Wie zuletzt CHRISTINE HEHLE noch einmal gezeigt hat, geht die Tradierung in karolingischer Zeit von Alkuin aus, der den Text in seiner programmatischen ›Disputatio de vera philosophia‹ (eigentlich: ›De grammatica‹) benutzt und die Aufnahme in den schulischen Bildungskanon anbahnt.35 Mit diesem Traditionseinsatz noch im 8. Jahrhundert beginnt zugleich die verchristlichende Um- und Neudeutung des antik-philosophischen Welt- und Menschenbildes der ›Consolatio‹. Exemplarisch dafür ist das von den Kirchenvätern kritisierte Thema der Fortuna, die bei Boethius als Instanz auftritt, die machtvoll über das Vergängliche aller irdischen Güter 34

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KLAUS GRUBMÜLLER, Über die Bedingungen volkssprachlicher Traditionsbildung im lateinisch dominierten Mittelalter, in: Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, literarische, sprachliche und didaktische Konstellationen in europäischer Perspektive. Mit Fallstudien zu den ›Disticha Catonis‹, hrsg. von MICHAEL BALDZUHN, CHRISTINE PUTZO, Berlin/New York 2011, S. 147–157, hier S. 150. Vgl. HEHLE [Anm. 5], S. 38–58.

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herrscht.36 Die Auseinandersetzung mit der antiken Denksubstanz der ›Consolatio‹ nimmt bis ins 15. Jahrhundert auch literarisch höchst unterschiedliche Formen an. Ihr Bezugspunkt liegt dabei jedoch nicht nur im lateinischen Text selbst, sondern auch in einem – bislang nicht vollständig überschaubaren – Korpus lateinischer Kommentierungen. Auf der Grundlage der von Alkuin initiierten Glossierung und im Rückgriff auf verbreitete Kommentare wie den von Remigius von Auxerre entwickelt Wilhelm von Conches, ein Schüler Bernhards von Chartres, mit seinen ›Glosae super Boecium‹ (um 1120) eine neue Form der Kommentierung, die den lateinischen Text systematisch von »Lemma zu Lemma«37 erschließt. Und seit dem späten 13. Jahrhundert zieht die Glossierung dann weitere Gesamtkommentare nach sich, so etwa die für das späte Mittelalter repräsentativen Kommentare von Nicholas Trevet (um 1300), PseudoThomas (2. Hälfte 15. Jh.) und Jodocus Badius (1498). Ablesbar ist an dieser Entwicklung nicht nur die über Jahrhunderte kontinuierliche Präsenz der ›Consolatio‹, sondern gleichzeitig der stetige Prozess ihrer rezeptionsorientierten Rahmungen und ihrer immer wieder neuen Einpassung in lateinisch gelehrte Diskurs- und Gebrauchskontexte. Gestalt nimmt dieser Prozess der Weitergabe daher auch in der Materialität des Textes an. Für sie ist typisch, dass viele Handschrif›Consolatio Philosophiae‹, Straßburg: Grüninger, ten die ›Consolatio‹ als funktionale Einheit 1501. Bayerische Staatsbibliothek München, Res/2 von Werk und Kommentar präsentieren. Das A.lat.b. 34, fol. B1r. Seitenlayout weist die seit dem 13. Jahrhundert systematisch genutzte Klammerform auf, mit dem größer geschriebenen ›Consolatio‹-Text, der, von Seite zu Seite variierend, von den Glossierungen umrahmt wird.38 36

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Vgl. WALTER HAUG, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Kontingenz, hrsg. von GERHART VON GRAEVENITZ, ODO MARQUARD (Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, S. 151–172, hier S. 154–157. JOACHIM GRUBER, Boethius. Eine Einführung, Stuttgart 2011, S. 100. Im größeren historischen Zusammenhang ist die Entwicklung dieser für den mittelalterlichen Schulbetrieb grundlegenden Form der Textpräsentation dargestellt bei WOLFGANG RAIBLE, Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Heidelberg 1991, S. 5–44, hier S. 9–11; ein wichtiges Beispiel für die Fortsetzung dieser Tradition der scholastischen Textgestaltung und der zugehörigen Formen der Wissensorganisation bis in den Buchdruck der Frühneuzeit bietet die Rechtsüberlieferung mit dem von Justinian zusammengestell-

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Die Nachbarschaft von Text und Kommentar, Interlinearglossen, Lemmata, lebenden Kolumnentitel, Überschriften und Paragraphenzeichen erlaubt Rückschlüsse auf die Konzeption des Textes und die intendierte Lektürepraxis. Noch die seit 1473 bei Anton Koberger in Nürnberg gedruckte Ausgabe der ›Consolatio‹ orientiert sich in den späteren Auflagen an dieser Form der Texteinrichtung. Anders als im Kommentar Trevets ist dem Koberger-Druck in einem eigenen zweiten Teil der Kommentar des PseudoThomas beigegeben, in dem jeder Textabschnitt mit einer elementaren Erschließung des Wortsinns (expositio ad litteram) eingeleitet wird. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, daß die ›Consolatio‹ weiterhin in grammar schools and universities as well as monastery schools39 verwendet wurde, wobei nun auch der Bedarf an volkssprachlichen Übersetzungen erkennbar ist, die zum lateinischen Ausgangstext hinzutreten.40 Nicht zuletzt mit Blick auf solche Beispiele hat man längst die für die mittelalterliche Gesellschaft fundamentale »Spaltung in eine lateinische und eine volkssprachliche Literatur« sowie das mit diesem Phänomen einhergehende »paradoxe Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität«41 beobachtet. Die einfache Dichotomie von Kontinuität und Diskontinuität erweist sich nämlich immer wieder als zu eng, weil vielfältige Kontakte und Interferenzen zwischen Latein und Deutsch bestehen. Gleichwohl stellt sich bei jedem Vergleich von lateinischer Gelehrten- und volkssprachlich-deutscher Laienkultur das Problem, dass deutsche Literatur des Mittelalters, weit entfernt von einer übergreifend integrativen literarhistorischen Tradition, in allen Phasen mehr oder weniger als diskontinuierlich und inkonstant erscheint.42 Für Analysen, die sich auf diese Problematik mit ihren literatur-, kultur- wie medienhistorischen Implikationen einlassen, ergeben sich daher andere Aufgaben als für die neuzeitliche Literatur seit dem Druckzeitalter. Das gilt schon für die Frage, wo historische Zusammenhänge der volkssprachlichen Literatur überhaupt zu fassen sind und welche Faktoren das Entstehen schriftsprachlicher Traditionen erschweren oder sie umgekehrt ermöglichen. Zu denken ist an die Umstände der schriftlichen Aufzeichnung und Überlieferung von Literatur, doch auch die kulturellen Rahmenbedingungen literarischen Lebens. Grundsätzlich ist das Problem der Tradition verknüpft mit den Bedingungen der literarischen Kommunikation in der Volkssprache, bei deren Analyse

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ten ›Corpus Iuris Civilis‹; vgl. dazu OLIVER DUNTZE, Text und Kommentar in juristischen Drucken der Frühen Neuzeit, Archiv für Geschichte des Buchwesens 59 (2005), S. 11–33. NIGEL F. PALMER, Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of the De Consolatione Philosophiae, in: Boethius. His Life, Thought and Influence, hrsg. von MARGARET GIBSON, Oxford 1981, S. 362–409, hier S. 363. Vgl. für die spätmittelalterlichen deutschen ›Consolatio‹-Bearbeitungen den Beitrag von BASTERT. WEHRLI [Anm. 1], S. 28. Vgl. die Diskussion der institutionellen Rahmenbedingungen speziell der höfischen Literatur bei BEATE KELLNER, Eigengeschichte und literarischer Kanon. Zu einigen Formen der Selbstbeschreibung in der volkssprachlich-deutschen Literatur des Mittelalters, in: Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hrsg. von DERS., LUDGER LIEB, PETER STROHSCHNEIDER, Frankfurt am Main 2001, S. 153–182.

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sich inzwischen die Vorstellung durchgesetzt hat, dass es bis in die Frühneuzeit kein ausdifferenziertes Literatursystem mit fest etablierten Mechanismen der Verstetigung, Gattungskonstitution, Kanon- und Normenbildung gibt und mittelalterliche Literatur daher »kaum institutionell organisiert und abgesichert gewesen zu sein«43 scheint. Konkret folgen aus dieser historisch differenzierungsbedürftigen Annahme Fragen danach, wo in der handschriftlichen Überlieferung deutsche Literatur als Kontinuum wahrgenommen, wie sie in ersten Ansätzen kanonisiert und mit eigener Geltung versehen wird.44 Ohne das gesamte Arsenal von Stoffen, Motiven, generischen Mustern, Schreibweisen und Diskursen zu erschließen, das einzelnen Werken als literarische Tradition vorausliegt, ergeben sich darüber hinaus Fragen, die auf diskursive und poetische Strategien der Herstellung von literarischer Tradition zielen, wie sie am intertextuellen Erzählen späterer Artusromane wie Wirnts von Gravenberg ›Wigalois‹ und Heinrichs von dem Türlin ›Crône‹ zu beobachten sind.45 Zu erörtern ist, inwiefern solche Referenzen einem Werk Geltung und Aura verschaffen und ein bestimmtes Traditionsverständnis voraussetzen,46 zugleich aber auch, ob sie – zentrales Beispiel sind die Berufungen des ›Parzival‹-Erzählers auf seine Gewährsleute Kyot und Flegetanis – eher als legitimierender Traditionsrückhalt benötigt werden oder gar Ausdruck erzählerischer Spielfreiheit und parodistischen Verhaltens gegenüber der Tradition sind. Nicht minder intensiv stellen sich Fragen zu exponierten Formen reflexiver Selbstbeschreibung wie den Dichterkatalogen, Dichterpreisen und Totenklagen, die das Spektrum der literarischen Traditionsbildung seit dem 13. Jahrhundert signifikant erweitern, bei denen jedoch auch über Einzelfälle hinaus zu untersuchen wäre, wie sie in ihren Inszenierungen und Diskursstrategien »mit den Konzepten von imitatio und aemulatio verbunden«47 sind und eine 43 44

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Ebd. S. 153. GRUBMÜLLER [Anm. 34] weist auf das Beispiel der in den 1180er Jahren entstandenen Vorauer Handschrift hin, die »im wesentlichen eine Anthologie der deutschen Literatur der frühmittelhochdeutschen Zeit« (S. 152) darstellt und der »ein dezidiertes Bewusstsein von der Eigenart deutscher Literatur eines zeitlich begrenzten Abschnittes« (S. 153) zugrunde liegt. Vgl. den Beitrag von REUVEKAMP; weiterhin PETER KERN, Bewußtmachen von Artusromankonventionen in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur – Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, PETER IHRING, Tübingen 1999, S. 199–218. Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe von KARL LACHMANN revidiert und kommentiert von EBERHARD NELLMANN, übertragen von DIETER KÜHN (Bibliothek des Mittelalters 8,1), Frankfurt am Main 1996, Bd. 1, 453,1–455,24. BEATE KELLNER, Autorität und Gedächtnis. Strategien der Legitimierung volkssprachlichen Erzählens am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹, in: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997, Bd. 2, hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN, INGRID KASTEN, EVA NEUHARD, Bielefeld 1999, S. 484–508, hier S. 485; vgl. weiterhin WALTER HAUG, Klassikerkataloge und Kanonisierungseffekte. Am Beispiel des mittelalterlich-hochhöfischen Literaturkanons, in: Kanon und Zensur, hrsg. von ALEIDA und JAN ASSMANN (Archäologie der literarischen Kommunikation 2), München 1987, S. 259–270; NIKOLAUS HENKEL, Wann wer-

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eigene Geschichte und einen Kanon deutscher Literatur agonal verhandeln. Es sind dies Fragen, die sich auch im 16. Jahrhundert für die deutschsprachige Renaissanceliteratur stellen, wenn Tradition explizit aufgerufen wird, um sie dann aber zu übertrumpfen und das Deutsche als Sprache wie eigenwertige Literaturtradition aufzuwerten.48 Auch in jüngeren kulturwissenschaftlichen Diskussionen gilt der produktive Umgang mit dem antiken Erbe wie mit den anderssprachigen Literaturen geradezu als Schlüssel für ein neues Verständnis der europäischen Wissenskultur des Mittelalters. Unter diesem Vorzeichen erfahren die Praktiken des Übersetzens und Übertragens, doch auch die Zirkulation des gelehrten Wissens mittels Kommunikation über kulturräumliche Grenzen hinweg verstärkt Aufmerksamkeit. Für die höfische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts geht es um die Frage, auf welchen Kontaktebenen und mittels welcher Transferverfahren der interkulturelle Austausch zwischen dem Wissensarsenal der lateinischen Dichtungstradition und der Praxis der volkssprachlich-deutschen Literatur verläuft. Ins Zentrum rücken so nicht nur literarische Stoffe und Motive, sondern auch poetische Techniken und Modelle – von Redefiguren über Muster der kunstvollen Beschreibung (descriptio) und der Dialoggestaltung bis zu Verfahren abbreviatorischer und amplifikatorischer Textbearbeitung. Die Beobachtungen führen damit zu der Frage nach den wissensgeschichtlichen Grundlagen, wie sie vorrangig für die gelehrten Autoren der höfischen Romane vorausgesetzt werden müssen: »ihre Stilmittel, poetologischen und ästhetischen Prinzipien […] stehen nicht in einer dem Roman voraufgehenden Tradition bereit, sondern werden erst aus dem lateinischsprachigen Erfahrungsraum der litterati in die Volkssprache eingebracht.«49 Die Frage, ob es daneben vielleicht doch eine poetologische Tradition außerhalb der gelehrten Bildungs- und Schulpraxis gab, hat sich damit zwar nicht einfach erledigt, da sich andererseits aber klar verfolgen lässt, in wie hohem Maße die transferierten poetischen Stoffe und Muster die lateinische Bildungskultur mit der volkssprachlichen Literaturpraxis verweben und verzahnen, steht jedoch sehr viel mehr die Relevanz des übertragenen Wissens für eine eigene volkssprachliche Literaturtradition zur Debatte. Von Interesse ist also die traditionsbildende Energie, die in diesen Transferprozessen freigesetzt wird.

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den die Klassiker klassisch? Überlegungen zur Wirkungsweise und zum Geltungsbereich literarisch-ästhetischer Innovation im deutschen Mittelalter, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter, hrsg. von HANS-JOACHIM SCHILDT, Berlin 2005, S. 441–467. Vgl. den Beitrag von BLEULER. NIKOLAUS HENKEL, Litteratus – illitteratus. Bildungsgeschichtliche Grundvoraussetzungen bei der Entstehung der höfischen Epik in Deutschland, in: Erfahrene und imaginierte Fremde, hrsg. von YOSHINORI SICHIJI (Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses 9), München 1991, S. 334–345, hier S. 337; weiterhin DERS., ›Fortschritt‹ in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im ›Roman d’Eneas‹ und in Heinrichs von Veldeke ›Eneasroman‹, in: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur, hrsg. von JOACHIM BUMKE, URSULA PETERS (ZfdPh 124, Sonderheft), Berlin 2005, S. 96–116.

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Was speziell mit dem Konzept des kulturellen Transfers für die Frage nach dem europäischen Erbe und den Praktiken der Traditionsbildung zu gewinnen wäre, bedarf erst der vorsichtig kritischen Sondierung und praktischen Erprobung, obwohl bereits auf Forschungen zum Thema ›Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter‹ und – interdisziplinär ausgerichtet – zur ›Diffusion des Humanismus‹ zu verweisen ist.50 Der Begriff ›Diffusion‹ bezieht sich dabei zwar auf ältere Forschungsansätze zur Ausbreitung des Humanismus im 15. und 16. Jahrhundert (PAUL OSKAR KRISTELLER), doch zielt er im Unterschied zu bisherigen Ansätzen nicht mehr nur auf das Ergebnis, sondern thematisiert – das ist entscheidend – den »spezifische[n] historische[n] Prozeß der Diffusion von Bildungsgütern«51, der zu der Europa vereinheitlichenden Bewegung des Humanismus führt. Das bedeutet, dass es nicht um kulturelle Einflüsse und Rezeptionshaltungen geht, sondern um die konkreten Verlaufsformen dieses Prozesses und die Voraussetzungen der übertragenen Kulturgüter. Diese Fragestellung, die primär die Empfängerseite und deren kommunikatives System in den Blick nimmt, fokussiert aber auf interkulturelle Übertragungsvorgänge, die synchron im Raum ablaufen, so dass man sie sehr sorgfältig von den zeitgebundenen Prozessen der Traditionsbildung unterscheiden muss. Und dies bedeutet: Im konkreten Einzelfall ist immer erst zu klären, ob es um kulturellen Transfer oder aber um ein Kontinuitätsphänomen geht.52

Beiträge Vor dem umrissenen Diskussionshorizont könnte es naheliegen, die Darstellung der Beiträge auf einen einzigen Aspekt des Themenfeldes ›Traditionsbildung – Europäisches Erbe – Kulturtransfer‹ zu beschränken, um die Kohärenz des Bandes festzulegen. Dagegen spricht, dass dies die komplexe Vielschichtigkeit, die der Fragestellung eigen ist, ohne Not begrenzen oder einengen würde. Zwar geht es bei allen im ersten Teil des Bandes versammelten Beiträgen weniger um die Beschreibung etablierter Traditionen als um das prozesshafte Fortführen, Kombinieren und Stiften von Traditionen im Zusammenspiel von Kontinuität und Diskontinuität. Doch wäre es verfehlt, die bei aller Gemeinsamkeit erkennbare und anregende Unterschiedlichkeit der thematischen Nuancierungen und methodischen Zugriffsweisen diesem Gesichtspunkt subsumieren zu wollen – damit würde der erst durch das Zusammenwirken der Beiträge erreichte Ge50

51 52

Vgl. Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter / Transferts culturels et histoire littéraire au Moyen Âge, hrsg. von INGRID KASTEN, WERNER PARAVICINI, RENÉ PÉRENNEC, Sigmaringen 1998; Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hrsg. von JOHANNES HELMRATH, ULRICH MUHLACK, GERRIT WALTHER, Göttingen 2002. JOHANNES HELMRATH, Diffusion des Humanismus. Zur Einführung, in: ebd. S. 9–29, hier S. 10. Vgl. die Beiträge von BASTERT und BAUSCHKE; weiterhin auch: Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikerezeption, hrsg. von DOROTHEA KLEIN, LUTZ KÄPPEL, Frankfurt am Main 2008.

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winn an Differenzierung allzu leicht aus dem Blick geraten. Im Folgenden seien daher auch nur einige Grundlinien, Ansätze und Ergebnisse der durch die Beiträge geleisteten Diskussion hervorgehoben.53

Kulturelle Kontinuität oder Kulturtransfer? Das Argument, dass kulturelle Kontinuität nicht ›von selbst‹ entsteht (etwa durch einfaches Fortführen), sondern fortgesetzter und gezielter Adaptationsbemühungen bedarf, entwickelt BERND BASTERT am Beispiel der spätmittelalterlichen deutschen Übertragungen der ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius. Er fragt, ob mit diesen Übersetzungen tatsächlich ein Transfer vom gelehrt-lateinischen Umfeld in die volkssprachliche Kultur stattfindet oder auch nur beabsichtigt ist. Die sehr unterschiedlichen Übersetzungen erweisen sich dabei als experimentelle Rezeptionsliteratur, die fast immer an den lateinischen Text und das gelehrt-lateinische Rezeptionsumfeld gebunden bleibt – nur im Einzelfall (bei Konrad Humerys ›Tröstung der Weisheit‹ und deren Rezeption als politisches Werk durch den Kölner Ratsherrn Jakob Schirl) liegt ein Kulturtransfer im spezifischen Sinn vor. Im Unterschied zu anderen Fallbeispielen sind jedoch die meisten deutschen ›Consolatio‹-Übersetzungen, obwohl bei oberflächlicher Betrachtung als Diskontinuitätsphänomene deutbar, tatsächlich auf Kontinuität der gelehrten Boethius-Tradition angelegt. Damit argumentiert der Beitrag entschieden gegen eine undifferenzierte Etikettierung bestimmter Rezeptionsformen als ›kultureller Transfer‹. Ähnlich kritisch hinterfragt RICARDA BAUSCHKE die Anwendbarkeit des Kulturtransferbegriffs für die volkssprachlich-deutsche Literatur des 12. Jahrhunderts. Anders als bei der karolingischen Kulturreform im 8. und dem Humanismus im 15. Jahrhundert, bei denen es um die Integration von weltanschaulich und sprachlich fremden Kulturgut geht, durch deren Rezeption die eigene kulturelle Identität profiliert wird, sind Deutschland und Frankreich im 12. Jahrhundert ein relativ einheitlicher Kulturraum. In ihm gibt es keine weltanschaulichen Differenzen, dynastische Verbindungen ermöglichen eine europäische Adelskultur, hinzu kommen gemeinsame Wissenstraditionen und Identifikationsfiguren, parallele literarische Traditionen, das Lateinische als Gemeinschaftssprache, Mehrsprachigkeit unter Adeligen. Die Rezeption der Romania, die BAUSCHKE am Beispiel Reinmars untersucht, muss daher nicht so sehr als Kulturtransfer, sondern als Ausdruck einer bereits weitgehend homogenen europäischen Repräsentationskultur verstanden werden, die auf diese Weise nur noch enger vernetzt wird. Während diese Beiträge für den reflektierten Umgang mit Terminologie und neueren Theoriekonzepten sensibilisieren, folgen im Weiteren Fallstudien, die die Komplexität der Verbindung unterschiedlicher Kultursphären (lateinisch-gelehrt – volkssprachlichdeutsch – volkssprachlich-französisch; Antike – mittelalterliche und frühneuzeitliche 53

Die folgende Präsentation der Beiträge ist an den erörterten Interpretationsfragen orientiert, nicht an der literarhistorischen Chronologie der behandelten Gegenstände.

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christliche Kultur) im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität in den Blick nehmen.

Innovativer Traditionsbezug Analysiert man Heinrichs von dem Türlin ›Crône‹ so, wie es SILVIA REUVEKAMP unternimmt, als Beispiel für die noch zu wenig beachteten sinnstiftenden Austauschprozesse zwischen lateinisch-gelehrter Bildungswelt und volkssprachlich-höfischer Erzählliteratur, so wird klar, dass Einflüsse des lateinischen Schrifttums nicht nur als Ausweis von Gelehrsamkeit zu werten sind. Vielmehr zeigen die intertextuellen Referenzen der ›Crône‹ zu lateinischen Diskurstraditionen, dass die Bezüge zwar für Eingeweihte markiert sind, zugleich aber innovative Sinndimensionen über synkretistische Verbindungen heterogener Traditionen erzeugen – ›Altes‹ wird somit selbstbewusst in neue Perspektiven gerückt. In REGINA TOEPFERs Diskussionsbeispiel, den ›Johannes‹-Dramen der Frühneuzeit, verbinden sich die zwei wichtigsten Quellen der lateineuropäischen Kultur: Christentum der Bibel und antikes Drama. Doch obwohl sich die Dramen selbst als Tragödie bezeichnen, ist fraglich, ob sie von der klassisch-griechischen Tradition des Dramas beeinflusst sind, weil die Faktur der Dramentexte differiert. Was sich stattdessen zeigt, sind Anhaltspunkte für Diskontinuitäten (Theorie des antiken Dramas) und Kontinuität (biblische Stoffe und Exegesetradition), die in die Bildung einer neuen literarischen Tradition (Moralitäten als Gattungsmarker) münden. Auch TIMO REUVEKAMP-FELBERs Beitrag zeigt, wie einerseits ein Traditionsbezug explizit formuliert, andererseits aber pagan-antike Muster christlich-mittelalterlichen Gegebenheiten und Darstellungsinteressen produktiv anverwandelt werden. Denn so wie Vergils ›Aeneis‹, die das Geschlecht der Iulier durch die Abstammung von Aeneas nobilitiert und legitimiert, ist auch Veldekes ›Eneit‹ durch die aus der Antike tradierte genealogische Ordnung bestimmt, nur dass Letztere diese spezifisch fortschreibt und umformt: in eine mittelalterliche dynastische Repräsentation, die nicht vertikal-agnatisch eine Herrscherfigur legitimiert, sondern das Geschlecht der Ludowinger als horizontal strukturiertes Familiengefüge präsentiert und nobilitiert. In diesem Rahmen werden deutsche Herrscher, wenn nicht als Nachfahren, so doch als Fortführer und Bewahrer antiken Erbes in Szene gesetzt.

Selbstbewusste Traditionsstiftung Interpretiert man die berühmten Zeilen Ich bin dîn, du bist mîn (MF 3,1), muss man, so zeigt ANNETTE GEROK-REITER, im Überlieferungskontext aufschlüsseln, wie die geistliche Verfasserin die lateinische Tradition des antik-christlichen experimentierend mit dem gerade erst emergierenden höfisch-volkssprachlichen Freundschafts- und Liebesdiskurs verbindet und durch diese Juxtaposition als gleichberechtigte Stimme auf-

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wertet. Dass dieses Unterfangen enorme kulturelle Provokationskraft hat, wird durch die Antwort des Magisters deutlich, der diesen Anspruch aggressiv zurückweist und die Verbindung der Kulturtraditionen nicht anerkennt. Auch die früheste deutschsprachige Lyrik entsteht also nicht traditionslos, sondern speist sich aus dem Transfer lateinischer und höfisch-französischer Tradition, sie formiert sich in einem Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität. Ganz ähnlich positioniert sich der Untersuchungsgegenstand von ANNA KATHRIN BLEULER, die in ihrer Analyse von Kaspar Scheits ›Lobrede auf den Mai‹ nachweist, dass schon im 16. Jahrhundert am Heidelberger Hof europäischer Humanismus und Antike rezipiert werden und es eine deutschsprachige Renaissancedichtung gibt. Ähnlich wie etwa bei BASTERT ist diese Rezeptionsliteratur von experimentellem Zuschnitt. Der Traditionsrekurs ist daher auch keineswegs rein imitativ. Vielmehr profiliert Scheit das Deutsche als Literatursprache und eigenständige literarische Tradition in konkurrierendem Bezug auf antike und neulateinische Literatur wie auch romanische Renaissanceliteratur und entwickelt sie zugleich weiter. Was BLEULER an Scheits aemulatio exemplarisch herausarbeitet, kann zugleich als Signatur der in anderen Beiträgen (REUVEKAMP, REUVEKAMP-FELBER, GEROK-REITER) untersuchten Traditionsbezüge gelten, in denen sich »Setzung und Überwindung von Autorität gegenseitig bedingen« und so zum »Generator pluralisierter Neuheit« werden. Wie darüber hinaus – nun schon insgesamt – die Beiträge bestätigen, ist den komplexen Traditionsbezügen zwischen ›alt‹ und ›neu‹, mithin am Beispiel ganz unterschiedlicher Aneignungs-, Rezeptions-, Abgrenzungs- und Weiterentwicklungsphänomene mit temporalen Analysekategorien wie Kontinuität und Diskontinuität schwerlich beizukommen, wenn man sie binaristisch versteht. Dass diese Kategorien dagegen in ihrem paradoxen Miteinander gesehen werden müssen, ist eine durchgehende Erkenntnis, zu der jeder der Beiträge mit seinem jeweils eigenen Ansatz hinführt. Ein wichtiger Punkt, der sich aus der Lektüre der Analysen ergibt, ist zudem die Abhängigkeit von kontingenten Entstehungskontexten (etwa bestimmten Herrscherpersönlichkeiten und Rezeptionszentren). Viele Traditionen, und gerade solche der volkssprachlichen Literatur, sind nicht intendiert, entfalten sich nicht zielgerichtet und verlaufen auch nicht linear. Obwohl es zweifellos einen großen übergreifenden lateineuropäischen Traditionsstrom gibt, aus dem man schöpft, bleibt das volkssprachliche Traditionsverhalten dagegen oftmals punktuell, experimentell und subversiv. Seine spezifische Qualität erweist sich damit in der Differenz zum offiziellen lateinischen Traditionsdiskurs.

Kulturtransfer und Identitätsbildung Mit einem Ausblick auf die Lyrik Reinmars von Ricarda Bauschke

In der langen Zeitspanne, die unter der Epochenbezeichnung ›Mittelalter‹ subsumiert wird, gelten üblicherweise drei Ereignisräume als Phasen ›kulturellen Transfers‹: im 8. Jahrhundert die sogenannte ›karolingische Kulturreform‹, im 12. Jahrhundert die Rezeption der französischen Adelskultur und ab der Mitte des 15. Jahrhunderts die Ausbildung des Humanismus nach italienischem, rinascimentalem Vorbild. Kategorial rücken dabei der erste und der letzte Fall zusammen. Die Rezeption von patristischer Literatur und Werken der klassischen Antike fordert im frühen Mittelalter zur Auseinandersetzung mit paganem Gedankengut heraus, so dass sich das noch relativ junge christliche Weltbild weiter profilieren kann. Ähnlich sind es im Humanismus grundlegende Denkvorstellungen, die abgelöst werden. Empirische Naturwissenschaften verdrängen zunehmend die Zwei-Wahrheiten-Lehre und bilden eine Keimzelle für die spätere Aufklärung. Trotz der Andersartigkeit beider Fälle gibt es zwei evidente Parallelen. Zum einen findet kultureller Transfer in Reibung mit weltanschaulicher Differenz statt; zum anderen sind es Sprach- und Wissenstransfers, die den epistemologischen Wandel einleiten. Im 8. Jahrhundert wird antikes Gedankengut in den Bibliotheken konserviert, und die auf lateinischen Lettern fußende karolingische Minuskel dient auch für Transkriptionen der Volkssprache.1 In der Renaissance verliert das Latein seine Monopolstellung, indem verstärkt griechische und arabische Wissenstraditionen – in griechischer und syrischer Sprache – rezipiert werden; zugleich gewinnen die einzelnen Volkssprachen an Bedeutung.2 Durch Nachahmung und Austausch reformuliert sich die eigene Kultur und findet zu neuer Identität.

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Über die Bildungsreform siehe grundlegend JOSEF FLECKENSTEIN, Karl der Große und sein Hof, in: Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 1: Persönlichkeit und Geschichte, hrsg. von HELMUT BEUMANN, Düsseldorf 1965, S. 24–50. Siehe hierzu insgesamt PAUL OSKAR KRISTELLER, Humanismus und Renaissance I. Die antiken und mittelalterlichen Quellen; Humanismus und Renaissance II. Philosophie, Bildung, Kunst, hrsg. von ECKARD KESSLER, Übersetzung aus dem Englischen von RENATE SCHWEYEN-OTT (UTB 914/915), München 1973/1975.

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Der französisch-deutsche Kulturtransfer im Hochmittelalter, der die Ausbildung einer höfischen Kultur und Literatur auch im deutschen Sprachraum befördert, unterscheidet sich von den genannten Beispielen in wesentlichen Aspekten.3 Erstens gibt es keine weltanschaulichen Differenzen. Nicht in religiöser oder philosophischer Abgrenzung und Auseinandersetzung entsteht etwas Neues, vielmehr bietet das Christentum die einigende Basis für den Austausch. Gemeinsame Aktionen gegen Andersgläubige, wie sie sich in der Kreuzzugsbewegung manifestieren, stiften darüber hinaus ein besonderes Gefühl von Gemeinschaft.4 Deutlich wird dies nicht zuletzt in der Außenperspektive der nichtchristlichen Kontrahenten, in deren Wahrnehmung die christlichen Angreifer eine kohärente Gruppe bilden, während Ausdifferenzierungen in Franzosen, Deutsche, Italiener usw. kaum vorkommen.5 Zweitens führt die Heiratspolitik der Herrschenden zu weitreichenden dynastischen Verbindungen und verantwortet die Ausbildung einer europäischen Adelskultur. Einige prominente Beispiele machen dies sichtbar: Konstanze von Aragón, Tochter des Königs Alfons II., der auch Graf von Barcelona war, heiratete in erster Ehe König Emmerich von Ungarn und nach dessen Tod Friedrich II. Sie wurde mit ihrer zweiten Heirat Königin von Sizilien und ab 1212 deutsche Königin; an der Seite ihres Mannes wurde sie 1220 in Rom zur Kaiserin gekrönt.6 Eleonore, Herzogin von Aquitanien, stieg durch ihre Ehe mit Ludwig VII. zur Königin von Frankreich auf und wurde später, durch Heirat Heinrichs Plantagenet, Graf von Anjou und Herzog der Normandie, Königin von England.7 Diese Ehepraxis zieht sich durch alle Rangstufen des Adels; so wurde zum Beispiel Clementia von Namur (im heutigen Belgien), Tochter des Grafen Gottfried von Namur und seiner zweiten Ehefrau, Gräfin Ermesinde von Luxemburg, durch Heirat mit Konrad Herzogin von Zähringen.8 Ihre gemeinsame Tochter, ebenfalls mit Namen Clementia, heiratete in erster Ehe Herzog Heinrich den Löwen. Nachdem die Bestrebungen Friedrichs I. Barbarossa, die Ehe wegen zu naher Verwandtschaft zu annullieren, erfolgreich waren, heiratete Clementia den Grafen Humbert III. von Maurienne; Heinrich der Löwe ging eine zweite 3

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Darüber handelt JOACHIM BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 1986 u.ö., hier bes. Kap. II ›Die Rezeption der französischen Adelskultur‹. Vgl. etwa CARL ERDMANN, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens (Forschungen zur Kirchenund Geistesgeschichte 6), Stuttgart 1935. Unv. Nachdruck Darmstadt 1974. Solche national orientierten Kategorisierungen sind ohnehin anachronistisch (s.u.). Wird unterschieden, so bezieht sich dies auf regionale Gruppen. Zu den biografischen Eckdaten siehe OLAF B. RADER, Friedrich II. Der Sizilianer auf dem Kaiserthron. Eine Biographie, München 42012. Vgl. dazu PHILIPPE DELORME, Aliènor d’Aquitaine. Épouse de Louis VII., mère de Richard Cœur de Lion (Histoire des Reines de France), Paris 2001; REGINE PERNOUD, Königin der Troubadoure. Eleonore von Aquitanien, München 131995. Eine frühe Zusammenstellung der Daten und Fakten findet sich bei EDUARD HEYCK, Geschichte der Herzoge von Zähringen, hrsg. von der Badischen historischen Kommission, Freiburg im Breisgau 1891. Die politischen Aktivitäten der Zähringer beurteilt THOMAS ZOTZ, Dux de Zaringen – dux Zaringiae. Zum zeitgenössischen Verständnis eines neuen Herzogtums im 12. Jahrhundert, Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 139 (1991), S. 1–44.

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Ehe ein, und zwar mit Mathilde von England, Tochter von Heinrich und Eleonore (s.o.).9 Die Verbindungen ergeben sich aus machtpolitischen Erwägungen und werden über Sprachgrenzen hinweg geschlossen. Dabei bezeugt dieser Umstand, dass dynastische Annäherungen, etwa zwischen den Zähringern und den Grafen von Namur, den Welfen und den Plantagenets, dem König von Aragón und dem König von Ungarn, politisch opportun waren, weil solche Allianzen Zusammengehörigkeit konstituieren und konsolidieren sollten. Vorangetrieben und ermöglicht werden sie – neben den praktischen, machtorientierten Erwägungen – durch gemeinsame Wissenstraditionen und Identifikationsfiguren. Für den Kontinent ist dies in erster Linie Karl der Große;10 für England spielt König Artus eine vergleichbare Rolle.11 In einer parallelen literarischen Praxis schlägt sich das nieder; zahlreiche Gattungen und Textsorten überspannen die Einzelvolkssprachen.12 Drittens ist das Lateinische nicht selbst Gegenstand des Transferprozesses, sondern als Schrift- und Gelehrtensprache einigendes Medium der Kommunikation, also Bindeglied, das den Austausch auch über volkssprachige Grenzen hinweg ermöglicht.13 Vorstellungen kulturellen Transfers, wie sie für das 8. und das 15. Jahrhundert passen, können daher für das 12. Jahrhundert kaum gelten. Die Veränderungsprozesse, die im deutsch-französischen Austausch zu erkennen sind, vollziehen sich im Rahmen einer europäisch zu denkenden Adelskultur, und sie geschehen im Nebeneinander und Miteinander zweier Volkssprachen. MICHEL ESPAGNE und MICHAEL WERNER haben für ihre Beobachtungen zum deutsch-französischen Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert darauf aufmerksam gemacht, dass auf die Neuzeit bezogene Kulturtransferforschung meist mit Vorstellungen der ›Nationalkultur‹ operiert.14 Voraussetzung hierfür sind die Ausbildung einer nationalen Identität, die gleichwohl nur auf individueller Ebene erfassbar und dokumentier9

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Siehe KARL JORDAN, Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 41996; JOACHIM EHLERS, Heinrich der Löwe. Europäisches Fürstentum im Hochmittelalter, Göttingen 1997. Davon handeln die Beiträge in dem Band: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, hrsg. von BERND BASTERT, Tübingen 2004. Die Verflechtung von politischer und literarischer Mythenbildung bespricht BRIGITTE BURRICHTER, Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts (Poetica, Beihefte 21), München 1996. Eine Zusammenschau bietet hier erstmals FRITZ PETER KNAPP, Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters. Eine sozial-, kultur-, sprach-, ideen- und formgeschichtliche Einführung, Graz 2011. Für die Bedeutung des Latein als »Vatersprache des Abendlandes« siehe den historischen Abriss von JÜRGEN LEONHARDT, Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009. MICHEL ESPAGNE, MICHAEL WERNER, Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S., Francia 13 (1985), S. 502–510; MICHEL ESPAGNE, MICHAEL WERNER, Deutsch-französischer Kulturtransfer als Forschungsgegenstand. Eine Problemskizze, in: Transfers. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe–XIXe siècle), hrsg. von DENS., Paris 1988, S. 11–34; MICHEL ESPAGNE, Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung, in: Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, hrsg. von WOLFGANG SCHMALE, Innsbruck 2003, S. 63–75.

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bar ist, sowie ein bestimmter Grad an Differenzierung im Rahmen von ideologisch motivierten Abgrenzungsprozessen, die das Eigene profilieren, indem sie das Andere als Anderes ausstellen. Solch eine Kategorie von ›Nationalkultur‹ ist frühestens ab der Mitte des 18. Jahrhunderts anzusetzen, wobei die chronologische Korrespondenz mit dem sich gesamteuropäisch vollziehenden Säkularisierungsprozess auf eine Struktur gegenseitiger Bedingtheit verweist.15 Es ist evident, dass unter diesen Voraussetzungen für das Hochmittelalter die Vorstellung konkurrierender oder transferierender »Nationalkulturen« vollkommen verfehlt ist. Eine französische ›Nation‹ auf der einen Seite und eine deutsche auf der anderen, die sich beide über divergierende Traditionen, Abstammungen und Ähnliches definierten – und vor allem: voneinander abgrenzten – kann für die Zeit um 1200 nicht angesetzt werden. Sicherlich gibt es unterschiedliche Sitten und Gebräuche, die sich im historischen Prozess erst annähern. Wenn JOACHIM BUMKE beschreibt, dass die deutschen Höfe Zeremonielle der französischen Hofkultur übernehmen,16 setzt dies jedenfalls eine Differenz voraus, die als solche wahrgenommen wurde und schließlich durch Nachahmung und Rezeption verringert werden sollte. Auf der anderen Seite liegt aber wohl, und dies zeigen insbesondere die exemplarisch skizzierten Heiratsaktivitäten, ein Wunsch nach regional übergreifender Identitätsbildung vor. Er mag vielleicht machtpolitisch begründet sein, zieht im Effekt aber eine kulturelle Akkomodation nach sich, die wohl auch beidseitig stattgefunden hat. Mathilde von England etwa wird am Hof ihres Ehemannes Heinrichs des Löwen kaum das komplette Hofzeremoniell reformiert haben, zumal sie in den ersten Jahren ihre Stellung in der neuen familia erst festigen musste. Die Rezeption französischer Adelskultur in Deutschland, die BUMKE an konkreten Einzelphänomenen dingfest machen kann,17 erweist sich damit weniger als ein Kulturtransfer, der Neues begründet, denn als Wirkung einer bereits etablierten und sich weiter ausbildenden gesamteuropäischen Adelskultur, die ihre Identität durch Angleichung ihrer kulturellen Äußerungen festigen will. Für die Sprachdifferenz zwischen Romania und Germania lassen sich vergleichbare Neuakzentuierungen vornehmen, denn sprachliche Identität und kulturelle Identifikation gehen auch um 1200 nicht unbedingt konform, so dass ein identisches Idiom nicht zwingend die Ausbildung einer vormodernen ›Nationalkultur‹ impliziert. Die Galloromania selbst teilt sich in den okzitanischen Süden und den französischen Norden, der seinerseits ganz unterschiedliche Dialekte vom Champagnischen über das Picardische bis hin zum Anglonormannischen ausbildet.18 Deutscher Minnesang aktualisiert sich in Wechselwirkung mit Trobador- und mit Trouvèrekunst, auf die gleichermaßen Bezug

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ESPAGNE, WERNER, Kulturtransfer als Forschungsgegenstand [Anm. 14], S. 13f. BUMKE [Anm. 3], bes. S. 108–112. Ebd. S. 83–136. Zur Vielfalt der Sprachen und Mundarten in der Galloromania um 1200 siehe MIREILLE HUCHON, Histoire de la langue française, Paris 2002.

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genommen wird (s.u.).19 Die deutschen Mundarten zeigen ihrerseits in der Ost-WestAchse und auf beiden Seiten der Benrather Linie eine so große Vielfalt, dass sich die mittelhochdeutschen Dichter um eine überregionale Sprache bemühen müssen, damit sie auch an anderen Höfen verstanden werden.20 Dagegen steht der Schmelztiegel der oberrheinischen Kulturlandschaft für eine Gemeinschaft über sprachliche Grenzen hinweg. Sie lässt sich unter anderem persönlich fassen in familiären Beziehungen der Staufer oder Rudolfs von Fenis, die aufgrund der bereits angesprochenen Heiratspraxis eine Ehe über die Sprachgrenze hinweg geschlossen haben: Friedrich I. Barbarossa ist mit der burgundischen Prinzessin Beatrix verheiratet, die sich auch als Gönnerin romanischer Dichtung hervorgetan hat;21 Rudolf von Fenis hat eine provenzalische Ehefrau, deren Mutter ebenfalls mit in der familia Rudolfs lebt.22 Mehrfachkompetenzen im Deutschen, Französischen und Okzitanischen scheinen vor diesem Horizont durchaus üblich zu sein. Die primäre Ordnungsgröße im Hochmittelalter ist damit nicht eine vormodern zu denkende ›Nation‹, sondern die Region. In diesem Sinne aber kann dann etwa der Zähringer Hof in Freiburg leichter Beziehungen zu Troyes in der Champagne pflegen23 als beispielsweise nach Meißen oder nach Passau; und die daraus entstehenden persönlichen Bindungen begünstigen – auch sprachübergreifend – die Ausbildung von Gruppenidentitäten. Das Nebeneinander von regionalem Zusammengehörigkeitsgefühl (etwa am Oberrhein) und überregionaler Gemeinschaft (zum Beispiel bei den Großunternehmen der Kreuzzüge) widerspricht keinesfalls der Vorstellung einer europäischen Gemeinschaft. Vielmehr sind es Spannung und Reibung, welche sich aus der doppelten 19

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Vgl. RICARDA BAUSCHKE, Mittelalter, in: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. von DIETER LAMPING, Stuttgart/Weimar 2011, S. 306–334. Siehe dazu HERMANN PAUL, Mittelhochdeutsche Grammatik, durchgesehen von HUGO MOSER, INGEBORG SCHRÖBLER und SIEGFRIED GROSSE, Tübingen 221984, hier S. 8–15. Die entsprechenden Belege stellt BUMKE zusammen: JOACHIM BUMKE, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150–1300, München 1979. SIEGFRIED PFAFF, Rudolf von Fenis, ZfdA 18 (1875), S. 44–58; ERNST BALDINGER, Der Minnesänger Graf Rudolf von Fenis-Neuenburg. Eine literarhistorische Untersuchung (Neujahrsblätter der literarischen Gesellschaft Bern NF 1), Bern 1923. Über die Eheschließung Konrads von Zähringen mit Clementia (s.o.) ist die Verbindung zu den Grafen von Namur familiär konstituiert. Da diese ihrerseits Kontakte zu den Grafen der Champagne pflegen, stellt sich eine direkte Linie zu Chrétien de Troyes her, der Marie de Champagne als Auftraggeberin für seinen ›Lancelot‹ nennt. Wird die These, dass Hartmann von Aue in Diensten der Herzöge von Zähringen gestanden hat, akzeptiert (Diese Möglichkeit diskutieren im Vergleich zu anderen Optionen CHRISTOPH CORMEAU, WILHELM STÖRMER, Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung, München 21993, hier S. 34–36.), ergibt sich das Bild eines politisch-dynastischen Fadens, der Literaturkontakte über die Sprachgrenzen hinweg ermöglicht: Hartmann von Aue als Bearbeiter der Chrétienschen Artusromane ›Erec et Enide‹ und ›Yvain‹ hätte die Vermittlung speziell dieser Vorlagen dann dem rein praktischen Umstand zu verdanken, dass die altfranzösischen Erzählwerke einerseits für seinen Gönner gut erreichbar waren und der Zähringer Herzog andererseits seinen romanischen Verwandten und Freunden in literarisch geprägter adliger Repräsentationskultur nicht nachstehen wollte.

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Zugehörigkeit ergeben, die bis heute – und eben auch schon im Mittelalter – Konstituens der europäischen Grundidee sind. Auf der anderen Seite dürfen diese Versuche, das Verbindende zu profilieren und Harmonie heraufzubeschwören, nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gerade in Bezug auf die Sprachunterschiede zwischen Deutsch und Französisch bzw. Okzitanisch im Mittelalter auch Tendenzen gibt, das jeweils Eigene stärker hervorzuheben. Äußerungen, welche die Selbstwahrnehmung der mediävalen Zeitgenossen spiegeln, vermitteln einen ebensolchen Eindruck. Immerhin entfalten Möglichkeiten und Grenzen von Kommunikation aufgrund der Identität bzw. Differenz von Sprache Potentiale der Gruppenkonsolidierung bzw. der Abgrenzung oder sogar der Ausgrenzung. Im Sinne einer Heuristik der Interpretation sollen daher in dem hier entworfenen Zusammenhang in einem ersten Schritt drei Beispiele betrachtet werden, wie romanische und deutsche Sprecher das Andere profilieren und ablehnen oder aber sinnstiftend akzeptieren und dem Eigenen aneignen. Die Exempelfälle sind bekannt und erforscht, dienen aber nunmehr als Zeitzeugnisse, an denen sich Grade von Toleranz, Akzeptanz, Einverleibung und Reibung ablesen lassen. Die Skizze bildet die Basis für einen zweiten Schritt, in dem die Etikettierung ›kultureller Transfer‹ für den Zeitraum um 1200 in Frage zu stellen ist. Schließlich wird – als dritter Schritt – an einem konkreten Fall aus der Lyrik zu zeigen sein, dass sich poetische Texte zwar einzelsprachig aktualisieren, dabei aber stets Teil eines sprachübergreifenden literarischen Gesamtsystems sind. Da eine historische Dimension zusätzliche Erkenntnisse verspricht, beginnt die Beispielreihe vor dem Hochmittelalter.

Inszenierung von Einheit und Vielfalt Identität des Heterogenen: Straßburger Eide In den Jahren 841/842 schließen die beiden jüngeren Brüder Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche ein Bündnis gegen den dritten, ältesten Bruder, Kaiser Lothar, alle drei Söhne Ludwigs des Frommen und damit Enkel Karls des Großen.24 Am 14. Februar 842 treffen die Bündnispartner bei Straßburg zusammen und schwören einen gegenseitigen Eid, den sie jeweils in der Volkssprache des anderen leisten, um von dessen Heer verstanden zu werden: Karl, Herrscher des westfränkischen, also romanischen Reiches, spricht die Eidformel im rheinfränkischen Dialekt; Ludwig hingegen, ostfränkischer Herrscher über einen Sprachraum der teudisca lingua, leistet den gleichen

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Informationen zur historischen Situation, welche speziell auf die Gebrauchssituation der Eide bezogen sind, bietet FLORUS VAN DER RHEE, Die Straßburger Eide. Altfranzösisch und Althochdeutsch, Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 20 (1983), S. 7–25.

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Schwur in einer Vorform des Altprovenzalischen oder Altfranzösischen.25 Es folgen darauf noch die Treue-Eide beider Heere, mit denen sich die Gefolgsleute von der Loyalitätspflicht gegenüber ihrem jeweiligen Herrn für den Fall lossagen, dass dieser den Bündniseid breche. Die beiden Kollektiveide werden in der eigenen Sprache geleistet – die Westfranken schwören französisch, die Ostfranken deutsch. Es existieren also insgesamt vier Eidformeln, zwei in jeder Sprache. Gemeinsam tradiert sind die Wortlaute lediglich in einer Überlieferung mit zeitlichem Abstand. Die Eide wurden zwar offenbar unmittelbar in die Chronik ›Historiarum Libri IV‹ integriert, die Nithart, Sohn von Berchta und damit ebenfalls ein Enkel Karls des Großen, im Auftrag Karls des Kahlen herstellte; erhalten ist das lateinisch verfasste Werk jedoch nur in einer Abschrift aus dem 10. oder 11. Jahrhundert.26 Die zweisprachigen Eide bieten einen Paradefall der Koexistenz von Einheit und Vielfalt. Mit dem performativen Akt des Eidrituals wird ein bereits geschlossenes Treuebündnis fortgesetzt, das sich schon in dem Entschluss Karls und Ludwigs, gegen den Bruder Lothar vorzugehen, konstituiert hatte. Dabei beschwört – im wahrsten Sinne des Wortes – die Kombination der französischen und deutschen Eidformeln eine Union über sprachliche Grenzen und Herrschaftsbereiche hinweg. Kampfbruderschaft und politische Interessen können die Unterschiede überbrücken; dies soll zumindest der Eid fixieren. Auf der anderen Seite weist die Notwendigkeit der Doppelsprache allererst auf die Andersartigkeit der beiden Gemeinschaften hin, die sich hier zusammenschließen; und es bleibt offen, wie sich die Loyalitätsversprechen lebenspraktisch umsetzen lassen, wenn die Gefolgsleute – und dies belegen die Eide auch – nicht einmal die andere Sprache verstehen. Symptomatisch ist hier, dass der Einheitswille, der sich in den Eiden manifestiert, über die Verschiedenheit hinweggeht, die im sprachlichen Nebeneinander erst deutlich wird. Das Sprachgemisch wird also bewusst gesetzt, um sein Potential, Differenz zu erzeugen, und die damit verbundene politische Gefahr zu bannen. Es sind dynastische und machtstrategische Beweggründe, mit denen die Protagonisten von 842 Einheit wahrnehmen und fordern. Sicherlich provoziert der gemeinsame Feind Lothar, älterer Bruder, Kaiser und Herrscher des Mittelreiches, den Zusammenhalt seiner Gegner; die historische Grundlage für die Union der jüngeren Brüder Karl und Ludwig aber ist die Einheit des karolingischen Großreiches einerseits und die durch Erbfolgeregelungen bedingte Entstehung der fränkischen Teilreiche andererseits. Schon die von Sachsen bis Rom und Neustrien bis Bayern angesiedelten Völker haben sich nicht aufgrund eines etwa organisch gewachsenen Gemeinschaftsgefühls zusammen25

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Die Sprachhistoriker sind sich über diesen Punkt uneins, vgl. den Kommentar von KARL VOR3 ETZSCH, Altfranzösisches Lesebuch, Tübingen 1966, S. 4. Insgesamt zu den Straßburger Eiden, ihrer politischen Vorgeschichte, ihrer kulturellen Funktion sowie ihrer Überlieferung siehe VAN DER RHEE [Anm. 24], sowie ERWIN KOLLER, Zur Volkssprachlichkeit der Straßburger Eide und ihrer Überlieferung, in: Althochdeutsch, in Verbindung mit HERBERT KOLB, KLAUS MATZEL, KARL STACKMANN hrsg. von ROLF BERGMANN, HEINRICH TIEFENBACH, LOTHAR VOETZ, Heidelberg 1987, Bd. 1: Grammatik. Glossen und Texte, S. 828–838.

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geschlossen, sondern die sie umfassende Einheitsvorstellung ist auf die Herrscherperson Karls des Großen und seine Eroberungserfolge fokussiert.27 Wie die Schlacht von Fontenoy belegt, war bereits Karls Sohn Lothar nicht mehr in der Lage, für die Stabilität des Großreiches zu sorgen.28 Die Bereitschaft zur Union, die Karl und Ludwig zusammenführt, speist sich also aus der karolingischen Gemeinschaft, verantwortet aber den Reichszerfall selbst mit, wenn das Bündnis gegen den universellen Anspruch Lothars geschlossen wird. – Die betroffenen Völker und ihre kulturellen Identitäten sind dabei lediglich Manövriermasse; Akteure der Handlung bleiben mächtige Einzelpersonen. Ihre Beweggründe finden sich im dynastischen Anspruch ebenso wie im Familienverband. Entsprechend enthalten beide Eidformeln den Hinweis auf die Verwandtschaft. Karl schwört: sô fram sô mir got geuuizci indi mahd furgibit, sô haldih thesan mînan bruodher, sôso man mit 29 rehtu sînan bruodher scal.

Die Worte Ludwigs lauten: en quant deus saueir et podeir me donat, si salvarai eo cest meon fradre Karlo et en aiudha et 30 en cadhuna cosa si com om per dreit son fradre saluar deist

Dass auch Lothar beider Bruder ist und ihn die allgemeinere Formulierung im zweiten Teil genauso beträfe, blendet der Eid aus. Die Gemeinschaftseide der Heere perspektivieren ebenso die Verwandtschaft: Oba Karl then eid, then er sinemo bruodher Ludhuuige gesuor, geleistit bzw. Si Lodhovigs sagrament, quae son fradre Karlo jurát, conservat 31

Der Bezugspunkt ist der einzelne Herrscher bzw. hier die beiden Brüder, in deren Personen sich die Einheit der Vielfalt vollzieht. Da ihre gemeinsame Interessenbildung über die Sprachgrenze des westfränkischen und ostfränkischen Reiches hinausgeht, dienen die Eidformeln einer Inszenierung von Mehrsprachigkeit, damit eben diese Sprachvielfalt als trennender Faktor ausgeschlossen werden kann. In diesem Sinne konstituiert das gemeinsame doppelsprachige Ritual eine Identität des Heterogenen.

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Für eine Gesamtdarstellung siehe PHILIPPE DEPREUX, NICOLAS WINTZ, MARGOT ROLLER, Karl der Große. Die Geburt Europas, Hildesheim 2004. Ebd. Zitiert nach VORETZSCH [Anm. 25], S. 4–6. Übersetzung: ›Soweit mir Gott Wissen und Macht gibt, werde ich meinem Bruder Karl beistehen, sowohl in der Waffenhilfe als auch in jeder anderen Sache, so wie man seinem Bruder beistehen soll.‹ Übersetzung: ›Falls Ludwig/Karl den Eid, den er seinem Bruder Karl/Ludwig schwört, wahrt‹.

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Deutsche Aneignungen französischer Erzählwerke: Konrads ›Rolandslied‹ Vermutlich im Auftrag Heinrichs des Löwen32 verfasst der klerikal gebildete Konrad um ca. 1170 eine deutsche Bearbeitung der französischen ›Chanson de Roland‹.33 Im Epilog erwähnt er den romanischen Ursprung des Stoffes: diu matteria, diu ist scœne, diu süeze wir von im haben. daz buoch hiez er vor tragen, gescriben ze den Karlingen. (›Rolandslied‹, vv. 9020–23)34

Der Wunsch, eine deutsche Bearbeitung herzustellen (in tiutische zungen gekêret, v. 9033), geht angeblich auf Heinrichs Frau zurück (aines rîchen küniges barn, v. 9025); wird die Annahme, bei Konrads herzoge[…] Hainrîche (v. 9018) handele es sich um Heinrich den Löwen, akzeptiert, ergibt sich in der Konsequenz die Identifikation der Gönnerin mit der anglonormannischen Prinzessin Mathilde, Tochter von Heinrich II. und Eleonore (s.o.). Konrad steht damit noch relativ am Anfang einer Tendenz, die dann grundlegend für die Ausbildung der höfischen Erzählkultur in deutscher Sprache wird, nämlich Übernahme und Aneignung französischer Vorlagen, um auf der Basis einer romanischen Quelle einen selbständigen deutschen Text herzustellen. Den Adaptationsprozess beschreibt Konrad in einer Weise, dass die Transferleistung ebenso exponiert wird wie die sprachliche Differenz; vom Französischen habe er das Werk zuerst ins Lateinische übersetzt, um es dann von dort aus ins Deutsche zu übertragen: alsô ez an dem buoche gescriben stât in franzischer zungen, sô hân ich ez in die latîne betwungen, danne in die tiutische gekêret. ich nehân der nicht an gemêret, ich nehân der nicht überhaben. (›Rolandslied‹, vv. 9080–85)

Ob die lateinische Zwischenstufe tatsächlich existiert hat,35 oder ob das Stichwort »Latein« nur als Metapher für einen bestimmten Literarisierungsprozess unter geistlichen

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Zur Diskussion über die Gönnerschaft vgl. DIETER KARTSCHOKE, Die Datierung des deutschen Rolandsliedes (Germanistische Abhandlungen 9), Stuttgart 1965; EBERHARD NELLMANN, Karl der Große und König David im Epilog des deutschen Rolandsliedes, ZfdA 94 (1965), S. 268–279; KARL BERTAU, Das deutsche Rolandslied und die Repräsentationskunst Heinrichs des Löwen, Der Deutschunterricht 20/2 (1968), S. 4–30. Als konkrete Vorlage wird allgemein eine Redaktion der ›Chanson de Roland‹ angenommen, die dem ›Oxforder Roland‹ nahe steht, siehe dazu KARTSCHOKE [Anm. 32]. Vgl. ebenso HANS-ERICH KELLER, La place du ›Rolandslied‹ dans la tradition rolandienne, Moyen Age 71 (1965), S. 215– 246, 401–421. Alle Zitate nach der Ausgabe: Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mhd./nhd., hrsg., übersetzt und kommentiert von DIETER KARTSCHOKE, Stuttgart 1993. Die Position vertritt KARTSCHOKE [Anm. 32].

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Vorzeichen dient,36 soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Von Interesse ist vielmehr, dass Konrad, anders als es in den Straßburger Eiden geschieht, den sprachlichen Unterschied thematisch macht. Aus dem Französischen muss das Werk übersetzt werden (gekêret, v. 9083), damit es ein deutsches Publikum wahrnehmen kann. Nicht die Einheit in der Vielfalt wird hier beschworen, sondern die Diskrepanz der Sprachen betont. Wenn Konrad sich mit seiner Leistung, diese Differenz im Übersetzungsakt zu überwinden, implizit lobt, zeigt dies noch verstärkt, wie fern sich die betroffenen Sprachgemeinschaften stehen können. Andere Prologpassagen setzen allerdings Aspekte dagegen, die das Verbindende in den Blick nehmen: Die herzogliche Ehe ist über die Sprachgrenze hinweg geschlossen worden; wie bei den Straßburger Eiden bildet Verwandtschaft also das argumentative Fundament. Der behandelte Karlsstoff interessiert die Nachfahren des ostfränkischen Reiches genauso wie die des westfränkischen. Der Text wird zwar sprachlich übertragen, angeblich aber weder vermehrt noch gekürzt. Aus diesem Bündel lässt sich daher auch die Behauptung ableiten, dass außer der Sprache Germania und Romania nichts trenne; und selbst für diese Differenz gibt es eine Möglichkeit der Überbrückung, die Gelehrtensprache Latein. Sie ist gemeinsamer Nenner und Bezugspunkt für Konrads Transfer, Medium und Garantin der Verständigung zwischen französischen und deutschen Sprechern. Da jedoch Latein als Sprache der Gebildeten zugleich auch Kontrapunkt der Volkssprachen ist, rücken die vulgatae ihrerseits näher zusammen. Gleiches ist übrigens schon bei den Straßburger Eiden geschehen, wo die volkssprachigen Zitate in den lateinischen Text der Chronik inseriert sind; die französischen und deutschen Formeln stehen dadurch stärker zueinander. Auch bei Konrad scheint die Differenz von Französisch und Deutsch mit Hilfe des Latein insofern überbrückt, als an ihre Stelle eine andere Polarisierung tritt, nämlich die von Volkssprache und Sprache der Gebildeten.

Deutschenschelte bei Peire Vidal Der Trobador Peire Vidal, nachweisbar zwischen 1175 und 1205, hat in Verbindungen zu sehr unterschiedlichen Gönnern gestanden. Ihre geographische Verbreitung zwingt dazu, eine große Mobilität des Okzitanen anzunehmen: Er steht im Dienst des Grafen Raimund von Toulouse; er reist in den 1190er Jahren nach Italien, wo er am Hof des Marquis de Montferrat auftaucht; er begleitet vermutlich den Hochzeitszug von Konstanze, einer Tochter seines Mäzens Alfons II. von Aragón, nach Ungarn, wo diese

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Diese These formuliert RICARDA BAUSCHKE, ›Chanson de Roland‹ und ›Rolandslied‹. Historiographische Schreibweise als Authentisierungsstrategie, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050– 1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag, hrsg. von ANNEGRET FIEBIG, HANS JOCHEN-SCHIEWER, Berlin 1995, S. 1–18.

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1198 König Emmerich heiratet (s.o.).37 Auf seinen Reisen kommt Peire Vidal immer wieder mit deutscher Sprache und Kultur in Berührung, und dies veranlasst ihn zu scharfer Polemik gegen die Deutschen. Walther von der Vogelweide reagiert darauf zurückweisend und mit Gegendarstellung in seinem Preislied Ir sult sprechen willekomen.38 Zwei Spottstrophen sind von Peire Vidal überliefert,39 wovon besonders eine interessiert, nämlich Strophe II von PC 364,14, Bon’ aventura do Deus als Pizas (›Gottes Segen für die Pisaner‹): Alamans trob deschauzitz e vilas, e quan negus se fenh d’esser cortes, ira mortals e dols et enois es, e lor parlars sembla lairar de cas. per qu’eu no volh esser senher de Friza, qu’auzis tot jorn lo glat dels enojos, ans volh estar entrels Lombartz jojos, pres de mi dons qu’es gaja blanc’ e liza.40

Die Abgrenzung von den Alamans findet auf verschiedenen Ebenen statt. Sie ist in erster Linie ihrer literarischen Funktion untergeordnet, nämlich dem Lob der eigenen, romanischen Dame. Damit der implizierte Vergleich sinnvoll ist und auch von den Rezipienten mit der gewünschten Bedeutung gefüllt werden kann, müssen die Elemente, die sich auf eine nichtliterarische Außenwelt beziehen, zumindest konsensfähig sein und eine historisch akzeptierbare Wissensmenge aufrufen. In diesem Sinne gibt es zwei Kriterien, mit denen laut Peire Vidal die Deutschen abzuwerten sind: die fehlende Hofkultur und die hässliche Sprache, die an Hundegebell erinnert. Auch Peire de la Cavarana, ein Zeitgenosse Vidals, hebt in seiner Deutschenschelte das Sprachargument hervor, PC 334,1, D’un sirventes faire (›Ein Lied zu machen‹), Strophe IV: La gent d’Alemaigna non voillaz amar, ni la soa compaigna 37

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Zu Peire Vidal und den verschiedenen Lebensstationen, wie sie sich aus seinen Liedern rekonstruieren lassen, vgl. ERNEST HOEPFFNER, Le troubadour Peire Vidal. Sa vie et son œuvre, Paris 1961. Siehe dazu RICARDA BAUSCHKE, Die ›Reinmar-Lieder‹ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung, Heidelberg 1999, zu Walthers Lied 56,14 speziell S. 134–167. Zuerst darauf aufmerksam gemacht hat WILHELM NICKEL, Sirventes und Spruchdichtung (Palaestra 63), Berlin 1907, S. 21f. Die Lyrik Peire Vidals wird hier und unten zitiert nach: Peire Vidal. Poesie. Edizione critica e commento, 2 Bde., hrsg. von D’ARCO SILVIO AVALLE, Mailand/Neapel 1960. Übersetzung: ›Ich finde die Deutschen zu unhöfisch und plump, und wenn einer von ihnen versucht, höfisch zu sein, ist es ein tödlicher Kummer und Schmerz und bitterer Verdruss. Ihr Gerede gleicht dem Gebell der Hunde. Auch möchte ich nicht der Herr von Friesland sein, der ständig das Kläffen dieses lästigen Volkes hören muss. Ich wäre lieber bei den fröhlichen Lombarden, in der Nähe meiner freundlichen und zärtlichen Dame mit ihrem weißen Antlitz.‹

Ricarda Bauschke

40 nous plaza usar, c’al cor m’en fai laigna ab lor sargotar.41

Die Aussagen der Trobadors unterscheiden sich kategorial von den beiden zuvor entfalteten Beispielen, denn in ihnen wird keinerlei Einheit evoziert. Vielmehr markiert die Polemik einen Abstand, der durch seine Thematisierung fest- und fortgeschrieben werden soll. Während die Straßburger Eide und das ›Rolandslied‹ die Differenz weginszenieren, exponieren die Provenzalen sie absichtsvoll. Die Gründe für solch eine Demonstration von Abwehr können in einem stark empfundenen Fremdheitsgefühl liegen, sich aber trotzdem auf eine Form von Einheit beziehen, die eher für Nähe als für Ferne steht: Im Zuge der intensiven Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik entstehen für die deutschen Dichter neue formale und inhaltliche Möglichkeiten, das Minnethema zu behandeln. Der Stauferhof von Friedrich I. Barbarossa und seiner burgundischen Ehefrau Beatrix bietet das Modell, nach dem auch die kleineren oberrheinischen Höfe sich als Foren und Umschlagplätze für bilingualen Austausch hervortun, vor allem wenn sie aufgrund dynastischer Verbindungen selbst zweisprachig sind.42 Die Sänger profitieren voneinander, stehen wohl aber auch in Konkurrenz um die Gunst des Gönners. Gerade für die okzitanischen und französischen Vorbilder kann es dabei schwierig sein, wenn deutsche Nachahmer ihre Kunst imitieren oder sie sogar übertrumpfen. Im Horizont dieser Überlegungen artikulieren die Schelttiraden der beiden Provenzalen zwar eine romanisch-deutsche Differenz; die Notwendigkeit zur Abgrenzung vom Anderen, um das Eigene positiv hervorzuheben, ergibt sich jedoch erst im Kontext einer europäischen Einheit, in der sich ein lyrisches System in verschiedenen Sprachen aktualisiert und die Koordinaten des Literaturbetriebs aus denselben Orten und Akteuren bestehen. Peire Vidals Abgrenzung entfaltet sich auf der Basis eines grundsätzlichen Zusammenschlusses; seine Inszenierung von Vielfalt funktioniert nur im Rahmen von Einheit. * Die ganz unterschiedlichen Beispiele haben in ihrer Zusammenschau gezeigt, dass in der europäischen Selbstwahrnehmung – konkret bezogen auf romanisch-deutsche Beziehungen – Akzeptanz und Toleranz ebenso vorkommen wie Einverleibung und Reibung. Auch Kritik und Abwehr des Anderen belegen dabei nicht zwingend Disparatheit, 41

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Zitiert nach: I trovatori d’Italia. Biografie, testi, traduzioni, note, hrsg. von GIULIO BERTONI, Modena 1915, Lied PC 334,1 S. 206–209. Übersetzung durch NICKEL [Anm. 39], S. 22, Anm. 2: ›Das deutsche Volk wollet nicht lieben, und nicht gefalle euch seine Gesellschaft, denn im Herzen macht es mir Beschwerde, mit ihnen zu kauderwelschen.‹ Dazu BUMKE [Anm. 21]. Konkrete Einzelfälle bespricht RICARDA BAUSCHKE, Alemannische Minnesänger des 13. Jahrhunderts, Alemannisches Jahrbuch 55/56 (2007/2008), S. 101–110. Vgl. grundlegend JOACHIM BUMKE, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick, Heidelberg 1967.

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sondern können auf einen Verbund hinweisen, den Einzelne überhaupt nur dann diskutieren und in Frage stellen, wenn prinzipiell Einheit die solide Grundlage einer kulturellen Gemeinschaft bildet und auch so gelebt wird. Die Faktoren, über die letztlich in allen drei Fällen Union hergestellt und stabilisiert wird, sind Verwandtschaft und/oder Herrschaft; beide setzen zumindest an ihren Anfangspunkten keine Sprachgemeinschaft voraus: Die Brüder Karl und Ludwig herrschen über romanisches und germanisches Gebiet, Mathilde muss in der Ehe mit Heinrich ihre Deutschkenntnisse erst ausbilden, und Peire Vidal impliziert hypothetisch die Option, ein fremdsprachiges Volk zu beherrschen, auch wenn er im literarischen Spiel diese Chance zugunsten seiner Dame ausschlägt.

›Kulturtransfer‹ als Beschreibungskategorie Insbesondere die beiden letzten Beispiele verdeutlichen, dass kultureller Austausch im Hochmittelalter die literarische Produktion bestimmt. Während jedoch das ›Rolandslied‹ den deutschen Dichter als Nachahmer eines konkreten Prätextes zeigt, verschiebt sich die Situation in der lyrischen Praxis um 1200. Peire Vidals Abgrenzungsversuch ist eine Auseinandersetzung, der die Wahrnehmung des Anderen vorangehen muss, und zwar eines Anderen, das dem Eigenen nahe kommt und dadurch bedrohlich wirkt. Solch eine Interaktion ist mit überkommenen Kategorisierungen schwer zu fassen. Dass die Vorstellung von ›Nationalkulturen‹ nicht greift, ist in den obigen Eingangsüberlegungen bereits angedeutet worden.43 Doch auch das kleinteiligere Beschreibungsraster, welches PETER BURKE vorschlägt,44 stößt schnell an seine Grenzen. BURKEs Anliegen war es, durch ausdifferenzierte Merkmalbündel historische Transferphänomene in ihren Eigenarten zu würdigen. Er rekonstruiert dafür sechs Transfertypen: 1. Rezeption nach Maßen des Empfängers, 2. Nachahmung, 3. Aneignung bzw. Plünderung, 4. Akkomodation, 5. Synkretismus, 6. Hybridisierung. Die Vielfalt der Verfahren und vor allem die chronologische und topographische Heterogenität45 der von BURKE zugeordneten Beispiele suggerieren einen allgemeinen Geltungsanspruch der Klassifikatio43

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Siehe oben die Erläuterungen zum Entwurf von MICHEL ESPAGNE und MICHAEL WERNER [bibliographische Angaben Anm. 14]. PETER BURKE, Kultureller Austausch, aus dem Englischen von BURKHARDT WOLF, Frankfurt am Main 2000, S. 9–40. – Primär ging es BURKE um das Referat differierender methodischer Zugänge und unterschiedlicher Begriffsbildungen, mit denen in den vergangenen Generationen Austauschphänomene beschrieben und theoretisiert wurden. De facto liefert er dann aber Typisierungsmöglichkeiten verschiedener Transferprozesse. BURKEs Beispiele reichen von der Antikerezeption (im Modus der Nachahmung klassischer Vorbilder etwa durch den Humanismus) über Anpassungsphänomene, die im Zuge christlicher Missionierung in China oder Peru offenbar werden, bis hin zu ethnologisch-anthropologischen Forschungen des 19. Jahrhunderts, die Synkretismen afrikanischer und amerikanischer Religionsvorstellungen untersuchen.

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nen und lassen zudem den Eindruck entstehen, historische Austauschprozesse könnten eindimensional immer nur einer Kategorie zugeordnet werden.46 In der praktischen Anwendung auf das Hochmittelalter erweisen sich allerdings gleich fünf von sechs der von BURKE postulierten Transfertypen als zutreffend: (1.) Die deutschen Autoren rezipieren französische Dichtung nach ihren eigenen intellektuellen Möglichkeiten; (2.) Konrad etwa suggeriert eine Nachahmung der ›Chanson de Roland‹, wenn er behauptet, weder zu kürzen noch zu längen, eignet sich aber (3.) plündernd den Stoff an, um ihn stärker zu christianisieren und damit (4.) einem anderen, geistlichen Kontext anzupassen (Akkomodation). Ein echter Synkretismus (5.) ist dies nicht, weil das christliche Weltbild Frankenreich und Deutsches Reich umspannt. Hybride Formen (6.) entstehen dort, wo heimische Traditionen sich mit Höfisierungsversuchen nach französischem Vorbild verbinden und ein neues Ganzes entsteht, etwa beim ›Nibelungenlied‹.47 Die von BURKE unterschiedenen Transferarten rufen also nicht grundsätzlich verschiedene Verfahren des kulturellen Austausches auf, sondern sind vielmehr Beschreibungsmerkmale, die potentiell auf jeden Kulturtransfer zutreffen können. Sie bilden unter Umständen aufeinanderfolgende Stufen eines diachronen Verlaufs ab, anstatt Alternativmodelle vorzuschlagen; und sie können wohl auch als additives Merkmalbündel Gradmesser sein, an dem Intensität und Nachhaltigkeit von Transferprozessen und ihren kulturellen Auswirkungen ablesbar sind. – Allerdings bleibt selbst diese kreative Anwendung von BURKEs Konzept für das Hochmittelalter unbefriedigend, da Austausch und Transfer weiter als Einbahnstraßen gedacht werden. Auf die Literatur um 1200 bezogen bedeutet dies, dass die Philologie das alte Denkmodell von Vorlage und Nachahmung fortsetzt und sich – überspitzt formuliert – systemische Zugriffe nur einzelsprachig vorstellen kann. Welche Chancen damit verschenkt werden bzw. was für andere Wege es einzuschlagen gilt, zeigt das abschließende Fallbeispiel der Lyrik Reinmars des Alten.48

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Die Unterscheidungsnotwendigkeit, die BURKE stattdessen favorisiert, bezieht sich auf zwei mögliche Ergebnisse bzw. Konsequenzen kulturellen Austausches, und zwar einerseits die »Mischung« und andererseits eine Art »kultureller Kreolisierung« (im Sinne einer linguistischen Metapher); vgl. BURKE [Anm. 44], S. 35f. Das ›Nibelungenlied‹ trägt als Wiedererzählung von Stoffelementen und Motiven, die aus der germanischen Vorzeit stammen und einen im weitesten Sinn historischen Kern besitzen, archaische Züge, etwa in der Anlage bestimmter Figuren (Hagen, Brünhild), in der Erzählweise (Schaubildtechnik, Gerüstmotivik, Paradigmatik) oder in den Motivationen (unkontrollierte Affekte, Dominanz vorhöfischer Werte). Das Material dieser histoire wird unter den Vorzeichen höfischer Diskursverfahren aktualisiert, dem Zeitgeschmack angepasst und im Rückbezug auf aktuelle Denkmodelle (minne-Konstellationen, aventiure-Schema u.a.) aufbereitet. Dadurch entsteht ein hybrider Text, der divergierenden Konventionen folgt und durch ambivalente semantische Optionen zum Teil gezielt widersprüchlichen Sinn erzeugt. Die maßgebliche Monografie stammt von ALBRECHT HAUSMANN, Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität (Bibliotheca Germanica 40), Tübingen/Basel 1999.

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Reinmar und die Romania49 Die potentiellen romanischen Einflüsse werden für Reinmars Œuvre widersprüchlich diskutiert. Einerseits gilt er als »Meister der Kanzone«, deren Wurzeln in der Romania liegen.50 Andererseits erkennen die Philologen bisher eher selten konkrete Orientierung und direkte Übernahme romanischer Prätexte als Gestaltungsverfahren Reinmars an. So akzeptiert etwa NICOLA ZOTZ allein sein Lied Ein wîser man sol niht ze vil (MF 162,7ff.) als konstruktive Bearbeitung einer Strophe von Gace Brulé, Je di ke c’est grans folie;51 sie steht in Lied R 1232, Bien cuidai toute ma vie (›Ich dachte wirklich, mein Leben lang‹), an zweiter Stelle:52 Bien cuidai toute ma vie Joie et chanson oblieir, Maix la contesse de Brie, Cui comant je n’os veeir, M’ait comandeit a chanteir; Or est bien drois ke je die, Quant li plaist a comandeir. (I) Je di ke c’est grans folie D’essaier ne d’esproveir Ne sa feme ne s’amie Tant com on la veult ameir; Ains se doit on bien gairdier D’enquerre, per jalousie, Ceu c’om n’i voroit troveir. (II)53

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Siehe dazu auch den Artikel von RICARDA BAUSCHKE, 3. Minnesang III. Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide, in: Handbuch der deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300), Bd. 3 (2012), S. 183–230. EWALD JAMMERS, Der Vers der Trobadors und Trouvères und die deutschen Kontrafakturen, in: Medium aevum vivum. Festschrift für Walther Bulst, hrsg. von HANS ROBERT JAUSS, DIETER SCHALLER, Heidelberg 1960, S. 147–160; SILVIA RANAWAKE, Höfische Strophenkunst. Vergleichende Untersuchungen zur Formtypologie von Minnesang und Trouvèrelied an der Wende zum Spätmittelalter (MTU 51), München 1976. NICOLA ZOTZ, Intégration courtoise. Zur Rezeption okzitanischer und französischer Lyrik im klassischen deutschen Minnesang (GRM, Beihefte 19), Heidelberg 2005. Zitiert nach: The Lyrics and Melodies of Gace Brulé, hrsg. und übersetzt von SAMUEL N. ROSENBERG, SAMUEL DANON, die Musik hrsg. von HENDRIK VAN DER WERFT (Garland Library of Medieval Literature A, 39), New York/London 1985. ZOTZ [Anm. 51], S. 137f., übersetzt: ›Ich dachte wirklich, ich würde mein Leben lang Freude und Gesang vergessen, aber die Gräfin von Brie, deren Befehl ich mich nicht zu widersetzen wage, hat mir befohlen zu singen; nun ist es recht, dass ich mich äußere, da es ihr gefällt zu befehlen.‹ (I) – ›Ich sage, dass es eine große Torheit ist, seine Frau oder seine Freundin zu versuchen oder auf die Probe zu stellen, solange man sie lieben möchte; man soll sich vielmehr hüten, aus Eifersucht nach dem zu forschen, was man gar nicht finden will.‹ (II).

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Reinmar löst die französische cobla aus ihrem Kontext heraus; in seinem Lied avanciert sie zur Exordialstrophe.54 Sie dient dort als Ausgangspunkt für eine Diskussion über Minne und Gesellschaft:55 Ein wîser man sol niht ze vil versuochen noch gezîhen, dêst mîn rât, von der er sich niht scheiden wil, und er der wâren schulden doch keine hât. Swer wil al der welte lüge an ein ende komen, der hât im âne nôt ein vil herzeclîchez leit genomen. wan sol boeser rede gedagen. vrâge ouch nieman lange des, daz er ungerne hoere sagen. (MF 162,7–15)

Gemeinsam ist beiden Strophen die allgemeine Lebensregel, eifersüchtiges Nachforschen zu unterlassen. Während jedoch Gace Brulé die Idee, seine Dame zu erproben, von der affektischen Irritation eines Verliebten aus angeht und darum mit dem Hinweis verwirft, nur Vertrauen erlaube andauerndes Lieben, inszeniert Reinmar die angedachte Prüfung als Reaktion auf üble Nachrede. Dass der Sprecher die Verleumdung entkräften will und sogar muss, dient dem Schutz der Dame, ihre Ehre wird verteidigt. Das eigentliche Problem liegt damit in der Gesellschaft, denn nicht über die Geliebte besteht Ungewissheit, sondern die huote mischt sich ein und gefährdet die minne. Der drohenden Polarisierung von Dame und Werber, die sich bei Gace Brulé andeutet, setzt Reinmar also den Zusammenschluss von Minneherrin und Sprecher entgegen, deren gemeinsamer Kontrahent nun die Öffentlichkeit ist. Gelingen kann diese andere Konstellation insbesondere durch die Neuakzentuierung der Sprecherrolle. Die Distanz, die schon der erste Vers in der allgemeinen Formulierung Ein wîser man sol niht ze vil herstellt, stilisiert das Ich zum Ratgeber und drängt den Eindruck persönlicher Betroffenheit als Movens der Handlung zurück.56 ZOTZ wertet dieses komplexe Vorgehen Reinmars als singulären Sonderfall; und sie schreibt insgesamt dem romanischen Einfluss auf Reinmars Œuvre eine Randstellung zu. Dabei spricht sie ausdrücklich von »Marginalität«.57 Solch eine Einschätzung bleibt dem Transfermodell von konkreter Quelle und fest zuordenbarer Adaptation verhaftet und lässt keinen Spielraum für Differenzierungen und Zwischentöne. Hier ist eine Korrektur nötig.

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Tradiert ist die Strophe in den Handschriften A, b, C und E, als Eingangsstrophe verzeichnen sie die Kleine Heidelberger Liederhandschrift und das Würzburger Hausbuch des Michael de Leone, vgl. dazu ZOTZ [Anm. 51], S. 140–146. Alle Zitate der Lyrik Reinmars nach: Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN und MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON KRAUS bearbeitet von HUGO MOSER, HELMUT TERVOOREN, Bd. I: Texte. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 381988. Vgl. BAUSCHKE [Anm. 49], S. 195–199. ZOTZ [Anm. 51], S. 136–146, Verwendung der Kategorie ›marginal‹ S. 243.

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Formale Anklänge und Korrespondenzen werden in der Minnesangphilologie noch immer unterschätzt. Evident sind sie bei Kontrafakturen, doch existiert, wie ANTON TOUBER gezeigt hat, auch hier ein großer Variationsspielraum.58 Ein konstruktiver Umgang mit metrischen Vorgaben zerstört nicht zwangsweise die melodische Identität, für die es auf die Sangbarkeit ankommt. So setzt Reinmar in Mîn ougen wurden liebes alse vol (MF 194,18ff.) einen provenzalischen Zehnsilbler durchgehend in einen alternierenden Fünfheber um, wobei er das Reimschema beibehält: Mîn ougen wurden liebes alse vol, dô ich die minneclîchen êrst gesach, daz ez mir hiute und iemer mê tuot wol. ein minneclîchez wunder dâ geschach: Si gie mir sanfte dur mîn ougen, daz sî sich in der enge niene stiez. in mînem herzen sî sich nider liez, dâ trage ich noch die werden inne tougen. (MF 194,18–25) Lâ stên, lâ stân! waz tuost du, saelic wîp, daz dû mich heimesuochest an der stat, dar sô gewalteclîch wîbes lîp mit starker heimesuoche nie getrat? Genâde, vrouwe! ich mac dir niht gestrîten. mîn herze ist dir baz veile danne mir. ez solde sîn bî mir, nu ist ez bî dir. des muoz ich ûf genâde lônes bîten. (MF 194,26–33)

Die Isometrie der Verse und das traditionelle Reimschema abab/c’ddc’ wirken einfach, sind aber gerade deshalb schwer umsetzbar, weil die Formulierungen die vermeintliche Leichtigkeit des Sanges nicht stören dürfen. Als Formmodelle bieten sich Kanzonen von Gaucelm Faidit, PC 167,37, Mon cor e mi (›Mein Herz und ich‹), und Pons de Capduelh, PC 375,14, Leials amics, cui Amors ten joíos (›Ein wahrer Liebhaber, den die Liebe in Freude hält‹), an.59 Da es inhaltliche Berührungspunkte zwischen Reinmars

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ANTON TOUBER, Deutsche Strophenformen des Mittelalters, Stuttgart 1975; DERS., Les formes métriques dans la poésie médiévale en France et en Allemagne, in: Métrique au moyen âge et de la renaissance, hrsg. von DOMINIQUE BILLY, Paris/Montréal 1999, S. 289–302; DERS., ›Anastrof‹, un programme informatique pour la métrique médiévale, in: Métrique au moyen âge et de la renaissance, hrsg. von DOMINIQUE BILLY, Paris/Montréal 1999, S. 331–336; DERS., L’importance des troubadours et des trouvères pour le Minnesang allemand, in: Études de langue et de littérature médiévales. Festschrift für Peter T. Ricketts, hrsg. von DOMINIQUE BILLY, ANN BUCKLEY, Brügge/New York 2005, S. 727–741; DERS., Die Internationalisierung des Minnesangs. Übernahme und Weiterentwicklung am Beispiel des Vasallitätsmotivs und der Kanzonenform, in: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für Fritz Peter Knapp, hrsg. von THORDIS HENNINGS u.a., Berlin/New York 2009, S. 273–283. Siehe dazu HANS SPANKE, Romanische und mittellateinische Formen in der Metrik von Minnesangs Frühling, Zeitschrift für romanische Philologie 49 (1929), S. 190–235, hier S. 230.

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Lied und Mon cor e mi von Gaucelm Faidit gibt, ist hier die Verbindung mutmaßlich enger:60 Mon cor e mi e mas bonas chanssos E tot qant sai d’avinen dir e far, Conosc q’ieu teing, bona dompna, de vos, A cui non aus descobrir ni mostrar L’amor q’ie.us ai, don languisc e sospire! E pos l’amor no.us aus mostrar ni dir Ni.l ben q’ies.us vuoill, greu m’auser’enardir, Si.us volgues mal, de mon coratge dire. (I) Al prim q’ie.us vi, m’agr’ops, dompna, que fos, Per c’Amors tant no.us mi fezes amar, Que non fossetz tant bella ni tant pros Ni saubessetz tant avinen parlar, C’aissi.m pasmei, qan vos vi dels huoills rire, D’una doussor d’amor qe.m venc ferir Al cor, qe.m fetz si tremblar e fremir, C’a pauc denan no.n mori de desire. (II) Ai cum m’a traich mos fis cors amoros C’anc mais non fo leus ad enamorar! E qand ieu vei, dompna, luocs ni sazos, Per nuilla ren no.us aus dir mon penssar! Ni vos non platz conoisser mon cossire! Pero saber podetz leu lo desir Q’ieu ai de vos, ab maint cortes sospir Qe.m vezetz far qand vos vei ni.us remire. (IV)61

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Zitiert nach: Les poèmes de Gaucelm Faidit, troubadour du XIIe siècle. Suivi de Guilhem Peire de Cazals, troubadour du XIIIe siècle et le troubadour Arnaut de Tintinhac. Editions critiques, hrsg. von JEAN MOUZAT, Paris 1965. Unv. Nachdruck Genf/Paris 1989. Übersetzung: ›Ich sehe ein, dass ich mein Herz und mich, meine guten Lieder und alles, was ich Hübsches zu sagen und zu tun weiß, von euch, gute Herrin, habe, der ich die Liebe, die ich für euch hege, wegen der ich schmachte und seufze, nicht zu entdecken und zu offenbaren wage, und da ich nun nicht wage, euch meine Liebe und das Gute, das ich euch wünsche, kundzutun, so würde ich schwerlich Mut zu fassen wagen, wenn ich euch gegenüber aus meinem treuen Herzen Übles verlauten lassen wollte.‹ (I) – ›Als ich euch zuerst sah, Herrin, da hätte es, damit die Minne mich nicht so sehr in euch verliebt machte, für mich so sein sollen, dass ihr nicht so schön und so wacker wäret und so Hübsches zu sprechen verständet. Ich geriet nämlich, als ich eure lachenden Augen sah, derart aus der Fassung, dass von der Liebe her eine Süße mein Herz traf, die mich so erzittern und erbeben ließ, dass ich in eurer Gegenwart beinahe vor Verlangen gestorben wäre.‹ (II) – ›Ach, wie hat es mir mein treues, verliebtes Herz fortgezogen, das, bis ich euch, Herrin, sah, nimmer dazu bereit war, sich zu verlieben, weshalb ich glaube, dass es keineswegs an der Zeit sei, dass ich es wage, euch um Gnade anzuflehen. Auch beliebt es euch nicht, meinen Kummer zu erkennen; jedoch könnt ihr leicht von meinem Verlangen wissen, das ich nach euch habe in Verbindung mit manchem Liebesseufzer, den ihr mich ausstoßen sehet, wenn ich euch sehe und aufmerksam betrachte.‹

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Beide Dichter spielen über das Augenmotiv auf die erste Begegnung mit der Dame an: dô ich die minneclîchen êrst gesach (MF 194,19) und Al prim q’ie.us vi, m’agr’ops, dompna (II,1);62 es kommt zu existentieller Erschütterung: daz ez mir hiute und iemer mê tuot wol (MF 194,20) und D’una doussor d’amor qe.m venc ferir / Al cor, qe.m fetz si tremblar e fremir (II,6f.);63 das verstockte Herz erfährt erstmals Liebe: daz dû mich heimesuochest an der stat, / dar sô gewalteclîch wîbes lîp / mit starker heimesuoche nie getrat? (MF 194,27ff.) und Ai cum m’a traich mos fis cors amoros / C’anc mais non fo leus ad enamorar! (IV,1f.).64 Reinmar kombiniert die Elemente allerdings neu und exponiert dadurch die wohltuende Wirkung der Dame. Damit kehren in seinem Lied zwar Form und Aussage der Kanzone wieder, Kontrafaktur und Nachahmung im engeren Sinne aber liegen nicht vor. Noch schwieriger zu ermitteln sind Fälle, wo vielleicht sogar absichtsvoll mit romanischen Tonvorgaben gespielt wird, so zum Beispiel in MF 183,33ff.: Ich sach vil wunneclîchen stân die heide mit den bluomen rôt. der vîol der ist wol getân: des hât diu nahtegal ir nôt Wol überwunden, diu si twanc. zergangen ist der winter lanc. ich hôrte ir sanc. (MF 183,33–184,2) Dô ich daz grüene loup ersach, dô liez ich vil der swaere mîn. von einem wîbe mir geschach daz ich muoz iemer mêre sîn Vil wunneclîchen wol gemuot. ez sol mich allez dunken guot, swaz sî mir tuot. (MF 184,3–9) Si schiet von sorgen mînen lîp, daz ich dekeine swaere hân. wan âne sî, vier tûsent wîp dien hetens alle niht getân. Ir güete wendet mîniu leit. ich hân si mir ze vriunde bereit, swaz ieman seit. (MF 184,10–16)

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(IV) – Zitiert nach ADOLF KOLSEN, Die Canzone des Trobadors Gaucelm Faidit »Mon cor e mi«. (Pillet-Carstens 167,37), Studi Medievali 16 (1943/50), S. 255–260. Übersetzung: ›Als ich Euch zum ersten Mal erblickte, Herrin.‹ Übersetzung: ›[erfreut ich mich] eines Liebesglücks, das mich ins Herz traf und das mich so erzittern und erschaudern ließ.‹ Übersetzung: ›Ach, welchen Antrieb hat mir mein treues und liebendes Herz gegeben! Denn niemals war ich schnell darin, mich zu verlieben.‹

Ricarda Bauschke

48 Mir enmac niht leides widerstân: des wil ich gar ân angest sîn. ergât ez, als ich willen hân, ich lege si an den arm mîn. Daz mir der schoenen wurde ein teil, daz dûhte mich ein michel heil, und waere ouch geil. (MF 184,17–23) Daz ich ir sô holdez herze trage, daz ist in sumelîchen leit. dar umbe ich niemer sô verzage, si verliesent alle ir arbeit. Waz hilfet sî ir arger list? sine wizzen, wie ez ergangen ist in kurzer vrist. (MF 184,24–30)

Das Lied scheint für Reinmar ungewöhnlich, weil er in naturhaftem Ambiente von einem Stelldichein berichtet, das in der Liebes-unio gipfelt. Die typischen Metaphern und Verklausulierungen (bluomen rôt, schiet von sorgen mînen lîp) werden durch konkretere Motive (ich lege si an den arm mîn) vereindeutigt. Mit dem distanzierenden Bezug auf die argwöhnische Gesellschaft in Strophe V rechtfertigt der Sprecher sein Liebeshandeln und zugleich wohl auch der Sänger Reinmar seinen Versuch, eine erotische Sphäre zu schaffen, ohne die Konventionen zu sprengen. Es wäre durchaus möglich, Reinmars Naturlied als Variation auf ein Prahllied, einen sogenannten gap, des Guillaume d’Aquitaine zu deuten,65 in welchem der Sprecher mit seiner sexuellen Potenz protzt (PC 183,2):66 Ben vuelh que sapchon li pluzor D’un vers, si.s de bona color Qu’ieu ai trag de mon obrador, Qu’ieu port d’ayselh mestier la flor, Et es vertatz, E puesc en trair lo vers auctor, Quant er lassatz. (I) Eu conosc ben sen e folor, E conosc anta et henor, Et ai ardiment e paor; E si.m partetz un juec d’amor, No suy tan fatz No sapcha triar lo melhor Entre.ls malvatz. (II) 65

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Zu dieser Diktion siehe ERICH KÖHLER, Gabar e rire. Bemerkungen zum gap in der Dichtung der Trobadors, Marche romane 28 (1978), S. 315–326. Die erste Strophe des Liedes bespricht auch INGRID KASTEN, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts, Heidelberg 1986 (GRM, Beihefte 5), hier S. 36f. Zitiert nach: Les chansons de Guillaume IX., duc d’Aquitaine (1071–1127), hrsg. von ALFRED JEANROY, Paris 21972.

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Dieus en lau e sanh Jolia: Tant ai apres del joc doussa Que sobre totz n’ai bona ma, E selh qui cosselh me querra No l’er vedatz, Ni us de mi non tornara Descosselhatz. (V) Qu’ieu ai nom »maistre certa«: Ja m’amigu’anueg no m’aura Que no.m vuelh’aver l’endema! Qu’ieu suy d’aquest mestier, so.m va, Tan ensenhatz Que be.n sai gazanhar mon pa En totz mercatz. (VI) Mas elha.m dis un reprovier: »Don, vostre datz son menudier« »Et ieu revit vos a doblier, Fis.m ieu:qui.m dava Monpeslier Non er laissatz!« E leviey un pauc son taulier Ab ams mos bratz. (VIII) E quan l’aic levat lo taulier Empeys los datz: E.ill duy foron cairat vallier, E.l terz plombatz. (TI) E fi.l ben ferir al taulier, 67 E fon joguatz. (TII)

Metrik und Reim der Lieder weisen Parallelen und Unterschiede auf. Während Guillaume in einer für die Provenzalen üblichen Manier bereits Vers 5 seiner Strophe 67

Textnahe Nachdichtung in: Wilhelm von Aquitanien. Gesammelte Lieder, hrsg. und übertragen von WERNER DÜRRSON, Zürich 1969, S. 29–33: ›Mir liegt daran, daß jeder weiß, / Wie gut und wohlgestalt die Weis, / Die ich in meiner Werkstatt leist: / In diesem Fach trag ich den Preis / Davon fürwahr, / Und bring mein Lied Euch den Erweis, / Sobalds vollbracht.‹ (I) – ›Ich kenn Verstand und Torheit, weiß / Was Scham ist und was Ehre heißt, / Was Kühnheit und was Angst; und seis / Daß ich um Amor spiel im Kreis / Mit Euch: – kein Narr, / Zieh ich das beste Los, ich weiß / Wie man das macht.‹ (II) – ›Gott und Sankt Julian lobe ich: / Erlernt das Spiel so meisterlich, / Hab eine Hand von zartem Strich; / Wen je es an Talent gebricht, / Der hör mich an, / Und ich entlaß ihn sicherlich / Nicht ohne Rat.‹ (V) – ›»Meister Unfehlbar« nennt man mich: / War nachts bei der Geliebten ich, / Sehnt anderntags sie wieder sich / Nach mir – in dieser Kunst weiß ich / Mich rühmlich stark, / Verdien mein Brot unweigerlich / Auf jedem Markt.‹ (VI) – ›Mit einem Sprichwort sagt sie; / »Zu leicht, Herr, nehmt Ihr die Partie; / Drum wiederholt den Wurf!« – »Gäb nie, / Nichtmal um Montpellier, mein Spiel!« / Legt ich ihr nah, / Und hob das Brett (und hob gleichviel / Ihrn Schurz auch, sacht).‹ (VIII) – ›Als ich gehoben – Dame-Spiel! –, / Die Würf getan, / Warn zwei davon verpaßt, und wie! / Der dritte saß.‹ (TI) – ›Und schlugen hart aufs Brett, und wie! / Das war ein Spaß.‹ (TII).

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abschneidet und in den beiden Tornadas dieses Verfahren noch potenziert, verkürzt Reinmar erst den Schlussvers und pointiert durch den metrischen Witz das Strophenende. Diese formale Besonderheit, die beide Lieder verbindet, erlaubt, trotz der variierenden Erscheinungsform bei Guillaume und Reinmar, eine Zusammenschau mit inhaltlicher Gegenüberstellung: Reinmar überbietet Guillaumes gabar (›Prahlerei‹) mit poetischen Mitteln, indem er rhetorisch geschickt vorführt, wie erotischer Erfolg auch dezent formulierbar ist. An die Stelle der derb funktionalisierten Metaphorik des Brettspiels tritt bei ihm die Zusammenkunft an einem locus amoenus, und dies nimmt dem Entwurf zugleich die soziale Brisanz, die Guillaumes gap innewohnt. Während die Dame des Brettspiels auf den Adel der Minneherrin deutet, lässt der von Reinmar gesetzte Naturrahmen die gesellschaftliche Stellung der Liebsten tendenziell unbestimmt. Gleiches trifft auf die Ausstellung der eigenen Artistik zu. Der Gegenstand von Guillaumes Prahlerei oszilliert plakativ zwischen männlicher Potenz und trobadoresker Kunstfertigkeit; Reinmar macht eher unterschwellig die Kunstform des Minnesangs thematisch (nahtegal, ich hôrte ir sanc) und alludiert auch wieder die missgünstigen Neider (waz hilfet sî ir arger list). Für Optionen formaler Variation, wie sie sich in PC 183,2 und MF 183,33ff. manifestieren, sensibilisiert, bringt ein aufmerksamer Gang durch Reinmars Werk daktylische Metren zutage, romanisch beeinflusste Reimarten wie Klammern und Kornreim, freien Umgang mit dem Stollenprinzip, da capo-Formen.68 Reinmars Lied LXVI gibt sich sogar als Nachahmung der coblas unissonans zu erkennen: Êren unde minneclîcher schoene ist mîn vrouwe rîche gar. guotes wîbes lop mac si wol kroene, die besten nement ir mit triuwen war. Die valschen süln sie erkennen niht, sie enruochent ouch, waz arges den geschiht. sî hât sich gescheiden gar von in: sô wol mich, daz ich ir dienest bin! (I) Ich getar von ir hôhem werde lône mînen willen niht gesprechen gar: ich muoz unser beider êren schônen und ir kiuschen wîpheit bewar, Daz die boesen kleffaere iht ervarn unser vriuntlichen pfliht. ist iht liebers denne eigen lîp? noch lieber ist mir daz schoene wîp! (II)

Reimklänge und selbst Reimwörter der ersten Strophe werden in der zweiten wieder aufgenommen. Diese systemische Anlehnung Reinmars an ein Formprinzip, das in der Romania praktiziert wird, gilt HELMUT TERVOOREN als prägnantester Fall deutscher 68

Vgl. hier die Zusammenstellung durch BAUSCHKE [Anm. 49], S. 188–190.

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coblas unissonans.69 Für die Anwendung des Verfahrens in Lied LXVI könnte es zahlreiche Prätexte und Modelle geben; die einzelne und einzige Vorlage aber wird kaum mit letzter Bestimmtheit zu ermitteln sein. Der Befund setzt sich bei den motivischen Anklängen fort, die nicht selten mit formalen Ähnlichkeiten korrespondieren. Manches mag auf Polygenese beruhen, etwa der Gebrauch sentenzhafter Wendungen;70 manches scheint sich auf konkrete Motivaktualisierungen zu beziehen. Ein solcher Fall liegt bei Reinmars Kussraub vor;71 die Strophe ist in ›Des Minnesangs Frühling‹ als dritte Strophe von Ich wirbe umb allez daz ein man (MF 159,1ff.) abgedruckt: Unde ist, daz mirs mîn saelde gan, daz ich abe ir wol redendem munde ein küssen mac versteln, gît got, daz ich ez bringe dan, sô wil ich ez tougenlîchen tragen und iemer heln. Und ist, daz sîz vür grôze swaere hât und vêhet mich durch mîne missetât, waz tuon ich danne, unsaelic man? dâ nim eht ichz und trage ez hin wider, dâ ichz dâ nan, als ich wol kan. (MF 159,37–160,5)

Das Motiv als solches kommt bereits bei Bernart de Ventadorn vor, in der sechsten Strophe von Lied PC 70,39, Can l’erba fresch’ e.lh folha par (›Wenn das grüne Kraut und das Laub erscheint‹):72 Be la volgra sola trobar, que dormis, o.n fezes semblan, per q’e.lh embles doutz baizar, pus no valh tan qu’eu lo.lh deman. per Deu, domna, pauc esplecham d’amor! vai s’en lo tems, e perdem lo melhor! parlar degram ab cubertz entresens, e, plus no.us val arditz, valgues nos gens!73

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HELMUT TERVOOREN, Reinmar-Studien. Ein Kommentar zu den ›unechten‹ Liedern Reinmars des Alten, Stuttgart 1991, hier S. 177, 181 und 239. Siehe dazu BAUSCHKE [Anm. 49], S. 191. Über diesen Motivkomplex handelt auch ANTON TOUBER, Walther und Italien, in: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer, hrsg. von HELMUT BIRKHAN, Wien 2005, S. 507–529. Zitiert nach: Bernart von Ventadorn. Seine Lieder, mit Einleitung und Glossar hrsg. von CARL APPEL, Halle an der Saale 1915. Übersetzung nach APPEL [Anm. 72], S. 225: ›Wohl würde ich sie allein finden wollen, daß sie schliefe (oder sich den Anschein davon gäbe), so daß ich ihr einen süßen Kuß raubte, da ich nicht so viel wert bin, sie darum zu bitten. Bei Gott, Fraue, wenig betätigen wir an Liebe. Die Zeit geht dahin und die beste verlieren wir. Mit verstohlenen Zeichen sollten wir reden, und da uns Kühnheit nicht hilft, helfe die List!‹

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Während Bernart zur Selbsthilfe aufruft, um an einen Kuss und weiteren Liebeshandel zu gelangen, spricht Reinmar die abstrakt zu denkende Instanz der saelde an. Ohne Entsprechung im deutschen Lied bleiben auch die Frechheit Bernarts, eine schlafende Dame zu hintergehen, sowie der angedeutete Komplizenstatus der Herrin selbst, die sich vielleicht nur schlafend stellt, um geküsst zu werden, ohne nach Außen aktiv zu wirken. Damit verringert Reinmar die erotische Brisanz und befreit seine Dame von jeglichem moralischen Zweifel. Das Kussmotiv wird viermal von Peire Vidal aufgegriffen, zum Beispiel in der zweiten Strophe von PC 364,36, Plus que.l paubres, quan jai el ric ostal (›Dem Armen gleich, der in des Reichen Haus‹): Aissi cum cel qui badal veirial, quel sembla bels contra la resplandor, quant en l’esgar, n’ai al cor tal doussor, qu’eu m’en oblit per leis qu’eu vei aital. bem bat amors ab las vergas qu’eu colh, car una vetz en son rejal capdolh l’emblei un bais don al cor mi sove: ai! cum mal viu qui so qu’ama no ve.74

Peire Vidals Idee der heimlichen Aufbewahrung (er trägt den Kuss im Herzen) findet sich bei Reinmar wieder. Auch die Imagination weiteren Küssens, die Reinmar anschließt, besitzt ein gewisses Pendant bei Peire Vidal, sie wird dort allerdings auf die Kussbereitschaft der Dame selbst bezogen. In Lied PC 364,37, Pos tornatz sui en Proensa (›Zur Provence kehrt ich wieder‹), ist es in Strophe VI nicht (wie bei Reinmar) der Werbende, der den Kuss zurückgibt und damit noch mal küsst, sondern die Dame erwidert die Zärtlichkeit durch eigenes Küssen: El cel que long atendensa Blasma, fai gran falhizo; Qu’er an Artus li Breto, On avian lor plevensa. Et eu per lonc esperar Ai conquist ab gran doussor Lob ais que forsa d’amor Me fetz a midons emblar, Qu’eras lo.m denh autreiar.75

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Übersetzung aus: Peire Vidal’s Lieder, hrsg. von KARL BARTSCH, Berlin 1857, S. XXXVf.: ›Gleich dem, der durch das helle Fenster blickt / und sich erfreut am lichten Sonnenglanz, / so macht ihr Angesicht mich trunken ganz / und sie zu sehen mich mir selbst entrückt. / Ich brach den Zweig, mit dem mich Liebe schlägt, / einmal in ihrem Schloß, das Lust umhägt / raubt ich ein Küsslein, das mich noch durchglüht – / wie weh ist dem, der nicht sein Liebstes sieht!‹ Übersetzung in: Die Trobadors. Leben und Lieder, deutsch von FRANZ WELLNER, neu hrsg. von HANS GERD TUCHEL, Bremen 1966, S. 199f.: ›Wer da schilt das lange Warten, / scheint mir schmählich fehlzugehn; / denn auch die Bretonen sehn / Artus wieder, des sie harrten. / Ich, nach

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Aufgefangen wird diese kühne Idee durch den hypothetischen Charakter des Motivs. Alles bleibt Wunschdenken und ist imaginativ assoziiert mit den positiven Empfindungen, welche die Rückkehr in die provenzalische Heimat hervorruft.76 Damit scheint Reinmar in einem Motivaspekt Peire Vidal zu folgen und einen weiteren zu variieren. Die Situation ist insgesamt aber noch komplexer, denn Reinmars andersartige Akzentuierung, wie sich die Kussfortsetzung gestalten soll, findet sich ihrerseits bei Peirol vorgebildet, in Strophe III von PC 366,12, Del sieu tort farai esmenda (›Ich werde den Fehler bei ihr wieder gut machen‹):77 Molt en cossir nueg e dia E no m’en sai cosselhar. Pero, si s’esdevenia, gran talan ai qu’un baisar li pogues tolr’ o emblar; e si pueys s’en iraissia voluntiers lo li rendria.78

Dem von Peirol formulierten Gedanken steht Reinmars Motivaktualisierung deutlich näher. Er potenziert Peirols Einfall aber noch, indem der Sprecher im deutschen Lied seine Kussqualität hervorhebt: als ich wol kan (MF 160,5). Sicher wäre es denkbar, dass Reinmar alle Einzellieder von Bernart, Peire Vidal und Peirol kannte und auf dieser Basis eine neuartige Kombination gestaltete. Es muss aber wohl zwischen den extremen Polen von konkreter Abhängigkeit einerseits und autonomer Polygenese andererseits weitere Möglichkeiten geben, die Ähnlichkeiten deutscher und romanischer Lyrik zu erklären und zu beschreiben, insbesondere da immer wieder Reinmars selbständiger Umgang auch mit den diskursiven Möglichkeiten deutlich wird: In einer Strophe seines Preisliedes Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10ff.) entwirft Reinmar eine dilemmatische Situation: Zwei dinc hân ich mir vür geleit, diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn: ob ich ir hôhen wirdekeit mit mînen willen wolte lâzen minre sîn, Oder ob ich daz welle, daz si groezer sî und sî vil saelic wîp bestê mîn und aller manne vrî. siu tuont mir beide wê: ich wirde ir lasters niemer vrô; vergêt siu mich, daz klage ich iemer mê. (MF 165,37–166,6)

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langer Wartezeit, / kam zum süßesten Genuß: / meine Herrin schenkt den Kuß, / einst geraubt im Liebesstreit, / mir aus freier Gnade heut.‹ Die Nachdichtung von WELLNER [Anm. 75] geht über diesen wesentlichen Aspekt hinweg. Zitiert nach: Peirol. Troubadour of Auvergne, hrsg. von STANLEY C. ASTON, Cambridge 1953. Übersetzung: ›Meine Gedanken sind Tag und Nacht bei ihr, und ich weiß keinen Trost. Doch, falls es möglich wäre, hätte ich großes Glück, wenn ich ihr einen Kuss stehlen oder rauben könnte; und wenn sie sich darüber erzürnte, gäbe ich ihn ihr bereitwillig zurück.‹

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Sie besitzt ihre Entsprechung in einem Partimen des Folquet de Marseille (PC 155,24):79 Tostemps, si vos sabetz d’amor triatz de doas cal mal mays: s’es drutz de tal que no.s bias vas vos ni sofr’ autr’ amador empero no.us fay veiyaire que.us am ni que s’azaut de vos, o d’autra que.us am atrestan, et a d’autres drutz un o dos, e que.us fassa de plazers tan com fin’amia deu faire. (I)80

Reinmar überführt die Dialogsituation des okzitanischen Duetts, wo jeder Sprecher eine der beiden Positionen vertritt, in einen Monolog, so dass er den Konflikt im Inneren des Werbers ansiedeln kann. Das Spielerisch-Unverbindliche des Partimen geht damit verloren zugunsten einer intensiveren Reflexion über die höfische Liebe. In den Fällen, wo Reinmar sich abgrenzend auf romanische Motivik bezieht, tendieren Adaptation und systemische Aktualisierung sogar in Richtung Interaktion. Während zum Beispiel Bernart de Ventadorn, Pons de Capduelh und Peirol pathologisch genau die Auswüchse der Liebeskrankheit beschreiben und Erfahrungen von Sprachlosigkeit beim Anblick der Geliebten formulieren,81 gibt Reinmar derartiges Verhalten der Lächerlichkeit preis, und zwar im Abgesang von Strophe IV aus Ich wil allez gâhen (MF 170,1ff.):

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Zitiert nach: Le troubadour Folquet de Marseille, hrsg. von STANISLAW STROŃSKI, Krakau 1910. Neudruck Genf 1968. – Über die intertextuelle Verbindung der beiden Lyriker handelt schon früh INGRID KASTEN, geteiltez spil und Reinmars Dilemma MF 165,37. Zum Einfluß des altprovenzalischen dilemmatischen Streitgedichts auf die mittelhochdeutsche Literatur, Euphorion 74 (1980), S. 16–54. Vgl. zu diesem provenzalischen Auftrittstyp insgesamt SEBASTIAN NEUMEISTER, Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen, München 1969. Übersetzung nach KASTEN [Anm. 79], S. 44: ›Tostemps, wenn Ihr Euch in der Liebe auskennt, wählt, was von beiden besser ist: Der Liebhaber einer solchen (Dame) zu sein, die Euch nicht untreu ist und keinen anderen Liebhaber duldet, aber Euch nicht zeigt, daß sie Euch liebt und an Euch Gefallen findet, oder einer anderen (Dame), die Eure Liebe erwidert und einen oder zwei Liebhaber hat und Euch so viel Vergnügen bereitet, wie es eine echte Liebende tun soll.‹ Siehe dazu BAUSCHKE [Anm. 49], S. 192. Weitere Belege bei FERDINAND MICHEL, Heinrich von Morungen und die Troubadours, Straßburg 1880, S. 110. Prägnant ist das Beispiel (ohne Verstummen) von Bernart de Ventadorn: Cant eu la vei, be m’es parven / als olhs, al vis, a la color, / car aissi tremble de paor / com fa la folha contr.al ven. / Non ai de sen per un enfan, / aissi sui d’amor entrepres, zitiert nach APPEL [Anm. 72]. Übersetzung: ›Wenn ich sie erblicke, ist es wohl sichtbar an meinen Augen, am Gesicht, an der Farbe, denn so zittere ich vor Furcht wie das Blatt im Wind. Ich habe nicht mal mehr den Verstand eines Kindes, so sehr bin ich von der Liebe gefangen.‹ (PC 70,31, Strophe VI,1–6).

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Maniger zuo den vrouwen gât und swîget all einen tac und anders niemen sînen willen lât. (MF 170,26–28)

Es wird also nicht trobadoreskes Reservoir affirmativ verwendet, sondern Reinmar stellt es kritisch aus und macht lyrische Konventionen des Sprechens über die Liebe als solche thematisch.82 All dies vollzieht sich über die volkssprachigen Grenzen hinweg. Der Fall von Lied MF 170,1ff. ist insofern besonders brisant, als die Strophen IV und V dem Dichter durch CARL VON KRAUS aberkannt und erst später – nach einem längeren Rehabilitierungsprozess – Reinmar wieder zugesprochen worden sind.83 Die Rekonstruktion romanischer Parallelen allgemeiner Art sowie kleinteiliger Anspielungen auf ermittelbare Prätexte führt speziell bei Reinmar damit unmittelbar in ein Kernproblem der Minnesang-Philologie, nämlich die noch immer geführte Diskussion um die Echtheit der unter Reinmars Namen überlieferten Lieder.84 Die hier vorgelegte Skizze bietet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Befund: Systemische Aktualisierungen von Dichtungsverfahren, wie sie in der Romania üblich sind, sowie konkrete Bezugnahmen auf einzeltextliche Varianten lassen sich sowohl in dem reduzierten Grundstock der Reinmar-Lieder finden, die VON KRAUS als »echt« akzeptiert, als auch in den unter Reinmars Namen tradierten Strophen, die von der älteren Forschung athetiert wurden.85 Romania-Anklänge könnten damit »Echtheitsindikatoren« sein (sofern die Einlassung auf solche Kategorien überhaupt noch sinnvoll scheint), oder aber sie sind autorenübergreifend ein Verfahren mittelhochdeutscher Lyrikpraxis, das wie selbstverständlich benutzt wird, und zwar von den Autoren selbst ebenso wie von potentiellen Nachahmern, Interpolatoren, Umdichtern. In jedem Fall gilt es, das Reinmar-Bild im Hinblick auf die Affinitäten zur Trobador- und Trouvèrelyrik zu revidieren: Weit stär-

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Den universellen Anspruch von Reinmars Formulierung anerkennt FRITZ PETER KNAPP, Maniger zuo den vrouwen gât. Das Mißverständnis des Indefinitpronomens manic, ZfdA 138 (2009), S. 458–461. Die Athese war das Resultat einer Deutungsstrategie, die Walther zum Initiator der mutmaßlichen ›Fehde‹ mit Reinmar machen sollte; gälten die beiden Reinmar-Strophen als ›echt‹, wäre er selbst der Aggressor, und von diesem Verursacherstatus wollte VON KRAUS den Dichter, den er zum duldenden Leidästhetiker stilisierte, dispensieren. – Ein Forschungsreferat bietet BAUSCHKE, [Anm. 38]. Siehe auch die bibliografischen Hinweise in Anm. 84. Wichtige Stationen markieren: CARL VON KRAUS, Die Lieder Reimars des Alten, 3 Bde., München 1919; MANFRED STANGE, Reinmars Lyrik. Forschungskritik und Überlegungen zu einem neuen Verständnis Reinmars des Alten, Amsterdam 1977; HELMUT TERVOOREN, Brauchen wir ein neues Reinmar-Bild? Überlegungen zu einer literaturgeschichtlichen Neubewertung hochhöfischer deutscher Lyrik, GRM 36 (1986), S. 255–266, wieder in: Schoeniu wort mit süezeme sange. Philologische Schriften, hrsg. von SUSANNE FRITSCH, JOHANNES SPICKER (Philologische Studien und Quellen 159), Berlin 2000, S. 220–232; HAUSMANN [Anm. 48]. HAUSMANN [Anm. 48] versucht dem Problem beizukommen, indem er die Reinmar-Nennungen in den Handschriften als »Funktionstyp« versteht, dem je nach Rezipientenkreis divergierende Strophencorpora zugeordnet werden können.

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ker als bisher angenommen bedient Reinmar sich am romanischen Lyrikreservoir, und er bedient damit zugleich ein sprachübergreifendes Lyriksystem. Für den hier entworfenen europäischen Zusammenhang ist das abzuleitende Ergebnis ähnlich gewichtig. Es ist deutlich geworden, dass übliche Vorstellungen vom kulturellen Transfer zu kurz greifen, um das liebeslyrische System um 1200 zu fassen. Deutsche Aktualisierungen, die romanische Pendants besitzen, können mehr sein als Übertragungen, Derivate oder littérature au second degré.86 Im Falle der Lyrik schöpfen Okzitanen, Franzosen und Deutsche aus ein und demselben europäischen System, das sich in seinen Einzelaktualisierungen allererst konstituiert. Sicher findet sich vieles in der Romania zuerst, doch wirken die deutschen Adaptationen auf das System selbst und damit auch auf die weitere Lyrikproduktion der Trobadors und Trouvères zurück. Die diskursive Praktik entwickelt sich im sprachübergreifenden Zusammenspiel fort. All dies setzt Übereinstimmung voraus – zumindest in gemeinsamen adligen Repräsentationsformen und vergleichbaren ästhetischen Vorlieben. Dann aber ist der vermeintliche Kulturtransfer im Hochmittelalter zu einem gewissen Teil nicht Austausch, sondern Erscheinungsform kultureller Identität.

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Begriff nach GÉRARD GENETTE, Palimpsestes. La Littérature au second degré, Paris 1982.

Genealogische Strukturprinzipien als Schnittstelle zwischen Antike und Mittelalter Dynastische Tableaus in Vergils ›Aeneis‹, dem ›Roman d’Eneas‹ und Veldekes ›Eneasroman‹ von Timo Reuvekamp-Felber Die antik-europäische Tradition ist sowohl im lateinischen als auch volkssprachigen Mittelalter auf den verschiedensten Feldern präsent. So manifestiert sich das kulturelle Erbe auf der Ebene der Wissen so rg anisation in naturkundlichen, philosophischen, juridischen, medizinischen und historischen Schriften, auf der Ebene der Wissen svermittlung in der umfassenden Rhetorisierung sprachlicher Kommunikation, in der Funktionalisierung von Literatur, die eigene kulturelle Praxis zu reflektieren, und in der Exemplifizierung bedeutender Einzelpersönlichkeiten als Orientierungsmarken adligen Lebens, auf der Ebene der Denk fo rmen schließlich sowohl in anthropologischer, sozialer als auch politischer Hinsicht: Man denke etwa an die Konzeptualisierung des menschlichen Körpers und seiner Begrenztheit (Themenfelder Liebe, Alter, Tod), an die Organisation menschlicher Sozietät (Familie, Ehe) sowie an Formen des Herrschaftsverständnisses und der Herrschaftspraxis. Eine Schnittstelle zwischen den Ebenen der Wissensorganisation, der Wissensvermittlung und der Denkformen bei der Tradierung des antik-europäischen Erbes in die mittelalterliche Welt bildet das genealogische Prinzip. Damit sei hier im Allgemeinen eine kulturelle Ordnungsform bezeichnet, die das Potential besitzt, zeitliche und räumliche Relationen herstellen zu können, und als eine »Urform des Weltverstehens«1 nach dem anthropologischen Kausalitätsprinzip organisiert ist. Genealogisches Denken erklärt Bestehendes durch den Verweis auf das Vorangegangene, sodass es das Bestehende legitimiert.2 Genealogische Konstrukte spielen also in den Bereichen der Wissensvermittlung und Wissensorganisation eine zentrale Rolle: die Vermittlung des Wissens wurde häufig, z.B. über Quellenverweise, nach dem Muster der genealogischen Verzweigung autorisiert, die Organisation des Wissens erscheint oft als eine Traditionskette, deren genealogische Weitergabe zur Stabilisierung

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WOLFGANG SPEYER, Genealogie, Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 9 (1976), Sp. 1145– 268, hier Sp. 1147. Vgl. KILIAN HECK, BERNHARD JAHN, Genealogie in Mittelalter und Früher Neuzeit. Leistungen und Aporien einer Denkform, in: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von DENS. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), Tübingen 2000, S. 1–9.

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des Wissens maßgeblich beiträgt;3 als Denkform und Ordnungsprinzip avant la lettre sind Genealogien in einer auf legitimierende Traditionsketten fixierten Sozietät sogar schlicht unentbehrlich. In diesem Beitrag interessiert aber Genealogie nicht in erster Linie in diesem sehr allgemeinen kausalistischen Sinne, sondern in seiner eingeschränkten Bedeutung als Modell von der verwandtschaftlichen Abstammung, das in einer feudalistisch organisierten Gesellschaftsform konstitutiv für das soziale Gedächtnis der Gemeinschaft ist. Obwohl sowohl die Antike als auch das Mittelalter eine Fülle hochorganisierter gesellschaftlicher Institutionen – herrschaftliche wie religiöse – kennen, kommt dem familialen Organisationsmodus eine Schlüsselstellung nicht nur in Formen sozialer Praxis zu, sondern auch in Konzeptualisierungen dieser Praxis.4 Auch wenn familiale Genealogien in erster Linie die Identität des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft begründen, indem sie das Wissen über seine Vorfahren und deren soziale Stellung in das kulturelle Gedächtnis einspeisen, organisieren genealogische Muster auch die Geschichte der Herrschaft, der Völker und der Städte. So drücken sich in Antike und Mittelalter Gesellschafts- und Wissensordnungen in sozialen Genealogien aus, die vor allem der Herrschafts- und Machtlegitimation dienen.5 Einen wichtigen Traditionsstrang genealogischen Denkens im Mittelalter bilden – darauf wurde in der Forschung immer wieder hingewiesen – die Genealogien des Alten und Neuen Testaments: die Geschichten vom Ursprung der Menschheit und von der Kontinuität der Geschlechter seit Adam einerseits sowie die heilsgeschichtlich signifikanten Genealogien des Gottessohnes (Mt 1,1–17 und Lc 3,23–38) andererseits, die als Quelle für die Darstellung der Geschlechtsregister Christi in Form von Stammbäumen und genealogischen Tafeln ab dem späten 10. Jahrhundert dienen.6 Diese graphischen

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Vgl. BEATE KELLNER, Zur Konstruktion von Kontinuität durch Genealogie. Herleitungen aus Troja am Beispiel von Heinrichs von Veldeke ›Eneasroman‹, in: Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, hrsg. von GERT MELVILLE, KARL-SIEGBERT REHBERG, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 37–59, hier S. 39f. Vgl. BEATE KELLNER, Genealogien, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Hof und Schrift, hrsg. von WERNER PARAVICINI, bearbeitet von JAN HIRSCHBIEGEL, JÖRG WETTLAUFER (Residenzenforschung 15,3), Ostfildern 2007, S. 347–360, hier S. 347. Im Wortlaut nahezu gleich auch in ihrer Habilitationsschrift: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004, S. 13f. Vgl. KELLNER, Ursprung [Anm. 4], S. 15. Vgl. GERT MELVILLE, Geschichte in graphischer Gestalt. Beobachtungen zu einer spätmittelalterlichen Darstellungsweise, in: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im späten Mittelalter, hrsg. von HANS PATZE (Vorträge und Forschungen 31), Sigmaringen 1987, S. 57–154. R. HOWARD BLOCH verweist allerdings auf Eusebius von Caesarea (ca. 265–339), der Anfang des 4. Jahrhunderts bereits genealogische Fortschrittsmodelle in seiner ›Chronographica‹ verwendet habe, die dann durch die lateinische Übersetzung des Hieronymus als Denkform in ganz unterschiedlichen Diskursen prägend für die mittelalterliche Epoche geworden seien. Vgl. R. HOWARD BLOCH, Genealogy as a Medieval Mental Structure and Textual Form, in: La littérature historiographique des origines à 1500, Bd. 1, hrsg. von HANS ULRICH GUMBRECHT, URSULA LINK-HEER, PETER-MICHAEL

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Abstammungslinien Christi stellen dann möglicherweise die Grundlage der sich ab dem 12. Jahrhundert entwickelnden genealogischen Geschichtsschreibung einzelner Fürstenhäuser dar. Vor allem das ›Compendium historiae in genealogia Christi‹ des Petrus Pictaviensis (ca. 1125/30–1205) scheint dabei als genealogisches Handbuch zu dienen, in das auch Linien von Päpsten und römischen Kaisern integriert werden. Gerade an dieser Übertragung der Genealogisierung von Heilsgeschichte auf die Profangeschichte mit ihrer Ämtersukzession wird deutlich, wie die biblischen Genealogien und ihre Darstellungstechniken zum prototypischen Modell für eine dynastische Geschichtsschreibung des Hoch- und Spätmittelalters werden konnten.7 Erstaunlicherweise hat die Vorbildfunktion antiker Genealogien für die Selbstkonzeptualisierung adliger Geschlechter in der neueren mediävistischen Forschung weit weniger Beachtung gefunden.8 Zwar wurden die Vermittlungsformen römischer Genealogien in der mittelalterlichen Manuskriptkultur in der Tat nicht adaptiert, aber doch deren Funktionalisierung für die Nobilitierung von Einzelpersonen, Völkern, Städten und anderen gesellschaftlichen Institutionen. Diese Nobilitierung konnten die Genealogien des Christentums nicht leisten: auf den Religionsstifter und Gottessohn konnte sich niemand zurückführen, und auf den Schöpfungsanfang mit Adam und Eva ließ sich nicht gut verweisen, weil die Urahnen des gesamten Menschengeschlechts nicht als Ursprung einer besonderen nobilitatis fungieren konnten. Da der mittelalterliche Adel mit dem genealogischen Argument gerade nicht auf die Gleichstellung aller Menschen zielte, sondern seine Exklusivität im sozialen Gedächtnis implementieren wollte, war es für ihn naheliegend, Denkschemata und Ursprungsmythen der griechisch-römischen Antike zu adaptieren.9 Schon in der griechischen Antike legten nämlich die Aristokraten auf eugeneía (= gute, edle Herkunft) größten Wert. Wie auch in den feudalen Strukturen des Mittelalters galt es, mithilfe von Traditionsketten die Legitimität und Kontinuität von Herrschaft zu sichern.10 Doch nicht die Stammreihe selbst war wesentlich, sondern der Stammvater, der an ihrem Anfang stand. Ziel war es, den genealogischen Zusammenhang mit der Zeit der mythischen Helden herzustellen, die mit der Zeit des Trojanischen Krieges identifiziert wurde, und darüber hinaus vielleicht auch die Abkunft von einer Gottheit selbst nachzuweisen. Diese besondere Bedeutung, die dem Ursprung und den Ahnen der Dynastie zugesprochen wurde, manifestierte sich textuell in Literatur, Geschichtsschreibung und einem seit dem 6. Jahr-

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SPANGENBERG (Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters 11,1), Heidelberg 1986, S. 135–156. Vgl. KELLNER, Ursprung [Anm. 4], S. 60f. Einen generischen Zusammenhang zwischen antiken und mittelalterlichen Formen genealogischen Denkens stellt allerdings schon WALTER MÜLLER-RÖMHELD, Formen und Bedeutung genealogischen Denkens in der deutschen Dichtung bis um 1200, Frankfurt am Main 1958, S. 206–210, her. Vgl. auch HECK, JAHN [Anm. 2], S. 4. Vgl. zum Folgenden SPEYER [Anm. 1].

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hundert v. Chr. weit verbreiteten genealogischen Schrifttum, das Adelsstammbäume entwarf und miteinander harmonisierte.11 Anders als in Griechenland spielte in den römischen Genealogien die Frage nach dem Ursprung des Geschlechts zuerst keine entscheidende Rolle, sondern allein die Reihe der historischen Vorfahren. Dies änderte sich erst mit der Zunahme griechischen Einflusses in Rom, denn seit hellenistischer Zeit begannen einzelne römische gentes, den Urheber ihres Geschlechts wiederum in Troja zu suchen, und andere, ihren Stammbaum auf Götter zurückzuführen. Waren es im 4. Jahrhundert v. Chr. noch griechische Historiker, die sich für Rom und seinen Ursprung interessierten, »so ist spätestens seit dem Beginn des Konflikts mit Karthago im zweiten Drittel des 3. Jahrhunderts Rom selbst daran gelegen, seinen Platz in der griechischen Welt zu definieren, und dazu gehörte die Anbindung der Anfänge Roms an deren Mythen.«12 Nachdem die Abkunft der Römer vom Trojaner Aeneas als sicheres Geschichtswissen Anerkennung gefunden hatte, suchten sich viele römische Geschlechter einen trojanischen Stammvater.13 Entsprechend führten schließlich im frühen 1. Jahrhundert v. Chr. etwa 50 römische Familien ihren Gentilnamen auf Begleiter des Eneas zurück.14 Die bedeutendste dieser genealogisch-synkretistischen Konstruktionen, die auch im Mittelalter rezipiert worden sind, ist der Stammbaum der gentis Iuliae.15 Insbesondere die ›Aeneis‹ des Vergil kanonisierte diese genealogische, quasimythische Konstruktion und führte sie bekanntlich bis Kaiser Augustus fort. Wie GERHARD BINDER hat zeigen können, steht die Vergilsche ›Aeneis‹ damit in einem direkten politischen Funktionszusammenhang: sie bestätigt und schafft nicht nur einen Ursprungsmythos für das antike Rom, sondern legitimiert die Herrschaft der gentis Iuliae und ihres zur Zeit Vergils aktuellen Repräsentanten Octavian aus der genealogischen Konstruktion.16 Der zufolge stammt die gens Iulia bekannterweise in direkter Linie vom 11

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Vgl. SPEYER [Anm. 1], Sp. 1167, der für die Frühphase auch auf die kleinen und großen Stammbäume in den homerischen Epen und Hesiod verweist. Letzterer lässt sowohl in der ›Theogenie‹ als auch im ›Frauenkatalog‹ Ahnenreihen weit in die mythische Zeit zurückreichen. Im ›Frauenkatalog‹ führt er sterbliche Frauen auf, die durch ihre übergroße Schönheit die Liebe von Göttern erregten und so zu Stammmüttern adliger Geschlechter wurden. GERHARD BINDER, Der brauchbare Held: Aeneas. Stationen der Funktionalisierung eines Ursprungsmythos, Wolfenbütteler Forschungen 75 (1997), S. 311–330, hier S. 314. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. wurde in Rom der Mythos von Aeneas historisch als Vergangenheit der eigenen Geschichte verstanden (vgl. BINDER [Anm. 12], S. 313). Ebd. S. 317. Im Jahre 69 v. Chr. betonte Gaius Julius Caesar in der öffentlichen Totenrede auf seine Tante Julia die Abstammung der Julier von den Göttern (vgl. C. Suetoni Tranquilli, Divius Iulius, hrsg. von HAROLD EDGEWORTH BUTLER, MAX CARY, wieder hrsg. mit neuer Einleitung, Bibliographie und Anmerkungen von GAVIN B. TOWNEND (Bristol Latin Classical Series), Bristol 1982, 6,1). Wie bei den hellenistischen Herrschern diente die bei einem Gott endende Genealogie dann auch vielen römischen Kaisern zur Sicherung ihrer hohen Stellung (vgl. SPEYER [Anm. 1], Sp. 1186). Vgl. GERHARD BINDER, Aeneas und Augustus. Interpretationen zum 8. Buch der Aeneis, Meisenheim am Glan 1971; DERS., Aitiologische Erzählung und augusteisches Programm in Vergils

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Ahnherr Roms ab, dem gottesfürchtigen Aeneas, der gleich in zweifacher Hinsicht eine Herrschaftslegitimation begründet: zum einen als Spross der Götter, zum anderen als Nachfahre des die Aeneadendynastie begründenden Spitzenahns Dardanus, der nach der Mythenversion, auf die Vergil referiert, italischer Abkunft ist. Damit aber ist nicht nur das fatum bzw. der Willen der Götter ausschlaggebend für die Spitzenstellung des Trojaflüchtlings als neuer Reichsgründer: Die Irrfahrt des Aeneas wandelt sich im Laufe der Handlung zu einer Heimfahrt, nachdem das Orakel von Delos durch seinen Spruch den Latiner Dardanus als Spitzenahn der Trojaner präsentiert. Diese genealogische Rückführung auf den Ursprung des Geschlechts stiftet die Kontinuität zwischen Troja und Rom, sie überbrückt die räumliche und zeitliche Distanz.17 Aeneas ist nicht allein Trojaflüchtling, sondern zugleich Italien-Heimkehrer.18 In einer genealogischen Kreisbewegung führt die ›Aeneis‹ ihren Protagonisten zurück zum Ursprung seines Geschlechts, wo er seine historische Erfüllung findet. Entsprechend begrüßt ihn der Flussgott des Tiber in der Nacht als heimkehrenden Göttersohn, der Troja wieder in die italische Urheimat zurückbringt: O sate gente deum, Troianum ex hostibus urbem qui revehis nobis aeternaque Pergama servas, exspectate solo Laurenti arvisque Latinis, hic tibi certa domus. 19 ›Du Sohn vom Stamm der Götter, der du aus Feindeshand die Stadt Troia uns zurückbringst und Pergamum für ewig bewahrst, erwartet auf Laurentums Boden und in den Fluren der Latiner, hier ist ein Zuhause dir sicher.‹

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Aeneis, in: Saeculum Augustum, hrsg. von DEMS., Bd. 2, Darmstadt 1988, S. 255–287; vgl. auch E. WEBER, Die trojanische Abstammung der Römer als politisches Argument, Wiener Studien NF 6 (1972), S. 213–225. Dass eine funktionierende Herrschaft der genealogischen Legitimierung bedarf, zeigt die DidoEpisode, da die karthagische Königin weder über eine fundierende Ahnenreihe verfügt, noch bestrebt ist, durch eine eheliche Verbindung mit einem dort beheimateten Adelsgeschlecht ein solches verwandtschaftliches Fundament aufzubauen (vgl. auch KELLNER, Ursprung [Anm. 4], S. 185). Veldeke hat diesen prekären Status der Herrschaft Didos genauestens akzentuiert. Gegenüber Eneas führt sie aus: »ich enhan daz kin noch den mach / ninder in dem lande. / man wechet mir groze schande, / sint daz ich iv genam. / die herren sint mir alle gram, / den ich versaget wilen e, / die engernt min nv niht me. / solde ich lebndich beliben, / sie solden mich vertriben / oder brennen und ehern, / ich enmohte mich niht erwern, / wande die schulde sint mein« (Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar, hrsg. von HANS FROMM (Bibliothek deutscher Klassiker 77; Bibliothek des Mittelalters 4), Frankfurt am Main 1992, vv. 2180–91). Vgl. zum genealogischen Konstrukt in Vergils ›Aeneis‹ WERNER SUERBAUM, Aeneas zwischen Troja und Rom. Zur Funktion der Genealogie und der Ethnographie in Vergils Aeneis, Poetica 1 (1967), S. 176–204. Publius Vergilius Maro, Aeneis, 12 Bücher in 6 Bänden. Lat/dt., übersetzt und hrsg. von EDITH BINDER, GERHARD BINDER (Reclams Universal-Bibliothek 9680–9685), Stuttgart 1994–2005, 8,36– 39. Die Übersetzungen folgen hier und späterhin dieser Ausgabe.

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Und diese als Rückkehr in die Urheimat inszenierte genealogische Kreisbewegung wird im Geschlechtsregister während der Katabasis des Aeneas transzendiert: Anchises erläutert auf den elysischen Feldern seinem Sohn, dass die von den Göttern abstammende gens Julia in Gestalt des Augustus ihr den ganzen Erdkreis umspannendes Herrschaftsgebiet auf das himmlische Reich ausdehnen wird, das als zweiter Ursprung der Aeneadendynastie dem römischen Kaiser eine neue Heimat bietet. Augustus werde in typologischer Nachfolge des Saturnus nicht nur Latium ein goldenes Zeitalter bringen, sondern auch dem Himmel selbst.20 So heißt es am Ende der Prophezeiung des Anchises: hic Caesar et omnis Iuli progenies magnum caeli ventura sub axem. hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latio regnata per arva Saturno quondam, super et Garamantas et Indos proferet imperium; iacet extra sidera tellus, extra anni solisque vias, ubi caelifer Atlas axem umero torquet stellis ardentibus aptum. (›Aeneis‹, 6,789–797) ›Hier steht Caesar und die ganze Nachkommenschaft des Iulus, die dazu bestimmt ist, zum mächtigen Himmelsgewölbe aufzusteigen. Der hier, der ist der Held, der dir, so hörst du es oft, verheißen wird, Augustus Caesar, Sohn eines Gottes: Goldene Zeiten wird er von neuem für Latium stiften in dem Land, wo Saturnus einst König war, über Garamanten und Inder hinaus wird er das Reich ausdehnen; dies Land liegt außerhalb unserer Gestirne, außerhalb der Bahnen von Jahr und Sonne, wo der Himmelsträger Atlas auf seiner Schulter das mit leuchtenden Sternen besetzte Himmelsgewölbe dreht.‹

Saturnus, dem griechischen Kronos gleichgesetzter Gott des Ackerbaus, wurde von Jupiter aus dem Olymp vertrieben und begründete in Latium das Goldene Zeitalter. Mythische Urzeit und historische Gegenwart werden gegen Ende der Geschlechterschau typologisch verbunden: Augustus wird nicht nur das Goldene Zeitalter erneuern und die Herrschaft der Römer auf die ganze Welt ausdehnen; sein Reich wird auch die terram 20

Für BINDER verbleiben die Verse allerdings im innerweltlichen Herrschaftszusammenhang: ihm zufolge vermittle die Textstelle allein den Gedanken der Weltherrschaft Roms; zugleich erscheine Augustus ausschließlich als Beherrscher des Erdkreises (vgl. BINDER, Aeneas und Augustus [Anm. 16], S. 268–270). Allerdings widerspricht nicht allein der Wortlaut dieser Textstelle dem Verständnis BINDERs, sondern auch die in Rom anerkannte Erhebung Julius Caesars zu einem anbetungswürdigen Gott verweist auf den Himmel als künftigen Wohnsitz der gens Iulia. Entsprechend erläutert Iuppiter im Buch I der ›Aeneis‹ Venus die Himmelfahrt des letzten Nachkommens ihres Sohns Aeneas: »nascetur pulchra Troianus origine Caesar, / imperium Oceano, famam qui terminet astris / […]. hunc tu olim caelo spoliis Orientis onustum / accipies secura; vocabitur hic quoque votis« (1,286–290): ›Zur Welt kommen wird aus edlem Stamm Caesar, ein Troianer, der das Reich bis zum Weltmeer, seinen Ruhm bis zu den Sternen ausdehnt […]. Den wirst du dereinst im Himmel, beladen mit der Siegesbeute des Orients, von Sorgen befreit, empfangen; auch ihn wird man in Gebeten anrufen.‹

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incognitam einschließen, die jenseits der im Osten noch bekannten Welt liegt. Dieses Land aber ist ein nicht mehr irdisches: es liegt extra sidera tellus, also außerhalb der sternenüberwölbten Erde, nicht einfassbar von Zeit und Raum (extra anni solisque). Das römische Herrschergeschlecht als Eroberer des Himmels und jenseitiger Friedensstifter – eine Konstruktion, an die die christlichen Autoren des Mittelalters nicht anschließen konnten. Während sich der anonyme Autor des ›Roman d’Eneas‹ auf einige wenige Fixpunkte der genealogischen Reihe Vergils konzentrierte, deren Ursprungsund Endpunkt allerdings ohne die prekäre Transzendierung beibehielt,21 spaltete Heinrich von Veldeke bekanntermaßen das Geschlechtsregister seiner Prätexte auf: Anchises prophetische Reihe lässt er beim römischen Stadtgründer Roms, Romulus, enden (›Eneasroman‹, vv. 3618–90); abweichend von seinen Vorlagen führt er erst am Schluss des Romans – im Anschluss an das Hochzeits- und Krönungsfest von Eneas und Lavinia – die genealogische Reihe bis zu Augustus fort (›Eneasroman‹, vv. 13307–411). Hier nimmt er dann auch die Transzendierung Vergils auf und modifiziert diese: er harmonisiert den auf die Vergöttlichung der Kaiserdynastie abzielenden teleologischen Geschichtsmythos des antiken Autors mit dem heilsgeschichtlichen telos des christlichen Glaubens. Die Herrschaft des Augustus erhält bei Veldeke ihre vornehmliche Bedeutung durch die Geburt des Gottessohns:22 es wart bei seinen zeiten vil stæter fride vnd gt. da uil wol waren beht wittewen vnd waisen von vnrechten fraisen, vnd arme vnd reiche. […] bei den zeiten wart der gotez sn geboren ze Bethelehem, der seit gemartirt wart ze Ierusalem vns allen ze troste, wan er vns erloste auzir der freislichen not, wan er den ewigen tot mit seinem tode ersterbite, den Adam an vns erbite. (›Eneasroman‹, vv. 13404–20)

In typologischer Art und Weise werden die Herrschaftsformen von Augustus und Christus kontrastiv aufeinander bezogen.23 Während der römische Kaiser bei seinen 21

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Vgl. Roman d’Eneas, übersetzt und eingeleitet von MONICA SCHÖLER-BEINHAUER (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 9), München 1972, vv. 2923–80. Vgl. bereits MARIE-LUISE DITTRICH, Die ›Eneide‹ Heinrichs von Veldeke, Bd. 1: Quellenkritischer Vergleich mit dem Roman d’Eneas und Vergils Aeneis, Wiesbaden 1966, S. 130f. Vgl. DITTRICH [Anm. 22], S. 551. Kritisch dazu WERNER SCHRÖDER, Veldekes ›Eneit‹ in typologischer Sicht, in: DERS., Veldeke-Studien (ZfdPh, Beihefte 1), Berlin 1969, S. 60–103, hier S. 99. Damit sei aber nicht behauptet, dass der ›Eneasroman‹ insgesamt christlich-typologisch gelesen

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zeiten, d.h. für eine kurze Zeitspanne irdischen Lebens, die Menschen vor freisen (also Schrecknissen) bewahren konnte, ist es Christus, der die endgültige Erlösung aller Menschen aller Zeiten auzir der freislichen not bewerkstelligt. Während Augustus Wirken nur mehr Geschichte ist, ist Christi Wirken noch in der Gegenwart lebendig und bezieht durch das kollektive vns den Erzähler und seine Rezipienten in die Erlösungssicherheit ein. Abschließend wird hier der weltlichen Genealogie der Aeneadendynastie eine christliche Genealogie entgegengesetzt, die gerade nicht auf die Exklusivität der Reihe verweist, sondern durch den Stammvater Adam alle Menschen gleichermaßen inkludiert – eine die Vergilsche Nobilitierung der gentis Iuliae geradezu konterkarierende Adaptation.24 Auch wenn Veldeke die mythische Ursprungsfiktion christlich umgestaltet, perspektiviert er dennoch die Gründungsgeschichte Roms und deren genealogischen Rückbezug auf den Trojaflüchtling Eneas wiederholt nobilitierend auf die Gegenwart hin.25 Dies zeigt sich vor allem in den so genannten Stauferpartien, von denen die letzte die Erzählung mit der Erwähnung des Mainzer Hoffestes abschließt, das als Überbietung des Hochzeitsfestes von Lavinia und Eneas in Szene gesetzt ist.26 Dort heißt es: ich enuernam uon hohzeiten in allen weilen mære, div als groz wære, alsam do het Eneas, wan div ze Meginze da was, die wir selbe sahen (›Eneasroman‹, vv. 13222–27)

Mit solchen Überbietungsfiguren wird der Glanz des antiken Königtums zum staufischen Kaiserhaus in Beziehung gesetzt: dieses erscheint als Erfüllung der historiae mundanae.27 So ist es auch Friedrich Barbarossa in der ersten Stauferpartie vorbehal-

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werden müsste. Zu dieser Diskussion vgl. zuletzt CARSTEN KOTTMANN, Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im ›Eneasroman‹ Heinrichs von Veldeke, Studia Neophilologica 73 (2001), S. 71–85, hier S. 81f. Vgl. auch KELLNER, Ursprung [Anm. 4], S. 222: »Die Verwandtschaft des Aeneas im engeren Sinne geht sozusagen auf in der Verwandtschaft aller Menschen von Adam her, Adam, der jedem seine Sünde vererbt hat.« Vgl. ebd. S. 185. Zur Textfunktion des Hochzeitsfestes zuletzt OTFRID EHRISMANN, Die Hochzeit des Eneas. Zur rituellen Inszenierung von Ordnung in Heinrichs von Veldeke ›Eneas‹, in: Er ist ein wol gevriunder man. Essays in Honor of ERNST S. DICK on the Occasion of his Eightieth Birthday, hrsg. von KAREN MCCONNELL, WINDER MCCONNELL, Hildesheim/Zürich/New York 2009, S. 113–129; zum Mainzer Hoffest vgl. PETER MORAW, Die Hoffeste Kaiser Friedrich Barbarossas von 1184 und 1188, in: Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von UWE SCHULTZ, München 1988, S. 70–83; JOSEF FLECKENSTEIN, Friedrich Barbarossa und das Rittertum. Zur Bedeutung der großen Mainzer Hoftage 1184 und 1188, in: Das Rittertum im Mittelalter, hrsg. von ARNO BORST (Wege der Forschung 349), Darmstadt 1976, S. 392–418. Vgl. auch EHRISMANN [Anm. 26], S. 126. Die Hochzeit des Eneas und die Schwertleite der Söhne Barbarossas entwirft Veldeke als gleichermaßen erinnerungswürdig: dem chaiser Fridereiche / ge-

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ten, das Pallas-Grab zu öffnen, wobei das noch aus der Antike stammende Licht in der Gruft verlöscht. Mit dieser zeichenhaft in die Gegenwart des deutschen Kaisers ragenden Spur der Erinnerung an die Historizität des Stammvaters der römischen Kaiserherrschaft rückt das staufische Kaiserhaus zwar nicht in eine genealogische, aber in eine symbolische Nachfolge des Aeneadengeschlechtes ein.28 Diese Geschichtskonstruktion objektiviert sich hier in den bildhaften Symbolen der Grabfindung und des Verlöschens des aus der Antike stammenden Lichts. Folgerichtig urteilt BEATE KELLNER: Das Grab hat diese Vergangenheit verschlossen, sie ruhte sozusagen im Verborgenen, – und insofern treten Stein, Lampe und Schrift erst in ihrem zeichenhaften Charakter zutage, als der Kaiser die Gruft auffindet und eröffnen lässt: Erst dann werden sie überhaupt zu Memorialzeichen, welche die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden und deren Bedeutung für die 29 Gegenwart erschließen.

Während Eneas die Voraussetzungen für die Gründung Roms schafft, ist es der staufische Kaiser, der diese weltgeschichtlich bedeutsame Vorgeschichte wieder aufleben lässt, indem er an ihrer memoriae durch die symbolträchtige Auffindung des Pallasgrabes zeichenhaft körperlich Anteil nimmt sowie die kulturellen antiken Institutionen mit der höfischen Festveranstaltung zur Ehre der Schwertleite seiner Söhne adaptiert.30 Eine Stiftung historischer Erinnerung kommt aber auch dem ›Eneasroman‹ selbst zu: dessen Gönner – wie wir im Epilog des Romans erfahren – ermöglichen durch die Beauftragung Veldekes, dass die Vorgeschichte Roms und damit die Erinnerung an den eigenen kulturellen sowie politischen Ursprung trotz der widrigen Umstände des Manuskript-

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schach so manich ere, / daz man immer mere / wunder da uon sagen mach / vncz an den iungisten tach / an lugene fur war (›Eneasroman‹, vv. 13244–49). KELLNER, Ursprung [Anm. 4], S. 226, urteilt zurecht: »Aeneas und Friedrich Barbarossa stehen in dieser Perspektive in einer Linie, und wie man von dem antiken Helden noch in der Gegenwart des 12. Jahrhunderts erzählt, so wird man auch von dem Stauferkaiser noch in der Zukunft schreiben und erzählen.« Vgl. DITTRICH [Anm. 22], S. 584. HEINZ THOMAS, Matière de rome – matière de Bretagne. Zu den politischen Implikationen von Veldekes ›Eneide‹ und Hartmanns ›Erec‹, ZfdPh 108 (1989), Sonderheft, S. 65–104, hier S. 80, spricht von einer renovatio antiker Herrschaftsformen. KELLNER, Ursprung [Anm. 4], S. 225. Vgl. auch die Generalisierungen aus soziologischer Sicht zur Vergangenheitskonstruktion bei KARL-SIEGBERT REHBERG, Zur Konstruktion kollektiver »Lebensläufe«. Eigengeschichte als institutioneller Mechanismus, in: Gründungsmythen, Genealogien, Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, hrsg. von GERT MELVILLE, KARL-SIEGBERT REHBERG, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 3–18: »Verklammerungen unterschiedlichster Zeithorizonte lassen sich dabei durch die merkwürdige Vorstellung einer spirituellen Kraft- oder Legitimitätsübertragung herstellen. […] Derlei Kontinuierungsmythen lassen sich steigern im Modus einer linearen Aufstiegsgeschichte, die von Fortschrittsmotiven getragen wird« (S. 9f.). Genau dies scheint mir in den Stauferpartien der Fall. Diese Propagierung der staufischen Reichsherrschaft und ihres Protagonisten Friedrich Barbarossas gründet nicht zuletzt in einer familiären Beziehung zu den Staufern. Jutta, die Ehefrau Ludwigs II. und Mutter der vier Ludowingerbrüder, war die Nichte Konrads III. und Halbschwester Kaiser Friedrich Barbarossas.

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raubs lebendiges Wissen bleibt. Damit stellt der Text das ludowingische Geschlecht ebenso wie den staufischen Kaiser Friedrich Barbarossa in eine kulturtypologische Nachfolge des Aeneadengeschlechtes.31 Dies erreicht der Epilog, indem er die Erwähnung der ludowingischen Brüder in einen funktionalen Zusammenhang mit der Aeneadengenealogie stellt. In der mediävistischen Forschung ist bislang nicht in den Blick geraten, dass die spezifische Ausgestaltung des Epilogs mit der außergewöhnlichen Buchdiebstahlgeschichte und dem in höfischer Epik singulären Entwurf einer Buchentstehung als literarischem Familienprojekt sich der genealogischen Struktur des ›Eneasromans‹ verdankt. Diesen generischen Zusammenhang zwischen der Erzählung vom Schicksal des Eneas und der Darstellung der Entstehung des Romans möchte ich im Folgenden entfalten. Der Epilog ist bekanntlich schon seit den Anfängen der Veldeke-Philologie in der Diskussion. Standen zuerst Fragen zum einen nach Verfasserschaft sowie der damit verbundenen Authentizität und zum anderen zur Textentstehung, Mäzenatentum und Datierung im Vordergrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung,32 hat sich die Diskussion in den letzten Jahren doch merklich verschoben. Der Epilog interessiert nicht mehr allein als sozialgeschichtliche Quelle und vermeintlicher Einblick in den mittelalterlichen Literaturbetrieb, sondern wird auf seine literarischen Funktionen hin befragt.33 Kritisch mit dem Mainstream der Forschung, die die Angaben des Epilogs bezüglich des Buchdiebstahls, der Gönnerschaft und der Eheverbindung von Ludwig mit einer Gräfin von Kleve als historische Quelle auswertet, haben sich zuerst BERND BASTERT und im Anschluss dann TINA SABINE WEICKER auseinandergesetzt. Während BASTERT deutlich machen konnte, dass die Hochzeit Margarethes von Kleve und Landgraf Ludwigs III. wohl weder in Kleve noch im Jahr 1174 stattgefunden habe,34 stellte WEICKER aufgrund der Fragwürdigkeit der Angaben des Epilogs den historischen Zeugniswert der Angaben gänzlich in Frage: »Es könnte sich hier um eine Verflech31

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Einen generischen Zusammenhang zwischen Aenadengenealogie und den ludowingischen Brüdernamen stellt implizit bereits URSULA STORP her, die diese allerdings in die genealogische Reihung integriert sieht: Vater und Sohn. Zum genealogischen Charakter von Literatur und Geschichte, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hrsg. von HELMUT BRALL, BARBARA HAUPT, URBAN KÜSTERS (Studia humaniora 25), Düsseldorf 1994, S. 137–162, hier S. 142. Zur Verfasserschaft vgl. den Kommentar in der FROMMschen Textausgabe sowie den Überblick über die Forschungsdiskussion bei WOLFGANG BRANDT, Die Erzählkonzeption Heinrichs von Veldeke in der ›Eneide‹. Ein Vergleich mit Vergils ›Aeneis‹ (Marburger Beiträge zur Germanistik 29), Marburg 1969, S. 49–53. Erhellend dazu zuletzt SILVIA SCHMITZ, Die Poetik der Adaption. Literarische inventio im ›Eneas‹ Heinrichs von Veldeke (Hermaea NF 113), Tübingen 2007, S. 85; zum Mäzenatentum Hermanns I. vgl. JOACHIM BUMKE, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 159–168, 378–383; URSULA PETERS, Fürstenhof und höfische Dichtung. Der Hof Hermanns von Thüringen als literarisches Zentrum (Konstanzer Universitätsreden 113), Konstanz 1981. Vgl. SCHMITZ [Anm. 32], S. 19. Dort auch, S. 76–90, eine vorzügliche Analyse des Epilogs. Vgl. BERND BASTERT, Zur »Klever Hochzeit« und der Genese des Eneas-Romans, ZfdA 123 (1994), S. 253–273.

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tung, eine jener Symbiosen von Historizität und Fiktionalität handeln, wie sie in der mittelalterlichen Literatur immer wieder zu beobachten sind.«35 Als zusätzliches Argument verweist sie auf eine Reihe von antiken Buchdiebstahlsgeschichten, die Veldeke als Vorbild habe nehmen können, um die Dignität und den Wert seines Textes für das thüringische Landgrafengeschlecht und damit für die adlige Gesellschaft insgesamt spielerisch-ironisch zu unterstreichen. Daher – so schließt WEICKER – sei »ernsthaft damit zu rechnen, daß der Bericht über den Diebstahl des ›Eneas‹-Manuskripts literarische Fiktion ist«.36 Jenseits der nicht zu entscheidenden Frage nach Realitäts- oder Fiktivitätsstatus der Textpassage scheint es mir indes möglich zu sein, ihre narrativen Funktionen im Kontext der genealogisch strukturierten Eneasgeschichte aufzuschließen, und zwar über die immer wieder seitens der Forschung reklamierte Nobilitierung des Textes und seines Urhebers hinaus. Wesentliche Voraussetzung eines textfunktionalen Verständnisses des Epilogs ist die Beobachtung, dass eine große Anzahl von Gönnernennungen – und gerade die wenigen des 12. Jahrhunderts – sich den Strukturen, Inhalten oder Motiven der narrationis anpassen.37 Dies gilt z.B. für das ›Rolandslied‹, in dessen Epilog gerade jene Taten Heinrichs des Löwen akzentuiert werden, nämlich christliche Lebensführung und Missionierung, die die Handlung des Kreuzzugsepos und das Handeln seines Protagonisten wesentlich bestimmen. Die Handlung des ›Rolandsliedes‹ gibt das Bild des Gönners als unerschrockener Heidenkämpfer und Glaubensstreiter stofflich vor. So heißt es von Herzog Heinrich: die cristen hât er wol gêret, die haiden sint von im bekêret. daz erbet in von rehte an. ze flüchte gewant er nie sîn van. got tet in ie sigehaft. in sînem hove newirdet niemer nacht, ich maine daz êwige licht, daz nezerinnet im nicht. untriuwe ist im lait. er minnet rechte wârhait. jâ üebet der hêrre 35

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TINA SABINE WEICKER, Dô wart daz bûch ze Cleve verstolen. Neue Überlegungen zur Entstehung von Veldekes ›Eneas‹, ZfdA 130 (2001), S. 1–18, hier S. 15. Ebd. S. 17. Zuletzt hat FRIEDRICH MICHAEL DIMPEL mithilfe seines im Rahmen seiner Dissertation entwickelten Programmpaketes ›ErMaStat‹ (Erlanger-Mittelalter-Statistik) darauf aufmerksam gemacht, dass es keinerlei sprachliche Differenzen zwischen Beginn und Schluss des Romans gebe, was ihm Argument gegen eine Arbeitspause ist und die Thesen WEICKERs stützen soll (Der Verlust der ›Eneas‹-Handschrift als Fiktion. Eine computergestützte, textstatistische Untersuchung, ABäG 61 [2006], S. 87–102). Analoges habe ich bereits für die Autorenfiguren der höfischen Epik gezeigt. Vgl. TIMO REUVEKAMP-FELBER, Autorschaft als Textfunktion. Zur Interdependenz von Erzählerstilisierung, Stoff und Gattung in der Epik des 12. und 13. Jhs., ZfdPh 120 (2001) S. 1–23.

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68 alle gotlîche lêre […] sîme schephaere 38 opheret er lîp unt sêle.

Mit analogen Attributen werden die christlichen Kämpfer um Roland und dieser selbst in der Erzählung fortlaufend ausgestattet. Auch der ›Lucidarius‹-Prolog zeigt eine solch spezifische Adaptation der Gönnerfigur an die Textgattung. Der von der Gönnerforschung als Heinrich der Löwe identifizierte Mäzen erscheint hier nicht wie im ›Rolandslied‹ als standhafter Heidenkämpfer, der bereit ist, Leben und Seele Gott zu opfern, sondern – ganz dem enzyklopädischen Charakter des ›Lucidarius‹ entsprechend – als ein litteratus, der mit der philologischen Kleinarbeit in lateinischer Sprache vertraut ist und die Diskussionen seiner gelehrten Zeitgenossen über den prekären epistemologischen Status gereimter Texte genau kennt. So weiß er, dass die darzustellenden Inhalte in verschiedenen lateinischen Schriften zusammengesucht werden müssen, und fordert seine Kapläne auf, das Werk in Prosa als getreue Übersetzung der lateinischen Vorlagen zu konzipieren und auf jedwede Versifizierung, die die Wahrheit verfälsche, zu verzichten: Sine cappellane er hiez die rede suchen an den schriften vnd bat, daz sie ez tichten an rimen wolden, wan sie ensolden nicht schriben wan die warheit, als ez zv latine steit. […] Der herzoge wolde, daz man ez hieze da 39 Aurea gemma. 38

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Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mhd./nhd., hrsg. von DIETER KARTSCHOKE (Reclams Universal-Bibliothek 2745), Stuttgart 1993, vv. 9045–67. Der zweimalige Vergleich des Gönners mit König David im Epilog stellt diesen zudem über die typologische Reihe David – Christus – Roland – Heinrich in die Nachfolge Christi. Der deutsche Lucidarius, Bd. 1: Kritischer Text nach den Handschriften, hrsg. von DAGMAR GOTTSCHALL, GEORG STEER (Texte und Textgeschichte 35), Tübingen 1994, S. 102*–104*, vv. 12–28. GEORG STEER hat die Authentizität des Prologs angezweifelt (ebd. S. 25*f.). JOACHIM BUMKE hat seinen philologisch gegründeten Argumenten vehement widersprochen. Vgl. die Forschungsdiskussion in den Beiträgen von GEORG STEER, Der deutsche ›Lucidarius‹ – ein Auftragswerk Heinrichs des Löwen? DVjs 64 (1990), S. 1–25; JOACHIM BUMKE, Heinrich der Löwe und der ›Lucidarius‹Prolog, DVjs 69 (1995), S. 603–633; GEORG STEER, Der A-Prolog des deutschen ›Lucidarius‹ – das Werk eines mitteldeutschen Bearbeiters des 13. Jahrhunderts. Eine Replik, DVjs 69 (1995), S. 634– 665; vgl. auch WERNER SCHRÖDER, Textkritisch oder überlieferungskritisch. Zur Edition des deutschen ›Lucidarius‹ (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 33,1), Stuttgart 1995; INA LOMMATZSCH, das taten sie willecliche / dem herzogen Heinriche / daz er in gebot und bat. Warum existiert der A-Prolog des ›Lu-

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Beiden Gönnernennungen ist gemein, dass sie narrativ organisiert sind und sich dem Kontext der erzählten Handlung bzw. der Textgattung anpassen.40 Dies gilt in äquivalenter Form auch für die Angaben im Epilog des ›Eneasromans‹, die – ungeachtet ihres möglichen sozial- und literaturgeschichtlichen Erkenntniswerts – ihre konkrete Gestalt aus der genealogischen Darstellung der Eneasgeschichte gewinnen. So folgt die Geschichte vom unfertigen ›Eneas‹-Manuskript, das eine Klever Gräfin schon vor seiner Fertigstellung lesen möchte, das für einen Grafen so sehr von Interesse ist, dass er es raubt und in seine Thüringer Heimat fortschafft, und das dennoch nach neun Jahren von seinem Autor meisterlich vollendet werden kann, weil die Landgrafenfamilie dies so möchte, einem narrativen Muster: dem Muster des Verlustes, der langjährigen Ungewissheit und schließlich der Rückkehr des Autors zu seinem Manuskript, dessen Ursprung er ist. Dieses Narrativ folgt dem genealogischen Prinzip der narrationis des Romans, die die Irrfahrt des Eneas als eine Entwurzelung und eine Rückkehr zum italischen Ursprung beschreibt, und dient einem einzigen Zweck: dem Lob der Dichtung und ihres Verfassers, der allein die herausragende Qualität der Erzählung sicherstellen kann.41

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cidarius‹?, JOWG 10 (1998), S. 255–268; CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST, Fern von Braunschweig und fern von herzogen Heinriche? Zum A-Prolog des ›Lucidarius‹, ZfdPh 122 (2003), S. 20–47. Die Diskussion ist zusammengefasst und bewertet bei TIMO REUVEKAMP-FELBER, Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts (Kölner Germanistische Studien NF 4), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 152–160. Zuletzt hat HELGARD ULMSCHNEIDER, Wistůmes vil, vremde mere oder zum zit vertriben? Zur Überlieferung der Prologe des deutschen ›Lucidarius‹ in den mittelalterlichen Handschriften, ZfdA 138 (2009), S. 141–172, nach einer erneuten Revision des Überlieferungsbefunds konstatiert, dass wohl »der AProlog tatsächlich die Entstehungsumstände des Werks am Ende des 12. Jahrhunderts, wie auch immer im Detail, widerspiegelt« (S. 163), dieser jedenfalls »nicht weit weg vom Ursprung des Textes« (S. 161) sei. Andere Beispiele lassen sich leicht finden: In Priester Wernhers ›Maria‹ ist der Auftraggeber ein Priester Manegolt, der von der Forschung mit Manegold von Sibinache, dem langjährigen Propst und späteren Abt des Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra in Augsburg identifiziert wird (vgl. BUMKE [Anm. 32], S. 134f.). Dem legendenepischen Stoff entsprechend erscheint Manegold als Fährmann, der das Projekt der Dichtung in den sicheren Hafen führt. Die Hausgemeinschaft zwischen Dichter und Gönner wird als ein ernstes, von Religiösität geprägtes Arbeitsprojekt inszeniert: do enwart niht vil gelachet: / sante Marie / diu gap in kurzewile (Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen, hrsg. von CARL WESLE, 2. Aufl. besorgt von HANS FROMM [ATB 26], Tübingen 1969, vv. 5822–24). Diese Assimilierung von erzähltem plot und Gönnernachricht begegnet auch allenthalben im 13. Jahrhundert. So z.B. im ›Willehalm‹ Rudolfs von Ems, in dem der Gönner des Liebes- und Abenteuerromans, Konrad von Winterstetten, diesen als tugende richer helt im Rahmen des Frauendienstes seiner Dame wegen in Auftrag gegeben haben soll: Mich bat an tugende richer helt, / […] Das ich dran aerbeite mich / Ze dienste siner vrovwen, / Das si geruochte schovwen / Sines herzen willen dran, / Das er ir staeter dienestman / Iemer staete wesen wil (Rudolf von Ems, Willehalm von Orlens, hrsg. von VICTOR JUNK [DTM 2], Berlin 1905, vv. 15649–59). So schon JULIUS SCHWIETERING, Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter, Berlin 1921. Unv. Nachdruck Göttingen 1970, S. 64. Vgl. auch SCHMITZ [Anm. 32], S. 18. Evidenz über den

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Das Lob der Dichtung und ihres Verfassers geht einher mit dem Lob der ludowingischen Mäzene. Dem vertikalen Konstrukt der Aeneadengenealogie wird ein horizontales dynastisches Tableau der Brüdergeneration des thüringischen Landgrafengeschlechtes entgegengestellt, das alle männlichen Nachkommen Ludwigs II. umfasst (Ludwig III., Heinrich Raspe III.,42 Pfalzgraf Hermann und Friedrich).43 Während die auf Adam gründende christliche Genealogie am Ende der Erzählung des ›Eneasromans‹ die Gleichheit aller Menschen vor Gott betont, knüpft die Profilierung des Ludowingergeschlechtes im Epilog an die Konstruktion der herausragenden Aeneadendynastie an. Wie die antiken Vorgänger und vor allem deren Stammvater Eneas in der Romanhandlung zeichnet sich dieses mittelalterliche Adelsgeschlecht in der Darstellung des Epilogs durch seine vortrefflichen Eheschließungen (Ludwig mit der tugentlichen, milten und guoten Gräfin von Kleve), ihre Bindung an ein Herrschaftsgebiet (Thüringen findet gleich zweimal Erwähnung) sowie ihren Bau neuer Burgen aus (erwähnt ist die Neuenburg an der Unstrut als Herrschaftssitz des Pfalzgrafen Hermann).44 Diese durch analo-

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historischen Wahrheitsgehalt dieser Aussagen lässt sich nicht herstellen. Ob es einen Buchdiebstahl wirklich gab, ob eine längere Schaffenspause (für die FROMM in seinem Textkommentar einen Vorlagenwechsel erwägt) oder eine Familienförderung des Buches, lässt sich aus diesen kontextgebundenen Aussagen nicht mit Sicherheit ableiten. Der Dieb Heinrich wird in der Forschung meist mit Graf Heinrich Raspe III. identifiziert, dem zweiten Sohn des Thüringer Landgrafen Ludwig II. Während die oberdeutschen Handschriften sich allerdings mit dem unspezifischen Vornamen Heinrich begnügen, erweitern die drei mitteldeutschen Handschriften E, G und H aus dem 14. sowie 15. Jahrhundert den Namen zu Heinrich von Schwarzburg († 1184), einem erklärten Gegner der ludowingischen Territorialisierungsbestrebungen. Der durch diesen Zusatz hervorgerufene gravierende metrische Verstoß deutet m.E. an, dass es sich um eine sekundäre Lesart handelt, die die möglicherweise mit der Lokalgeschichte des Thüringer Raums vertrauten mitteldeutschen Schreiber verantwortet haben. Eine solche historische Plausibilisierung des Manuskriptraubs durch einen Gegner der Ludowinger geht zu Lasten der raffinierten genealogischen Konstruktion. Dieses erstaunliche Bild einer Beteiligung der gesamten engeren Familie des thüringischen Landgrafenhauses unter Ludwig III. ist ein nahezu einmaliges Dokument einer Adelsfamilie als Förderer eines volkssprachig-epischen Textes. Eine Ausnahme stellt der ›Wilhelm von Österreich‹ Johanns von Würzburg dar, der den Herzögen Leopold I. († 1326) und seinem Bruder Friedrich dem Schönen († 1330) gewidmet ist. Gönnernachrichten, die sich auf mehrere Mitglieder einer Fürstenfamilie beziehen, begegnen ansonsten ausschließlich im Minnesang ab dem 13. Jahrhundert. Vgl. die instruktiven Beispiele bei BUMKE [Anm. 32], S. 570–575 (Nr. 87), vv. 102–117, 56–73, sowie S. 581 (Nr. 92). Zu den lobend hervorgehobenen Sammelaktivitäten mhd. Lyrik der beiden Zürcher Herren von Manesse, Rüdiger und sein Sohn Johannes, vgl. auch HERTA-ELISABETH RENK, Der Manesse-Kreis, seine Dichter und die Manessische Handschrift (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 33), Stuttgart u.a. 1974 sowie MAX SCHIENDORFER, Ein regionalpolitisches Zeugnis bei Johannes Hadloub (SMS 2). Überlegungen zur historischen Realität des sogenannten »Manessekreises«, ZfdPh 112 (1993), S. 37–65. Die besondere Hervorhebung der Neuenburg an der Unstrut ist möglicherweise nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass sie die Grenze zwischen Sachsen und Thüringen markiert und damit als Symbol für den Doppelbesitz der Landgrafschaft Thüringen und der Pfalzgrafschaft Sachsen fungiert. Damit hatte sie für den im Epilog als entscheidenden Auftraggeber der Dichtung figurier-

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ge Taten und Eigenschaften konstruierte Verbindung von Aeneadengenealogie und dynastischem Tableau der ludowingischen Brüdergeneration wird nicht zuletzt dadurch evident, dass der Text Veldekes unmittelbar nach der Gönnernennung erneut das antike Geschlechtsregister einspielt und an dessen weltgeschichtliche Funktion erinnert: daz was der phalzgraue Herman, des lantgrauen Ludwiges brder von vater vnd von mter, vnd der graue Fridereich, dem diente gerne Hainreich. Ich han gesaget rechte dez herren Enee geslechte vnd daz chunne lobisam, daz seit uon im cham, geweltich vnd reiche. si lebeten herleiche, paidiv iunge vnd alt, si lebten mit grozir gewalt in der werlt weiten. […] daz ist gengen chuntleich, als es da tichte Hainreich (›Eneasroman‹, vv. 13487–506)

Die beiden vorgestellten Geschlechter rücken textuell wie inhaltlich nah zusammen.45 Erst dem Einsatz der ludowingischen Brüdergeneration – so suggeriert es der Epilog –

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ten Pfalzgraf Hermann eine zentrale Funktion sowohl als faktische Machtbasis als auch als Symbol für den über Thüringen hinausreichenden Herrschaftsanspruch der Ludowinger. Vgl. dazu auch STEFAN TEBRUCK, Die Reinhardsbrunner Geschichtsschreibung im Hochmittelalter. Klösterliche Traditionsbildung zwischen Fürstenhof, Kirche und Reich (Jenaer Beiträge zur Geschichte 4), Frankfurt am Main/Berlin/Bern 2001. Eine genealogische Verknüpfung findet allerdings nicht statt, obwohl die Anbindung adliger Familien an einen trojanischen Spitzenahn im 12. Jahrhundert durchaus begegnet. Dass nicht nur typologische, sondern auch genealogische Anknüpfungen an die Formen und Inhalte antiker Geschlechtermythologien präsent waren, zeigt das instruktive Beispiel Gottfrieds von Viterbo, der eine Blutsverwandtschaft zwischen Staufern und den römischen Caesaren bzw. den trojanischen und griechischen Königen sowie auch euhemeristisch modifizierend zu den römischen Göttern Saturn und Jupiter propagiert (vgl. Gottfried von Viterbo, Speculum regum, lib. 1, c. 8, vv. 187–198, oder auch Memoria seculorum, in: Gotifredi Viterbiensis opera, hrsg. von GEORG WAITZ, in: MGH SS 22, Hannover 1872, S. 1–338, hier S. 100). Im ›Speculum regum‹ behauptet Gottfried gar, dass sich der gesamte deutsche Adel von Priamus dem Jüngeren herleitet. Erstmals zu Gottfried, seiner ursprungsmythischen Konstruktion und dem Verhältnis zu Veldeke HEINZ THOMAS [Anm. 28], S. 76–80. Ein »Epos vom Ursprung der staufischen Sippe« (S. 76) ist der ›Eneasroman‹ Veldekes aber nicht, da er genau diesen genealogischen Zusammenhang verweigert. – Auch im Umfeld der Ludowinger existiert eine ursprungsmythische Konstruktion. In dem aus der ›Chronica Reinhardsbrunnensins‹ des 14. Jahrhunderts erschlossenen lateinischen Text ›De ortu principum Thuringie‹, der eine stark gekürzte Fassung der aus den letzten beiden Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts stammenden ›Reinhardsbrunner Gründungsgeschichte‹ darstellt, wird die ludowingische Dynastie auf

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ist es zu verdanken, dass die Vorgeschichte des Römischen Reiches genuogen chuntleich, also vielen bekannt, wurde. Dennoch wurde in der sozialgeschichtlich ausgerichteten Forschung zuletzt eine genealogische Funktion der Gönnernennung bestritten. URSULA PETERS formulierte in ihrer grundlegenden Studie zur Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters einen negativen Befund: »Die Ludowinger finden nicht als berühmtes Landgrafengeschlecht, sondern über einzelne literaturinteressierte Familienangehörige Eingang in den Epilog. Dementsprechend fehlt auch in der Ludowinger-Partie des Epilogs wie im gesamten Text der Gedanke einer Verherrlichung der Ludowinger als Geschlecht.«46 Eine solche Ausblendung des dynastischen Prinzips übergeht allerdings die Anbindung der Gönnernennung an die Aeneadengenealogie, die durchaus eine Verherrlichung der Ludowinger als Geschlecht markiert. Anders als in lateinischer Hofgeschichtsschreibung, die mit Themen wie agnatischer Geschlechterfolge und Ahnenstolz ein ausgeprägtes fürstliches Familienbewusstsein dokumentiert sowie eine legitimatorische Funktion für die Stabilität der Landesherrschaft erfüllt,47 zeigt sich die Dynastie hier in einem horizontalen Tableau aufgefächert. Dies scheint nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die mittelalterliche Adelsfamilie in den unterschiedlichen Quellen nicht immer als agnatisch organisierter, auf den Herrscher perspektivierter Familienverband erscheint, sondern mit ihren unterschiedlichen Funktionen in divergierenden Aktualisierungen und punktuellen Konkretisierungen, die z.B. die kognatisch organisierte, d.h. also die mütterliche Verwandtschaft, einschließen können48 oder eben auch – wie in unserem Fall – die vier männlichen Exponenten der ludowingischen Kernfamilie.49 Die Erwähnung aller vier

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den Freigeborenen (ingenuus) Ludwig mit dem Barte zurückgeführt, der aus dem Geschlecht der Frankenkönige Karl und Ludwig stamme. ›De ortu principum Thuringie‹ ist neu ediert bei TEBRUCK [Anm. 44]. URSULA PETERS, Dynastengeschichte und Verwandtschaftsbilder. Die Adelsfamilie in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters (Hermaea 85), Tübingen 1999, S. 264. Vgl. auch die analoge Argumentation bei DERS., Familienhistorie als neues Paradigma der mittelalterlichen Literaturgeschichte, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, S. 134–162, hier S. 159f. Vgl. BIRGIT STUDT, Hofgeschichtsschreibung, in: PARAVICINI [Anm. 4], S. 373–390, hier S. 373, sowie PETERS, Dynastengeschichte [Anm. 46], S. 4. Vgl. CONSTANCE B. BOUCHARD, Family Structure and Family Consciousness among the Aristocracy in the Ninth to Eleventh Centuries, Francia 14 (1986), S. 639–658; DAVID HERLIHY, Medieval Households (Studies in Cultural History), London 1985, S. 83f. Für die Ludowinger sei nur auf eine Schenkungsurkunde von Ludwig dem Springer aus dem Jahr 1110 verwiesen, in der er gemeinsam mit seinem Neffen Konrad, seiner Ehefrau Adelheid und seinen Söhnen Hermann, Ludwig, Heinrich und Konrad dem Kloster Reinhardsbrunn die Kirche zu Sangerhausen schenkte. Vgl. JÜRGEN PETERSOHN, Die Ludowinger. Selbstverständnis und Memoria eines hochmittelalterlichen Reichsfürstengeschlechts, Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), S. 1–39, hier S. 8. Ein gutes Beispiel für die Heranziehung weiterer Verwandtschaft zur Profilierung des eigenen Rangs scheint mir der Landgrafenpsalter zu sein. Dieser auf die Jahre 1210–1213 zu datierende Psalter weist als Illustration des Textes der Allerheiligenlitanei zwei halbfigurige Personendarstel-

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Brüder der aktuellen ludowingischen Herrschaftsgeneration dokumentiert dabei gerade ein Interesse an der vollständigen Inventarisierung der dynastischen Verästelungen und ihrer Besitzungen in Thüringen (Landgraf Ludwig), Sachsen (Pfalzgraf Hermann) und Hessen (Friedrich). Solche nicht den Herrscher in den Mittelpunkt stellende Familienkonstrukte begegnen vor allem in Gedächtnisstiftungen.50 Der sich der antiken Geschlechtermythologie verdankende genealogische Entwurf im Epilog des ›Eneasromans‹ reiht sich hier bestens ein.51 Die Frage nach der historischen Referentialisierbarkeit der Epiloginformationen ist nicht zu beantworten. Jenseits einer nicht weiterführenden binären Kategorisierung als Fiktion oder Fakt habe ich zu zeigen versucht, dass die Informationen über Buchentstehung und Gönnerschaft in einem narrativen Kontext stehen, der von dem antikeuropäischen Strukturmuster der Genealogie durchdrungen ist. Narrativierte Gönnernachrichten in Pro- und Epilogen zeigen in volkssprachiger Literatur generell die Tendenz, sich der erzählten Geschichte und ihren Gattungsmerkmalen anzupassen. Der ›Eneasroman‹ partizipiert an der zentralen Funktion der ›Aeneis‹, genealogischer Schlüsselroman zu sein, und aktualisiert deren Nobilitierung und Tranzendierung des Aeneadengeschlechtes in zweifacher Weise. Zum einen stellt er der Vergöttlichung der gentis Iuliae eine auf Adam als Stammvater zurückgehende Genealogie aller Menschen entgegen, zum anderen bindet er mithilfe typologischer Verfahren nicht nur den Stauferkaiser Friedrich Barbarossa, sondern auch die ludowingische Herr-

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lungen auf, die durch Beischriften von der Forschung als eine um das Landgrafenehepaar gruppierte Verwandtengruppe identifiziert worden ist: neben dem Landgrafenehepaar Hermann und Sophia erscheinen Andreas II. von Ungarn und dessen erste Ehefrau Gertrud von AndechsMeranien, die Mutter der im Jahre 1211 mit Hermanns ältestem Sohn verlobten Prinzessin Elisabeth von Ungarn, zum anderen Hermanns Vetter Přemysl Ottokar I. und dessen Gemahlin Konstanze, eine Schwester König Andreas’ II. von Ungarn (vgl. PETERSOHN [Anm. 54], S. 23f.). Anders als beispielsweise im Evangeliar Heinrichs des Löwen spielen für die Illustration des Psalteriums die Vorfahren des Landgrafenehepaars keine Rolle. Maßgeblich scheint vielmehr das aktuelle politische Interesse des Landgrafen, sich mit lebenden Verwandten im Königsrang in gleichrangiger Weise darstellen zu lassen. Die Parallele zum ›Eneasroman‹ scheint mir darin zu liegen, dass auch hier ein dynastisches Tableau arrangiert ist, das nicht auf Ahnenstolz und Geschlechterfolge abzielt, sondern auf eine Integration Hermanns in eine verwandtschaftliche Gruppe. Anders als im Psalter geht es im ›Eneasroman‹ allerdings darum, Hermann aus dieser Brüdergruppe als entscheidende Person für die Fertigstellung des Veldekeschen Textes hervorzuheben. Gerade im Hinblick auf die Kinderlosigkeit seines Bruders Ludwig eine deutliche Markierung eines potentiellen Anspruchs innerhalb der Brüderkonstellation. Vgl. auch PETERS, Dynastengeschichte [Anm. 46], S. 24. Auch wenn eine ideologische Programmatik oder eine Funktion des ›Eneasromans‹ für die ludowingische Fürstenfamilie nicht unmittelbar ersichtlich ist, gibt es doch – selbstverständlich sehr allgemeine – strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Legitimationsproblematik und der Herrschaftssicherung des Eneas in Latium und der Ludowinger in Thüringen, die als Einwanderer aus Franken in den 60er Jahren des 11. Jahrhunderts ein Geschlecht der Nachfahren von Emporkömmlingen bilden, die ihre Herrschaft im fremden Gebiet durch eine geschickte Heirats- und Erwerbspolitik konsolidierten und erweiterten.

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schergeneration an die welthistorische Bedeutsamkeit des Aeneadengeschlechtes an. Für eine solche sowohl kulturelle als auch politische Deutung der in allen vier Brüdern präsenten ludowingischen Dynastie ist dann möglicherweise auch nicht entscheidend, ob der Bücherdiebstahl ein geschichtliches Faktum ist. Wichtiger scheint seine narrative Funktionalisierbarkeit.

Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1) – ein Skandalon? Zur Provokationskraft der volkssprachigen Stimme im Kontext europäischer Liebesdiskurse von Annette Gerok-Reiter

»Wenn die Sperlinge auf dem Dach […] je auf den Einfall kommen sollten zu schreiben, oder einen Almanach fr Liebe und Freundschaft herauszugeben: so lßt sich zehn gegen eins wetten, er wrde ungefhr eben so beschaffen seyn. Welch eine Armuth von Ideen […]. Ein Garten, ein Baum, eine Hecke, ein Wald, und ein Liebchen; ganz Recht! das sind ungefhr die Gegenstnde alle, die in dem Kopfe eines Sperlinges Platz haben!« – Dieses vernichtende Urteil soll Friedrich Schiller anlässlich der ›neuen Ausgabe der Minnelieder von Tieck‹ ausgesprochen haben.1 Vermutlich hätte Schiller sein Urteil über die mittelalterliche Minnelyrik durch die folgenden Zeilen bestätigt gesehen, wären sie ihm bekannt gewesen: Dû bist mîn, ich bin dîn. des solt dû gewis sîn. dû bist beslozzen in mînem herzen, verlorn ist das sluzzelîn: dû muost ouch immêr darinne sîn.2 1

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Unter der Überschrift: »Schillers Urtheil über Tiecks Minnelieder« berichtet JOHANN DANIEL FALK, der Herausgeber der Zeitschrift ›Elysium und Tartarus. Zeitung für Poesie, Kunst und neuere Zeitgeschichte‹ in der Ausgabe Nr. 1 (1. Januar 1806), S. 3, von Schillers Äußerung. Es handelt sich somit nicht um ein direktes Zitat. Die Fortsetzung der angeführten Äußerung lautet: »Und die Blumen, die duften, und die Frchte die reifen, und ein Zweig, worauf ein Vogel im Sonnenschein sitzt und singt, und der Frhling der kommt, und der Winter, der geht, und nichts, was dableibt – als die Langeweile.« Text nach: Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN und MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON KRAUS, bearbeitet von HUGO MOSER, HELMUT TERVOOREN, Bd. I: Texte, 37., revidierte Auflage, mit 1 Faksimile, Stuttgart 1982, S. 21. Entdeckt hatte die Zeilen wohl BERNHARD JOSEPH DOCEN, der zwischen 1804 und 1828 an der Münchener Hofbibliothek, wo die Tegernseer Handschrift (clm 19411) aufbewahrt wurde, tätig war. Publiziert wurden sie als Sechszeiler erstmals durch GEORG FRIEDRICH BENECKE und KARL LACHMANN in ihrer ›Iwein‹-Edition von 1827, hier als Kommentar zu den Versen 5545f. Bekannt wurden die Zeilen jedoch vor allem durch LACHMANNs Entscheidung, sie an den Anfang der Erstauflage von ›Des Minnesangs Frühling‹ (1857 postum veröffentlicht durch MORIZ HAUPT) zu stellen. Vgl. LOTHAR VOETZ, Überliefe-

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Ein Ich und ein Du in Relation, das Du eingeschlossen im Herzen, ein verlorenes Schlüsselchen: Ein umfangreiches »Inventarium«3 weist der Text in der Tat nicht auf. Doch ebendies hat der Beliebtheit der Zeilen offenbar keinen Abbruch getan; ja, kaum ein anderer mittelhochdeutscher Text dürfte eine ebensolche Popularität erlangt haben wie MF 3,1. Die Popularität der Zeilen gründet dabei in zweierlei. Zum einen gehören sie zu der ältesten Liebesdichtung in deutscher Sprache, die uns überliefert ist: Sie finden sich innerhalb eines lateinischen Freundschafts- bzw. Liebesbriefwechsels von drei Briefen – wohl zwischen einer Nonne und einem Magister – in einer ehemaligen Handschrift des Tegernseer Klosters, der auf etwa 1180 datiert wird.4 Die Signatur des Superlativs – eine der ›ältesten‹ Überlieferungen von Liebesdichtung in deutscher Sprache – trägt sicherlich zum besonderen Bekanntheitsgrad und Reiz der Zeilen bei. FRIEDRICH OHLY hat sie als »Juwel« der Überlieferung bezeichnet.5 Noch immer enthält fast jede Anthologie deutschsprachiger Lyrik, sofern sie eine historische Perspektive impliziert, dieses Zeugnis ältester Liebesdichtung,6 oftmals in eröffnender Position.7 Doch die Zeilen faszinieren offenbar nicht nur aufgrund ihres Alters, sondern durchaus auch durch sich selbst und hier nun – gegen Schiller – gerade aufgrund ihrer einfachen Aussage, die uns heute auf den ersten Blick unmittelbar anzusprechen scheint, können wir sie doch of-

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rungsformen mittelhochdeutscher Lyrik, in: Codex Manesse. Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 4. September 1988 Universitätsbibliothek Heidelberg, hrsg. von ELMAR MITTLER, WILFRIED WERNER, Heidelberg 1988, S. 224–274, hier S. 239. FALK [Anm. 1], S. 3. Entstanden ist die Handschrift zwischen 1160 und 1186. Zur genauen Datierung der Handschrift, die während der Amtszeit des Abtes Rupert (1155–1186) realisiert wurde, sowie des Briefwechsels vgl. die detaillierten Untersuchungen bei HELMUT PLECHL, Die Tegernseer Handschrift Clm 19411. Beschreibung und Inhalt, Deutsches Archiv 18 (1962), S. 418–501, hier insbes. S. 441–458. Eine schwarz-weiß-Abbildung des Blattes 114v der Tegernseer Handschrift, das auch die deutschen Verse enthält, findet sich in: Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN und MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON KRAUS, bearb. von HUGO MOSER, HELMUT TERVOOREN, Bd. II: Editionsprinzipien, Melodien, Handschriften, Erläuterungen, 36., neugestaltete und erweiterte Auflage, mit 4 Notenbeispielen und 28 Faksimiles, Stuttgart 1977, S. 169. Einen farbigen Abdruck von Bl. 114v in sehr guter Qualität enthält: MITTLER, WERNER [Anm. 2], S. 548. Grundlegende Hinweise zu den Tegernseer Liebesbriefen: FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Tegernseer Liebesbriefe, in: 2VL, Bd. 9 (1995), Sp. 671–673, sowie VOETZ [Anm. 2], S. 238f. Die umfassendste Darstellung bietet: Dû bist mîn. ih bin dîn. Die lateinischen Liebes- (und Freundschafts-) Briefe des clm 19411. Abbildungen, Text und Übersetzung, hrsg. von JÜRGEN KÜHNEL (Litterae 52), Göppingen 1977 (hier auch Abb. der Liebesbriefe S. 44–47). FRIEDRICH OHLY, Du bist mein, ich bin dein – du in mir, ich in dir – ich du, du ich, in: Kritische Bewahrung. Beiträge zur deutschen Philologie. Festschrift für Werner Schröder zum 60. Geburtstag, hrsg. von ERNST-JOACHIM SCHMIDT, Berlin 1974, S. 371–415, hier S. 371. Vgl. etwa: Deutsche Gedichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Auswahl für Schulen, hrsg. von ELISABETH K. PAEFGEN, PETER GEIST, Berlin 202010. Siehe: Die schönsten Liebesgedichte. Ausgewählt von SIGRID DAMM, Frankfurt am Main/Leipzig 1996.

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fenbar problemlos von der Perspektive einer Liebeskultur aus lesen, wie sie uns seit Sattelzeit und Romantik vertraut ist. Dieser Gedanke wirft jedoch sofort die Frage auf: Dürfen wir ein Textstück vom Ende des 12. Jahrhunderts als faszinierend ›einfach‹ und ›eingängig‹ klassifizieren, weil wir Kategorien, die uns seit dem Ende des 18. Jahrhunderts geläufig sind, in diesem wiederzuerkennen meinen? Oder – umgekehrt – mit Schiller: Dürfen wir ein Textstück vom Ende des 12. Jahrhunderts als z u ›einfach‹ klassifizieren, weil Kategorien, die zum Anspruch poetologischer Reflexion des 18. Jahrhunderts gehören, nicht greifen? Und damit gerät man bereits in jene wissenschaftliche Auseinandersetzung hinein, die zu klären hatte und hat, wo die Projektionen eines unreflektierten Wahrnehmens und Verstehens kultureller (Dis-)Kontinuitäten anfangen und wo sie aufhören müssen, eine Klärung, die insbesondere die früheste deutschsprachige Minnelyrik – mit ihren hartnäckigen Deutungsmustern des Einfachen, Unmittelbaren, Innigen, Naiven oder Einfältigen – immer und immer wieder nötig zu haben scheint. Dabei wurden gerade die Zeilen MF 3,1 reichlich bearbeitet, ja die Forschung hat intensiv über sie gestritten. Die bisher dominanten Deutungsoptionen erscheinen denn auch auffallend kontrastiv: Die ältere Forschung hat die Zeilen primär als authentischinnige Minneaussage in lyrischer Form gehandelt und mit dem Nimbus des ›deutschesten aller deutschen Gedichte‹ versehen. Wenn die Zeilen zum Standardbestand deutschsprachiger Liebeslyrik-Anthologien gehören, so ist dies wohl auch als Fortwirkung jenes Nimbus zu sehen. Die neuere Forschung versteht die Zeilen dagegen als lediglich stilistische Fingerübung im Rahmen lateinisch-klerikaler und d.h. europäischer Briefkultur und siedelt sie damit in einem gleichsam konträren Kategorienfeld an: Ihre Authentizität spielt hier keine Rolle, ihre Verfasstheit in deutscher Sprache allenfalls eine sekundäre. In dieser Lesart können die Zeilen zum Schulbuchbeispiel für die Einübung in die Alterität mittelalterlichen Minneausdrucks werden, wie JOHANNES JANOTA vorgeschlagen hat.8 Die Unterschiedlichkeit der Deutungsoptionen überrascht dabei nur auf den ersten Blick. Sie lässt sich letztlich wissenschaftsgeschichtlich erklären, was in einem ersten Schritt erfolgen soll. Entscheidend ist jedoch, dass die bisherigen Deutungsoptionen das eigentlich Irritierende, ja Befremdliche dieser Zeilen in ihrem Kontext nicht ausreichend fokussiert haben und damit die kulturelle Dynamik und Provokationskraft der Zeilen nicht als ihr eigentliches Signum in den Blick rücken konnten. Zu welcher Irritation, ja zu welcher erbitterten Kritik diese so einfach und liebenswürdig erscheinenden Zeilen im Kontext des Briefwechsels geführt haben, ist somit in einem zweiten Schritt zu konturieren. Ein dritter Schritt soll schließlich erhellen, inwiefern der irritierende Gehalt der Zeilen daraus resultiert, dass sie an einer im 12. Jahrhundert hochsensiblen 8

JOHANNES JANOTA, Du bist min, ich bin din. Überlegungen zur Fachdidaktik aus dem Blickwinkel der Fachwissenschaft, in: Literatur und Medien in Wissenschaft und Unterricht. Festschrift für Albrecht Weber zum 65. Geburtstag, hrsg. von WALTER SEIFERT (Literatur und Leben NF 31), Köln/Wien 1987, S. 11–17.

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Schnittstelle zwischen deutscher Sprache und europäischem Kontext situiert sind. Das Provokationspotential, das einem deutschsprachig formulierten Kulturanspruch innerhalb des europäischen Kulturtransfers im 12. Jahrhundert zukommen kann, lässt sich von hier aus – so die These – paradigmatisch zeigen: Kontinuität und Diskontinuität greifen dabei ineinander. Wenn zunächst die wichtigsten Deutungsoptionen vorgestellt werden, so um sie von ihren jeweils offenen Stellen aus weiterzudenken. Es dürfte dabei der ›Indikatorposition‹ der Zeilen MF 3,1 im Selbstverständnis der germanistischen Mediävistik entsprechen, dass ihre Forschungsgeschichte sich als knapper Abriss der mediävistischen Methodengeschichte, bezogen zumindest auf drei ihrer entscheidenden Etappen, lesen lässt.

›Deutsche Innigkeit‹, ›authentisches Werk‹ oder ›europäische Artifizialität‹? Erster Ansatz: Für die Perspektivierung der frühesten Germanistik kann die Position GUSTAV FREYTAGs als repräsentativ gelten. Er führt den Briefwechsel mitsamt den Zeilen in seinen 1866 erschienenen ›Bilder[n] aus der deutschen Vergangenheit‹ als einen der »charakteristische[n] Belege« für die »innigen Beziehungen zwischen Mann und Weib« im 12. Jahrhundert an.9 ›Innig‹ – dies ist der ausschlaggebende Begriff. Er gehört zu jenen – im LUHMANNschen Sinn – »Leitdifferenzen«10 des Einfachen versus des Komplexen, des Unmittelbaren versus des Vermittelten, des Naiv-Lieblichen versus des Artifiziellen, die sich als konnotatives Ensemble einer emphatisch aufgeladenen Ursprungssemantik erweisen und deren Geschichte bis zum Beginn der Rezeption des Minnesangs an der Wende zum 19. Jahrhundert zurückreicht, d.h. bis zu den Anfängen der Germanistik als Wissenschaft. So waren es bekanntlich die Romantiker und ihre Nachfolger, die mit euphorischem Nachdruck der ›altdeutschen‹ Literatur insgesamt, insbesondere aber dem Minnesang als ›Wiege der Poesie‹ die Rolle eines ursprünglichen – und das hieß: kindlich-gefühlszentrierten, unverstellt-eigenen – deutschen Identifikationsmusters zuwiesen. Bei der Erneuerung der eigenen Zeit mit dem Ziel der nationalen Einigung erschien eben dieses Identifikationsmuster des Ursprünglichen – neben der Rückbesinnung auf das Heroische – als Initialimpuls unerlässlich.11 9

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GUSTAV FREYTAG, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1: Aus dem Mittelalter, Gütersloh 1866. Unv. Nachdruck Leipzig 321911, S. 527, Übersetzung des Briefwechsels S. 528–534. Vgl. NIKLAS LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1093), Frankfurt am Main 1989, S. 225f., 236f. passim. Vgl. GERARD KOZIELEK, Einleitung, in: Mittelalterrezeption. Texte zur Aufnahme altdeutscher Literatur in der Romantik, hrsg., eingeleitet und mit einer weiterführenden Bibliographie versehen von DEMS., Tübingen 1977, S. 1–43. Die funktionale Ausrichtung dieses Ursprungsszenariums

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Das grundlegende Beispiel für diese Rezeptionsperspektive ist LUDWIG TIECKs »epochemachend[e]«12 Ausgabe der ›Minnelieder aus dem Schwbischen Zeitalter‹ von 1803. So ist die Semantik der Einleitung darauf abgestellt, ebendiese Ursprungskonnotationen des Kindlich-Unmittelbaren und Einfältigen aufzurufen: Die Dichtkunst [...] sezte in schöner Unschuld den Glauben an das voraus, was sie besingen wollte, daher ihre ungesuchte, einfältige Sprache in dieser Zeit, dieses reizende Tändeln, diese ewige Lust am Frühling, seinen Blumen und seinem Glanz [...]. Kein Gedanke, kein Ausdruck ist gesucht, jedes Wort steht nur um sein selbst willen da, aus eigener Lust, und die höchste Künstlichkeit und Zier zeigt sich am liebsten als Unbefangenheit oder kindlicher Scherz mit den Tönen und Reimen.13

Zwar hatte TIECK den provenzalischen Einfluss auf die altdeutsche Minnelyrik bereits früh erkannt,14 doch eben dieser Einfluss sollte offenbar nicht als sich fortsetzender Anspruch einer hochartifiziellen Dichtkunst verstanden werden. Vielmehr ging es TIECK,

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wird daran ersichtlich, dass sich das primäre Interesse an der mittelalterlichen Literatur nicht auf die weit früheren althochdeutschen Textzeugnisse fokussierte, die mit ihrer klerikalen Trägerschaft und ihrer Orientierung am lateinisch-theologischen Schrifttum der Forderung nach dem ›Eigenen‹, ›Unverstellten‹ und ›Volksnahen‹ kaum hätten nachkommen können, sondern primär auf mittelhochdeutsche Textzeugen, insbesondere das Nibelungenlied und den Minnesang. Bot das Nibelungenlied Anknüpfungspunkte an die germanische Völkerwanderung und damit an die eigene geschichtliche Vergangenheit unter der Leitidee des heroischen ›Heldenmutes‹, so war das, was man mit dem Minnesang verband, überformt von den freischwebenden Konnotationen des ›Biedersinns‹ und des ›Lieblichen‹. Vgl. etwa den Brief AUGUST WILHELM SCHLEGELs an FOUQUÉ vom 12. März 1806, in: AUGUST WILHELM VON SCHLEGEL’s sämmtliche Werke, hrsg. von EDUARD BÖCKING, Bd. 8, Leipzig 1846, S. 142–153, hier S. 145: »Unsere Zeit krankt [...] an Schlaffheit, Unbestimmtheit, Gleichgültigkeit, Zerstücklung des Lebens in kleinliche Zerstreuungen und an Unfähigkeit zu großen Bedürfnissen, an einem allgemeinen mit-dem-Strom-Schwimmen«; eben deshalb habe sich das Interesse auf jene »Epochen der deutschen Geschichte« zu richten, »wo gleiche Gefahren uns drohten, und durch Biedersinn und Heldenmuth überwunden wurden«. Stellte etwa AUGUST WILHELM SCHLEGEL, Aus einer noch ungedruckten historischen Untersuchung über das Lied der Nibelungen, in: Deutsches Museum I, 1812, hrsg. von FRIEDRICH SCHLEGEL, S. 9–36, hier S. 24, den französisch beeinflussten Dichtungen an den Höfen, »wo das Erb-Uebel der Deutschen, die Vorliebe für das Ausländische, schon damals häufig seinen Sitz hatte«, die Volkspoesie entgegen, so führte dies nicht nur bei ARNIMs und BRENTANOs ›Wunderhorn‹ zu einer ungebührlichen Ausweitung des Volksliedbegriffs, sondern auch bei JOSEPH GÖRRES, der in der Einleitung zu seiner Sammlung ›Altteutscher Volks- und Meisterlieder‹ konstatierte, dass »vielleicht ein Drittheil« der Lieder der Manessischen Liedersammlung »volksmäßig in Teutschland gewesen« seien und in einem Exkurs über die provenzalische Dichtung den Nachweis für die Eigenständigkeit der deutschen Minnelyrik zu erbringen suchte (JOSEPH GÖRRES, Einleitung, in: Altteutsche Volks- und Meisterlieder aus den Handschriften der Heidelberger Bibliothek, hrsg. von DEMS., Frankfurt am Main 1817, S. I–LXIV, Zitat: S. XXI; Exkurs zur provenzalischen Dichtung: S. XLI–LXII, hier insbes. S. XLV, L–LII). KOZIELEK [Anm. 11], S. 13. LUDWIG TIECK, Vorrede, in: Minnelieder aus dem Schwbischen Zeitalter, neu bearbeitet und hrsg. von LUDEWIG TIECK, Berlin 1803. Unv. Nachdruck Hildesheim 1966, S. I–XXX, hier S. XI. TIECK [Anm. 13], etwa S. IV und passim.

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wie VOLKER MERTENS hervorgehoben hat,15 darum, dass »alle Werke der verschiedensten Künstler [...] als Theile Einer Poesie, Einer Kunst« anzusehen seien,16 wobei TIECK diese Einheit weniger in synchronen Relationen zur französischen Trobadorlyrik, denn in der historischen Verbindung von alter und gegenwärtiger Poesie in Bezug auf die eigene Kultur sehen wollte: Die alte, mittelalterliche, und die neue, romantische Dichtung seien »Geschwister«.17 Es geht somit um die natürlich-verwandtschaftliche Liaison beider Kulturen, wie bereits das Eingangsemblem der ›Minnelieder‹, für das Philipp Otto Runge einen Kupferstich zweier sich umarmender Kinder in einem Rosenkranz entworfen hatte, programmatisch zeigt.18 Zu Recht hebt MERTENS hervor: »Die Verbindung von Poesie und Blumen, die in den Liedern immer wieder vorkommt und die Tieck und mit ihm Runge [...] aufgreifen, ist Symbol der Naturhaftigkeit der Dichtung als ›Muttersprache des menschlichen Geschlechts‹, wie Herder das beispielhaft formuliert hat.«19 Eben deshalb heißt es von der deutschen Lieddichtung in wiederholter Zurückweisung des artifiziellen Anspruchs: [...] und so viel Kunst und strenge Schule auch so manche Gedichte dieser Zeit verrathen, so möchte man doch diese Poesie nicht Kunst nennen; sie ist gelernt, aber nicht um gelehrt zu erscheinen, die Meisterschaft verbirgt sich in der Unschuld und Liebe, der Poet ist unbesorgt um das Interesse, daher bleibt er in aller Künstlichkeit so einfältig und naiv [...].20

Im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte konnte jedoch der immense Einfluss der europäischen Tradition, insbesondere der französischen Trobadorlyrik auf die deutschsprachige Lyrik kaum in dieser Weise relativiert bleiben. Vielmehr begründete man durch den französischen Einfluss sehr bald diejenige Phase des deutschsprachigen Minnesangs, in der sich das Konzept der Hohen Minne für alle weiteren Phasen folgen-

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VOLKER MERTENS, Minnesangs zweiter Frühling. Von Bodmer zu Tieck, in: wort unde wîse, singen unde sagen. Festschrift für ULRICH MÜLLER zum 65. Geburtstag, hrsg. von INGRID BENNEWITZ (GAG 741), Göppingen 2007, S. 159–180, hier S. 165–168. TIECK [Anm. 13], S. II: »Denn es giebt doch nur Eine Poesie, die in sich selbst von den frühesten Zeiten bis in die fernste Zukunft [...] nur ein unzertrennliches Ganze [sic!] ausmacht.« MERTENS [Anm. 15], S. 166. Zu den Kupferstichen und ihrer Interpretation siehe ebd. S. 166–168. Ebd. S. 167. Dennoch prononciert MERTENS, dass es TIECK nicht um eine historisch indifferente Angleichung des Sprachmaterials gegangen sei, vielmehr habe er in Hinblick auf die primär zu wahrende »sprachklangliche Dimension« (S. 167) der Lieder durchaus auch »Archaismen« (S. 162) in der Semantik stehen gelassen, insgesamt nur »behutsam modernisiert« (S. 167), also »Fremdheit [...] durch die weitgehende Wortbewahrung« in Kauf genommen (S. 165). Die Übertragung wie die »Bilder zeigen, daß die jeweilige Dichtung in ihrer Eigenart ernst genommen wird, keine Inklusion der mittelalterlichen Poesie in die gegenwärtigen Kunsterzeugnisse erstrebt werden soll, wie es die Adaptionen des 18. Jahrhunderts von Bodmer bis Gleim unternommen hatten« (S. 167). Man wird hier graduell abzuwägen haben. Vgl. dazu auch die Diskussion bei GISELA BRINKER-GABLER, Poetisch-wissenschaftliche Mittelalter-Rezeption. Ludwig Tiecks Erneuerung altdeutscher Literatur (GAG 309), Göppingen 1980, insbes. S. 125–143. TIECK [Anm. 13], S. XIX.

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reich etablierte, und deklarierte diese als ›zweite‹ Phase.21 Mit der Phasenunterteilung ließ sich jedoch zugleich auch ein Residuum für die alten Ursprungskonnotationen und ihre Wertungen gewinnen: Eingegrenzt auf den Ursprung des Ursprungs, eingegrenzt auf den frühesten Minnesang, der nun als erste Phase gelten konnte, blieb es noch lange Zeit beim Status quo der Einschätzung in den Literaturgeschichten. So äußert SCHERER 1883 zur »Frühzeit des aufblühenden nationalen Minnesanges«, dessen Zeugnisse gingen »mit schlichtem Worte noch heut unmittelbar ans Herz, ohne daß es einer künstlichen Vermittelung bedürfte, ohne daß wir uns in die conventionellen Formen des ritterlichen Verkehres hinein zu denken brauchten«.22 In Bezug auf die »Frühstufe« des Minnesangs, explizit den Kürenberger, formuliert EHRISMANN 1935: »Diese Liedchen, hervorgegangen aus der frühhöfischen Kultur und der noch nicht von der romanischen Mode beherrschten Kunst, stehen vereinzelt gegenüber dem ganzen sonstigen Minnesang«.23 Noch 1976, in der zehnten Auflage der Literaturgeschichte von DE BOOR, heißt es: Das frühe Minnelied repräsentiere »weder die entleiblichte Minne des hohen Minnesangs noch die unbekümmerte Erotik der lateinischen Vagantenlyrik«. Es sei »ein Ding für sich [...]. Wir haben es nicht nötig, nach fremden Wurzeln zu fragen [...].«24 Zweiter Ansatz: So sehr der Dank von mediävistischer Seite aus den Gründungsvätern der Germanistik gelten muss, so sehr war es die Aufgabe der nachfolgenden Forschung, gegen die Ursprungskonnotationen des Einfach-Innig-Naiven als oft uneingestandenen Bodensatz der Interpretation – insbesondere des frühesten Minnesangs – vorzugehen. Stattdessen wurde in Anknüpfung an die hermeneutische Tradition nach SCHLEIERMACHER nun einerseits die akribisch-philologische Textarbeit, andererseits ein autorzentrierter Werkbegriff favorisiert. Mit Blick auf beide Aspekte konnte bei dem kleinen Textstück in erfrischender Weise zunächst all das zutage treten, was nicht klar war. Anschließend an den umfassenden Fragenkatalog, den OHLY aufstellte,25 rückten nun vor allem Erklärungsversuche zur Form, zur Herkunft sowie zur Authentizität des Textstücks in den Vordergrund: Handelt es sich überhaupt um Lyrik oder ha21

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Kanonisch geworden als Grundlagenwissen: GÜNTHER SCHWEIKLE, Minnesang (Sammlung Metzler 244), Stuttgart/Weimar 21995, S. 84–87, jedoch mit kritischem Vermerk gegen eine klar abzugrenzende »zeitlich lineare Abfolge« (S. 81). WILHELM SCHERER, Geschichte der Deutschen Litteratur, Berlin 1883, S. 203. GUSTAV EHRISMANN, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Zweiter Teil: Die mittelhochdeutsche Literatur. Blütezeit. Zweite Hälfte, München 1935. Unv. Nachdruck München 1959, S. 220. HELMUT DE BOOR, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170–1250 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), München 1953, bearbeitet von URSULA HENNIG, München 101979, S. 225; Ziel des Abschnitts zum »Frühe[n] Donauländische[n] Minnesang« (S. 224–227) ist es nachzuweisen, »daß es also eine Liebeslyrik in deutscher Sprache gegeben hat, ehe die provenzalische Mode sie überflutete« (S. 227). In diese Tradition reihen sich denn auch das Urteil sowie die Formulierung von THEODOR FRINGS, Namenlose Lieder, PBB 88 (Halle 1967), S. 307–328, nahtlos ein, »die innig schlichte deutsche Strophe« MF 3,1 beweise ihre Qualität gerade in der Opposition »zum lateinischen Prunk« des Briefes (S. 310). OHLY [Anm. 5], S. 371f.

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ben wir es mit Reimprosa zu tun?26 Geht der Text auf eine volkstümliche Formel bzw. das Zitat eines Volksliedes zurück27 oder rekurriert er auf die geistliche Tradition, kunstvoll umgesetzt in einem neuen Kontext?28 Liegt eine authentische Liebesaussage oder ein fingierter Entwurf vor? Aufgrund der starken Reimimpulse und der Möglichkeit einer überzeugenden Metrisierung setzte sich – wenngleich noch immer nicht unumstritten29 – die Versvariante durch, in der Regel als vierhebige Einzelstrophe, so bereits bei ANDREAS HEUSLER und noch bei HORST BRUNNER,30 mit dreihebigen Mittelzeilen und/oder mit metrischer Schlussunterstreichung etwa bei CARL VON KRAUS oder INGRID KASTEN.31 Geht man von einem sechszeiligen Lied aus, so würde der Endsilbenreim mit ähnlichem Konsonantenanlaut beslozzen / herzen in Vers drei und vier eingeschlossen durch zwei gleiche 26 27

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Zur Diskussion: KÜHNEL [Anm. 4], S. 28f. Prononciert etwa bei GÜNTHER SCHWEIKLE, Die mittelhochdeutsche Minnelyrik, Bd. 1: Die frühe Minnelyrik. Texte und Übertragungen, Einführung und Kommentar, Darmstadt 1977, S. 60: Er wertet die Zeilen als »vollständiges Beispiel volkstümlicher Liebeslyrik«. Entsprechend SCHWEIKLE [Anm. 21], S. 83. Zur älteren Diskussion der dîn-mîn-Formel siehe: Des Minnesangs Frühling. Kommentare, Bd. III/1: Untersuchungen von CARL VON KRAUS, Leipzig 1939. Durch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt, hrsg. von HUGO MOSER, HELMUT TERVOOREN, Stuttgart 1981, S. 1. Vgl. auch KÜHNEL [Anm. 4], S. 29f. Vgl. KÜHNEL [Anm. 4], S. 30. Differenzierte und kulturell weitgestreute Verweise auf die geistliche, insbes. auch mystische Tradition vor allem bei OHLY [Anm. 5], insbes. S. 375–378, 383–390, 401–415, wobei er das Wechselspiel von weltlicher Liebessprache und religiöser Sprache betont, ohne dass dezidiert eine jeweilige Vorrangstellung geklärt werden könne (S. 415). In jüngerer Zeit vgl. PETER CZERWINSKI, Womit befaßt sich die (germanistische) Mediävistik?, in: Stuttgart. Fakultät Philosophie, hrsg. vom Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Universität Stuttgart, Stuttgart 2001, S. 71–74, hier S. 73. Zur Verwendung der »Formel vom ›einigen Einen‹« in der Mystik siehe BURKHARD HASEBRINK, ein einic ein, PBB 124 (2002), S. 442–465, hier S. 445–450, mit Bezug auf MF 3,1: S. 456f. Am entschiedensten: HENNIG BRINKMANN, Entstehungsgeschichte des Minnesangs (Sonderheft der DVjs 8 [1926]), Halle/Saale 1926, S. 99, sowie KÜHNEL [Anm. 4], S. 31. Man wird in dieser Frage kaum zu einer gesicherten Antwort kommen. Siehe ANDREAS HEUSLER, Deutsche Versgeschichte. Mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses dargestellt, Bd. 2 (Grundriß der Germanischen Philologie 8/2), Berlin 1927. Unv. Nachdruck Berlin 21956, S. 172, § 638f., S. 252, § 726, sowie: Früheste deutsche Lieddichtung. Mhd./nhd., hrsg., übersetzt und kommentiert von HORST BRUNNER, Stuttgart 2005, S. 10, Kommentar S. 191. Vgl. in der älteren Forschung etwa auch das Plädoyer für die Liedform bei INGEBORG IBSEN, Strophe und Lied im frühen Minnesang, PBB 57 (1933), S. 301–413, insbes. S. 307–310, sowie die emphatische Verteidigung und Begründung eines kunstvollen Liedaufbaus bei: HUGO STOPP, Du bist min. Zum sprachlichen Aufbau eines poetischen Textes, Sprachwissenschaft 6 (1981), S. 125–141. Vgl. MOSER, TERVOOREN [Anm. 4], S. 65: »die metrische Schlußunterstreichung (v. 6) spricht dafür, e i n e Str. anzusetzen«; vgl. auch: Frauenlieder des Mittelalters. Zweisprachig, übersetzt und hrsg. von INGRID KASTEN, Stuttgart 1990, S. 205. – Die ältere Forschung zur Frage des Strophenaufbaus (drei- oder einstrophig) resümiert bereits CARL VON KRAUS: MOSER, TERVOOREN [Anm. 27], S. 2. Vgl. dazu auch KÜHNEL [Anm. 4], S. 31.

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Paarreime aa – aa, die durch Binnenreim in der ersten und identischen Reim in der zweiten und sechsten Zeile prononciert werden. Zugleich wären die Mittelzeilen durch die zweisilbige, möglicherweise klingende Kadenz rhythmisch vom Rest abgehoben: Die Rahmung der Mittelzeilen würde damit das Bild des Eingeschlossenseins im Herzen formal aufgreifen und könnte so in nachdrücklicher Weise die zentrale Aussage unterstreichen.32 Nach BRINKMANN und OHLY habe die Briefschreiberin zudem das Motiv des wechselseitigen Besitzes sowie des Eingeschlossenseins im Herzen im Brief subtil vorbereitet, was die Schreiberin als Autorin des Liedes wahrscheinlich mache: »Die deutsche Strophe ist keineswegs naiv, nicht volkstümlich. [...] Sie ist der mit Kunst gesetzte Schlußstein, der die Gedankenbögen des Liebesbriefs zusammenführt. Sie ist die Frucht des Briefs, nicht seine Wurzel.«33 Diesem Ansatz zufolge hätten wir somit nicht den »innigen« Gefühlsausdruck eines »Weib[es]« vor uns,34 sondern das ästhetische Produkt einer belesenen, kenntnisreichen Autorin, ein ›Werk‹ en miniature. Die Kritik an diesem Ansatz geht in zweierlei Richtungen. Zum einen scheint der philologische Ansatz selbst nicht ausgeschöpft. So ist hervorzuheben, dass der Eindruck einer idealen Ausgewogenheit zwischen den Liebenden im Grunde nur auf dem ersten suggestiven Vers beruht, auf dessen Parallelismus in der Syntax sowie dessen Chiasmus in der Pronominalstruktur.35 Im Folgenden kippt diese ideale Balance jedoch durch die hartnäckige, dreifache Wiederholung des dû in eine eher asymmetrische Relation. Die insistierenden Modalverben solt und muost und die emphatische Semantik des 32

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BRUNNER [Anm. 30], S. 10, geht von einer fünfzeiligen Form aus: Vers drei und vier (nach MF 3,1) werden als eine Lang- und Waisenzeile gefasst, was das zentrale ›Eingeschlossensein‹ noch unterstreicht. OHLY [Anm. 5], S. 373f., Zitat S. 374. siehe auch: BRINKMANN [Anm. 29], S. 98f. Zur Motivik vgl. darüber hinaus: FRIEDRICH OHLY, Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen, in: DERS., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128–155; XENIA VON ERTZDORFF, Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ›Herz‹ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts, ZfdPh 84 (1965), S. 6–46. Eine modernere Formulierung dieses Ansatzes bildet der immer wieder auftauchende, mit Diminutivformen arbeitende Hinweis, es handle sich bei den Zeilen um das ›Liedchen‹ eines ›Mädchens‹. Vgl. etwa SCHWEIKLE [Anm. 21], S. 83. Über das genaue Alter der Briefschreiberin kann keine stichhaltige Aussage gemacht werden. Wenn sie sich in Brief IV.3 selbst zu den simplices puellulas zählt und die uiri uersuti als Gegenpol setzt (SE 12–14), so bedient sie sich offensichtlich eines Topos, von dem sie sich selbst umgehend versiert-wortreich zu distanzieren weiß. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, muss es sich um eine außerordentlich belesene, scharfsinnige und selbstbewusste Verfasserin (oder deren Fiktion) gehandelt haben, deren geistiger Horizont sich sicherlich nicht auf das Konnotationsfeld von ›Liedchen‹ reduzieren lässt. Nach HEINRICH LAUSBERG, Elemente der literarischen Rhetorik. Eine Einführung für Studierende der klassischen, romanischen, englischen und deutschen Philologie, München 71982, § 392 A I a, S. 129, handelt es sich um einen ›semantischen Chiasmus‹, insofern ein »Parallelismus der syntaktisch entsprechenden Funktionen« mit einer »Überkreuzstellung der semantischen entsprechenden Glieder« einhergeht, nach dem Beispiel: »ego tu sum, tu es ego«. Vgl. zu dieser Form auch: HASEBRINK [Anm. 28], S. 447f.

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immêr unterstreichen zudem einen beschwörend-persuasiven Gestus, der der anfänglichen Ausgewogenheit ihre Stabilität nimmt.36 Entscheidender ist jedoch der zweite Einwand, die Kritik an einem anachronistischen, sich dem Ende des 18. Jahrhunderts verdankenden Werk- bzw. Originalitätsbegriff, der den Kontext allenfalls im Sinn geistesgeschichtlicher Einflussforschung berücksichtigt. Dritter Ansatz: Dies führt zu einer weiteren Deutungsoption, die nunmehr den Überlieferungskontext – anknüpfend an die New Philology – und damit die materialen und medialen Bedingungen des Untersuchungsgegenstandes verstärkt in den Blick rückte. ›Zwischen Körper und Schrift‹ – so hat vor einiger Zeit CHRISTIAN KIENING den Daseinsmodus von ›Texte[n] vor dem Zeitalter der Literatur‹ zu charakterisieren versucht.37 Auszugehen ist unter dieser Perspektive von einem gleichsam körperhaften Aneinandergekoppeltsein von Text und Überlieferungskontext. Aus dieser performativen Verbindung lässt sich ein Text nicht schadlos herauslösen. Er verliert vielmehr, losgelöst von seinem Überlieferungskontext, eine wesentliche, ja vielleicht die entscheidende Sinnebene. Oder drastischer formuliert: Ein Text ohne Kontext gleicht nach diesem Verständnis nicht einem autonomen Werk, sondern (als zerstörte Performanz) einem amputierten Körperteil.38 Eine solche sinnwidrige Abtrennung ist – so meine ich – über Jahrzehnte mit diesem kleinen Textstück in Bezug auf seinen Inhalt unter Vorgabe eines anachronistischen Werk- bzw. Textbegriffs geschehen. Einen grundsätzlichen Wechsel in der Deutung hatte denn auch bereits, den materialen und medialen ›Deutungsturn‹ antizipierend, JÜRGEN KÜHNEL 1977 mit seinem Versuch unternommen, die Zeilen Dû bist mîn, ich bin dîn sowie ihren Briefkontext im Zusammenhang der gesamten Handschrift zu fokussieren. Da die Handschrift zu einem guten Teil aus Briefsammlungen und theoretischen Traktaten zur ars dictaminis – etwa dem ›Breviarium de dictamine‹ des Alberich von Montecassino oder der Briefmustersammlung ›Aurea Gemma‹ des Henricus Francigena – besteht, wollte KÜHNEL die Handschrift insgesamt als codex formularius im 36

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Damit ginge es gegen Ende der Zeilen allenfalls um eine Auflösung der Identitätskonstruktion von du und ich, sollte man RUDOLF SCHÜTZEICHEL, Du bist min. Genitiv und Possessiv, in: DERS., Textgebundenheit. Kleinere Schriften zur mittelalterlichen deutschen Literatur, Tübingen 1981, S. 131– 142, darin folgen, eine »Identität der Personen« für die erste Zeile anzusetzen aufgrund der Lesart von min als Genitiv des Personalpronomens, der »im Mittelhochdeutschen für den (heutigen) Nominativ stehen konnte« (S. 140). CHRISTIAN KIENING, Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt am Main 2003. Auf die materiale Zusammengehörigkeit von Brief und Zeilen hat in minutiöser Lesart überzeugend MIREILLE SCHNYDER, verlorn ist daz sluzzelin? Interpretation als Kultur, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49 (2002), Heft 2, S. 142–154, aufmerksam gemacht. Ihre Lektüre fokussiert die mediale Schnittstelle zwischen deutschen Zeilen und lateinischem Brief, die sie in Hinblick auf eine nicht als antagonistisch, sondern als »oszillierend[] und bewegt[]« zu denkende Relation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit prononciert (insbes. S. 147f.). Ihr Ansatz ist aufzugreifen und unter erweiterter Perspektive fortzusetzen.

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Sinn einer Briefstillehre verstehen.39 Von hier aus deutete KÜHNEL nun das kleine Textstück als lediglich stilistische Fingerübung im Kontext eines rhetorischen Musterbriefes, nicht also als authentische Liebesäußerung, nicht als Werk en miniature. Unter den Paradigmen der Medialität und Alterität wird diese Deutung den Zeilen sicherlich gerechter als die Deutungen zuvor. Dennoch ist einzuwenden, dass die Handschrift a u c h aus diversen historischen, religiösen und lyrischen Werken besteht.40 Das Interesse ist also breiter gestreut, als eine normative Briefschullehre dies nahelegen würde.41 Damit gewinnt dann doch eher DIETER SCHALLERs Ansatz an Wahrscheinlichkeit, den Briefwechsel im Kontext der erotisch-klerikalen lateinischen Briefkultur des Mittelalters, die zwischen authentischem Anspruch und sublimem artifiziellen Spiel changiert, zu orten.42 Ausschlaggebend ist jedoch ein anderer Kritikpunkt: Indem 39 40

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KÜHNEL [Anm. 4], S. 6–18, mit Resümee S. 11 und S. 17f. Vgl. DIETER SCHALLER, Zur Textkritik und Beurteilung der sogenannten Tegernseer Liebesbriefe, ZfdPh 101 (1982), S. 104–121, hier S. 111f. SCHALLER betont zudem, dass insbes. in den Briefen IV.1–3 nicht nur »Cicero, Vergil, Horaz, Ovid, Boethius, die Vulgata u.a.m. zitiert« würden, sondern auch der »Anfang einer der sogenannten ›Comedia Latinae‹ – jener teilweise dialogisierten erotischen Verserzählungen, die im frühen 12. Jh. zunächst in Frankreich aufkamen« (S. 109). Zu den Möglichkeiten eines Kulturtransfers gerade mit Frankreich siehe auch S. 116f. Das Fazit: »der französische Kultureinfluß bzw. das Vergnügen an modischer Literatur aus dem Westen muß als Hintergrund der Tegernseer Briefe mitgesehen werden« (S. 110f.). Zum Inhalt der gesamten Handschrift (mit Lage und Schreiberhänden) vgl. den genauen Überblick bei PLECHL [Anm. 4], Einlage zwischen S. 444 und 445. Dieses breite literarische Interesse kann durch den weiteren Kontext, etwa einen Blick auf die Bibliothekskataloge des Klosters oder die offene kulturelle Orientierung des Abtes Rupert, bestätigt werden. So verzeichnet die Bibliothek neben der religiösen Gebrauchsliteratur in besonderem Maß auch antike literarische Texte. Literarisches Interesse, auch im Sinn der Avantgarde, dürfte dem Kloster auch insofern zuzuschreiben sein, als man annimmt, dass aus seinen Mauern der erste überlieferte höfische Roman, der ›Ruodlieb‹, hervorgegangen sein soll. Vgl. dazu LOTTE TABOR, Die Kultur des Klosters Tegernsee im frühen Mittelalter, Diss. Göttingen, Bottrop 1935, hier insbes. S. 25f. und S. 78–99. Zur Persönlichkeit des Abtes Rupert vgl. HELMUT PLECHL, Studien zur Tegernseer Briefsammlung des 12. Jahrhunderts IV,1. Tegernsee unter den Äbten Konrad I. und Rupert (1126–1186), Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 13 (1957), S. 35–114, 394–481. SCHALLER [Anm. 40]: Die Briefe seien einzuschätzen »als kostbare Relikte eines spielerisch-erotischen Briefverkehrs in einer ›geschlossenen Gesellschaft‹ von Lehrern und Schülerinnen eines geistlichen Bildungszentrums« (S. 104). In diesem geschlossenen Umfeld habe sich eine »Sondersprache« ausgebildet, »in der sich seelische Empfindungen nach Spielregeln manifestieren, die von einem gemeinsamen Bildungsbegriff her bestimmt werden« (S. 115). Zur Tradition des lateinischen Liebesbriefes, als dessen Untergattung sich in versiert-literarischem Umfeld die ebenso erotisch wie rhetorisch aufgeladene Liebesbriefkultur um 1100 entwickelte, siehe auch: DIETER SCHALLER, Probleme der Überlieferung und Verfasserschaft lateinischer Liebesbriefe des hohen Mittelalters, Mlat. Jb. 3 (1966), S. 25–36, insbes. S. 32. Grundlegend zudem: ERNSTPETER RUHE, De amasio ad amasiam. Zur Gattungsgeschichte des mittelalterlichen Liebesbriefes (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 10), München 1975, zu den Tegernseer Liebesbriefen: S. 87–90, 386–388.

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KÜHNEL den Kontext zwar einbezieht, ihm aber in Relation zu den Zeilen keine philologische Brennschärfe zukommen lässt, verfehlt er den eigentlich springenden Punkt der Briefaussage und damit auch der zentralen Zeilen. Was somit aussteht, ist eine Rekontextualisierung der Zeilen, die insbesondere den engeren Kontext des Liebesbriefwechsels zwischen Nonne und Magister als Text liest. Ebendies soll im Folgenden versucht und damit eine Frage gestellt werden, die bisher in der Forschung keine Frage war: Handelt es sich bei den deutschsprachigen Zeilen denn tatsächlich um eine uneingeschränkte Liebesversicherung – ob nun authentisch oder fingiert?

Perfekter Liebesdiskurs oder hässliche Chimäre? In ihrem Brief (IV.1)43 reagiert die Briefschreiberin offenbar auf den Vorwurf des Briefschreibers, sie halte ihm nicht die Treue. So versichert sie den Magister nach Anrede und captatio benevolentiae sofort ihrer unverbrüchlichen Freundschaft, die immer ›Anfang, Mitte und Ende ihres Gesprächs‹ gewesen sei (primus et medius et ultimus sermo noster de amicicia semper incessit [SE 19]). Darauf erläutert sie unter Berufung auf Cicero in einer ersten Explikation, was sie unter wahrer Freundschaft versteht (SE 20–34). Anschließend wiederholt sie in einem rhetorischen Crescendo ihr Bekenntnis, dass der Magister ihr ›wahres Sein‹ (SE 50–51) verbürge. In einer zweiten Explikation wendet sie sich in christlichem Konnotationsfeld der Wertschätzung der Treue zu, die sie als Kern der amicicia auffasst (SE 52–68). Sodann versichert sie erneut und dreifach-eindringlich, dass ›er allein‹ (tu solus – solus – solus [SE 69, 70, 71]) ihr etwas bedeute (SE 69–76), ›er allein‹ sei ihr ›aus Tausenden erwählt‹: Tu solus es ex milibus electus (SE 69). Schließlich geht sie in einer dritten Explikation (SE 77–85) auf die milites (SE 77) – die ›Ritter‹ – ein, vor denen der Magister sie gewarnt hatte, und umreißt ihre Einschätzung ihnen gegenüber. Zuletzt bestätigt sie noch einmal, dass der Magister in Gedanken bei ihr sei (SE 86), nur ›ihm allein‹ bewahre sie ›Beständigkeit des Sinnes und der Treue‹: Stabilimentum mentis et fidei tibi scilicet soli conseruo [...] (SE 88). Kurz darauf folgen die deutschen Verse. Der Brief zeigt somit einen klaren Aufbau: Drei Explikationen zur amicicia werden umrahmt von einer viermaligen Versicherung der Treue und Verbundenheit: 43

Die Zitate der Briefe, deren Zählung IV.1–3 sowie die Unterteilung in Satzeinheiten (SE) folgen der noch immer maßgeblichen Edition von KÜHNEL [Anm. 4], S. 68–93. Die Übersetzungen, bei denen KÜHNEL nach wie vor auf GUSTAV FREYTAG zurückgreift, wurden durch eigene ersetzt. Wertvolle Unterstützung bot dabei FRANZISKA KÜENZLEN, der ich sehr danke; ebenso danke ich NIKOLAUS HENKEL für seinen Rat im Detail. Eine Wiedergabe der lateinischen Liebesbriefe (nach der Edition von RYSZARD GANSZYNIEC von 1925) findet sich auch in: Des Minnesangs Frühling. Kommentare. Bd. III/2: Anmerkungen, nach KARL LACHMANN, MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT, neu bearbeitet von CARL VON KRAUS, Zürich 301950. Durch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt, hrsg. von HELMUT TERVOOREN, HUGO MOSER, Stuttgart 1981, S. 318–322.

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Treuezusicherung Explikation A: Definition der wahren Freundschaft (Cicero) Treuezusicherung Explikation B: Wertschätzung der Treue (I Cor 13,13) Treuezusicherung Explikation C: Einschätzung der Ritter (curialitas) Treuezusicherung

Dieses Lob der Treue und Freundschaft, das mit rhetorischem Kalkül und Emphase, mit klarer Argumentation und aufwendigem ornatus vorgetragen wird, nimmt der Magister (IV.2) zunächst mit Anerkennung und Freude entgegen, ja er versichert, dass er auf ein solches Lob nicht angemessen antworten könne, selbst wenn alle ›Glieder seines Körpers in Zungen verwandelt würden‹ (SE 3). Dann jedoch erfolgt ein überraschender Umschwung. Der Brief wäre ganz wunderbar: [...] si tamen secundum illud oratii humano capiti ceruicem equinam non adiunxisses. uel si mulier formosa superne in atrvm piscem non desiisset. (SE 5–6)

[...] wenn du nicht gemäß jenem [Bild] des Horaz an einen menschlichen Kopf einen Pferdehals gefügt hättest, oder wenn die oben so schöne Frau nicht in einen schwarzen Fisch unten ausliefe.

Was ist mit diesem rüden Vorwurf gemeint, bei dem Horaz Pate gestanden hat?44 Der Magister expliziert dies weiter unten in dreifacher Variation: ›Treue ohne Werke‹ sei ›tot‹, erst die ›Umsetzung in die Tat‹ sei ›vollendete Liebe‹ (enim fides sine operibus mortua est et plenitudo dilectionis exhibitio est operis [SE 16–17]). Schließlich fasst er pointiert zusammen, sie habe ›seinem Wollen ihr Nicht-Wollen entgegengestellt‹ (sed uelle meo nolle tuum [...] posuisti [SE 20]). Diese Kritik ihres Handelns wird durch eine Kritik auf Stilebene unterstützt. So bemängelt der Magister heftig, dass sie auf die vorausgegangenen süßen Lobreden keinen ›adäquaten Schluss‹ habe folgen lassen (non [...] congruum finem fecisti [SE 19]), dass sie die ›Zweige, hübsch geschmückt 44

Vgl. Horaz (Quintus Horatius Flaccus), Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lat./dt., übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. von ECKART SCHÄFER, Stuttgart 1980, vv. 1–9: Humano capiti cervicem pictor equinam / iungere si velit et varias inducere plumas / undique conlatis membris, ut turpiter atrum / desinat in piscem mulier formosa superne, / spectatum admissi risum teneatis, amici? / credite, Pisones, isti tabulae fore librum / persimilem, cuius, velut aegri somnia, vanae / fingentur species, ut nec pes nec caput uni / reddatur formae. ›Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören.‹

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mit den Blättern ihrer Worte‹ (SE 11), durch jenen ›herben Epilog‹ (asperum illum epilogum [SE 21]), der ›gegen das Gesetz der Freundschaft‹ sei (contra legem amicicie [SE 20, vgl. auch SE 21]), zunichte gemacht habe. Und er tadelt, all dies sei ›poetische Kunstfertigkeit ohne (rechte) Gepflegtheit‹ (poetica sollertia sine cultu [SE 14]). Die Forschung hat, so kontrovers sie sich auch sonst darstellt, bisher nichts Erstaunliches an diesen Vorwürfen gefunden, geht es ja offensichtlich um die berechtigte Enttäuschung eines Magisters, dessen Liebeswerbung zurückgewiesen wurde. Dennoch aber erstaunt dreierlei durchaus: Es erstaunt zum einen die Gewissheit des Magisters, zurückgewiesen worden zu sein, zum anderen die Schärfe seiner Kritik, zum Dritten die Rückbindung dieser Kritik an die stilistische Ebene. Zunächst ist festzuhalten: Eine Dame schreibt einen ausführlichen Liebesbrief mit dem insistierenden Grundtenor: tu solus – weit entfernt von einer expliziten Ablehnung, und sie schreibt dies mit allen Mitteln des genus sublime, greift kenntnisreich auf die lateinische und christlich-theologische Tradition der Liebes- und Freundschaftsdiskussion zurück, schreibt ausgesprochen lang, ja versifiziert ihre Rede noch, d.h. sie bietet in ihrem Brief von Anfang bis Ende ein durchdachtes, wohlstilisiertes Beispiel der ars dictaminis – und dann diese rüde Erwiderung. Was, so muss doch gefragt werden, veranlasst den Magister denn überhaupt dazu, in seinem Brief (IV.2) zu behaupten, die Dame ›beleidige‹ (ledere [SE 23g]) regelrecht mit ihrem Brief, sie spreche das ›äußerste Übel‹ aus (Vltima [...] mala [SE 23h]), sie geselle sich zu den ›Bösen‹ (Conuenit ergo malis [SE 23n]),45 ja sie verstoße ›gegen das Gesetz der Freundschaft‹ (SE 20; vgl. auch SE 21), d.h. sie breche mit den Spielregeln der erotisch-lateinischen Briefkultur?46 Da es nirgends eine explizite Abweisung durch die Dame gibt, kommen höchstens implizite Verweise in Betracht. Zu suchen sind sie in den Explikationen zwischen den Treuebekenntnissen: Die erste Explikation (IV.1) diskutiert den Freundschaftsbegriff in Anknüpfung an Cicero. Freundschaft sei Übereinstimmung in allem Göttlichen und Menschlichen, verbunden mit Zuneigung und Wohlwollen,47 und wertvoller als alle anderen Tugenden auf Erden (SE 21–23), weil sie das Getrennte verbinde, das Verbundene bewahre und das Bewahrte immer höher und höher erhebe (SE 24–26).48 Dagegen ist wohl kaum 45 46

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Der Schluss des Briefes IV.2 ist nur bruchstückhaft überliefert. Angemerkt sei, dass zu diesen Spielregeln die Absage der Dame durchaus gehören kann – vgl. etwa den Brief II.1: KÜHNEL [Anm. 4], S. 54f. In direkter Aufnahme von Cicero, Laelius de Amicitia, VI,20: Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio [...]. ›Es ist nämlich die Freundschaft nichts anderes als die Übereinstimung in allen irdischen und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe [...]‹ (Marcus Tullius Cicero, Laelius de Amicitia. Über die Freundschaft. Lat./dt., hrsg. von MAX FALTNER, München 31980, S. 28f.). Das Motiv des Sich-Erhebens könnte auf folgende Stelle Ciceros zurückgehen: Laelius de Amicitia, XXVII,100: Virtus, virtus, inquam, C. Fanni, et tu, Q. Muci, et conciliat amicitias et conservat. in ea est enim convenientia rerum, in ea stabilitas, in ea constantia; quae cum se extulit et ostendit suum lumen et idem aspexit agnovitque in alio, ad id se admovet vicissimque accipit illud, quod in

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etwas einzuwenden. Die zweite Explikation bezieht sich auf die Wertschätzung von fides, spes und caritas auf der Basis von I Cor 13,13. Fides changiert dabei zwischen Glauben als ›Treue zu Gott‹ und ›Treue zum Geliebten‹; caritas wird ohne Umschweife durch amor ersetzt:49 Die Treue verbinde in Hoffnung, weil sie in Gott gründe (SE 68) und in Liebe (amor) vereine (SE 64). Es ist ebenso kaum denkbar, dass die zweite Passage den Magister zu seinen erbosten Äußerungen hingerissen hat. Die letzte Explikation: Hier versichert die Schreiberin, dass sie sich vor den Rittern wohl zu schützen wisse. Dies habe ihr ja auch der Magister geraten. Dabei habe der Magister von den Rittern als ›von gewissen Ungetümen‹ (quasi a quibusdam portentis [SE 77]) gesprochen. Aber, so wendet die Dame hier ein, ganz zurückweisen wolle sie die Ritter auch nicht. Ipsi enim sunt per quos ut ita dicam reguntur iura curialitatis. ipsi sunt fons et origo totius honestatis. (SE 82–83)

Denn genau diese sind es, durch die – sozusagen – die Regeln höfischen Benehmens ausgerichtet werden. Sie selbst sind die Quelle und der Ursprung aller Ehrenhaftigkeit.

D.h. ihre Einschätzung der Ritter ist unverhohlen positiv. Es ist dies die erste und einzige deutlich ausgesprochene Differenz zwischen ihr und dem Magister. Und dann lässt sie auch noch – etwa zehn Zeilen weiter – Verse in derjenigen Sprache folgen, die eben der höfischen Kultur dieser Ritter zuzuordnen ist. Ich meine, genau hier – beim Dû bist mîn, ich bin dîn – sind wir beim schwarzen, beim hässlichen Fisch der Rede angelangt. D.h. die Verse wären – zumindest in den Augen und Ohren des Magisters – nicht ein inniger Liebesgruß, sondern ein Skandalon. Folgendes spricht dafür: Zunächst gibt es zahlreiche semantische Signale in der Antwort des Magisters, die dezidiert darauf weisen, dass der Schluss des Briefes ihn am heftigsten verärgert hat. Wenn er seine Kritik in Anlehnung an Horaz über eine Metaphernreihe formuliert, derzufolge der menschliche Kopf in einen Pferdehals übergehe oder die oben schöne

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altero est; ex quo exardescit sive amor sive amicitia. utrumque enim ductum est ab amando; amare autem nihil est aliud nisi eum ipsum diligere quem ames, nulla indigentia, nulla utilitate quaesita; quae tamen ipsa efflorescit ex amicitia, etiam si tu eam minus secutus sis. ›Die Tugend – ich wiederhole es –, Gaius Fannius und du, Quintus Mucius, die Tugend ist es, welche Freundschaften schließt und sie erhält. In ihr liegt nämlich die vollkommene Harmonie, in ihr die Unwandelbarkeit, in ihr die Festigkeit; wenn s i e sich herausgehoben hat und in ihrem eigenen Glanz geleuchtet hat und eben diesen gleichen Lichtglanz bei einem anderen erblickt und erkannt hat, dann wendet sie sich diesem zu und nimmt ihrerseits das auf, was in dem anderen ist; daran entzündet sich amor beziehungsweise amicitia. Beide Wörter sind nämlich von amare abgeleitet; amare aber bedeutet nichts anderes als eben den Menschen sich auszuwählen, den man lieben kann, ohne daß dazu ein Bedürfnis oder ein Nutzen erforderlich wäre; letzterer erblüht jedoch von selbst aus der Freundschaft, auch dann, wenn man ihn möglicherweise nicht erstrebt.‹ (Cicero, Laelius de Amicitia [Anm. 47], S. 112f.). Zentral für die Argumentation der Briefschreiberin in IV.1 dürfte auch die hier entfaltete Relationstrias von virtus, amicitia, amor sein. Zur Umbesetzung von fides und caritas vgl. SCHALLER [Anm. 40], S. 115f.

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Frau in einen hässlichen Fisch auslaufe, so suggeriert dies eine klare Abfolge mit dem eigentlichen Skandalon am Ende.50 Explizit wird diese Fokussierung des Briefendes, wenn der Magister davon redet, sie habe zu den ›guten Anfängen‹ und den ›süßen Reden des Folgenden‹ keinen ›entsprechenden Schluss‹ (congruum finem [SE 19]) gefunden, wenn er davon spricht, dass es nicht angehe, auf den ›ersten Teil ihres Briefes‹ (priorem litterarum tuarum seriem) ›jenen herben Epilog‹ bzw. ›ungepflegten Schlussteil‹ (asperum illum epilogum [SE 21]) folgen zu lassen, so wenn er darauf dringt, sie müsse das ›zuletzt‹ (Vltima [SE 23c]) Geschriebene wieder ändern. Weiter wechselt die Briefschreiberin mit dem kleinen Textstück in die Volkssprache. Bereits dies mag das stilistische Feingefühl des Magisters gekränkt haben. Zugleich zollt sie den Rittern Anerkennung, also derjenigen gesellschaftlichen Gruppierung, die der Magister zum ›äußersten Übel‹ (SE 23h) und zu den ›Bösen‹ (SE 23n) zählt. Dies mag die Kränkung verstärkt haben. Doch es geht ja offenbar um mehr als um die Verletzung von Stilnormen oder unterschiedliche Einschätzungen der Ritterschaft. Ist die Deutung der Zeilen Dû bist mîn, ich bin dîn als neuralgischer Punkt des Briefes richtig und nimmt man zugleich die Reaktion des Magisters in JAUSSscher Lesart als sinnkonstitutive Rezeption ernst, so ist zu erklären, wieso dieser freundlich scheinende Liebesgruß in der Perspektive des Magisters ›konträr zur Freundschaft‹ steht (asperum illum epilogum amicicie contrarium [SE 21]). Verständlich wird dies nur, wenn die Zeilen Informationen kolportieren, die die Semantik des bloßen Wortlauts weit übersteigen. In diese Richtung ist weiterzudenken. Dabei ist sowohl zwischen der Perspektive der Briefschreiberin und derjenigen des Magisters zu unterscheiden als auch zwischen den Anweisungen auf Handlungsebene und der Auseinandersetzung auf der Ebene richtigen oder falschen Sprechens über die Liebe.

Integration deutschsprachigen Kulturanspruchs? Zunächst zur Perspektive der Briefschreiberin: Entscheidend erscheint, dass sie die Zeilen Dû bist mîn, ich bin dîn im Gestus volkssprachiger Liebeslyrik entwirft und sie im Kontext des Briefes vor den Hintergrund der ritterlichen Kultur stellt. Die Bezugsebene der ritterlich-höfischen Kultur hatte die Briefschreiberin, wie bereits erläutert, kurz zuvor emphatisch in ihren lateinischen Text eingespielt, und zwar unter dem Leitbegriff der curialitas, expliziert als Ursprung und Quelle aller Ehre (IV.1, SE 82–83).

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Gestützt wird dieses Argument dadurch, dass mit der Anspielung auf die Anfangspassage der ›Ars Poetica‹ ein dezidiert ästhetischer Diskurs aufgerufen wird, d.h. es steht die Angemessenheit und Passgenauigkeit der einzelnen ästhetischen Elemente unter- und miteinander i n n e r h a l b des schriftlich Dargebotenen zur Debatte. Genau in diesem Sinn, d.h. bezogen auf den Brief als (misslungene) Einheit, greift denn auch die Briefschreiberin in ihrer Antwort die Kritik auf (vgl. IV.3, SE 16).

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Rekurriert das kleine Textstück dezidiert auf diese Bezugsebene, ja entfaltet es seine eigentliche Aussagedimension erst in Bezug auf das Referenzsystem ritterlicher curialitas, so wird wahrscheinlich, dass die Briefschreiberin mit ihren Zeilen spielerischexperimentierend an jenen entstehenden volkssprachigen Liebesdiskurs51 anknüpfen möchte, in dessen Zentrum die Liebe im Zeichen der curialitas, d.h. die Idee der ›höfischen Liebe‹ steht. Höfische Liebe im Gattungsspektrum volkssprachiger Liebeslyrik aber zielt auf die unbedingte Wertschätzung der minne, den hohen Rang von triuwe und staete – Aspekte, die durchaus an die bisherigen Wertkategorien des antiken und christlichen Liebes- und Freundschaftsdiskurses anknüpfen –, sie zielt zugleich aber auf die absolute Wahrung der Ehre, ja – zumindest in prägenden Teilen der bereits kursierenden französischen Minnelyrik – auf die Unerreichbarkeit der Dame.52 Ist das der Punkt? Will die Dame also sagen: Dû bist mîn – der Magister sei in ihrem Herzen – unter den Bedingungen, die die Dame aus dem ritterlich-höfischen Minnediskurs, insbesondere dem Minnesang, zu lesen vermag, d.h. unter den Bedingungen eines staeten Werbens, dessen Erfüllung nicht im Liebes-, sondern im kunstvollen Sprachspiel zu liegen hat, über das sich das Geben und Nehmen artikuliert? Und bietet sie ihre Vorstellungen eben deshalb – gleichsam in der performativen Umsetzung dieser Handlungsanweisung auf der Ebene des discours – in einer extrem artifiziellen Briefkomposition an, die Vers und Prosa, Bildlichkeit und Abstrakta, Latein und Volkssprache vereint, vor allem aber den antik-lateinischen, den christlichtheologischen und den Liebes- und Freundschaftsdiskurs volkssprachig-höfischer Provenienz in genauer Abfolge in Relation setzt? Ebendies dürfte dann aber der zweite skandalöse Punkt in den Augen des Magisters gewesen sein. Denn durch diese Reihung in einem universalen europäischen Horizont wertet sie den volkssprachig-laikalen Kulturanspruch ungeheuer auf, d.h. sie spricht dem neuen volkssprachig-höfischen Liebeskonzept das Recht und die Qualität zu, adäquat und gleichberechtigt an die übermächtige antik-lateinische und christlich-biblische Tradition anschließen zu können. Ja, mehr noch: Sie arbeitet durch ihre parallelisierende Darstellung und die vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten zwischen den Diskursen an jenem Kulturtransfer zwischen den unterschiedlichen europäischen Traditionen selbst aktiv mit. Plausibel wird von hier aus, weshalb ihre Äußerungen für den Magister gleich auf zwei Ebenen, der Handlungspraxis wie der Ebene des discours, ein Ärgernis werden müssen. Eben weil die Zeilen eine Treuezusicherung darstellen, die vor dem Hintergrund des höfisch-paradoxen Minnediskurses der entstehenden Ritterkultur subtil zwischen Nähe u n d Distanz auszutarieren sucht, versteht der Magister die mit ihnen 51

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Zur Dominanz der Diskursebene vgl. RÜDIGER SCHNELL, Die ›höfische Liebe‹ als ›höfischer‹ Diskurs über die Liebe, in: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur, hrsg. von JOSEF FLECKENSTEIN (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 100), Göttingen 1990, S. 231–301. Für diesen Rekurs ist die Deutung der Zeilen als Verse nicht zwingend, sie würde jedoch den Bezug noch enger knüpfen.

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ausgesprochene Restriktion durchaus richtig: ›Du hast meinem Wollen dein NichtWollen entgegengestellt‹ (SE 20). Oder: ›Treue ohne Werke ist tot‹ (SE 16). Weitaus weniger subtil macht er daraufhin deutlich, dass er auf ein Freundschaftsangebot unter diesen ambivalenten Bedingungen keineswegs eingehen will. Da er zudem zuvor vor den Rittern als dem äußersten Übel gewarnt hatte, muss ihm nun die Referenz an die milites erst recht als Provokation erscheinen, ja er sieht sich auf jene Rivalität zwischen Rittern und Klerikern in Liebesangelegenheiten verwiesen,53 die sich als beliebtes Thema vom ›Ruodlieb‹ über die ›Carmina Burana‹ und Heinrich von Melk bis ins 14. Jahrhundert zieht.54 Bezichtigt er von hier aus sogar die Dame der Libertinage auf fal-

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Entschieden hat bereits BRINKMANN [Anm. 29], S. 91–94, die Tegernseer Briefe in diesen Kontext gestellt. Nicht bezogen auf BRINKMANNs damit verbundene kulturhistorische Grundthese, der Ritter habe »vom Kleriker Minne und Minnesang gelernt« (S. 93), sondern lediglich bezogen auf das Motiv der clericus/Ritter-Rivalität verstehe ich die Bemerkung WORSTBROCKs im Verfasserlexikon ([Anm. 4], Sp. 672): »BRINKMANNs Versuch, die Briefe in ein spezifisches Vorfeld des deutschen Minnesangs zu rücken, ist in der Forschung nicht aufgenommen worden, bleibt aber zu bedenken.« Im frühesten Zeugnis, dem ›Ruodlieb‹, gestaltet sich das Thema eher als Parodie einer Konkurrenz: vgl. Ruodlieb, in: Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in Deutschland 800–1150, hrsg. von WALTER HAUG, BENEDIKT KONRAD VOLLMANN (Bibliothek des Mittelalters 1), Frankfurt am Main 1991, S. 388–551, Fragment XVII, 1–84. – Die zentralen Zeugnisse gehören in die Überlieferungszeit von MF 3,1, d.h. in die Zeit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Als Anprangerung der Unkeuschheit von Geistlichen und Laien findet sich das Thema beim sog. Heinrich von Melk, Von des todes gehugde. Mahnrede über den Tod. Mhd./nhd., übersetzt, kommentiert und mit einer Einführung in das Werk hrsg. von THOMAS BEIN u.a., Stuttgart 1994, zur Unkeuschheit der pfaffhäite insbes. vv. 142–186; vgl. auch das ›Priesterleben‹, dessen Autor heute als ungesichert gilt: vgl. Heinrich von Melk, hrsg. von RICHARD HEINZEL, Berlin 1867. Unv. Nachdruck Hildesheim/Zürich/New York 1983, hier insbes. vv. 102–355 (364), 634 (643)–737 (746). Ausführlich, nun in Bezug auf die clericus/Ritter-Debatte als entfaltete Konkurrenzsituation in Liebesangelegenheiten, legt das Streitgedicht ›De Phyllide et Flora‹ in 79 Strophen die Argumente für die Vorzüge und Nachteile des Klerikers wie auch des Ritters dar, wobei letztlich der Kleriker den Wettstreit gewinnt: Carmina Burana. Texte und Übersetzungen. Mit den Miniaturen aus der Handschrift und einem Aufsatz von PETER und DOROTHEE DIEMER, hrsg. von BENEDIKT KONRAD VOLLMANN (Bibliothek des Mittelalters 13), Frankfurt am Main 1987, Nr. 92; siehe auch das thematisch verwandte, wohl etwas später entstandene Streitgedicht Nr. 82. – Das Motiv findet sich noch (um 1320/40) bei Heinzelin von Konstanz, Von dem Ritter und dem Pfaffen, in: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts, hrsg. von THOMAS CRAMER, Bd. 1, München 1977, S. 393–403, mündet hier jedoch in eine unentschiedene Situation. – Hervorgehoben werden sollte, dass das Motiv der clericus/Ritter-Rivalität in Liebesangelegenheiten einen frühen, allerdings vereinzelten Vorläufer auch innerhalb der Trobadorlyrik aufweist: Wilhelm von Aquitanien spricht sich nicht nur gegenüber dem Kleriker einen Vorrang in der Dichtkunst zu, sondern postuliert auch den Vorrang des Ritters in der Liebe (vgl. Guglielmo IX d’Aquitania, Poesie, hrsg. von NICOLÒ PASERO, Modena 1973, V,7). Dazu INGRID KASTEN, Frauendienst bei Trobadors und Minnesängern im 12. Jahrhundert. Zur Entwicklung und Adaption eines literarischen Konzepts (GRM, Beihefte 5), Heidelberg 1986, S. 39–41; KASTEN sieht Wilhelms Äußerung als »herausfordernde Positionsbestimmung« vor allem gegenüber dem »dichtenden Kleriker«, wie er sich etwa in der Dichterschule von Angers mit ihrem »ausgesprochenen Freundschaftskult«, der Pflege eines

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scher Seite, was sie in ihrem zweiten Brief (IV.3) entrüstet von sich weist?55 Der Brief des Magisters ist an seinem Ende zu verderbt, um hier genau entscheiden zu können.56 Deutlich ist aber auch auf Seiten des Magisters, dass sich die Vorwürfe auf der Ebene der Liebespraxis unlösbar mit einer erbittert-verletzenden Auseinandersetzung über richtiges und falsches Sprechen über Liebe verknüpfen. Verstößt bereits die volkssprachige Äußerung an und für sich gegen das von ihm als allein gültig erachtete Sprachreglement, so verschärft sich seine Kritik angesichts der Tatsache, dass die Briefschreiberin die deutschsprachigen Zeilen und den mit ihnen verbundenen Kulturanspruch als honorable Art und Weise des Sprechens über Liebe in den Kontext der lateinisch-klerikalen europäischen Liebesbriefkultur einführen möchte. Eben deshalb steht hier nicht nur Freundschaftsgesetz gegen Freundschaftsgesetz, sondern zugleich – dies hat der Magister mit seiner Kritik auf Stilebene wohl erkannt – Liebesdiskurs gegen Liebesdiskurs, realisiert in einem ›Schlachtfeld der Worte‹ (in campum uerborum [IV.3, SE 15]), wie es die Briefschreiberin bezeichnend ausdrückt.57 Auf der einen Seite sucht sie dabei ganz unterschiedliche Kulturtraditionen miteinander in Verbindung zu bringen – ausgehend von der Freundschaftsdefinition des Cicero über ein christliches Liebesverständnis bis hin zum Preis ritterlicher curialitas –, ruft also

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»an antiken Vorbildern orientierten literarischen Geschmack[s]« und ihrem Austausch von »feinsinnige[n] Episteln« etablierte (S. 41). Vgl. Brief IV.3, SE 20 mit der Erläuterung GUSTAV FREYTAGs sowie SE 23–25. Dabei kann nicht definitiv entschieden werden, ob die Dame ihre Worte auf den Magister oder auf eine unterstellte Liaison mit den Rittern münzt. Der Vorwurf der Libertinage des Magisters könnte dadurch gesteigert sein, »dass chimera ein in clerikerkreisen nicht seltener stichname für ›dirne‹ war«, so RYSZARD GANSZYNIEC, Zu den Tegernseer Liebesbriefen, ZfdA 63 (NF 51) (1926), S. 23f., hier S. 24. GANSZYNIEC begründet damit, möglicherweise zu Recht, die heftige und derbe Reaktion der Briefschreiberin IV.3, SE 20–21. Allerdings bleibt zu beachten, dass dieser Vorwurf allenfalls konnotativ verankert wäre. Auf direkter Syntax- und Semantikebene bleibt die Diskussion um das Monströse bzw. die Chimäre sowohl beim Magister als auch bei der Briefschreiberin allein auf den Brief und seine Worte bezogen (litteras IV.3, SE 16, sinngemäß auch IV.2, SE 7–8; uerba IV.3, SE 19). Ausgehend von einer möglichen Kontextualisierung der Briefaussage des Magisters innerhalb der clericus/Ritter-Debatte, ließe sich überlegen, ob nicht ein klerikaler Schreiber die Brieftrias insgesamt mit diesem Fokus entworfen haben könnte. Dagegen spricht jedoch, dass die Dame keine alternative Liebesmöglichkeit durchspielt, vielmehr die Ritter als ›Quelle und Ursprung aller Ehrenhaftigkeit‹ (IV.1, SE 83) anführt. Nicht die Rivalität möglicher Liebhaber und deren jeweilige Vorzüge, sondern allein die Ausgestaltung des Liebesspiels im Wort prägt ihre Perspektive. Dass der Magister dabei ihre Worte nicht nur versteht, sondern sie – in der Umcodierung als Part einer clericus/Ritter-Debatte – ebenso missversteht, es also (durchaus unter Genderprämissen) auch um ein hermeneutisches Problem geht, wird in ihren im dritten Brief wiederholt als Distanzsignal eingesetzten Wendungen ut/quia putatis (IV.3, SE 15, 21) versus ut putabam (IV.3, SE 19) deutlich. Die Formulierung steht durchaus nicht nur in Opposition zu der »Lust am Text«, die SCHNYDER [Anm. 38], S. 147, Anm. 17, zu Recht Schreiberin wie Schreiber attestiert und die in Brief IV.1 und am Anfang von Brief IV.2 unübersehbar ist, sondern markiert in der forcierten Auseinandersetzung um den richtigen Diskurs deren negative, gleichwohl konsequente Kehrseite.

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offenbar die lateinisch-antiken und christlichen Traditionsstränge als vielstimmigen und – ihrer Auffassung nach – durchaus adäquaten Hintergrund der volkssprachigen Zeilen auf, gleichsam als würde sich in den volkssprachigen Zeilen nur die Essenz dieser Traditionen ablagern. Auf der anderen Seite erscheint dem Magister eben diese Verknüpfung der Liebesdiskurse als grober Verschnitt, als ›poetische Kunstfertigkeit ohne (rechte) Gepflegtheit‹ (IV.2, SE 14). Heraus kommt seiner Vorstellung nach ein Ungetüm, eine Chimäre (vgl. Brief IV.3, SE 16, 19) – wie es die Ritter selbst sind –, ohne Bestand, lächerlich nach Horaz. Er lehnt die in der Volkssprache formulierte Liebeskonzeption ab, erkennt eine neue Stimme im Chor der europäischen Kulturtraditionen nicht an. D.h. er verweigert sich einer kulturellen Polyphonie, die die deutsche Sprache und ihre frühen poetischen Bemühungen zu umfassen und in ein Traditionskontinuum zu stellen sucht, denn eben diese – die deutsche Sprache und ihre poetischen Bemühungen – sind in seinen Augen nichts anderes als ein hässlicher, ein schwarzer Fisch.

Fazit auf drei Ebenen Damit lässt sich ein Fazit in dreierlei Hinsicht ziehen. Erstens: Die Zeilen Dû bist mîn, ich bin dîn sind im Briefkontext sicherlich nicht zu lesen als einer der »charakteristische[n] Belege« für die »innigen Beziehungen zwischen Mann und Weib« im 12. Jahrhundert.58 Sie formieren weder einen naiven noch einen innigen Liebesgruß. Der Magister, dies muss entschieden festgehalten werden, versteht sie vielmehr als Beleidigung: a) weil sie in deutscher Sprache verfasst sind, b) weil sie als rhetorisch wohlgesetzte und funktional austarierte Referenz an den avantgardistischen höfisch-ritterlichen Liebesdiskurs des Minnesangs eingesetzt werden. Aufgrund dieser Referenzposition werden sie zum Anlass eines erbitterten Streits um den neuen, in der Volkssprache formulierten Kulturanspruch als neuer Stimme im Chor der großen europäischen Traditionen. Dieser Streit mag als stilistische Fingerübung entworfen sein, gleichsam einen Streit-Musterfall abgeben, entscheidend ist die Frage, authentisch oder fingiert, jedoch nicht.59 Entscheidend ist vielmehr, dass die Zeilen Dû bist mîn, ich bin dîn in ihrer souveränen Anbindung an die lateinische und christliche Tradition ebenso wie in der Wertung dieser kulturellen Polyphonie als Stilbruch und Chimäre die grundsätzlichen Möglichkeiten, aber auch die grundsätzlichen Spannungen spiegeln, die nach dem Zeugnis der Zeitgenossen mit der Genese des neuen volkssprachigen Kulturanspruchs verbunden waren. Ebendieser Konflikt macht das Textstück in seinem Briefkontext zu einem so außerordentlichen kulturhistorischen Zeugnis. Weder das Alter der Überlieferung noch einfältige ›weibliche‹ Innigkeit noch die Alteritätsimprägnierung der ›bloß‹ stilistischen Fingerübung sollte dieses kleine Textstück 58 59

Siehe FREYTAG [Anm. 9], S. 527. Vgl. SCHNYDER [Anm. 38], S. 148f., 153.

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also zum ›Juwel‹ der Literaturgeschichtsschreibung machen. Hervorzuheben ist stattdessen, dass dieses Textstück innerhalb des Briefwechsels ein ungeheuer direktes Zeugnis für die Provokationskraft des frühen deutschsprachigen Kulturanspruchs ablegt – ein Zeugnis im Schnittpunkt laikaler und klerikaler Interessen, im Schnittpunkt ganz unterschiedlicher Liebesdiskurse, im Schnittpunkt kontroverser weiblicher und männlicher Lesarten,60 im Schnittpunkt von deutscher Sprache und europäischer Tradition. MF 3,1 sollte somit nicht länger ein Solitär in den Anthologien bleiben, es offenbart die ihm inhärente kulturelle Dynamik erst im spannungsreichen und notwendigen Bezug zu seinem Kontext, den es genauer zu lesen galt als zuvor: Erst im Kontext entpuppt sich das kleine Lied als das, was es ist: als Liebesgruß u n d schwarzer Fisch in einem, fragil geöffnet nach beiden Seiten, eben deshalb Umschlagsort jenes frühen Streits zwischen deutscher Sprache und europäischer Tradition, zwischen Diskontinuität und Kontinuität: ein historischer Vexierspiegel ersten Ranges. Zweitens: Die angebotene Lesart impliziert ein Plädoyer. Auch wenn den Zeilen Dû bist mîn, ich bin dîn und ihrem Kontext sicherlich eine Sonderstellung innerhalb der frühen Zeugnisse der entstehenden volkssprachigen Liebessprache zukommt, so eröffnet doch der aufgezeigte Problemzusammenhang in systematischer Hinsicht eine Perspektivierung, die für die früheste deutschsprachige Lyrik insgesamt nutzbar zu machen wäre: So sollte sie mit einer entschiedenen Fortsetzung des in der Forschung bereits eingeleiteten Prämissenwechsels die Chance bekommen, neu wahrgenommen zu werden:61 als Rezeptions- ebenso wie als Produktionsareal einer sich erst konstituierenden 60

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Die kontroversen Lesarten lassen sich sowohl auf die Ebene von Briefschreiberin und Magister beziehen als auch auf die Ebene der Rezeption: Zum Aspekt der auf tradiertem Vorverständnis aufruhenden »Interpretationen (auch) als geschlechtspolitische[n] Akte[n]« vgl. SCHNYDER [Anm. 38], S. 153. Darüber hinaus: RENATE VON HEYDEBRAND, SIMONE WINKO, Arbeit am Kanon. Geschlechterdifferenz in Rezeption und Wertung von Literatur, in: Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, hrsg. von HADUMOD BUSSMANN, RENATE HOF, Stuttgart 1995, S. 206–261. Die jüngeren Arbeiten setzen bei dem Versuch des Prämissenwechsels ganz unterschiedlich an: Die Habilitationsschrift von MANUEL BRAUN, Spiel – Kunst – Autonomie. Minnesang jenseits der Pragma-Paradigmen, München 2007 (Manuskript), spricht bereits dem frühesten Minnesang eine Komplexität der Formensprache und eine ästhetisch reflektierte Artifizialität zu, die sich nicht mehr innerhalb einer bloßen ›Vorstufe‹ verrechnen lässt. Siehe auch: MANUEL BRAUN, Die Künstlichkeit des dialogischen Liedes, in: Aspekte einer Sprache der Liebe. Formen des Dialogischen im Minnesang, hrsg. von MARINA MÜNKLER (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 21), Bern u.a. 2011, S. 1–16, hier insbes. S. 2–7. Bisher selbstverständliche editorische Grundsätze werden in Frage gestellt. In Bezug auf die namenlosen Lieder vgl.: JENS HAUSTEIN, Minnesangs Vorfrühling? Zu MF 3,1–6,31, in: Edition und Interpretation. Festschrift für HELMUT TERVOOREN, hrsg. von JOHANNES SPICKER, Stuttgart 2000, S. 21–32. Eine Neuedition von ›Des Minnesangs Frühling‹ ist zudem durch DOROTHEE KLEIN, FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL sowie FREIMUT LÖSER in Arbeit. Die 2005 erschienene Reclamausgabe von BRUNNER [Anm. 30], enthält auch ausführlich lateinische Dichtung der ›Carmina Burana‹ und stellt Liebeslieder und Sangsprüche dezidiert nebeneinander. Der neueste umfassende Überblick zu den Anfängen der Lyrik fragt sorgfältig abwägend gerade nach dem romanischen Einfluss in dieser frühen Phase: RÜDIGER SCHNELL, Minnesang I: Die Anfänge des deutschen Minnesangs (ab ca. 1150/70), in: Handbuch der

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Annette Gerok-Reiter

Kultur, divergent in den Ansprüchen, konkurrierend in den Ordnungssystemen, deshalb spannungsgeladen, deshalb experimentierfreudig. Damit wäre die früheste deutschsprachige Lyrik gerade nicht als einfach, als eindimensional, als isoliert zu charakterisieren, sondern als in eminentem Maß polyphon:62 durchlässig in Bezug auf die disparaten Stimmen einer sich erst konsolidierenden Laienkultur, die von vornherein aus dem lateinischen und französischen Kulturtransfer lebt. Möchte man ihre Einzelstrophen weiterhin als »lyrische Einzelgehöft[e]« beschreiben, wie KARL BERTAU mit Blick auf den Kürenberger durchaus zu Recht formulierte,63 so doch als solche, die in spannungsreichem und notwendigem Bezug zu ihrer Umgebung stehen, offen nach allen Seiten, gleichsam zugig in jeder syntaktischen Fuge. Im Blick auf dieses Vielstimmige und Disparate in der Spannung von Kontinuität und Diskontinuität wäre die Geschichte der frühesten Minnelyrik neu zu überdenken.64 Drittens: Welch eine Armut von Ideen?65 Woran die Zeilen MF 3,1 sowie die früheste Minnelyrik insgesamt mitarbeiten, ist die Anerkennung und Durchsetzung der Volkssprache als Kultursprache innerhalb der Hegemonie des Lateinischen, ist die Etablierung eines neuen Kulturparadigmas, des Kulturparadigmas weltlicher Minne, das die europäische Tradition von hier an mitprägen wird – zu erinnern ist etwa an DENIS DE

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deutschen und niederländischen mittelalterlichen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300), Bd. 3: Lyrische Werke, hrsg. von VOLKER MERTENS, ANTON TOUBER (Germania Litteraria Mediaevalis Francigena), Berlin/New York 2012, S. 25–82. Der Begriff wird in Bezug auf die früheste Minnelyrik nicht im Sinn von idiomatischen, dialektalen oder fremd- und eigensprachlichen Mischformationen verwendet, wie dies MICHAIL BACHTIN, Das Wort im Roman, in: DERS., Die Ästhetik des Wortes, hrsg. von RAINER GRÜBEL, Frankfurt am Main 1979, S. 154–300, vorgeschlagen hat, sondern im Sinn unterschiedlicher Wissens-, Bild-, Themen-, Gestus-, Form- oder auch Genderregister, die, nahezu synchron auftretend, ein in extremer Weise plural-heterogenes Feld innerhalb der frühesten Lyriküberlieferung, ja bis in das einzelne Lied hinein eröffnen. Produktive Ansätze für eine Perspektivierung der BACHTINschen Begrifflichkeit in mediävistischer Perspektive finden sich bei: INGRID KASTEN, Bachtin und der höfische Roman, in: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für EBERHARD NELLMANN zum 65. Geburtstag, hrsg. von DOROTHEE LINDEMANN, BERNDT VOLKMANN, KLAUSPETER WEGERA, Göppingen 1995, S. 51–70. Der teleologischen Literaturgeschichtsdeutung, die BACHTIN mit Hilfe des Begriffs vorgenommen hatte, wird durch die Akzentuierung einer ›Polyphonie des Anfangs‹ dezidiert entgegengearbeitet. Gefragt werden könnte mit diesem Ansatz vielmehr, inwiefern ›Pluralität‹ nicht nur als Faktor kultureller Ausdifferenzierung etablierter Traditionen und Kontinuitäten, sondern ebenso als maßgeblich stimulierendes Potential junger Kulturen am (diskontinuierlichen) Beginn von Traditionsbildungen in Anschlag zu bringen ist. KARL BERTAU, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, Bd. 1: 800–1197, München 1972, S. 367. Anschließend wendet BERTAU selbst ein: »Es wäre aber wohl falsch, hier einen archaischen Gesellschaftszustand, frei von jeder Mode, sich vorzustellen.« An dieser Umperspektivierung arbeiten ANNA SARA LAHR und SIMONE LEIDINGER mit ihren Dissertationen innerhalb eines gemeinsamen Forschungsprojekts zum frühen Minnesang. Vgl. FALK [Anm. 1].

Dû bist mîn, ich bin dîn – ein Skandalon?

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ROUGEMENT,66 an ELIAS’ Zivilisationsprozess,67 an LUHMANNs ›Liebe als Passion‹68 –, ist schließlich – im imaginaire der Literatur – eine grundlegende Irritation in der Geschlechterordnung. Alles drei sind Provokationen, deren Ausläufer bis heute unseren historischen Boden mitprägen. Gerade die weite historische Perspektive im Sinn der longue durée erlaubt es dabei, fundierte Kriterien in der Relation von Kontinuität und Diskontinuität für die Frage zu entwickeln, wann von kleinen, wann von mittleren, wann von großen Veränderungen mit Recht zu sprechen ist. Statt in Bezug auf die frühe Minnelyrik von deren ›Ideenarmut‹ auszugehen, ist dann vielmehr zu konstatieren, dass sie von ihrer ›Nebenstimme‹ aus maßgeblich gleich an drei der großen Neuperspektivierungen innerhalb der europäischen Kultur mitgewirkt hat.69

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DENIS DE ROUGEMONT, Die Liebe und das Abendland, Köln/Berlin 1966. NORBERT ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1/2 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 158/159), Frankfurt am Main 221998/ 1999. NIKLAS LUHMANN, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1983. Für wichtige Anregungen, kritische Fragen und Vergleichsbelege danke ich MARTIN BAISCH, BERND BASTERT, MANUEL BRAUN, ANNA SARA LAHR, SIMONE LEIDINGER, WALTER MOOG, RÜDIGER SCHNELL und BURGHART WACHINGER.

Verborgen schatz und wistuom Transformationen gelehrten Wissens in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin von Silvia Reuvekamp

Dass ein adäquates Verständnis der volkssprachigen Literaturen des Mittelalters nicht möglich ist, ohne deren Verwobenheit in die lateinische Bildungswelt stets mitzudenken, gehört zu den Grundüberzeugungen der mediävistischen Philologien spätestens seit ERNST ROBERT CURTIUS’ wirkungsmächtigen Studien zur Fortdauer des antiken Erbes in den »National«-Literaturen des Mittelalters und der Moderne.1 Sein vehementes Votum für eine die Grenzen der Literaturgeschichte überschreitende Erforschung der europäischen Literatur als einer von der Kontinuität des Lateinischen determinierten Sinneinheit hat das Selbstverständnis der Einzelphilologien ebenso geprägt wie deren methodische Instrumentarien. Die Unverzichtbarkeit einer interdisziplinären Ausrichtung mediävistischer Forschung scheint inzwischen eine Selbstverständlichkeit, die ihren institutionellen Niederschlag in Kooperationen, Forschergruppen und -verbünden, Mittelalterzentren, aber auch in zahlreichen neueingerichteten fächerübergreifenden Studiengängen findet. Eine solche institutionelle Grenzüberschreitung hatte für die germanistische Mediävistik ihren Vorlauf in zahlreichen Forschungsarbeiten, die infolge des forcierten Plädoyers CURTIUS’ verstärkt den literarischen Beziehungen von Latein und Volkssprache auf den verschiedensten Forschungsfeldern nachgegangen sind. Dabei stand und steht die Eingebundenheit der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters in ein kulturelles Kontinuum einer abendländischen, durch das Lateinische dominierten Kulturtradition außer Frage. Diese Kontinuität antik- und mittellateinischen Schrifttums und Wissens in der Volkssprache dokumentiert sich offensichtlich zuerst einmal in den zahlreichen Adaptionen antiker Erzählstoffe und Mythen, die entweder im Ganzen bzw. in Teilen retextualisiert werden oder deren Rezeption sich in zahlreichen Anspielungen in lyrischen oder narrativen Texten niederschlägt. Daneben haben auch stets das System der Rhetorik, das seit der Spätantike regelhaft die Gestaltung der Dichtung und das Selbstverständnis ihrer Autoren geprägt hat, sowie dessen unterschiedliche Formen von Argumentations- und Darstellungstopik breiteste Aufmerksam-

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ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/München 101984.

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Silvia Reuvekamp

keit in der Forschung gefunden.2 Diese stofflichen und poetologischen Reservoire kultureller Kontinuität wurden argumentativ flankiert von kultur- sowie sozialgeschichtlichen Untersuchungen zu den Autorentypen volkssprachiger Erzähldichtung, deren Bildungshintergrund und Lebensform auf eine Schulausbildung sowie Verankerung in geistlichen Institutionen verweisen sollen.3 Zu verstehen und zu beschreiben wären dann also die spezifischen Produktions- wie auch Rezeptionsbedingungen dieser Texte nur vor dem Hintergrund eines durch die lateinische Schulbildung ihrer Autoren sichergestellten Wissenstransfers von der Welt gelehrter Latinität in die Welt laikaler Volkssprachigkeit: Die historische Rezeption auch volkssprachiger Texte ist erst vor einem Interpretationshorizont zu rekonstruieren, der sich einerseits aus Bestandteilen – lateinisch volkssprachigen – theologischen und weltkundlichen Wissens konstituiert, der andererseits durch übergeordnete Wahrnehmungsmuster und hermeneutische Prinzipien bestimmt wird, die nur anhand lateini4 scher Quellen nachvollziehbar werden.

Mag diese hier notwendigerweise auf einige wenige Parameter beschränkte und auch nur skizzierte Einbettung volkssprachiger Literarizität in die Tradition lateinischer Ge2

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Allerdings wurde die Kontinuität literarischer Techniken, die nicht den Paradigmen der großen spätantiken Rhetorikhandbücher verpflichtet sind und keine Aufnahme in die mittellateinischen Poetiken gefunden haben, bislang von der Forschung weitestgehend ignoriert. Dies gilt z.B. für die narrativen Formen der Personengestaltung, wenn sie über die rhetorische descriptio-Lehre bzw. den Topos des schönen Menschen hinausgehen, oder Typen unzuverlässigen Erzählens, wie sie seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Untersuchungshorizont der Narratologie geraten sind. Vgl. RÜDIGER SCHNELL, Kirche, Hof und Liebe. Zum Freiraum mittelalterlicher Dichtung, in: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois. Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984, hrsg. von ERNSTPETER RUHE, RUDOLF BEHRENS (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 14), München 1985, S. 75– 108; URSULA PETERS, Hofkleriker – Stadtschreiber – Mystikerin. Zum literarhistorischen Status dreier Autorentypen, in: Autorentypen, hrsg. von WALTER HAUG, BURGHART WACHINGER (Fortuna vitrea 6), Tübingen 1991, S. 29–49; TIMO REUVEKAMP-FELBER, Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts (Kölner germanistische Studien NF 4), Köln/Weimar/Wien 2003; C. STEPHEN JAEGER, The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939–1210, Philadelphia 1985. Dt.: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter (Philologische Studien 167), Berlin 2001. CHRISTINE PUTZO, Mehrsprachigkeit im europäischen Kontext. Zu einem vernachlässigten Forschungsfeld interdisziplinärer Mediävistik, in: Mehrsprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, sprachliche, literarische und didaktische Konstellationen in europäischer Perspektive. Mit Fallstudien zu den ›Disticha Catonis‹, hrsg. von MICHAEL BALDZUHN, CHRISTINE PUTZO, Berlin/New York 2011, S. 3–34, hier S. 7. Der Forschungsbericht versteht sich als Aktualisierung und unter der innovativen Schwerpunktsetzung der Multilingualität als systematische Erweiterung des Anfang der 90er Jahre erschienenen Forschungsberichts von NIKOLAUS HENKEL und NIGEL F. PALMER, Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter, 1100–1500. Zum Rahmenthema des Regensburger Colloquiums. Ein Forschungsbericht, in: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter, 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988, hrsg. von NIKOLAUS HENKEL, NIGEL F. PALMER, Tübingen 1992, S. 1–18.

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lehrtenkultur im Fach konsensuales Wissen darstellen, so steht dieses doch gerade in Bezug auf zentrale Gattungen des sich im 12. Jahrhundert etablierenden weltlichen Literatursystems wie Minnesang, Heldenepik und Artusroman in vielfältiger Spannung mit einem konkurrierenden Verstehensmodell: das der gegen die Paradigmen der Geistlichkeit gerichteten emanzipativen kulturellen Selbstbestimmung des Laienadels bzw. der zunehmenden Verselbstständigung des volkssprachlichen Literaturbereichs gegenüber diesen Paradigmen. Will man den volkssprachigen Innovationsschub des 12./13. Jahrhunderts eher als Loslösung von der lateinischen Tradition konzeptualisieren, findet in der Forschung regelmäßig Betonung, dass die literarischen Texte stärker von mündlichen Dichtungsformen geprägt seien: der Minnesang von volksliedhaften Vorgängern, der Artusroman von mythischen Erzählformen der matiére de Bretagne5 (oder von einem experimentellen Strukturentwurf Chrétiens, der den Wahrheitsanforderungen lateinischer Gelehrsamkeit ein legitimierendes Sinngefüge des Fiktionalen entgegenstelle)6, das Heldenepos von den seit der Völkerwanderungszeit mündlich zirkulierenden Erzählungen.7 Aus der Spannung der beiden Verstehensmodelle folgt in der Forschung zumeist deren Verschränkung, insofern sich als Grundüberzeugung nahezu konsensual durchgesetzt hat, dass sich die volkssprachigen Texte in der semiskripturalen Literatur des Mittelalters durch zahlreiche Interferenzen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit auszeichnen. Mit dieser integrativen Modellbildung ist der von CURTIUS angestoßene Prozess, die lateinische Bildungswelt als Nährboden volkssprachiger Dichtung fraglos anzuerkennen und entsprechende Folgerungen daraus abzuleiten, allerdings keinesfalls an ein Ziel gekommen. Ganz im Gegenteil sind die zwischen den Kultursphären ablaufenden Rezeptions- und Transferprozesse immer noch erst in Ansätzen erforscht und so werden bis in aktuelle Diskussionen hinein lange benannte Desiderate reformuliert. Weitgehend ausgespart geblieben sind etwa für eine Kultur des Wiedererzählens zentrale Bereiche wie jener intertextueller Bezüglichkeiten zwischen volkssprachiger Dichtung und lateinischer Bildungswelt.8 Insbesondere die umfangreichen Analysen zur Intertextualität des höfischen Romans und speziell des Artusromans nehmen lateinische Texte eher selten oder nur punktuell als mögliche Prätexte in den Blick. Intertextualität erscheint 5

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Vgl. ANDREAS HAMMER, Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg und im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007; demnächst: ULRICH HOFFMANN, Mythisches und Erzählen. Zur Wirkung und Funktion mythischer Inhalte und Strukturen in den Artusromanen ›Erec‹ und ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, Diss. Münster 2011. Vgl. WALTER HAUG, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985, S. 91–106. Am radikalsten hat dies HARALD HAFERLAND formuliert: Mündlichkeit, Gedächtnis und Medialität. Heldendichtung im Mittelalter, Göttingen 2004. Vgl. aber neuerdings RÜDIGER SCHNELL, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter. Zur Interdependenz von Hofkritik und Hofideal, LiLi 161 (2011), S. 77–138; MONIKA SCHAUSTEN, dâ hovet ir iuch selben mite. Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik am Beispiel des ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, LiLi 161 (2011), S. 139–163.

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der Forschung zuallererst als Indikator einer volkssprachig-volkssprachigen Kontaktsituation – systematisch untersucht werden gerade die innerliterarischen Bezüge auf deutschsprachige Prätexte,9 in denen sich noch am ehesten Ansätze einer eigenständigen Traditionsbildung im Sinne einer deutschsprachigen literarischen Kontinuität erkennen ließen.10 Dass damit aber eine wichtige Ebene intertextueller Sinnbildung unbeachtet bleibt, möchte ich im Folgenden am Beispiel der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin zu zeigen versuchen. Es gehört zu den herausragenden Merkmalen der ›Crône‹, dass sie in ungewöhnlichem Maße auf die literarische Tradition Deutschlands und Frankreichs zurückgreift. Hat diese Eigenart des Textes in der älteren Forschung zum Vorwurf nachklassischer Epigonalität geführt,11 wird der eigenständige und produktive Umgang mit literarischen Versatzstücken unterschiedlicher Provenienz nun schon seit geraumer Zeit als besondere Qualität des Textes verstanden.12 Die intertextuellen Beziehungen in der ›Crône‹ 9

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Vgl. u.a. CHRISTINE WAND, Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue. Literarische Reaktionen auf Hartmann im ›Parzival‹, Herne 1989; Artusroman und Intertextualität. Beiträge der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft vom 16.–19. November 1989 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL (Beiträge zur deutschen Philologie 67), Gießen 1990; ULRIKE DRAESNER, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ›Parzival‹ (Mikrokosmos 36), Frankfurt am Main 1993; SONJA KERTH, Jenseits der matiére. Intertextuelles Erzählen als Erzählstrategie, in: Erzähltechnik und Erzählstrategie in der deutschen Literatur des Mittelalters, hrsg. von WOLFGANG HAUBRICHS (Wolfram Studien 18), Berlin 2004, S. 263–282; NEIL THOMAS, Wirnt von Gravenberg’s ›Wigalois‹. Intertextuality and Interpretation (Arthurian Studies 62), Cambridge 2005. Vgl. zuletzt KLAUS GRUBMÜLLER, Über die Bedingungen volkssprachiger Traditionsbildung im lateinisch dominierten Mittelalter, in: BALDZUHN, PUTZO [Anm. 4], S. 153f. Vgl. zuletzt WERNER SCHRÖDER, Zur Literaturverarbeitung durch Heinrich von dem Türlin in seinem Gawein-Roman ›Diu Crône‹, ZfdA 121 (1992), S. 113–174. Eine kritische Revision der älteren Forschung bieten u.a. FRANK ROßNAGEL, Die deutsche Artusepik im Wandel. Die Entwicklung von Hartmann von Aue bis zum Pleier (Helfant Studien S 11), Stuttgart 1996, S. 8–17; PETER STEIN, Integration – Variation – Destruktion. Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 32), Bern/New York 1999, S. 11; MARCUS WENNERHOLD, Späte mittelhochdeutsche Artusromane. ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹, ›Daniel von dem blühenden Tal‹, ›Diu Crône‹. Bilanz der Forschung 1960– 2000 (Würzburger Beiträge zur Philologie 27), Würzburg 2005, S. 252f.; GUDRUN FELDER, Kommentar zur ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, Berlin/New York 2006, S. 2f.; JUSTIN VOLLMANN, Das Ideal des irrenden Lesers. Ein Wegweiser durch die ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin (Bibliotheca Germanica 53), Tübingen/Basel 2008, S. 8–10. Vgl. grundlegend CHRISTOPH CORMEAU, ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Artusromans (MTU 5), Zürich/München 1977. CORMEAU versteht die vielen direkten Rückbezüge auf deutschsprachige Prätexte nicht nur als Hinweis darauf, dass die Gattungstradition die ›Crône‹ entscheidend mitkonstituierte, sondern zeigt, dass sie darüber hinaus ein sehr nuanciertes Bild der Präsenz der früheren Texte beim Autor und – ganz entscheidend – beim Publikum geben. In diesem Sinne seien Traditions- und Literaturbewusstsein des Autors wie des impliziten Lesers erstaunlich gezielt in Prozesse der Sinnbildung des Textes

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reichen dabei von der Verarbeitung ganzer Erzählabschnitte sowie Handlungssequenzen bis zur Übernahme von Bildern, Motiven und Darstellungsweisen. Als Prätexte in den Blick genommen wurden vor allem die Romane Chrétiens (›Erec et Enide‹, ›Yvain‹, ›Lancelot‹, ›Perceval‹ mit den zugehörigen Fortsetzungen) und die auf ihnen basierenden deutschen Romane Hartmanns und Wolframs, außerdem der ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven, der ›Wigalois‹ Wirnts von Gravenberg und einige kleinere französische Erzählungen wie etwa das Fabliau ›La mule sans frein‹.13 Dass die ›Crône‹ daneben aber auch zahlreiche Bezüge zur lateinischen Bildungskultur aufweist, wurde in der Quellen- und Einfluss-Forschung verschiedentlich angemerkt. Heinrich habe nicht nur offensichtlich die Anleitungen der mittelalterlichen artes poetica ebenso gut gekannt wie die poetische Praxis lateinischer Musterautoren, daneben rekurriere er auch über sein Werk verteilt auf eine Fülle von Exempelfiguren aus der antiken Mythologie, Sage und Geschichte und sei in seiner Verwendung allegorischer Figuren ganz offensichtlich von der lateinischen Renaissance des 12. Jahrhunderts beeinflusst.14 Während aber die intertextuellen Bezugnahmen zur deutschen und franzö-

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einbezogen (vgl. insbesondere S. 165f.). HARTMUT BLEUMER konstatiert vor diesem Hintergrund (Die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans [MTU 112], Tübingen 1997, S. 1f.), die ›Crône‹ sei geradezu auf ein Spannungsverhältnis zwischen Bekanntem und Ungewohnten hin angelegt. Im Prozess der Lektüre entstünden laufend Irritationen dadurch, dass die durch die ungewöhnlich dichte Selbstinszenierung des Textes im Rahmen der Gattung evozierten Erwartungen konterkariert würden. JUSTIN VOLLMANN ([Anm. 11], S. 11) folgert aus solchen Beobachtungen, dass die ›Crône‹ mehr als jeder andere mittelhochdeutsche Roman auf Lektüren zweiter Ordnung abziele, die ihren Ausgangspunkt gerade an den Stellen nehme, an denen prätextuelle Erwartungshaltungen dem Verständnis des Textes nicht Vorschub leisten könnten. In diesem Sinne verstehen sich eine ganze Reihe von Analysen, die die Kohärenz des Textes weniger auf inhaltlicher als vielmehr auf einer Ebene im intertextuellen Spiel geführter poetologischer Auseinandersetzung suchen. Vgl. z.B. ELISABETH SCHMID, Text über Texte. Zur ›Crône‹ des Heinrich von dem Türlin, GRM NF 44 (1994), S. 266–287; CORNELIA SCHU, Intertextualität und Bedeutung. Zur Frage der Kohärenz der Gasozein-Handlung in der ›Crône‹, ZfdPh 118 (1999), S. 336–353; PETER KERN, Bewußtmachung von Artusromankonventionen in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL unter Mitwirkung von PETER IHRING, Tübingen 1999, S. 199–218; PETER STEIN [Anm. 11]; NEIL THOMAS, Text gegen Texte. Zum Thema Intertextualität in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, in: Dialoge – Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium, hrsg. von NIKOLAUS HENKEL u.a., Tübingen 2003, S. 75–94. Vgl. zuletzt den Forschungsbericht bei JUSTIN VOLLMANN [Anm. 11], S. 8. Daneben wurden aber auch Bezüge zu weiteren volkssprachigen Prätexten hergestellt, etwa zum ›Prosa Lancelot‹ (ELIZABETH ANDERSEN, Heinrich von dem Türlin’s ›Diu Crône‹ and the ›Prose Lancelot‹. An intertextual study, Arthurian Literature 7 [1987], S. 23–49). Vgl. FRITZ PETER KNAPP, Heinrich von dem Türlin. Literarische Beziehungen und mögliche Auftraggeber, dichterische Selbsteinschätzung und Zielsetzung, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposiums in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980, hrsg. von PETER KRÄMER unter Mitarbeiter von ALEXANDER CELLA (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), Wien 1981, S. 145–187, hier insbesondere S. 159–163. Im Anschluss an

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sischen Literatur geradezu als Schlüssel zum Verständnis der ›Crône‹ betrachtet wurden, werden solche zweifelsohne auffälligen Bezüge zum antiken und mittellateinischen Schrifttum in der Regel nicht in die Diskussion um eine in der Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition gewonnene Sinnfindung des Romans einbezogen. In den Blick kommen sie stattdessen beinahe ausschließlich im Rahmen von Überlegungen zur Bildung Heinrichs von dem Türlin und seiner dichterischen Selbstinszenierung.15 In solchen Zusammenhängen wurde Heinrich verschiedentlich eine im Vergleich zu anderen volkssprachigen Autoren Deutschlands und Frankreichs außergewöhnlich genaue Kenntnis lateinischer Bildungsinhalte attestiert und darauf hingewiesen, dass er ganz offensichtlich unmittelbar aus lateinischen Quellen ohne Vermittlung über volkssprachige Referenzwerke schöpfe.16 Andererseits wurde aber auch betont, dass Heinrichs Rückgriffe auf lateinische Prätexte mitunter von Verwechslungen, Fehlern und »philologischen Ungenauigkeiten« zeugten.17 Insgesamt wertet die Forschung die Integration lateinischen Wissens in die ›Crône‹ eher als oberflächliche Ausstellung von Gelehrsamkeit, denn als eigenständige Ebene intertextueller Sinnkonstitution.18 Ent-

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die Zusammenschau KNAPPS unterzieht MANFRED KERN (Die Tropfen vom Helikon. Zur Anspielungsrezeption der antiken Mythologie in der deutschen höfischen Lyrik und Epik von 1180–1300 [Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 135], Amsterdam/Atlanta 1998, S. 283– 306) die Erwähnung der Parzen (›Crône‹, vv. 275–313) im Zusammenhang mit der Einführung der Artus-Figur, die Beschreibung des Wandteppichs, den die Schwester Ginovers, Königin Lenomie, anlässlich des die Handlung eröffnenden Weihnachtsfestes aus Alexandria an den Artushof schickt (›Crône‹, vv. 520–567), sowie die Integration von antiken Exempelfiguren in die Klagen des Artushofes um die entführte Ginover (›Crône‹, vv. 11519–607) einer genaueren Untersuchung. Mit den »quasi-göttlichen Lenkungsinstanzen« (Vrou Sælde und Vrou Nature) der ›Crône‹ und deren Bezug zum ›Anticlaudianus‹ beschäftigt sich CHRISTOPH HUBER, Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklære, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Mügeln und Johannes von Tepl (MTU 89), Zürich/München 1988, S. 370–373. Einzelstellen sammelt außerdem WERNER FECHTER, Lateinische Dichtkunst und deutsches Mittelalter. Forschungen über Ausdrucksmittel, poetische Technik und Stil mittelhochdeutscher Dichtungen (Philologische Studien und Quellen 23), Berlin 1964, vgl. hier insbesondere S. 23–25, 33, 56, 65. Eine Ausnahme bildet in jüngerer Zeit NICOLA KAMINSKI (»Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt«. Abgründiges Erzählen in der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005, hier S. 14–16), die Parallelen zwischen dem zu Beginn der ›Crône‹-Handlung auftretenden Boten des Meerkönigs Priure und dem als Negativexempel für eine unausgewogene Dichtung gestalteten Mischwesen, mit dem Horaz seine ›Ars poetica‹ eröffnet, zieht. Vgl. dazu unten. Vgl. z.B. FRITZ PETER KNAPP [Anm. 14], S. 161–163, der gleichermaßen auf sprachliche (etwa den Gebrauch von lateinischen Flexionsendungen der Kasus obliqui auch der dritten Deklination) und inhaltliche (Namen, die Heinrich als einziger volkssprachiger Autor zitiert) Besonderheiten, die eine solche Annahme nahelegen, aufmerksam macht. Zusammenstellungen solcher Fehler und Abweichungen sowie eine Diskussion möglicher Ursachen bieten FRITZ PETER KNAPP [Anm. 14] und MANFRED KERN [Anm. 14]. FRITZ PETER KNAPP [Anm. 14], dessen Überlegungen in diesem Zusammenhang immer noch den Stand der Forschung repräsentieren, spricht von »antikisierendem Flitterkram« (S. 163) und gesteht

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sprechend fehlt es bisher sowohl an einem Überblick über die zahlreichen Anspielungen und Bezugnahmen auf gelehrtes Wissen wie das Spektrum der eingespielten antiken oder mittellateinischen Prätexte und – was deutlich schwerer wiegt – Untersuchungen zur Funktionalisierung dieser Rückgriffe im literarischen bzw. narrativen Kontext. Zu fragen wäre etwa, ob sich im Umgang mit lateinischen Prätexten grundsätzlich andere Verfahren der Integration dokumentieren als im Umgang mit der eigenen Erzähltradition, oder ob Wissen gelehrt-lateinischer Provenienz den gleichen voraussetzungsreichen Prozessen der Transformation, Neubewertung oder gar Durchstreichung und Brechung unterworfen ist, wie sie für intertextuelle Bezugnahmen auf deutsch- oder französischsprachige Vorbilder beobachtet wurden.19 Dahinter stünde dann aber letztlich die Frage, ob in der ›Crône‹ neben der volkssprachigen Literatur Deutschlands und Frankreichs auch lateinische Prätexte zum Gegenstand einer im intertextuellen Spiel geführten poetologischen Auseinandersetzung werden. Eine erste Antwort auf diese Frage soll im Folgenden entlang eines Beispiels aus der Eingangspassage des Romans skizziert werden. Die Handlung der ›Crône‹ setzt mit dem Weihnachtsfest am Artushof ein: Als die Gesellschaft nach einem Turnier in festlicher Runde beieinander sitzt und eine âventiure herbeisehnt, naht diese alsbald in Gestalt eines fischschuppigen Ritters. Im Auftrag des Meerkönigs Priure initiiert dieser eine Tugendprobe, bei der alle Mitglieder des Hofes aufgefordert sind, aus einem Becher zu trinken, aus dem nur derjenige zu trinken vermag, der ohne valsch ist. Die Schilderung der Trinkversuche der Artusritter und ihrer Damen bietet die Möglichkeit, Kernmotive und Probleme vorangegangener Romane wie z.B. Parzivals Frage- oder Iweins Fristversäumnis zu aktualisieren. Entsprechend wurde die Fülle an intertextuellen Bezügen stets als besonderes Kennzeichen dieser Eingangsaventiure hervorgehoben und die Funktion der Episode vor allem in der Verortung der ›Crône‹ in der Gattungstradition gesehen.20 Gegenstand der Auseinandersetzung wird in diesem Zusammenhang auch die ambivalente Figur des Truchsessen Keie und seine problematische Stellung am Artushof. Diese ist in der literarischen Tradition einerseits geprägt durch dessen Hofamt, in dem seine herausragende gesellschaftliche Position gründet. Andererseits prangert Keie in der Rolle des Spötters

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lediglich dem Umgang mit den allegorischen Figuren Natura und Fortuna (Saelde) auch eine Ebene inhaltlicher Auseinandersetzung mit den gelehrten Prätexten zu. Vgl. oben Anm. 12. Einen Überblick über die literarischen Anspielungen der Becherprobe bietet CHRISTOPH CORMEAU [Anm. 12], S. 165–216. Zur Funktionalisierung intertextueller Bezugnahmen in den Tugendproben der ›Crône‹ vgl. MATTHIAS MEYER, Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretation und poetologische Untersuchung zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts (GRM, Beihefte 12), Heidelberg 1994, S. 74; HARTMUT BLEUMER [Anm. 12], S. 257–259; PETER STEIN [Anm. 11], S. 42; ANDREAS DAIBER, Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen im ›Biterolf und Dietleib‹ sowie am Beispiel Keies und Gaweins im ›Lanzelet‹, ›Wigalois‹ und der ›Crône‹ (Mikrokosmos 53), Frankfurt am Main u.a. 1999, S. 170; JUSTIN VOLLMANN [Anm. 11], S. 151–175.

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oder quatspraeche immer wieder schonungslos die Defizite aller anderen Hofmitglieder an und wird mit seinen normverletzenden Reden zur inneren Herausforderung der Gesellschaft. Während nämlich Bedrohungen von außen beseitigt werden können, indem Aggressoren von den ritterlichen Exponenten des Artushofes besiegt und anschließend in die Gesellschaft integriert werden, bleibt die innere Verunsicherung durch Keie, der als Truchsess ja selbst zu den wichtigsten Exponenten dieser Gesellschaft gehört, dauerhaft bestehen.21 Ganz in diesem Sinne tritt Keie auch in der Becherprobe der ›Crône‹ als Herausforderer auf: Im Verlauf der Probe scheitern mit Ausnahme des Königs nacheinander alle Mitglieder des Hofes und werden deswegen von Keie unerbittlich mit Spott überzogen. Als sich dann erwartungsgemäß dessen eigene amie, wie zuvor schon alle anderen Damen des Hofes, mit Wein begießt, wird der Truchsess seinerseits vom erbosten Ritter Greingadvan verspottet.22 In dem unmittelbar an diese Schimpfrede anschließenden Erzählerkommentar reagiert der Erzähler auf Greingadvans Kritik und setzt sich mit der feindseligen Genugtuung auseinander, mit der der Artusritter dem Scheitern der âmie des Truchsessen begegnet. Gleichzeitig weist die Auseinandersetzung des Erzählers aber auch über diesen konkreten Handlungszusammenhang hinaus auf ähnliche Streitgespräche in früheren Romanen und damit auf den Umgang mit der Keie-Figur in der vorangegangenen Romantradition insgesamt. Denjenigen, die Keie Boshaftigkeit unterstellen oder unterstellt haben, hält der Erzähler entgegen, dass allein die Zugehörigkeit zum Artushof seine Integrität außer Frage stelle: Swie Key wær ein schaure Vnd an allen dingen zuhtlos, Da mit er doch niht verlos Seins adels herschaft, Wan er was so manhaft, 21

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Zur Keie-Figur in der ›Crône‹ und der vorangegangenen Romantradition vgl. JÜRGEN HAUPT, Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman (Philologische Studien und Quellen 57), Berlin 1971; BERNDT VOLKMANN, Costumiers est de dire mal. Überlegungen zur Funktion des Streites und zur Rolle Keies in der Pfingstfestszene in Hartmanns ›Iwein‹, in: bickelwort und wildiu maere. Festschrift für EBERHARD NELLMANN zum 65. Geburtstag, hrsg. von DOROTHEE LINDEMANN, BERNDT VOLKMANN, KLAUS-PETER WEGERA (GAG 618), Göppingen 1995, S. 95–108; ANDREAS DAIBER [Anm. 20]; FRANZISKA WENZEL, Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns ›Iwein‹, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur, hrsg. von BEATE KELLNER, LUDGER LIEB, PETER STROHSCHNEIDER (Mikrokosmos 64), Frankfurt am Main u.a. 2001, S. 89–109; MARTIN BAISCH, Welt ir: er vervellet; / Wellent ir: er ist genesen! Zur Figur Keies in Heinrichs von dem Türlin ›Die Crône‹, in: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, hrsg. von MARTIN BAISCH u.a. (Aventiuren 1), Göttingen 2003, S. 149–173; CHRISTIANE SCHONERT, Figurenspiele. Identität und Rollen Keies in Heinrichs von dem Türlin ›Crône‹ (Philologische Studien und Quellen 217), Berlin 2009; JUSTIN VOLLMANN [Anm. 11], S. 166–168, versteht Keie als Hauptfigur der Tugendproben. Vgl. ›Crône‹, vv. 1464–85.

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Daz er dehein vreise schauhte, Div in ze starch dauhte, Ern getörst sei vil wol bestan, Swie im gelung dar an. Ouch mügt ir wol wizzen, Seit sich so gar gevlizen Artus het an tvgende Vnd sein rein ivgende Selch gesind het erwelt, Daz dehein chrench an valsch entwelt, Sine warens alle svnder, Wie möht er dar vnder Dehein weil sein genesen, Wær er also arch gewesen, Sam maniger von im hat geseit? Ditz ist div warheit, Daz er spotes gerne phlak Vnd sein ze nieman bewak. 23 Daz was an im der maiste slak. (›Crône‹, vv. 1521–44)

Vorbereitet wird diese den Kommentar abschließende explizite Rechtfertigung Keies in einer vorgeschalteten Passage, die als dichte und zunächst eher assoziativ wirkende Abfolge von Sentenzen und Sprichwörtern mit sich zum Teil überlagernder Bildlichkeit gestaltet ist, die insgesamt nur lose miteinander und mit dem narrativen Kontext verbunden zu sein scheinen: Swer daz hor vnd den mist Rüeret, daz ervulet ist, Der vindet niht wan stanch. Ouch gewinnet er sein selten danch Der durch ein swachen dvz Die wefs vnd den hornvz Von seinem amt stœret. Swer vngern hœret Keches hvndes pellen, Der sol im gehellen Vnd sol niht mit der rahen Jn stundelichen wider slahen. Da von meret sich schal. Swer in sleht, daz er bal, Von einem slag er ergillet Vnd doch immer billet, Danne er vor tæte Vnd ist daz an stæte, 23

Zitiert nach der Ausgabe: Heinrich von dem Türlin, ›Die Krone‹ (Verse 1–12281), nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von ALFRED EBENBAUER, KLAUS ZATLOUKAL, HORST P. PÜTZ hrsg. von FRITZ PETER KNAPP, MANUELA NIESNER (ATB 112), Tübingen 2000.

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Wan er ist gereizet. Swer den argen heizet Nah werlticher tugent leben, Dem ist an eiter vergeben, Wan ez nimmer mak gesein. Jr sehet wol, wazer vnd wein, Die gebent vngleichen smach. Sam tuot naht vnde tak. Div gebent vngleichez lieht, Als man alle tage sieht. Swes der vogel wont von neste Vnd swaz wazzers der teste Wider erst gewinnet, Des smaches im zerinnet Nimmer mer vürbaz. Gewonheit wirt nimer laz. Si greiffet vür nature. (›Crône‹, vv. 1486–520)

Die Bedeutung dieser Passage ist nicht ohne weiteres zu erschließen. Ihre argumentative Relevanz gewinnen die proverbialen Redeformen nämlich nicht in einer inhaltlichen Sukzession der Einzelaussagen, sondern erst vor dem Hintergrund der intertextuellen Bezüge, die sie zu literarischen Prätexten, aber auch zur gelehrten Wissenstradition herstellen. Erst auf dieser Ebene wird schon im ersten Kommentarteil der öffentliche Umgang mit Menschen, die sich u.a. mit verbaler Aggression gegen die Gesellschaft richten, als leitendes Thema etabliert und anschließend in verschiedenen Bildern oder Metaphern ausgefaltet. Problematisiert werden schon hier nicht – wie man vor dem Hintergrund der deutschsprachigen Artustradition vielleicht zunächst vermuten könnte – Keies normenverletzende Reden, sondern die Reaktionen, die diese bei den anderen Hofmitgliedern provozieren. Der gesellschaftliche Konflikt und die Störung der Ordnung werden nicht allein demjenigen angelastet, der gegen Verhaltenskonventionen verstößt, sondern es wird ganz explizit Kritik an denen geübt, die dem abweichenden Verhalten nicht mit der nötigen Gelassenheit entgegentreten und ein normenkonformes Verhalten erzwingen wollen. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die intertextuelle Bezugnahme auf ein ganz ähnliches Streitgespräch in Hartmanns von Aue Artusroman ›Iwein‹. Auch dort wird Keie wegen seiner Schmähreden zurechtgewiesen und dabei vom Ritter Kalogrenant mit stinkendem Mist und mit der Angriffslust von Hummeln und Hornissen verglichen (›Iwein‹, vv. 207–210). Obwohl die Übernahme von Handlungszusammenhang und Bildlichkeit das literarische Zitat deutlich markiert und damit den ›Iwein‹ als Prätext einspielt, semantisiert Heinrichs Text die vorgegebene Bildlichkeit doch um, indem er auf proverbiales Wissen gelehrt-lateinischer Provenienz zurückgreift. In seinem Entwurf einer an christlichen Maßstäben orientierten Gesellschaftsordnung schließt nämlich Augustinus die Ausführungen über die Geduld Gottes gegenüber den schlechten Menschen mit dem Proverbium vom ›Dreck, der stinkt, wenn er gerührt

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wird‹ (Nam pari motu exagitatum et exhalat horribiliter caenum et suauiter fragat unguentum24) ab. Den guten Menschen, die kein Verständnis für diese Nachsicht zeigen, wird erklärt, dass Gott nicht jede Sünde offensichtlich strafe, um auch den Verdorbenen einen Anreiz und Möglichkeit zur Besserung zu geben. Eine öffentliche Zurechtweisung könne diese dagegen noch verstockter machen und damit ihr eigentliches Ziel verfehlen.25 Auch im weiteren Verlauf wird die Rechtfertigung Keies im intertextuellen Rekurs auf gelehrte Themen und Wissensinhalte vorbereitet. Die argumentative Überleitung zur expliziten Verteidigung des Truchsessen und seiner Position am Artushof bildet nämlich abermals ein Sprichwort gelehrt-lateinischer Provenienz – ›Das Gefäß riecht dauerhaft nach seiner ersten Füllung‹. In seiner bis in die Frühe Neuzeit geläufigen Form zuerst belegt ist dieses Proverbium bei Horaz und Quintilian, über die Kirchenväter Augustinus und Hieronymus findet es Eingang in die frühchristliche Schrifttradition, in der lateinischen Bildungswelt – speziell in Briefliteratur und Lehrdichtung – war es verstärkt seit dem 12. und 13. Jahrhundert präsent. Heinrich von dem Türlin bietet den deutschen Erstbeleg, im Anschluss daran bleibt es im Deutschen bis ins 16. und 17. Jahrhundert gattungs- und diskursübergreifend in Gebrauch.26 Die thematischen Zusammenhänge, in denen das Gefäß-Sprichwort üblicherweise verwendet wird, sind klar konturiert. Nahezu alle Belege stehen im Zusammenhang mit grundsätzlichen Überlegungen zur persönlichen wie intellektuellen Entwicklung des Menschen und den ganz konkreten Folgerungen, die sich daraus für den Umgang mit Kindern und jungen Menschen ergeben. Indem nämlich das Wissen um die Nachhaltigkeit oder gar Irreversibilität früher Prägungen, wie es in der Gefäß-Metapher gefasst ist, im Sprichwortgebrauch als basale Verständigungsbasis vorausgesetzt ist, werden Kindheit und Adoleszenz als Lebensphasen von besonderer Relevanz für das gesamte spätere Leben positioniert. Daraus abgeleitet werden kann dann die Notwendigkeit, diesen Lebensphasen angemessene Bildungsinhalte und Erziehungspraktiken zu finden, die eine optimale Entwicklung sicherstellen und Fehlentwicklungen 24

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›De civitate Dei‹, I, 8–9. Zitiert nach der Ausgabe: Sancti Aurelii Augustini, De civitate dei, 2 Bde., hrsg. von BERNHARD DOMBART, ALFONS KALB (Corpus Christianorum. Series latina 47/48) (Aurelii Augustini Opera 14,1/2), Turnhout 1955. Vgl. dazu ausführlich und mit weiterer Literatur: SILVIA REUVEKAMP, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin/New York 2007, S. 33– 36, S. 158–163. Zur Tradition des Sprichworts vgl. Thesaurus Proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begründet von SAMUEL SINGER, hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Berlin/New York 1995–2001, Bd. 4, Gefäß 5.5; Proverbia sententiaque latinitatis medii aevi. Lateische Sprichwörter und Sentenzen des Mittelalters in alphabetischer Anordnung, Teil 1–6 (Nr. 1–34283) gesammelt und hrsg. von HANS WALTHER, Teil 7 und 8 (Nr. 34284–9363, b6) aus dem Nachlass hrsg. von PAUL GERHARDT SCHMIDT (Carmina medii aevi posterioris latina II), Göttingen 1963–1983, Nr. 25711; Nr. 25948.

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ausschließen. Wie eine in diesem Sinne vorbildliche Ausbildung und Erziehung entworfen wird, divergiert dann zwar in den einzelnen Verwendungen zum Teil sehr deutlich, insgesamt fungiert das Sprichwort im lateinischen Bereich aber gleichsam als Klammer eines differenzierten Bildungsdiskurses, der die immense Bedeutung der frühkindlichen Ausbildung für spätere Lernerfolge sowie die moralische Entwicklung des Menschen fokussiert.27 Dahinter steht die ebenso komplexe wie grundsätzliche Frage, was den Menschen ausmacht und wie seine Entwicklung verläuft. Für diesen zentralen Bereich anthropologischer Betrachtung bietet das Sprichwort ein Deutungsangebot und Erklärungsmodell, das auf eine Unterscheidung und sogar Hierarchisierung der Faktoren zielt, die die Entwicklung des Menschen determinieren. Das Bild von der Füllung eines neuen Gefäßes richtet den Blick nämlich auf die Einwirkung der Umwelt auf junge Menschen und schreibt damit kindlicher Erfahrung und Erziehung einen mindestens ebenso großen Stellenwert für die Prägung eines Menschen zu wie den natürlichen Anlagen (im Sinne genetischer Dispositionen). Von dem damit skizzierten üblichen Gebrauch unterscheidet sich die Aktualisierung des Gefäß-Sprichworts in der ›Crône‹ allerdings nicht unerheblich. Hier geht es ja nicht im eigentlichen Sinne darum, einen Bildungsdiskurs aufzurufen und inhaltlich zu entfalten. Vielmehr setzt Heinrich das mit dem Sprichwort verbundene Wissen über die Bedeutung (frühkindlicher) Prägung voraus und wendet es auf eine sekundär damit verbundene Problemstellung (gesellschaftlicher Umgang mit menschlichen Defiziten) an. In den Fokus gerät nicht, wie sonst üblich, vorausschauend die unbedingte Notwendigkeit, Fehlentwicklungen bei der Erziehung zu vermeiden, sondern die Schwierigkeiten des Umgangs mit und der Bewertung von bereits offen zutage tretenden menschlichen Defiziten. Damit wird nicht nur ein anderer Bereich des Wissens über den Menschen angesprochen, auch die argumentative Funktion des Sprichworts wird rhetorisch geschickt verschoben. Das Wissen um die große Bedeutung, die der Umwelt bei der Prägung des Menschen zukommt, wird nun zum entscheidenden Argument für eine 27

Auffällig ist bei all dem, wie konkret und detailliert die Verhandlungen über Bildung und Erziehung im Einzelnen ausfallen können. Schon Quintilian (›Institutiones oratoriae‹, I,1–20) begründet ausführlich, warum Ausbildung von größerer Bedeutung für die intellektuelle Entwicklung von Kindern ist als natürliche Begabung, und erläutert kleinschrittig, wie ein förderliches soziales Umfeld aus seiner Sicht zu gestalten wäre (sprachlich versierte Ammen und Spielkameraden, gebildete Eltern und Betreuer), bevor er ebenso detailreich diskutiert, mit welchen Lerninhalten kleine Kinder zuerst konfrontiert werden sollten, ab welchem Alter eine gezielte Schulung überhaupt beginnen kann und wie die Motivation gerade kleinerer Kinder zu erhalten ist. Auch Hieronymus (Briefe, 107, ›Ad Laetam de Institutione Filiae‹) entwirft ein äußerst differenziertes Programm christlicher Mädchenbildung. So empfiehlt er u.a., dem Kind Buchstaben aus Holz oder Metall als Spielzeug anfertigen zu lassen und ihm den Klang der Laute in einem kleinen Lied zu vermitteln, das immer wieder verändert werden muss. Das Schreiben soll das Mädchen an den Namen der Apostel und wichtiger biblischer Figuren erlernen, um von Beginn an wichtige Lernstoffe miteinander zu verbinden (wobei gleichzeitig auch auf eine korrekte motorische Führung des Schreibgerätes zu achten sei).

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gesellschaftliche Verantwortlichkeit gegenüber charakterlichen Fehlentwicklungen Einzelner und die Verpflichtung eines respektvollen Umgangs auch mit dem Defizitären. Vorgeprägt ist dieser ungewöhnliche Gebrauch des Gefäß-Sprichworts in einem Brief Ivos von Chartres (*um 1040) an Johannes Roscelin (*um 1050, frz. Dogmatiker, Philosoph und Theologe, Lehrer von Abaelard). In einem ganz ähnlichen thematischargumentativen Kontext diskutiert Ivo in diesem Brief die Schwierigkeiten einer Rückkehr Roscelins nach Chartres, der wegen seiner Kritik an der Trinitätslehre zunächst England und dann auch Frankreich hatte verlassen müssen. Problematisch sei eine Rückkehr vor allem deswegen, weil man ihm nachsage, dass er, obwohl er seiner Irrlehre offiziell abgeschworen habe, frühere Positionen weiterhin öffentlich vertrete. Deswegen könne man diejenigen verstehen, die ihm aufgebracht und aggressiv begegnen, auch wenn Ivo für sich selbst einen nachsichtigeren Umgang mit dem Querulanten für sinnvoll erachte. Für den Fall einer Rückkehr gibt er Roscelin folglich zu bedenken, dass sich die Aufmerksamkeit vieler Mitbürger statt auf die Verbesserung des eigenen Verhaltens überwiegend auf ihn richten werde: Si ergo ex hac occasione te afflixit, et rebus tuis nudavit quorumdam violentorum rapax avaritia, non hoc ex se fecit injusta eorum viotentia, sed justa et correctioni [correptioni] tuæ consulens Dei sapientia, faciens etiam per malos, quamvis nescientes, bona sua, eujus vestem scindere conabaris rationibus humanis armata, sed tamen infecunda facundia. Cum vero multis exemplis ethici tractatoris veram constet esse sententiam: Quo semel est imbuta recens servabit odorem Testa diu. (Horatius, lib. 1, epist., 3) non tamen propter me timerem vel horrerem præsentiam tuam, de te sperans meliora et saluti viciniora. Sed quidam cives nostri ad cognoscendam vitam alienam curiosi, quamvis ad corrigendam suam desidiosi, te quidem odibilem, 28 me vero propter te suspectum haberent.

Die Übereinstimmungen der im Vergleich zum üblichen Gebrauch ungewöhnlichen Kontextualisierung und argumentativen Funktionalisierung des Sprichworts sind so auffällig, dass man wohl davon ausgehen muss, dass Heinrich von dem Türlin sich in der Gestaltung seines Erzählerkommentars unmittelbar am Brief Ivos von Chartres orientiert hat.29 Zusätzlich an Evidenz gewinnt diese Überlegung dann, wenn man bedenkt, dass die Briefe Ivos seit dem 12. Jahrhundert auch in Deutschland als Musterbriefe im Schulunterricht breite Verwendung fanden.30 Damit bietet diese Bezugnahme 28

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Ivo von Chartres, Epistolae 7 (An Roscelin). Zitiert nach: Patrologiae cursus completus. Series latina, Bd. 162, hrsg. von JACQUES-PAUL MIGNE, Paris 1889, 17 C. Die besondere Nähe zum Lateinischen wird auch in der sprachlichen Gestaltung der Stelle markiert. Heinrich wählt eine im Deutschen ansonsten ungebräuchliche Formulierung, wenn er für das Gefäß, das üblicherweise als ›haven‹, ›schale‹ oder ›vaz‹ bezeichnet wird, ›testa‹ entlehnt und damit wörtlich an die der horazischen Wortwahl folgende lateinische Formulierungstradition anknüpft, die auch im Brief Ivos zitiert wird. ›teste‹ gilt als ältester Beleg für das Lehnwort zu lat. ›testa, testu(m)‹ oder afrz. ›test‹, das auch später nur selten belegt ist (vgl. den Stellenkommentar in der Ausgabe von FRITZ PETER KNAPP und MANUELA NIESNER [Anm. 23], S. 52; GUDRUN FELDER [Anm. 11], S. 84). Von Ivo sind fast 300 Briefe in Sammlungen oder als Einzelexemplare v.a. in Handschriften aus dem 12. Jahrhundert überliefert. Verbreitung fanden die Sammlungen insbesondere in Frankreich,

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aber ein sehr eindrucksvolles Beispiel für die Komplexität intertextueller Verfahren in der ›Crône‹ insgesamt und die Relevanz lateinischer Prätexte im Besonderen. Die Funktion der Becherprobe wurde in der Forschung zur ›Crône‹ – wie oben beschrieben – vor allem darin gesehen, die Besonderheiten des eigenen Erzählens vor dem Hintergrund der als bekannt vorausgesetzten Romantradition zu konturieren. Mit der Gestaltung der Keie-Figur und deren Position innerhalb der Artusgesellschaft greift Heinrich im hier näher beleuchteten Erzählerexkurs ein für das Gesellschaftsmodell des Artusromans zentrales Problemfeld heraus, an dem textübergreifend gearbeitet wird. An diese »Diskussion« schließt Heinrich an, indem er einerseits einen gängigen Situationstyp aufgreift (Keie verspottet Mitglieder des Hofes wegen ihrer Defizite und wird in dem Moment, in dem sich die Gelegenheit dazu bietet, deswegen zurechtgewiesen) und andererseits markiert durch Motiv- und Bildzitate einen konkreten Bezug zu Hartmanns ›Iwein‹ herstellt. Die mit der Keie-Figur verbundene Frage, wie die Artusgesellschaft mit Aggression umgeht, die nicht – etwa in Form von Kampf oder âventiure – von außen an den Hof dringt, sondern in ihrem Inneren entsteht, verhandelt der Text dann allerdings im Rekurs auf verschiedene Prätexte gelehrt-lateinischer Provenienz, die sich dem gleichen Thema mit unterschiedlicher Akzentuierung widmen und deren Kenntnis ebenfalls vorausgesetzt wird. In Augustinus’ Entwürfen einer gottgefälligen Gesellschaftsordnung wird den Menschen nahegelegt, die Defizite anderer im Vertrauen auf die göttliche Gerechtigkeit anzunehmen und deren destruktive Kraft nicht durch zusätzliche Aggression zu vermehren. Ivo von Chartres beschreibt demgegenüber eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der diejenigen, die ihre Meinung gegen die gemeinschaftliche Überzeugung stellen, gerade von denen verfolgt werden, die die eigenen Defizite zu verdecken suchen. Zu erwägen wäre, ob dieser gedankliche Horizont noch durch einen weiteren intertextuellen Bezug fortgeführt wird. Direkt an das Sprichwort vom Gefäß, das dauerhaft nach seiner ersten Füllung riecht, wird die im Sprichwort sedimentierte Idee, dass der Mensch mehr durch die Einflüsse seiner Umgebung geprägt wird, denn durch natürliche Dispositionen, in einer präskriptiven Sentenz noch einmal pointiert: Gewonheit wirt nimer laz. / Si greiffet vür nature. (›Crône‹, vv. 1519f.)31 In einer ganz ähnlichen Formulierung findet sich dieser Gedanke zuvor aber

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aber auch in Deutschland, England und Italien. Indizien sprechen dafür, dass Ivo noch zu Lebzeiten begonnen hat, seine Korrespondenz nach thematischen Interessen geordnet zusammenzustellen. In jedem Fall sind aber spätestens kurz nach seinem Tod zwei große Sammlungen angelegt worden, die binnen kurzer Zeit so viele Abschriften erfuhren (bis heute sind 150 davon erhalten), dass sie zu den wichtigsten Briefkompendien des gesamten Mittelalters zählen. Vgl. CHRISTOF ROTHER, Canon Law and the Letters of Ivo of Chartres, Cambridge 2010; Theologische Realenzyklopädie, in Gemeinschaft mit HORST ROBERT BALZ hrsg. von GERHARD MÜLLER, Bd. 16: Idealismus – Jesus Christus IV, Berlin/New York, S. 422; Yves de Chartres, Correspondance, hrsg. von JEAN LECLERCQ, Bd. 1 (1090–98) (Les classiques de l’histoire de France du moyen âge 22), Paris 1949, S. XVII–XXXIX. Zur Thematisierung der Natur in der volkssprachigen Literatur vgl. KLAUS GRUBMÜLLER, Natûre ist der ander got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter, in: Natur und Kultur in der deutschen Lite-

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bereits in der ›Alexandreis‹ des Walter von Châtillion: Consuetudo potens natura fortior ipsa32 und zwar ebenfalls im Kontext einer Diskussion um den gesellschaftlichen Umgang mit menschlichen Defiziten. Nachdem Alexander nämlich die Stadt Persepolis besiegt und geschleift hat, begegnet ihm eine große Gruppe griechischer Kriegsgefangener, die in der Stadt grausam misshandelt und verstümmelt worden sind. Diesen bietet Alexander an, sie entweder in Persien mit Land und materieller Ausstattung zu versorgen oder ihnen eine Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. Daraufhin entspinnt sich eine Diskussion zwischen den von Krieg und Gefangenschaft sowohl körperlich als auch seelisch Versehrten, ob bei einer eventuellen Rückkehr nach Griechenland eine Reintegration in die Gesellschaft überhaupt möglich sei. Theseus, der die Auffassung vertritt, dass die Leiden doch nur von außen durch die Gewalt der Perser gewirkt habe, man zu Hause aber das eigentliche Wesen der Männer erkennen und über die Entstellungen hinwegsehen werde, kann sich nicht durchsetzen und so beschließen die Befreiten, in Persien zu bleiben.33 Wie schon bei Augustinus und Ivo wird also auch hier – wiederum mit einer anderen Akzentuierung – mit gesellschaftskritischem Impetus die Neigung menschlicher Gemeinschaften zur Ausgrenzung des Defizitären und zur kollektiven Überhebung über den Stigmatisierten verhandelt. Damit stellt Heinrich seine Auseinandersetzung mit der Keie-Figur und ihrer literarischen Tradition in den Horizont gelehrten Wissens über den Menschen und die Dynamiken menschlicher Vergesellschaftung. Etabliert wird über diese Bezüge eine ganz eigene Ebene gesellschaftskritischer Betrachtung, die in einen ironischen Kontrast zum sich unmittelbar anschließenden hyperbolischen Lob der Artusgesellschaft gerät.34 All dies zeigt aber, wie gezielt intertextuelle Bezugnahmen auf gelehrt-lateinische Prätexte zum Instrument einer poetologischen Sinnstiftung werden. Heinrich verfügt nicht nur selbstverständlich über gelehrtes Wissen unterschiedlicher Diskurse, sondern legt es auch einer ganz eigenständigen Perspektivierung seiner Beschäftigung mit der volkssprachigen Erzähltradition zugrunde. Solchen Beobachtungen werden bis in die aktuelle Forschungsdiskussion hinein vertretene Positionen, die gerade die Unbeholfen-

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ratur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997, hrsg. von ALAN ROBERTSHAW, GERHARD WOLF, Tübingen 1999, S. 3–17; UDO FRIEDRICH, Die Ordnung der Natur. Funktionsrahmen der Natur in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters, in: Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes Marburg, 14.–17. März 2001, hrsg. von PETER DILG, Berlin 2003, S. 70–83. Walter von Châtillion, ›Alexandreis‹, VI,292, zitiert nach der Ausgabe: Galteri de Castellione ›Alexandreis‹, hrsg. von MARVIN L. COLKER (Thesaurus Mundi 17), Padua 1978. Vgl. Walter von Châtillion ›Alexandreis‹, VI,196–296. Letztlich wird im ersten Teil des Erzählerkommentars die Bewertung der Keie-Figur an die der Artusgesellschaft gebunden. Keie kann nur so gut bzw. so schlecht sein, wie ihn sein Umfeld hat werden lassen. Die unterstellte gegenseitige Abhängigkeit wird dann im zweiten Kommentarteil im Zusammenhang des hyperbolischen Lobs der Artusgesellschaft ironisch für eine Rechtfertigung Keies ausgespielt.

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heit im Umgang mit lateinischen Bildungsinhalten zum Spezifikum volkssprachigen Erzählens erklären wollen, nicht gerecht: Das Anziehen von Bildungsgütern aus ganz anderem Kontext ist gelegentlich so unorganisch, die aufgesteckten Federn der Belesenheit so fremd und ihr Gebrauch noch so wenig kodifiziert, daß ein hybrider, wenn nicht gar unfreiwillig komischer Effekt entstehen kann: In dieser Situation ist für den Leser – damals wie heute – kaum zu entscheiden, wo Ironie, wo ernstge35 meinte Putzsucht vorliegt.

Ganz im Gegenteil scheint es angezeigt, lateinische Prätexte sehr viel systematischer als bisher geschehen in Analysen zur Intertextualität des Artusromans einzubeziehen und gezielt nach den Strategien ihrer Retextualisierung und Perspektivierung zu fragen. Für die ›Crône‹ – dafür ließen sich die Beispiele ganz mühelos mehren – ist eine »Intertexualität des Wissens«, die Fremdtextverweise so inszeniert, dass Wissen aus unterschiedlichen Bildungssphären und literarischen Traditionen strategisch verknüpft, amalgamiert und mitunter auch gegeneinander ausgespielt wird, eines der prägenden poetischen Verfahren, das Heinrich eventuell auch allegorisch ins Bild setzt. NICOLA KAMINSKI36 hat vor einiger Zeit einen Bezug zwischen dem sehr merkwürdig gestalteten fischschuppigen Boten, der zu Beginn der ›Crône‹-Handlung an den Artushof kommt37 und dort die Becherprobe initiiert, und dem monströsen mixtum compositum hergestellt, mit dem Horaz seine ›Ars poetica‹ beginnt.38 Verstünde man den Boten im 35

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SONJA GLAUCH, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens (Studien zur historischen Poetik 1), Heidelberg 2009, S. 15. NICOLA KAMINSKI [Anm. 15], S. 13–17. Vnder deu hort man singen / Ein riter gen dem chastel / Einr stimme, div waz hel, / Süez und pleine / Als einr Syreine. / Der dar ze hove het gedaht / Vnd in aventivre braht, / Der erpaizt vor dem palas. / […] / Der riter, der was chomen, / Als ich die rede han vernomen, / Der schein des leibes starch kranch / Vnd was wol als lanch / Sam ein chint von sehs iaren. / Seiniv chleider waren / Wol bewart an dem snit / Nah der franzoiser sit. / Daz was ein chapp von scharlat; / Dar vnder het er reich wat / Von einem tivrn plyalt. / Sein antlütz was niht gestalt / Sam ander anplike. / Sein vel, daz was dike / Erwachsen von squamen. / Mir ist von seinem namen / Niht div warheit chvnt. / Dik, weit was sein mvnt. / Den dachten gran hie vnd da. / Seiniv ougen waren eisgra, / Groz sam ein strauzes ey. / Sein winbra schied entzwai / Breit zweir spanne bloz. / Div nase was churtz vnd groz, / Vorn preit, enmitten flach. / Seins houptes obdach / Was har sam vischflozen. / Jm warn auz gedozen / Zwei orn breit vnd hoch. / Ein vrömdiv varbe überzoch / Swartz, gra vnd ysenvar / Hend vnd antlütz gar, / Oder swa sein iht des leibes blaht, / Daz ez div wat niht daht. / Sein ors, daz was wunderleich / Vnd was starch vngeleich / An gesiht andern rossen. / Nah einr merphossen / Was ez vor satel getan. / Hoh sam ein kastelan, / Hinden als ein delfin. / Daz der zagel solte sein, / Daz warn lang visches gran. / Von langen vlozen was div man / Erwahsen vntz auf div chnie. / Ein blanch varb übervie / Daz ros mit swartzen mailen. / Div begvnden sich tailen / So brait als ein pheninch / Jn die blench, ein swartzer rinch. / Jm warn vüez und pein / Allen viern enden enein / Rauch von gevider / Vntz auf den huof nider / Sam eins adelers vlüge. / Di strachten sich in die büge / Von der adern züge (›Crône‹, vv. 933–1002). Humano capiti cervicem pictor equinam / iungere si velit et varias inducere plumas / undique conlatis membris, ut turpiter atrum / desinat in piscem mulier formosa superne, / spectatum admissi risum teneatis, amici? / credite, Pisones, isti tabulae fore librum / persimilem, cuius, velut aegri

Verborgen schatz und wistuom

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Sinne dieser Parallele tatsächlich als poetologische Reflexionsfigur der eigenen Narration, die verschiedene Erzähltraditionen ebenso zusammenfügt wie Wissen unterschiedlicher Provenienz, müsste man darin allerdings ein sehr selbstbewusstes Treten Heinrichs gegen das horazische Homogenitätsdiktum sehen. So wie der Bote nämlich auf der Handlungsebene trotz oder gerade wegen seiner exzeptionellen Erscheinung souverän die Regie am Artushof übernimmt, demonstriert auch die ›Crône‹ ihre Souveränität erst in der sinnstiftenden Konfrontation des vermeintlich Heterogenen.

somnia, vanae / fingentur species, ut nec pes nec caput uni / reddatur formae. »pictoribus atque poetis / quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.« / scimus, et hanc veniam petimusque damnusque vicissim; / sed non ut placidis coeant inmitia, non ut / serpents avibus geminentur, tigribus agni. / […] / denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum (›Ars poetica‹, 1–23. Zitiert nach der Ausgabe: Horatius Flaccus Quintus, Sämtliche Werke. Lat./dt., 2 Bde., München/Zürich 101985). Übersetzung: ›Ein Menschenhaupt mit Pferdes Hals und Nacken: denkt euch, so schüfe es die Laune eines Malers; dann trüge er buntes Gefieder auf, liehe aus allen Arten die Glieder zusammen; zu unterst wär’s ein häßlich grauer Fisch, und war doch oben als schönes Weib begonnen. Denkt euch, ihr Freunde wärt zur Schau geladen: würdet ihr euch des Lachens erwehren? Im Ernst, ihr Lieben vom Hause Piso, solchem Gemälde sprechend ähnlich wird ein Schriftwerk aussehn, das wie ein Kranker im Fiebertraum unwirkliche Einzelglieder reiht, wo dann nicht Kopf, nicht Fuß zur Einheit, zur Gestalt sich fügen will. »Doch war ja Malern wie Dichtern immer schon das denkbar Kühnste verstattet.« Ganz recht; und diese Freiheit erbitten wir, vergönnen wir uns wechselseitig; doch nicht die Freiheit, Zahmes mit Wildem zu gesellen, Schlangen mit Vögeln zu paaren und Lämmer mit Tigern. […] Kurz und gut, erschaffe, was du willst; nur sei es einartig und aus einem Guß.‹

Kontinuitäten eines »Klassikers« Zur spätmittelalterlichen deutschen Rezeption der ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius von Bernd Bastert

Die ›Consolatio Philosophiae‹, der im ersten Viertel des 6. Jahrhunderts n. Chr. entstandene, kunstvoll strukturierte, prosimetrische lateinische Dialog zwischen der Allegorie der Philosophie und der Figur des trostbedürftigen Boethius, den die Philosophie unter anderem mit neuplatonischen und stoischen Argumenten führt, kann in seiner Bedeutung für die europäische Kultur- und Literaturgeschichte kaum überschätzt werden.1 Davon zeugt die reiche Überlieferung – mehr als vierhundert zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert entstandene lateinische Handschriften und über siebzig bei Druckern aus ganz Europa aufgelegte Inkunabeln sind bislang bekannt – ebenso wie die erstaunlich lange Kommentartradition, die gleichfalls von der Karolingerzeit bis ins ausgehende Mittelalter und in die Frühe Neuzeit reicht.2 Insofern lässt sich im Fall der ›Consolatio Philosophiae‹ zweifellos von einer äußerst erfolgreichen und nachhaltigen kulturellen Kontinuität reden. Deren Zustandekommen und Gelingen ist keineswegs kontingent, sondern verdankt sich unterschiedlichen Transfer- und Adaptationsprozessen, die im Rahmen dieses Beitrags nicht in der gebotenen Ausführlichkeit analysiert werden können, für einen Teilbereich aber wenigstens skizziert werden sollen. Unter einem Transferprozess verstehe ich dabei eine Konstellation, durch die eine Verbindung von Inhalt und Code – etwa eine in einer spezifischen sprachlichen, medi1

2

Maßgebliche lateinische Ausgabe: Boethius, De Consolatione Philosophiae. Opuscula Theologica, hrsg. von CLAUDIO MORESCINI, München/Leipzig 22005; eine deutsche Übersetzung des lateinischen Textes in: Boethius, Trost der Philosophie. Lat./dt., hrsg. und übersetzt von ERNST GEGENSCHATZ, OLOF GIGON (Bibliothek der alten Welt. Reihe Antike und Christentum), Zürich/Stuttgart 2 1969. Eine erste Orientierung über Leben, Nachleben und literarisches Oeuvre des Boethius bietet JOACHIM GRUBER, Boethius. Eine Einführung (Standorte in Antike und Christentum 2), Stuttgart 2011; vgl. auch The Cambridge Companion to Boethius, hrsg. von JOHN MARENBON, Cambridge 2009 sowie A Companion to Boethius in the Middle Ages, hrsg. von NOEL HAROLD KAYLOR JR., PHILIP E. PHILIPPS (Brill’s Companions to the Christian Tradition 30), Leiden 2012. Vgl. zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kommentartradition PIERRE COURCELLE, La consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et postérité de Boèce, Paris 1967; vgl. ebenfalls LODI NAUTA, The Consolation. The Latin commentary tradition, 800–1700, in: MARENBON [Anm. 1], S. 255–278. Einen modernen Sachkommentar bietet JOACHIM GRUBER, Kommentar zu Boethius’ De consolatione Philosophiae (Texte und Kommentare 9), Berlin/New York 2006.

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Bernd Bastert

alen und/oder kulturellen Formation existierende Fassung der ›Consolatio Philosophiae‹ – in einen anderen sprachlichen oder medialen oder kulturellen Zusammenhang überführt wird, wobei die genannten Formationen selbstverständlich zusammenfallen können. Diese Transferprozesse werden stets von Rahmenbedingungen geleitet und strukturiert, die in einem anderen sprachlichen, kulturellen oder medialen Umfeld die Verortung des Transferierten bestimmen und sich das Ergebnis eines Übertragungsprozesses auf unterschiedliche Art und Weise produktiv anverwandeln. Anders als bei (nachrichten)technischen Operationen, bei denen der Inhalt in einen Code verwandelt, also encodiert, und – falls die entsprechenden technischen Potentiale vorhanden sind – durch den Empfänger problemlos decodiert und die Ausgangsbotschaft somit identisch reproduziert werden kann, können bei Transferprozessen aus dem kulturellen, medialen oder auch sprachlichen Bereich Code und Inhalt zwar aus der Beobachterperspektive analytisch unterschieden und beschrieben werden, bilden im Prozess selbst jedoch eine untrennbare, interferente Einheit, die nicht identisch transferierbar und decodierbar ist.3 Eine Übersetzung in eine andere Sprache beispielsweise kann nicht das semantische Spektrum eines Terms, einer Sentenz oder gar eines längeren Vortrags bzw. eines Werkes absolut exakt in die Zielsprache transportieren. Mit der Variation des Codes ändert sich zugleich der Inhalt, eine potentielle Rückübersetzung aus der Zielsprache in die Ausgangssprache wird deshalb niemals völlig identisch sein mit dem ursprünglich transcodierten Objekt. Sprachliche Transfer- oder Transcodierungsleistungen sollen hier allerdings weniger im Fokus stehen als die ähnlich komplexen Prozesse einer kulturellen Transcodierung und die damit einhergehenden Aneignungsprozesse der spätantiken Trostschrift des Boethius. Die ›Consolatio Philosophiae‹, in der Theorien und Schulen der antiken Philosophie dominieren und in der explizit christliche Themen vollständig fehlen, war, wie zahlreiche glossierte Handschriften belegen, im anders konditionierten kulturellen Umfeld des Mittelalters, genau wie weitere antike Werke, ein Text, den man aufgrund seiner vorbildlichen Stilistik und der virtuosen Metrik zu Unterrichtszwecken schätzte und nutzte. Doch das allein erklärt noch nicht die in karolingischer Zeit einsetzende und bis zur Epoche des frühen Buchdrucks reichende äußerst intensive Rezeption samt der unge3

Insofern unterscheidet sich die hier verwendete Transfer- bzw. Transcodierungsvorstellung von derjenigen der mittlerweile gut etablierten Kulturtransferforschung, vgl. zu letzterer MATTHIAS MIDDELL, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch. Das Konzept des Kulturtransfers in verschiedenen Forschungskontexten, in: Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien, hrsg. von ANDREA LANGER, GEORG MICHELS (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 12), Stuttgart 2001, S. 15–51; MICHEL ESPAGNE, Der theoretische Stand der Kulturtransferforschung, in: Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, hrsg. von WOLFGANG SCHMALE (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 2), Innsbruck 2003, S. 63–75; CORNEL A. ZWIERLEIN, Komparative Kommunikationsgeschichte und Kulturtransfer im 16. Jahrhundert. Methodische Überlegungen entwickelt am Beispiel der Kommunikation über die französischen Religionskriege (1559–1598) in Deutschland und Italien, in: ebd. S. 85–120.

Kontinuitäten eines »Klassikers«

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wöhnlich dichten Tradition von Kommentaren, die ebenfalls bereits im Frühmittelalter beginnt und bis in die Frühe Neuzeit nicht mehr abreißt. Die immer wieder neu verfassten, teilweise auf die älteren Versuche jedoch rekurrierenden Kommentare verdanken sich vielmehr nicht zuletzt dem Faktum, dass die ›Consolatio‹ christlichen Kontexten inhaltlich kongruent gemacht werden musste und vor allen Dingen konnte – ohne dabei den lateinischen Ausgangstext zu ändern. Die Einheit von Code und Inhalt ist indes ab dem 9. Jahrhundert nicht mehr dieselbe wie drei Jahrhunderte zuvor – die Einbettung in die theologische Gelehrtenkultur des Mittelalters verändert sie, das kulturelle Verständnis wird ein anderes. Von Anfang an gelingt es den Kommentatoren, das spätantike neuplatonisch-stoische Trostbuch als zutiefst christlich geprägtes Werk erscheinen zu lassen.4 Für das Mittelalter stand, bis auf ganz wenige Ausnahmen, der christliche Tenor dieses Werkes eines Autors, der auch als Verfasser von ›Opuscula Sacra‹ bekannt war und als christlicher Märtyrer galt, außer Frage. Diese gezielt gesteuerte, später wohl wie selbstverständlich mit der Rezeption einhergehende Anpassungsleistung ist Ursache und Bedingung des über Jahrhunderte stabilen kulturellen Transfers der ›Consolatio‹ mitsamt der in ihr vermittelten Elemente antiker Philosophie. Aus dieser kulturellen Kontinuität resultieren weitere Transferprozesse der ›Consolatio Philosophiae‹. Angefangen bei König Alfreds altenglischer und Notkers althochdeutscher Fassung entstanden im frühen und insbesondere im späteren Mittelalter zahlreiche Übertragungen des lateinischen Trostbuchs in europäische Volkssprachen. Bekannt sind – neben den deutschen – französische, italienische, spanische, englische, niederländische, griechische und hebräische Fassungen. Die ›Consolatio‹ wurde somit zum Objekt lingualer Transcodierungen, wobei der Code, durch den der Inhalt übertragen wird, sich bei all diesen Übersetzungen notwendigerweise gegenüber dem ursprünglich lateinischen ändert. Geht mit den Übertragungen des lateinischen Ausgangstextes in die Volkssprachen zugleich ein Transfer der ›Consolatio‹ aus dem gelehrt-lateinischen Umfeld in die volkssprachige Literatur und Kultur des spätmittelalterlichen Europa einher? Es könnte so scheinen, wenn man das Fazit des anerkannten Boethius-Experten GLYNNIS M. CROPP in dessen Artikel über ›Boethius in Translation in Medieval Europe‹ in einem Handbuch zur Übersetzungsforschung liest. Dort heißt es, dass mit Hilfe der Übersetzungen in die europäischen Volkssprachen »the essential wisdom of antiquity as Boethius perceived it was transmitted throughout the Christian Middle Ages«.5 Überprüft werden soll diese Auffassung am Beispiel spätmittelalterlicher deutscher ›Consolatio‹-Übertragungen, die allerdings bisher kaum bekannt, geschweige denn zureichend erforscht sind. Nicht eine der gängigen Literatur4

5

Vgl. zu dieser Thematik: Boethius Christianus? Zur Rezeption von Boethius’ Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von REINHOLD GLEI, NICOLA KAMINSKI, FRANZ LEBSANFT, Berlin 2010. GLYNNIS M. CROPP, Boethius in Translation in Medieval Europe, in: Übersetzung. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hrsg. von HARALD KITTEL, ARMIN P. FRANK, NORBERT GREINER, Berlin/New York 2007, Bd. 2, S. 1329–37, hier S. 1335.

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Bernd Bastert

geschichten erwähnt sie und es ist (bis auf eine winzige Ausnahme s.u.) bis heute keine in einer Edition zugänglich.6 Daher soll diese Textgruppe zunächst vorgestellt und systematisiert werden.

Deutsche ›Consolatio‹-Übertragungen des 15. Jahrhunderts Die rätselhafte ›Consolatio‹-Fassung des Peter von Kastl Die älteste der insgesamt sieben deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen aus dem 15. Jahrhundert kennen wir nur indirekt, der Text selbst ist verloren. In seiner ›Chronica pontificum et imperatorum Romanorum‹ (1420–1422) berichtet der bayerische Geschichtsschreiber Andreas von Regensburg um 1420, dass im Jahr 1401 ein Magister Petrus Presbiter confessus im Kloster Reichenbach (bei Regensburg) Boecium de consolatione philosophiae transtulit de latino in teutonicum.7 Aus anderen Quellen lässt sich schließen, dass es sich bei dem Magister Petrus um den Probst Peter von Kastl gehandelt haben dürfte, der aus dem reformierten Benediktinerkloster Kastl (in der Oberpfalz) in das Kloster Reichenbach geholt wurde, um dort bei der Reform zu helfen.8 Man kann folglich vermuten, dass die erste deutsche ›Consolatio‹-Übersetzung nach Notker ebenfalls, wie die seine, im monastischen Kontext entstanden sein dürfte und vielleicht auch dort verblieb. Jedenfalls nennt eine im Jahr 1601 angelegte Inventarliste der Bibliotheksbestände des im Gefolge der Reformation säkularisierten Klosters Reichenbach unter den insgesamt sechs Handschriften der ›Consolatio Philosophiae‹ des Boethius auch ein Ms. Teutsch – möglicherweise die heute verlorene Übersetzung des Peter von Kastl.

6

7

8

Auch FRANZ JOSEF WORSTBROCK erwähnt in seiner instruktiven und luziden Übersicht zur deutschsprachigen Rezeption antiker »Klassiker« im 15. und 16. Jahrhundert nicht sämtliche Überlieferungszeugen deutscher ›Consolatio‹-Übertragungen, vgl. FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Deutsche Antikerezeption 1450–1550, Teil I: Verzeichnis der deutschen Übersetzungen antiker Autoren. Mit einer Bibliographie der Übersetzer (Veröffentlichungen zur Humanismusforschung 1), Boppard 1976, S. 26–28. Nicht ganz vollständig ist ebenfalls die Aufzählung im einschlägigen Artikel des Verfasserlexikons, vgl. FIDEL RÄDLE, FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Boecius, Anicius Manlius Severinus, 2VL, Bd. 1 (1978), Sp. 908–927, hier Sp. 921f. Andreas von Regensburg, Sämtliche Werke, hrsg. von GEORG LEIDINGER (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte NF 1), München 1903. Unv. Nachdruck Aalen 1969, S. 119. Zu Peter von Kastl vgl. NOEL HAROLD KAYLOR, Peter von Kastl. Fifteenth-Century Translator of Boethius, Fifteenth-Century Studies 18 (1991), S. 133–142; NIGEL F. PALMER, The German Boethius Translation Printed in 1473 in its Historical Context, in: Boethius in the Middle Ages. Latin and Vernacular Traditions of the Consolatio Philosophiae, hrsg. von MAARTEN J.F.M. HOENEN, LODI NAUTA (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 58), Leiden/New York/Köln 1997, S. 287–302, bes. S. 294–298.

Kontinuitäten eines »Klassikers«

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Die gereimte ›Consolatio‹-Fassung in den Münsteraner Fragmenten Eine weitere deutsche ›Consolatio‹-Übertragung, die in der neueren Forschung gleichfalls dem 15. Jahrhundert zugerechnet wird, ist zwar erhalten, allerdings nur in wenigen, überdies 1945 bei einem Brand der Universitätsbibliothek in Münster vernichteten Fragmenten. Wir sind daher auf einen aus dem Jahr 1908 stammenden Textabdruck angewiesen (das ist die oben erwähnte einzige »Edition«).9 Nach der Beschreibung der Fragmente, die dem Abdruck vorausgeht, gehörten sie zu einer Pergamenthandschrift im Folioformat (26 x 19 cm), die sorgfältig geschrieben, durch rote Initialen ausgezeichnet und durch kleinere Federzeichnungen geschmückt war.10 Es scheint sich mithin um keine simple Gebrauchshandschrift, sondern wohl eher um ein repräsentativeres Unternehmen gehandelt zu haben, das anscheinend den vollständigen Textbestand der ›Consolatio‹ umfasste; erhalten haben bzw. hatten sich Bruchstücke aus den Büchern I, IV und V. Die Umsetzung in die Volkssprache folgt dem lateinischen Ausgangstext verhältnismäßig eng, kürzt allerdings, v.a. im ersten Buch, in einigen Passagen und stellt Zeilen um. Verdeutlichen lässt sich das anhand einer Synopse zu Buch I, Prosa 4 der ›Consolatio Philosophiae‹, die den Münsteraner Fragmenten weitere spätmittelalterliche deutsche Übertragungen dieses Textes sowie die lateinische Fassung und deren nhd. Übersetzung gegenüberstellt; grau unterlegt sind aus Gründen einer leichteren Orientierung jeweils ausgewählte Passagen, die das gleiche Textstück betreffen (s. Tabelle). Das griechische Zitat zu Beginn der vierten Prosa des ersten Buches, das bereits im vorangehenden lateinischen Initium verunstaltet ist, hat der Übersetzer offenkundig nicht verstanden und verballhornt es zu einem unsinnigen Satz: ofte bistu eyn agypat. Er fügt jedoch sogleich die deutsche Übersetzung der im lateinischen Initium dem griechischen »Zitat« übergeschriebenen lateinischen Glosse hinzu (daz ist eyn ysel tzor lyren vrt), die wahrscheinlich schon im kopierten lateinischen Text stand. Kommentierende Zusätze fehlen in den Fragmenten jedoch ansonsten ganz. Es ist schwer zu entscheiden, ob daraus geschlossen werden kann, dass der Übersetzer keinen Zugang zu einem der vielen lateinischen ›Consolatio‹-Kommentare hatte, oder ob er im Gegenteil die Benutzung eines solchen durch seine Rezipienten für so selbstverständlich hielt, dass er glaubte, in seiner Übertragung auf erläuternde Kommentierungen verzichten zu können. In welchen Zusammenhang die in niederdeutscher, genauer in westfälischer Schreibsprache aufgezeichnete Handschrift gehörte, 9

10

ALOIS BÖMER, Fragmente einer gereimten deutschen Boethiusübersetzung, ZfdA 50 (1908), S. 149–158. Analysiert wurden die Münsteraner Fragmente durch NIGEL F. PALMER, Latin and Vernacular in the Northern European Tradition of De Consolatione Philosophiae, in: Boethius. His Life, Thought and Influence, hrsg. von MARGRET GIBSON, Oxford 1981, S. 362–409, bes. S. 372– 381. Erhalten hatte sich nach der Beschreibung BÖMERs [Anm. 9] am Rand der Übertragung von Buch I, Prosa 4 die (eventuell aber auch von einer späteren Hand stammende?) Darstellung einer »Schale mit Früchten«, die möglicherweise den dort thematisierten Einsatz des Boethius für eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung illustrieren sollte.

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Bernd Bastert

die im Unterschied zu allen anderen deutschen Umsetzungen der ›Consolatio‹ den gesamten lateinischen Text in (mnemotechnisch nutzbare?) deutsche Verse überträgt, wird aufgrund ihres fragmentarischen Status nicht recht deutlich. Format wie auch die ausführliche Zitation der lateinischen Textanfänge vor der jeweiligen deutschen Übersetzung sowie des lateinischen Textendes auch nach der Übersetzung deuten jedenfalls auf ein literates Umfeld.11

Eine ›Consolatio‹-Auswahl aus Lemgo – die Gießener Fragmente Für die nächste vorzustellende deutsche ›Consolatio‹-Übetragung wird man eine Rezeption im akademischen Milieu zunächst nicht unbedingt behaupten wollen. Aufgezeichnet wurde diese Übertragung, die uns in einer schmucklosen Papierhandschrift (20,5 x 14,0 cm) überliefert ist, in niederdeutscher (ostwestfälischer) Schreibsprache um 1464/65 in Lemgo durch den Schreiber Gerhard Foel, wie aus dem Manuskript selbst hervorgeht.12 Anders als in den Münsteraner Fragmenten wird das spätantike Werk hier durchgehend in Prosa umgesetzt. Erhalten hat sich fast das gesamte Buch I, wenige Zeilen aus dem zweiten Buch sowie eine abschließende Kommentierung von Buch IV, das, wie die Wendung Hijr endet sick dat verde boeck Boecii van trostinge der philosophien effte wijsheit nahelegt, ursprünglich vollständig übersetzt worden sein dürfte. Das in der philosophischen Argumentation besonders anspruchsvolle und theologisch nicht ganz unproblematische Buch V wurde unübersetzt gelassen, weil es, wie der Text eigens vermerkt, mochte groten twevel maken in den dummen luden. Damit scheint das Zielpublikum benannt: Wohl kaum clerici, die eine theologische Ausbildung genossen oder zumindest Zugang zu theologischer Bildung hatten, sondern eher (gebildete?) Laien, für die das antike Trostbuch, einerseits unter Einschaltung von Zusätzen, andererseits unter Verzicht auf Textpassagen der lateinischen Vorlage, in die Volkssprache übertragen und dabei zugleich – und darauf kommt es entscheidend an – adaptiert wurde. Auffällig ist dabei eine massive Verchristlichung des ursprünglich neuplatonischen Werkes. Erreicht wird sie, neben der »christianisierenden« Übertragung, die sich u.a. in Erweiterungen manifestiert, die in der Synopse durch eckige Klammern gekennzeichnet sind (s. Tabelle), vor allem durch als expositio bezeichnete und der übersetzen Passage regelmäßig nachfolgende Kommentare (deren mögliche Herkunft aus einem lateini11

12

Allerdings gehört sie nach NIKOLAUS HENKEL, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte (MTU 90), München 1988, S. 223, wohl eher nicht »in den Bildungsbetrieb der Schule«. Die Handschrift liegt heute unter der Signatur cod. 863 in der UB Gießen, die Reste der ›Consolatio‹-Übertragung dort auf fol. 229r–244v; vgl. die Beschreibung im Katalog der deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Gießen durch ULRICH SEELBACH (Preprint abrufbar unter: http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2007/4948/, letzter Abruf: 30.10.12). Eine Abschrift des erhaltenen ›Consolatio‹-Textes wurde mir freundlicherweise von AGATA MAZUREK zur Verfügung gestellt.

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schen Kommentar noch zu klären bleibt), in denen die christliche Bedeutung und die Trostfunktion des jeweils übersetzten Abschnitts z.B. durch Verweise auf biblische Exempla noch einmal ausgelegt wird. Zu dem sich hier abzeichnenden Gebrauchskontext fügt sich genauestens der der Übertragung vorangestellte prologus praeter rem, der mit einem Psalm Davids über den göttlichen Trost einsetzt: Here, dyne trostinge hebbet gefrowet myne sele (Ps 94,19) und diese Verse auf den dogentriken manne Boeci[us] bezieht.

Die theologisierende Erfurter ›Consolatio‹-Übertragung Fast zeitgleich mit der Lemgoer Übertragung entstand im Erfurter Raum eine weitere Teilübertragung der ›Consolatio‹.13 In die Volkssprache umgesetzt wurden hier, wiederum durchgehend in Prosa, ausgewählte Teile von Buch III, fast das gesamte Buch IV und ein Teil von Buch V. Die in einer schwer entzifferbaren, flüchtigen Hand geschriebene deutsche Übertragung orientiert sich eng am lateinischen Text, wobei sogar die in der – uns bekannten – lateinischen Vorlage enthaltenen Interlinearglossen konsequent berücksichtigt und mit übersetzt werden; in der Synopse zu Buch IV, Metrum 1 der ›Consolatio‹ werden die deutschen Übersetzungen der lateinischen Interlinearglossen kursiviert wiedergegeben (s. Tabelle). Auffällig sind in der Erfurter Übersetzung zudem lateinische Überschriften, die oft aus Bibelzitaten bestehen, wie z.B. Fuit homo missus a deo, die Io 1,6 zitierende Überschrift zu Buch IV, Metrum I, sowie mehrfach begegnende Interpolationen, die sich nur indirekt auf Gedanken und Thesen der ›Consolatio‹ beziehen – etwa auf die Ausführungen über Schicksal und Vorherbestimmung oder auf das summum bonum. Diese Exkurse, die nicht in die Übertragung integriert sind, sondern eigene Zusätze bilden, laden den Text mit theologischem Spezialwissen der Zeit auf. Sie informieren zum Beispiel über die Qualen des Fegefeuers oder den Limbus, den jenseitigen Ort ungetauft verstorbener Kleinkinder. Besonders herausgestellt wird in ihnen das Leiden und dessen Bedeutung für eine richtige christliche Lebensführung. Weniger durch die recht genaue Übertragung, dafür umso mehr durch die erläuternden Exkurse zielen die deutschen Teile der Erfurter Handschrift auf eine dezidiert christliche Ausdeutung der ›Consolatio‹. Sie könnten, einer ansprechenden Vermutung N. PALMERs zufolge, im monastischen Kontext entstanden sein.

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Zu der heute in Oxford, Bodleian Library unter der Signatur MS Hamilton 46 liegenden Handschrift vgl. PALMER [Anm. 9], S. 381–397, sowie YVONNE DELLSPERGER, Die Erfurter Übersetzung der Consolatio Philosophiae (1465) im Spannungsfeld von Jenseitsfurcht und Sündenvergebung, in: GLEI, KAMINSKI, LEBSANFT [Anm. 4], S. 95–127.

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Konrad Humerys ›Consolatio‹-Übertragung für Laien Diese Verdeutschung der ›Consolatio‹ ist nach Notkers ahd. Umsetzung die erste erhaltene, deren Autor wir kennen.14 Es handelt sich um Konrad Humery aus Mainz, einen akademisch gebildeten litteratus, der ab 1421 in Erfurt und Köln die artes und ab 1427 in Bologna die Rechte studierte. Schon während seiner Studienjahre dürfte er die ›Consolatio‹ kennengelernt haben.15 Nach der Rückkehr aus Italien wirkte Humery unter anderem als Stadtschreiber und Ratssyndikus in Mainz und griff auf Seiten des Mainzer Erzbischofs in die Reichspolitik ein.16 Seine ›Consolatio‹-Übertragung, die durchgängig in Prosa gehalten ist, verfasste er wohl in den 1460er Jahren, sicher vor 1466/67, denn aus diesen Jahren datiert die älteste von insgesamt drei Handschriften, die sein Werk überliefern.17 Humery überträgt zwar alle fünf Bücher, jedoch (mit Ausnahme der Bücher III und IV) nicht sämtliche Prosen und Metren dieser Bücher. Nicht ganz selten lässt er größere Abschnitte des zu übersetzenden Textes aus – deutlich wird dies etwa durch die gegenüber den anderen deutschen Übertragungen fehlenden Passagen in der Synopse zu Buch I, Prosa 4 (s. Tabelle). Dies korrespondiert mit einem Übersetzungsstil, der keineswegs immer genau dem lateinischen Text folgt, vielmehr den Inhalt paraphrasiert und, komplizierte Gedanken und Thesen oft auf ihren Kern reduzierend, sinngemäß in die Zielsprache überträgt. Auf der anderen Seite sind bei ihm häufig auch interpretierende Zusätze in die Übertragung eingelassen, wie sich etwa in der Synopse zu Buch IV, Metrum 1 zeigt, in der diese Plusstellen durch eckige Klammern markiert sind (s. Tabelle). Nicht zuletzt mit Hilfe der Zusätze wird Humerys ›Consolatio‹Übertragung »nicht sehr aufdringlich, aber doch spürbar […] ein frommes Buch im 14

15

16 17

Vgl. MICHAEL MOMMERT, Konrad Humery und seine Übersetzung der Consolatio Philosophiae. Studien zur deutschen Boethius-Tradition am Ausgang des Mittelalters, Diss. Münster 1965; MANFRED EIKELMANN, Boethius für Laien. Konrad Humerys deutsche Übersetzung (vor 1467) der Consolatio Philosophiae, in: GLEI, KAMINSKI, LEBSANFT [Anm. 4], S. 129–156. In Erfurt gehörte die ›Consolatio‹ nachweislich zum Lehrprogramm, vgl. EIKELMANN [Anm. 14], S. 136; über Köln haben wir keine entsprechenden Informationen, doch immerhin zeigt das aus dem 15. Jahrhundert stammende Siegel der Kölner Artistenfakultät eine Allegorie der Philosophie, die exakt der Beschreibung zu Anfang der ›Consolatio‹ entspricht, vgl. HARTMUT BOOCKMANN, Ikonographie der Universitäten. Bemerkungen über bildliche und gegenständliche Zeugnisse der spätmittelalterlichen deutschen Universitätengeschichte, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. von JOHANNES FRIED (Vorträge und Forschungen 30), Sigmaringen 1986, S. 565–599, hier S. 572 und die Abb. auf S. 581. In Bologna hatte einer von Humerys dortigen Lehrern ein Werk verfasst, das »der boethianischen Trostschrift nahe steht«, EIKELMANN [Anm. 14], S. 136. Zu den Schriften des Boethius als Schulstoff vgl. auch MICHAEL BERNHARD, Boethius im mittelalterlichen Schulunterricht, in: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts, hrsg. von MARTIN KINTZINGER, SÖNKE LORENZ, MICHAEL WALTER, Köln 1996, S. 11–27. Vgl. EIKELMANN [Anm. 14], S. 137. Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 490 (1466/67); Mainz, StB, Hs. III 44 (1472); Tübingen, UB, Md 124 (um 1475).

Kontinuitäten eines »Klassikers«

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spezifischen Sinn«.18 Damit ist zugleich angedeutet, mit welcher Absicht sie vorgenommen worden sein könnte. In und durch Humerys Übertragung wird die ›Consolatio‹ zu einem Werk, das in die Nähe christlicher Trostliteratur und einer Theologie rückt, die Ausharren im Leid als Voraussetzung für eine spätere jenseitige Belohnung propagiert.

Die ›Consolatio‹ im Druck – Kobergers Inkunabel von 1473 Rezeptionsgeschichtlich ist die in einer zweisprachigen Inkunabel von 1473 greifbare Version wohl die erfolgreichste deutsche ›Consolatio‹-Übertragung des gesamten Mittelalters und der Frühen Neuzeit.19 Von deren Verbreitung und Wirkung zeugen nicht allein etwa 60 noch heute nachweisbare Exemplare jenes bei Anton Koberger in Nürnberg erschienenen Drucks, sondern auch ein im Jahr 1500 von Schott in Straßburg aufgelegter Nachdruck. Hinzu kommt eine von 1480/90 stammende, von der Inkunabel wohl unabhängige Handschrift aus Schaffhausen (StB, Gen. 28), die die gleiche Fassung wie in Kobergers Inkunabel bietet, allerdings dialektale Varianten und kleinere Umstellungen kennt. Sowohl die Schaffhausener Handschrift als auch der Straßburger Nachdruck enthalten nur die deutsche Übersetzung ohne den lateinischen Text, der für die Inkunabel zentral ist. Es wäre theoretisch möglich, dass es sich bei dieser deutschen ›Consolatio‹-Übertragung um die verlorene Version des Peter von Kastl handelt; zu belegen ist das allerdings nicht – und aus Gründen, die noch zu verdeutlichen sind, erscheint mir dies eher unwahrscheinlich. Die in Kobergers Druck von 1473, im Nachdruck von 1500 und in der Schaffhausener Handschrift greifbare Fassung stellt in verschiedener Hinsicht eine Besonderheit unter den spätmittelalterlichen deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen dar. Denn es handelt sich bei ihr nicht nur um die erste jemals gedruckte deutsche Übersetzung eines antiken Textes und zugleich um den ältesten bekannten europäischen Druck des lateinischen ›Consolatio‹-Textes überhaupt, sie bietet zudem die vollständigste deutsche Übertragung des Boethianischen Trostbuches. Keine Prosa und kein Metrum, ja keine Zeile und praktisch keine Wendung des lateinischen Textes blieb, wie die Synopse zu Buch I, Prosa 4 und Buch IV, Metrum 1 zeigt, unübersetzt (s. Tabelle). Auch theologisch heikle Passagen wie etwa Metrum III,9, das in der Erfurter Übertragung ganz fehlt und von Humery nur teilweise, dazu noch recht summarisch übersetzt wird, überträgt der anonyme Übersetzer Vers für Vers. Die Übertragung folgt dabei relativ genau dem lateinischen Werk, ohne allerdings dessen Syntax zu imitieren. Hin und wieder finden sich im deutschen Text kleine Ergänzungen, die u.a. geographische, historische oder auch mythologische Passagen erläutern, in den Synopsen jeweils durch eckige Klam18 19

MOMMERT [Anm. 14], S. 118. Vgl. PALMER [Anm. 8]; BERND BASTERT, Boethius unter Druck. Die Consolatio Philosophiae in einer Koberger-Inkunabel von 1473, in: GLEI, KAMINSKI, LEBSANFT [Anm. 4], S. 35–69.

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mern bezeichnet. Der unbekannte Übersetzer hat sich dabei wohl der lateinischen Kommentartradition bedient, ohne dass es allerdings bislang gelungen wäre, einen bestimmten ›Consolatio‹-Kommentar als Quelle auszumachen; der dem Druck beigefügte Kommentar des Pseudo-Thomas von Aquin deckt das gesamte Spektrum der Erläuterungen jedenfalls nicht ab.20 Eine dezidierte interpretatio christiana wie in Humerys oder der Lemgoer Übersetzung findet sich hier nicht – weder durch Ergänzungen noch durch interpretierende Übersetzungen. Das Umfeld, in das die Koberger-Inkunabel gehört, lässt sich nicht zuletzt aus dem Layout und den Paratexten des Druckes erschließen. In dem luxuriösen Band im Folioformat folgt dem lateinischen Text und dessen deutscher Übertragung ein ausführlicher lateinischer Kommentar. Der lateinischdeutschen ›Consolatio‹ geht ein alphabetisch gegliedertes Schlagwortverzeichnis voraus. Die deutsche Übersetzung steht dabei deutlich im Dienst der Erschließung des Ausgangstextes. Wer immer sich jenes teure Luxusbuch leisten konnte, brauchte vermutlich im Grunde genommen keine Übersetzung des lateinischen Werkes.21 Der geschäftstüchtige Koberger, der neben seiner Druckwerkstatt auch bald ein europaweit expandierendes Verlagshaus betrieb, zog ab der 1476 erschienenen zweiten Auflage die Konsequenz aus der Situation: Fortan erschien seine ›Consolatio‹-Ausgabe ohne eine deutsche Übersetzung.

Niklas von Wyles ›Consolatio‹-Projekt Die letzte der im 15. Jahrhundert verfassten deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen ist, genau wie die erste, nicht erhalten. Wir wissen von ihrer Existenz nur indirekt, in diesem Fall durch eine Nachricht des Verfassers selbst. Es handelt sich dabei um niemand geringeren als Niklas von Wyle. Im Vorwort seiner 1478 im Druck erschienenen ›Translatzen‹ erwähnt Wyle, dass auch er die ›Consolatio‹ des Boethius zu einem großen Teil übersetzt und für den Druck vorgesehen habe, allein – ein anderer sei ihm zuvorgekommen. Damit kann er nur die gerade skizzierte Koberger-Fassung von 1473 meinen, für deren Übersetzer manch einer anscheinend den bekannten Humanisten hielt. Der aber wehrt sich vehement gegen eine solche Unterstellung und verknüpft das mit einem Hinweis auf die angebliche Unverständlichkeit der fraglichen Übertragung, die ihm einige ihrer Leser bereits bestätigt hätten:

20 21

Vgl. BASTERT [Anm. 19]. Vgl. auch PALMER [Anm. 9], S. 380: The bilingual printed edition of 1473 is a luxury book and may also have been directed at this elite group. […] The scholarly paraphernalia make it clear that this text belongs to the world of learning and that it is not a real vulgarisation of the work. We need to see it against the background of the reading of the Latin text.

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jch wirt ouch noch dann nützit dester minder min translatze boecy de consolacione gedruckt lassen usgeen. wie wol mir darz schaden komen wirt, daz nechst by vier Jaren ain andere translatze desselben boecij ouch gedruckt usgangen vnd Jn werdem kouffe vertriben worden ist. Vnd haben diser köffern vil gewändt sölich translatze syge min gewesen nachdem vnd vor gesagt worden was, Das die In miner schmitten leg vnd bald usgeen sölte das ist aber mir dagegen z tröste daz solicher köffern wenig sint, die da sagent daz sy dise translatze mercken 22 oder versten mugen etc.

Systematisierende Überlegungen Wenn man sich das gerade skizzierte Ensemble der spätmittelalterlichen deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen in seiner Gesamtheit anschaut, fällt sofort ein chronologischer Schwerpunkt der Übersetzungstätigkeit ins Auge. In den wenigen Jahren zwischen 1464 und 1478 entstehen gleich fünf deutsche Übertragungen, zwei weitere (Peter von Kastl; die Münsteraner Fragmente) stammen vermutlich ebenfalls noch aus dem 15. Jahrhundert, während in den vier Jahrhunderten zuvor und zwei Jahrhunderten danach im deutschen Sprachraum keine Umsetzung der ›Consolatio‹ in die Volkssprache nachgewiesen werden kann.23 Im Vergleich zur volkssprachlichen ›Consolatio‹Tradition in den übrigen europäischen Literaturen erscheint die deutsche mit ihren fünf erhaltenen und zwei erschließbaren spätmittelalterlichen Fassungen relativ spät und eher schmal. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch bei genauerem Hinsehen. Stellt man nämlich die in den Ländern romanischer und germanischer Zunge entstandenen Übertragungen nebeneinander, so zeigt sich, dass – abgesehen von den frühmittelalterlichen Unternehmungen Notkers und König Alfreds – die französischen, italienischen und spanischen Übertragungen generell früher einsetzen und ihren Schwerpunkt im 14. Jahrhundert besitzen.24 Die Rezeption in den germanischen Volkssprachen setzt 22 23

24

Translationen von Niklas von Wyle, hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Stuttgart 1861, S. 11f. Es bleibt zu prüfen, ob wir es hier mit einem ähnlichen Phänomen zu tun haben, wie jenem, das KLAUS GRUBMÜLLER für geistliche Übersetzungsliteratur im 15. Jahrhundert konstatiert: »nicht das noch nicht Übersetzte wird übersetzt oder das Neue und theologisch Aktuelle […]. Übersetzt wird eher noch einmal und immer wieder das schon Bekannte und vom Neuen das Erbauliche und das Kontemplativ-Aszetische.« KLAUS GRUBMÜLLER, Geistliche Übersetzungsliteratur im 15. Jahrhundert. Überlegungen zu ihrem literaturgeschichtlichen Ort, in: Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von HARTMUT BOOCKMANN (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, dritte Folge, Nr. 206), Göttingen 1994, S. 59–74, hier S. 69. Zur volkssprachigen Rezeption in Italien vgl. SILVIA ALBESANO, Consolatio Philosophiae volgare. Volgarizzamenti e tradizioni discorsive nel Trecento italiano (Studia Romanica 132), Heidelberg 2006, eine Übersicht der italienischen Übersetzungen ebd. S. 45–53; DARIO BRANCATO, Readers and Interpreters of the Consolatio in Italy, 1300–1550, in: KAYLOR, PHILIPPS [Anm. 1], S. 357–412. Die spanischen Überlieferungsträger stammen sämtlich aus dem 15. Jahrhundert, repräsentieren offenbar jedoch größtenteils ältere Fassungen, vgl. DIETRICH BRIESEMEISTER, Die Überlieferung der Consolatio Philosophiae des Boethius im mittelalterlichen Spanien, in: Sinn und Sinnverständnis.

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demgegenüber erst etwas später ein. Die früheste Übertragung bildet die gegen Ende des 14. Jahrhunderts (um 1380) entstandene Geoffrey Chaucers, die ihren überlieferungsgeschichtlichen Höhepunkt allerdings auch erst im 15. Jahrhundert (u.a. mit zwei Drucken) erreicht.25 Dem Überlieferungsbefund nach zu urteilen noch erfolgreicher als Chaucers war jedoch die von 1410 stammende englische Übertragung durch John Walton, die über 20 Handschriften sowie ein Druck aus dem 16. Jahrhundert tradieren.26 Die beiden bekannten niederländischen Übertragungen datieren in die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts und werden repräsentiert durch eine unikale Handschrift von 1466 und einen Prachtdruck von 1485.27 In diesen zeitlichen Rahmen passen sich die erhaltenen deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts – ohne deren Besonderheiten zu verkennen – recht gut ein. Mit ihrer nicht sehr dichten hand- und druckschriftlichen Überlieferung unterscheidet sich die spätmittelalterliche deutsche aber dann doch signifikant von einigen anderen volkssprachlichen ›Consolatio‹-Übertragungen, insbesondere der französischen. Von den zwölf bekannten französischen Übertragungen sind zwar sieben unikal überliefert, die restlichen jedoch ausgesprochen reich, so dass insgesamt über 150 Überlieferungszeugen mit französischen ›Consolatio‹-Übertragungen erhalten sind.28 Die insgesamt sieben bekannten deutschen Fassungen der ›Consolatio‹ verteilen sich hingegen auf sieben Handschriften, einen, allerdings recht erfolgreichen, Druck und einen Nachdruck.

25

26

27

28

Festschrift für Ludwig Schrader zum 65. Geburtstag, hrsg. von KARL HÖLZ u.a., Berlin 1997, S. 15–25. Zu den französischen ›Consolatio‹-Übersetzungen vgl. GLYNNIS M. CROPP, The Medieval French Tradition, in: HOENEN, NAUTA [Anm. 8], S. 243–265; GLYNNIS M. CROPP, Boethius in Medieval France. Translations of the De consolatione philosophiae and Literary Influence, in: KAYLOR, PHILIPPS [Anm. 1], S. 319–356. Vgl. auch RITA COPELAND, Rhetoric, Hermeneutics, and Translation in the Middle Ages. Academic traditions and vernacular texts, Cambridge 1991, hier besonders Kapitel 5: Translation and intralingual reception. French and English traditions of Boethius’ Consolatio, S. 127–150. Vgl. Chaucer’s »Boece«. A critical edition based on Cambridge University Library, MS Ii.3.21, ff. 9r–180v, hrsg. von TIM WILLIAM MACHAN (Middle English Texts 38), Heidelberg 2008; Chaucer’s Boece and the medieval tradition of Boethius, ed. by ALASTAIR J. MINNIS (Chaucer Studies 18), Cambridge 1993. Vgl. IAN JOHNSON, Placing Walton’s Boethius, in: HOENEN, NAUTA [Anm. 8], S. 217–242; IAN JOHNSON, Making the Consolatio in Middle English, in: KAYLOR, PHILIPPS [Anm. 1], S. 413–446. Vgl. MARIKEN GORIS, WILMA WISSINK, The Medieval Dutch Tradition of Boethius’ Consolatio, in: HOENEN, NAUTA [Anm. 8], S. 121–165; MARIKEN GORIS, Boethius in het Nederlands. Studie naar en tekstuitgave van de Gentse Boethius (1485), boek II, Hilversum 2000. Ob man allein aus der Überlieferungsdichte allerdings auf Unterschiede zwischen dem kulturellen Transfer der spätantiken Trostschrift in die deutsche Literatur des Mittelalters und die der übrigen europäischen Literatur schließen darf, erscheint mir unsicher, bevor nicht genauere Untersuchungen zur Materialität und Kontextualität aller überlieferten Handschriften und Drucke vorliegen.

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Obwohl alle überlieferten deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen des 15. Jahrhunderts, bis auf die durchgehend in Versform gebrachte aus den Münsteraner Fragmenten, konsequent die Prosaform benutzen, sind sie offenkundig unabhängig voneinander. Darauf deuten nicht nur die jeweils spezifische Übertragungstechnik und ein differierender Wortlaut, sondern auch das Layout, das von einer Uniformität weit entfernt ist. Jede Umsetzung wird anders realisiert. Standardisierte mediale Formen der ›Consolatio‹-Übertragungen haben sich im deutschen Sprachraum offenbar nicht entwickeln können; es wird jeweils neu experimentiert. Diese Uneinheitlichkeit könnte vielleicht auch mit der geographischen Distribution der chronologisch so eng benachbarten Textgruppe zusammenhängen. Die einzelnen Übertragungen verteilen sich nämlich einigermaßen gleichmäßig über das gesamte deutsche Sprachgebiet: Drei sind im oberdeutschen Raum entstanden (Koberger, Kastl, Wyle), zwei im mitteldeutschen Gebiet (Humery, Erfurt) und zwei schließlich im niederdeutschen Raum (Münster, Lemgo).

Kultureller Transfer? Versucht man die überlieferten deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen nach ihrer Faktur und den daraus eventuell erschließbaren Absichten zu ordnen, gelangt man zu zwei, in sich skalierbaren, Gruppen. Die eine bilden die Vollübersetzungen der ›Consolatio‹, die mehr oder weniger getreu dem lateinischen Wortlaut folgen, also den lateinischen Code einigermaßen getreu nachzubilden versuchen, und sich einer dezidierten Verchristlichung, etwa vermittels einer in die Übertragung integrierten Auslegung, weitgehend enthalten, folglich auch den Inhalt möglichst genau in die Volkssprache übertragen. Signifikant ist für diese Textgruppe spätmittelalterlicher deutscher Übersetzungen überdies die augenfällige Präsenz auch des lateinischen Ausgangstextes in dem jeweiligen Überlieferungsträger. Schon allein durch die mediale Inszenierung der ›Consolatio‹ wird demnach bei den Rezipienten die Beachtung des lateinischen Ausgangstexts mitsamt der damit verbundenen spezifischen christlichen Transcodierung evoziert. Paradigmatisch für diese Gruppe ist die deutsche Übersetzung in der Koberger-Inkunabel, die eindeutig hinter dem lateinischen Text zurücksteht, was sich schon im Druckbild und im Seitenlayout manifestiert. In abgeschwächter Form gilt das ebenfalls für die Schaffhausener Handschrift, die, wenn auch in einem etwas differierenden Wortlaut, die gleiche Fassung wie die Inkunabel bietet. Hier sorgen lateinische Initien dafür, dass die Übersetzung problemlos auf den lateinischen Text rückbezogen und mit ihm abgeglichen werden kann. Um eine vergleichsweise genaue Vollübersetzung aus dem Lateinischen, die ebenfalls keine Kommentare in die deutsche Umsetzung einfließen lässt, könnte es sich gleichfalls bei den Münsteraner Fragmenten gehandelt haben, die, wie bereits erwähnt, am Beginn eines jeden Abschnitts den Anfang der lateinischen Prosa oder des Metrums ungewöhnlich ausführlich zitieren. Und ebenso außergewöhnlich ist es, dass hier nach dem Ende eines Übersetzungsabschnitts jeweils die analoge lateini-

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sche Sequenz angeführt wird. Das kann nur den Zweck haben, eine schnelle Orientierung am lateinischen Werk zu gewährleisten.29 Nach allem, was wir wissen, dürfte überdies Wyles verlorene Übersetzung zu dieser Gruppe von Vollübersetzungen gezählt haben, die sich eng am lateinischen Wortlaut orientieren und den lateinischen Text durch unterschiedliche Techniken stets präsent halten. Das Umfeld all dieser auf das lateinische Werk des Boethius ausgerichteten Übertragungen scheint primär ein gelehrt-wissenschaftliches zu sein, das mit dem lateinischen Text recht sicher umgehen konnte. Insofern kann für diese Gruppe nicht von einem bewussten Transfer in eine völlig andere kulturelle Sphäre gesprochen werden, vielmehr wird durch mediale Operationen gerade versucht, das tradierte lateinische Code/Inhalt-Amalgam auch in die volkssprachigen Übersetzungen zu integrieren. Signifikant dafür sind, neben der manifesten Präsenz des lateinischen Werks in den einzelnen Überlieferungsträgern, gerade die fehlende Christianisierung und die verhältnismäßig große Texttreue der Übersetzungen. Offenbar knüpfen diese Übertragungen an ein kulturelles Umfeld an, das aus einer intensiven Beschäftigung mit der lateinischen Tradition heraus genau weiß, wie mit der ›Consolatio‹ hermeneutisch umzugehen, wie sie auszulegen ist. Auf die, für lateinisch gebildete Rezipienten des 15. Jahrhunderts außer Frage stehende, konstitutive Christlichkeit des Boethianischen Trostbuches muss deshalb nicht eigens eingegangen werden; das leisten bereits die für jene Leserschaft leicht zugänglichen, und etwa in der Koberger-Inkunabel von 1473 in Form einer Auslegung durch Pseudo-Thomas von Aquin mit abgedruckten, lateinischen Kommentare. Die ›Consolatio Philosophiae‹ verbleibt bei diesem Typus insofern, trotz mehr oder weniger gut gelingender vollständiger sprachlicher Transcodierung, insgesamt in der kulturellen Kontinuität einer gelehrt-wissenschaftlichen, theologische Aspekte wie selbstverständlich mitdenkenden Rezeption lateinisch gebildeter litterati – Vergleichbares galt übrigens schon für Notkers ›Consolatio‹-Übertragung.30 Eine Ausnahme scheint allein der im Jahr 1500 bei Schott in Straßburg erschienene Nachdruck nur der deutschen Vollübersetzung aus der Koberger-Ausgabe von 1473 zu bilden. Obschon sich in Schotts Ausgabe keine lateinischen Paratexte finden, könnte jedoch auch dieser kleinformatige und daher preiswerte Druck im Schulkontext Verwendung gefunden haben, wie z.B. ein erhaltener Überlieferungszeuge nahelegt, der mit einer Druckausgabe der ›Ars minor‹, also der gebräuchlichen lateinischen Schulgrammatik des Donat, zusammengebunden wurde.31 Auch der Straßburger Druck wäre damit, zumindest partiell, im tradierten und etablierten kulturellen Umfeld verblieben. 29

30

31

An einer Stelle hat ein Benutzer das deutsche Wort wonden durch ein übergeschriebenes vulnera auf die entsprechende Passage des lateinischen Textes bezogen, vgl. PALMER [Anm. 9], S. 374 Eine kulturelle Transferleistung eigener Art, die spezifische und vergleichende Untersuchungen an sämtlichen überlieferten deutschen ›Consolatio‹-Übersetzungen des Mittelalters verdiente, bildet indes die Spracharbeit, die sich angesichts des Wortschatzes jenes hoch ambitionierten philosophisch-theoretischen lateinischen Werks nicht eben einfach gestaltet haben dürfte. Vgl. BASTERT [Anm. 19], S. 67f.

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Anders sieht dies auf den ersten Blick für die zweite, aus der Lemgoer und Erfurter sowie aus Humerys Übertragung bestehende Gruppe aus. Charakteristisch für diese Gruppe sind Teilübersetzungen ausgewählter Bücher, Prosen oder Metren. Die Übertragungen in die Volkssprache sind zugleich freier als die der ersten Gruppe, sie greifen zu Paraphrasierungen, stellen um oder wählen aus. Kennzeichnend ist zudem, wie bereits beschrieben, die Integration kürzerer oder längerer Erläuterungen oder Auslegungen, die auf christliche Ausdeutung, insbesondere auf Lebenshilfe und Selbstsorge abheben. Zu dieser Gruppe hätte sich vermutlich auch die wohl in monastischen Kontexten entstandene Übertragung Peters von Kastl gestellt – eben deshalb dürfte es eher unwahrscheinlich sein, dass die verlorene Übertragung Peters von Kastl mit der ganz anders verfahrenden Übertragung der Koberger-Inkunabel identisch ist. Trotz der durch solche Eingriffe bewirkten inhaltlichen Variationen des lateinischen Ausgangstextes müssen diese Änderungen jedoch teilweise zur Ebene des Codes gerechnet werden, handelt es sich dabei doch um eine typische translatorische Strategie der Zeit, wie sie NIKOLAUS HENKEL etwa für Steinhöwels Übersetzungsweise konstatiert: »Orientierung an der Zielsprache und ergänzender oder erklärender bzw. kürzender Eingriff in den Text der Vorlage nach dem verantwortungsvollen Dafürhalten des Übersetzers«.32 Das gedankliche Substrat, das übertragen werden soll, ändert sich dadurch im Verständnis des Übersetzers wohl nicht, im Gegenteil: Der Text wird nur noch deutlicher auf das für die litterati grundlegende christliche Grundverständnis der ›Consolatio‹ zugerichtet. Wieder einmal zeigt sich hier, dass Code und Inhalt eine untrennbare, miteinander kommunizierende Einheit bilden. Das Rezeptionsumfeld jener entschieden religiös aufgeladenen Übertragungen zu ermitteln, fällt nicht ganz leicht. Vielleicht kann man es im Gefolge eines in der vorreformatorischen Epoche erwachenden Interesses an neuen Frömmigkeitsformen suchen, das entsprechende Erbauungs- und Trostliteratur goutierte – auch die gerade im 15. Jahrhundert entstehenden deutschen Übersetzungen der Schriften Senecas rechnen wohl hierzu. Zugleich gehört in diesen Zusammenhang ein Interesse an Leidenstheologie, dem sowohl die Schriften Senecas wie die ›Consolatio‹ des Boethius entsprechen. In Frage kommen dafür beispielsweise Laienbrüder oder Nonnen, die des Lateinischen nicht oder kaum mächtig waren; eine der drei bekannten Handschriften von Humerys ›Consolatio‹-Übertragung stammt dann auch aus dem Franziskanerinnenkloster in Oggelsbeuren, dem ein Ulmer Franziskaner sie geschenkt hatte (Tübingen, UB, Cod. Md 124), und auch die im monastischen Kontext angefertigte Erfurter (Teil)Übersetzung scheint hierher zu gehören. Mögliche Rezipienten können jedoch ebenso aus den Kreisen gebildeter und an anspruchsvoller philosophischer und theologischer Literatur inter-

32

NIKOLAUS HENKEL, Übersetzen im Mittelalter, in: Geschichte der Übersetzung. Beiträge zur Geschichte der neuzeitlichen, mittelalterlichen und antiken Übersetzung, hrsg. von BOGDAN KOVTYK, GERHARD MEISER, HANS-JOACHIM SOLMS (Angewandte Sprach- und Übersetzungswissenschaft 3), Berlin 2002, S. 191–214, hier S. 209.

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essierter Laien stammen,33 zu denen beispielsweise Juristen, Räte und Stadtschreiber zählen.34 Auf genau diese Kreise weist die Provenienz einer anderen Handschrift der Humery-Fassung, die aus dem Besitz des Kölner Ratsherren Jakob Schirl stammt (Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 490). Schirl hat die ›Consolatio‹, die mit einer Reihe weiterer, meist lateinischer juristischer und politisch-moralischer Texte wie etwa dem ›Regimine principum‹ des Ägidius Romanus eine Überlieferungsgemeinschaft bildet, offenbar im Kontext der Ratspolitik der Stadt Köln gelesen.35 Eine solche »politische« Lesart, die zumindest mit Blick auf die vierte Prosa von Buch I, in der Boethius sein segensreiches politisches Wirken bis zu seiner Gefangensetzung schildert, als durchaus nachvollziehbar erscheint, würde nun wirklich, jedenfalls im Rahmen der gängigen mittelalterlichen Lesart des Boethianischen Trostbuches, eine Transcodierung darstellen, bei der Code wie Inhalt einem neuen Rezeptionskontext adaptiert würden – wobei interessanterweise eine, zumindest partielle, politische Gebrauchsfunktion dem ursprünglichen Entstehungskontext der ›Consolatio‹ wieder nahekäme. Ob aus den beschriebenen Transcodierungen und Adaptationen dieses zweiten Typs spätmittelalterlicher deutscher ›Consolatio‹-Übertragungen aber ein vollständiger kultureller Transfer, ja eventuell sogar eine kulturelle Diskontinuität zur mittelalterlichen lateinischen Tradition abzuleiten ist, wie die eingangs zitierte Hypothese von CROPP dies zumindest nahelegt, scheint mir noch nicht ausgemacht. An einer repräsentativen Auswahl französischer und englischer sowie an sämtlichen niederländischen ›Consolatio‹-Handschriften hat N. PALMER schon vor einigen Jahren die Relevanz des Lateinischen für die europäische Tradition konstatiert und diesen Befund dahingehend gedeutet, dass die volkssprachigen Manuskripte und Drucke sich meist an »gebildete Leser« richteten, die der Wissenschaftssprache zumindest halbwegs mächtig gewesen seien.36 Wie eine genauere Analyse zeigt, bleibt neben der Gruppe der Vollübersetzungen auch die Gruppe der stark laientheologisch aufgeladenen bzw. politisch-moralisch verstandenen deutschen (Teil)Übertragungen in der Regel auf das lateinische Ausgangswerk und damit auch auf dessen kulturelle Einbettung bezogen. Von den drei erhaltenen Hand33

34

35

36

Vgl. dazu etwa RUEDI IMBACH, Laien in der Philosophie des Mittelalters. Hinweise und Anregungen zu einem vernachlässigten Thema (Bochumer Studien zur Philosophie 14), Amsterdam 1989, zu den ›Consolatio‹-Übersetzungen vgl. ebd. S. 43–45. Vgl. dazu sowie zum Begriff des ›Laien‹ CHRISTOPH BURGER, Direkte Zuwendung zu den »Laien« und Rückgriff auf Vermittler in spätmittelalterlicher katechetischer Literatur, in: Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis, hrsg. von BERNDT HAMM, THOMAS LENTES (Spätmittelalter und Reformation NR 15), Tübingen 2001, S. 85–109; speziell zur ›Consolatio‹ vgl. MAARTEN J.F.M. HOENEN, The Transition of Academic Knowledge. Scholasticism in the Ghent Boethius (1485) and other Commentaries on the Consolatio. In: HOENEN, NAUTA [Anm. 8], S. 167– 214. Ich beziehe mich hier auf Ergebnisse einer nicht publizierten Bochumer Masterarbeit von ARNE SCHUMACHER (Exemplar: Bochum, Bibliothek der Fakultät für Philologie [Germanistik], Sign. I c 129), der derzeit eine Dissertation zur deutschen ›Consolatio‹-Rezeption im Spätmittelalter vorbereitet. PALMER [Anm. 9], S. 371.

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schriften der Humeryschen ›Consolatio‹-Übertragung bezeichnet immerhin eine, wohl keineswegs zufällig die des Ratsherren Jakob Schirl, die übersetzten Abschnitte mit lateinischen Überschriften, und insgesamt zwei (der gleichfalls aus dem Besitz von Schirl stammende Codex Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 490 sowie der Mainzer Codex, StB, Hs. III 44) sind mit lateinischen Texten vergesellschaftet. Die Lemgoer ›Consolatio‹-Übertragung kennt ebenfalls lateinische Initien, durch die der volkssprachliche Text leicht auf den Ausgangstext bezogen werden kann. Zudem geht dort ein von gleicher Hand geschriebener lateinischer Perikopenkommentar voran. Den interessantesten Fall in dieser Hinsicht stellt aber zweifellos die heute in Oxford liegende Erfurter Handschrift dar, die zunächst als rein lateinisches Manuskript des Boethianischen Trostbuchs im Kontext von Schule oder Universität existierte, bevor 15–20 Jahre später von anderer Hand eine deutsche Übersetzung samt deutschen Exkursen am Rand und auf eigens eingelegten Blättern nachgetragen worden ist und die so aufbereiteten Lagen dann in einem nächsten Schritt mit weiteren lateinischen Werken kontextualisiert wurden.37 Die medialen Kontexte der spätmittelalterlichen deutschen ›Consolatio‹-Übertragungen sprechen also nicht unbedingt dafür, dass ein nachhaltiger kultureller Transfer des spätantiken, in der lateinischen Kultur des Mittelalters tief verankerten Werkes in die mittelalterliche vernakulare Literatur und Kultur stattgefunden hätte – eine vollständige Ablösung von der lateinischen Ausgangskultur und der lateinischen Fassung der ›Consolatio‹ scheint auch nicht beabsichtigt gewesen zu sein.38 Freilich – subkutan und daher nur schwer zu fassen, tauchen Motive und Thesen der ›Consolatio Philosophiae‹ dann doch hin und wieder in der deutschen Literatur des Mittelalters auf. Eine systematische Suche, die bislang erst ansatzweise unternommen wurde, vermöchte wohl zu zeigen, dass das Trostbuch des Boethius vom 12. bis zum 15. Jahrhundert in volkssprachige Werke aus ganz unterschiedlichen Gattungen eingegangen ist.39 Selbst im letzten Unternehmen auf dem Gebiet des Artusromans, in Ulrich Fuetrers ›Buch der Abenteuer‹, einer gewaltigen Romansumme von 1480/90, lässt sich noch eine explizite Anspielung darauf konstatieren, wenn der Erzähler Fraw Wellt der Unzuverlässigkeit und Treulosigkeit bezichtigt und sich dafür auf Boecius, als er uns schreybt de consolacione beruft.40 Und auch im 16. Jahrhundert, das in Deutschland, im Unterschied zu anderen europäischen Ländern, keine Übersetzung der ›Consolatio‹ 37 38

39

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Ebd. S. 386–389. Vgl. Auch ebd. S. 365f.: There is a tendency to treat translation as an explanatory paraphrase of the original, and in this these versions are not so far removed from Notker’s Old High German rendering. As a rule we may consider the main function of the medieval translation of Latin texts to be to bring these works to a new literary public. In the Boethius translations however there is a growing tendency for the vernacular rendering to be treated as a commentary to the Latin rather than as a substitute. Vgl. die Belege in RÄDLE, WORSTBROCK [Anm. 6]; CHRISTINE HEHLE, Boethius’s Influence on German Literature to c. 1500, in: KAYLOR, PHILIPPS [Anm. 1], S. 225–318. Ulrich Füetrer, Lannzilet aus dem »Buch der Abenteuer«, Str. 1123–6009, hrsg. von RUDOLF VOß, Paderborn 1996, hier Str. 6003.

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hervorgebracht hat und deshalb manchmal unter dem Rubrum »Rezeptionslücke« geführt wird, existiert mindestens ein eindeutiges Zeugnis für die kulturelle und literarische Produktivität des Boethianischen Trostbuchs. Denn mit Hans Sachs greift gerade einer der berühmtesten deutschsprachigen Literaten jener Epoche auf die ›Consolatio Philosophiae‹ zurück, indem er sie ganz offenkundig als Anregung für sein am 27.10.1547 verfasstes ›Gesprech der Philosophia mit einem melancholischen, betrübten jüngling‹ nutzte.41

41

Vgl. Hans Sachs. Sämtliche Werke, 26 Bde., hrsg. von ADELBERT VON KELLER, EDMUND GÖTZE, Stuttgart 1870–1908, hier Bd. 4, S. 141–146. Möglicherweise kannte der Nürnberger Sachs sogar die einige Jahrzehnte zuvor in der freien Reichsstadt erschienene bilinguale Ausgabe Kobergers, denn in einem zweiten, auf den 29.8.1558 datierten Spruch über ›Boecii, des christlichen philosophi und poeten history‹ (ebd. Bd. 7, S. 386, vv. 24f.) erwähnt er die ›Consolatio‹ als Buch vom trost der weiszheyt, das man hat in teutsch und latein, damit dürfte die Koberger-Ausgabe von 1473 gemeint sein; vgl. auch WILHELM ABELE, Die antiken Quellen des Hans Sachs, 2 Bde., Beilage zum Programm der Realanstalt in Canstatt zum Schlusse des Schuljahres 1896/97 und 1898/99, hier Bd. 2, S. 62f. Vgl. zu Sachs’ ›Gesprech der philosophia mit einem melancholischen, betrübten jüngling‹ gleichfalls, allerdings ohne einen Verweis auf die ›Consolatio‹, ANDREA SIEBER, Zwischen phantasey und vernunfft. Strategien der Selbstthematisierung in Hans Sachs’ lyrischen Streitgesprächen, in: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters, hrsg. von MARTIN BAISCH u.a., Königstein im Taunus 2005, S. 309–323.

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Im Folgenden eine Synopse unterschiedlicher Consolatio-Verdeutschungen am Beispiel von Ausschnitten aus Buch I, Prosa 4 und Buch IV, Metrum 1. Die sich entsprechenden Passagen sind jeweils grau unterlegt. Eckige Klammern bezeichnen Plusstellen; in der Erfurter Fassung von IV,1 sind die deutschen Übersetzungen der lateinischen Interlinearglossen kursiviert. Der lateinische Text und die nhd. Übersetzung stammen aus: Trost der Philosophie. Lat./dt., hrsg. und übersetzt von ERNST GEGENSCHATZ, OLOF GIGON (Bibliothek der alten Welt. Reihe Antike und Christentum), Zürich/Stuttgart 21969; die Münsteraner Fragmente aus: BÖMER [Anm. 9]; die Lemgoer Übersetzung basiert auf einer durch AGATA MAZUREK (Berlin) angefertigten Transkription der Hs. Gießen, UB, cod. 863; Konrad Humerys Übersetzung basiert auf einer durch ARNE SCHUMACHER (Bochum) angefertigten Transkription der Hs. Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 490; Die Erfurter Übersetzung aus der Hs. Oxford, Bodleian Library, MS Hamilton 46 nach NIGEL PALMER [Anm. 9], S. 392; Koberger basiert auf einer Transkription des Drucks von 1473, die BIANCA HÄBERLEIN (Bochum) und ich selbst angefertigt haben.

Bernd Bastert

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Boethius, ›Consolatio Philosophiae‹, Buch I, Prosa 4 Latein

Nhd. Übersetzung

Münsteraner Fragmente

Sentisne, inquit, haec atque animo illabuntur tuo? An ὄνοԊ λύραԊ? Quid fles, quid lacrimis manas? Ἐξαύδα, μὴκεΰϑενόῳ. Si operam medicantis exspectas, oportet vulnus detegas. Tum ego collecto in vires animo: Anne adhuc eget admonitione nec per se satis eminet fortunae in nos saevientis asperitas? Nilhilne te ipsa loci facies movet? Haecine est bibliotheca, quam certissimam tibi sedem nostris in laribus ipsa delegeras? In qua mecum saepe residens de humanarum divinarumque rerum scientia disserebas? Talis habitus talisque vultus erat, cum tecum naturae secreta rimarer, cum mihi siderum vias radio describeres, cum mores nostros totiusque vitae rationem ad caelestis ordinis exempla formares? Haecine praemia referimus tibi obsequentes?

Empfindest du dies, sprach sie, dringt es in deinen Geist? Oder stellst du dich wie »der Esel zur Leier«? Warum weinst du, warum strömen deine Tränen? »Sprich aus und verbirg es nicht im Geist.« Wenn du Hilfe des Arztes erwartest, mußt du deine Wunde aufdecken. Da sammelte ich im Geiste alle meine Kräfte: Bedarf es jetzt noch der Aufforderung, tritt die Härte des Schicksals, das gegen mich wütet, nicht genug hervor? Bewegt dich nicht schon der Anblick dieses Ortes? Ist das wohl jene Gelehrtenstube, die du dir als verläßlichsten Wohnsitz an unserem Herde selber gewählt hattest, in der du dich so oft bei mir niederließest und die Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen mit mir erörtertest? War so meine Haltung, meine Miene, als ich mit dir der Natur Geheimnisse erforschte, als du die Bahnen der Gestirne mit dem Zirkel umschriebest, als du mein Wesen und den Plan meines Lebens nach dem Vorbilde der himmlischen Ordnung formtest? Tragen wir nun solchen Lohn für unsern Gehorsam davon?

SEntis ne, inquit hec atque animo illabuntur tuo? AN ONOCAYPAT Quid fles, quid lacrimis manas? Si operam medicantis exspectas, oportet vulnus detegas tuum etc. Do sprach Philozophia: »Vernemes du ouch ind gait dir diese rede icht zo hertzen.// Was grýns du? Was schrijes du? Bekenne vns dýne smertze.// Vürsaiche vns nýet dýne bedroüffnýsse: ofte bistu éyn agýpat.// Daz ist eýn ýsel tzor lýren vrt: Ind zo alre vrote lat.// Woulte artzedýe vntfan: so mstu die wonden laissen zýen.«// Do sprach ich Boecius ind riichte al mýr zýnne krefte ýn éyn:// »O Philozophia: was sal ich dich vurder boscheiden, du machst doch proüen.// Dat daz wrede gelucke ken vns sich begynnet thod ouen.// Gedenkt dich nýet, wij herlich daz dü ind ich in býbliotheca zeten // ind van gotlichen ind menschlichen zaichen wýslich zo sprechen vns vermeten.// Do was onse gesteltnýsse ind vnse gebere also getaýn,// das…. der nature…. // Do vnse zede ind vnses lebens redelicheit as…. // tzo eýner lichnýsse der hemelschen zaite van dir…. formiert.// Is dit n vnse ln?«

Kontinuitäten eines »Klassikers«

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Boethius, ›Consolatio Philosophiae‹, Buch I, Prosa 4 Lemgoer Übersetzung

Konrad Humery

Koberger

Sentis ne, inquit. [Hijr beschuldiget ene de wisheit vmme syne vnstedicheit vnde spreckt:] »O, myn leue frunt, merke myne wort [vnde hebbe dar lust van] vnde west nicht alsz ein esel, de seiden speel hort. Wor vmme weynestu vnde de treyne begete dine wangen? [Heuestu droffnisse?] Wor vmb en openbarstu my der nicht, [wente de sele en mach nicht van doitliken wunden hebben. Alse dat liff heuet man, wy mogen se gesunt maken.]« Do antworde or Boecius vnde wart inechtich in synem moyde vnde siner droffnisse vnde sprack: »Leue frouwe, dat isz nicht de stede, dat wy handelen gotliche dingk vnde wertlike kunste, wante in dusser stat was gesat din scoel vnde dar weren dyne hogen boeke vnde wasz doe vries modes. [Nu werde ick gepyniget vnde ga vmb mid bosen wichteren.] Ouck so enwaren myne cleidere vnde myn antlat, alse se nu sint, do wy beschreuen den lop der sterne vnde de hemelicheit der naturen vnde de guder dogede [vnde seele des jegenwordigen leuens], dat wy gesatet hadden na yemme ouersten leuende. [Ouck so mach ick my wol ouel holden vmme myne bedroffnisse, wente ick lide so vmme dinen willen, alse al de jenne doet, de dyne deyner sint, dat he (…)] hijr meer pine enfaet den lones.

Prosa quarta Die gemelte philosophie begert dar nach zu wissen von Boecio eygentlich gestalt synes smerczens vnd fraget yen warvmb er weynet in elende damit. Wereß, das er hilff vnd erledigunge begeren sij, so forder die noittorfft, das er offyn sij, syn gesprech vnd kranckheit vnd dar in nit hele noch berge. Da wart Boeciűs etwas erquicket vnd erzelen fűnff sachen sins smerczens vnd betrupniß, die yen enttrűste hettent.

Prosa quarta Darnach sprach die weisheit: »Versteestu icht dise wortte vnd vallent sye dir icht in dien gemte?« [Vnd sprach kriechisch dise wort]: »Bistu es dann ein esel zu der leiren? Warumb weinest du, warumb abrinnen dir die zeher?« [Vnd sprach auch zu im aber kriechisch]: »Bekenn vnd verpirg mir nit deinen schmertzen.« [Darnach volgen in latein die wort, die zu detsch also sprechen]: »Ob du peytest die hilff des artzs, so mustu aufdecken die wunden.« B. Vnd da ich nun gesamet die kreffte meines gemtes, da sprach ich: »Darfft du aber noch icht der manung vnd ist es nit selber genug scheinpar, wie gar herttigklichen das gelcke wider vns wttet. Bewegt dich nicht das angesihte diser stat. Ist dann das die puchkamer, dar Inn du dir gar gewißlichen einen stul in vnsern hesern hettest außerwelt, dar Inne du offt mit mir sasset vnd knstet von der kunst gtlicher vnd menschlicher ding. Hett ich denn ein solichs claid vnd ein soliche gestalt, da ich mit dir erkndigt die heymlichkeit der natur, vnd da du mir mit der meßgerten [oder winckelmaß der sternseher] anzeýgtest der gestirne lauff, vnd do du anschicktest vnsere siten vnd die bescheidenheit des gantzen lebens nach dem ebenpild der himelischen ordnung? Vnd das sein die löne, die wir dir wider bringen nach dem, das wir dir gedient haben?

Bernd Bastert

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Boethius, ›Consolatio Philosophiae‹, Buch IV, Metrum 1 Latein

Nhd. Übersetzung

Sunt etenim pinnae volucres mihi, Quae celsa conscendant poli. Quas sibi cum velox mens induit, Terras perosa descipit, Aeris immensi superat globum Nubesque postergum videt, Quique agili motu calet aetheris, Transcendit ignis verticem, Donec in astriferas surgat domos Phoeboque coniungat vias Aut comitetur iter gelidi senis Miles corusici sideris Vel, quocumque micans nox pingitur, Recurrat astri circulum. Atque ubi iam exhausti fuerit satis, Polum relinquat extimum Dorsaque velocis premat aetheris Compos verendi luminis. Hic regum sceptrum dominus tenet Orbisque habenas temperat Et volucrem currum stabilis regit Rerum coruscos arbiter. Huc te si reducem referat via, Quam nunc requiris immemor: Haec, dices, memini patria est mihi, Hinc ortus, hic sistam gradum. Quodsi terrarum placeat tibi Noctem relictam visere, Quos miseri torvos populi timent, Cernes tyrannos exsules.

Flüchtige Schwingen sind mir zu eigen, Sie tragen dich zum höchsten Pol; Wenn hurtig der Geist sich mit ihnen umgürtet, Läßt er verachtend die Erde hier, Dringt durch der Lüfte unmeßbare Zonen, Bis er die Wolken rücklings sieht, Steigt dann auf durch den Scheitel des Feuers, Der durch den Schwung des Äthers glüht, Steigt schließlich auf zu den Sternenhäusern Und gesellt sich der Phoebus Bahn Oder begleitet den Greis, den kalten Des funkelnden Gestirns Soldat, Was immer schmückt die leuchtenden Nächte, Durchwandelt er im Sternenkreis. Aber ist er gesättigt vom Schauen, Läßt er den fernsten Pol zurück, Ruht auf dem Rücken des schnellen Äthers, Genießt des hehren ewigen Lichts. Hier trägt das Zepter der Könige Herrscher Und hält den Weltenkreis im Zaum, Reglos lenkt den geflügelten Wagen Der funkelnde Regent der Welt. Führt dich der Weg hierher zurück – Jetzt suchst du ihn nur unbewußt – , Sprichst dann: Wieder erkenn ich die Heimat, Hier stamm ich her, hier steh mein Fuß. Aber verlockt es dich, niederzuschauen Zur Nacht der Erde, die du flohst, Siehst ohne Heimat die finsteren Tyrannen, Die armer Völker Schrecken sind.

Kontinuitäten eines »Klassikers«

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Boethius, ›Consolatio Philosophiae‹, Buch IV, Metrum 1 Erfurter Übersetzung

Konrad Humery

Koberger

Fuit homo missus a deo. Ve anime peccatrici. Ich han lichte flogel, dye czü dem hoen hyemel eyn furen kun. Kryget dye eyn wacker gerade sele an sich, so gifft sye sich balde van der erden, vnd durch vert allerdinge den vnmessigen ring der lucht vnd komet boben dye wolken, vnd durchvert den heuen vnd komet bouen den ring des furß, vnd fluget all vort bis sye komet an dye huße der planeten, vnd beginnet myt der snelvarende sonnen czüvaren, ader vert vß den wech den Saturnus vert, vnd fluget so bouen den claren Youen, vnd so durch vert all dat, da dye nacht van geczyret wirt, den gantzen ring des hyemels; vnd wan sye genüch gefaren, verstant, contemplyret hayt, mach sye verlaßen den hogen hymel vnd sich widder hernidder geue czú dem heuen, aß sye ynnich ys des erwerdigen lichtes. Dar hayt de here aller koninge dat scepter yn syner hant vnd regert, czüt na wyllen dye czogel, da de ring der werlt myt allen dingen an hangen vnd gan. Dar ys de clare richter aller dinge stillstande, vnbewegelich, vnd czut den snellauffende wagen des hyemelß. Brechte dich da widder hien de wech, den dü nü suchest, na dem dü ez vergessen bist, so soldest dü sunder czwiuel sprechen: »Dyt lant, ader dyeße stat, ys myn heym. Van hyr syn ich geborn. Hyr wyl ich blyben.« Vnd wan dü werst, lustede dich dan dye duster nacht der erden, van dan dü gevaren werst, an czüsien, so soldest dü wol erken wye ellendich dye grymmen tyrann syn, dye dye armen lude so ser vrochten.

Metrum primum Ich sagen dir, das ich han gar snelle feddern sie stigent hoch in die hiemel. Vnd welcher gedanckt sich damit nit sűmelich noch treffelich becleydet, der verachtet vnd vorsmehet alle irdinsche gude [vnd helt sich in siner begirde zu dem obersten vnd ewigen gude.] Er dorchdringet auch die hiemel vnd alle behűsűnge der planeten vnd vndertrucket die hoede des snelle vmbgehenden hymmels vnd wirt deilhafftig des ewigen lichtes. Daz ist got der herre, der da heldet daz konigliche zepter, vnd hiemmel vnd erden orden ist. Boeci, wirt dich der weg, [so dich von den begirden zijtlicher gude kerest], fűren in die gegen, so wistu sagen, das daz dyn heymot vnd vetterlich lant sij, vnd das dv von dannen komen vnd orsprűng gehabt hast vnd geborn sijst [vnd wollest daselbest din ewiglich wesen han]. Ist is auch, das dv eyn woil gefallen dar inn haist, [das dv die begirde vnd wolloste, die du zu zijtlichen irdinschen dingen vnd guden vormals gehait haist], nű verlaßen vnd gancz zurűcke gestalt hast, so wirtstű sehen, das die tyrannen dieser werlden, die die menschen hie qűalegen, dort elende [vnd von der ewigen freuden gerbe geschalden vnd der beraűbt] synt.

Metrum primum Wann ich hab schnelle federn [oder vettachen], die sich zu der hhe des himels schnell auffschwingen. Vnd wenn das schnell gemte dieselben antzecht, so verschmeht es heßlichen das ertrich vnd übersteigt die scheiben des weiten oder vngemessen luftes vnd siht hinder im die wolcken, vnd bersteigt die hhe des fers, das seinen anfang ht in dem hohen vnvermischten lufft, der da hitzig wirt von seiner schnellen bewegung. Vnd also steigt das gemte ber sich, biß es kompt in die sterntragenden hesere des firmaments vnd fget zu die wege der sunnen oder volget nach dem wege des frostigen alten, [das ist dem planeten Saturno], vnd wirt auch ein ritter des gelantzen gestirnes. Oder, an welchem tail wirt die scheinend nacht gemolet vnd laufft herwider zu dem zirckel des gestirnes, [der zwelf tierlein], vnd wo dann ytzunt gnug wirt aufgeschöpft der beschauung, so verlat es dann den aussersten himel vnd drckt den rck oder das hinderteil des schnellen hohen lufftes vnd wirt denn ein besitzer gotes, des forchtsamen liechtes. Vnd daselbst heldet das zepter der herr der knige vnd messigt auch die regiment des vmkraiß, vnd selb steender verrichtet er den schnellen wagen vnd ist dieser ding ein scheinender richter. Vnd ob dich der wege da herwider haym tregt, so wirdest du sprechen: »Ich gedenck, das ist mein vaterland«, das du ytzunt vnbedacht suchest, vnd wirdest auch sprechen: »Do dannen bin ich prtig, hie wil ich besteen.« Ob dir aber gevellet oder behagt die verlassen nacht des ertrichs zubeschawen, so wirdest du sehen die greulichen wutrich, die das iamerig oder dürftig volck furchtet, das sie ellende sein von dem vaterland.

Humanismus und Volkssprache Renaissancedichtung am Heidelberger Hof zur Zeit Friedrichs II. (1544–1556) von Anna Kathrin Bleuler

Vorrede Im Herbst 1551 erhält der Wormser Lateinlehrer Kaspar Scheit1, der sich mit der eben erschienenen deutschsprachigen Übersetzung von Friedrich Dedekinds ›Grobianus‹ verdient macht, von einem Hofbeamten des Kurfürsten Friedrich II. aus Heidelberg den Auftrag, anlässlich einer Doppelhochzeit, die zusammen mit Friedrichs 70. Geburtstag am pfalzgräflichen Hof gefeiert werden soll, eine poetische Tischrede zu verfassen.2 Dieser Auftrag treibt Scheit nach eigener Aussage zunächst einmal den Angstschweiß auf die Stirn. Denn vorgegeben wird nicht nur was, sondern auch wie der Text verfasst werden soll: Gefordert wird ein Streitgedicht über die Vorzüge der beiden Jahreszeiten Frühling und Herbst, da es am Hof in Mode sei, über dergleichen zu debattieren und sich die Hofgesellschaft in zwei »unversöhnliche« Parteien gespalten habe: die Maimänner einerseits, die Herbstleute andererseits. Hierfür sendet der Hofbeamte Scheit zwei neulateinische Dichtungen der beiden Heidelberger Gelehrten Nikolaus Cisner und Johannes Mercurius zu, die ihm in poetischer und rhetorischer Hinsicht als Leitfaden dienen sollen – nicht aber in sprachlicher. Denn der Kurfürst wünscht keine lateinischsprachige Tischrede, sondern ein den sozialen Verhältnissen am Hof angepasstes »Experiment«: ein in deutscher Sprache verfasstes Streitgedicht, das aufgrund der Vorliebe, die der Kurfürst und etliche seiner Hofleute fürs Französische hätten (›Lobrede‹, S. 13, vv. 15–20), an manchen Stellen Elemente aus französischer Dichtung enthalten soll. Diesen wiederum seien zum besseren Verständnis der nicht-französischsprachigen Anwesenden jeweils deutsche Übersetzungen beizugeben. Und da der Hof außerdem viele Gelehrte beherberge, solle Scheit hin und wieder auch lateinischsprachige Passagen ein1 2

Ebenso finden sich die Schreibweisen: Caspar Scheidt, Scheyt, Scheid. Vgl. die beiden Vorreden von Kaspar Scheit in: Kaspar Scheit, Ein kurtzweilige Lobrede von wegen des Meyen, mit vergleichung des Fruehlings und herbsts. Beschriben durch Casparum Scheidt von Wormbs, Getruckt zu Wormbs durch Gregorium Hofmann, Worms 1551; im Folgenden zitiert nach Kaspar Scheit, Lobrede von wegen des Meyen, hrsg. von PHILLIP STRAUCH (NDL 268–269), Halle 1929, hier: S. 2–15. Für die Zitation wird der Kurztitel ›Lobrede‹ verwendet.

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Anna Kathrin Bleuler

bringen, diese dann stets mit Quellenangabe, um den Zuhörern die Suche zu ersparen (›Lobrede‹, S. 13, vv. 23–28). Dies alles geht aus der Vorrede des Textes hervor. Scheit setzt den fürstlichen Dichterauftrag um, indem er den Maimännern das Wort redet und ein Lob auf den Frühling verfasst. Dabei reiht er die geforderten Zitate aus unterschiedlichen literarischen Traditionen nicht einfach lose aneinander, sondern setzt sie in einen Wettstreit mit der deutschsprachigen Tradition, um diese immer wieder aufs Neue als Siegerin hervortreten zu lassen. Scheits ›Lobrede‹ auf den Mai entpuppt sich als Lobrede auf die deutsche Sprache und Literatur, wobei sich der Frühling und das Deutsche im Status der Superiorität treffen. So verwundert es denn auch nicht, wenn Scheit in einer anderen seiner genuin volkssprachigen Dichtungen, der ›Fröhlichen Heimfahrt‹,3 an einer Stelle, die von Flora handelt, in der Randglosse vermerkt: Vnder der person Flora verstehe Teutschland (›Fröhliche Heimfahrt‹, vv. 141f.). Und wenn diese Flora mit dem antiken Gott der Dichtkunst und der Musik – Apollo – eine Liaison eingeht, aus der wunderschöne Blumen erwachsen (›Fröhliche Heimfahrt‹, v. 48), so lässt sich dies als verklausulierte Reflexion der poetischen Verfahrensweise deuten: Flora (also Deutschland), befruchtet von Apollo (dem antiken Gott der Dichtkunst), bringt die Flores hervor, d.h. den deutschsprachigen Redeschmuck. Bis heute hat die deutschsprachige Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts den Ruf, volkstümlich, naiv und ohne größeren Anspruch jenseits ihrer didaktischen Wirkungsabsichten zu sein. Literaturgeschichtlichen Darstellungen zufolge steht sie abseits der gleichzeitigen Versuche der volkssprachigen Literaturen Süd- und Westeuropas, in Auseinandersetzung mit der Maßstab setzenden Antike und in Konkurrenz zum Neulatein eine elaborierte Literatursprache zu entwickeln.4 Als Überwinder dieser Rückständigkeit und Begründer einer »neuen deutschen Literatur« gilt nach wie vor Martin Opitz (17. Jahrhundert).5 In jüngerer Zeit mehren sich jedoch Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass die in der Literaturgeschichtsschreibung für das 16. Jahrhundert vorgenommene Trennung von Volkssprache und Humanismus nicht gerechtfertigt ist, da die deutschsprachigen Autoren des 16. Jahrhunderts ihrem Selbstverständnis nach sehr 3

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Vgl. Kaspar Scheit, Die Froelich Heimfahrt. Eine newe Poëtische Histori, von Fraw Adelheiten, irem tugentsamen leben, und seligem abschied. Zu loeblicher nachgedechtnuss, der Edelen und Tugentreichen Frawen Anna von Erntrawt, weiland des Edlen und Ernuesten Hans Jacoben von Wachenheims ehlichem gemahel. Allen Adelichen gemütern, besonder Frawen und Junckfrawen nützlich und kürtzweilig, auch allen bekümmerten tröstlich unnd ergetzlich, Getruckt zu Wormbs durch Gregorium Hofmann, Worms 1552; zitiert nach Kaspar Scheit, Die fröhliche Heimfahrt, hrsg. von PHILLIP STRAUCH (Schriften des Wissenschaftlichen Instituts der Elsaß-Lothringer im Reich 6), Berlin/Leipzig 1926. Für die Zitation wird der Kurztitel ›Fröhliche Heimfahrt‹ verwendet. Zur Darstellung der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts in der Literaturgeschichtsschreibung vgl. JAN-DIRK MÜLLER, Fischarts Gegenkanon. Komische Literatur im Zeichen der Imitatio, in: Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert, hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, JÖRG ROBERT (Pluralisierung & Autorität 11), Münster 2007, S. 281–321, hier S. 281– 283. Vgl. ebd. S. 281.

Humanismus und Volkssprache

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wohl am europäischen Renaissance-Humanismus teilgenommen haben.6 Diese Arbeiten weisen darauf hin, dass die Frage nach dem Verhältnis von Volkssprache und Humanismus grundsätzlich neu gestellt werden muss. 6

Zur imitativen deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts vgl.: VOLKER RIEDEL, Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 2000; ULRICH SEELBACH, Ludus lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts (Euphorion, Beihefte 39), Heidelberg 2000; NICOLA KAMINSKI, Gigantographie. Fischarts ›Geschichtklitterung‹ zwischen Rabelais-imitatio und aemulatio mit des Gargantua vnnachzuthuniger stärck, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002, hrsg. von LUDGER GRENZMANN, KLAUS GRUBMÜLLER (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge 263), Göttingen 2004, S. 273–304; NICOLA KAMINSKI, Dekonstruktive Stimmenvielfalt. Zur polyphonen imitatio-Konzeption in Frischlins Komödien ›Hildegardis Magna‹ und ›Helvetiogermani‹, Daphnis 24 (1995), S. 79–133; WILHELM KÜHLMANN, Kombinatorisches Schreiben. »Intertextualität« als Konzept frühneuzeitlicher Erfolgsautoren (Rollenhagen, Moscherosch), in: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hrsg. von WILHELM KÜHLMANN, WOLFGANG NEUBER (Frühneuzeit-Studien 2), Frankfurt am Main u.a. 1994, S. 111–139; für die Frühzeit: SIMONE DRÜCKE, Humanistische Laienbildung um 1500. Das Übersetzungswerk des rheinischen Humanisten Johann Gottfried (Palaestra 312), Göttingen 2001, weiter: JÖRG ROBERT, Deutsch-französische Dornen. Paul Melissus Schede und die Pluralisierung der späthumanistischen Poetik zwischen Latinität und Volkssprache(n), in: Lateinische Dichtung und volkssprachliche Traditionen von der Renaissance bis zum Neoklassizismus, hrsg. von MARC FÖCKING, GERNOT M. MÜLLER (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 31), Heidelberg 2007, S. 207–229; STEFANIE SCHMITT, Humanistisches bei Georg Wickram? Zur Problematik deutschsprachiger humanistischer Literatur, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hrsg. von NICOLA MCLELLAND, HANSJOCHEN SCHIEWER, STEFANIE SCHMITT, Tübingen 2008, S. 137–154; ANNA KATHRIN BLEULER, Imitatio veterum – imitatio modernorum. Kaspar Scheits ›Fröhliche Heimfahrt‹ im Spannungsfeld von autochthoner literarischer Tradition und Renaissance-Humanismus, Daphnis 38 (2009), S. 527– 554; weitere Studien zur volkssprachigen imitatio und aemulatio sind enthalten im jüngst erschienenen Sammelband: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620), hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER u.a. (Pluralisierung & Autorität 27), Berlin/New York 2011. Ferner liegen zahlreiche Publikationen vor, die einer systematischen Untersuchung des volkssprachigen Renaissancediskurses im 16. Jahrhundert vorarbeiten. So z.B. WILHELM KÜHLMANNs Studie des südwestdeutschen Späthumanismus: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), Tübingen 1982; zur Positionierung des in der Volkssprache schreibenden Autors: ERICH KLEINSCHMIDT, Stadt und Literatur in der frühen Neuzeit. Voraussetzungen und Entfaltung im südwestdeutschen, elsässischen und schweizerischen Städteraum, Köln/Wien 1982. Zu Nationalsprachendiskurs, Diglossieproblematik, Übersetzungspraxis und zur Etablierung konfessionell begründeter Sprachnormen im späten 16. Jahrhundert vgl. u.a.: DIETER BREUER, Oberdeutsche Literatur 1565–1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beihefte, Reihe B 11), München 1979; KLAUS GRUBMÜLLER, ›Deutsch‹ an der Wende zur Neuzeit, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hrsg. von WALTHER HAUG (Fortuna vitrea 6), Tübingen 1999, S. 263–285; WILHELM KÜHLMANN, Nationalliteratur und Latinität: Zum Problem der Zwei-

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Anna Kathrin Bleuler

Der folgende Beitrag ist Teil eines größeren Projekts, das sich mit der Frage nach den Auswirkungen, die das humanistische Wissen auf die vernakulare Kultur zur Zeit der Renaissance hatte, beschäftigt.7 Unsere Hypothese ist, dass im 16. Jahrhundert in Deutschland ein poetischer Diskurs entsteht, der sich sowohl von der Poetik desjenigen Süd- und Westeuropas wie vom späteren Opitzschen Klassizismus unterscheidet. Im Windschatten der gelehrten, klassischer imitatio verpflichteten neolateinischen Poesie scheint sich ein Experimentierfeld auszubilden, auf dem in Auseinandersetzung mit dem Humanismus epistemische Praktiken und poetische Verfahrensweisen erprobt werden. Solche Versuche entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind geographisch lokalisierbar, auch wenn sie zum Teil eher als zwischen mehreren Orten aufgespannte Kommunikationsräume zu begreifen sind. Sie sind in übergreifende soziale, politische und kulturelle Strukturen eingebettet, von denen sie beeinflusst sind, an denen sie teilnehmen und auf die sie zurückwirken. Aus dem angesprochenen literaturgeschichtlichen Interesse heraus geht es uns darum, solche Orte und Kommunikati-

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sprachigkeit in der frühneuzeitlichen Literaturbewegung Deutschlands, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des 1. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. von KLAUS GARBER (Frühe Neuzeit 1), Tübingen 1989, S. 164– 206; JOACHIM KNAPE, Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation, in: Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von ANDREAS GARDT, Berlin/New York 2000, S. 103–138, und DERS., Das Deutsch der Humanisten, in: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, 2. Teilbd., hrsg. von WERNER BESCH u.a. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2,2), Berlin/New York 22000, S. 1673–1681, sowie: ANJA STUKENBROCK, Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945) (Studia Linguistica Germanica 74), Berlin/New York 2005; zur Multilingualität in der Renaissance im deutschsprachigen Raum: Mehrsprachigkeit in der Renaissance, hrsg. von CHRISTIANE MAAß, ANNETT VOLMER (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 21), Heidelberg 2005. Eine Zusammenstellung wichtiger Untersuchungen zum Konflikt zwischen Latein und Volkssprache liefert ALFRED NOE in seinem Forschungsbericht: Der Einfluß des italienischen Humanismus auf die deutsche Literatur vor 1600. Ergebnisse jüngerer Forschung und ihre Perspektiven (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Sonderheft 5), Tübingen 1993, S. 204–233; zur Wechselbeziehung zwischen den beiden Sprachen vgl. ferner: Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von BRITTA BUßMANN u.a. (Trends in Medieval Philology 5), Berlin 2005; zur volkssprachigen Übertragung antiker Texte z.B.: BIRGIT PLANK, Johann Sieders Übersetzung des ›Goldenen Esels‹ und die frühe deutschsprachige ›Metamorphosen‹-Rezeption. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte von Apuleius’ Roman (Frühe Neuzeit 92), Tübingen 2004; oder: FRANZISKA KÜENZLEN, Verwandlung eines Esels. Apuleius’ ›Metamorphoses‹ im frühen 16. Jahrhundert. Der Kommentar Filippo Beroaldos d.Ä. Die Übersetzungen von Johann Sieder, Guillaume Michel, Diego López de Cortegana und Agnolo Firenzuola. Der Schelmenroman Lazarillo de Tormes (Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 25), Heidelberg 2005. Titel des von DFG und ANR geförderten Projekts: ›Dynamique des langues vernaculaires dans l’Europe de la Renaissance. Acteurs et lieux / Dynamik der Volkssprachigkeit im Europa der Renaissance. Akteure und Orte‹; homepage: www.eurolab.meshs.fr; Laufzeit des Projekts bis April 2013.

Humanismus und Volkssprache

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onsräume zu identifizieren, gerade auch, wenn sich diese in der ex-post Betrachtung als zwar hochproduktiv, aber eben doch als Nebenwege oder als Sackgassen erweisen, die nicht auf der »Zielgeraden« zur Moderne liegen. Zu den Orten und Räumen, in denen sich solche Milieus herausbilden können und die sich daher für unser Frageinteresse anbieten, gehören städtische Metropolen, Höfe, Druckerwerkstätten, Bildungsstätten (wie Schulen, Akademien und Universitäten) sowie religiöse Gemeinschaften. Der Bereich, mit dem sich der folgende Beitrag beschäftigt, ist der frühneuzeitliche Hof als Ort des Austauschs zwischen humanistischer und vernakularer Kultur. Gegenstand ist das literarische Milieu am Heidelberger Hof zur Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich II. (1544–1556).8 Im Gegensatz zu den Anfängen des Humanismus am Heidelberger Hof (Ende 15./ Anfang 16. Jahrhundert) und zur Spätzeit (Ende 16./ Anfang 17. Jahrhundert), die in der Forschung gut untersucht sind,9 ist das literarische Milieu um Friedrich II. in der Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend unerforscht. Untersuchungen dazu beschränken sich auf einzelne neulateinische Dichter und Gelehrte. Entsprechend ist die Frage nach den Auswirkungen des humanistischen Wissens auf die deutsche Sprache und Literatur für diesen Zeitraum nicht gestellt worden. So urteilt denn auch HERMANN WIEGAND in Bezug auf das literarische Milieu am Heidelberger Hof, dass die deutschsprachige Antikerezeption sowie die Inanspruchnahme der Antike für die Adelskultur in Heidelberg durch den neulateinischen Dichter Jacobus Micyllus in den 1550er-Jahren zwar vorbereitet worden sei, jedoch erst Anfang des 17. Jahrhunderts auf die Volkssprache übergegriffen habe.10 Jüngere Untersuchungen stellen Paul Melissus Schede, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am Heidelberger Hof 8

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Der Heidelberger Hof zur Zeit Friedrichs II. und Ottheinrichs (Regierungszeit: 1556–1559) ist Gegenstand des von mir geleiteten Teilprojekts ›Mehrsprachigkeit am Heidelberger Hof in der Mitte des 16. Jahrhunderts‹. Zu den Anfängen des höfischen Humanismus in Heidelberg vgl. JAN-DIRK MÜLLER, Der siegreiche Fürst im Entwurf der Gelehrten. Zu den Anfängen eines höfischen Humanismus in Heidelberg, in: Höfischer Humanismus, hrsg. von AUGUST BUCK (Mitteilung XVI der Kommission für Humanismusforschung), Weinheim 1989, S. 17–50; zur Stellung des Heidelberger Hofs als gesellschaftlichem und kulturellem Zentrum in Deutschland vgl. MARTINA BACKES, Das literarische Leben am kurpfälzischen Hof zu Heidelberg im 15. Jahrhundert, Tübingen 1992. Vgl. weiter: DIETER MERTENS, Zu Heidelberger Dichtern von Schede bis Zincgref, ZfdA 103 (1974), S. 200–241; HEINRICH LUTZ, Die Sodalitäten im oberdeutschen Humanismus des späten 15. und des frühen 16. Jahrhunderts, in: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, hrsg. von WOLFGANG REINHARD, Weinheim 1984, S. 45–61; HERMANN WIEGAND, Deutsch und Latein in der Dichtung der frühen Neuzeit. Zu zwei poetischen Bearbeitungen eines Heidelberger Schützenfestes von 1554, in: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung, hrsg. von WILHELM KÜHLMANN (Chloe. Beihefte zum Daphnis 22), Amsterdam 1995, S. 119–147; HERMANN WIEGAND, Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz (Rhein-Neckar-Kreis. Historische Schriften 2), Ubstadt-Weiher 2000; WILHELM KÜHLMANN, Montpellier und Heidelberg. Poetische Konturen einer historischen Beziehung im 16. Jahrhundert, Heidelberg 2006; ROBERT [Anm. 6], S. 207–229; Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, hrsg. von HERBERT JAUMANN, Berlin/New York 2011. Vgl. WIEGAND, Deutsch und Latein [Anm. 9], S. 146f.

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wirkte, als Begründer des volkssprachigen Humanismus in Heidelberg heraus.11 Entgegen solchen Annahmen belegt die oben angesprochene ›Lobrede‹ Kaspar Scheits, dass am Heidelberger Hof bereits zur Zeit des Kurfürsten Friedrich II. – also gut sieben Jahrzehnte vor Martin Opitz’ programmatischer Begründung einer »neuen deutschen Literatur« durch deren Ausrichtung an antiken und neulateinischen Vorbildern – eine Auseinandersetzung mit dem europäischen Renaissance-Humanismus in deutscher Sprache stattgefunden hat. Fragt man, w i e sich das humanistische Wissen auf Scheits volkssprachige Dichtung auswirkt, so lassen sich zwei grundlegende Beobachtungen machen. Erstens: Bezugsfeld für Scheits Auseinandersetzung mit der klassischen Literatur ist nicht primär der antike, sondern der humanistische Kontext. Mehrheitlich dienen ihm nicht antike Texte und Personen als Vorbilder, sondern prominente Vertreter des Humanismus und deren Werke. Entsprechend werden nicht antike Mustertexte nachgeahmt, sondern poetisch-rhetorische Verfahrensweisen des Humanismus: etwa die Selbststilisierung des Dichters zum Liebling der Musen, die Integration mythologischer und historischer Gestalten ins zeitgenössische Weltbild und damit verbunden die Aktualisierung der Antike in der Gegenwart.12 Dabei erfolgt die Annäherung an die Darstellungskunst der Renaissance zum Teil über den Umweg Frankreichs und Italiens.13 Dadurch ergibt sich ein trianguläres Verhältnis zum Gegenstand, das Verhältnis nämlich zwischen dem europaweit geltenden Latein, der autochthonen deutschsprachigen Tradition und der volkssprachigen Renaissanceliteratur Südeuropas. Zweitens: Die über die humanistische Literatur erfolgende Auseinandersetzung mit der Antike und dem Gelehrtentum ist von einem aemulativen Gestus gekennzeichnet. So geht es in Scheits volkssprachiger Dichtung nicht um das Erreichen antiker und humanistischer Vorbilder, sondern um deren Überbietung. Antike Texte, neulateinisches Schrifttum, Renaissanceliteratur Frankreichs und Italiens erscheinen als Folie, vor der das Deutsche als Literatursprache zu profilieren gesucht wird. Diese Aspekte werden im Folgenden anhand von Scheits ›Lobrede‹ aufgezeigt. Hierfür wird als erstes die Situiertheit von Scheits Dichtung im Umfeld des Heidelberger Hofs zur Regierungszeit von Friedrich II. beleuchtet. Anschließend wird die ›Lobrede‹ in Hinblick auf ihre Bezüge zu Antike und Humanismus untersucht und nach konkreten Vorbildern dafür gefragt. Abschließend wird die Art der Auseinandersetzung mit dem humanistischen Wissen in der Volkssprache begrifflich zu fassen versucht und seine Funktion bestimmt.

11 12 13

Vgl. ROBERT [Anm. 6]. Vgl. BLEULER [Anm. 6]. Vgl. ebd.

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Kaspar Scheit Schulhumanist mit Beziehungen zum Heidelberger Hof Scheits ›Lobrede‹ gehört ins Umfeld von Texten, die Friedrich II. gewidmet sind bzw. von ihm in Auftrag gegeben wurden und die seiner Verherrlichung dienen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang Friedrichs Lebensgeschichte, die sein Sekretär Hubertus Thomas Leodius auf lateinisch verfasst hat,14 aber auch die Schilderung von Festivitäten am Heidelberger Hof, wie die deutschsprachige Beschreibung von Friedrichs Vermählung mit Dorothea von Dänemark von Peter Harer (1534)15 oder die lateinischsprachige Beschreibung von der bereits erwähnten Feier von Friedrichs 70. Geburtstag durch Nikolaus Cisner (1551).16 Hinzu kommen die Berichte über ein von Friedrich genehmigtes Heidelberger Schützenfest (1554) des neulateinischen Dichters Jacobus Micyllus und des Pritschelmeisters Lienhard Flexel.17 Während sich bei diesen Texten die Trennung zwischen Volkssprache einerseits und lateinisch-gelehrt andererseits beobachten lässt, zeichnet sich Scheits ›Lobrede‹ gerade durch ihre Situiertheit im Spannungsfeld der beiden Bereiche aus. Diese Ausrichtung lässt sich mit den biographischen Daten des Autors erhellen. So gehört Kaspar Scheit zu den deutschsprachigen Autoren der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die zwar nicht über eine klassisch humanistische Bildung verfügten, sich dieser jedoch zuwandten. Solches Interesse geht insbesondere aus den mehrfach erwähnten Aufenthalten in humanistischen Zentren in Südwestdeutschland und Frankreich hervor. Denn während man über Scheits Herkunft und seine Jugend nichts 14

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Vgl. Hubertus Thomas Leodius, Annalium De Vita Et Rebus Gestis Illustrissimi Principis Friderici II. Electoris Palatini, Libri XIV. Authore Huberto Thoma Leodio Eiusdem Consiliario. […] In officina Iohannis Ammonii, Frankfurt 1624; sowie die neuhochdeutsche Übersetzung von EDUARD VON BÜLOW, Ein Fürstenspiegel. Denkwürdigkeiten des Pfalzgrafen-Kurfüsten Friedrich II. bei Rhein, 2 Bde., Breslau 1849. Eine neuhochdeutsche Übersetzung in Auszügen hat zudem HERBERT RÄDLE erstellt: Der Reichsfürst und sein Kaiser. Eine Lebensbeschreibung des Pfalzgrafen Friedrich II. (1482–1556) nach Hubert Leodius, eingeleitet, aus dem Französischen übersetzt und kommentiert von HERBERT RÄDLE (Neumarkter historische Beiträge 1), Neumarkt in der Oberpfalz 1998. Als Vorlage dient RÄDLE nach eigenen Angaben jedoch nicht der lateinische Text von Leodius, sondern eine 1588 angefertigte französischen Übersetzung desselben. Vgl. PETER HARER, Gedicht über die Hochzeit Pfalzgraf Friedrichs II. von der Pfalz mit Dorothea von Dänemark, in: Heidelberg, UB, Codex Palatinus germanicus (cpg) 337, Heidelberg 1536. Vgl. Nikolaus Cisner, Descriptio Eorum, Quae In Nuptiis Generosorum Comitum, Domini Philippi ab Hanaw, et Domini in Muentzenberg etc. [...]. Autore Nicolao Cisnero. Excudebat Ioannes Aperbacchus, Heidelberg 1552. Vgl. Jacobus Micyllus, Certamen sagittariorum, celebratum Heydelbergae [...]. Apud Ioann. Aperbacchum, Heidelberg 1554; sowie KARL WASSMANNSDORFF, Des Pritschelmeisters Lienhard Flexel’s Reimspruch über das Heidelberger Armbrustschießen des Jahres 1554. Bei Gelegenheit des 500jährigen Jubiläums der Universität Heidelberg, hrsg. von KARL WASSMANNSDORF, Heidelberg 1886. Zur Kommentierung und Interpretation der beiden Texte vgl. WIEGAND, Deutsch und Latein [Anm. 9], S. 119–147.

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Sicheres weiß – vermutlich wurde er um 1520 im elsässischen Hagenau geboren18 –, weist einiges darauf hin, dass er sich in späterer Zeit länger in Straßburg aufhielt, wo er mit dem streng lutherischen Humanisten Nikolaus Gerbelius befreundet war.19 Ferner hielt er sich wohl eine Zeit lang in Lyon auf, einem Brennpunkt des damaligen geistigen Lebens in Frankreich,20 wo er in Verbindung mit dem gelehrten Druckherren Johannes Tornesius stand, dem er möglicherweise als Korrektor zuarbeitete, und wo er sich mit französischer Rhetorik und Renaissancedichtung vertraut machte.21 Seit Ende der 1540er-Jahre lebte Scheit dann in Worms, wo er als Lehrer und Rektor der Lateinschule tätig war.22 In der Zeit um 1551/1552 übernahm er das Amt des Hofmeisters und Erziehers in der adligen Familie von Wachenheim,23 die im rheinhessischen Wachenheim an der Pfrimm, unweit von Worms, ansässig war.24 Wichtig für das Verständnis von Scheits literarischem Schaffen ist, dass dieses Wachenheim zum Besitz der Leininger gehörte. Denn aus der Beziehung zum Hause Leiningen und dessen Verhältnis zur Kurpfalz erklärt sich wohl Scheits Verbindung mit dem pfalzgräflichen Hof des Kurfürsten Friedrich II. in Heidelberg.25 Durch seine Kontakte zum Hof kam Scheit in Berührung mit den adlig-humanistischen Kreisen Heidelbergs – und hier erneut mit der französischen Sprache.26 Denn der Kurfürst Friedrich II., der engagierter Kulturförderer und Gönner der Heidelberger Universität war, hatte eine Affinität zum französischen Kulturkreis und war stets um Austausch mit Frankreich bemüht. Und so hielten sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts Gelehrte und Dichter am Heidelberger Hof auf, die Friedrichs Neigung zur französischen Sprache und Literatur folgten.27 18

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Scheits Sprache verweist in den elsässischen Raum als Geburtsort (vgl. ALFRED SCHAUERHAMMER, Mundart und Heimat Kaspar Scheits auf Grund seiner Reimkunst untersucht, Halle 1908, S. 170f.), vermutlich nach Hagenau, wo ein weitverzweigtes Geschlecht seines Namens heimisch war. So widmete er diesem 1554 seine in Lyon erschienenen ›Wol gerissnen Figuren ausz der Bibel‹ (vgl. ALBERT BECKER, Kaspar Scheit, der Lehrer J. Fischarts, und sein Pfälzer Kreis. Ein Beitrag zur Literatur- und Kulturgeschichte der Pfalz, Pfälzisches Museum 41 [1924], S. 50–56, hier S. 50). Vgl. Französische Literaturgeschichte, hrsg. von JÜRGEN GRIMM unter Mitarbeit von KARLHEIN2 RICH BIERMANN u.a., Stuttgart 1991, S. 110, sowie ELSA KAMMERER, Jean de Vauzelles dans le creuset lyonnais. Littérature humaniste et pensée religieuse au cœur des échanges entre Lyon, la cour de France, l’Italie et l’Allemagne dans la première moitié du XVIe siècle, Genf 2010. Vgl. KARL HEDICKE, Caspar Scheits Fröhliche Heimfahrt. Nach ihren geschichtlichen und litterarischen Elementen untersucht, Halle/Wittenberg 1903, S. 34–36. Vgl. BECKER [Anm. 19], S. 50. Eventuell übernahm Scheit dieses Amt neben seiner Tätigkeit als öffentlicher Lehrer in Worms (vgl. ebd. S. 50). Vgl. ebd. S. 50. Vgl. STRAUCH [Anm. 2], S. III. Zu den Anfängen des höfischen Humanismus in Heidelberg vgl. MÜLLER [Anm. 9]; Zur Stellung des Heidelberger Hofs als gesellschaftlichem und kulturellem Zentrum in Deutschland vgl. BACKES [Anm. 9]. So ging z.B. Nikolaus Cisner, 1552 Professor der Ethik an der Heidelberger Universität und neulateinischer Hofdichter, nach Frankreich, um dort zu studieren; ebenso zeigen Thomas Leodius, der

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Mit Ausrichtung auf dieses Milieu verfasste Scheit in den 1550er-Jahren eine Reihe von volkssprachigen Dichtungen, die, abgesehen von der ›Grobianus‹-Übersetzung (1551), in der Forschung bislang kaum Beachtung gefunden haben.28 Bis auf zwei in Lyon gedruckte Texte, sind sämtliche Dichtungen Scheits beim gelehrten Drucker Gregorius Hofmann in Worms erschienen, der wiederum mit Scheits Dienstherren, der Familie von Wachenheim, in Verbindung stand.29 Gemäß dieser Ausrichtung sind die Texte an ein höfisches Publikum gerichtet und lesen sich als Empfehlungen des Dichters an den Heidelberger Hof.30 Darauf, dass er diesem im Laufe der Zeit ein Stück näher gerückt ist, verweist die letzte erhaltene Schrift, ›Reformation. Lob und satzung der Edlen und lieblichen Kunst der Musica [...]‹,31 eine Anweisung zum richtigen Benehmen in der Gesangsschule, die 1561, vier Jahre vor Scheits Tod,32 nicht mehr in Worms, sondern in Heidelberg erschienen ist. Die ›Lobrede‹, um die es im Folgenden geht, ist, wie bereits erwähnt, anlässlich einer Doppelhochzeit verfasst worden, die zusammen mit dem 70. Geburtstag Friedrichs II. am 23. November 1551 in Heidelberg gefeiert wurde.33 Laut Vorrede wurde der Text von Friedrich in Auftrag gegeben, um der Festgemeinschaft einen Konversationsanlass zu bieten (›Lobrede‹, S. 2). Aufgrund von widersprüchlichen historischen Daten ist der Status des Textes jedoch unklar. Einleitend wird er zwar als poetische Tischrede veranschlagt (›Lobrede‹, S. 3, v. 23), dass er tatsächlich für den mündlichen Vortrag gedacht war, scheint jedoch fraglich, da er zum Zeitpunkt des Festes als Druck noch gar nicht vorlag. Erschienen ist der Text am 25. November in Worms, also zwei Tage nach der Feier.34 Um ihn vorzutragen, hätte Scheit mit dem Manuskript nach Heidelberg reisen

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Chronist des Kurfürsten, oder der Professor Jakob Micyllus Kenntnis der französischen Sprache und Literatur (vgl. HEDICKE [Anm. 21], S. III sowie S. 36f.; ferner: BÜLOW [Anm. 14]). Neben der ›Lobrede‹ (1552) zwei Beiträge zur Trinkliteratur: ›De generibus Ebriosorum et Ebrietate Vitanda‹ (um 1552) und ›Die volle Bruderschaft‹ (um 1552), den ›Trostspruch‹, die ›Fröhliche Heimfahrt‹ (1553) sowie Verse zu biblischen Figuren: ›Wol gerissnen und geschnidten Figuren ausz der Bibel‹ (1554) und zu Holbeins ›Totentanz‹: ›Todtentanz durch alle Stendt der Menschen‹ (1557). Nähere Angaben dazu bei BLEULER [Anm. 6], S. 535f. In der ›Fröhlichen Heimfahrt‹ wird Gregorius Hofmann als Gfatter von Anna von Erntraut bezeichnet (vv. 350–352); nach FRIEDRICH WILHELM ROTH war es Scheit, der den Wormser Buchdrucker mit seinen Gönnern, der Familie von Wachenheim, bekannt gemacht und ihm auf diese Weise zur Unterstützung durch die adlige Familie verholfen hatte (vgl. FRIEDRICH WILHELM ROTH, Die Buchdruckereien zu Worms am Rhein im XVI. Jahrhundert und ihre Erzeugnisse. HistorischBibliographisch bearbeitet, Worms 1892, S. 41). Vgl. ROTH [Anm. 29], S. 43. Vgl. die Edition in: ALBERT LEITZMANN, Fischartiana. Mit einem Anhang: Kaspar Scheits Reformation der Musica, Jena 1924, S. 77–89. Scheit starb 1565 mit Frau und Kind an der Pest (vgl. BECKER [Anm. 19], S. 50). Der Hochzeit Philipps I. von Leiningen mit Amalie von Zweibrücken-Bitsch und der des Grafen Philipp von Hanau mit Helene von Simmern (vgl. BECKER [Anm. 19], S. 50, und STRAUCH [Anm. 2], S. III–IV). Die Vorrede datiert vom 25. November (vgl. STRAUCH [Anm. 2], S. III).

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müssen. Denkbar ist, dass Scheit Auszüge aus dem vorliegenden, gedruckten Text bei der Feier vorgetragen hat bzw. vortragen ließ. Solche Überlegungen sind jedoch rein spekulativ. In den oben erwähnten historiographischen Dokumenten – Cisners Festbeschreibung und Leodius’ Biographie – ist von einem solchen Vortrag nirgendwo die Rede. Auch ist Scheit auf der bei Cisner überlieferten Gästeliste nicht aufgeführt.35 Es bleibt somit lediglich festzustellen, dass der gedruckte Text an manchen Stellen zwar Anweisungen enthält, die auf eine Konzeption als Vortragstext hinweisen: Dazu gehören Angaben zur Aussprache von Wörtern und Silben (›Lobrede‹, S. 6, Überschrift) oder zur Instrumentierung von Gesangseinlagen (›Lobrede‹, S. 27–28, Randglossen). Grundsätzlich ist er jedoch als Lesetext konzipiert, der mit Titelbild, zwei Vorreden, einem Nachwort und durchgehenden deutsch- und lateinischsprachigen Randglossen versehen ist.

Scheits ›Lobrede‹ im Spannungsfeld von autochthoner literarischer Tradition und Renaissance-Humanismus Dass der Text im Spannungsfeld unterschiedlicher literarischer Traditionen situiert ist, geht bereits aus der Vorrede hervor. Einerseits erwähnt Scheit die neulateinischen Streitgedichte der Heidelberger Gelehrten Nikolaus Cisner und Johannes Merkurius, die ihm als Vorlagen zugesandt worden seien (›Lobrede‹, S. 2, vv. 9–15). Hierbei handelt es sich um Cisners ›Idyllion de Mai et veris laudibus‹ und ›Oratio de veris et autumni collatione et laudibus‹, sowie um eine Lobrede auf den Herbst von Mercurius, die heute allerdings verschollen ist.36 Andererseits stellt Scheit den Text in die Tradition antiker Tischreden (›Lobrede‹, S. 2, vv. 30–S. 3, vv. 20). Vergleicht man die ›Lobrede‹ mit den genannten Vorlagen, stellt man jedoch fest, dass sich die Gemeinsamkeiten auf wenige Einzelheiten beschränken. Von einer Übersetzung der neulateinischen Vorlagen oder gar einer sprachlich-stilistischen bzw. gattungsbezogenen Nachahmung antiker Mustertexte kann nicht die Rede sein. Es ist lediglich festzustellen, dass Scheit, wenn er sich auf antike Autoren beruft, gelegentlich aus Cisners ›Oratio‹ und ›Idyllion‹ zitiert.37 Offenbar wollte sich Scheit mit einer bloßen Übertragung der lateinischen Vorlagen nicht zufriedengeben. Nach eigener Aussage ging es ihm vielmehr darum, möglichst 35

36 37

Vgl. ELSA KAMMERER, Musicus interpres. L’Eloge du mois de mai de Caspar Scheit (Worms, 1551), in: Langue de l’autre, langue de l’auteur aux XIIe, XVIe siècles, hrsg. von MARIE-SOPHIE MASSE, ANNE-PASCALE PONEY-MOUNOU, Genf 2012, S. 91–106. Vgl. STRAUCH [Anm. 2], S. IV–VI. So dienen Scheit die in Cisners ›Oratio‹ aufgeführten Vertreter des goldenen Zeitalters, Vergil, Ovid und Ausonius, als Gewährsmänner für den Frühling. Und das Herodotexzerpt (›Lobrede‹, S. 16, vv. 10–22) ist gleichfalls Cisner entlehnt (vgl. STRAUCH [Anm. 2], S. VII, sowie ADOLF HAUFFEN, Caspar Scheit. Der Lehrer Fischarts. Studien zur Geschichte der grobianischen Litteratur in Deutschland, Strassburg 1889, S. 99).

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pointiert darzulegen, was er selbst vom Mai gehört, gesehen und entpfunden hat (›Lobrede‹, S. 3, vv. 33–34). Mit der einleitenden Nennung antiker und humanistischer Vorbilder wird zwar ein Bezugsrahmen markiert, im Weiteren zeigt sich jedoch, dass sich das Verhältnis zur klassischen Literatur bestenfalls als a n t i klassizistisch beschreiben lässt: So folgt auf die erste, in Prosa abgefasste Vorrede (›Lobrede‹, S. 2–5) eine zweite in Form eines versifizierten allegorischen Gedichts (›Lobrede‹, S. 6–15). Dieses hebt mit einer Art negativ gewendetem Musenanruf an, bei dem nicht der Dichter die Musen um Inspiration anruft, sondern die göttlichen Mächte diesen im Schlaf regelrecht überfallen (›Lobrede‹, S. 6–8): Eines Nachts tritt der personifizierte Mai in Begleitung von Flora an das Bett des Dichters, weckt ihn und fordert ihn dazu auf, ihn gegen die Herbstleute am Heidelberger zu Hof verteidigen und hierfür in deutscher Sprache eine ›Lobrede‹ auf den Mai abzufassen (›Lobrede‹, S. 10, v. 38–S. 11, v. 1). Der Dichter, vom Schrecken gepackt, wehrt sich, indem er sich unter der Bettdecke versteckt (›Lobrede‹, S. 7, vv. 20f.) und von dort aus verlauten lässt, solchen Aufgaben nicht gewachsen zu sein (›Lobrede‹, S. 12, vv. 10–15). Doch der Widerstand ist zwecklos, denn schließlich, so entgegnen Flora und Mai, hätten ihm die Musen die höchste Dichterweihe (Lorbeerkranz, Dichterwasser aus dem Helicon) nicht umsonst zuteil werden lassen (›Lobrede‹, S. 9, vv. 4–8). Es folgen Anweisungen zur Abfassung des Textes, die sich weitgehend mit den Angaben in der ersten Vorrede decken: Der Mai überreicht dem Dichter, eingepackt in einem seidenen Umschlag, die Vorlagen Cisners und Mercurius’; anschließend erteilt er den Rat, nach passenden Zitaten in vulgärsprachigen und lateinischen Büchern zu suchen (›Lobrede‹, S. 13, vv. 9–30). Insgesamt zeigt die allegorische Vorrede einen spielerischen Umgang mit den Postulaten des Humanismus, der letztlich aber auf Scheits Geltungsanspruch als volkssprachiger Autor verweist. Mit Rekurs auf Musenanruf und Dichterkrönung wird der Marktwert des volkssprachigen Autors inszeniert. Im anschließenden Hauptteil, der, abgesehen von den zitierten Liedtexten und Gedichten, in Prosa verfasst ist, werden die Vorzüge des Mai gegenüber dem Herbst systematisch vorgeführt, wobei die Einteilungskategorien zeitgenössischen Kalendern und kalendarisch angelegten Jahresbüchern entnommen sind.38 Verhandelt werden die Namen der beiden Jahreszeiten, ihre saisonale Zuordnung, die Komplexionen, der Stand der Planeten, die Bedeutung ihrer Farben, ihr Alter, ihre Wirkung auf Mensch, Tier und Pflanzenwelt sowie Wunder und biblische Geschehnisse, die sich zu den entsprechenden Zeiten ereignet haben. Bei all dem beruft sich Scheit auf antike, biblische und zeitgenössische Autoritäten.39 Zu den lateinischsprachigen Gewährsmännern zählen ebenso Vergil, Terenz, Seneca, Ovid, Ausonius, Palladius und Augustinus wie die zeitgenössischen italienischen Humanisten Andrea Alciato (1492–1550) und Tito Vespasiano Strozzi (1425–1505); zu den volkssprachigen gehören Neidhart (13. Jahrhundert), der Königsberger (um 1400), Sebastian Brant (1457–1521), Hans Sachs (1494–1576), Jörg 38 39

Vgl. KAMMERER [Anm. 35]. Vgl. die Quellenangaben bei STRAUCH [Anm. 2], S. VI–XII.

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Wickram (ca. 1505–1555/1560) sowie aus dem französischsprachigen Raum Clément Marot (1496–1544). Hinzu kommt die Zitation von Sprichwörtern, Volksliedern, Bibelstellen und astrologischem Wissen aus Kalender und Almanach. Der Umgang mit dem Material ist dabei stets von einem aemulativen Gestus gekennzeichnet, der sich auf unterschiedlichen Textebenen nachvollziehen lässt.40 Eine der Ebenen ist die sprachliche Ebene: So setzt Scheit die deutsche Sprache in Konkurrenz zum Lateinischen und dessen vulgärsprachigen Ausprägungen, um sie immer wieder aufs Neue als Siegerin hervortreten zu lassen. Ein Beispiel dafür ist die Aufzählung der unterschiedlichen Bezeichnungen für ›Frühling‹ in lateinischer, französischer und italienischer Sprache (›ver‹, ›printemps‹, ›primavera‹, ›Mai‹), die auf nichts anderes hinausläuft als auf ein Lob des deutschsprachigen Wortes ›Mai‹: Was mag aber nu lieblichers oder subtilers außgesprochen werden dann Mey? mit dreyen außerwelten bchstaben? So ist nun die ungerad zal allweg für heilig gehabt worden, under den dreyen buchstaben aber ist der erst ein M, der aller subtilest Consonant des gantzen Alphabets, der auch mit beschlossenen Leffzen mag außgesprochen werden. Das ander (wie wirs schreiben) ein e, der aller sterckst vocal under allen, der auch zwey mennschen biß in den todt zusamen bindet [...]. Das drit ein y, ein kriechischer vocal und bchstab Pythagoræ, anzeigend den weg der laster und der tugent und beyder belonung, dessen wir Teutschen uns als eins halben Consonanten gebrauchen, Also daß in disem wrtlin Mey nichts dann ein subtiler thon von außerlesenen bchstaben zusamen gesetzt gehört wirt. (›Lobrede‹, S. 24, v. 29–S. 25, v. 8)

Die Überlegenheit des Deutschen wird hier sowohl in ethischer als auch in ästhetischer Hinsicht inszeniert. So legt Scheit die einzelnen Bestandteile von ›Mai‹ einerseits – ganz in humanistischer Manier – etymologisch aus,41 wodurch die ethische Qualität des Wortes profiliert wird: Die Dreizahl bedeutet Heiligkeit, das ›e‹ Unverbrüchlichkeit und Stärke, das ›y‹ zeigt den richtigen und den falschen Lebensweg an. Zum anderen – und das erscheint ungewöhnlich für die Zeit – werden klangliche Aspekte thematisiert, die die ästhetische Dimension in den Vordergrund rücken: lieblich, melodisch und fein sei der Klang von ›Mai‹. Diese ästhetische Qualität wird durch ein etymologisches Wortspiel unterstrichen, das sich etwas weiter oben im Text befindet. Dort heißt es nämlich, das Wort ›Mai‹ stamme von lateinisch ›Maius‹ ab, welches wiederum auf ›Maja‹, d.h. auf den Namen von Merkurs Mutter zurückgehe (›Lobrede‹, S. 24, vv. 18–22). Die Rückführung von ›Maius‹ auf ›Maja‹ ist bekannt sowohl aus dem antiken Schrifttum als auch aus der humanistischen Kommentierpraxis,42 nicht aber die des deutschen Wortes ›Mai‹.43 Es ist anzunehmen, dass Scheit durch seine Zeitgenossen zu dieser Auslegung inspiriert worden ist. Jedenfalls kann sie als programmatisch für den im Text erkennbaren Anspruch angesehen werden, das Deutsche in Abgrenzung zu Antike und Humanismus als Literatursprache zu 40

41 42 43

Mit dieser Einschätzung wende ich mich gegen ELSA KAMMERER, die die ›Lobrede‹ als getreuliche Nachahmung der lateinisch- und französischsprachigen Vorlagen auffasst (Vgl. KAMMERER [Anm. 35]). Vgl. ebd. Z.B. aus Ovid, ›Fasti‹, V,vv. 79–107 (vgl. STRAUCH [Anm. 2], S. 77f.). Vgl. die Belegstellen bei STRAUCH [Anm. 2], S. 77f..

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profilieren. Denn bei dieser Auslegung geht es nicht nur um die Verortung des Wortes ›Mai‹ im Umfeld Merkurs als dem Gott der schönen Rede und der Dichtkunst (oder, wie es bei Scheit heißt: dem Patron der wolredenheit, ›Lobrede‹, S. 24, v. 21), sondern durch die Rückführung des Wortes ›Mai‹ auf den Namen von Merkurs Mutter wird zugleich bedeutet, dass sein Wohlklang aus einer Zeit vor Merkur stammt. Solche Überbietungsgesten lassen sich nicht nur in Bezug auf die Sprache beobachten, sondern auch in Bezug auf die literarische Tradition: So werden zur Illustration der Vorzüge und Merkmale des Mai jeweils Zitate aus literarischen Texten eingebracht, wobei die volkssprachigen Autoren prominent vertreten sind. Diese Zitate sind häufig so angeordnet, dass die autochthone deutschsprachige Tradition gegenüber den antiken Texten und dem neulateinischen Schrifttum als die überlegene erscheint. Zu sehen ist dies z.B. im Zusammenhang mit der Darstellung der positiven Wirkung, die der Frühling auf die Tierwelt hat. Hierfür werden zunächst einige Verse aus Tito Vespasiano Strozzis ›Laus veris ad Sylviam‹ (›Lobrede‹, S. 61, vv. 13–22) zitiert, um dann zu einem Lob des deutschsprachigen Minnesängers Neidhart anzuheben, auf das ein Zitat aus dem Eröffnungsschwank des ›Neidhart Fuchs‹ folgt.44 Doch allen anderen hindan gesetzt, will ich ein Teutsche[s] zeugnis [...] ernennen, und fürnemlich so gedenkt ein Dichter, der sich Neithart nennet, als ein gter Meyenman des Meyen und der frlichen thierlin offt und hebt auch sein gedicht also an: Der Mey gar wunnigklichen hatt die berg und thal so schon bestatt und steht in reicher blte ein jeglich Blm die hat jr blat geschickt nach freuden gte. Zergangen ist der kalte schnee der waldt hat grnes laub als eh und blent schon sein ste die zeit erkent man uberal bey liechter Sonnen gleste. Des frewen sich Thier und Vgelin jr not honds uberwunden jr schweigen und jr schwere pein jr leid ist fast verschwunden. Nun singen sie mit stimmen hell die Blmlin blaw, weiß, rott und gel komen zu disen stunden. 44

Es handelt sich um die erste und den Beginn der zweiten Strophe aus dem Eröffnungsschwank des ›Neidhart Fuchs‹ (vgl. Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, Bd. 2: Neidhart-Lieder der Papier-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung, hrsg. von ULRICH MÜLLER, INGRID BENNEWITZ, FRANZ VIKTOR SPECHTLER, Berlin/New York 2007, S. 276, z 1,I,1– 15/z 1,II,1–4). Abgesehen von dialektalen Anpassungen stimmen die Verse wörtlich mit dem Druck z 1 (Nürnberger Neidhart-Fuchs-Druck, erschienen 1537) überein. Allerdings fehlt in der Lobrede der Schlussvers der ersten Strophe (MÜLLER [Anm. 44], S. 276, z 1,I,16). Möglicherweise ist dieser Vers absichtlich weggelassen worden, da an dieser Stelle auf die für den hier vorliegenden Zusammenhang unpassende Tanz- und Liebesthematik angespielt wird.

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Des Winters krafft ist hingefrt der Meyen hat die heyd beziert von würtz und kreutern schwanger. mit Frawen treibt man kurtzweil vil auff heyden und im anger. (›Lobrede‹, S. 61, v. 33–S. 62, v. 15)

Mit diesem Zitat wird Neidhart als Meister der Naturdarstellung inszeniert, der – so impliziert die Formulierung Doch allen anderen hindan gesetzt – die neulateinische Poesie übertrumpft. Ähnlich wird mit der Übersetzungsliteratur verfahren: Zur Darstellung des Frühlings als dem goldenen Zeitalter beruft sich Scheit zwar auf Vergil und Ovid (›Lobrede‹, S. 65– 66), um dann jedoch aus Jörg Wickrams Übersetzung der ›Metamorphosen‹ zu zitieren: Die selbig Güldin welt beschreibet gar zierlich der hoch sinnreich Poet Ovidius in dem ersten Bch der Verwandlung der gestalten under den vier Altern der welt. Ich kan nit underlassen, ich muß ein wenig auß der verteutschung des wolberhmpten Jrgen Wickrams darvon melden, da er spricht: Da braucht man noch kein egh noch pflg, Und wchß jn dannocht frucht geng, On aller menschen arbeit groß, Milch, honig, wein in bechen floß. Des Sommers zeit die weret jmmer, Da sach man keinen Winter nimmer. Die sanfften wind von Zephiro, Die giengen auff der erd so noh, Daß sie bewehten bum und graß, Welchs nimmermer on blmen waß. Die bum geziert von frücht und blst, Von würmen keiner ward verwst. Darmb mans billich mag genennen Die güldin zeit, für die erkennen. (›Lobrede‹, S. 66, v. 21–S. 67, v. 3)

Mit Formulierungen wie: Ich kan nit underlassen, ich muß [...] darvon melden wird der Emphase, die den deutschsprachigen Autoren entgegengebracht wird, Ausdruck verliehen. Solche Aufwertung der deutschsprachigen Tradition zieht sich durch den ganzen Text. Offenbar ging es Scheit darum, vor der Folie des antiken und neulateinischen Schrifttums deutschsprachige Mustertexte zur Lobpreisung des Frühlings zu definieren und zusammenzustellen. In diesen Zusammenhang passt auch, dass Scheit die eingebrachten Zitate aus fremdsprachiger Literatur nicht einfach sinngemäß übersetzt, sondern sie in versifizierter Form wiedergibt. Ein Beispiel dafür ist ein französisches Mailied, das die Form des Rondeaux mit einzeiligem Refrain hat.45 Dieses wird von Scheit silbengetreu wiedergegeben:46 45 46

Vgl. STRAUCH [Anm. 2], S. 79. Lediglich der achte Vers enthält eine Silbe zu viel und der zehnte zwei Silben zu wenig (vgl. HAUFFEN [Anm. 37], S. 107).

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Ce moy de May au ioly verd bosquet Cest ung plaisir, que d’estre soubz lombrage L’ung faict chapeaux, l’autre faict ung bouquet Ce moys de May au ioly verd bosquet Tout cueur faché lors reprent son couraige, le Rosignol en son plaisant langaige, faict rage, au boscage, son chant ramage, triumphe aßis sur le (sic) fleur du muguet. ce moy de May au ioly verd bosquet [...] In disem Mey, im schnen grnen waldt ist freud und lust, im schatten sich erschwingen eins macht krentzlin, jhens streußlin wolgestalt in disem Mey im schnen grnen waldt Manch trawrigs hertz laßt jm mit freud gelingen. Fraw Nachtigall mit jrem schnen singen, laßt klingen, in grnen dingen, jr stimm erklingen, sitzend auff blmlin manigfalt, In disem Mey, im schnen grnen waldt. (›Lobrede‹, S. 27, v. 24–S. 28, v. 4)

Ein anderes Beispiel sind die drei daktylischen Hexameter aus Strozzis ›Laus veris ad Sylviam‹, die in jambischen, vierhebigen Paarreimen wiedergegeben werden: Nunc genus humanum vastique animalia ponti, Nunc pecudes volucresque graves, nunc pectore curas Concipiunt carpitque animos atque ossa Cupido. Das menschlich gschlecht frewt sich jetzt seer Und alle thier im weiten Meer, Die schweren vgel und das vich Sorgen wie sie erfrewen sich, Dann Cupido mit liebs verlangen Ir gmt und hertzen hat umbfangen. (›Lobrede‹, S. 61, vv. 13–22)

Diese Beispiele zeigen, dass die beigegebenen Übersetzungen mehr sind als bloße Verständnishilfen für latein- und französischunkundige Rezipienten: Sie stellen Versuche dar, das Deutsche in Auseinandersetzung mit den fremdsprachigen Strophen- und Versformen als Sprache der Poesie zu entwickeln. Dabei löst sich Scheit von den für die Volkssprache gebräuchlichen vierhebigen Reimpaaren und experimentiert mit alternativen Versformen.47 Auf diese Weise kommt in der ›Lobrede‹ ein ganzes Sammelsurium an deutschsprachigen Mustertexten zur Lobpreisung des Mai zusammen. Eine solche Zusammenstellung volkssprachiger Exempla ist Voraussetzung für die Übertragung des imitatio-Konzepts ins Innere der Volkssprachen. Bemühungen in diese Richtung lassen 47

Im ›Grobianus‹ hatte er sich noch der vierhebigen Reimpaare bedient.

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sich im 16. Jahrhundert zwar für Frankreich und Italien feststellen, kaum aber für Deutschland.48 Es stellt sich somit die Frage nach Vorbildern für Scheits Dichtkunst.

Scheits Vorbild: Clément Marot Eine wichtige Vorbildfunktion dürfte die französische Literatur für Scheit gehabt haben. Dies geht bereits aus der in der Vorrede formulierten Anleitung zum Dichten in deutscher Sprache hervor. Dort empfiehlt der personifizierte Mai: Sch in den Bchern, lauff durch die Poeten, Du würst ein solchen grossen hauffen han, Daß du nit weist, wo du solt heben an. [...] Magst wol in Welschen bchern umbher fischen, Und irer Verß auch etlich drunder mischen. (›Lobrede‹, S. 13, vv. 12–18)

Die Aufforderung an den Poeten, die eigene Dichtung mit Versen aus Welschen bchern anzureichern, ist bemerkenswert für diese Zeit. Literatursoziologisch lässt sie sich mit Scheits Ausrichtung auf den Heidelberger Hof erklären, der sich durch seine Affinität zum französischen Kulturkreis auszeichnet. Entsprechend wird als Begründung für die empfohlene Vorgehensweise beim Dichten in deutscher Sprache des Kurfürsten Vorliebe für das Französische genannt: Darbey wiß, daß der Churfürst hochgelert / Sampt seim Gemahel gern Frantzsisch hrt (›Lobrede‹, S. 13, vv. 15–16). Gemäß dieser Programmatik werden in der ›Lobrede‹ französische Volkslieder sowie Sprüche aus dem ›Kalendrier des bergiers‹ zitiert.49 Insbesondere aber finden sich Bezüge zu dem französischen Hofdichter Clément Marot, dessen literaturgeschichtliche Stellung insofern vergleichbar mit derjenigen Kaspar Scheits ist, als er einerseits in der eigenständigen literarischen Tradition Frankreichs verwurzelt ist, andererseits aber seine Dichtung antiken und, als einer der ersten französischen Autoren, italienischen Mustern nachbildet. So übersetzt Marot z.B. Vergil und Ovid oder führt das Sonett in Frankreich ein.50 Mit seiner volkssprachigen Renaissancedichtung wurde Marot in der Mitte des 16. Jahrhunderts zum Vorbild für viele französische Dichter.51 In der ›Lobrede‹ beruft sich Scheit explizit auf den berhmpten Poeten: 48

49 50

51

Vgl. JAN-DIRK MÜLLER, Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur am Beispiel von Fischarts ›Ehezuchtbüchlein‹ und ›Geschichtklitterung‹, in: KÜHLMANN, NEUBER [Anm. 6], S. 63–109, hier S. 73, sowie NICOLA KAMINSKI, Imitatio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4 (1998), S. 235–268. Vgl. KAMMERER [Anm. 35]. Zu Marot vgl. GRIMM [Anm. 20], S. 108f.; JÜRGEN VON STACKELBERG, Kleine Geschichte der französischen Literatur, München 1990, S. 31f.; ALBERT WAGNER, Clément Marot’s Verhältnis zur Antike, Leipzig 1906, S. 14f. und S. 24, sowie ELSA KAMMERER [Anm. 20]. Zum »style marotique« vgl. GRIMM [Anm. 20], S. 109–111.

Humanismus und Volkssprache

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Daß ich aber auch auß den Sprachen, die man Vulgares nennet und auß dem Latéin jren ursprung haben, etwas einfre, muß ich des berhmpten Poeten, der Clement Marot genant und inn Franzsischer sprach wie der ander Maro gehalten wirt, gedencken, Und damit jch auch den jhenigen, so die sprach verstehen, genug th, seiner Reymen einen oder vier erzelen. (›Lobrede‹, S. 26 vv. 27–34)

Gerade Marots Selbstbehauptung als volkssprachiger Autor, die sich darin äußert, dass er in seiner Dichtung gerne auf seine Namensverwandtschaft mit dem antiken Vorbild (Vergilius) Maro aufmerksam macht52 oder seinen Status als »Liebling der Musen« propagiert53, deckt sich mit Scheits Selbststilisierung in der Vorrede der ›Lobrede‹.54 Des Weiteren zeigt sich, dass Marot in formaler Hinsicht als Vorbild für Scheit fungiert hat. So ist Marots Dichtung zum großen Teil in den vers communs, also RenaissanceVersen, abgefasst.55 Hierbei handelt es sich um jambische Verse mit zehn bzw. bei klingendem Ausgang mit elf Silben, die nach der zweiten Hebung eine Zäsur enthalten.56 Scheit verwendet diese Versform in seiner ›Lobrede‹ nicht nur für die Übersetzung der zitierten Eingangsverse aus Marots ›Le temple de Cupido‹ (›Lobrede‹, S. 27, vv. 6–9), sondern auch für die lange gereimte Vorrede und den Beschluss des Textes (›Lobrede‹, S. 6–15; S. 70–72). Nach ADOLF HAUFFEN war Scheit damit der erste Dichter, der dieses Versmaß in deutscher Sprache verwendet hat.57 Dass es ungebräuchlich war zu seiner Zeit, ist jedenfalls an der Bemerkung zu sehen, die Scheit seinem Prolog – direkt unterhalb der Überschrift – vorsetzt: Sind rheimen von zehen sylben, wllen lind ausgesprochen werden (›Lobrede‹, S. 6). Insgesamt zeigt sich, dass Scheits Annäherung an die Darstellungskunst des Renaissance-Humanismus zumindest zum Teil über den Umweg Frankreichs erfolgt. Zu sehen ist dies auch an seinen anderen genuin volkssprachigen Dichtungen. So stimmt Scheits ›Fröhliche Heimfahrt‹ mit den Darstellungs- und Verwendungsweisen des mythologischen Apparats bei den Rhétoriqueurs überein, die Anfang des 16. Jahrhunderts in Frankreich herrschten und deren vielseitigster Vertreter Jean Lemaire war.58 Wenn Johann Fischart Scheit, der bekanntlich sein Onkel war, in seiner ›Ursach der Flöh52

53

54

55 56 57

58

Z.B. Maro s’appelle et Marot je me nomme: / Marot je suis et Maro ne suis pas, / Il n’en fut onc depuis le sien trespas“ (I,59). In Frankreich dient der Beiname Maro als gängige Bezeichnung für den Dichter. Von den Zeitgenossen auch der »Maro Frankreichs« genannt, finden sich zahlreiche Stellen in Clément Marots Werk, an denen er seine Namensverwandtschaft mit dem antiken Vorbild betont (Belege bei WAGNER [Anm. 50], S. 66f.). Z.B. Mais par sus tout suis congneu des neuf Muses / Et d’Appollo, Mercure et tous leurs fillz, / En vraye Amour et science confictz (I,58) (vgl. den Beleg ebd. S. 96f.). Die Selbststilisierung Scheits zum Liebling der Musen findet sich auch in der ›Fröhlichen Heimfahrt‹ (vgl. BLEULER [Anm. 6], S. 542). Vgl. u.a. HAUFFEN [Anm. 37], S. 105. Zu den vers communs vgl. ebd. S. 105. Vgl. HAUFFEN ebd. S. 105; im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts sind die vers communs in deutscher Sprache u.a. bezeugt bei Jacob Regnart, von Schallenberg und Theobald Hock (vgl. KAMMERER [Anm. 35]). Vgl. BLEULER [Anm. 6], S. 550.

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schlacht‹ als De[n] best[en] Reimist[en] zu unser zeit bezeichnet,59 dürfte sich das Lob auf Scheits Bemühen um die Adaptation von Versformen, Stilmitteln, Darstellungsweisen und Stoffelementen aus der Romania beziehen. Jedenfalls folgt ihm der Neffe in dieser Hinsicht, wenn er den Stoff für die ›Geschichtklitterung‹ aus dem Rabelais übernimmt oder im ›Ehezuchtbüchlein‹ ein Tanzlied im thon des Allemant d’amour Tanz[es] dichtet.60

Aemulatio modernorum Konturen eines deutschsprachigen Renaissancediskurses Scheits ›Lobrede‹ belegt, dass am Heidelberger Hof bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Auseinandersetzung mit dem europäischen Renaissance-Humanismus in deutscher Sprache stattgefunden hat. Sie belegt überdies, dass es nicht gerechtfertigt ist, den Impuls, den die volkssprachige Literatur des 16. Jahrhunderts durch den Humanismus erfährt, auf das Klischee einer rein sachbezogenen stofflichen Ausbeute des antiken Erbes zu reduzieren. Vielmehr zeichnen sich anhand des untersuchten Materials Konturen eines deutschsprachigen Renaissancediskurses ab, der unterhalb expliziter Ordnungsprogramme verläuft – und der antiklassizistische Züge zeigt. So ist Scheits Auseinandersetzung mit Humanismus und Antike stets von einem aemulativen Gestus gezeichnet. Antike Texte, neulateinisches Schrifttum, Renaissanceliteratur Frankreichs und Italiens erscheinen als Folie, vor der das Deutsche in ethischer und sprachlichästhetischer Hinsicht zu profilieren versucht wird. Konkret betrifft dies Scheits Selbstbehauptung als volkssprachiger Autor in Bezug auf Musenanruf und Dichterkrönung, die Inszenierung des Deutschen als ethisch und ästhetisch hochwertige Sprache in Abgrenzung zu Latein und Vulgärsprachen, die Aufwertung der autochthonen literarischen Tradition gegenüber dem humanistischen Schrifttum sowie die Entwicklung des Deutschen als Sprache der Poesie in Auseinandersetzung mit fremdsprachigen Strophenund Versformen. Aufs Ganze gesehen erweisen sich die Vorlagen der ›Lobrede‹ somit weniger als Muster, denn als Maßstab, an dem sich der volkssprachige Autor »abarbeitet«. Aemulatio als eine Figur, in der sich Setzung und Überwindung von Autorität wechselseitig bedingen, wird so zum Generator von pluralisierter Neuheit. Bezogen auf den volkssprachigen Kontext bleibt sie zwar eine Spielart von imitatio,61 sie wird zugleich aber zu dessen Konkurrenzbegriff. Denn im Ergebnis erscheint die ›Lobrede‹ als eine Ansammlung von deutschsprachigen Mustertexten zur Lobpreisung des Mai, die 59

60

61

Vgl. FISCHART, Der Flöhaz. Abdruck der ersten Ausgabe (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 5), Halle 1877, v. 64. Vgl. ADOLF HAUFFEN, Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation, Bd. 1, Berlin/Leipzig 1924, S. 267. BARBARA BAUER, Aemulatio, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1 (1992), S. 141–187, hier S. 141–144.

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Scheit ausz lieb des vaterlands62 – wie es an einer Stelle heißt – zur Nachahmung bereitstellt. Was solche Verfahrensweisen betrifft, kann Kaspar Scheit als Vorläufer Paul Melissus Schedes angesehen werden, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Auftrag des pfälzischen Kurfürsten Friedrich III. die Etablierung einer deutschsprachigen Renaissancedichtung in Orientierung an der rinascimentalen Literatur der Romania vorantrieb. Schedes Übersetzung des sogenannten ›Hugenottenpsalters‹, einer französischen Übertragung der Psalmen durch die Lyriker Théodore de Bèze und Clément Marot (erschienen 1563), ist in der Forschung als erster Versuch, romanische Versmaße im Neuhochdeutschen nachzubilden, angesehen worden.63 Diese Einschätzung lässt sich durch Kaspar Scheits ›Lobrede‹ auf den Mai widerlegen. Zusammengenommen machen Autoren wie Scheit und Schede die Vorläufer Martin Opitz’ aus, die darum bemüht waren, in Auseinandersetzung mit Humanismus und Antike eine anspruchsvolle deutsche Literatur zu schaffen und die jener im Zuge seiner Selbstinszenierung als Gründer der »neuen deutschen Literatur« so erfolgreich in Vergessenheit hat geraten lassen.

62

63

Vgl. die Vorbemerkung zu den ›Wol gerissnen und geschnidten Figuren ausz der Bibel‹ (erschienen 1554). Zu dieser Einschätzung vgl. ROBERT [Anm. 9].

Biblische Tragödie Die Enthauptung Johannes des Täufers in den Dramen Johannes Aals, Hans Sachs’ und Simon Gerengels von Regina Toepfer

Die europäische Kultur speist sich in ihren vielfältigen Ausprägungen aus zwei entscheidenden Quellen: dem Christentum und der griechischen Antike. Im lateinischen Mittelalter geriet dieser Einfluss der griechischen Tradition zwar weitgehend in Vergessenheit, wohingegen die christliche Religion in den Vordergrund rückte und alle Lebensbereiche maßgeblich bestimmte. Die griechische Literatur behielt dennoch ihre Bedeutung, nur dass sie in dieser Epoche über Zwischenstufen rezipiert wurde. Die griechischen Mythen, Motive und Gattungen wurden in den literarischen Werken römischer Autoren adaptiert, die hellenische Philosophie erhielt über die Briefe des Paulus und die Schriften der Kirchenväter Eingang in die christliche Theologie und die aristotelische Naturwissenschaft wurde im Arabischen geschätzt. Der Humanismus führte zu einer grundlegenden Änderung, weil die europäischen Gelehrten des 15. und 16. Jahrhunderts die Rückkehr zu den Quellen zum Programm erhoben (ad fontes!). Handschriften wurden wiederentdeckt, durch den Buchdruck verbreitet und mit Hilfe neuer Übersetzungen erschlossen. Von der Rezeption der antiken Werke gingen in der Folge wichtige Impulse für die Literaturproduktion sowohl in der Gelehrten- als auch in der Volkssprache aus. Die Tragödie, die dem Mittelalter gänzlich unbekannt war,1 ist vermutlich die bedeutendste europäische Gattung, die im Humanismus wieder aufgegriffen und – im Sinne der imitatio veterum – neubelebt wurde.2

1

2

Nur in Etymologien waren noch rudimentäre Angaben über die antike Tragödie zu finden, während auf der Bühne Legenden- und Mysterienspiele aufgeführt wurden. Zur mittelalterlichen Kenntnis und Rezeption der Tragödie vgl. v.a. WILHELM CLOETTA, Beiträge zur Litteraturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, 2 Bde., Halle 1890/1892. Unv. Nachdruck Leipzig 1976; DAVID E. R. GEORGE, Deutsche Tragödientheorien vom Mittelalter bis zu Lessing. Texte und Kommentare, München 1972; HENRY ANSGAR KELLY, Ideas and Forms of Tragedy from Aristotle to the Middle Ages (Cambridge Studies in Medieval Literature 18), Cambridge/New York 1993. Vgl. CLOETTA [Anm. 1], Bd. 2, S. V. – Stilbildend wirkten dabei vor allem die lateinischen Tragödien Senecas, weniger die griechischen Dramen oder die aristotelische ›Poetik‹. Vgl. Der Einfluß Senecas auf das europäische Drama, hrsg. von ECKARD LEFÈVRE, Darmstadt 1978. Vgl. auch KAI BREMER, Bibel und Tragödie. Das Beispiel Jeftah, Euphorion 103 (2009), S. 293–326, hier S. 297.

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Regina Toepfer

Während die Humanisten und Reformatoren die Geistlichen Spiele des Mittelalters heftig kritisierten, lobten sie das didaktische Potential des antiken Dramas und setzten es konsequent für die Vermittlung ihrer Anliegen ein.3 Zahlreiche deutschsprachige Tragödien historischen und religiösen, bevorzugt biblischen, Inhalts entstanden. Von der Auffassung, dass der christliche Glaube nicht mit Tragik und Tragödie zu vereinbaren sei, wie in der Moderne oft postuliert, ist das zeitgenössische Gattungsverständnis weit entfernt.4 Vielmehr konvergieren die beiden Hauptquellen der europäischen Kultur bei der literarischen Gestaltung eines biblischen Stoffs nach römisch-griechischem Vorbild. In welchem Verhältnis antike Form und christlicher Inhalt in der Frühen Neuzeit zueinander stehen, soll hier am Beispiel der ›Johannes‹-Dramen untersucht werden.

Biblische und dramatische Versionen Die bekannte biblische Erzählung von der Enthauptung Johannes des Täufers ist sowohl im Matthäus- als auch im Markusevangelium überliefert. Übereinstimmend berichten beide Synoptiker, weshalb Johannes, der in der Wüste lebt, die Menschen zur Bekehrung aufruft und Jesus im Jordan getauft hat,5 von dem König Herodes gefangen genommen wird. Der entscheidende Anlass, dass er in Ungnade fällt, ist eine nüchterne 3

4

5

Zur Kritik der Humanisten an Passionsaufführungen vgl. BERND NEUMANN, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet, 2 Bde. (MTU 84/85), München/Zürich 1987, Nr. 3714, 3737, S. 882, 898f. Zur Bewertung der Spiele durch Martin Luther vgl. THOMAS IVER BACON, Martin Luther and the Drama (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 25), Amsterdam 1976; WOLFGANG F. MICHAEL, Luther and the Religious Drama, Daphnis 7 (1978), S. 365–367; DERS., Das deutsche Drama der Reformationszeit, Bern/New York 1984, S. 51f.; FIDEL RÄDLE, Theater als Predigt. Formen religiöser Unterweisung in lateinischen Dramen der Reformation und Gegenreformation, Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 16 (1997), S. 41–60, hier S. 47f.; WOLFRAM WASHOF, Die Bibel auf der Bühne. Exempelfiguren und protestantische Theologie im lateinischen und deutschen Bibeldrama der Reformationszeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496/14), Münster 2007, S. 42–55. Zur Theoriegeschichte der Tragödie vgl. ERIKA FISCHER-LICHTE, Tragödie, Walther Killy (Hrsg.), Literaturlexikon, Bd. 14 (1993), S. 438–445. Zur Tragik in der vormodernen Literatur vgl. REGINA TOEPFER, Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 144), Berlin/Boston 2013; Tragik vor der Moderne, hrsg. von REGINA TOEPFER, GYBURG UHLMANN, Heidelberg 2013 (im Druck) – Zu den daraus abzuleitenden literaturwissenschaftlichen Konsequenzen vgl. auch REGINA TOEPFER, Die Passion Christi als tragisches Spiel. Plädoyer für einen poetologischen Tragikbegriff in der Mediävistik, in: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Aspekte, hrsg. von THOMAS ANZ, HEINRICH KAULEN (spectrum Literaturwissenschaft 22), Berlin/New York 2009, S. 159–175. Vgl. Mc 1,1–11; Mt 3,1–17. – Alle biblischen Zitate stammen aus der zeitgenössischen Ausgabe: Die Luther-Bibel. Originalausgabe 1545 und revidierte Fassung 1912, Berlin 2004 (Digitale Bibliothek 29).

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Zurechtweisung. Nachdem Herodes die Frau seines Bruders Philipp geheiratet hat, erklärt ihm Johannes: Es ist nicht recht / das du sie habest. (Mt 14,4b) In der Darstellung der Reaktion des Königs weichen nun beide Evangelisten in einem entscheidenden Punkt voneinander ab. Matthäus erzählt von der Feindschaft des Herodes, die der Täufer mit seiner Kritik an dem Herrscher auf sich zieht: Vnd er hette jn gerne getödtet. (Mt 14,5a) Nur aus Furcht vor dem Volk, das Johannes für einen Propheten halte, setze er diesen Wunsch nicht in die Tat um. Markus dagegen stellt den König als einen heimlichen Anhänger des Heiligen dar und macht von Anfang an die Königin für den Mord verantwortlich: Herodias aber stellet jm nach / vnd wolt jn tödten / vnd kund nicht. Herodes aber furchte Johannem / Denn er wuste / das er ein fromer vnd heiliger Man war / Vnd verwaret jn / vnd gehorchet jm in vielen Sachen / vnd höret jn gerne. (Mc 6,19f.)

Die folgenden Handlungselemente, die von der Gefangenschaft des Johannes zu seinem Tod führen, sind in beiden Evangelien wiederum analog gestaltet. Zwar erzählt Markus das Geschehen viel detaillierter; er stellt beispielsweise auch das Gespräch zwischen Herodias und ihrer Tochter dar und lässt den Henker als ausführende Instanz in Erscheinung treten, ohne den Akt der Hinrichtung wie Matthäus zu entpersonalisieren.6 Motiviert wird die Enthauptung des Johannes jedoch bei beiden Synoptikern durch den körperlichen Reiz der Tochter. Als diese am Geburtstag des Königs vor den Gästen tanzt, gefällt sie Herodes so sehr, dass er vor Zeugen schwört, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Beeinflusst durch ihre Mutter verlangt das Mädchen nichts anderes, als den Kopf des Täufers auf einer Schale serviert zu bekommen. Übereinstimmend berichten beide Evangelisten von dem plötzlichen Gesinnungswandel des Königs, dessen Hochstimmung sich in Trauer und Betrübnis verkehrt. Obwohl er den Wunsch der Tochter nicht gutheißt, lehnt er diesen nicht ab, wobei der Grund seines Verhaltens offengelegt wird: 6

Vgl. Mt 14,8: Vnd als sie zuuor von jrer Mutter zugerichtet war / sprach sie […]. Mc 6,24f.: Sie gieng hin aus / vnd sprach zu jrer mutter / Was sol ich bitten? Die sprach / Das heubt Johannis des Teuffers. Vnd sie gieng bald hin ein mit eile zum Könige / bat vnd sprach / […]. – Mt 14,10f.: Vnd schicket hin / vnd entheubtet Johannes im gefengnis. Vnd sein Heubt ward her getragen in einer Schüsseln / vnd dem Meidlin gegeben / vnd sie bracht es jrer Mutter. Mc 6,27f.: Vnd bald schickte hin der König den Hencker / vnd hies sein heubt her bringen. Der gieng hin / vnd entheubte jn im Gefengnis / Vnd trug her sein Heubt auff einer schüsseln / vnd gabs dem Meidlin / vnd das meidlin gabs jrer Mutter. – Es ist bemerkenswert, dass die historisch ältere Version des Markus, die nach den Erkenntnissen der modernen Exegese dem Matthäusevangelium als Quelle zugrunde liegt, diese Perikope ausführlicher gestaltet. Indem Markus schon zu Beginn nur von dem Hass der Herodias erzählt, erscheint seine Version aus narratologischer Perspektive kohärenter. Bei Matthäus dagegen besteht ein Bruch zwischen der ursprünglichen Intention des Herodes und seiner späteren Trauer aufgrund der Enthauptung des Täufers. Vgl. PETER DSCHULNIGG, Das Markusevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 2), Stuttgart 2007, S. 177–183; JOACHIM GNILKA, Das Evangelium nach Markus, 1. Teilbd. (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament II/1), Zürich/Einsiedeln/Köln 1978, S. 243–253; ULRICH LUTZ, Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilbd. (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament I/2), Zürich/Braunschweig 1990, S. 388–394.

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vmb des Eides willen vnd dere die mit jm zu Tisch sassen (Mt 14,9; vgl. Mc 6,16), erteilt Herodes den Befehl, den Täufer zu enthaupten und dem Mädchen den Kopf zu übergeben. Der Leichnam des Johannes aber wird von seinen Jüngern begraben. Wie viele andere Gestalten und wichtige Ereignisse der biblischen Heilsgeschichte wird auch die Geschichte Johannes des Täufers in der deutschen Literatur rezipiert, narrativ ausgestaltet und szenisch dargestellt. Spiele, in denen sein Leben und sein Tod auf die Bühne gebracht werden, haben eine lange Tradition. Schon in den Propheten-, den Weltgerichts-, den Passions- und den Osterspielen des Mittelalters tritt Johannes in einzelnen Episoden als Mahner und Fürsprecher auf.7 In der Mitte des 16. Jahrhunderts nimmt das Interesse an seiner Person und seinem Schicksal deutlich zu. Innerhalb von nur fünfzehn Jahren werden fünf deutschsprachige Werke angefertigt, in denen die Geschichte des Täufers im Rückgriff auf verschiedene Bibelperikopen als eigenständiges Drama inszeniert und literarisch entfaltet wird:8 1. Johannes Krüginger, ›Tragoedia von Herode vnd Joanne dem Tauffer‹ (1545)9 2. Johannes Aal, ›Tragoedia Johannis des Heiligen vorluffers vnd Tuffers Christi Jesu warhaffte Histori‹ (1549) 3. Hans Sachs, ›Die Enthaubtung Johannis‹ (1550) 4. Simon Gerengel, ›Die schön euangelisch History von der enthauptung des heiligen Johannis des Tauffers‹ (1553) 5. Daniel Walther, ›Tragedia von Johanne dem Teuffer‹ (1559)10 7

8

9 10

Vgl. ELISABETH FRENZEL, Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (Kröners Taschenausgabe 300), Stuttgart 102005, S. 446. – Nach Ansicht MICHAEL GEBHARDTs, Einleitung, in: Simon Gerengel, Johannesspiel, hrsg. von DEMS., Innsbruck 2000, S. 11– 65, hier S. 42, dürften die Johannesspiele wesentliche Anregungen von den relativ autonomen Episoden erhalten haben, wie sie in der Frankfurter Dirigierrolle, dem Künzelsauer, Alsfelder und Heidelberger Passionsspiel sowie in der Kreuzensteiner Passion überliefert sind. – Zu den Johannesspielen im deutschsprachigen Raum vgl. NEUMANN [Anm. 3], S. 1063 (Register). Vgl. auch COBIE KUNÉ, Johannes der Täufer im Limbus. Zum Auftreten Johannes’ des Täufers in der Vorhölle: im Redentiner Osterspiel und in den anderen deutschen religiösen Dramen des späten Mittelalters, Leuvense bijdragen 90 (2001), S. 233–248; LUDWIG GOMBERT, Johannes Aals Spiel von Johannes dem Täufer und die älteren Johannesdramen (Germanistische Abhandlungen 31), Breslau 1908; OSKAR THULIN, Johannes der Täufer im geistlichen Schauspiel des Mittelalters und der Reformationszeit (Studien über christliche Denkmäler, NF der archäologischen Studien zum christlichen Altertum und Mittelalter 19), Leipzig 1930. Vgl. GEBHARDT [Anm. 7], S. 24, 41f. Vgl. auch FRENZEL [Anm. 7], S. 446f. – Die Angabe des Titels und des Entstehungsjahres der einzelnen Dramen erfolgt in Anlehnung an GEBHARDT, wobei die Abbreviaturen aufgelöst werden. – In der systematischen Bibliographie WASHOFS ([Anm. 3], S. 471f.) fehlen die Werke von Krüginger, Mayenbrunn und Sander. Zum Drama des Protestanten Krüginger vgl. THULIN [Anm. 7], S. 125–128. Bei Walthers Stück handelt es sich um eine umfangreiche Erweiterung von Gerengels Spiel. Vgl. GEBHARDT [Anm. 7], S. 41; MICHAEL, Deutsches Drama [Anm. 3], S. 278f.; WASHOF [Anm. 3], S. 344f.

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In den nächsten zwei Jahrzehnten folgen noch zwei weitere Bearbeitungen: 6. Andreas Mayenbrunn, ›Tragoedia Johannis des heiligen Vorluffers vnd Tuffers Jesu Christi warhaffte Hystori‹ (1575)11 7. Johan Sanders, ›Tragoedia. Von dem anfang, mittel vnd ende des heiligen thewren mans Gottes vnd vorleuffers Christi, Johannis des Teuffers‹ (1588) Die biblische Erzählung von Johannes dem Täufer gehört damit zu den meist rezipierten Stoffen im Drama des 16. Jahrhunderts.12 Seine Beliebtheit ist in der Forschung sowohl auf die Bedeutung des großen Volksheiligen in den katholischen Gebieten als auch auf seinen »kühnen Prediger- und Reformgeist« zurückgeführt worden, von dem sich die Protestanten besonders angesprochen fühlen konnten.13 Bestätigen lässt sich diese Einschätzung anhand einer Predigt Martin Luthers. Dieser würdigt Johannes in der Homilie zum ›Vierten Sonntag im Advent‹ als den Heiligsten aller Menschen, der für die Wahrheit Zeugnis abgelegt habe und in seiner Heiligkeit sämtliche Päpste weit übertreffe.14 Für die hier verfolgte Frage nach den Gattungskriterien der Tragödie in der Frühen Neuzeit sind die ›Johannes‹-Dramen nicht nur aufgrund ihrer reichen Anzahl von Interesse, sondern auch, weil sie sich von vielen anderen literarischen Bearbeitungen in einem bemerkenswerten Aspekt unterscheiden: Ihre Gattungszuschreibung differiert nicht, sondern die Stücke werden stets als Tragödien oder tragediae bezeichnet.15 Exemplarisch werden im Folgenden die drei Werke, die in modernen Editionen vorliegen, hinsichtlich ihrer dramatischen Konzeption untersucht.16 Dabei gilt die Aufmerksamkeit den besonderen Akzentuierungen und eigenständigen Ausgestaltungen, die Johannes Aal, Hans Sachs und Simon Gerengel im Vergleich zum biblischen Aus11

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Mayenbrunns Tragödie basiert im Wesentlichen auf Aals Spiel, das er für die Colmarer Verhältnisse bearbeitet hat. Vgl. GEBHARDT [Anm. 7], S. 41; GOMBERT [Anm. 7], S. 63–67; MICHAEL, Deutsches Drama [Anm. 3], S. 195; THULIN [Anm. 7], S. 132f. Zu den Figuren und Stoffen der Bibeldramen vgl. WASHOF [Anm. 3], S. 466–480. FRENZEL [Anm. 7], S. 446. Vgl. auch GEBHARDT [Anm. 7], S. 44; THULIN [Anm. 7], S. 123f.; WASHOF [Anm. 3], S. 332. Vgl. Martin Luther, Vierter Sonntag im Advent. Joh. 1, 19–28, in: Ders., Gesammelte Werke, hrsg. von KURT ALAND (Digitale Bibliothek 63), Berlin 2004, S. 5083: Johannes der Täufer ist höher und heiliger als alle Päpste […]. So weiset Johannes der Täufer die ganze Welt von sich zu dem Mann, welcher ist und heißt Christus […]. Vgl. auch Martin Luther, Der neue Glaube, in: ebd. S. 6244: Mußte doch Johannes der Täufer auf so jammervolle Weise sterben, der doch der größte Heilige auf Erden war. Zur zeitgenössischen Terminologie des Dramas vgl. WASHOF [Anm. 3], S. 35–41, bes. S. 37. Vgl. Johannes Aal, Tragoedia Johannis des Täufers (1549), hrsg. von ERNST MEYER, Halle 1929; Simon Gerengel, Das Johannesspiel. Die schön euangelisch History von der enthauptung des heiligen Johannis des Tauffers, hrsg. von MICHAEL GEBHARDT (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 60), Innsbruck 2000; Hans Sachs, Tragedia mit 6 personen. Die enthaubtung Johannis, in: Hans Sachs, 26 Bde., hrsg. von ADELBERT VON KELLER, Tübingen 1870– 1908. Unv. Nachdruck Hildesheim 1964, Bd. 11, S. 198–212.

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gangstext vornehmen. Die schon in den Evangelien angelegte Spannung in der Frage nach der Schuld des Herodes und die Gegensätze zwischen dem frommen Heiligen und der hasserfüllten Ehebrecherin werden in den Dramen des 16. Jahrhunderts aufgegriffen und differenziert entfaltet. Dabei beschränken sich nicht alle Autoren auf die Perikope der Enthauptung, sondern teils werden weitere biblische Episoden herangezogen, in denen Johannes der Täufer in Erscheinung tritt.

Die Märtyrertragödie von Johannes Aal Der Schweizer Priester Johannes Aal setzt sich in seinem Johannesspiel zum Ziel, das Wirken und die Bedeutung des Täufers grundsätzlich zu charakterisieren. Ergebnis dieses Strebens ist ein monumentales Werk, das am 21. Juli 1549 in Solothurn aufgeführt und im selben Jahr von dem Berner Buchdrucker Matthias Apiarius veröffentlicht wurde. Es umfasst 7090 Verse und ist in zwei Hälften geteilt, die jeweils an einem Tag zu spielen sind. Der erste Tag endet mit der Gefangennahme des Johannes und ist in fünf Akte gegliedert. Der zweite, in vier Akte geteilte Tag endet mit der Totenklage der Jünger des Täufers. Jeder der Akte besteht aus bis zu fünf Szenen, deren Unterteilung bisweilen beliebig wirkt; inhaltliche oder formale Gründe sind nicht immer ausfindig zu machen. Das Personal, das in den Evangelien auf Herodes, Herodias, die Tochter, den Henker und die am Mahl teilnehmenden Gäste begrenzt ist, erweitert Johannes Aal erheblich. An beiden Spieltagen sind jeweils über sechzig Rollen zu besetzen, die sowohl auf biblischen als auch auf zeitgenössischen Vorbildern basieren. Neben den Jüngern Jesu, den geheilten Kranken, den bekehrten Sündern und den unbelehrbaren Pharisäern der Evangelien treten Pilger, Soldaten, Kaufleute, höfische Beamte und sogar ein Hofnarr des 16. Jahrhunderts auf. In der Forschung wurde die komplexe literarische Konzeption von Aals Tragödie bisher kaum gewürdigt.17 Das Drama galt meist als ein Beleg für die Fortsetzung der geistlichen Spieltradition des späten Mittelalters, wohingegen die humanistischen Elemente weniger Beachtung fanden.18 Dazu zählt z.B. die Quellenkritik, die der Herold zu 17

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Diese kann hier nur in Ansätzen skizziert werden. Sowohl im Hinblick auf den oszillierenden Status zwischen Geistlichem Spiel und humanistischem Drama als auch in Bezug auf das poetische Konzept verdient der Text eine eigene Untersuchung. Schon THULIN [Anm. 7], S. 129, würdigte das Stück in seiner Studie zu der Johannesfigur in den Geistlichen Spielen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, ohne allerdings die Kriterien für sein Urteil offenzulegen: »Es ist wirklich eins der besten Johannesdramen, wenn nicht das beste, das wir haben, zugleich das umfassendste und einzige mehrtägige.« Als maßgeblich hat sich das Urteil des Herausgebers von Aals Werk erwiesen, auf das sich die neuste Forschung noch stützt. Vgl. ERNST MEYER: Einleitung, in DERS. [Anm. 16], S. V–XLV, hier S. XVI, XXII; GEBHARDT [Anm. 7], S. 45; WASHOF [Anm. 3], S. 352. – Selbst MEYER, der das Drama für eine »unmittelbare Fortsetzung der mittelalterlichen geistlichen Dramatik« (S. XVI) hält, weist jedoch darauf hin, dass es theatergeschichtlich ein »ausgesprochener Mischtypus«

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Beginn des zweiten Spieltages auf der Bühne vorträgt. Er informiert das Publikum, dass in der Bibel verschiedene Personen namens Herodes auftreten, unterscheidet die einzelnen Herrscherfiguren und skizziert im Rückgriff auf außerbiblische Werke den weiteren Lebensverlauf von Herodes und Herodias nach der Hinrichtung des Johannes.19 Aal scheint selbst daran gelegen zu sein, sein Werk nicht als poetische Meisterleistung zu präsentieren. Nicht nur auf dem Titelblatt wird beteuert, dass es sich um die warhaffte Histori Johannes des Täufers handle, sondern der Verfasser grenzt sich in dem Vorwort auch explizit von den erfundenen Erzählungen der Dichter ab. Bei der Spieleröffnung lässt er den Herold betonen, diese Geschichte sei Von keinem menschen selbs erdicht Noch vß Poetischem troum har gflogen Besonder vß dem Gotswort zogen (Aal, ›Tragoedia‹, vv. 62–64)

Auch am zweiten Spieltag wird der Wahrheitsgehalt des Dramas eingangs noch einmal herausgestellt. Der Herold begrüßt alle Zuschauer, Die hüt sind aber z’sammen kommen, um die waarhaffte gschicht, wie sie das Evangelium berichte, zu hören (Aal, ›Tragoedia‹, vv. 3830f.).20 Dass der Autor trotz seines Anspruchs auf Wahrhaftigkeit und Vollständigkeit die biblischen Erzählungen nach seinen Gattungsvorstellungen verändert und stark formgebend eingegriffen hat, zeigt sich vor allem an seinem Pro- und Epilog. Zwar kündigt das Titelblatt an, die Geschichte des Johannes werde von anfang sines lbens / biß inn das end siner enthouptung dargestellt (Aal, ›Tragoedia‹, S. 1), doch lagert Aal die Kindheitsgeschichte ebenso wie die Erzählung von der Überführung der Reliquien des Heiligen in die Eröffnungs- und die Beschlussrede aus.21 Die szenische Darstellung beginnt dagegen mit den Predigten des erwachsenen Johannes in der Wüste und ist auf eine Zeitspanne von wenigen Tagen begrenzt. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Charakterisierung der Hauptfigur auf dem Titelblatt als heiliger Vorläufer und Täufer Christi. Aus diesen in der Tradition vorgeprägten Epitheta entwickelt Aal ein poetisches Gestaltungsprinzip, so dass die konventionell erscheinende Formulierung eine programmatische Bedeutung besitzt. Während

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(S. XXV) sei und der erbaulich-religiöse Inhalt eines mittelalterlichen Spiels durch eine humanistische Form umgeprägt werde. Ähnlich äußert sich MICHAEL, Deutsches Drama [Anm. 3], S. 194, nach dessen Auffassung »die Mischung von Tradition und Neuem« die Wirkung des Stücks erhöhe. Vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 3838–950. Der Beglaubigung des Bühnengeschehens dient auch der Verweis auf zeitgenössische Augenzeugen, die zur Reliquie des Täufers in Frankreich gepilgert seien. Aus eigener Anschauung könnten diese frommen Eidgenossen bestätigen, dass das Haupt des Johannes durch Herodias versehrt worden sei (vgl. ebd. vv. 6941–47). – Zu den Präsenzeffekten, die durch das temporale Adverb ›heute‹ erzeugt werden, vgl. CHRISTOPH PETERSEN, Imaginierte Präsenz. Der Körper Christi und die Theatralität des geistlichen Spiels, in: Das Theater des Mittelalters und der frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, hrsg. von CHRISTEL MEIER, HEINZ MEYER, CLAUDIA SPANILY (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 4), Münster 2004, S. 45–61, hier S. 57. Vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 69–228, vv. 6878–942.

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des gesamten Dramas bleibt das Handeln des Johannes sowohl inhaltlich als auch strukturell eng auf seinen Nachfolger, Jesus, bezogen. Aal beschreibt Johannes nicht nur als rufende Stimme, die die Ankunft des Sohnes Gottes vorbereitet, sondern legt ihm auch Worte Christi sowie die seiner Jünger in den Mund.22 Die eindringlichen Predigten des Johannes lösen eine ähnlich disparate Reaktion wie die Reden Jesu aus. Er findet einerseits begeisterte Anhänger, die sich willig bekehren lassen, und zieht andererseits die Feindschaft zahlreicher Pharisäer auf sich.23 Angesichts der großen Erfolge, die der Täufer mit seinen Mahnreden erzielt, fürchtet die geistliche Obrigkeit, er werde das Volk verführen und neue religiöse Sitten etablieren. Der Tod des Johannes resultiert daher ebenso wie die Passion Jesu aus dem Hass der Schriftgelehrten, die eine innerjüdische Auseinandersetzung politisch instrumentalisieren und den Heiligen an den König Herodes ausliefern.24 Zusätzlich zu diesen Parallelen zwischen Evangelium und Tragödie intensiviert Aal die Beziehung zwischen Johannes und Jesus, indem er die beiden zweimal zusammentreffen und voneinander Zeugnis ablegen lässt.25 Ungeachtet der Aufwertung der Rolle des Täufers bleibt die heilsgeschichtliche Hierarchie zwischen ihm und dem Sohn Gottes gewahrt:26 Wiederholt fordert Johannes seine Jünger auf, ihn zu verlassen und sich 22

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So ist die Taufszene in Analogie zur Fußwaschung gestaltet, wobei sich das Verhältnis von Aktivität und Passivität umkehrt. Ebenso wie Petrus erklärt, nicht würdig zu sein, von seinem Meister bedient zu werden (vgl. Io 13,1–20), fühlt sich Johannes diesem deutlich unterlegen und meint, seinen Herrn deshalb nicht taufen zu dürfen (vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 1723–48). – Ein Argument Jesu benutzt Johannes, als er Herodes auf die Unrechtmäßigkeit seines Ehebruchs hinweist: Was Gott zůsammen gfgt hat, / Sol kein mensch vnderstan zescheiden (vv. 3518f., vgl. auch Mt 19,6). Zu den Menschen, die Johannes hören wollen und auf sein Wort hin ihre Sünden bekennen, vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 359–505, 692–951, 1181–243, 1274–81, 1552–79. Zu seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern vgl. vv. 506–684, 1856–2135. Vgl. auch die spätere Konfrontation Jesu mit den Pharisäern, vv. 5318–407, 5845–97. – Aal kontrastiert in mehreren Szenen die Reden von Befürwortern und Gegnern; so treten neben den unbelehrbaren Pharisäern auch solche auf, die sich von Johannes bekehren lassen und ihn unterstützen (vgl. z.B. vv. 685–691, 1457–72). Auch in anderen Personengruppen finden sich Gegenfiguren, die zu keiner Buße bereit sind, so z.B. unter den Soldaten, vgl. vv. 1378–421. – In Analogie zu der biblischen Auseinandersetzung um Jesus ist die Figur des Nikodemus gestaltet, der sich im Hohen Rat dezidiert für Johannes einsetzt und dabei – in Anspielung auf seine spätere Rolle bei der Passion Christi – von Caiaphas als ständiger Querulant beschimpft wird (vgl. vv. 2410f.). Zu der Auseinandersetzung des Hohen Rats vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 2280–460. Noch vor ihrer ersten Begegnung hebt Johannes die Größe seines Herrn hervor und weist die Vermutung seiner Anhänger, er könnte Christus sein, vehement zurück, vgl. ebd. vv. 1486–550. Johannes und Jesus begegnen sich zum ersten Mal, als dieser sich taufen lassen will (vgl. vv. 1694–836), beim zweiten Mal sucht Christus jenen auf, um mit ihm über seinen Tod zu sprechen (vv. 2461– 537). Zum wiederholten Christuszeugnis des Johannes vgl. vv. 2474–500, 2543–64, 3140–208, 5251–53, 5918f. In dieser Hinsicht ist bemerkenswert, dass Johannes an einer Stelle die Position Marias zugeschrieben wird. Der Verfasser hat eine Verkündigungsszene konzipiert, in der der Engel Gabriel dem Täufer die Ankunft seines Herrn Jesus Christus voraussagt (vgl. ebd. vv. 1609–15, vgl. auch Lc 1,26–38). Johannes antwortet mit den biblischen Worten Simeons im Tempel bei der Darstellung

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dem wahren Messias zuzuwenden.27 Christus seinerseits würdigt den Täufer als seinen Wegbereiter und den heiligsten aller Menschen und Propheten.28 Auch der Tod des Johannes erfährt in Aals Drama durch die analoge Gestaltung zu dem Schicksal Jesu eine sinnvolle eschatologische Deutung. Gemäß göttlichem Auftrag soll Johannes nach seinem Wirken in der Welt nun auch in der Vorhölle als der Vorläufer Christi auftreten und das Kommen seines Herrn ankündigen, wozu sich der Heilige ohne jeden Einwand bereit erklärt.29 Durch den Neid der Pharisäer, die die Taufe als neuen Brauch ablehnen und religiöse Konkurrenz fürchten, wird die Konfrontation zwischen Johannes und der Königsfamilie von Aal gut vorbereitet und einsichtig motiviert. Nachdem der Täufer in seinen umfangreichen Bußpredigten auch den Ehebruch des Herodes als Unrecht gebrandmarkt hat, zeigen ihn die Schriftgelehrten an. Sie beschuldigen Johannes der Majestätsbeleidigung und werfen ihm vor, das Volk gegen den König aufzuhetzen.30 Noch bevor die Anklage erfolgt ist, lässt das erste Auftreten des Herodes Schlimmes für den Heiligen erwarten. Der König duldet von seinen Untergebenen keinen Widerspruch, vor allem keine Kritik an seiner neuen Ehe, da ihm seine neue Frau mehr als alles andere bedeutet. Mit einem Diener, der ihn vor den verderblichen Folgen seines Ehebruchs zu warnen sucht, macht Herodes kurzen Prozess und schickt ihn als Sklave auf eine Galeere.31 Zu dieser Demonstration tyrannischen Verhaltens passt, dass der König auf die Predigt des Johannes

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des Herrn (vgl. vv. 1616–24, vgl. auch Lc 2,22–32) und ordnet sich somit sowohl Jesus als auch Maria unter. Die Möglichkeit, den Heiland sehen zu dürfen, wird als höchstes Glück und größte Erfüllung irdischen Lebens gewertet. Auch die Jünger Jesu, namentlich Andreas, Petrus und Johannes, werden zunächst als Anhänger des Täufers dargestellt. Während sich der Großteil, darunter Petrus und Andreas, bald Jesus zuwendet, bleiben einige wenige Johannes noch treu. Nach seiner Gefangennahme fordert Johannes diese dezidiert auf, künftig auf Christus zu vertrauen (vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 3693–705, 5233– 37, 5248–62). Um seine Jünger zu überzeugen, schickt er sie zu Jesus, der sich ihnen durch seine Wundertaten offenbart (vv. 5267–792). Im Anschluss erneuert Johannes seine Aufforderung, sie mögen von nun an Christus folgen (vv. 5924–30). Vgl. ebd. vv. 2467–73, 5793–844, bes. vv. 5811–21: Ja warlich sag ich diser frist / Das er meer denn ein prophet ist. / […] / Kein heiligerer sun nie gboren ward / Dann der Joannes gnant Bapitst. Vgl. ebd. vv. 2523–30, 2538–42. Auch später zeigt Johannes keine Furcht, sondern will alle Marter und Pein gerne auf sich nehmen (vgl. vv. 3670–705, 6528–45). – MEYER ([Anm. 18], S. XXXI) moniert, dass keine Entwicklung der Figur erfolge: »Aals Johannesgestalt ist von Anfang bis Ende von der gleichen unerschütterlichen Festigkeit.« – Zu der Rolle des Täufers in der Vorhölle in den Geistlichen Spielen des späten Mittelalters vgl. KUNÉ [Anm. 7]. Zur Bußpredigt des Johannes vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 2245–52, zur Anklage des Hohen Rats vgl. vv. 2872–984, bes. vv. 2890–95: Er darff ouch üwer gnad vßspitzen / Wie sy inn offnem eebruch sitze / Das zimme keinem künig nit / Er hetzt das volck vnd sterckts darmit / Das es vffrisch alles wirt / Vnd sich mit vngloub wst verwirt. Vgl. ebd. vv. 2631–859. – Das Verhalten des Königs bietet Anlass zu einer scharfen Hofkritik, die in einer erbitterten Klage des Cancelliers Ausdruck findet, vgl. vv. 2999–3060.

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ebenfalls äußerst ungehalten reagiert.32 Als der Mann Gottes es wagt, ihm persönlich ins Gewissen zu reden, lässt Herodes ihn sogleich ins Gefängnis werfen.33 Am zweiten Spieltag übernimmt die Königin die Rolle als entscheidende Antagonistin des Täufers, wohingegen ihr Mann nun bereit ist, Johannes noch einmal anzuhören. Er stellt ihm sogar – unter der Bedingung künftigen Schweigens – eine Freilassung in Aussicht.34 Diese Differenz zwischen dem selbstherrlichen Verhalten des Königs am ersten und der versöhnlicheren Einstellung am zweiten Spieltag spiegelt die in den Evangelien angelegte Spannung zwischen der schuldhaften Beteiligung des Herodes im Matthäus- und im Markusevangelium. Während die Ursache für den Hass der Herodias in der Bibel nicht näher ausgeführt wird, motiviert Aal ihr Verhalten sorgfältig. Weil die Königin fürchtet, zu ihrem ersten Mann zurückgeschickt zu werden und ihren neugewonnenen Luxus wieder zu verlieren, ist sie Johannes feindlich gesinnt.35 Zudem betont Aal die leidenschaftliche Zuneigung des Königspaares füreinander, indem er zu einer metrischen Besonderheit greift: Das Liebesgeflüster in den Szenen vertrauter Zweisamkeit ist in Dimetern gefasst:36

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Das Zusammentreffen zwischen Herodes und Johannes ist doppelt motiviert: Einerseits fasst Johannes – in Analogie zur Leidensbereitschaft Jesu vor seinem Tod – selbst den Entschluss, zu dem König zu gehen, um ihn im Namen Gottes zur Umkehr zu mahnen (vgl. ebd. vv. 3452–57), andererseits will Herodes auf den Rat des Cancelliers den Beschuldigten mit eigenen Ohren hören und deshalb nach Galiläa reisen (vgl. vv. 3225–38). Zur Bußpredigt des Johannes vgl. ebd. vv. 3476–598. Zur Reaktion des Königs vgl. v.a. vv. 3599– 644. In Aals Tragödie wirft Johannes dem König gleich einen doppelten Ehebruch vor. Im Unterschied zur biblischen Perikope war Herodes vorher selbst verheiratet und hat seine Frau entlassen, um die Gemahlin seines Bruders heiraten zu können. Vgl. ebd. vv. 4525–40. Als Johannes sich jedoch nicht einschüchtern lässt, sondern Herodes nachdrücklich vor der wyber list (v. 4626) warnt und ihn auffordert, nicht wie ein Tor zu handeln, ist die Geduld des Königs schnell zu Ende. In Verkehrung ihrer moralischen Positionen wirft er dem Täufer vor, sich keins besseren (v. 4759) besonnen zu haben, und lässt ihn erneut gefangen setzen. Vgl. v.a. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 4172–213. Zum Verhältnis ihrer ersten und ihrer zweiten Ehe vgl. auch vv. 5990–6034. – Schon vor dem ersten Auftritt der Herodias wird das Publikum durch eine misogyne Rede, die den Bogen von der Königin bis hin zu Eva spannt und die weibliche Putzsucht und Besitzgier beklagt, auf ihre negative Rolle vorbereitet (vgl. vv. 3252–330). Auch an späteren Stellen werden die Geschwätzigkeit und die Verdorbenheit von Frauen akzentuiert (vgl. vv. 4039– 124, 4625–751), und schließlich führt Herodias ihren Sieg auf die typisch weibliche Kunst zurück, Männer zu becircen: Denn mß er dantzen was ich pfiff (v. 6742). Vgl. ebd. vv. 3333–80, 3421–28, 4872–900. Als das Gespräch des Paares an Intensität gewinnt und in der Auseinandersetzung um das Schicksal des Täufers inhaltliche Differenzen auftreten, wechselt Aal jeweils das Versmaß. Zur Metrik allgemein vgl. GOMBERT [Anm. 7], S. 68–75; MEYER [Anm. 18], S. XXVI–XXVIII; MICHAEL, Deutsches Drama [Anm. 3], S. 194.

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Herodes Min liebste frud / On allen schertz Zehan von mir Wir sind allein Denn was du wilt

Nun sag mir bscheid / Was bgert din hertz Das sag herfür Min hertzigs ein Deß bin ich milt.

Herodias Min hchster hort Darumb ich bitt Ach laß mich sin Du mich allein Glych als ouch ich Gantz willig bin

Erhr min wort Versag mirs nit. Gantz eigen din Jn trüwen mein. Gloubs sicherlich Din eigen z’sin. (Aal, ›Tragoedia‹, vv. 3345–55)

Trotz dieses innigen Verhältnisses ist Herodes jedoch nicht bereit, Johannes auf die Bitte seiner Frau hin töten zu lassen. Wieder und wieder versucht Herodias, ihren Mann zu erweichen. Sie fleht und argumentiert, klagt über Volksverhetzung und Majestätsbeleidigung, appelliert an die Liebe des Ehemanns und bittet den König kniefällig um seine Gunst.37 Selbst als sie an sein früheres Versprechen erinnert, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, bleibt Herodes standhaft.38 Diese Auseinandersetzungen zwischen König und Königin um das Schicksal des Täufers stellen nicht nur Herodias als die maßgebliche Agentin des Bösen bloß, sondern zeigen auch die Vergeblichkeit ihres Flehens. Erst der übermäßige Weinkonsum, der leichtfertige Eid und die anwesenden Zeugen bewegen Herodes, den Mann hinrichten zu lassen, den er für fromm und unschuldig hält. Ausschlaggebend für seine Entscheidung ist die Sorge um seinen Ruf. Lieber will er seine Ehre behalten, als meineidig zu werden, auch wenn er auf diese Weise ein Menschenleben retten kann.39 Wie leichtsinnig, unvernünftig und unverantwortlich sich der König verhält, macht ihm sein Hofnarr unverblümt deutlich. Die literarische Figur, die sich im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit insgesamt einer großen Beliebtheit erfreut,40 hält Herodes 37

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Als der König ihr zum ersten Mal diese Bitte abschlägt, reagiert Herodias mit Zorn (vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 4283–302), den sie erst auf den Rat der Tochter hin, ihren Mann durch ständiges Bitten umzustimmen (vgl. vv. 4337–49), zu zügeln weiß. Bei der nächsten Begegnung geht die Königin zwar geschickter vor, kann ihr Ziel jedoch noch immer nicht erreichen (vgl. vv. 4866–5058). Vgl. ebd. vv. 4981–96. Vgl. ebd. vv. 6472–85, bes. vv. 6472f.: Was ists / es ist zthn umb ein man / Wil lieber blyben by den ehren […]. Zur Figur des Narren allgemein vgl. PETER BURKE, Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, hrsg. von RUDOLF SCHENDA, Stuttgart 1981; BARBARA KÖNNEKER, Wesen und Wandlung der Narrenidee im Zeitalter des Humanismus. Brant – Murner – Erasmus, Wiesbaden 1966; WERNER RÖCKE, Schälke – Schelme – Narren. Literaturgeschichte des ›Eigensinns‹ und populäre Kultur in der Frühen Neuzeit, in: Schelme und Narren in den Literaturen des Mittelalters, hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER, WOLFGANG SPIEWOK (Wodan 31), Greifswald 1994, S. 131–149; HANS RUDOLF VELTEN, Komische Körper. Zur Funktion des Hofnarren und zur Dramaturgie des Lachens im Spätmittelalter, Zeitschrift für Germanistik NF 11 (2001), S. 292–317.

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mehrfach einen Spiegel vor. Der eigentliche Narr des Handlungsgeschehens ist nicht derjenige, der das entsprechende höfische Amt bekleidet, sondern der König, der sich für weibliche Reize allzu empfänglich zeigt und sich von Frauen negativ beeinflussen lässt.41 Nachdem die von Herodias – gemeinsam mit ihrer Amme und ihrer Tochter – ersonnene List zum Erfolg geführt hat, offenbart sich ihre ganze Schlechtigkeit.42 Die Königin fällt über den fragmentierten Körper her und schändet den Toten. In völliger Verkehrung ihrer Positionen beschimpft sie den abgetrennten Kopf des Johannes als Verräter, Übeltäter und Mörder, sie verflucht ihn für seine Taten und erfreut sich an dem Bewusstsein, künftig vor ihm sicher zu sein. Nach der verbalen Schmähung sucht Herodias auch mit tätlicher Gewalt ihrem Hass Befriedigung zu verschaffen. Sie sticht in das Haupt und imaginiert, dem Leichenteil mit Feuer und Gift so zuzusetzen, dass Johannes durch seine mehrfache Tötung endgültig vernichtet ist. Die Tragödie endet jedoch nicht mit dem Triumph der Bösen, sondern die Schlussszene lenkt den Blick noch einmal zurück zu dem geopferten Heiligen. Wie in der Passionsgeschichte Jesu sind die letzten Worte und Taten nach dem Tod des Täufers seinen Jüngern vorbehalten. Die engsten Freunde des Johannes kehren zu seinem letzten Aufenthaltsort zurück, entdecken den kopflosen Leichnam und klagen über die Ermordung des Gerechten.43 Vor allem diese enge Ausrichtung an dem Leben und Leiden Christi, die als Charakteristikum des Dramas gelten darf, erklärt, weshalb Aal seine Bearbeitung der warhafften Histori des Johannes als Tragoedia bezeichnet. Die Enthauptung des Täufers ist in Analogie zu der Passion Christi gestaltet, die in der Vormoderne als die wahre christliche Tragödie angesehen worden ist.44 Johannes Aal hat sein Johannesspiel somit als eine Märtyrertragödie konzipiert, in der der unschuldige Heilige für seinen Glauben Zeugnis ablegt und seinen Opfertod bereitwillig auf sich nimmt.

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So kommentiert der Narr den Kuss und die Umarmung, die Herodes seiner Frau schenkt, mit den Worten: Du bist ein Narr (Aal, ›Tragoedia‹, v. 6055). Noch schärfer kritisiert er das Versprechen des Königs, der Tochter einen beliebigen Wunsch zu erfüllen, und erkennt darin eine Bedrohung der Herrschergewalt: Ich mein der Narr steck dir im kopff. / Old bistu diner sinnen broupt? / Ich gloub du siest vollen most / Old wiltu nimmer künig sin […]? (vv. 6362–65) Als Salome schließlich auf die Einlösung des Versprechens besteht, macht sich der Narr über die Angst und Not des Herodes lustig, beschimpft ihn als vnholdselge[n] nasentropff (v. 6456) und unterstellt ihm sogar eine heimliche Freude an dem Geschehen (vgl. vv. 6440–63). Zur Begegnung der Königin mit dem Toten vgl. ebd. vv. 6708–45. Zur Verschwörungsszene der Frauen vgl. vv. 5078–153. – Die Gottlosigkeit der Herodias wird bereits zuvor an ihrem Gebet deutlich. Statt an den christlichen Gott wendet sie sich an Fortuna und bittet diese, ihr bei der Umsetzung ihres Plans zu helfen, vgl. v. 6280: O glück nun kum / yl schnell vnd bhendt […]. Vgl. ebd. vv. 6762–876. Einen Beleg für die zeitgenössische Verwendung dieses Begriffs liefert die von Johannes Latomus Ende des 16. Jahrhunderts verfasste Chronik, in der er von der Aufführung eines Passionsspiels in Frankfurt berichtet: Anno 1467 tragoedia passionis Christi exhibetur. Vgl. NEUMANN [Anm. 3], Nr. 1496, S. 311.

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Die Tyrannentragödie von Hans Sachs Hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Komplexität unterscheidet sich die Tragedia des Nürnberger Poeten markant von Aals Drama. Hans Sachs benötigt nur 532 Verse, um ›Die enthauptung Johannis‹ auf der Bühne darzustellen. Dabei verzichtet er auf eine Untergliederung in Akte oder Szenen und beschränkt sich weitgehend auf das in den Evangelien vorgegebene Personal, das nur durch den die Spielhandlung mit seinen Kommentaren rahmenden Ehrnholdt ergänzt wird.45 Dieser gibt von Anfang an die Perspektive vor, wie die Figuren zu bewerten sind. Herodes wird charakterisiert als der könig arg, / Der schmeichelhafftig lang verbarg / Sein blutdurstige tyranney, und seine Frau als das falsch weib Herodias (Sachs, ›Tragedia‹, S. 198,11–13.22), die für den Tod eines unschuldigen Menschen in entscheidender Weise mitverantwortlich sei. Der Fokus des Spiels liegt freilich stärker auf Herodes als auf dem Königspaar; er wird als ein schwacher Herrscher präsentiert, der aus Sorge um seinen Ruf wiederholt gegen sein Gewissen handelt. Schon bei seinem ersten Auftritt zeigt sich der König von der Lehre des Johannes überzeugt, ist aber aus Furcht vor den Römern nicht bereit, öffentlich zu bekennen, dass es nur einen Gott gibt.46 Hans Sachs übernimmt die im Markusevangelium vorgeprägte Formulierung Denn er wuste / das er ein fromer vnd heiliger Man war (Mc 6,20a) und macht sie zum Leitmotiv seines Dramas. Im Selbstgespräch, gegenüber Herodias, im Dialog mit der Tochter und selbst gegenüber dem Henker bekennt Herodes, dass er Johannes für einen frommen und heiligen Mann hält.47 Bereitwillig hört er sich die Bußpredigt des Täufers an, stimmt ihm sogar zu, als dieser seine Ehe tadelt,48 ohne jedoch die notwendigen 45

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Auf die allgemeine Verfahrensweise des Hans Sachs, den Inhalt und die Struktur seiner Quellen in den Dramen weitgehend beizubehalten, weist DOROTHEA KLEIN, Bildung und Belehrung. Untersuchungen zum Dramenwerk des Hans Sachs (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 197), Stuttgart 1988, S. 127, hin. Ihm gehe es »nicht um ausgefeilte Artistik, um künstlerische Durchformung seiner Vorlage, wohl aber um gewissenhafte Vermittlung« (ebd. S. 136). Dass Sachs bei seinen dramatischen Bearbeitungen, die vor allem in Kürzungen bestehen, durchaus konzeptionelle Veränderungen vornimmt, verdeutlicht CORA DIETL, ›Höfische Minne‹ auf der Meistersängerbühne. Zur Dramatisierung höfischer Liebesromane durch Hans Sachs, in: The Court Reconvenes. Courtly Literature Across the Disciplines, hrsg. von BARBARA K. ALTMANN, CARLETON W. CARROLL, Cambridge 2003, S. 345–356, am Beispiel der höfischen Minnethematik. Auch in der ›Johannes‹Tragödie werden eigene Schwerpunkte deutlich. Dabei setzt Sachs dem Drama im Epilog nicht eine beliebige Moral auf, sondern bereitet diese mit seiner spezifischen Interpretation der biblischen Geschichte vor. – Zu den Dramen allgemein vgl. NIKLAS HOLZBERG, Die Tragedis und Comedis des Hans Sachs. Forschungssituation – Forschungsperspektiven, in: Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976, hrsg. von HORST BRUNNER, GERHARD HIRSCHMANN, FRITZ SCHNELBÖGL (Nürnberger Forschungen 19), Nürnberg 1976, S. 105–136. Vgl. Sachs, ›Tragedia‹, S. 199,8–17. Vgl. ebd. S. 199,9.36; 202,21; 208,1; 209,34; 210,30, vgl. auch S. 208,19. Vgl. ebd. S. 201,24f.: Johannes, du sagst war und recht. / Du bist ein trewer Gottes knecht.

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Konsequenzen zu ziehen. Stattdessen hält der König an seiner Zusage fest, seine Hertzliebste niemals verlassen zu wollen und ihr immer ergeben zu sein.49 Die Königin wiederum schmäht Johannes als einen genßprediger und weigert sich, seim gewesch länger zuzuhören (Sachs, ›Tragedia‹, S. 201,33.35). Aufgrund der heimlichen Bewunderung ihres Mannes für den frommen Prediger muss die Herodias des Hans Sachs umso mehr danach trachten, den Unruhestifter, der ihren gesellschaftlichen Status gefährdet, zu beseitigen. Dabei erweist sich ihre Tochter, die ganz nach ihrer Art geschlagen ist, als findige Ratgeberin.50 Nachdem die Bitten der Königin, den Täufer aus dem Land zu verbannen, erfolglos geblieben sind, treibt die Tochter die Handlung entscheidend voran. Sie entwickelt mehrere Strategien und empfiehlt zunächst, den Bußprediger zu vergiften, dann, ihn heimlich ermorden zu lassen. Während Herodias den ersten Vorschlag aufgrund der Abstinenz des Johannes als aussichtslos und den zweiten aus Sorge vor ihrem Mann als zu gefährlich beurteilt, stimmt sie der dritten Option, das Haupt des Täufers als Lohn für einen Tanz fordern zu wollen, begeistert zu. Sie ermuntert ihre Tochter, sich fein herauszuputzen und ihre Zuschauer mit ihren hübschen Bewegungen und schmeichelnden Gesten für sich einzunehmen. Die Intrige der beiden Frauen beruht – abweichend von der biblischen Erzählung – auf Erfahrungswissen. Weil die Tochter bereits häufig für Herodes getanzt und sein halbes Königreich versprochen bekommen hat, kann sie darauf vertrauen, Das ichs all mach zu narrn und affen (Sachs, ›Tragedia‹, S. 206,11). Der Plan, in den Herodias auch die Trunkenheit der Feiernden einkalkuliert hat, geht auf. Der König erlaubt der Tochter, etwas zur Unterhaltung der Gäste beizutragen, und ist von ihrer Tanzdarbietung so angetan, dass er sie in höchsten Tönen preist: Ach wie köngklich ist sie geziert, Gantz engelisch geliedmasiert, Wie innigklich, zart und gantz weiblich, Unaußsprechlich und gar unschreiblich! (Sachs, ›Tragedia‹, S. 207,10–13)

Während Herodes in der engelgleichen Tänzerin gar ein himelisches bildt zu erkennen meint (Sachs, ›Tragedia‹, S. 207,20), steht sein Entzücken in polarem Gegensatz zu dem teuflischen Vorhaben der weiblichen Figuren. Großes Leid erfüllt den König, als er erkennen muss, dass die Tochter keinen anderen Lohn als das Haupt des Täufers bekommen möchte. Wie in den Evangelien erklärt er sich Umbs gethanen eides willen 49 50

Vgl. ebd. S. 199,26–30. Zu dem Gespräch zwischen Mutter und Tochter vgl. ebd., S. 203,21–206,17. – Explizit lobt Herodias ihre Tochter: O tochter, du bist recht geschaffen. / […] / Du schlechst mit aller art nach mir (S. 206,13–15). – Während der altgläubige Johannes Aal die Tochter noch gemäß legendarischer Tradition als Salome bezeichnet, verzichtet der Protestant Hans Sachs auf die in der Bibel nicht bezeugte Namensnennung. Simon Gerengel wird ihm hierin folgen. – Zur Rezeption dieser Figur vgl. LUTZ [Anm. 6], S. 392–394; JULIA ZIMMERMANN, Teufelsreigen – Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen (Mikrokosmos 76), Frankfurt am Main u.a. 2007, S. 227–277.

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bereit (Sachs, ›Tragedia‹, S. 208,11), ihren Wunsch zu erfüllen, obwohl er im Drama noch einmal reflektiert, dass Johannes ein frommer, heiliger und unschuldiger Mann ist, der dem Erlöser vorangeht. Ein retardierendes Moment baut der Verfasser ein, indem er ausgerechnet den Henker Widerspruch einlegen lässt.51 Während der Nachrichter in Aals Tragödie seinen Auftrag nur allzu gerne erfüllt,52 hält er bei Sachs dem König vor, dass die Entscheidung ohne einen Urteilsspruch und gegen das Recht zustande gekommen ist. Der Henker verweist auf das vorherige Zeugnis des Königs von der Heiligkeit und Frömmigkeit des Täufers und appelliert an seine Gerechtigkeit. Selbst das Argument des verpflichtenden Eids weiß er zu entkräften. Da Herodes mit List gefangen wurde, sei der Eid nicht bindend und dürfe nicht zu dem Tod eines Unschuldigen führen. Auf den Einwand des Henkers hin offenbart Herodes den wahren Grund seines Verhaltens: Weil er Angst hat, die Huld von Mutter und Tochter zu verlieren, nimmt er einen Verstoß gegen das Recht billigend in Kauf.53 Wie die Gegner Jesu im Matthäusevangelium vor seiner Kreuzigung erklärt auch der König im Bibeldrama von Hans Sachs vor der Enthauptung des Johannes, die daraus resultierende Schuld auf sich nehmen zu wollen: Die sündt die bleib auff mir allein! (Sachs, ›Tragedia‹, S. 209,13)54 Trotz dieser bewussten Entscheidung wird Herodes nach der Hinrichtung von Gewissensbissen gepeinigt und bereut sehr, Das ich den frommen hailign mann / Unschuldigklich hab abgethan! (Sachs, ›Tragedia‹, S. 210,30f.) Schnell lässt er sich jedoch von Herodias trösten, die ihn mit Standesargumenten beruhigt. Sie spricht ihn gezielt als königliche Majestät an und fordert ihn auf, nicht um Johannes zu trauern, da dieser doch nur von einfacher Herkunft und geringer Abstammung sei.55 Damit interpretiert Sachs das biblische Geschehen als eine willkürliche Gewalttat eines Herrschers, der durch sein Handeln zum Tyrannen wird.56 Obwohl die Beeinflussbarkeit des Herodes deutlich akzentuiert ist und er durch eine geschickte Strategie der Frauen zum Bösen verleitet wird, erlauben seine eigenen Worte nicht, ihn moralisch zu entlasten und von seiner Schuld freizusprechen; wider besseres Wissen lässt er einen Unschuldigen hin51

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Vgl. Sachs, ›Tragedia‹, S. 208,26–209,7. Das Verhalten des Henkers in Aals Werk orientiert sich dagegen an den Peinigern Christi; zwar foltert er sein Opfer nicht in einem körperlichen Exzess, doch setzt er Johannes vor seiner Enthauptung mit verbaler Gewalt zu (vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 6521–658). Vgl. Aal, ›Tragoedia‹, vv. 6489–95, 6506–12. Bezeichnenderweise gibt Aal seinem Henker den Namen Wolff wterich, der zweimal im Bühnentext erwähnt (vv. 6486, 6509) und von der Figur selbst mit ihrem Verhalten begründet wird (vgl. vv. 6508f.). Vgl. Sachs, ›Tragedia‹, S. 209,9–13: Thet ichs nit, ich verlür die huldt / Tochter und mutter, aller beider. / Wiewol es nit gar recht ist leider, / Geh doch, volstreck den willen mein! Vgl. auch Mt 27,24f. Vgl. Sachs, ›Tragedia‹, S. 211,1–13. WASHOF ([Anm. 3], S. 331–359), der die Bibeldramen des 16. Jahrhunderts unter der Perspektive ihres theologischen Lehrgehalts untersucht, behandelt alle lateinischen und deutschen ›Johannes‹Dramen unter dem Oberthema ›Gefahren für die Obrigkeit‹, da seines Erachtens vor allem Tyrannentum und Machtmissbrauch anhand dieses biblischen Stoffes problematisiert werden.

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richten und verstößt als Herrscher so gegen seine Verpflichtung, Recht zu sprechen und Gerechtigkeit zu wahren. Hans Sachs ist einer der wenigen Dramenautoren der Frühen Neuzeit, der sich explizit über sein Gattungsverständnis geäußert hat. Seine Definition der Tragödie fällt jedoch – im Vergleich zu den Regelpoetiken der Neuzeit und dem philosophischtheoretischen Tragikdiskurs der Moderne – äußert knapp aus: Für Hans Sachs ist eine Tragödie ein Drama, bei dem die Handlung ein schlechtes Ende findet, wohingegen für die Komödie ein guter Ausgang charakteristisch ist.57 Folgt man dieser Auffassung, dann ist das tragische Potential bereits in der biblischen Erzählung angelegt. Die Enthauptung des Johannes am Ende der Geschichte erfüllt das Gattungskriterium in inhaltlicher Hinsicht, wohingegen die formalen Voraussetzungen mit der Verwandlung des narrativen in den dramatischen Modus geschaffen werden. Die eigene Akzentuierung des Hans Sachs besteht darin, dass er die Figur des Herodes in den Mittelpunkt des Dramas rückt und die biblische Perikope in eine Tyrannentragödie verwandelt.

Die Intrigentragödie von Simon Gerengel Mit ihren 1700 Versen Umfang und den elf Akteuren steht die Tragedia, wie der niederösterreichische Pastor Simon Gerengel sein Werk bezeichnet, zwischen den Dramen von Aal und Sachs.58 Eine Unterteilung in Akte hat der Verfasser nicht vorgenommen, nur die Regieanweisungen, in denen die Auf- und Abtritte von Figuren verzeichnet werden, lassen auf einen Szenenwechsel schließen. Neben den in den Evangelien vorgesehenen Personen und dem für das zeitgenössische Spiel charakteristischen Precursor oder vorsprecher treten verschiedene Hofbeamte (Der herr Marschalck, Der herr Burggraf, Der herr Cantzler, Der herr Hauptman), ein hetschier oder schiltknecht und ein diener oder scherg auf (Gerengel, ›Johannesspiel‹, S. 82). Ortswechsel finden kaum statt, die gesamte Handlung spielt am Königshof,59 und räumlich ferne Ereignisse – wie das Predigen des Johannes am Jordan – werden durch Botenberichte referiert. Die Lokalisierung des Geschehens im Zentrum der weltlichen Macht bietet Anlass zu einer scharfen Hofkritik, mit der der Precursor die Rezipienten auf die Dramenhandlung einstimmt. In seiner Eröffnungsrede tadelt er vor allem das Verhalten des Hofgefolges, das die Unrechtstaten des Herrschers decke und billige: 57

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Vgl. JACOB GRIMM, WILHELM GRIMM (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 11, Abt. 1, Teil 1, bearbeitet von MATTHIAS LEXER, DIETRICH KRALIK und der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuches, Leipzig 1935. Unv. Nachdruck München 1984, Sp. 1155: Hans Saxe schreibet, wenn ein spiel traurig ausgehet, so ist es eine tragödie. Vgl. Gerengel, ›Johannesspiel‹, S. 81. Zur Verortung des Stücks in der Spieltradition vgl. auch GEBHARDT [Anm. 7], S. 45. Nach GEBHARDT [Anm. 7], S. 45, sind ein Königssaal und ein dazu gehöriges Vorzimmer als Schauplätze vonnöten.

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Da geet es als nachs sittigs weis Den singt mans lied welicher die speis Teglichen gibt vnd fragt nit nach Ob durch solch gsang auch mordt geschach. (Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 35–38)

Schon diese Interpretationsvorgabe und das veränderte Figurenpersonal lassen darauf schließen, dass sich Simon Gerengel die Freiheit zur poetischen Ausgestaltung nimmt; von allen drei hier berücksichtigten Johannesspielen des 16. Jahrhunderts entfernt sich sein Werk am stärksten von den biblischen Vorgaben. Die Anfangssituation in Gerengels Tragödie unterscheidet sich insofern von den beiden vorher besprochenen Dramen, dass der Ehebruch verdoppelt und in die Vergangenheit verlagert wird. Die Tochter ist das gemeinsame Kind des Königspaares, das Herodias bei einem früheren Seitensprung mit Herodes empfangen hat.60 Zudem wird die Unrechtmäßigkeit ihrer Beziehung zu einem Staatsgeheimnis erklärt, wobei vor allem Herodias mit allen Mitteln verhindern möchte, dass ihr Ehebruch öffentlich wird.61 Daher trifft sie die Bußpredigt des alles wissenden Johannes, dem sie schon vorab skeptisch gegenüber stand, in mehrfacher Hinsicht besonders. In einer an Schärfe kaum zu überbietenden Rede diffamiert er die Königin als böse und verderbenbringend. Nachdrücklich warnt Johannes den König vor der Hure und Teufelin, die ihn verführe, und fordert ihn auf, sich von ihr zu lösen, um nicht in der Hölle zu enden. Drumb volg nit nach jrm hůrengsicht Sie ist dir ja lieblich erscheinen Vnd bringt dir doch hellische peinen Th dannen disen Teufel dein Sampt jrem kleinen panckhartlein. (Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 512–516)

Herodes zeigt sich von diesen Mahnreden sichtlich beeindruckt und im Innersten berührt.62 Er erklärt, sich bekehren zu wollen, bittet sich aber vorher Bedenkzeit aus. Die Warnung des Täufers, dass Herodias dann Oberhand gewinnen werde,63 trifft ein. Während sich Herodes zurückzieht, schmiedet Herodias ihre Ränke, die zeigen, wie berechtigt die heftige Invektive des Johannes gewesen ist. Bei Gerengel zieht Herodias nicht nur – wie bei Sachs – einen Giftanschlag in Erwägung, sondern übt einen solchen – allerdings vergeblich – aus.64 So sehr steigert sich die Königin in ihre Wut hinein, dass 60 61 62

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Vgl. Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 140–155. Vgl. ebd. vv. 90–97. Vgl. ebd. vv. 524–531. Ein zentraler Indikator für die affektive Betroffenheit des Königs ist sein Herz, auf das er wieder und wieder Bezug nimmt: Du hast mir mein hertz gar erschreckt (v. 525), vgl. auch vv. 601, 625, 716, 720, 839, 1385, 1431, 1445, 1463, 1481. Auch die anderen Figuren argumentieren wiederholt mit der Befindlichkeit ihres Herzens, vgl. z.B. vv. 655, 732, 734. Vgl. ebd. vv. 554–574. Die Königin bietet Johannes beim Abschied einen Becher mit Wein an, den er jedoch höflich ablehnt, da er keinen Alkohol trinke (ebd. vv. 575–582). Später offenbart die Königin, dass sie ihren Gegner auf diese Weise beseitigen wollte: Het er truncken da ich jm thet geben / So het ein end sein zeitlich leben (vv. 647f.).

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sie Mord und Selbstmord als die einzigen Alternativen betrachtet.65 Schließlich sucht sie in ihrem Hass gar in dem Burggrafen einen Verbündeten und verspricht ihm als Lohn für den Tod des Johannes, seine Geliebte zu werden.66 Der als Figur von Gerengel neu erfundene Burggraf gewinnt im Verlauf der Handlung immer mehr an Profil. Während er anfänglich dem Täufer selbst zugetan war, wechselt er bei dem Angebot der Königin die Seiten und beeinflusst auch den König gemäß ihren Wünschen. Zwar stellt sich der Burggraf in dem kurzen Dialog mit dem gefangenen Johannes als reinen Befehlsempfänger dar,67 hinter den Kulissen agiert er jedoch als Intrigant, der Herodes nach seinem Willen lenkt. Trotz dieser Verschwörung ist die Forderung der Enthauptung des Johannes nicht Teil eines ausgeklügelten Plans, sondern ergibt sich erst im Verlauf der Handlung, als Herodes seiner Tochter eine beliebige Belohnung in Aussicht stellt. Mehr noch als von dem Tanz zeigt sich der König von dem Lied beeindruckt, das sie selbst komponiert hat und zu seinen Ehren bei dem Gastmahl vorträgt. Der Hymnus weist selbstreferentielle Züge auf; das vorherige Geschehen wird literarisiert und idealisiert auf die Bühne gebracht. Das Lied im Spiel preist den König für die Befreiung von Mutter und Tochter aus großer Pein, wofür ihm die Sängerin ergebene Dankbarkeit zusichert.68 Die Konsequenzen seiner Wohltaten für Mutter und Tochter stürzen Herodes jedoch selbst in tiefe Not. Nachdem er sich der Tochter mit dem Lohnversprechen, Was du begerst dir werden geben / Des sol drob sein mein leib vnd leben (Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 1310f.), vollständig ausgeliefert hat, empfindet er größtes Leid, als er auf ihre Forderung hin einen unschuldigen Menschen töten lassen soll. Gerengel hebt die Ambivalenz seines Verhaltens hervor, indem er den König einerseits ein Glaubensbekenntnis ablegen lässt, das an die Worte des römischen Hauptmanns bei der Kreuzigung Jesu erinnert (vgl. Mc 15,39): Doch ists warlich ein heilig Man Mit disen worten ich nit schertz Deß vberzeugt mich mein aigen hertz. (Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 1429–31)

Andererseits erteilt Herodes ebenso wie in allen Prätexten den Befehl zur Hinrichtung, um nicht als meineidig verachtet zu werden. Auch in dieser Szene wirkt sich der Einfluss des Burggrafen negativ aus, indem er dem König bestätigt, mit der Erfüllung seines Versprechens das Richtige getan zu haben, und ihm hilft, sein Gewissen zu beruhigen. Obwohl Johannes heilig genannt werde, sei er doch ein klapper Man / Der an euch groß vnrecht hat than (Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 1434f.). Weil der Täufer die 65

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Vgl. ebd. vv. 639–641: Ein ayd schr ich an disem ort / Jch laß nit nach biß das ein mord / Zwischen vns baiden ist geschehen. Vgl. ebd. vv. 643–658, 669–680. – Die beiden besiegeln ihren Bund, indem der Burggraf der Königin einen Ring überreicht und sie diesen anlegt. Später bekräftigt sie ihr Versprechen noch einmal verbal: Dein schlaffbůl wil ich warlich sein (v. 825). Vgl. ebd. vv. 968f.: Was leg vns dran / wir seind nur knecht / Aber der Künig wils haben nit. Vgl. ebd. vv. 1217–51.

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gesamte königliche Familie mit seinen Reden in Angst und Not gebracht habe, sei jedes Mitleid mit ihm unangebracht. Entgegen seiner eigentlichen Empfindung stimmt Herodes seinem untreuen Berater zu. Im Anschluss an die Tötung des Johannes eröffnet Gerengel seiner Hauptfigur noch eine letzte Gelegenheit zur Umkehr. Anders als bei Aal wird nicht eine Auseinandersetzung der Königin, sondern eine Begegnung des Königs mit dem zerteilten Körper des Heiligen in Szene gesetzt. Herodes lässt sich das Haupt des Täufers zunächst selbst bringen und bereut bei diesem Anblick seine Tat zutiefst: Ach wee / ach wee du frommer Man Was hab ich heut an dir gethan Doch es ist hin / auß ist dein leben Angst thůt mir da mein hertz vmbgeben. (Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 1460–63)

Die sich in diesem Schuldbekenntnis abzeichnende Möglichkeit einer Bekehrung wird durch den Auftritt der Tochter jedoch erneut abgebogen. Nachdem diese sich für die Gabe artig bedankt hat, tröstet sich der König mit dem Gedanken, seinen Eid gehalten zu haben. Über die Gattung der Tragödie und ihre Kriterien hat sich Simon Gerengel nicht explizit geäußert. Nur im Titel des Drucks findet sich ein Hinweis auf sein Verständnis. Dort wird angekündigt, dass die schn euangelisch History von der enthauptung des heiligen Johannis / […] / in ein Tragedia gesetzet sei (Gerengel, ›Johannesspiel‹, S. 81). Demnach ist für eine Tragödie eine bestimmte literarische Form kennzeichnend, nämlich die eines Dramas, in die eine Geschichte traurigen Inhalts verwandelt werden kann. Im Unterschied zu Johannes Aal, aber in Übereinstimmung mit Hans Sachs rückt auch Simon Gerengel den manipulierbaren König, nicht den unschuldigen Täufer in den Mittelpunkt. Sowohl Johannes als auch Herodes werden in Gerengels Spiel jedoch in gleicher Weise Opfer einer Intrige, die Herodias gemeinsam mit dem Burggrafen und ihrer Tochter schmiedet. Der König lässt sich durch ihren Einfluss zu der Tötung eines heiligen Menschen bewegen, obwohl ihn sein Herz und sein Gewissen nachdrücklich vor einer solchen Tat gewarnt haben. Während Johannes auf diese Weise sein irdisches Leben verliert, muss Herodes mit schlimmeren Konsequenzen rechnen. Wider besseres Wissen schlägt er das Angebot zur Umkehr zweimal aus und ist deshalb für sein Verderben selbst verantwortlich.69 Statt den Mahnpredigten des Täufers zu folgen, vernichtet er den Prediger und damit zugleich seine eigene Rettungsmöglichkeit. Wenngleich die negativen Folgen seines Handelns nicht mehr auf der Bühne dargestellt werden, ist durch die apokalyptische Bußpredigt des Johannes völlig klar, dass Herodes in der Hölle landen wird. 69

Dieses Verhalten der Hauptfigur kann bei den Rezipienten angesichts der Beobachtung, wie leicht jemand zum Bösen verleitet werden kann, Furcht auslösen und Mitleid mit dem verführten Sünder bewirken. – Zu dieser Wirkung, die Aristoteles als charakteristisch für die Tragödie erachtet, und ihrer Rezeption vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt und erläutert von ARBOGAST SCHMITT (Werke in deutscher Übersetzung 5), Berlin 2008, Kap. 13, 1452b. Vgl. auch ARBOGAST SCHMITT, Kommentar, in: ebd. S. 193–742, hier S. 476–510.

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Gattungsmerkmale einer biblischen Tragödie Die vergleichende Analyse der drei ›Johannes‹-Tragödien zeigt, dass sich – über die dramatische Form und den traurigen Inhalt hinaus – keine detaillierten Gattungskriterien ableiten lassen. Obwohl die Stücke auf einer gemeinsamen biblischen Quelle basieren und sich alle als Tragödien bezeichnen, weisen sie große formale Differenzen auf: Der Umfang variiert zwischen ungefähr 500 und 7100 Versen, die Gliederung in Akte und Szenen ist fakultativ, und die Spieldauer kann einen Zeitsprung beinhalten.70 Räumlich entfernte Ereignisse werden einmal durch Botenbericht geschildert, ein anderes Mal finden häufige Ortswechsel zwischen Wüste, Königshof und Gefängnis statt.71 Forderungen nach der Einheit der Handlung, der Zeit oder des Ortes, wie sie in den lateinischen Kommentaren zur aristotelischen ›Poetik‹ seit der Mitte des 16. Jahrhunderts formuliert werden,72 spielen für die volkssprachlichen ›Johannes‹-Tragödien demnach keine Rolle. Selbst die Regel des Horaz, auf das rhetorische aptum zu achten, besitzt keine allgemeine Gültigkeit.73 In Aals Tragödie werden komische und tragische Elemente vermischt, indem er die Figur eines Narren integriert, und in allen drei Dramen sind bei dem Personal sowohl Figuren hohen als auch niederen Stands vertreten.74 Deutlich wichtiger als genaue formale Richtlinien sind für die Gattungszuordnung der Dramen der schlechte Ausgang und das traurige Ende der Handlung, wie bereits an dem Diktum von Hans Sachs deutlich geworden ist. Dass dieses Primat der Geschichte über den Diskurs für die Tragödientheorie der Frühen Neuzeit insgesamt charakteristisch ist, zeigt die Definition von Martin Opitz in seinem ›Buch von der Deutschen Poeterey‹: Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte gemeße / ohne das sie selten leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte sachen einfhre: weil sie nur von

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In Gerengels Drama kündigt Herodes an, in acht Tagen sein Geburtstagsfest feiern zu wollen (vv. 1030f.). Kaum hat er den Burggrafen mit der Einladung und seine Frau mit der Vorbereitung des Mahls beauftragt, treffen die Gäste schon ein (vgl. vv. 1069–73). Zu den verschiedenen Schauplätzen von Aals ›Tragoedia‹ vgl. auch MEYER [Anm. 18], S. XXXIII. Während für Aristoteles die Einheit der Handlung das entscheidende Qualitätskriterium für Dichtung ist, gewinnt in den frühneuzeitlichen Kommentaren die Einheit von Zeit und Ort an zentraler Bedeutung. Vgl. BRIGITTE KAPPL, Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 83), Berlin/New York 2006, S. 176– 178; SCHMITT [Anm. 69], bes. S. 407. Vgl. Horaz, Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lat./dt., übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. von ECKART SCHÄFER (RUB 9421), Stuttgart 2008, vv. 86–92. Bei Aal stammen die Figuren aus allen Gesellschaftsschichten, wohingegen Gerengel sich auf Hofbedienstete unterschiedlichen Rangs beschränkt. Sachs legt den Fokus zwar auf die Königsfamilie und fügt dem Spiel keine über den Bibeltext hinausgehenden Figuren hinzu, jedoch wird bei ihm die niedere Abstammung des Johannes eigens hervorgehoben.

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Kniglichem willen / Todtschlgen, verzweiffelungen / Kinder- vnd Vtermrdern / brande / blutschande / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen handelt.75

Mit dem gehobenen Stil und den gesellschaftlich hochgestellten Personen nennt Opitz zwei Gattungsmerkmale der Tragödie, die bereits in den mittelalterlichen Etymologien und Glossaren erwähnt werden.76 Statt weitere formale Charakteristika anzugeben, führt er eine Reihe verbrecherischer und grausamer Ereignisse an, die in einer Tragödie thematisiert werden können. Die Dominanz des Inhalts belegen auch die leidvollen Evokationen, indem sich das klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen auf die Aktionen der Figuren einer Tragödie bezieht, nicht etwa auf die Reaktionen der Zuschauer. Über die Zugehörigkeit zur Gattung entscheiden also auch nach Ansicht von Opitz allein inhaltliche Kriterien; Stoffe, in denen Unglück und Gewalt dominieren, eignen sich grundsätzlich für eine Tragödie. Vor dem Hintergrund dieser Gattungsdefinition ist nicht verwunderlich, dass die vorgestellten ›Johannes‹-Dramen trotz konzeptioneller Differenzen als Tragödien bezeichnet werden. Während Johannes Aal die Lebens- und Leidensgeschichte des Johannes auf die Bühne bringt und eine Märtyrertragödie entwirft, problematisiert Hans Sachs die Willkürherrschaft des Königs und präsentiert Herodes als Tyrannen. Simon Gerengel wiederum stellt die Manipulierbarkeit des Herrschers in den Mittelpunkt, der aufgrund einer Intrige das Leben des Täufers und sein eigenes Heil verspielt. Gemeinsam ist allen drei Spielen jedoch das strukturelle Grundgerüst, das im Matthäus- und Markusevangelium vorgezeichnet ist. Schon die stoffliche Vorlage enthält die wesentlichen Elemente, die gemäß dem ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ für eine Tragödie erforderlich sind. Die biblische Perikope handelt vom Knigliche[n] willen des Herodes, von der Enthauptung des Johannes (Todtschlgen) und von der blutschande des Königspaares. Aufgrund des stoffzentrierten Gattungsverständnisses vergrößern sich die literarischen Gestaltungsmöglichkeiten in der Frühen Neuzeit erheblich: Die durch Martin Luther übersetzte und mit der reformatorischen Bewegung weit verbreitete ›Biblia Deutsch‹ bietet einen reichen Fundus an Geschichten, die als tragisch gelten, weil sie von Gewalt, Tod und Leid erzählen. Die Dramenautoren des 16. Jahrhunderts können aus dieser biblischen Quelle zusätzlich zu den Schriften der auctores schöpfen, sich im Sinne der aemulatio mit diesen messen und neue deutschsprachige Werke konzipieren.77

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Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey (1624), hrsg. von HERBERT JAUMANN (RUB 18214), Stuttgart 2002, S. 30,5–11. Entsprechende Formulierungen finden sich z.B. in Isidors ›Etymologiae‹, im ›Liber glossarum‹ und im ›Catholicon‹ des Johannes Balbi, vgl. z.B. GEORGE [Anm. 1], S. 21f., 24f., 28f. Auch BREMER ([Anm. 2], S. 298) betont das »kulturell produktive Moment der Bibel für Wissen wie Literatur«, das in der Literaturwissenschaft – im Unterschied zum New Historicism – meist unterschätzt worden sei. Vgl. auch DEBORA KULLER SHUGER, The Renaissance Bible. Scholarship, Sacrifice, and Subjectivity (The New Historicism 29), Berkely/Los Angeles 1994.

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Die Bedeutung der Bibel beschränkt sich meines Erachtens jedoch nicht auf ihre Funktion als Motivspender. Vielmehr wirkt die Heilige Schrift mit ihrer Exegesetradition und ihrer Rezeptionsgeschichte auch in formaler Hinsicht gattungsbildend und trägt so zu der Ausbildung einer für die Frühe Neuzeit spezifischen Dramatik bei.78 Der biblischen Lektürepraxis folgend, werden auch die Tragödien des 16. Jahrhunderts im Anschluss an die Spielhandlung detailliert ausgelegt. Kennzeichnend für das zeitgenössische Bibeldrama ist der Beschluss, in dem sich ein Herold, Precursor oder Ehrenhold an das Publikum wendet. Die didaktische Wirkung des Spiels wird durch eine explizite Moralisierung und Allegorisierung im Epilog verstärkt, wie die drei ›Johannes‹-Dramen exemplarisch zeigen können.79 Die Tragödie von Johannes Aal vermittelt verschiedene Lehren, wie der Herold am Schluss gegenüber den Ehrsammen / frommen / lieben Herren darlegt (Aal, ›Tragoedia‹, v. 6957).80 Die Priester sollen von dem Vorbild des Johannes lernen, gottgefällig zu leben und zu predigen, wohingegen Herodes, Herodias und ihre Tochter als abschreckende Beispiele für Laien dienen. Die Könige, Fürsten und Mächtigen sollen durch das Drama erkennen, wie man nicht regieren darf. Sie müssen Sünde, Schande, Laster und Ehebruch meiden und dürfen sich keinesfalls von Gerechtigkeit und Gottesfurcht abbringen lassen. Allen Rezipienten wird erklärt, dass es am besten sei, gar nicht zu schwören, um nicht wegen eines Meineids in der Hölle zu landen. Väter und Mütter sollen lernen, dass man Kinder schon früh erziehen und züchtigen muss, statt sich wie Herodes von Salome vereinnahmen und zum Narren machen zu lassen. Ehrbare Frauen und Mädchen sollen das Verhalten von Mutter und Tochter in dem Drama als eine Warnung verstehen, damit sie sich von Hoffart und Prunksucht fernhalten und sich mit Tugend, Scham und Zucht statt mit Gold und Perlen schmücken. In der Rede des Herolds wird die Märtyrertragödie des Johannes mit einer moralischen Exegese verknüpft, die auf der Bühne vorzutragen ist und die Dramenhandlung für die Lebenswirklichkeit des Publikums öffnen soll. Bei Hans Sachs fällt die Auslegung am Schluss vergleichsweise kurz aus, auch leitet er aus seinem Drama im Unterschied zu Aal keine konkreten Lebensanweisungen für

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Zu der besonderen Konzeption frühneuzeitlicher Dramatik vgl. auch REGINA TOEPFER, »Feci novum!« Zur Poetik von Thomas Naogeorgs ›Hamanus‹-Tragödie und ihrer deutschen Übersetzung von Johannes Chryseus, in: Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620), hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER u.a. (Pluralisierung & Autorität 27), Berlin/New York 2011, S. 449– 485. Zum Epilog vgl. auch BARBARA KÖNNEKER, Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche, München 1975, S. 61: In »diesem werden die auf der Bühne gezeigten Vorgänge jeweils noch einmal Punkt für Punkt rekapituliert und auf die konkrete Nutzanwendung befragt […].« Zur gesamten Schlussrede vgl. vv. 6957–7090. – Im Vergleich zu anderen Geistlichen Spielen der Zeit ist auffällig, dass sich der Sprecher zunächst nur an ein männliches Publikum wendet; die moralischen Anweisungen richten sich jedoch später auch an Rezipientinnen.

Biblische Tragödie

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einzelne Rezipientengruppen ab.81 Sachs interpretiert sein Stück vielmehr als eine Allegorie auf den Zustand der Welt, in der fromme Menschen fälschlich angeklagt werden. Wer immer hochgestellte Personen kritisiere und ihnen ihre Laster vor Augen halte, müsse damit rechnen, verleumdet und zu Unrecht verurteilt zu werden. Auch wenn die Obrigkeit um die Unschuld eines Angeklagten wisse, verstoße sie wie Herodes gegen das Recht, um die Gunst nahestehender oder angesehener Menschen nicht zu verlieren. Das Drama endet mit dem Wunsch des Dichters, dass das Wort Gottes weiter verbreitet werden solle und mehr Früchte bringen möge. Obwohl diese Deutung eher unspezifisch bleibt, stellt Hans Sachs doch den tieferen Sinn seiner Tyrannentragödie heraus. Die im Spiel dargestellte Problematik ungerechter Herrschaft und Günstlingswirtschaft besitzt lebenspraktische Relevanz. Simon Gerengel schließlich nutzt den Epilog für eine umfangreiche Belehrung, bei der er die biblische Konstellation halbtypologisch interpretiert und in die Gegenwart überträgt. Ausgehend von seiner eigenen Lebenssituation parallelisiert er das Schicksal des Johannes mit der Verfolgung der aufrechten protestantischen Prediger, die vor allem in Niederösterreich von den katholischen Machthabern unterdrückt und hart bestraft werden.82 Wer immer das Wort Gottes ohne Ansehen der Person verkünde und Sünder tadle, ziehe den Zorn der Mächtigen auf sich. Diese würden nicht erkennen, dass der fromme Prädikant nur der Diener Jesu Christi sei, und alle Kritiker mit Gewalt zum Schweigen bringen. Gerengel stellt jedoch klar, dass der weltlichen Macht auf diese Weise kein dauerhafter Sieg gelingen wird. Zwar könne der treue Prediger getötet werden, doch müssten sich alle Menschen einmal im Jüngsten Gericht für ihre Taten verantworten. Dieser metaphysische Zusammenhang ermöglicht es, dass der Beschluß dieser Tragedien in eine ernste Bußpredigt mündet (Gerengel, ›Johannesspiel‹, S. 141), in der alle Rezipienten zu einer frommen Lebensführung angehalten werden. Gerengel warnt vor Hurerei, fleischlicher Wollust und Maßlosigkeit beim Essen und Trinken, rät, 81 82

Vgl. Sachs, ›Tragedia‹, S. 211,23–212,16. Vgl. Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 1482–739, bes. vv. 1579–615. Wie in der Forschung herausgestellt, basiert diese Interpretation auf persönlichen Erfahrungen: Simon Gerengel verfasste sein Stück während seiner dreieinhalbjährigen Gefangenschaft in der Festung Hohen-Salzburg (vgl. GEBHARDT [Anm. 7], S. 16f.), um sich – wie er in der Vorrede erklärt – von seinen schweren gedancken (Gerengel, ›Johannesspiel‹, S. 81,8) abzulenken. Trotz dieser autobiographischen Bezüge wird man das Werk schwerlich wie MICHAEL (Deutsches Drama [Anm. 3], S. 277) als »Erlebnisdichtung« klassifizieren können. – Auch Martin Luther stellt die Parallelen zwischen den protestantischen Predigern und Johannes dem Täufer heraus und wirft seinen Zeitgenossen vor, den ernsten Mahnreden kein Gehör zu schenken, vgl. Luther, Vierter Sonntag im Advent [Anm. 14], S. 5085–88: Aber auf Johannes des Täufers Zeugnis und Predigt kann man nichts tun noch wagen. Ist das nicht eine böse, verkehrte Art? […] So gehts dem Zeugnis des Johannes noch heutigen Tages: sein Wort und seine Predigt wird verachtet. Wir predigen: der Herr ist da, nehmt ihn an, aber da wird nichts draus, ja, Christus und sein Evangelium wird weggeworfen. […] Deshalb kommts darauf an, daß man am Beispiel Johannes des Täufers lerne, dies Zeugnis von Christus zu behalten. […] Denn wenn Johannes mit seinem Zeugnis schweigt, so ist der Himmel zu und müssen die Menschen zur Hölle fahren.

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Regina Toepfer

keinen leichtfertigen Eid zu schwören, und fordert auf, Priester in Ehren zu halten.83 Allegorische und moralische Auslegung bedingen sich in Gerengels Intrigentragödie gegenseitig. Gemessen an dem Maßstab der griechischen Antike oder der Weimarer Klassik lassen sich diese Epiloge leicht als ästhetisch unangemessen und literarisch defizitär kritisieren. Betrachtet man die Frühe Neuzeit jedoch als eine literaturgeschichtlich eigenständige Epoche und wertet die Beschlussreden als konstitutives Element zeitgenössischer Dramatik, dann kann man an ihnen den prägenden Einfluss der Bibellektüre erkennen und würdigen. Nicht nur in inhaltlicher Hinsicht ist die Heilige Schrift für die Dramen des 16. Jahrhunderts von Bedeutung, sondern auch die exegetische Praxis schlägt sich in den literarischen Bearbeitungen nieder. Die Deutungen, die sich am Schluss der Bühnenstücke finden, stehen in der Tradition des mittelalterlichen sensus allegoricus und des sensus moralis.84 Die gemäß den Methoden biblischer Hermeneutik gestalteten Epiloge zeugen somit von einer doppelten Synthese der christlichen Bibel und der antiken Tragödie in der Frühen Neuzeit: Zum einen wird eine leidvolle Erzählung aus der Bibel in das Format eines Dramas überführt und dadurch in eine Tragödie verwandelt. Zum anderen wird die nach antikem Vorbild gestaltete biblische Tragödie mittels der theologischen Auslegungstradition kommentiert. Gattungsmerkmale einer biblischen Tragödie im 16. Jahrhundert sind somit die dramatische Gestaltung einer traurig endenden Bibelgeschichte und ihre moralisch-religiöse Exegese.

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Vgl. Gerengel, ›Johannesspiel‹, vv. 1492f., 1714–23. Zum mehrfachen Schriftsinn des Mittelalters vgl. auch FRIEDRICH OHLY, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, bes. S. 1–31 und S. 361–400; MAX WEHRLI, Literatur im deutschen Mittelalter. Eine poetologische Einführung, Stuttgart 1984, S. 236–270.

Transformationen europäischer Mythen

Mythos und europäische Tradition (Einleitung) von Udo Friedrich

Unter Mythos werden traditionell Vorstellungen subsumiert, die sich entweder auf antike Mythologie oder ethnologischen Totemismus beziehen. Der Mythos gilt als vorrationale Form der Welterklärung, die sich Ursachen- und Wirkungsverhältnisse in der Welt anthropomorph erklärt und die im Zuge einer modernen wissenschaftlichen Einstellung obsolet geworden ist. Der Mythos aber hat seine Historisierung überlebt, und gerade diese Resistenz fordert zu intensiver Befragung seiner Leistungen heraus. Mythos heißt zuallererst Erzählung, und als narrative Form der Welterklärung stiftet er ein wirkungsmächtiges Archiv an Geschichten, die das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft prägen. Für die europäische Kultur liefert die griechische Mythologie eine Vielzahl an Archetypen menschlichen Verhaltens. Ob es sich um libidinöse Ökonomie, um Formen der Selbstbehauptung, des Geschlechterverhältnisses oder um die Spannung von Natur und Kultur handelt, es sind mythische Figuren wie Narziss, Prometheus, Ödipus oder Pygmalion, die solche psychologischen, sozialen und kulturellen Konstellationen in prägnanten Erzählungen bündeln. Archetypen müssen hier gar nicht im psychoanalytischen Sinn (JUNG) aufgefasst werden, es reicht die historische Wirkungsmächtigkeit ihrer Bildkraft, die etwa in Kunst und kulturellem Gedächtnis immer wieder aufgegriffen und reformuliert wird.1

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Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen, hrsg. von RENATE SCHLESIER, Basel 1985; Der Neue Pauly, Suppl.-Bd. 5: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von MARIA MOOG-GRÜNEWALD, Stuttgart 2008. Zur Kategorie der Rezeption als Index für Wirkungsmächtigkeit vgl. HANS BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979, S. 165–191; ROBERT B. PAPIN, Eine Moderne ohne radikale Entzauberung. Zwischen Logos und Mythos, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hrsg. von FRANZ JOSEF WETZ, HERMAN TIMM, Frankfurt am Main 1999, S. 99–117; MICHAEL SCHUMANN, Die Kraft der Bilder. Gedanken zu Hans Blumenbergs Metaphernkunde, DVjs 69 (1995), S. 407–422.

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Udo Friedrich

Fundierungsgeschichten Zu den elementaren Leistungen des Mythos gehört vor allem die Setzung eines Ursprungs, etwa in Schöpfungs- und Gründungsmythen oder heroischen Aitiologien. Gegenüber der Chronologie der Geschichte setzt der Mythos einen Anfang, der nicht mehr hinterfragt wird, er stellt die Frage nach dem Ursprung still und bindet alle Zukunft an diesen Anfang zurück: »Alles was Bestand haben soll, muß in seinen Anfängen heilig gedeutet werden«, formuliert ANDRÉ JOLLES.2 Die Heiligung des Anfangs bezieht sich auf große Formationsprozesse der Vergangenheit – antike Schöpfungsmythen, christliche Genesis, nordische ›Völuspa‹ –, aber auch auf mittlere wie Gründungsmythen und Revolutionen, schließlich sogar auf kleine wie Jahres-, Geburts- und Hochzeitstage. Ethnologische Studien zeigen, dass es sich um ein globales Erklärungsmuster handelt, das nicht über Rezeptionsprozesse erklärt werden kann.3 Die Einbindung des eigenen oder sozialen Lebens in einen übergreifenden Zeit- oder Naturrhythmus, der durch Zyklik statt durch Kausalität und Finalität gekennzeichnet ist, scheint ein konstitutives Merkmal des Mythos zu sein. Für die mittelalterliche europäische Geschichtsauffassung und weit darüber hinaus sind die biblischen Mythen und der Gründungsmythos Roms, wie ihn Vergils ›Aeneis‹ entwirft, wegweisend geworden. In Christentum und Romidee aber handelt es sich schon um depotenzierte sekundäre Mythen, da sie in geschichtsphilosophische Zusammenhänge eingebettet sind und ein teleologisches Moment enthalten. Der Mythos von der phönizischen Königstochter Europa, die von Zeus in Stiergestalt auf die Insel Kreta entführt wird, erklärt zwar den Namen für den abendländischen Kontinent, doch reicht seine Bedeutung insofern weiter, als sich um das Geschlecht der Europa eine Reihe von Gründungsmythen anlagern.4 Die Erzählung fügt sich offenbar in eine »Familiensaga« ein, nach der Europas Brüder und Kinder über Stadtgründungen und Siedlungen innerhalb des Mittelmeerraumes zu Agenten einer weiträumigen Kolonisierung werden, durch die die griechischen Stämme der antiken Oikumene sich gegenüber

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ANDRÉ JOLLES, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), Tübingen 1999 [zuerst 1930], S. 14, 91–125. CLAUDE LEVI-STRAUSS, Mythologiques, Bd. 1–4, Paris 1964–1971. Dt.: Mythologica, Frankfurt am Main 1970–1974. Als der legendäre Apachenhäuptling Geronimo 1905 die Erlaubnis erhält, im Reservat seine Lebensgeschichte aufzeichnen zu lassen, beginnt dieser Vertreter einer untergehenden Kultur der Oralität mit einem Schöpfungsmythos der Apachen. Geronimo, His own Story. The Autobiography of a Great Warrior. As told to S. M. BARRETT. Newly Revisited and Edited, with an Introduction and Notes by FREDERICK TURNER, New York 1996, S. 49–53. ALMUT-BARBARA RENGER, Vorwort, in: Mythos Europa. Texte von Ovid bis Heiner Müller, hrsg. von DERS., Leipzig 2003, S. 12–16; Mythos Europa und der Stier im Zeitalter der industriellen Zivilisation, hrsg. von SIEGFRIED SALZMANN, Bremen 1988; Die Verführung der Europa. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstgewerbemuseum Berlin Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Frankfurt am Main 1988.

Mythos und europäische Tradition

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ihrer Umgebung ihrer genealogischen Identität versichern.5 Sie bilden gewissermaßen ein antikes Komplement zu den zahlreichen mittelalterlichen Gründungsmythen, durch die europäische Völker – z.B. Römer, Briten, Franken, Deutsche – ihre Genealogie aus dem Gründungsmythos Roms ableiten und sich so eines gemeinsamen Ursprungs versichern.6 Die trojanischen Gründungsmythen stiften Einheit und Differenz zugleich: Einheit des römisch-heroischen Kulturmusters bei gleichzeitiger Differenzierung der Völker. Sichtbar wird hier schon früh jene differenzierende Funktion von mythisierter Geschichte, durch die noch der europäische Nationalismus der Moderne kollektive Identitäten über Abgrenzung zum Fremden entwerfen wird.7 In solchen Ursprungserzählungen verschwimmen aber schon die Grenzen von Mythos, Sage und Geschichte. Die geläufige Trennung von Mythos und Geschichte stellt denn auch JAN ASSMANN in Frage, wenn er betont, dass jede »Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, […] Mythos [ist], völlig unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist«.8 ROBERT BARTLETT hat entsprechend am Beispiel von Chroniken des 13. Jahrhunderts die Selbststilisierung der normannischen Eroberer als »mythische Figuren« beschrieben und deren Reichsgründungen im Kontext von Eroberung und Kolonisierung als Gründungsmythen charakterisiert.9 Noch der historische Gründungsakt beruft sich auf eine mythische Konstellation, auf den übermächtigen Anfänger, setzt die Zeit außer Kraft, indem er gegenüber gewachsenen historischen Ansprüchen, etwa der Kirche, die Legitimation noch für spätere Generationen liefert.10 Auch unabhängig von dem Umstand, ob sich die Erinnerung jenseits der Geschichte in illo tempore oder durch eine historisch bezeugte Usurpation formiert, die Mythisierung des Gründungsaktes wird in beiden Fällen einer schon ›heißen‹ Gesellschaft zum Motor von Kolonisierung und Herrschaft.11 5 6

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RENGER [Anm. 4], S. 13f. JÖRN GARBER, Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. »Nationale« Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses zur Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, hrsg. von KLAUS GARBER (Frühe Neuzeit 1), Tübingen 1989, S. 108–163; vgl. Gründungsmythen, Genealogien Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, hrsg. von GERT MELVILLE, KARL-SIEGBERT REHBERG, Köln/Weimar/Wien 2004; KORDULA WOLF, Troja – Metamorphosen eines Mythos. Französische, englische und italienische Überlieferungen des 12. Jahrhunderts im Vergleich (Europa im Mittelalter 13), Berlin 2009, S. 40–57. WOLFGANG KASCHUBA, Mythos Europa: Regionale Identitäten als kulturelle Ressource, in: Europa – Mythos und Heimat. Identität aus Kultur und Geschichte(n), hrsg. von KLAUS KUFELD, Freiburg/München 2006, S. 100–111, 103. JAN ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, S. 76. ROBERT BARTLETT, The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change 950– 1350, London 1993, S. 85–105; Dt.: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1996, S. 109–132, 118. Ebd. S. 117. Zur Mythomotorik ›kalter‹ und ›heißer‹ Gesellschaften vgl. ASSMANN [Anm. 8], S. 78.

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Auch das Christentum entwirft einen integrierenden europäischen Mythos. Seit dem Frühmittelalter formiert sich Europa nicht nur als Wirtschafts-, Verwaltungs- und Bildungseinheit, sondern über die zentralen christlichen Mythologeme – Schöpfung, Paradies, Inkarnation, Passion, Himmelfahrt – auch als Glaubenseinheit. Die Reichsgründung Karls des Großen vollzieht sich auch im Namen der Christianisierung. Von der arabischen Conquista im 7. über die Mongolenstürme des 13. Jahrhunderts und die Türkenkriege der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärungskritik der Romantik imaginiert sich Europa als ideelle und politische Einheit.12 Der Europabegriff hat sich dann vor allem im 15./16. Jahrhundert im Kontext der Türkenkriege herausgebildet.13 Die prägnanteste Form, die Einheit Europas ins Bild zu setzen, ist gewiss die der Personifikation, wie sie etwa Sebastian Münsters Ausgabe der ›Cosmographia‹ von 1628 wiedergibt.14 Mit politischen Insignien versehen, erscheint Europa hier als imperiale Gestalt. Es genügt aber nur eine kleine Umbesetzung, um die Umkehr der Blickrichtung zu markieren und aus der herrschaftlich auftretenden Jungfrau eine aggressive Figur zu machen. Aus der Perspektive des Kolonialismus und der von ihm Betroffenen wird Europa dann gegenüber der Region Südamerika zum Vampir, indem »die Europäer der Renaissance das Meer überquerten und ihr Zähne in den Hals schlugen«.15 Gegenüber den großen Erzählungen von Christianisierung und Zivilisierung evoziert der Wechsel der Personifikation eine andere Erzählung, die die kritischen und politischen Implikationen akzentuiert. Es ist ein Stück ›Arbeit am Mythos‹ (BLUMENBERG) und seiner Umbesetzungen in der Rezeptionsgeschichte, wenn aus der entführten Königstochter der Antike eine imperiale Gestalt des Mittelalters und aus dieser wiederum ein Raubtier der Moderne wird. Zugleich wird in der Verbindung von Christianisierung und Kolonialismus sichtbar, wie aus dem biblischen Ursprungsmythos ein Zukunftsprogramm resultiert und der Mythos an eine Geschichtsphilosophie gekoppelt wird. 12 13

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BARTLETT [Anm. 9], S. 351–376 (Die politische Soziologie Europas). DIETER MERTENS, Europäischer Friede und Türkenkriege im Spätmittelalter, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von HEINZ DURCHHARDT, Köln/Wien 1991, S. 43–90; vgl. Europa und die Türken in der Renaissance, hrsg. von BODO GUTHMÜLLER, WILHELM KÜHLMANN, Tübingen 2000. Sebastian Münster, Cosmographia, Das ist: Beschreibung der gantzen Welt, Basel 1628, Reproduktion Lindau 1984, S. 54. EDUARDO GALEANO, Die offenen Adern Südamerikas. Die Geschichte eines Kontinents, Wuppertal 2005 [zuerst 1971], S. 13.

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Mythologik Die mythische Dimension reicht aber über das Ursprungsdenken hinaus. Die komplexe Funktionalität des Mythos ist im Lauf der Geschichte weiter differenziert worden. ERNST CASSIRER hat aus der Perspektive des Philosophen den Mythos als vorwissenschaftliche, aber durchaus rationale Denkform beschrieben, die jenseits von Analysis und Synthesis über die Verfahren der Analogie und Konkreszenz Sinn sichert.16 Im Rahmen seiner Kulturphilosophie leitet CASSIRER den Mythos weniger aus seinem narrativen Potential, auch nicht aus seiner Wirkungsgeschichte ab, sondern aus elementaren erkenntnistheoretischen Dispositionen. Als Lebens- und Erkenntnisform zieht das mythische Denken gerade dort keine Grenzen, wo sie für das moderne Bewusstsein konstitutiv sind: Traum und Wirklichkeit, Zeichen (Wort/Bild) und Bezeichnetes, Leben und Tod, Organisches und Anorganisches, Teil und Ganzes.17 Wenn CASSIRER auch wesentliche Merkmale einer Mytho-Logik erfasst und diese im Spektrum der symbolischen Formen neben Sprache, Religion, Kunst und Wissenschaft ihren eigenen Rang erhält, so verweist er sie trotz aller Anerkennung letztlich doch auf eine historische Vorstufe des modernen Bewusstseins.18 Wenn der sich nicht vollständig durchsichtige rationale Status des Mythos keine verlässliche Basis der Gemeinschaftsbildung darstellt, erhält er im Spektrum der symbolischen Formen nur einen relativen Geltungsanspruch. Ein Entwicklungsprozess vom Mythos zum Logos kann aber nur bedingt, d.h. begrenzt auf spezifische Felder wie Wissenschaft und Technik, angesetzt werden. Von der antiken Mythenkritik bis zu Platons Kunstmythen sind Rationalisierungsprozesse durchaus schon früher greifbar, selbst die homerische Götterwelt ist bereits eine literarisierte und reflektierte. Umgekehrt kann aber selbst die Moderne nicht für sich in Anspruch nehmen, den Mythos vollends verabschiedet zu haben, sei es durch Wissenschaft, Technik oder autonome Kunst. Dass der Mythos nicht in einem linearen Prozess depotenziert wird, dass vielmehr ständig Prozesse der Ent- und Remythisierung einander ablösen, dass weder Subjekte noch Gesellschaften vollkommen ihrer selbst bewusst 16

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ERNST CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (Philosophische Bibliothek 607), Darmstadt 1958; JOHN MICHAEL KROIS, Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer, in: Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, hrsg. von HANS POSER, Berlin/New York 1979, S. 199–217; HELMUT HOLZHEY, Cassirers Kritik des mythischen Bewußtseins, in: Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hrsg. von HANS-JÜRG BRAUN, HELMUT HOLZHEY, ERNST WOLFGANG ORTH (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 705), Frankfurt am Main 1988, S. 191–205; vgl. MARTINA PLÜMACHER, Der Mythos – Symbolsystem und Modus des Denkens, in: Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, hrsg. von HANS-JÖRG SANDKÜHLER, DETLEV PÄTZOLD, Stuttgart/Weimar 2003, S. 175–190; BIRGIT RECKI, Kultur als Praxis. Eine Einführung in ERNST CASSIRERs Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, S. 84–108. PLÜMACHER [Anm. 16], S. 179f. BLUMENBERG [Anm. 1], S. 58–60.

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sind, haben nicht nur Soziologie und Psychologie hinreichend nachgewiesen. Soziale Inklusionsprozesse, Affektökonomie und Warenpsychologie etwa vollziehen sich weitgehend jenseits rationaler Parameter auf einem mythischen Grund der Entdifferenzierung. Es ist sogar berechtigt die These aufgestellt worden, dass der Fetischismus, d.h. die Aufladung der Dinge, wie sie in Religion, Ökonomie, Psychologie und Kunst konstatiert worden ist, ein integraler Bestandteil der europäischen Moderne ist.19 ROLAND BARTHES definiert denn auch den Mythos als Sprache und semiologisches System, um all jene suggestiven Effekte der politischen Propaganda und der psychologischen Medienpolitik (TV, Film, Werbung), jene »Mythen des Alltags«, erfassen zu können, die jenseits rationaler Kontrolle ihre Wirkung ausüben.20 Indem der Mythos den Wert der Dinge und der Geschichten verschleiert und ihnen eine (über-)natürliche Aura verleiht, besitzt er ein ideologisches Moment, auch wenn er sich nicht darauf reduzieren lässt.21 In Frage steht der absolute Geltungsanspruch des Rationalitätsprinzips. Das Fortschrittsmodell von Aufklärung und Moderne ist weniger in seinen technischen Auswirkungen als in seinen sozialen Folgen sichtbar irritiert. Für das europäische Selbstverständnis ist es zentral, dass selbst die zwei wirkungsmächtigsten Weltanschauungen, das Christentum und die Aufklärung, sich trotz vehementer Abgrenzungsbemühungen nicht in einer Oppositionshaltung gegenüber dem Mythos erschöpfen, sondern selbst mythische Implikationen besitzen. Für das Christentum mag das evident sein, basiert es doch zum einen auf einem Gründungsmythos, zum andern aber auch schon auf einer geschichtsphilosophischen Metaphysik. Dass aber auch Aufklärung und Moderne anfällig sind für regressive Mythologeme, hat die Kritische Theorie in ihrer Aufarbeitung des Faschismus und der entfremdeten Warenwirtschaft als »Dialektik der Aufklärung« beschrieben.22 In den politischen Mythologien des 20. Jahrhunderts wurde in extremer Form sichtbar, dass die rationale Organisation der Gesellschaft ein mythisches Substrat bewahrt, das in Krisenzeiten immer wieder aktiviert werden kann.23 HANS BLUMENBERG fasst demgegenüber den Mythos weniger als persistierende archaische Sinnstiftung, denn als »System des Willkürentzugs«.24 Erzählen bedeutet 19

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HARTMUT BÖHME, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. ROLAND BARTHES, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 85–151; vgl. ANGELA OSTER, Roland Barthes und die ›Morphomologie‹ des Eiffelturms. Monument, Mythos und Magie, in: Name, Ding, Referenzen, hrsg. von STEFAN BÖRNCHEN, GEORG MEIN, MARTIN ROUSSEL, München 2012, S. 173–195. MATTHIAS BAUER, MAREN JÄGER, Statt einer Einleitung, in: Mythopoetik in Film und Literatur, hrsg. von DENS. (Projektionen 5), München 2011, S. 7–32, 14. THEODOR W. ADORNO, MAX HORKHEIMER, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Fischer Klassik 90455), Frankfurt am Main 1978 [zuerst 1944]. ERNST CASSIRER, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (Fischer-Wissenschaft 7351), Frankfurt am Main 1985 [zuerst 1945]; HERMANN LÜBBE, Cassirer und die Mythen des 20. Jahrhunderts (Veröffentlichung der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften), Göttingen 1975. Ebd. S. 50.

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nicht nur dem archaischen Bewusstsein eine Form der Daseinsbewältigung gegenüber der »ungefügen Wirklichkeit«, es ist von elementarerer Qualität.25 Verortet wird das mythische Erzählen modellhaft in einer anthropologisch fundierten Evolutionstheorie. Über Akte der Benennung, des Teilens und Einteilens sowie der Stiftung von Bedeutsamkeit wird dem Schrecken als »Absolutismus der Wirklichkeit« Form und Sinn abgewonnen. »Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben«.26 Mythos ist für BLUMENBERG eine Distanzkategorie, »eine der Leistungsformen des Logos«, die analog zur Katharsis, zum »ästhetischen Genuß als Distanzgewinn«, oder zur reflexiven Distanz des Theoretikers funktioniert, wie sie etwa Lukrez in das Bild vom Schiffbruch mit Zuschauer fasst.27 Erzähltheoretisch ließe sich das als therapeutische Funktion der Diegese, als Abstandgewinnung, reformulieren, die der Mythos gegenüber dem Undifferenzierten und Unheimlichen, seien es Chaos, Nacht oder Bodenlosigkeit (Meer, Erdbeben), seien es theriomorphe Mischwesen oder gar Menschenopfer, in Stellung bringt.28 Als geschichtlicher Faktor erhält der Mythos bei BLUMENBERG eine stärkere Position als bei CASSIRER. Dass dabei nicht mehr zwischen ursprünglichem Mythos und späterer Literarisierung unterschieden wird, dass vielmehr der Mythos immer nur in Formen der Rezeption »an der Arbeit ist«, d.h. dass es um die geschichtliche Wirksamkeit seiner Bildkraft geht, bildet den Grundgedanken dieses Ansatzes.29 CLAUDE LÉVI-STRAUSS hat aus ethnologischer Perspektive die mythische Erzählform als Struktur beschrieben. Die aitiologischen Mythen australischer und neuseeländischer Eingeborenen etwa über die Konkurrenz von Falke und Krähe, Adler und Rabe, Känguru und Wombat sind durch Gegensatzpaare gekennzeichnet, die zugleich eine narrative Erklärung ihrer sozialen Gliederung, ihrer Claneinteilung, liefern.30 Die Leistungsfähigkeit solcher Erzählungen liegt in ihrer metaphorischen Struktur begründet. Wie in der Metapher bilde der zugrunde gelegte Gegensatz in der Erzählung kein Hindernis der Integration, sondern stifte sie allererst.31 Mythen wären in diesem Sinn polar organisierte Erzählungen, mittels derer eine Gesellschaft sich ihrer sozialen Integrationen und Abgrenzungen sowie ihrer kulturellen Sinnhorizonte vergewissert. Gewiss trifft das nicht auf alle Mythen gleichermaßen zu, aber schon der griechische Opferritus, das hat JEAN-PIERRE VERNANT gezeigt, bildet ein komplexes Gefüge an Handlungen, das 25 26 27 28

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BLUMENBERG [Anm. 1], S. 21. Ebd. S. 40. Ebd. S. 28, 34, 132f. WOLFGANG MÜLLER-FUNK, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien/New York 2008, S. 87–143. Vgl. JÖRG VILLWOCK, Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs, Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68–91. CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Das Ende des Totemismus (Edition Suhrkamp 128), Frankfurt am Main 1965, S. 95–135; MICHAEL OPPITZ, Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen Anthropologie (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 101), Frankfurt am Main 1975. LÉVI-STRAUSS [Anm. 30], S. 116.

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Hierarchie und Relation von Göttern, Menschen und Tieren verhandelt, sich ihrer Analogien und Differenzen vergewissert und das im Prometheusmythos sein narratives Fundament besitzt: in der Erzählung vom versuchten Götterbetrug, nach der der Titan den Göttern unter der fetten Oberfläche Haut und Knochen anbietet, um für die Menschen das Fleisch zu reservieren, Zeus die List aber durchschaut und dennoch die Knochen wählt und das Fleisch den Menschen überlässt, nach dem sie als sterbliche Wesen nun Zeit ihres Lebens Hunger leiden müssen, während die ewigen Götter sich im Opferritus mit dem ätherischen Rauch aus Fett und Knochen begnügen können.32 Der Mythos »erklärt« die Differenz von Unsterblichkeit und Sterblichkeit durch eine Geschichte. Sich mit den Göttern zu messen, sich auf eine Stufe mit ihnen zu stellen, ist vergeblich, der Emanzipationsversuch mündet nur in der Bestätigung der Differenz. Im religiösen Opferritus wird dann zugleich das ursprüngliche Ereignis wiederholt und vergegenwärtigt.33 Das strukturalistische Verfahren, das mit binären Elementen und ihren Relationen operiert, rückt die axiologischen Gehalte des Mythos in den Blick und erlaubt Erzählform und soziale Ordnung zu korrelieren und funktional aufeinander zu beziehen. Traditionelle philosophische Versuche, den Mythos zu definieren, hatten in der Regel das Ziel, das Wirkungspotential des Mythos aus dem rationalen Diskurs auszugliedern, ihre Grenze liegt aber darin, dass der Mythos sich begrifflicher Fixierung entzieht. Wer eine klare Definition des Mythosbegriffs einfordert oder die verschiedenen Versuche, ihn zu fassen, gegeneinander ausspielt, missversteht bereits dessen Potential aus einer rationalistischen Perspektive.34 Der kulturhistorische Zugriff ist daher bemüht, statt einer Definition ein flexibles Spektrum von mythischen Funktionen anzugeben.35 Den Sachverhalt betont HANS BLUMENBERG, wenn er schon für die Mythostheorie ERNST CASSIRERS konstatiert, dass dieser sein Projekt über den Begriff des Symbols jenseits der etablierten philosophischen Terminologie fundiere.36 Der Befund gilt auch für die Semiotik, die den Mythos eben nicht über den Begriff, sondern über das Zeichen, d.h. als Sprache zu fassen sucht (BARTHES), ebenso für die strukturale Anthropologie mit ihrer metaphorisch operierenden Erzählstruktur (LÉVI-STRAUSS), auch für die kulturwissenschaftliche Erzähltheorie mit ihrem Begriff des Narrativs (MÜLLER-FUNK), 32

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JEAN-PIERRE VERNANT, Mythos und Religion im alten Griechenland (Edition Pandora 26), Frankfurt am Main 1995, S. 61–77. »Aber der dem Mythos beigelegte Wert stammt daher, daß diese Ereignisse, die sich ja zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, eine Dauerstruktur bilden. Diese bezieht sich gleichzeitig auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.« CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Strukturale Anthropologie (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1006), Frankfurt am Main 1967, Bd. 1, S. 230; vgl. MÜLLER-FUNK [Anm. 28], S. 106. Vgl. BENT GEBERT, Beobachtungsparadoxien mediävistischer Mythosforschung, Poetica 43 (2011), S. 19–61. EMIL ANGEHRN, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 1271), Frankfurt am Main 1996; ALEIDA ASSMANN, JAN ASSMANN, Mythos, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4 (1998), S. 179–200, 179–181. BLUMENBERG [Anm. 1], S. 59.

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schließlich auch für BLUMENBERGs Ansatz selbst, der die Mythenanalyse über den Begriff der Umbesetzung ebenfalls eng mit seiner Metaphorologie verbindet.37 Das Resultat solch flexibler Kategorisierungen jenseits harter analytischer Begrifflichkeit erscheint aber nur aus der Sicht eines modernen Wissenschaftsverständnisses als eine Schwäche, gegenüber dessen rigidem Wahrheitspostulat bringen die Funktionskategorien des Mythos den Geltungsanspruch jener Wirklichkeiten ins Spiel, die sich analytisch nicht auflösen lassen. Die Leistungsfähigkeit des Mythos besteht vor allem in seinem narrativen und metaphorischen Anschauungspotential, das gerade auf jene Felder sich bezieht, die grundsätzlich durch Evidenzmangel gekennzeichnet sind: Leben und Tod, Immanenz und Transzendenz, Natur und Kultur, Liebe und Leid usw. Symbol, Zeichen, Erzählung und Metapher folgen anderen Rationalitäten, die im Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht aufgehen. Vor allem die Kunst scheint jener Ort zu sein, an dem Mythologik und Mythopoetik zusammenfallen können. In Ovids ›Metamorphosen‹ wird denn auch der Umgang mit der griechischen Mythologie nicht nur schon zum freien Spiel. Indem die Mythologik der Konkreszenz in die Figur der Metamorphose übersetzt wird, formuliert er zum Zweck der ästhetischen Distanzierung ein wirkungsmächtiges Instrument der Verdichtung und Verschiebung: »Die europäische Phantasie ist ein weitgehend auf Ovid zentriertes Beziehungsgeflecht.«38 Europa besitzt aber nicht nur einen reichen Schatz an alten Mythen, aus denen es seine kulturelle Identität bezieht. Löst man den Mythos aus dem Horizont sowohl der antiken und christlichen Mythologie als auch des ethnologischen Totemismus, fällt der Blick auf die elementare sinnbildende Funktion von Geschichten, auf neue Mythen als kollektive Gemeinschaftserzählungen. »Europa ist zwar bereits selbst Mythos, es braucht aber weitere, schafft beständig neue Mythen, um sich dadurch als Raum eines europäischen kollektiven Gedächtnisses neu zu konstituieren.«39 Der Ethnologe WOLFGANG KASCHUBA hat in diesem Zusammenhang drei Typen von europäischen Mythen unterschieden: Eine integrierende Funktion liefert die »Mythologie der Heroen und Idole, der Genies und Denker, der Ideen und Ikonen«, durch die »ein System übergreifender Elitekulturen« in Europa sich über Kanonisierung seines kulturellen Identitätsentwurfs vergewissert.40 Der integrierenden stehen aber zwei differenzierende Funktionen von Geschichten und Bildern gegenüber: zum einen der bereits thematisierte »Mythos der gesellschaftlichen (nationalen) Identität, gewonnen aus politischkultureller Differenz«41, zum andern eine »dritte Mythologie und Topologie Europas«, 37 38

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VILLWOCK [Anm. 29], S. 68–91. BLUMENBERG [Anm. 1], S. 383; ALEXANDER HONOLD, Ovid und die Mythopoetik des Wassers, in: BAUER, JÄGER [Anm. 21], S. 33–46. KASCHUBA [Anm 7], S. 100–111, 100. Ebd. S. 103. Dieser gemeinschaftsstiftende Kanon einer bürgerlichen Kultur wird in der Postmoderne durch die medial inszenierten Starkulte der Celebritykultur ersetzt, die je nach Ausrichtung ihre Gefolgschaft finden. Vgl MÜLLER-FUNK [Anm. 28], S. 118–124. KASCHUBA [Anm. 7], S. 103.

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entworfen als »regionale Narrative«, die über eine »räumlich spezifische und verwurzelte Lebensform« Kern- und Ursprungsidentitäten« postuliert und die zugleich einen »spezifischen Menschentypus zu beherbergen scheint«.42 In der Vorstellung vom Mythos als Entwurf eines elitären europäischen Kulturraumes einerseits und eines nationalen und regionalen Differentials andererseits bilden neue Geschichten und Bilder die zentralen Medien für je spezifische Identitätskonstruktionen.43

Mythopoetik Zwar entstehen Mythen in der Vorzeit, doch bringt die Geschichte selbst eine Vielzahl neuer Mythen hervor. Gegenüber der Geschichtsschreibung einerseits, die die Fakten aufarbeitet, und der Dichtung andererseits, die das Wahrscheinliche imaginiert (Aristoteles), »rückt der Mythos die Lebenswelt des Menschen in eine genealogische Perspektive, der ihre Historizität und Kontingenz eingeschrieben ist«, die Kontingenz des Historischen wird aber zugleich über das Erzählmodell wieder eliminiert.44 Der Mythos erweist sich als eine besondere Verarbeitungsform von geschichtlicher Erfahrung, er modelliert sie sowohl auf allgemeine als auch auf politische Sinnhorizonte hin. Gegenüber einer narrativen Mythologik, die Kontingenz reduziert, aber auch schon differentiell wirkt, und gegenüber einer Mythenkritik, die Zweifel an der Erzählfunktion äußert, lässt sich so das Aufgabenfeld einer Mythopoetik skizzieren, die »ein Anschauungsmodell davon entwirft«, wie beide Mechanismen ineinander spielen.45 Im Bereich der Kulturtheorie hat sich der erkenntnistheoretischen Fundierung des Mythos als Denkform denn auch eine narrative als Erzählform an die Seite gestellt.46 Als narrativ und metaphorisch fundierte Form des Denkens nutzt der Mythos zwar das Darstellungspotential von Zeit- und Bildformen, unterliegt aber zugleich auch ihren Funktionsmechanismen. Mythische Erzählungen, die Geschichte in sinnstiftende Erinnerung transformieren, sind strukturell auf Einheit ausgerichtet.47 Bereits die aristotelische Konzeption des Mythos betont die homogenisierende Funktion der Handlung:

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Ebd. S. 104. STEPHANIE WODIANKA, Mythos und Erinnerung. Mythentheoretische Modelle und ihre gedächtnistheoretischen Implikationen, in: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, hrsg. von GÜNTER OESTERLE (Formen der Erinnerung 26), Göttingen 2005, S. 211–230. Vgl. BAUER, JÄGER [Anm. 21], S. 7–32, 14. Ebd. S. 14; vgl. Unausweichlichkeit des Mythos. Mythopoiesis in der europäischen Romania nach 1945, hrsg. von CLAUDIA JÜNKE, MICHAEL SCHWARZE (Romania viva 3), München 2007. MÜLLER-FUNK [Anm. 28] S. 87–143. WODIANKA [Anm. 43], S. 211–230. Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, hrsg. von KLAUDIA KABEL, DIETMAR RIEGER, STEPHANIE WODIANKA (Formen der Erinnerung 23), Göttingen 2005.

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»Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.«48 Der Mythos transportiert seine Botschaft nicht nur über den Inhalt, sondern auch über die Komposition, über das Arrangement seiner Teile, das Homogenität suggeriert.49 Diese an Linearität, Kohärenz und Einheit ausgerichtete Erzählkonzeption ist der Moderne verdächtig geworden. Das ›mythologische Erzählmodell‹ bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern überhöht sie narrativ.50 Wie Erzählmuster sich über geschichtliche Ereignisse legen lassen, um diesen allererst einen Sinn zu vermitteln, wie sie mythologischen Wert annehmen, lässt sich an einer Reihe von heldenepischen Stoffen darstellen. So fasst das ›Chanson de Roland‹ (um 1100) die Niederlage eines fränkischen Trosses gegen die Basken im Jahr 778 in eine Opfer- und Passionsgeschichte des Helden Roland im heilsgeschichtlich ausgerichteten Kampf gegen die Heiden; umgekehrt formt das ›Nibelungenlied‹ die Niederlage der Burgunden gegen Römer und Hunnen im Jahr 436 in eine Heroengeschichte, in einen selbst verantworteten Heldentod, um; und das ›Hildebrandslied‹ erzählt implizit die Eroberung Italiens und Ermordung Odoakers durch Theoderich (um 493) als exile & return-Geschichte, nach der Odoaker Dietrich vertrieben und ins hunnische Exil gezwungen hat und dieser anstrebt, seine Herrschaft zurückzuerobern.51 In allen drei Fällen modelliert die Heldensage die Geschichte nach ihren je historischen und politischen Bedürfnissen um und unterlegt ihr eine mythologische Erzählkonzeption, die den kontingenten Ereignissen der Geschichte allererst Sinn abgewinnt und sie in Heils- und Opfergeschichte überführt. Bedeutsamkeit als Steigerung des Aufwandes zur Durchsetzung eines Ziels, bis hin zum Selbstopfer, ist nach BLUMENBERG ein zentrales Kennzeichen des Mythos.52 Die manipulatorische Funktion des Mythos wird darin sichtbar, dass er im politischen Feld nicht nur Sinn stiftet, wo kein Sinn ist, sondern auch dezidiert Geschichte umschreibt. Ein und dasselbe Ereignis lässt sich mithin narrativ ganz unterschiedlich modellieren. Selbst die mittelalterliche Chronistik bietet nicht immer das Ensemble historischer Fakten, sondern besitzt vielfältige Spielräume mythisierender Gestaltung.53 Die narrative Entfaltung von Rolands Tod etwa vollzieht sich in Einharts Chronik (9. Jh.) realistischer als in den mythisierenden Erzählmustern des ›Codex Emelianensis‹ (um 1075) und des ›Chanson de Roland‹ (um 1100). Die Differenz von vormodernen und modernen »mythischen Heldenepen«, die in der »Unterwerfung unter ein höchstes Heiliges« einerseits und der »Einladung zur Zustimmung zu einem höchsten 48

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Aristoteles, Poetik. Gr./Dt., übersetzt und herausgegeben von MANFRED FUHRMANN, Stuttgart 1982, I,7. BAUER, JÄGER [Anm. 21], S. 8. MÜLLER-FUNK [Anm. 28], S. 17–35, 27f., 32f. Vgl. WALTER HAUG, Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Fiktionalität, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt am Main 1994, S. 376–397; JOACHIM HEINZLE, Was ist Heldensage?, JOWG 14 (2003/04), S. 1–23. Vgl. den Beitrag von ULRICH HOFFMANN. Vgl. JOHANNES FRIED, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik (Beck’sche Reihe 6022), München 2004.

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Wert« andererseits gefasst worden ist, ist im Mittelalter offenbar schon nicht zu trennen.54 Solche Optionen, geschichtliche Ereignisse oder Personen mythisch zu überformen, sie gegen alle historischen Referenzansprüche mythopoetisch zu auratisieren, finden sich über alle Zeiten hinweg: eschatologisch gedeutete Gestalten wie Artus und Friedrich II., Agenten der Freiheit in Zeiten politischer Unterdrückung wie Arminius und Jeanne d’Arc, Rechtsbrecher und edle Banditen, deren Laufbahn in der Erinnerung mit glorifizierenden Zügen ausgestattet wird wie etwa Robin Hood.55 Sie alle werden über mythologische Erzählmodelle idealisiert. Die Erzähltheorie hat am Beispiel der Erzählfunktionen des Märchens die thematische Bindung von Erzählsequenzen betont: z.B. Betrug, Verrat, Verführung, Opfer etc. Sie beziehen sich offenbar auf eine dem »Leser selbst innewohnende Metasprache, die jede logische Handlungsfolge als ein nominelles Ganzes erfasst.«56 Kondensierende thematische Akzente dieser Art können sich aber auch an historische Namen und mit ihnen konnotierte Erzählungen binden: der verratene (Sîvrît) oder sich opfernde Heros (Roland), der heimkehrende Heros (Odysseus, Dietrich), die Herausforderung der Tafelrunde (Artus), der edle Bandit (Robin Hood). Noch in der Mythisierung von Widerständigkeit hallt etwas von Selbsterhaltung gegenüber bedrohlichen sozialen Machtverhältnissen nach.57 »Politisch am Mythos ist demnach, dass er der Willkür jeder Herrschaft widerspricht«.58 Die mythopoetische Legendenbildung impliziert vielfach eine über das Erzählmodell transportierte sozialutopische Komponente, die in einer sich verselbständigenden Medienkarriere mündet.59 Die historische Spur der Namen verliert sich zwar vielfach im Dunkel einer kaum noch greifbaren Geschichte, ihre Erzählungen aber entfalten eine umso mächtigere Wirkung. Sind es in Mittelalter und Früher Neuzeit Balladen, Flugschriften, Spiele und Epen, die die Mythisierung von Personen betreiben, so besitzt die Neuzeit ein ungleich komplexeres Instrumentarium an medialen Techniken als Multiplikatoren des Mythos. Wie sich Empörer, Widerstandskämpfer, Revolutionäre und selbst edle Banditen als privilegierte Akteure mythisieren lassen, so können auch kollektive Umwälzungen mythologische Werte annehmen: etwa in der Hyposthasierung von Revolutionen, wie der 54 55

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Moderne und Mythos, hrsg. von HERBERT UERLINGS, SILVIO VIETTA, München 2006, S. 8. Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Zwischen Mittelalter und Neuzeit, hrsg. von ALMUT SCHNEIDER, MICHAEL NEUMANN, Regensburg 2005, S. 66–81 (Jeanne d’Arc); 82–99 (Robin Hood). ROLAND BARTHES, Einführung in die strukturale Interpretation von Erzählungen, in: DERS., Das semiologische Abenteuer (Edition Suhrkamp 1441), Frankfurt am Main 1988, S. 102–143, 119. ERIC J. HOBSBAWM, Die Banditen, Frankfurt am Main 1972. BAUER, JÄGER [Anm. 21], S. 14–21, 15. Im Europa der Moderne scheinen es auch radikale Gruppierungen zu sein, die regional, konfessionell oder politisch motivierten Widerstand gegen staatliche Autorität leisten (ETA, IRA, RAF, Rote Brigaden etc.) und deren Opferbereitschaft zur Mythisierung führt. Stets gerät die reale Biographie der Akteure in den Sog idealer Stilsierungen, doch handelt es sich bereits um gruppenspezifische Mythen sich ausdifferenzierender Gesellschaften. Ebd. S. 21–29.

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Ursprung der modernen Demokratie durch das Ereignis der französischen, des Sozialismus durch das der russischen Revolution oder der Globalisierung durch den Fall der Berliner Mauer ihren Ausgangspunkt, ihren ›Ursprungsmythos‹, fanden.60 Die mythische Dimension solcher Geschichten stellt sich über die historische Wirkungsmacht der Ereignisse ein, die politisch instrumentalisiert und medial distribuiert wird. Dass Mythisches sowohl politischen als auch anderen Ereignissen zugeschrieben werden kann, zeigt sich noch im Feld der Filmindustrie, in der sich ein Set von Erfolgsfilmen herausgebildet hat – ›Das Wunder von Bern‹, ›Lengede‹, ›Der Tunnel‹, ›Die Luftbrücke‹ –, die innerhalb des eigenen Metiers eher unterminologisch als »Mythos-Themen« klassifiziert werden.61 Auch solche Geschichten arbeiten sich noch am Schrecken ab, der traditionell mit der Gewalt des Mythos einhergeht, indem die Filme den Einbruch des unerwarteten Ereignisses in die Erfahrungswelt über Erzählungen bewältigen, die aus dem Arsenal von Legende und Märchen zehren. Wie der Mythos als Denkform einem »polysynthetischen« Ganzheitskonzept verpflichtet ist, bleibt auch die mythische Erzählform einem Ideal von Ganzheit verpflichtet.62 In der narrativen Aneignung der Welt und des Lebens usurpiert entsprechend das Erzählmodell die Wirklichkeit der Geschichte, wie es im Kleinen die storyline des kohärenten Lebensentwurfs im Rahmen der älteren Psychologie oder die Happy EndLogik der Literatur- und Filmindustrie, im Großen die grand récits von Christentum, Aufklärung und Moderne belegen.63 Eine solche Vorstellung vom Mythischen entfernt sich von der klassischen Mythologie und fokussiert die narrativen Mittel, durch die Bedrohliches und Undurchschaubares bewältigt wird. In den Blick geraten die mythischen Implikationen des Erzählvorgangs selbst, die nicht nur die inhaltlichen Konzepte der Meistererzählungen (Romantik, Aufklärung, Nationalismus, Sozialismus etc.) betreffen, sondern auch ihre narrative Formatierung, d.h. die Vorstellung, der als mangelhaft erfahrenen Gegenwart, sei es politischer Konflikt, Unwissenheit, Industrialisierung, Wirtschaftskrise oder Ungleichheit, verheißungsvolle Narrative der Rettung entgegen zu stellen.64 In die uralte Funktion der Erzählung, dem Schrecken zu entrinnen, dringt so der Mythos als politische Ideologie seinerseits wieder ein. Es ist daher nicht zufällig, dass nach der Erosion von Christentum, Aufklärung und Nationalismus immer wieder die Forderung nach einem »Neuen Mythos« artikuliert wird.65 Dass hier ein Desiderat, eine Leerstelle, ›gefühlt‹ wird, wird gerade angesichts des immer mächtiger werdenden

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Vgl. MÜLLER-FUNK [Anm. 28], S. 106. NICO HOFMANN, Europäische Geschichte(n) im Film, in: KUFELD [Anm. 7], S. 124–128, 125. CASSIRER [Anm. 16], S. 60. MÜLLER-FUNK [Anm. 28], S. 48f. Ebd. Einen Überblick gibt MANFRED FRANK, Brauchen wir einen neuen Mythologie?, in: DERS., Kaltes Herz. Unendliche Fahrt. Neue Mythologie. Motivuntersuchungen zur Pathogenese der Moderne (Edition Suhrkamp 1456), Frankfurt am Main 1989, S. 93–112.

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Globalisierungsmythos deutlich.66 Europa als Währungseinheit scheint keine hinreichende Integrationsfigur zu sein. Statt Kausalität akzentuieren solche Narrative aber die Finalität.67 Der klassische Mythos implizierte eine zyklische Zeitstruktur, innerhalb derer religiöse und politische Riten die Erinnerung an das ursprungsstiftende Ereignis aktualisierten: griechischer Opferritus, christliche Messe und liturgischer Kalender, Gründungsmythen, Herrscherinthronisation, Ahnengalerie. Das Verhältnis von solch »kaltem« kulturellem Gedächtnis, das Geschichte still stellt, und »heißem«, das Geschichtsdynamiken in Gang setzt, ist nicht als alternative Konstellation zu sehen, beide Formationen lassen sich durchaus kombinieren.68 Die Erzählung impliziert stets ein telelogisches Moment, nicht nur als grand récit. Clemens Lugowski hat das als »Motivation von Hinten« und »mythisches Analogon« gefasst.69 Schematisch gesprochen ließe sich konstatieren, dass im Prozess der Säkularisierung das mythische Potential der Erzählung vom Ursprung auf das Ziel, von der Vergangenheit auf die Zukunft umgestellt wird. Kausalität und Finalität, zwei zentrale Konstituenten der Erzählung, werden im historischen Prozess offenbar neu relationiert. Damit verändert sich aber der Begriff des Mythos von der Ursprungserzählung hin zur Utopie. Die Geschichte selbst, die ihrerseits bereits den Mythos depotenzierte, nimmt in Form geschichtsphilosophischer oder politischer Narrative mythische Qualität an. Für das Christentum ist die Komplementarität von mythischer und eschatologischer Dimension (AT/NT) evident. Aber auch andere »Gemeinschaftserzählungen« als »narrativ formatierte Sehnsüchte« teilen diesen Befund. Noch die Rede von den Meistererzählungen oder Narrativen (grands récits) orientiert sich an solchen mythologischen Erzählkonstellationen, die Weltanschauungen wie Christentum, Aufklärung, aber auch Feminismus und Ökologie, ihre latente Teleologie einschreiben.

Mythos im Mittelalter Die Wirkungsgeschichte des Mythos nimmt im Übergang von der Antike zum Mittelalter komplexe Formen an. Im Gefolge von imperialen Reichsgründungen, von Missionierung, Völkerwanderung und Kolonisierung kollidieren auch die Mythen der euro66

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YVES BIZEUL, Politische Mythen im Zeitalter der Globalisierung, in: KABEL, RIEGER, WODIANKA [Anm. 47], S. 17–36, 23; PIERRE BOURDIEU, Der Mythos »Globalisierung« und der europäische Sozialstaat, in: DERS., Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1996, S. 39–52. MÜLLER-FUNK [Anm. 28], S. 106f. ASSMANN [Anm. 8], S. 68–70. CLEMENS LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von HEINZ SCHLAFFER, Frankfurt am Main 1976 [zuerst 1932]; vgl. HEINRICH DETERING, Zum Verhältnis von »Mythos«, »mythischem Analogon« und Providenz bei Clemens Lugowski, in: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, hrsg. von MATTÍAS MARTINEZ (Explicatio 7), Paderborn u.a. 1996, S. 63–79.

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päischen Völker. Antike, christliche, keltische und nordische Mythologien treten in komplizierte Prozesse der Abgrenzung und Assimilierung ein. Die Adaptationsprozesse unterscheiden sich je nach sozialer Lage. Eine über die lateinische Sprache kommunizierende geistliche Gelehrtenkultur praktiziert andere Formen als eine adelige Kriegerkultur. Das Christentum verfügt über unterschiedliche Techniken der Assimilierung. So werden über die Allegorese die Wirkungspotentiale der antiken Mythologie stillgestellt und christlich eingemeindet;70 auch die Substitutionen nordischer Götter durch Christus im althochdeutschen Zauberspruch oder die christliche Adaptation heidnischer Schöpfungshymnen wie im ›Wessobrunner Gebet‹ oder in Caedmons ›Hymnus‹ zeugen von einer erfolgreichen Integration der fremden Mythologien; christliche liturgische Techniken konnten sich auch an heidnische magische Praktiken anlehnen, wie innerhalb der Germanenmission der christliche Taufritus mit Wort- und Berührungsmagie arbeitete.71 Der mythische Gehalt solcher Praktiken liegt hier nicht in der Erzählung, sondern im Akt der Teilhabe am Heiligen, der Partizipation, die den mythischen Grund des Kultes kennzeichnet. Daneben aber behaupten sich die mythologischen Gehalte in vielfacher Form: Die antiken Werke wurden in den Klöstern abgeschrieben, glossiert, übersetzt und kommentiert. Im Elementarunterricht waren Vergil und Ovid kanonische Autoritäten, anhand derer Grammatik und Stilistik geübt wurde, die formale Ausbildung war also mit der Aneignung mythologischer Inhalte verbunden.72 Für eine kleine Bildungselite waren sie sogar Herausforderung für die Produktion eigener Werke. Im abgeschlossenen Gelehrtenzirkel war denn auch der Umgang mit dem antiken Erbe unbefangener. Bereits in der lateinischen Literatur wird vorbereitet, was sich in der volkssprachlichen Literatur des Adels entwickeln wird: eine »höfische Mythologie der Liebe als Kontrafaktur der christlichen Liebesauffassung«, ein weiterer Prozess der Remythisierung!73 Die Analyse mittelhochdeutscher Literatur unter der Perspektive des Mythos hat seit ihren Anfängen Tradition. Antikenroman, Heldenepik und höfischer Roman arbeiten sich an ganz unterschiedlichen mythischen Komplexen ab: z.B. die Depotenzierung der

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HANS ROBERT JAUß, Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos, in: DERS., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Schriften 1956–1976, München 1977, S. 285– 307. WOLFGANG HAUBRICHS, Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit 1), Tübingen 1995. KARL STACKMANN, Ovid im deutschen Mittelalter, Arcadia 1 (1966), S. 231–254 (mit älterer Literatur), hier S. 233; zur Ovid-Rezeption in der Renaissance BODO GUTHMÜLLER, Picta poesis ovidiana, in: Renatae Litterae. Studien zum Nachleben der Antike und zur europäischen Renaissance. AUGUST BUCK zum 60. Geburtstag am 3.12.71 dargebracht von Freunden und Schülern, hrsg. von KLAUS HEITMANN, ECKHART SCHROEDER, Freiburg im Breisgau 1973, S. 171–192. JAUß [Anm. 70], S. 297.

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Götterwelt, ihre Reduktion und Allegorisierung im Antikenroman;74 die Spannung von Geschichte, Sage, Mythos und Märchen in der Heldenepik; die Kontamination keltischer und christlicher Mythen im Artusroman. Selbst die christliche Legende adaptiert antike Mythen. Das wohl berühmteste Beispiel findet sich in der Rezeption des antiken Ödipusmythos: Die Geschichte von Inzest und Verwandtenmord findet in der Judasund Albanuslegende seine christliche Adaptation, in Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ seine literarische, höfisch-christliche Reformulierung.75 Je nach angesetzter Perspektive lassen sich Motive, Handlungsmuster, Erzählstrukturen, Figuren, Dinge und Affekte, aber auch Raum- und Zeitordnungen mythentheoretisch untersuchen: Der These von einer zunehmenden Entmythisierung der Stoffe durch die literarische Gestaltung steht die von der Persistenz mythischer Gehalt in der Literatur gegenüber. Generell lässt sich feststellen, dass im Laufe der Zeit mit theoretisch reflektierten Mythosbegriffen die Beobachtungen an den Texten profilierter geworden sind. Gegenüber rein ästhetisch ausgerichteten Analysen oder sozialgeschichtlich orientierten Kontextanalysen haben die mythentheoretischen Untersuchungen einen neuen Fragehorizont eröffnet. In der Mediävistik ist die Beschäftigung mit dem Mythos in ganz unterschiedlichen Zugriffen behandelt worden: z.B. in romantischen, nationalistischen ideologiekritischen, strukturalistischen und narratologischen Konzepten. Dass sich das mediävistische Interesse am Mythos bis heute fortsetzt, zeigt für die germanistische Mediävistik eine Reihe von Sammelbänden, die in den letzten Jahren erschienen sind und die Wirkungsmächtigkeit des Mythos noch innerhalb der mittelalterlichen Literatur nachzuweisen versuchen. Sie thematisieren die »Präsenz des Mythos« als einer spezifisch vormodernen Denkform (FRIEDRICH, QUAST 2004), sie untersuchen die Mythen des Hofes und diejenigen für den Hof (CORBELLARI 2010) oder die Auswirkung des Mythos auf eine spezifische Gattung mittelalterlicher Literatur (WOLFZETTEL, DIETL, DÄUMER 2011), schließlich den »Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen« (GEBERT 2013).76 Unter Mythos konfiguriert sich mithin ein ganzes Syndrom von Phänomenen – 74

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MAX WEHRLI, Antike Mythologie im christlichen Mittelalter, DVjs 57 (1983), S. 18–32. BRUNO QUAST, MONIKA SCHAUSTEN, Amors Pfeil. Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, in: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters, hrsg. von MIREILLE SCHNYDER (Trends in Medieval Philology 13), Berlin/New York 2008, S. 63–82; CARSTEN KOTTMANN, Gott und die Götter. Antike Tradition und mittelalterliche Gegenwart im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, Studia Neophilologica 73 (2001), S. 71–85; Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hrsg. von JOACHIM HEINZLE, KLAUS KLEIN, UTE OBHOF, Wiesbaden 2003; MANUEL BRAUN, Vom Gott gezeugt. Alexander und Jesus. Zum Fortleben des Mythos in den Alexanderromanen des christlichen Mittelalters, ZfdPh 123 (2004), S. 40–66. CHRISTOPH HUBER, Mittelalterliche Ödipus-Varianten, in: Festschrift WALTER HAUG und BURGHART WACHINGER. Bd. 1, hrsg. von JOHANNES JANOTA, Tübingen 1992, S. 165–199, hier S. 166. Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von UDO FRIEDRICH, BRUNO QUAST (Trends in Medieval Philology 2), Berlin/New York 2004; Mythes à la cour, Mythes pour la cour, hrsg. von ALAIN CORBELLARI (Publications romanes et françaises 248), Genf 2010; Artusroman und Mythos, hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, CORA DIETL, MATTHIAS DÄUMER (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), Berlin/New York 2011; Mythos

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Denkform, Erzählung, metaphorische Struktur, Zeichen, Narrativ –, das gegen den rein rationalen Anspruch symbolische Sinnbildungsmuster stellt. In den hier vorgelegten Beiträgen der Sektion des Freiburger Germanistentages werden mythische Konstellationen auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert: ANDREAS HAMMER verfolgt am Beispiel der Reichsstadt Augsburg konkurrierende Genealogien im 15. Jahrhundert. In der Gegenüberstellung der humanistisch verfahrenden, d.h. vergleichenden und nachrechnenden, Stadtgeschichte Sigismund Meisterlins und der auf die alte trojanische Genealogie rekurrierenden Stadtgeschichte Küchlins werden Prozesse der Entmythisierung greifbar. Wenn Meisterlin aber bei allem Objektivitätsanspruch gegen die trojanische Abstammungssage seinerseits die noachitische in Stellung bringt, zeigt das, dass hier Verfahren der Entmythisierung und Remythisierung noch parallel laufen. Objektivierende Verfahren können je nach Rezeptionsinteresse im Dienst anderer Mythisierungen stehen. Als einer der Heroen europäischer Geschichte kann gewiss Caesar angesehen werden: als Stadtgründer, als Eroberer oder als Idealbild von Herrschaft. ALMUT SUERBAUM kann aber zeigen, dass die Rezeption des Caesarbildes in Mittelalter und Früher Neuzeit von tiefgreifenden Ambivalenzen geprägt ist, die einer homogenen Identifikation entgegenstehen. An der Figur Caesar demonstriert sie, wie die reale Geschichte umgeschrieben und an jeweils wechselnde zeitgenössische Interessen angepasst wird: z.B. seine Feudalisierung bei Konrad von Hirsau oder seine Kritik und Idealisierung in der englischen Geschichtsdichtung eines Wace: Die ambivalente Zeichnung Caesars zwischen Tyrann und Herrscherideal wird Wace zum Medium der Kritik an den politischen Zuständen des eigenen Volks. Wenn der Usurpator aus der Fremde indes zum Vorbild für die bedrängten, aber zerstrittenen Engländer werden kann, wird das Ideal rechter Herrschaft über ein mythologisches Erzählmodell importiert. HANS RUDOLF VELTEN zeigt darauf, wie im Mythos des Schlaraffenlandes, der in Mittelalter und Früher Neuzeit eine erstaunliche Medienkarriere entwickelt, dann schon ein Stück Mythopoetik vorliegt. Der Entwurf eines Raums grenzenlosen Überflusses bildet ein Komplement zu überlieferten Utopien, die die Erfahrung eines natürlichen und sozialen Mangelzustands über ein Gegenbild der Fülle in den Blick nehmen: Goldenes Zeitalter, Paradies etc. Der Traum erfüllten Daseins wird aber zugleich unterminiert, wenn dieses auf eine rein physische Existenzform, auf ein »gefülltes Dasein« reduziert wird, wenn Überfluss in Lähmung und Abwesenheit jeglichen Handelns – und das heißt auch Erzählens – führt. Auch über die Darstellungsverfahren wird so mythopoetisch Distanz eingezogen. So wie auf der Histoireebene auf die Darstellungstechniken der Fabel zurückgegriffen und das Dargestellte irrealisiert wird, so wird auch auf der Discoursebene der Wahrheitsanspruch immer wieder sichtbar eingeklammert. Das – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für ALFRED EBENBAUER, hrsg. von JOHANES KELLER, FLORIAN KRAGL, Göttingen 2009; Zwischen Präsenz und Repräsentation. Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen, hrsg. von BENT GEBERT, UWE MAYER, Berlin/New York 2013; ULRICH HOFFMANN, Arbeit an der Literatur. Zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue (Literatur – Theorie – Geschichte 2), Berlin 2012.

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mythische Modell wird über hyperbolische Irrealisierung und diegetische Distanzierung zugleich depotenziert. Wie ein höfischer Roman die Initiation eines Ritters vor dem Hintergrund komplexer mythischer Konstellationen entwirft und zugleich über ästhetische Verfahren Distanz markiert, zeigt ULRICH HOFFMANN am Beispiel des ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven. Gegenüber den bisherigen Ansätzen, Mythisches im ›Lanzelet‹ zu fassen, rekurriert Hoffmann auf die Mythentheorien CASSIRERs und BLUMENBERGs, um inhaltliche und formale Mythologeme zu bestimmen und für die Interpretation nutzbar zu machen: z.B. Rekurrenz von Orten, Figuren und Handlungen in den ersten drei Aventiuren, Erzählschemata als gehärtete Grundmuster, Episodizität statt Kausalität, Reziprozität von Steigerung und Depotenzierung, variierende Wiederkehr des Gleichen usw. Eine ganze Reihe mythenspezifischer Faktoren kann HOFFMANN herausarbeiten: Der ›Lanzelet‹ aber inszeniert dennoch keinen Mythos, vielmehr wird die mythische Indifferenz von Präsenz und Repräsentation gerade über spezifische literarische Verfahren – indirekte Rede, Zeichenspiele, Erzählerkommentar – wieder aufgesprengt. Der literarische Umgang mit mythischen Konstellationen erweist sich als ein Spiel, das gegenüber der mythischen Dimension eine eigene Bedeutungsebene hervorbringt und ausstellt. Schließlich untersucht ELKE BRÜGGEN am Beispiel des ›Nibelungenliedes‹ die Kanonisierung eines europäischen Literaturdenkmals durch die UNESCO. Die Begründungsmuster, die die Weltorganisation heranzieht, um die Bedeutung des mittelalterlichen Textes für das kulturelle Gedächtnis zu rechtfertigen, folgen kaum wissenschaftlichen, sondern eher traditionellen Argumentationen, die auch alte mythische Gehalte reaktivieren. Das Engagement um die Sicherung des kulturellen Erbes erfordert offenbar andere als wissenschaftliche Argumente. Der Mythos erweist sich weniger als etwas, das bewältigt werden kann, denn als etwas, an dem unablässig gearbeitet werden muss. Nicht nur als Mythologie gehört der Mythos zum Erbe Europas, sondern auch als Denk- und Darstellungsform.

Stadtgründungsmythos und Frühhumanismus Wandel und Kontinuität im Geschichtsbewusstsein des 15. Jahrhunderts von Andreas Hammer

König Agenor von Tyros in Phönizien hatte eine Tochter, die Zeus so gut gefiel, dass er, um sie dem wachsamen Vater zu entreißen, sich in einen weißen Stier verwandelt unter die Herden des Königs mischte und wartete, bis das Mädchen arglos auf seinen Rücken kletterte; auf diese Weise entführte er sie bis nach Kreta, wo sie seine Geliebte wurde und ihm drei Söhne gebar. Nach ihrem Namen Europa ist bekanntlich der ganze Kontinent benannt, ihre Entführung zieht in der griechischen Mythologie jedoch noch weitere Folgen nach sich: Europas Vater Agenor schickte demnach nämlich seine drei Söhne aus, nach ihrer Schwester Europa zu suchen und gebot ihnen, niemals zurückzukehren, bevor sie sie gefunden hätten. Natürlich blieb die vom Gott Entführte verschwunden, und so ließen sich die Brüder in unterschiedlichen Gegenden nieder, um neue Geschlechter zu gründen. Kadmos drang dabei am weitesten, bis nach Griechenland vor, und dem Orakel folgend beschloss er, an der Stelle eine Stadt zu gründen, wo sich eine Kuh, die er verfolgte, niederließ. Ganz so einfach ließ sich diese Gründung jedoch nicht durchführen, denn Kadmos musste (um es zu verkürzen) zunächst einen gewaltigen Drachen töten. Auf Geheiß der Göttin Athene pflanzte Kadmos die eisernen Zähne des Untiers in die Erde, aus denen sogleich Männer in voller Kriegsrüstung erwuchsen, die sich untereinander bekämpften, bis nur noch fünf von ihnen übrig waren. Diese schlossen untereinander und mit Kadmos Frieden und bildeten zusammen mit dessen Gefolge die erste Bevölkerung der neugegründeten Stadt Theben, deren künftiger Ruhm auf ihnen gründet.1 Die Erzählung von der Gründung Thebens ist ein bekanntes und besonders anschauliches Beispiel dafür, dass bedeutende Orte oder Völker stets auch eines bedeutenden Anfangs bedürfen, eines Gründungsmythos, über den man sich des Ansehens in der Gegenwart versichert: Die Bedeutsamkeit des Anfangs begründet gleichermaßen die Bedeutsamkeit in der Gegenwart und der Zukunft. Um aber die Exzeptionalität dieses 1

Der thebanische Stadtgründungsmythos und die Geschichte von Kadmos ist am prominentesten überliefert bei Apollodor 3, 1–37, vgl. Apollodori bibliotheca, hrsg. von RUDOLF HERCHER, Berlin 1874. Vgl. zum Komplex von Gründungserzählungen in der griechischen Antike ausführlich JÜRGEN TRUMPF, Stadtgründung und Drachenkampf, Hermes 86 (1958), S. 129–157.

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Anfangs herauszustellen, ist es – insbesondere für das Denken der Vormoderne – nötig, ihn in illo tempore einer mythischen Vorzeit zu verorten. Gründungsmythen sind daher essentieller Bestandteil vormodernen Geschichtsbewusstseins. Seien es nun umfangreiche Kosmogonien, Schöpfungsgeschichten, die den Anfang der Welt, ja des Seins überhaupt erklären, oder seien es nur solche kleineren Erzählungen, die aitiologisch die Herkunft eines bestimmten Gegenstandes, eines Landschaftsmerkmals oder eines Wissensbestandes erklären: stets weist die Erzählung vom Anfang auf die Besonderheiten noch in der Gegenwart hin; der Mythos verklammert die Vorzeit (illud tempus) mit der aktuellen Zeit des Rezipienten, setzt die Bezüge in eins. GÜNTER DUX betont dabei die strukturlogische Dimension solcher Anfangsgeschichten: »Schöpfungsmythen entstehen nicht, weil eine noch unerklärte Welt einer Erklärung bedürfte, deren Konzeption erst noch gefunden werden müßte. Umgekehrt ist die Geschichte zu lesen: Weil die Welt über eine Handlungsstruktur geformt ist, muß ihr Ursprung in einer Schöpfungsgeschichte dargelegt werden.«2 Mit DUX ist vor allem die explikative Logik einer solchen mythischen Handlungsstruktur hervorzuheben, die erklärt, wie und warum etwas ist. Sie ist jedoch mehr als das: »Die Ursprungslogik ist eine Substanzlogik. Und sie ist damit zugleich eine Identitätslogik: Nichts in der Welt, das nicht mit dem, woraus es hervorgegangen ist, identisch wäre.«3 Diese Strukturlogik bewirkt, dass mythische Vorzeit und aktuelle Gegenwart miteinander verklammert werden. Alles, was gegenwärtig (und auch zukünftig) geschieht, ist stets auch an den Anfang dieser Handlung gebunden. Alles Gegenwärtige wird auf seinen Ursprung zurückgeführt, der identitätsstiftend ist.4 Mythisches Erzählen heißt, dass »durch den Vorgang der Narration Wirklichkeit gesetzt und begründet wird«5. Mythische Erzählungen sind interessiert an einer konkreten Ordnungssetzung, sie schaffen ihren Hörern Orientierung, indem sie bei ihnen Identifikation erzeugen.6 Eben darum folgt die Handlungslogik mythischer Erzählungen auch anderen Gesetzmäßigkeiten, als wir es nach unserem kausalen, auf lineare zeitliche Abfolgen ausgerichteten Denken gewohnt sind: Für das moderne Geschichtsdenken sind die Zustände und Ereignisse der Gegenwart kausale Folgen vergangener Ereignisse, die miteinander verknüpft werden und aufeinander einwirken können. Die Richtung dieser Verknüpfungen 2

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GÜNTER DUX, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt am Main 1989, S. 175. Ebd. S. 128. Vgl. ebd. S. 172, 190. Zum Bezug des Mythos auf eine absolute Vergangenheit vgl. auch ERNST CASSIRER, Philosophie der Symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, Darmstadt 71977, S. 130f., zur Einheit des Ursprungs vgl. auch S. 113. FRITZ STOLZ, Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos, in: Mythos und Rationalität, hrsg. von HANS H. SCHMID, Gütersloh 1988, S. 81–104, hier S. 93. Vgl. ebd. S. 89–91. STOLZ sieht bereits in der Philosophie der griechischen Antike eine Abgrenzung zum Mythos, da deren Denksysteme mit zunehmender Abstraktion operierten: »Reversibilität [...] im Hinblick auf Zeitstrukturen, Dezentrierung im Hinblick auf den Raum« (ebd. S. 89).

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ist jedoch stets festgelegt im Sinne einer strikten Chronologie, sie ist zeitlich gerichtet. Im mythischen Denken, das dem vormodernen wesentlich näher steht, existiert hingegen keine solche geschichtliche Gerichtetheit. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang das Fehlen einer ›historischen‹ Gleichzeitigkeit: Mehrere in einer gleichen Zeitperiode ablaufende Ereignisse können zwar wahrgenommen werden, sie können jedoch nur von einem einzigen Ereignis her gedacht werden, an das alle anderen gebunden werden. Was geschieht, muss daher an jeweils zentrale Ereignisse geknüpft werden (der Zeit eines bestimmten Herrschers etwa, eines bestimmten Geschehens – oder eben der Zeit des Ursprungs).7GÜNTER DUX beschreibt, unter Rückgriff auf, aber auch Kritik an LÉVI-STRAUSS’ These vom ›wilden Denken‹, wie in Erzählungen vormoderner, schriftloser Gesellschaften bei der narrativen Darstellung von Geschehnisabläufen (gerade in mythischen Erzählungen) jegliche Chronologie fehlt, da die Gegenwart stets identifikatorisch an die Vergangenheit angebunden wird. Wenn, wie in der mittelalterlichen Gesellschaft, dennoch Chroniken entstehen, so kann dies nur unter der Maßgabe geschehen, dass »die Regierungszeit wie die Lebenszeit im Herrscher ihr Zentrum finden und sich als zusammenhängendes Geschehen ansehen lassen«8. Aufeinanderfolgende Herrschaften lassen sich nicht einer gemeinsamen Zeit unterordnen, vielmehr beginnt mit jedem Herrscher eine neue Zeit. Die mittelalterliche Chronistik zeigt unbestreitbar, dass Ansätze eines historischen Zeitund Geschichtsbewusstseins durchaus vorhanden sind (DUX’ Analyse bezieht sich auf wesentlich frühere Geschichtsmodelle wie das der biblischen Chroniken), sie zeigt jedoch ebenso, wie stark diese vormodernen Denkmuster auch hier noch prägend sind.9 Besonders deutlich wird das am Typus der Weltchronik, die alle Geschehnisse wiederum rückbindet an »den« einen Anfang: den Anfang der christlichen Schöpfung; sie ist weniger nach geschichtlichen (historischen) als vielmehr heilsgeschichtlichen Gesichtspunkten organisiert – das zentrale heilsgeschichtliche Ereignis der Menschwerdung Jesu und der Kreuzigung bildet auch das Zentrum der Ordnung der Ereignisse, die Vergangenheit organisiert auch hier die Gegenwart und die Zukunft. Anschaulich wird ein solches Denken nicht zuletzt in der mhd. ›Kaiserchronik‹, welche die VierWeltreiche-Lehre als Ausgangspunkt nimmt und über die Anfänge der römischen Kai-

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8 9

Ein solches zentrales Ereignis zur zeitlichen Einordnung von Ereignissen, das er »axiales Moment« nennt, beschreibt präzise PAUL RICŒUR, Zeit und Erzählung, Bd. 3, München 1991, S. 166–170. Vgl. DUX [Anm. 2], S. 198–204; Zitat S. 201. Zum mittelalterlichen Geschichtsbewusstsein vgl. grundsätzlich HANS-WERNER GOETZ, Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein, Historische Zeitschrift 255 (1992), S. 61–97. GOETZ kann ausführlich darlegen, dass dieses Geschichtsbewusstsein einerseits »ein vergangenheitsorientiertes Gegenwartsbewußtsein« (S. 66), andererseits aber zugleich »ein gegenwartsorientiertes Vergangenheitsbewußtsein« (S. 72) repräsentiert. Damit zeigt sich, dass sich die Vergangenheit immer wieder als Ursprung der Gegenwart erweist, die Historiographie jedoch geschichtliche Ereignisse »nicht aus ihrer jeweiligen historischen Situation heraus beurteilt, sondern [...] in unmittelbare Parallele zu aktuellen Bezügen« gesetzt hat (ebd. S. 78).

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ser die Legitimation der deutschen Herrscher herleitet, wobei auch hier gut zu beobachten ist, wie jedem Herrscher eine neue, eigene Zeit zugeordnet werden kann.10 Im Übergang vom Mittelalter zur Moderne, in der Frühen Neuzeit, schärft sich jedoch ein Geschichtsbewusstsein, das zunehmend chronologisch-linear ausgerichtet ist und nicht mehr einer zentrierten Handlungslogik wie der des mythischen Denkens folgt. Besonders die Humanisten setzen neue Maßstäbe, indem sie Zeitabläufe hinterfragen, Zeitverhältnisse miteinander koordinieren und so Stück für Stück ein Gesamtbild geschichtlicher Entwicklungen zeichnen. Hier kommt zum ersten Mal so etwas wie Quellenkritik ins Spiel: Unterschiedliche Aussagen über historische Ereignisse werden miteinander verglichen, auf ihre Glaubwürdigkeit überprüft und in ein zeitliches Kontinuum eingeordnet.11 Die Gegenwart wird eher begriffen als ein Zustand, der sich aus einer linearen Zeitfolge von der Vergangenheit her entwickelt hat. Dabei ist es das Erbe der Vergangenheit, insbesondere der Antike, das als Vorbild herangezogen wird und das es wiederzubeleben gilt, da es in den Zeiten des »finsteren Mittelalters« fast verloren gegangen sei. Es ist dieser Erneuerungsanspruch, der auch die humanistische Geschichtsschreibung dazu treibt, immer wieder auf die Quellen zurückzugehen, nicht der Rückbezug auf einen mythischen Anfang in illo tempore, auf den die Gegenwart bezogen ist; es wird gerade keine Kontinuität, ja gar Identität von Vergangenheit und Gegenwart gedacht, sondern ein konsequenter Bruch mit der mittelalterlichen Kultur und dem Primat ihrer lateinischen Gelehrtensprache. Übergeschichtlich ist nicht ein Gründungsmythos, der alles in seinem Anfang begründet, übergeschichtlich und bis in die Gegenwart sich fortschreibend sind vielmehr die Werte und Ideale einer fernen (antiken) Vergangenheit, die es zu erneuern gilt. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang vor allem jene Schwellenzeit um die Mitte des 15. Jahrhunderts, in der mit dem Aufkommen des Buchdrucks nicht nur neue Verfahren der Textproduktion entstehen, sondern sich ebenso allmählich ein Wandel zu einem derartigen Geschichtsdenken abzeichnet. Ablesen lässt sich dieser Übergang 10

11

Vgl. nochmals DUX [Anm. 2], S. 201. Vergleichbar damit sind im Übrigen auch die nach modernen Maßstäben völlig »anachronistischen« Verhältnisse in den mittelalterlichen Epen, die, wie z.B. im ›Nibelungenlied‹, Gestalten völlig unterschiedlicher Zeiten gerade in einen gleichzeitigen Geschehenszusammenhang bringen: Die Burgunden, Etzel und Dietrich von Bern. Angesichts des hier nur grob skizzierten Denkens stellt dies jedoch kein Problem dar: Dem zentralen Ereignis, nämlich dem Untergang der Burgunden, ist die gesamte Handlungslogik unterworfen, alle anderen Ereignisse sind – unter Verzicht auf chronologische oder kausale Bezüge – diesem unterworfen. Zur ›Kaiserchronik‹ und der (aus dem ›Annolied‹ übernommenen) Vier-Weltreiche-Lehre vgl. STEPHAN MÜLLER, Vom Annolied zur Kaiserchronik (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte 23), Heidelberg 1999, sowie ANNGERET FIEBIG, »vier tier wilde«. Weltdeutung nach Daniel in der ›Kaiserchronik‹, in: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für URSULA HENNIG zum 65. Geburtstag, hrsg. von DERS., Berlin 1995, S. 27–49. Dass sich die mittelalterliche Geschichtsschreibung legitimierender Ursprungsmythen bediente, um für Bevölkerung und Institutionen eine Identität zu schaffen, die dann durchaus historisch begründet war, zeigt GOETZ [Anm. 9], S. 83–86. In aller Ausführlichkeit nachgezeichnet hat dies PAUL JOACHIMSEN, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Leipzig 1910.

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nicht zuletzt an der in dieser Zeit allenthalben aufkommenden Stadtchronistik, die, beflügelt von einem immer selbstbewusster agierenden Bürgertum,12 nun nicht mehr nur eine trocken-annalistische Darstellung von Ereignissen der jüngeren Vergangenheit präsentiert, sondern eine umfassende Geschichte von der Gründung der Stadt bis zur Gegenwart. Dies diente nicht zuletzt auch einer Bestätigung der herausgehobenen Stellung des Bürgertums, aus dessen Kreisen vielfach die Auftraggeber derartiger Städtechroniken stammten. Wie fein sich der Umbruch von einer dem vormodernen Denken und mittelalterlichen Geschichtsbewusstsein verhafteten Chronistik hin zu einer fast schon frühhumanistischen nachzeichnen lässt, soll im Folgenden an zwei zeitlich dicht beieinander liegenden Beispielen der Augsburger Stadtgeschichtsschreibung gezeigt werden. Der eigentliche Befund – Küchlins sagenhafte Erzählung von der Stadtgründung Augsburgs und die Kritik Sigismund Meisterlins daran – ist nicht neu, ist jedoch hauptsächlich unter historischen Gesichtspunkten und Fragen der Quellenkritik näher interpretiert worden. Mir geht es indes um die Frage, wie weit sich Sigismund Meisterlin mit seiner überaus erfolgreichen ›Chronographia Augustensium‹ tatsächlich von einem Gründungsmythos, wie ihn noch die Erzählung des Küchlin beschreibt, absetzt. Die Anfänge der Augsburger Stadtgeschichtsschreibung sind in Hagiographie und Klosterannalen zu suchen. Bereits die erste Lebensbeschreibung des Hl. Ulrichs durch Gerhard von Augsburg, die 993 zur Kanonisation des Heiligen in Rom vorgelegt wurde, enthält viele historische Angaben, so z.B. zur Lechfeldschlacht oder zur Parteinahme des Augsburger Bischofs für den Kaiser (und gegen fast den gesamten bayerischen Adel) während des Aufstandes Liudolfs von Bayern gegen Otto I.13 Auch die Biographie des Abtes Egino von St. Ulrich und Afra durch seinen Nachfolger Udalschalk (Abt 1127–1151) verbindet historische Darstellung mit politischer Biographie. Ebenso dokumentieren die Jahrbücher der Domkanoniker sowie der Abtkatalog des Klosters von St. Ulrich und Afra im 12. Jahrhundert geschichtliche Ereignisse. In den Jahrbüchern taucht (um 1100) auch das sog. ›Excerptum ex Gallica historia‹ auf, ein Auszug aus einer ansonsten unbekannten Geschichtsdarstellung, das von einer Schlacht zwischen Sueben und Römern im Zuge der Stadtgründung berichtet. Dieses ›Excerptum‹ wird dann zu Beginn des 13. Jahrhunderts von dem Prior des Ulrichsklosters Adalbert in dessen Vita der Hl. Afra wieder aufgegriffen und hat damit maßgeblich die städtische Geschichtsschreibung beeinflusst.14 12

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Vgl. allgemein HEINRICH SCHMIDT, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel bürgerlichen Selbstverständnisses im Spätmittelalter (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 3), Göttingen 1958. Edition nach: Gerhard von Augsburg, Vita Sancti Uodalrici. Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich. Einleitung, kritische Edition und Übersetzung besorgt von WALTER BERSCHIN, ANGELIKA HÄSE (Editiones Heidelbergensis 24), Heidelberg 1993. Vgl. hierzu NORBERT HÖRBERG, KARL SCHNITH, Das Geistesleben, in: Geschichte der Stadt Augsburg, hrsg. von GUNTHER GOTTLIEB u.a., Stuttgart 1984, S. 213–219, hier S. 214f. Bereits Burchard von Ursberg benutzte in seiner Weltchronik das Exzerpt für einen Exkurs zur Augsburger Stadtgeschichte, vgl. PETER JOHANEK, Geschichtsschreibung und Geschichtsüberlieferung in Augsburg am

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Handelte es sich bis jetzt stets um geistlich-gelehrtes Schrifttum, so etabliert sich eine bürgerliche Geschichtsschreibung in Augsburg relativ spät, nämlich erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit der anonymen Chronik der Stadt Augsburg von 1368–1406. Anlass scheint die Zunfterhebung im Jahr 1368 und die daraus resultierende Einrichtung einer Zunftverfassung zu sein, welche einen bedeutenden Wendepunkt in der Geschichte des Augsburger Bürgertums darstellte.15 Die Chronik beginnt denn auch ohne Umschweife mit einer Darstellung dieser Verfassung und gibt dann in teilweise sehr kurzen Notizen Auskunft über bedeutende Ereignisse der Stadtgeschichte (einen längeren Eintrag findet der sog. ›Ungelt-Konflikt‹); sie endet mit einer Erwähnung der Sonnenfinsternis im Jahre 1406. Während diese Chronik später erneute Verwendung fand, indem der Kaufmann Burkhard Zink in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts darauf zurückgriff, blieb die ebenfalls in dürrem, annalistischen Stil gehaltene Chronik des Erhard Wahraus weitgehend unbeachtet. Es scheint sich ursprünglich eher um Aufzeichnungen für den privaten Gebrauch zu handeln, die zwar mit einigen allgemeineren Notizen aus früherer Zeit einsetzen (Gründung des Klosters Ebrach 1126; Hinweise auf andere Quellen), ansonsten aber ab dem 14. Jahrhundert Nachrichten über Ereignisse der Stadtgeschichte geben, allerdings von völlig unterschiedlicher Art (Wetter, Preisentwicklungen, Unglücksfälle etc.). Immerhin ist mit Wahraus der erste Laie namentlich fassbar, der Aufzeichnungen dieser Art anlegte.16 Waren diese ersten Zeugnisse bürgerlicher Geschichtsschreibung noch eine lakonische Sammlung annalistischer Notizen, die zudem einen relativ überschaubaren Zeitraum umfassten, so ändert sich dies mit einer knapp vierhundert Verse umfassenden Reimchronik, die einer der einflussreichsten Bürger, der mehrmalige Bürgermeister Peter Egen, bei einem nicht genauer verifizierbaren Geistlichen namens Küchlin wohl zwischen 1437 und 1442 in Auftrag gab. Der Patrizier Egen, der sich später Peter von Argon nannte, um seine Ambitionen auf einen Aufstieg in die Adelsklasse zu unterstreichen, hatte nämlich einen Maler damit beauftragt, sein Haus mit Bildern von der Geschichte, insbesondere wohl der Gründung der Stadt auszumalen. Zu diesem Zweck überließ Egen dem Maler, so stellt es Küchlin in Vor- und Nachrede seiner Chronik dar,

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Ausgang des Mittelalters, in: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hrsg. von JOHANNES JANOTA, WERNER WILLIAMS-KRAPP (Studia Augustana 7), Tübingen 1995, S. 160– 182, hier S. 170. Zur Zunftverfassung und den sog. ›Ungeldunruhen‹ 1397/98 sowie deren Bedeutung für die Stadtgeschichtsschreibung vgl. ROLF KIEßLING, Zum Augsburg-Bild in der Chronistik des 15. Jahrhunderts, in: JANOTA, WILLIAMS-KRAPP [Anm. 14], S. 183–215, hier S. 192–194; ausführlich (mit Abdruck der Dokumente) auch schon FRENSDORFF [Anm. 17], S. 129–149, 157–165. Vgl. dazu DIETER WEBER, Geschichtsschreibung in Augsburg. Hektor Mülich und die reichsstädtische Chronistik des Spätmittelalters (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30), Augsburg 1984, S. 32–34; vgl. auch die entsprechenden Artikel hierzu im VL und in der Encyclopedia of the Medieval Chronicle (EMC), hrsg. von GRAEME DUNPHY, Leiden 2010. Eine vollständige Zusammenfassung der einzelnen chronikalischen Werke des 14. und 15. Jahrhunderts (mit Literaturangaben) findet sich bei KIEßLING [Anm. 15], S. 184f.

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eine lateinische Schrift, aus welcher er Anregungen entnehmen sollte; der als ›Meister Jörg‹ bezeichnete Künstler übertrug es dann Küchlin, dessen Inhalt in deutsche Verse zu übertragen. Bei dieser lateinischen Vorlage handelt es sich offenbar um den Prolog von Adalberts bereits erwähnter ›Vita St. Afras‹, die Küchlin freilich um die trojanische Abstammung der Gründungsväter erweitert, so dass mit seinem Werk erstmals eine umfassende volkssprachige Darstellung der Gründung Augsburgs vorliegt: Küchlin geht es, wie er in der Vorrede klarstellt, darum, wie die wirdig stat wer komen her (v. 11).17 Bei der Darstellung des Ursprungs der Stadt und der Herkunft ihrer Bürger greift Küchlin das weitverbreitete Motiv trojanischer Abstammung auf: Er setzt ein mit König Priamus von Troja, davon der adel kompt als us (v. 60). Dessen gleichnamiger Enkel habe zusammen mit Aeneas und vil ritterschaft (v. 76) die trojanischen Flüchtlinge über Afrika nach Italien geführt, wo Aeneas ein Königreich gegründet hätte; Priamus aber sei Richtung Gallien gezogen bis nach Trier, wo er sich niedergelassen habe, sehr zum Vorteil der bereits bestehenden Bevölkerung, denn küniglicher art er nit vergaß,/ den adel bracht er in das land (vv. 96f.). In Köln hätten sich die adeligen Neuankömmlinge dann mit Ehefrauen versorgt: davon vil adels wart geporn,/ die z striten wurden ußerkorn (vv. 103f.). Im zweiten Kapitel seiner Chronik unternimmt Küchlin dann erhebliche Anstrengungen, um Priamus und seine Gefolgschaft mit den Germanen gleichzusetzen (Priamus sei von Aeneas in Briefen stets mit Germanus angeredet worden, daher habe man bald nicht nur ihn, sondern seine Gefolgsleute und Länder so bezeichnet). Im Folgenden vermerkt er, dass aus Raummangel ein Teil der trojanischen Oberschicht weiter nach Westen gezogen sei und – ohne dies näher auszuführen oder zu begründen – sich mit den Schwaben zusammengetan und dort eine Stadt gegründet hätten, die nach der heidnischen Göttin Zise zunächst Zisaris genannt worden sei: der frühere Name Augsburgs. Damit zeigt Küchlin also, das die edeln Swab und German/ sin dieser stat ein anfank (vv. 146f.), seine lateinische Quelle schweigt sich jedoch nach eigenen Angaben darüber aus, wann genau dies geschehen sein soll. Küchlin setzt die Gründung von Zisaris nun zwischen der Zerstörung Trojas und der Gründung Roms an; erst für letzteres hat er ein konkretes Datum parat: Rom sei 710 Jahre vor der Regierung des Kaisers Augustus erbaut worden (vgl. vv. 165–167). Damit wird klar, worauf diese Geschichte der allerersten Anfänge der Stadt zunächst abzielt: Augsburg braucht den Vergleich mit Rom nicht zu scheuen, ja mehr noch: Die 17

Die Chronik des Küchlin ist ediert von FERDINAND FRENSDORFF, in: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg, I (Die Chroniken der deutschen Städte. Herausgegeben durch die Historische Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften 4), Göttingen 1865, S. 343– 356. Der Text wird stets nach dieser Ausgabe zitiert. Vgl. zur zeitlichen Einordnung und zum Entstehungskontext die Einleitung zur Edition von FRENSDORFF, ebd. S. 335–342. Zum Verhältnis von ›Excerptum‹, Adalberts Prolog und der Reimchronik des Küchlin vgl. genauer KARL SCHNITH, Mittelalterliche Augsburger Gründungslegenden, in: Fälschungen im Mittelalter, Bd. 1: Kongreßdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung (Schriften der MGH 33.1), Hannover 1988, S. 497–517, hier S. 502–507.

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Stadt ist älter und noch würdiger als die ›ewige Stadt‹. Küchlin bedient sich dabei (immer über die Vermittlung Adalberts bzw. des ›Excerptums‹) eines Gründungsmythos, der im Laufe des Mittelalters immer größere Popularität erlangte und auf immer mehr gentes oder nationes bezogen wurde: die Abstammung von den Trojanern. Aufgenommen wurde eine trojanische Herkunftssage erstmals explizit durch die Chronik des (sog.) Fredegar im 7. Jahrhundert, welche die Herkunft der Franken von den Trojanern ableitete; in die Tradition einer trojanischen Abstammung stellten sich später auch die Normannen, besonders aber die Briten mit ihrem Stammvater Brutus, prominent herausgearbeitet in Waces ›Roman de Brut‹ und in der ›Historia regum Britanniae‹ des Geoffrey of Monmouth; im Spätmittelalter reklamierten neben Augsburg noch zahlreiche andere Städte eine solche Herkunft für sich.18 Das hohe Ansehen Trojas wird im Mittelalter allgemein anerkannt, nicht zuletzt vermittelt über die Literatur, welche ein äußerst positives Bild der ritterlichen trojanischen Helden zeichnet (man denke an die französischen und deutschen Troja-Romane, die insbesondere Hektor als vorbildlichen Ritter stilisieren). Eine Verbindung mit Troja, sei es über Verwandtschaft und Versippung, sei es, wie hier, über Gründungsgeschichten, ist darum in jedem Falle ehrenvoll und garantiert die Partizipation an Ruhm und Ritterlichkeit der trojanischen Helden.19 Indem der Ursprung eines Volkes, einer Herrscherdynastie oder eben einer Stadt auf Troja und ihre Helden zurückgeführt wird, verbindet sich deren mythische Vergangenheit mit der Gegenwart der zu beschreibenden Verhältnisse (des Volkes, des Herrschaftssystems und deren Dynastie), welche durch die Vergangenheit begründet sind (im doppelten Sinne), die dadurch ein unvergleichliches Identifikationspotential eröffnet. Gegenwartszustand und Urzustand werden durch die Abstammungsmythologie miteinander verbunden, es entsteht ein »Geschichtsparallelismus von Jetzt- und Vorzeit, der Ursprungsmythos und Geschichtsverlauf als Einheit erscheinen läßt«20. Es ist diese Verklammerung von Gegenwart und Vergangenheit, die über die Strukturlogik der mythischen Erzählung eben jenes Identifikationspotential des mythischen Anfangs schafft, wobei der fortgeführte Trojamythos im vorliegenden Fall eine Identitätslogik schafft, die Augsburg über die als eigentlicher Maßstab geltende Größe Roms hinausführt, und das auf zweifache Weise: zum einen über das höhere Alter, das Küchlins Erzählung erweisen will, und nur diesem Zweck dient die genaue Jahresangabe der Gründung Roms (eben 710 Jahre vor der Regie18

Zum Stellenwert des trojanischen Ursprungsmythos in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung vgl. FRANTIŠEK GRAUS, Troja und trojanische Herkunftssage im Mittelalter, in: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hrsg. von WILLI ERZGRÄBER, Sigmaringen 1989, S. 25– 43, hier bes. S. 32–35, sowie GERD MELVILLE, Troja. Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter, in: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Religionen, Personenverbände, Christenheit, hrsg. von FERDINAND SEIBT, WINFRIED EBERHARD, Stuttgart 1987, S. 415–432. 19 Vgl. GRAUS [Anm. 18], S. 32, 37f. 20 JÖRG GARBER, Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. »Nationale« Abstammungstheorien im Vorfeld der Nationalstaatsbildung, in: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit, hrsg. von KLAUS GARBER (Frühe Neuzeit 1), Tübingen 1989, S. 108–163, hier S. 116, vgl. auch S. 112.

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rungszeit des Augustus). Es handelt sich, um an ERNST CASSIRERs Überlegungen zum mythischen Denken anzuknüpfen, nicht um eine konkrete, sondern um eine qualitative Zeit,21 die angebunden ist an das zentrale Ereignis, die Stadtgründung Augsburgs, von der einzig wichtig ist, dass sie früher stattgefunden hat; es fehlt, wie oben konstatiert, eine tatsächliche ›historische‹ Gleichzeitigkeit. Vielmehr nehmen beide ihren Ausgang von der Zerstörung Trojas, die Handlungslogik ist jedoch fokussiert auf die Gründung Augsburgs. Das bringt den zweiten Punkt der Überlegenheit gegenüber Rom zur Geltung: Von Troja nimmt jeglicher Adel und jegliche Ritterlichkeit ihren Ausgang, wie Küchlin nicht müde wird zu betonen. Das gilt zwar ebenso für den römischen Adel (über den sich ja noch die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs identifizieren), jedoch nur über die Seitenlinie des Aeneas, den Küchlin zwar demselben Stamm zuordnet (vgl. v. 75); beim Stammvater der germanischen Länder Priamus handelt es sich hingegen explizit um den Enkel des trojanischen Königs, dessen Abstammung (und damit auch die seiner Nachkommen, die später Augsburg gründen) an Größe somit nicht mehr übertroffen werden kann: Augsburg ist also nicht nur früher, sondern auch von den edleren Trojanern gegründet worden als Rom. Die Identitätslogik dieses Gründungsmythos setzt sich im weiteren Verlauf der Erzählung von den Anfängen Augsburgs fort, wenn im vierten bis siebten Kapitel (nun direkt dem Prolog Adalberts bzw. dem ›Excerptum‹ folgend) der Küchlinschen Chronik beschrieben wird, wie die Römer Zisaris belagern und schließlich eine vernichtende Niederlage hinnehmen müssen; dabei werden einige Berichte von der Varus-Schlacht und dem endgültigen Scheitern römischer Eroberungen in Germanien kurzerhand auf die Augsburger Verhältnisse übertragen.22 Als Grund für die Belagerung durch die Römer gibt Küchlin an, Kaiser Augustus habe gehört, das die edeln Germany/ überal wolten sitzen fry (vv. 175f.) – erneut werden die von den Trojanern abstammenden Germanen also in ihrem Adel hervorgehoben, während die (weniger edlen) Römer in, freilich erfolgloser, Konkurrenz dazu treten und dabei als freiheitsgefährdende Usurpatoren erscheinen. Im Kampf tun sich die trojanischen Germanen denn auch durch besondere Tapferkeit und Ritterlichkeit hervor, erfahren allerdings zusätzlich noch Unterstützung durch die Ureinwohner des Landes, die Schwaben (vgl. das 5. Kapitel: wie die Swaben der stat z hilf komen), die ihnen ritterlichen (v. 224) zur Seite springen, indem sie die Belagerer von außen angreifen und so einen Ausfall der Eingeschlossenen ermöglichen; in der darauffolgenden Schlacht werden fast alle Römer erschlagen.23 Einzig der Prätor Varus habe einen ehrenvollen Tod in der Schlacht gescheut und geflohen, sei aber spä21 22

23

Vgl. CASSIRER [Anm. 4], S. 133. Der Prätor der Römer wird Varrus genannt, ihm zur Seite steht ein Avar als Führer der griechischen Hilfstruppen. Diese Tradition wird bereits in der Weltchronik Ottos von Freising aufgegriffen, der explizit die Verbindung zur Varus-Schlacht in der Zeit des Kaisers Augustus zieht, vgl. SCHNITH [Anm. 17], S. 503. Das gibt außerdem Anlass zu einigen Namensetymologien bestimmter Augsburger Lokalitäten, die Küchlin bereits seiner Vorlage entnimmt; z.B. wird der heutige Augsburger Stadtteil Kriegshaber (damals noch ein Dorf vor den Toren) mit den Griechen und ihrem Anführer Avar verbunden usw.

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ter hingerichtet worden. Hervorgehoben wird dagegen wiederum die vorbildliche Ritterlichkeit der Germanen und Schwaben, durch die die Römer in die Flucht geschlagen und die Freiheit der Bevölkerung gewahrt worden ist: aber dawider sind gar hoch ze loben die German und edeln Swoben, das sie vermochten sölch ritterschaft und törstig waren, mit swerter kraft des keisers sich zeweren (vv. 289–93).

Bei der Verteidigung der Stadt schlagen sich die Nachfahren der Trojaner daher ebenso tapfer und ritterlich wie bereits ihre berühmten Vorfahren bei der Verteidigung Trojas. Denn auch König Priamus, so berichtet es Küchlin eingangs, enthielt sich lang nach adels art (v. 64), eingenommen sei seine Stadt nur durch verrterschaft (v. 67). Die Parallelen sind überdeutlich und zeigen, dass die Vorzüge des mythischen Anfangs sich weiter fortsetzen. Denn auch Augsburg muss sich zuletzt doch den Römern beugen, da Augustus, um seine schändliche Niederlage zu rächen, seinen Stiefsohn Drusus mit weiteren Legionen ausschickt, zunächst an den Rhein, wo er Gallien und Germanien unterwirft. Angesichts der Übermacht tritt dann Augsburg (das ursprüngliche Zisaris ist zwischenzeitlich in Vindelica umbenannt worden) dem Römischen Reich bei – man beachte: Keine militärische Niederlage, vielmehr politisches Kalkül scheint die Einwohner zu diesem Schritt bewogen zu haben. Mit der Romanisierung wird auch der Name der Stadt ein weiteres Mal geändert; sie wird nach dem Kaiser Augusta genannt (vgl. vv. 345ff.), was nicht zuletzt ihr hohes Ansehen erweist, wird ihr doch die Ehre zuteil, nach dem Herrscher persönlich benannt zu werden. Der Gründungsmythos von der trojanischen Herkunft Augsburgs hat gegenüber den lateinischen Berichten, die einzig von der Niederlage der Römer vor Augsburg berichten (das ›Excerptum‹ setzt dabei die Stadt Zisaris noch gar nicht mit Augsburg gleich) den entscheidenden Vorteil, dass die Germanen und besonders die Schwaben nun nicht mehr als halbwilde Barbaren erscheinen, sondern im Gegenteil als hochzivilisierte Edle von vorbildlicher ritterlicher Tapferkeit.24 Und vor allem darin liegt das hohe Identifikationspotential dieser Gründungsgeschichte: Die Ursprungslogik dieser Erzählung und die direkte Verklammerung von mythischer Vergangenheit und exzeptioneller Gegenwart lassen die adelige Herkunft der Stadtgründer und deren ritterliche Tugenden unmittelbar auf die bestehenden Verhältnisse des Augsburger Bürgertums beziehen. Denn an dieser Stelle wendet sich der Blick von der Gründungsgeschichte an den Auftraggeber Küchlins: Der vom Verfasser selbst als ein gewaltig man (vv. 1, 367 u. 383) bezeichnete Peter Egen dürfte einer der mächtigsten und einflussreichsten Bürger der Stadt im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts gewesen sein. Mehrfach wurde er zum Bürgermeister gewählt und konnte in seinem repräsentativen Haus (für das wohl auch der in diesem Zusammenhang in Auftrag gegebene Bilderzyklus bestimmt war) sogar 24

Vgl. SCHNITH [Anm. 17], S. 507.

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die Kaiser Friedrich III. und Sigismund beherbergen; letzterer hob gar 1434 Egens Sohn aus der Taufe.25 Das seit der Zunftrevolution von 1368 erheblich an Einfluss und Bedeutung gewonnene Bürgertum musste daher ein lebhaftes Interesse daran haben, seinen inzwischen gefestigten Stellenwert nun auch über eine entsprechende Gründungsgeschichte zu legitimieren. Diesem Bedürfnis scheint die Reimchronik Küchlins entgegenzukommen: Die zentralen Werte der trojanischen Ahnherren, Freiheit und Ritterlichkeit (vgl. v. 224), entsprechen dem Selbstverständnis des städtischen Bürgertums im ausgehenden Mittelalter. Die Auseinandersetzungen mit den Römern werden ausdrücklich als Freiheitskrieg klassifiziert: Augustus ist das freie Leben der Germanen ein Dorn im Auge, und der Beitritt zum römischen Reich bedeutet, das ir frier gewalt ein end nam (v. 333). Die in den Städten erkämpften Freiheitsrechte der aufstrebenden bürgerlichen Oberschichten korrelieren mit denen der Gründerväter, die Freiheit und die ritterlichadeligen Wertvorstellungen der gegenwärtigen Stadtbürger werden auf diese Weise in der mythischen Vergangenheit begründet und legitimiert – das herauszustellen ist die eigentliche Leistung Küchlins über seine lateinischen Vorlagen hinaus. Die Anbindung an die trojanischen »Urväter« sichert die eigenen Ansprüche und kann zugleich konkurrierende Geltungsabsichten abweisen.26 Dass Küchlins Chronik aber gerade den Adel als zentralen Aspekt der mythischen Gründerzeit betont, lässt sich ebenfalls mit der Person Peter Egens als Auftraggeber verbinden: Dieser nämlich nutzte seinen immensen Einfluss in Augsburg dazu, seine Aufstiegsbestrebungen zu verstärken und sich dem niederen Adel anzugliedern. Diese »›sekundäre Aristokratisierung‹«27 führte schließlich 1442 zum Erfolg, als er von Friedrich III. einen Wappenbrief erhielt und sich fortan Peter von Argon nannte, Grundherrschaft im Augsburger Umland erwarb und mehr das Leben eines Landadeligen führte.28 Eine Herkunft des Adels bereits durch die trojanischen Stadtgründer, wie es die Chronik darstellt, könnte solchen Bestrebungen daher durchaus entgegengekommen sein. Die Schwaben und Germanen als Vorbilder an Kraft und ritterlichen Tugenden, besonders aber in der Bewahrung ihrer Freiheit29 dürften für das städtische Bürgertum insgesamt sicherlich ein großes Identifikationspotential geboten haben (Sigismund Meisterlin scheint nur wenige Jahre später eine lateinische Übersetzung von Küchlins Chronik vorgelegen zu haben; die Rezeption dürfte also durchaus breit gewesen sein), es bleiben jedoch ständische Grenzen einer in erster Linie eine Adelsgesellschaft begründenden Ursprungserzählung: Die Trojaner als adelige Städtegründer sind nur schwer mit dem Bürgertum in Verbindung zu bringen, dessen Anschlussfähigkeit an die hochadeligen Gründerväter kaum möglich war. Es ist daher folgerichtig, dass (zumal in den Kreisen 25 26 27 28 29

Vgl. KIEßLING [Anm. 15], S. 206f. Vgl. GARBER [Anm. 20], S. 116. KIEßLING [Anm. 15], S. 206. Vgl. ebd. Vgl. SCHNITH [Anm. 17], S. 507

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des gehobenen Bürgertums) das Verlangen nach dem Erweis einer autochthonen Herkunft wuchs.30 Dies entsprach nicht zuletzt den Idealen des Frühhumanismus, denn in Augsburg hatte sich um die Mitte des 15. Jahrhunderts bereits eine Art humanistischer Zirkel einiger hochgebildeter Bürger formiert, unter denen der Patrizier Sigismund Gossembrot schließlich den Anstoß für ein solches Geschichtswerk gab: Er beauftragte den Benediktiner Sigismund Meisterlin zur Erstellung seiner ›Chronographia Augustensium‹. Meisterlin legte seine lateinische Chronik im Jahr 1456 vor, sein Auftraggeber Gossembrot ließ sie sogleich auch ins Deutsche übersetzen; 1457 wurde diese Fassung dem Augsburger Rat gewidmet.31 Anders als Küchlin setzt sich Meisterlin nicht nur mit der Gründungsgeschichte Augsburgs auseinander, sondern auch mit der späteren Stadtgeschichte, gleichwohl umfasst die Darstellung vom Ursprung der Stadt die ersten drei Bücher seines Werkes. Bemerkenswert an Meisterlins Arbeitsweise für seine Chronik ist, dass er zumindest in Ansätzen quellenkritische Verfahren verfolgt: Es geht ihm darum, die wahren Umstände der Stadtgründung aufzuzeigen, und zu diesem Zweck sammelt er möglichst viele Quellen, sichtet sie, vergleicht sie untereinander, wählt aus, was glaubwürdig erscheint und verwirft Widersprüchliches. Das erste Buch der Chronik ist darum fast komplett eine kritische Auseinandersetzung mit der Herkunftsgeschichte Augsburgs nach der Reimchronik des Küchlin.32

30 31

32

Vgl. GRAUS [Anm. 18], S. 41f. Vgl. zur Person Meisterlins PAUL JOACHIMSOHN, Die humanistische Geschichtschreibung in Deutschland. Die Anfänge: Sigismund Meisterlin, Bonn 1895, S. 23–25, zum humanistischen Kreis um Gossembrot vgl. ebd. S. 16–21. Eine sozialhistorische Untersuchung zum Schaffen Meisterlins und anderer ›Klosterhumanisten‹ hat zuletzt HARALD MÜLLER, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation; NR 32), Tübingen 2006, hier besonders S. 137–174, vorgelegt. Weder die lateinische noch die deutsche Fassung ist bisher ediert; Ausschnitte bietet lediglich JOACHIMSOHN [Anm. 31], S. 285–300. Zitiert wird daher nach dem Dedikationsexemplar für den Augsburger Stadtrat, Augsburg, SB und StB, 2° Cod. Aug. 60, das als zuverlässigster Textzeuge gilt. Zur Kontrolle der Lesarten wurden ferner herangezogen: Augsburg, SB und StB, 2° Cod. Aug. 59 [vgl. Anm. 34], sowie cgm 570 und die Bearbeitung durch Konrad Bollstädter in cgm 213 (jeweils München, BSB); ferner der Druck von Melchior Ramminger, Augsburg 1522, der allerdings die Vorreden und einen Teil der Anfangskapitel nicht überliefert, sondern erst im 9. Kapitel des ersten Buches einsetzt, dessen Exemplar der BSB München (Signatur: Res/2 Germ.g. 13) jedoch wenigstens digitalisiert einsehbar ist (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00011763-8; letzter Zugriff am 16.8.2011), sowie die Transkription der Hs. 158/4 (St. Paul), nach: Sigismund Meisterlin, Chronographia Augustensium – Cronik der Augspurger. Nach der Hs. 158/4 in St. Paul in Kärnten, Bd. 2: Transkription des deutschen Textes, hrsg. von HANS GRÖCHENIG, Klagenfurt 1998. Abgesehen von der Bearbeitung Bollstädters, die zahlreiche Änderungen einbringt und sogar einen größeren Abschnitt zum trojanischen Krieg interpoliert, weichen ansonsten die einzelnen Lesarten nur selten im Wortlaut, an keiner Stelle aber inhaltlich voneinander ab. Zum besseren Nachvollzug ist den Zitaten jeweils die Buch- und Kapitel-Angabe nachgestellt, auf die folio-Angaben der Hs. wurde verzichtet; Abkürzungen sind der besseren Lesbarkeit halber aufgelöst,  in s umgewandelt.

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Der trojanische Herkunftsmythos wird darin von allen Seiten her geprüft und wegen seiner zahlreichen Widersprüche verworfen. Aufgrund der für ihn offenkundigen Unstimmigkeiten sucht Meisterlin in schriftlichen Zeugnissen glaubwürdige Beweise, die gegen eine solche trojanische Herkunft sprechen, und er benutzt dazu neben Vergil unter anderem die Kommentare von Ovid, Guido von Columna, Isidor und in Enea Silvio Piccolomini sogar die eines zeitgenössischen Humanisten.33 Im ersten Kapitel legt Meisterlin seine Quellen dar, verteidigt sich, dass er hauptsächlich aus heidnischen Autoren schöpft, nennt aber ebenso bereits hier das ›Excerptum‹ und Adalberts Prolog der Afra-Vita, auf den sich ja auch Küchlin gestützt hat, außerdem spielt er bereits auf dessen Reimchronik an. In den nächsten Kapiteln geht es ihm dann darum, Argumente gegen die trojanische Herkunft zu sammeln: Er streitet ab, dass die Gründer Augsburgs aus der Gegend des heutigen Frankreichs gekommen seien, zumal die Gründungen der rheinischen Städte viel jünger gewesen seien. Meisterlin bringt dabei auch altbekannte Argumente wie das, Aeneas sei ohnehin nur ein Flüchtling und habe nach Meinung etlicher Quellen sogar seine Heimatstadt Troja verraten; von solchen Leuten abzustammen sei alles andere als ehrenvoll (das klingt bereits in der Überschrift des dritten Kapitels an). Auch kann er in seinen Quellen keinen Enkel des Priamus ausfindig machen; dass ein solcher im ›Excerptum‹ dennoch erwähnt wird, muss daher ein Fehler sein, den er folgendermaßen erklärt: Zur Zeit des Kaisers Valentinian hätte ein Herrscher dieses Namens die Franzosen regiert; dieser sei dann fälschlicherweise mit Aeneas und den Trojanern in Verbindung gebracht worden. Dies sei jedoch unmöglich, da die Regierungszeit des Valentinian um 467 n. Chr. zu ermitteln sei – der Name Priamus taucht für ihn also am richtigen Ort, aber zur falschen Zeit auf. Hier wird bereits deutlich, dass Meisterlin keiner zentrierten Handlungslogik mehr folgen will, die ein Urereignis direkt mit einem gegenwärtigen verknüpfen will, sondern ein ganz klares zeitlich-chronologisches Kontinuum von der Vergangenheit zur Gegenwart voraussetzt. Es folgt (Buch I, Kap. 4) ein Abriss der trojanischen Herkunftsgeschichte Augsburgs. Bereits einleitend wird klargemacht, dass Meisterlin den trojanischen Herkunftsmythos zu widerlegen sucht: Das ist die erchollen mainung von den troyer wie augspurg von in komen sey / zů bestäten oder zů vernichten (I, c. 4).34 Diese gilt es im Folgenden zu widerlegen, 33 34

Vgl. JOACHIMSOHN [Anm. 31], S. 28f. Meisterlin nennt Küchlin und seine Chronik nicht beim Namen, doch es ist eindeutig, worauf er sich bezieht, wenn er fortfährt und von einem erst kürzlich angefertigten, gereimten Text spricht: wie wol das die geschrifft gar kurzlich ist gemacht worden / vnd mir der sy gemacht hat / selbs nicht anderst hat künden sagen / dann dz er sich hab gelassen an die teütschen reim (I, c. 4). Am Ende des Kapitels wird die Anspielung dann vollends deutlich: In den selben reimen fint man ain wenig mer / das ich auch hie melden will / Der priester der sy gemacht hatt / der sagt er hab es durch gepet aines purgers getan / der kurzlichen tod ist (I, c. 4) – ein klarer Hinweis nicht nur auf Küchlin und seine offensichtlich bereits sehr populäre Reimchronik, sondern auch auf dessen Auftraggeber Peter Egen, der 1452 gestorben ist. Eine Besonderheit der Meisterlin-Überlieferung bildet in dieser Hinsicht der Cod. Aug. 59 der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg: Die noch ins 15. Jahrhundert datierte Handschrift bietet eine ordentliche Abschrift der Meisterlin-Chronik (sieht

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und so wird im nächsten Kapitel die Zerstörung Trojas rekapituliert, die mit dem Fazit endet, dass Augsburg bei der Zerstörung Trojas bereits in voller Macht gestanden habe, die Begründung und zeitliche Berechnung liefert Meisterlin z.T. dann im zweiten Buch seiner Chronik nach. Ganz klar setzt er sich sodann mit dem angeblichen Zug des Priamus an den Rhein auseinander: Die Geschichte Triers bildet einen weiteren Abschnitt – sie weicht von dieser These ab. Gleiches gilt für Köln, von wo sich die trojanischen Siedler ja angeblich ihre Frauen geholt haben: Nun sollen wir furbas sagen von köln /sevttemal vnd der reim macher spricht Sy habent ee weib von den kölnischen junckfrawen genomen (I, c. 6). Dies widerspreche gänzlich der geschichtlichen Überlieferung, da Köln schließlich von Agrippa erbaut und daher viel jünger sei: Es mag auch nit bestan das Augspurg gepawen sey von den edlen die geporn wurdent von den kölnischen junckfrawen / So doch z der zeit als Agrippa pauwet köln / Claudius straitt wider diese stat / die des selben mals ward genant VINDELICA / wan auff ain zeit / beschach der streit hie vnd köln pauwung (I, c. 6). Wie schon zuvor ist auch hier erneut ein Verständnis für die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschehensabläufe zu erkennen, die miteinander koordiniert werden müssen, um sie einem linearen Geschichtsverlauf unterzuordnen. Da dies nicht der Fall ist (oder vielmehr: Da Meisterlin stets Argumente sucht, die eine solche Gleichzeitigkeit widerlegen), kann der Ursprung Augsburgs von den Trojanern abgelehnt werden. Meisterlin lässt jedoch noch einige Argumente folgen, die weniger historisch, sondern vielmehr normativ sind: Die Herkunft des Adels Trojas wird in Zweifel gezogen, da viele von edlem Geschlecht heutzutage untugendhaft und übel seien, andere von geringen Verhältnissen dagegen sehr edel handelten (dies wird mit man davon ab, dass der Schreiber nach den ersten beiden Blättern der Vorrede zum ersten Kapitel hin unvermittelt von einer auf zwei Spalten wechselt), am Ende jedoch (fol. 102r) beinhaltet sie zusätzlich noch die Reimchronik Küchlins, die allerdings um Vor- und Nachrede (in der der Verfasser die Umstände der Entstehung und den Bezug zu Peter Egen erläutert) gekürzt ist und erst mitten im ersten Kapitel bei v. 55 einsetzt ([W]End Ir hören wie die erwirdig statt/ Augpurg von grund den anfang hatt) – und zwar auf einer neuen Lage und in einer anderen Hand. Vieles spricht daher dafür, dass die beiden Texte erst nachträglich zu einem Codex zusammengebunden wurden. Der Besitzereintrag auf dem Vorsatzblatt aus dem Jahr 1545 weist die Handschrift einem Matthäus Seybrecht aus Kaufbeuren zu. Das Interesse, beide Texte in einer Handschrift zu vereinen, scheint jedoch weniger in der gelehrten Auseinandersetzung Meisterlins mit der trojanischen Herkunftssage zu liegen, als vielmehr darin, prominente Versionen der Augsburger Stadtgründungsgeschichte zusammenzufügen. Die Vor- und Nachrede Küchlins mit der eher privaten Entstehungsgeschichte des Werks können darum in dieser Handschrift unberücksichtigt bleiben, wohingegen die Vorrede Meisterlins mit seiner Dedikation an die Räte hervorgehoben werden muss, wird hierin doch eine Begründung angekündigt, weshalb Augsburg der Vorrang vor allen anderen deutschen Städten gebührt. Dass die ausführliche Auseinandersetzung Meisterlins mit Küchlins trojanischer Herkunftserzählung schon bald aus dem allgemeinen Interesse verschwunden ist, zeigt nicht zuletzt der Druck von Melchior Ramminger aus dem Jahr 1522, welcher ja erst mit dem neunten Kapitel des ersten Buches beginnt und damit die wesentliche Argumentation Meisterlins gegen Küchlin unterschlägt, sondern vielmehr direkt mit der Herkunftsgeschichte von Japhet nach der Sintflut einsetzt.

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einigen Exempeln belegt); zudem stellt er auch mithilfe etymologischer Verfahren Überlegungen an, weshalb Deutschland in vielen Quellen mit Germania gleichzusetzen sei. Hier fehlen plötzlich quellenkritische Argumentationen, vielmehr wird normativ begründet, was von der trojanischen Abstammung des Adels zu halten ist – ein Argumentationsmuster, das ganz in der Tradition der Vormoderne steht. Nachdem Küchlins Ursprungsgeschichte einer trojanischen Gründung Augsburgs ausführlich widerlegt ist, muss Meisterlin nun noch einmal neu ansetzen und seine eigene Herkunftsgeschichte präsentieren. Grundlage und Anfang dafür bildet unter Berufung auf die Bibel die Sintflut, welche bekanntermaßen nur Noah mit seinen drei Söhnen überstanden habe. Sem und Japhet treten dabei als genealogische Gründerfiguren hervor (Chams Nachkommen bilden die Klasse der Knechte); die aus Sems Nachkommen hervorgegangenen Völker hätten sich allerdings nach der babylonischen Sprachverwirrung in alle Winde zerstreut. Auf diese Weise avanciert Japhet als Stammvater Europas; Meisterlin fügt etliche etymologische Ausdeutungen verschiedener Völkernamen hinzu, darunter auch die der Alemannen und Schwaben; in »eine[r] Art Völkerpsychologie«35 weist er jedem Stamm zusätzlich bestimmte Eigenschaften zu. Schon damit wird klar: Die Schwaben (gleich die Germanen) sind keine Einwanderer von außerhalb, von Troja oder sonstwo, sondern sie sind die Ureinwohner dieses Landes, die in direkter Linie von Japhet abstammen. Die Schwaben werden sodann im ersten Kapitel des zweiten Buches näher charakterisiert: Das selb volck was grob an seinenn sitten / doch so was es aber mit leiplicher sterck begabt / vnd mit grossem gemüt / ber traff es andervolck (II, c.1). Zunächst leben die Völker wie in einem goldenen Zeitalter, es gibt kein Unrecht und keine Feindschaft, doch das ändert sich, sodass mit zunehmenden Streitigkeiten und Kriegen die Errichtung einer Stadt mit Namen Vindelica (nicht Zisa, sondern der bekannte Name Vindelica wird also gleich an den Anfang gesetzt) als Rückzugsort am Zusammenfluss von Lech und Wertach notwendig ist, die jedoch nur schwach mit einem Wall und einem Graben befestigt wird. Das rächt sich, als die kriegerischen Amazonen (deren Herkunft Meisterlin im darauffolgenden Kapitel darlegt) unter ihrer Königin Marsepia ganz Asien und Europa mit Krieg und Eroberungszügen belegen und dabei auch bis zur Stadt Vindelica vordringen. Da die Schwaben waffentechnisch unterlegen sind – die Amazonen verwenden Streitäxte, deren Gebrauch sich daher später auch bei den Schwaben eingebürgert habe – werden sie zwar geschlagen, aber s wolten doch inen nicht vndertänig sein vnd ir freyhat behalten [...] / dar vmbso liessend sis in dz land / vnd wichen in das gepirg (II, c. 3). Auch Meisterlin streicht also den großen Freiheitsdrang der Augsburger »Urbevölkerung« heraus, den später auch die Römer zu spüren bekommen, wenn sie, wie es ja ebenso Küchlin schildert, Augsburg belagern und dabei vernichtend geschlagen werden. Die Beschreibung dieser Ereignisse bildet den Großteil des dritten

35

SCHNITH [Anm. 17], S. 498.

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Buchs in Meisterlins Chronik; hier mündet seine Herkunftsgeschichte in jene Tradition, die bereits durch das ›Excerptum‹ und Adalberts Prolog bekannt ist. Doch Meisterlin setzt bei seiner Darstellung der Ursprungsgeschichte nicht einfach nur andere Akzente; der Rückbezug auf Noah und seinen Sohn Japhet als Stammvater Europas ist schließlich ebenfalls eine weitverbreitete Tradition stammes- und nationengeschichtlicher Herkunftssagen.36 Er setzt sich vielmehr ausführlich mit der angeblichen trojanischen Abstammung der Augsburger auseinander, die von ihm schon deswegen angegriffen werden muss, da er es kaum für ehrenhaft hält, von Flüchtlingen abzustammen. Daher polemisiert er auch im zweiten Buch erneut gegen diese Ansicht und verteidigt vehement seine Version von der Gründung Augsburgs durch die Schwaben als Nachkommen Japhets sowie den Auseinandersetzungen mit den Amazonen, die er zunächst einer ihm schwer verständlichen lateinischen Quelle (nämlich Horaz) entnommen habe. Deren für ihn eher zweifelhafte Zuverlässigkeit kann er an der (erst vor kurzem in den humanistischen Kreisen wiederentdeckten) Schrift des Porphyrius, einem Horaz-Kommentar, überprüfen, die diese Angaben bestätigt.37 Der Nachweis einer genuinen Abstammung der Schwaben von dem Sohn Noahs kann daher nur bedeuten, dass die trojanische Abstammungsthese hinfällig ist: Aus dem wirt auch alles das zerstört das da von den Troyaner / wie sy die stat Augspurg gepawen haben gesagt wirt (II, c. 3). Diese Aussage kann Meisterlin noch weiter mit Fakten untermauern: Ausgehend von der Amazonenkönigin Marsepia, die Augsburg eingenommen hat, zeigt er die weitere Genealogie ihrer Königinnen auf, die er dann mit der griechischen Mythologie verbinden kann (vgl. das 4. Kapitel des dritten Buchs sowie zusammenfassend bereits den Schluss des vorangehenden Kapitels). Auch hier stehen ihm verschiedene Aussagen zur Verfügung: Die Argonautensage, vor allem aber der Kampf des Herkules mit den Amazonen hätten sich lange vor der Zerstörung Trojas ereignet; die Genealogie der Amazonenköniginnen zeige aber, dass zu diesem Zeitpunkt Augsburg schon bestanden habe (die Stadt ist ja bereits von Marsepia, zusammen mit Lampedo die erste ihrer Herrscherinnen, eingenommen worden). Vor allem aber kann er die Genealogie der Königinnen noch weiter verfolgen bis zu Penthesilea, die nach Homers ›Ilias‹ den Trojanern zur Hilfe gekommen und von Achill erschlagen worden ist: Die Zerstörung Trojas lässt sich also auch über die Reihe der Amazonenköniginnen zeitlich weit nach der Gründung Augsburgs einordnen.

36

37

Vgl. zur Tradition um die Nachkommen Japhets als Stammväter bei Meisterlin GERNOT MICHAEL MÜLLER, »Quod non sit honor Augustensibus si sicantur a Teucris ducere originem«. Humanistische Aspekte in der Chronographia Augustensium des Sigismund Meisterlin, in: Humanismus und Renaissance in Augsburg, hrsg. von DEMS. (Frühe Neuzeit 144), Berlin/New York 2010, S. 237– 273, hier S. 261f. Vgl. ebd. S. 250, zu den einzelnen Verhältnissen der Quellen genauer JOACHIMSOHN [Anm. 31], S. 33f., ebenso SCHNITH [Anm. 17], S. 508f.

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Natürlich bedient sich auch Meisterlin mythischer Erzählverfahren, wenn er über die Genealogie der Amazonenköniginnen eine Anbindung an deren mythische Vergangenheit sucht. Die Funktion von Genealogien ist es, die Macht der heiligen Ursprünge in einer Geschlechterkette zu vermitteln.38 Die Aufzählung genealogischer Reihen und die chronologische Anordnung von Stammbäumen evoziert jedoch zugleich eine narrative Linearität, die Meisterlin dazu dient, sie als Ausgangspunkt für halbwegs exakte Zeitberechnungen zu nutzen – Genealogie als Form geschichtlichen Erzählens: Nun merck wie vil geregiert haben / vor troer erstörung / bis auff Penthesileam / vnd prüff wie vil iar verlauffen seyent das die statt vindelica ist gepauwet worden / vor dem erstörn tro (II, c. 4). Meisterlin will auf diese Weise genau ausrechnen, wieviel Zeit zwischen der Gründung Roms und der Augsburgs liegen muss, nämlich über 600 Jahre, da ja allein Rom erst 455 Jahre nach der Zerstörung Trojas gegründet worden sei, und auch dann lässt sich in Bezug auf Augsburg eine verlässliche Aussage nur bis zum Erscheinen der Amazonen treffen: der streit der Amzones ist beschechen z der zeit da die kinder von Israhel wnten in der wüstevnder Mosi / oder Iosue / von Ihesus Cristus gepurd wol tausend vnd newn vnd fünffzig iar/ Also lang ist auch AUGSPURG gestanden (II, c. 4). Mit seinen genealogischen Berechnungen schafft Meisterlin also ein lineares, chronologisches und damit fast schon ›historisches‹ Geschichtsverlaufsmodell; die Gegenwart hat sich aus einer linearen Zeitfolge aus der Vergangenheit entwickelt. Auf diese Weise zeigt sich an Meisterlin scheinbar fast exemplarisch das veränderte Geschichtsbewusstsein des Humanismus, wie es JÖRG GARBER formuliert: Neben dem Beharren auf einer autochthonen Herkunft des eigenen Volkes verschiebt sich insbesondere der Geschichtsparallelismus von mythischer Abkunft und aktueller Gegenwart »zu einer endogenen Geschichtsverlaufstheorie«39. An die Stelle der Trojaner tritt Japhet, über den biblisch-heilsgeschichtliche Genealogie und pagane Herkunft zusammengeschlossen werden. Über Japhet führt einerseits die Herkunft der germanischen Stämme, andererseits ebenso die Herkunft der Trojaner.40 Besonders aber die Berechnungen Meisterlins über die Amazonenherrscherinnen und ihre Verbindungen zu anderen – für ihn historisch erachteten – antiken und biblischen Gestalten (Herkules wird z.B. mit Samson gleichgesetzt) hin zur Zerstörung Trojas und der Erbauung Roms, die er sogar mit konkreten Jahreszahlen untermauern kann, bestimmen das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit neu, so dass eine die Gegenwart identifikatorisch an die 38

39 40

Vgl. KLAUS HEINRICH, Zur Funktion der Genealogie im Mythos, in: Parmenides und Jona, hrsg. von DEMS., Frankfurt am Main 1982, S. 11–28, hier S. 13. GARBER [Anm. 20], S. 118. Vgl. ebd. S. 132. Eine solche Synthese zwischen Abstammung und Heilsgeschichte findet sich, wie GARBER betont, bereits in der mittelalterlichen Weltchronistik, darüber hinaus auch in der mhd. ›Kaiserchronik‹ als prominentes Beispiel, die sich wiederum des frmhd. ›Annoliedes‹ bedient: Hier laufen Heilsgeschichte und Weltgeschichte zusammen; vgl. ebd. S. 135f. Zu den an Noah und Japhet angebundenen genalogischen Bezugssystemen im spätmittelalterlichen Geschichtsdenken vgl. besonders MELVILLE [Anm. 18], S. 422–432.

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Vergangenheit bindende Kontinuität überführt wird in ein lineares Verlaufsmodell.41 Zugleich bleibt jedoch das Denken in genealogischen Systemen erhalten, es werden lediglich die Abstammungsschemata ausgetauscht (nicht mehr die Trojaner, sondern die Nachkommen Noahs sind die Stammväter Augsburgs). Legitimationsprinzipien wie Alter (Augsburg ist weit älter als Rom und Troja), herausragende Eigenschaften (die Schwaben gelten Meisterlin als mit leiplicher sterck begabt / vnd mit grossem gemüt; II, c. 1) und Erfolg (der Freiheitsdrang der Augsburger ist so groß, dass sie die römische Übermacht gänzlich vernichten) behalten ihre Gültigkeit, werden jedoch mit anderen, historisch verifizierbaren Bezügen versehen.42 Im Aufrechterhalten solcher Sinnsysteme zeigt sich, dass auch Meisterlin durchaus noch die Strukturen mythischer Vergangenheitsmodelle beibehält. Einerseits unterliegt seine Chronik dem Anspruch eines auf Linearität und chronologischer Nachvollziehbarkeit beruhenden geschichtlichen Erzählens, andererseits ist dieses Erzählen weiterhin von einem ursprungsmythischen Modell abhängig, das mithilfe genealogischer Reihen und Berechnungen an die Gegenwart angebunden wird. Die Ursprungserzählung des Küchlin lehnt Meisterlin vor allem wegen der chronologischen Widersprüche ab; seine eigene Herkunftsgeschichte muss er dadurch umso sorgfältiger von solchen Unstimmigkeiten freihalten. Darum benötigt er die komplizierten Berechnungen zum Alter Roms und Trojas gegenüber Augsburg, mit denen er die trojanische Herkunftsgeschichte zu widerlegen sucht, indem er Augsburg das höhere Alter zuweist. Dabei stößt er schließlich jedoch auf Grenzen, denn eine exakte Altersbestimmung ist ihm damit trotzdem nicht möglich: Eine Zeitrechnung ist erst ab den Kämpfen der Amazonen greifbar, die eigentliche Gründung liegt jedoch noch weiter zurück – und reicht damit wirklich in illo tempore, vor aller Zeit.43 Auch Meisterlin also hält zuletzt noch ein ursprungsmythisches Konzept der Stadtgründungsgeschichte aufrecht, lässt dieses jedoch, anders als Küchlin, in ein lineares Geschichtsverlaufsmodell einmünden. Die Anbindung an die mythische Vergangenheit, in die auch bei Meisterlin die Gründung Augsburgs verlegt ist, geschieht dabei über die Heilsgeschichte, indem Japhet als Stammvater Europas und der Schwaben eingesetzt wird; davon ausgehend befindet sich auch die eigentliche Gründung der Stadt in einer unbestimmten, mythischen »Urzeit«. Parallel zu diesem heilsgeschichtlich-mythischen Ursprungsmodell, das ganz gezielt eine aus der Vergangenheit resultierende Identitätslogik für die gegenwärtige Gesellschaft beinhaltet (nicht zuletzt wirken sich Freiheitsdrang und Stärke der Stadtgründer auch auf das Bürgertum der Gegenwart aus) ist aber auch das Erfassen verschiedener Ereignisse einer gleichen Zeitperiode (DUX spricht von einer »historischen Gleichzeitigkeit«) zu konstatieren, anhand derer die Konzeption der Küchlinschen Chronik in vielfältiger Weise widerlegt werden soll.

41 42 43

Vgl. GARBER [Anm. 20], S. 144f. Vgl. ebd. S. 154f. Vgl. JOACHIMSOHN [Anm. 31], S. 31, 34f.

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Diese Synchronität eines linearen Geschichtsbewusstseins einerseits und einer ursprungsmythischen Identitätslogik, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verklammert, setzt sich im weiteren Verlauf der ›Chronographia Augustensium‹ fort, auch wenn die Erzähllogik sich oberflächlich der ›chronologisch-historischen‹ Perspektive verpflichtet: Gerade das dritte Buch der Chronik berichtet wie erwähnt größtenteils von den Auseinandersetzungen mit den Römern und greift damit eine offensichtlich schon länger bestehende Augsburger Lokaltradition auf. Während bereits Küchlins Chronik als weitgehend getreue Übertragung von Adalberts Legendenprolog diesem Stoff verhältnismäßig viel Raum widmet, führt Meisterlin die Ereignisse als breit angelegte Erzählung aus, insbesondere die Schlachtenschilderung. Diese Ausführlichkeit begründet er mit der notwendigen Nachvollziehbarkeit der Ereignisse: Das eine soll sich jeweils aus dem anderen ergeben, er will eine objektiv nachvollziehbare, kausale Ereigniskette darstellen.44 Diese kausale Begründungslogik verdeckt jedoch wiederum eine (final geordnete) Identitätslogik mythischer Erzählverfahren. Denn gerade der offenkundig große Erfolg dieses Stoffes einer lokalen Umdeutung der Varus-Schlacht (der selbst in Ottos von Freising Weltchronik Aufnahme gefunden hat), resultiert nicht zuletzt in dem hohen Identifikationspotential für das städtische Bürgertum. Stellt die Gründungsgeschichte bereits heilsgeschichtliche Bezüge her und legt den Ursprung der Stadt vor alle Zeit und damit vor Rom und Troja, welche bereits als Bestandteil einer historischen Zeit angesehen werden und damit im Gegensatz zu Augsburg nicht mehr an der Exzeptionalität des Ursprungs partizipieren, so erweisen sich die Geschehnisse des dritten Buchs von Meisterlins Chronik nun als Vorbild und Bestätigung des gegenwärtigen städtischen Selbstbewusstseins. Es ist evident, wie stark Meisterlin in seiner Darstellung immer wieder auf das Selbstverständnis der Freien Reichsstadt anspielt: An das 5. Kapitel des zweiten Buchs, das den Wiederaufbau der Stadt nach den Amazonenkriegen beschreibt (nun zu Ehren der heidnischen Göttin Zisa, was Meisterlin Gelegenheit zu einem gelehrten Exkurs über die Entstehung und Ursachen der Abgötterei gibt) wird ein Lob der Schwaben gehängt: Das die Germany und die Teütschen vor auß Die Schwaben seyent die besten streitter / vnd das sy offt in ander land gezogen sind / vnd vom lob der Schwaben – so die Überschrift des 7. Kapitels. Die Schwaben werden darin als ritterliche und vorbildliche Kämpfer beschrieben, mit allen möglichen Tugenden und Künsten begabt.45 Besonders klar wird der reichsstädtische Bezug, wenn Meisterlin den Schwaben etwa attestiert, dass sie nie woltten zinspär sein / Sy hetten auch ain freye stat Vindelicam

44 45

Vgl. ebd. S. 47. Wobei Meisterlin Schwaben, Germanen und Deutsche mehr oder weniger gleichsetzt und somit eine Art früher Urgeschichte Deutschlands und der Deutschen vorlegt; vgl. ebd. S. 36f. Die Aussagen übernimmt Meisterlin den unterschiedlichsten antiken Quellen über germanische Stämme, die allesamt mit einem deutschen (und damit zugleich schwäbischen) Gesamtvolk identifiziert werden, so z.B. Lucan und Vegetius.

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Cizarim (II, c. 7): Das Wesen Augsburgs als Freie Reichsstadt hat ihr Vorbild bereits in ihrer Gründungsgeschichte.46 Von den Römern, die ansonsten ja als Vorbilder in Adel und Ritterschaft gelten, heben sich die Einwohner nicht nur dadurch ab, dass sie ihnen erfolgreich Widerstand leisten, sondern auch in den Motiven: Ganz und gar unritterlich beginnen die Römer ihre Eroberungszüge durch Europa nicht um Ehre, sondern einzig aus eigennützigen politischen Gründen: Also das die Römer nicht an in süchten grosse ere / sunder allein ir aigen hayl / wie sy sich beschirmen möchten vor in (III, c. 8). Das steht im schroffen Gegensatz zum zuvor so herausgehobenen Ehrgefühl der Schwaben und Deutschen (Sy stritten alle vast / welcher die ere behyelt; II, c. 7). Nach dem kurzen Intermezzo eines zwischen Cäsar und den Deutschen/Germanen ausgehandelten Friedens startet Augustus jene Belagerung Augsburgs, bei der die Römer denn auch den tapfer und ehrenvoll kämpfenden Augsburgern unterliegen, so dass erst ein zweiter Feldzug unter Drusus diese zur Aufgabe zwingen kann, freilich nicht, ohne ihnen erhebliche Sonderrechte einzuräumen. Die Stadt erhält nun ihren dritten und endgültigen Namen Augusta nach dem herrschenden römischen Kaiser, und die Übertragung dieses Namens unterstreicht die besondere Ehrenstellung der Stadt. Die bürgerlichen Kreise des 15. Jahrhunderts dürften gerade hierin eine wesentliche Legitimierung ihres Status erkannt haben, da auf diese Weise nicht nur die herausragende Ehre und die Ebenbürtigkeit mit Rom, sondern zugleich der freiheitliche Anspruch und dessen tugendhafte Verteidigung bereits vorgebildet sind: Die Identitätslogik eines so gestalteten Anfangs nimmt die weitere Entwicklung zur Gegenwart bereits vorweg – und dies ist keine historisch-humanistische, sondern eine vormodern-mythische Konzeption.47 Betrachtet man abschließend Meisterlins Chronik unter den hier dargestellten Aspekten der Stadtgründungsgeschichte, so scheinen ohne Zweifel die immer wieder beschworenen Merkmale des Frühhumanismus auf: Meisterlin sucht den Ursprung der Stadt bzw. ihrer Bevölkerung gerade nicht mehr herzuleiten aus einer Verbindung mit anerkannten Größen wie Rom oder Troja, eine Abstammung also, »die ihre Dignität aus der Qualität voraufgehender Geschichte eines ›Leitvolkes‹ der Weltgeschichte zieht«48, sondern vielmehr in einer autochthonen Herkunft, die allerdings über Japhet und Noah eine biblisch-heilsgeschichtliche Anbindung hat. Meisterlin erweist sich damit »als veritabler Vorläufer eines Diskurses, der nördlich der Alpen eigentlich erst um 1500 46

47

48

Verständnis und Stellung einer reichsunabhängigen Stadt mögen auch anderswo in der Schilderung der Varus-Schlacht vor Augsburg zur Geltung kommen, wenn etwa der griechische Königssohn Avar in die Hände der Schwaben fällt, die ihn trotz seines an der königlichen Kleidung erkennbaren Standes nicht schonen, sondern niedermetzeln: sunder sy wurdent nit bewegt von der künigklichen maiestat wegen (III, c. 2). Vgl. SCHNITH [Anm. 17], S. 512f., der (in Bezug auf spätere, auf Meisterlin aufbauende Stadtchroniken) treffend zugespitzt SCHMIDT [Anm. 12], S. 111 zitiert: »Die Stiftung setzt den Anfang und verhindert zugleich alle weitere Entwicklung, weil sie schon alles enthält, was seither dauernd erhalten wird.« GARBER [Anm. 20], S. 118.

Stadtgründungsmythos und Frühhumanismus

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deutliche Konturen gewinnt«49. Dieses Modell verteidigt er gegenüber früheren, die eine trojanische Abstammung der Stadt propagieren, vehement, und zwar mit einer fast schon quellenkritisch zu nennenden Methode. Anhand seiner vielfältigen und ganz unterschiedlichen Quellen, die ein gelehrtes Geschichtsbild offenbaren, versucht er, durch exakte Zeitberechnungen Widersprüche auszuräumen bzw. chronologische Unstimmigkeiten in den früheren Modellen zu erweisen. Hier zeigt sich ein Wandel von einem Geschichtsparallelismus, der (mythische) Vergangenheit und Gegenwart miteinander verklammert und unmittelbar aufeinander bezieht, und einem eher linearen Geschichtsbewusstsein, das kausale Relationen von aufeinanderfolgenden Ereignissen forciert und auch mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Ereignisse kalkuliert. Angesichts der spätmittelalterlichen Umbrüche kann ein solches Geschichtsbewusstsein, wie es der Frühhumanismus ausdrückt, für das städtische Bürgertum, aus dessen Reihen ja der Auftrag für diese Chronik stammt, zur Selbstvergewisserung seiner Stellung einen erheblichen Beitrag leisten.50 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sich Meisterlins Chronik in zahlreichen Punkten auch deutlich von derartigen Konzepten absetzt und bisweilen sogar – obwohl sie sich explizit davon abzugrenzen sucht – gleichermaßen Geschichtsmodelle und Erzählkonzeptionen einer als mythisch zu bezeichnenden Ursprungslogik verfolgt. Von den humanistischen Modellen des 15. Jahrhunderts unterscheidet sich Meisterlins Chronik nicht zuletzt dadurch, dass der Bezug auf die Antike hier eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der Vorbildcharakter der Antike als Erbe einer verlorenen Vergangenheit, die es wiederzubeleben gilt, ist insofern ausgeschaltet, als die eigentliche Stadtgründung ja gerade nicht als Rückgriff auf antike Ideale inszeniert ist. Vielmehr sind es die sonst so vorbildhaften Römer, die als Negativexempel den tugendsamen 49 50

MÜLLER [Anm. 36], S. 261; vgl. auch ebd. S. 254. Statt des Begriffs ›Frühhumanismus‹ möchte JOACHIMSOHN [Anm. 31], S. 60, lieber von einem ›scholastischen Humanismus‹ sprechen. Gerade in Bezug auf Meisterlin sowie andere humanistische Gelehrte im geistlichen Umfeld wird auch verstärkt der (freilich recht unspezifische) Terminus des ›Klosterhumanismus‹ genannt, vgl. etwa ROLF SCHMIDT, Reichenau und St. Gallen. Ihre literarische Überlieferung zur Zeit des Klosterhumanismus in St. Ulrich und Afra zu Augsburg um 1500, Sigmaringen 1985, hier S. 11–25. Vgl. auch schon PAUL JOACHIMSOHN, Frühhumanismus in Schwaben, in: DERS., Gesammelte Aufsätze. Beiträge zu Renaissance, Humanismus und Reformation, ausgewählt und eingeleitet von NOTKER HAMMERSTEIN, Aalen 1970, S. 149–247. Zu Kritik und Eingrenzungsversuchen des Begriffs des ›Klosterhumanismus‹ vgl. MÜLLER [Anm. 31], S. 17– 23, 48–55; vgl. auch DERS., Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg, in: MÜLLER [Anm. 36], S. 389–406, zu Meisterlin und seiner Beziehung zu Gossembrot vgl. S. 395–401. Am vehementesten plädiert MÜLLER [Anm. 36] für eine Vorwegnahme kulturgeschichtlicher Impulse und Denkfiguren des deutschen Humanismus durch Meisterlin; er möchte bei ihm vielmehr sogar eine Anbindung an den norditalienischen zeitgenössischen Humanismus erkennen, indem er nicht zuletzt Parallelen der Ursprungsgeschichten von Mailand und Florenz herausstellt, sowie Meisterlins leise Kritik an der angeblich trojanischen Herkunft Paduas: Meisterlin suche darin »den Anschluss an den Wettbewerb der italienischen Kommunen« und versuche, Augsburg darin »eine privilegierte Position in diesem zu verschaffen« (ebd. S. 268).

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Stadtbewohnern gegenübergestellt werden; die hier vorgeführten reichsstädtischen Ideale lassen sich gerade nicht auf die Antike, sondern vielmehr auf einen Ursprung in illo tempore zurückführen, einen Anfang, der aus aller Zeit und Zeitrechnung herausfällt und somit (im Vergleich zur so heftig kritisierten Konzeption Küchlins) erst recht mythisch genannt werden kann. Damit einher geht auch eine Erzähllogik, die ausgerichtet ist an einer Begründung bestimmter Tugenden und Ideale eines hochgebildeten spätmittelalterlichen und städtischen Bürgertums, nicht an einer objektiven Darstellung der Vergangenheit. Auch wenn sich Meisterlin um kausale und nachvollziehbare Ereignisstrukturen bemüht, ist es bei ihm ebenfalls die Macht des Anfangs, die Begründung und Identität für die Gegenwart setzt. Eine Erzählung, die Orientierung durch Identifikation stiftet, kann mit FRITZ STOLZ im weitesten Sinne als mythisch bezeichnet werden. Mythisch ist vor allem die Rationalität der Erzählung, ihre Handlungslogik.51 Diese ist von Anfang an ausgerichtet an einer Begründung der herausragenden Eigenschaften und Tugenden Augsburgs und seiner Bürger, sie zeichnet sich also durch eine ausgesprochene Finalität aus. Schon PAUL JOACHIMSOHN konstatiert, dass Meisterlin seine Quellen stets so auswählt, wie sie seine Argumentation bestätigen, sodass »ein sonderbarer Pragmatismus, eine Art umgekehrter Motivierung« entsteht.52 Seine Erzählung ist, trotz ihrer kausalen Verknüpfungen, auf dieses Ziel hin ausgerichtet, sie entfaltet eine explikative Logik, die das Ende, nämlich die Gegenwart der Rezipienten, mit der diese Chronik endet, an den Anfang der Handlung rückbindet. Das dürfte das Besondere an Meisterlins Konzeption ausmachen: dass sich mythische Ursprungslogik und lineares Geschichtsbewusstsein gegenüberstehen, dass humanistische Ansätze einer Quellenkritik dazu dienen, eben jene mythische Erzähllogik nachvollziehbar, ja nachrechenbar zu machen und rational zu verankern. So lässt diese Chronik bereits jenen Wandel in den Anfangstagen des Humanismus erkennen, der auch mit den enormen geistesgeschichtlichen Umwälzungen der Frühen Neuzeit noch nicht abgeschlossen ist, sondern schon vorausweist auf den Wandel von der Vormoderne zur Moderne: Noch ist bei ihm eine Ursprungslogik nach mittelalterlicher Tradition maßgebend, diese gründet jedoch bereits in humanistischer Gelehrsamkeit und, so paradox es klingt, in beinahe historischer Chronologie.53 Dass dieser Wandel beileibe nicht kontinuierlich ist, zeigt nicht nur die kurze Zeitspanne zwischen den beiden hier besprochenen Werken des Küchlin und Meisterlins, sondern auch die nur weni51

52 53

Vgl. STOLZ [Anm. 5], S. 84, der den Erzählvorgang als eine Transformation von einem labilen Ausgangspunkt zu einem stabilen Schluss begreift, welchem erst die Orientierungsleistung, die wirklichkeitssetzende Funktion zukommt: »Orientierung durch Identifikation«. JOACHIMSOHN [Anm. 31], S. 38. Vgl. nochmals das Resümee MÜLLERS [Anm. 36], S. 265: »Folglich ist bereits bei Meisterlin in Ansätzen jene Verbindung von autochthoner Geschichtskonzeption und geographisch-ethnographischer Beschreibung angelegt, die für die humanistische Historiographie um und nach 1500 so charakteristisch wird.«

Stadtgründungsmythos und Frühhumanismus

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ge Jahre später entstandene (und nicht von ungefähr anonyme) ›Chronik der Stadt Augsburg von der Gründung bis zum Jahr 1469‹,54 die Meisterlins Darstellung aufnimmt, jedoch wieder viel stärker eine an den mythischen Ursprüngen der Stadt ausgerichtete Begründungslogik verfolgt, welcher eine rechtsetzende Bedeutung zugesprochen wird. Das auffällige Interesse an exakten Zahlen- und Jahresangaben hat darin einen bestätigenden Charakter, kann aber kaum wie bei Meisterlin als Zeichen einer sich ändernden Geschichtsauffassung gesehen werden. Meisterlins Chronik hingegen synchronisiert förmlich mittelalterliches und humanistisches Geschichtsbewusstsein und befindet sich damit wahrlich auf der Schwelle zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Zumindest in Bezug auf seine ›Chronographia Augustensium‹ stellt sich Sigismund Meisterlin somit als Frühhumanist im Geiste des Mittelalters dar.

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Ediert bei FRENSDORFF [Anm. 17], S. 265–332. Vgl. dazu auch SCHNITH [Anm. 17], S. 511–513.

Caesar als Integrationsfigur im Mittelalter? von Almut Suerbaum

Verba et facta: Ein Staatsmann als Autor Caesar ist uns präsent wie kaum eine andere Figur der Antike, und zwar auf ganz unterschiedlichen Diskursebenen. Bemerkenswert ist zunächst, wie häufig Caesar in Bereichen der Alltags- und Gegenkultur als Figur auftritt: Im angelsächsischen Raum ist er in den Thrillern von Robert Harris als Gegenspieler Ciceros zum klassischen »baddy« avanciert, im Lateinunterricht deutscher Sekundarschulen gehört ›De Bello Gallico‹ der sprachlichen Klarheit wegen zur einführenden Lektüre, wogegen die bandes dessinés Caesar als eher verknöcherten Gegenpart zum witzig-gewandten Gallier Asterix entwerfen.1 Die Strahlkraft des Names scheint in populären Etymologien sogar dort nachhaltig zu wirken, wo es nachweisbar keine direkte Verbindung zur Person Caesars gibt, so etwa bei den Begriffen ›Kaiserschnitt‹ und ›Caesar salad‹.2 Caesar ist, das machen die 1

2

Rezeptionsphänomene in der Kultur der Gegenwart mit aktuellen Beispielen dokumentiert MARIA WYLE, Caesar: A Life in Western Culture, London 2007; vgl auch DIES., A Twenty-First-Century Caesar, in: A Companion to Julius Caesar, hrsg. von MIRIAM GRIFFIN (Blackwell Companions to the Ancient World), Oxford 2009, S. 441–455, besonders zum Rekurs auf Caesar in aktuellen politischen Debatten um die Legitimtät des Irakkriegs, und STEVEN BIEL, Down With the Old Canoe. A Cultural History of the Titanic Disaster, New York/London 1996. Caesars Stilkunst wird bereits von seinem Zeitgenossen Cicero hervorgehoben (›Brutus‹ 262); vgl. WILLIAM WENDELL BATSTONE, CYNTHIA DAMON, Caesar’s Civil War (Oxford Approaches to Classical Literature), Oxford 2006; KURT RAAFLAUB, Bellum Civile, in GRIFFIN [Anm.1], S. 175–191, hier S. 183f., mit Hinweis auf die ältere Forschung. Im Sinne der weiten Definition handelt es sich bei diesen Ableitungen also durchaus um Mythen; vgl. ROBERT A. SEGAL, Myth. A Very Short Introduction (Very Short Introductions 106), Oxford 2004, hier S. 6, der den mythischen Status an GRICEschen Happiness Conditions festmacht, nicht aber am Wahrheitswert: I propose that, to qualify as myth, as story, which can of course express a conviction, be held tenaciously by adherents. But I leave open-ended whether the story must in fact be true. In dieser Orientierung daran, wie nachhaltig eine Geschichte für wahr gehalten wird, ohne dass ihr Wahrheitswert Kriterium der Beurteilung wäre, unterscheidet sich SEGAL von ANDRÉ JOLLES, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Sächsische Forschungsinstitute in Leipzig 2, Neugermanistische Abt. 2), Tübingen 1930, der den

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Beispiele deutlich, eine Faszinationsfigur, selbst dort, wo historische Kontexte kaum noch wahrgenommen werden. Gleichzeitig spiegeln diese ganz unterschiedlichen Facetten des populären Caesarbildes Aspekte der wissenschaftlichen Diskussion, denn auch in der gelehrten Auseinandersetzung mit der Figur Caesar ist bereits seit der Antike eine Spannung zwischen ganz unterschiedlichen Perspektiven ersichtlich: Caesar als ein Politiker, dessen Rolle als Handlungsträger schon in der eigenen Generation kontrovers beurteilt wird, ist Gegenstand der antiken Historiographie; gleichzeitig aber tritt er als Autor und Beobachter seiner Zeit in den Blick. Diese Doppelung subjektivierender und objektivierender Perspektiven ist bereits in der sprachliche Form der ›commentarii‹ angelegt: Sie schwankt zwischen distanzierendem Bericht in der dritten Person, wie er der Gattung der vorläufigen, nah am Geschehen verfassten Notizen entspricht, und Einschüben in der ersten Person, die in der Antike als Kennzeichen der stärker literarisierten Gattung der historia gelten.3 Doch diese Doppelrolle als Akteur und Beobachter, die antiken Zeitgenossen genauso selbstverständlich Teil der Biographie ist wie der modernen Rezeption, war im Mittelalter weitgehend unbekannt.4 Zu beobachten ist stattdessen eine Rezeption auf unterschiedlichen Ebenen, bei denen die Überlieferung der vom Autor Caesar verfassten Schriften fast völlig getrennt von einer Auseinandersetzung mit der historischen Person verläuft. Wo sich historiographische und fiktionale Texte der Figur Caesar widmen, diskutieren sie die Taten eines Heerführers und Herrschers. Caesar gehört damit auch im Mittelalter zu den in bestimmten Kreisen gut bekannten Figuren der Antike, doch kennt man ihn als Politiker, oder genauer: als Herrscher, nicht aber als Autor.

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Mythos als Form der »Stabilisierung« von Wissen sieht; vgl. UDO FRIEDRICH, BRUNO QUAST, Mediävistische Mythosforschung, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von UDO FRIEDRICH, BRUNO QUAST (Trends in Medieval Philology 2), Berlin 2004, S. IX–XXXVII, hier S. XI, zum Zusammendenken von absolutem Anfang und der bei CASSIRER mit dem Begriff der Heiligkeit belegten Beständigkeit und Ganzheit. Vgl. CHRISTINA S. KRAUS, Bellum Gallicum, in: GRIFFIN [Anm.1], S. 159–174, zur Forschungskontroverse darüber, ob diese Differenzierung zwischen politischem Akteur und Erzähler als Nachweis von epistemic objectivity zu deuten ist oder eher als Strategie der indirekten Selbstrühmung. Materialreich, wenn auch tendenziös, noch immer FRIEDRICH GUNDELFINGER (aka GUNDOLF), Caesar in der deutschen Literatur, Diss. Berlin 1903, Druckfassung (Palaestra 33), Berlin 1904, Unv. Nachdruck New York 1967; die spätere Bearbeitung unter dem Titel: Caesar. Geschichte seines Ruhms, Berlin 1924, und deren englische Version, The Mantle of Casar, übersetzt von JACOB WITTMER HARTMANN, New York 1928, spitzt die ideologische Vereinnahmung zu, verzichtet dabei bezeichnenderweise aber auf eine Darstellung der mittelalterlichen Rezeption fast völlig. Zur europäischen Rezeption im Mittelalter FRANZ BRUNNHÖLZL, Caesar im Mittelalter, LMA, Bd. 2, München 1983, Sp. 1352f.; ALMUT SUERBAUM, The Middle Ages, in: GRIFFIN [Anm.1], S. 317–334. Zur französischen Rezeption in the ›Fait des Romains‹ vgl. außerdem JEANETTE BEER, A Medieval Caesar (Études de philologie et d’histoire 30), Genf 1976 und GABRIELLE SPIEGE, Romancing the Past. The Rise of Vernacular Prose Historiography in Thirteenth Century France (The New Historicism 23), Berkeley 1993.

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Diese Dissoziierung der in der Antike eng miteinander verknüpften Rollen ist insofern interessant, als sie in einer veränderten Rezeptionssituation neue Gewichte setzt, gleichzeitig aber auf Tendenzen reagiert, die in Caesars Schriften bereits angelegt sind. Die altphilologische Forschung der jüngeren Zeit hat unterstrichen, dass Caesars eigene Geschichtschreibung durchaus mythisierende Züge hat, vor allem dort, wo sie immer wieder Anklänge an die Strukturierung homerischer Epen versucht.5 Obschon also die ›commentarii‹ mithilfe literarischer Stilisierung einen Mythos Caesar zu schaffen versuchen, bleiben diese Elemente in der Rezeption der Spätantike ohne breitere Wirkung. In mittelalterlichen Diskursen gibt es daher zwar vielfach eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des positiv oder negativ gewerteten »großen Mannes« Caesar, nicht aber Reflexionen auf die in seinen Schriften angelegte Selbststilisierung, die dieses Bild bereits zu Lebzeiten gefördert hatte. Wenn im Folgenden einige Aspekte dieser mittelalterlichen Appropriation einer historischen Figur verfolgt werden, so mit dem Ziel, diese Unterschiede der Perspektive anhand einiger Beispiele zu dokumentieren.

Mythos Caesar? Daran, dass Caesar für Autoren und Leser des Mittelalters eine gewisse Faszination hatte, kann es keinen Zweifel geben, und die Breite der Überlieferung in ganz unterschiedlichen Gattungen und über den gesamten europäischen Raum hinweg unterstreicht dies. Solche Phänomene werden gelegentlich mit dem Begriff ›Mythos‹ belegt, auch wenn die Warnungen vor einer solch losen Verwendung des Begriffs Legion sind.6 Zu fragen allerdings ist, ob diese in ganz unterschiedlichen Diskursen nachweisbare Auseinandersetzung mit der Person Caesar in mittelalterlichen Texten und Bildern unter Rekurs auf Mythoskonzepte angemessen beschreibbar ist. Kaum ein anderer Begriff ist in der Forschungsdebatte der letzten Jahre intensiver aufgegriffen und schärfer umstritten worden, und es kann hier nicht darum gehen, den Versuch einer neuerlichen Mythosdefinition zu liefern oder aber den Kanon der skeptischen Stimmen zu erweitern, »ob mediävistische Analysen die Vokabel ›Mythos‹ wirklich benötigen.«7 Mediävisti5

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Vgl. KRAUS [Anm. 3], S. 165, zum Phänomen der Mythisierung als einem Prozess in which he accommodates unfamiliar, unique experience in a distant land to patterns of speech and thought already understood and accepted by a Roman audience. SUSANNE BÜRKLE, Erzählen vom Ursprung. Mythos und kollektives Gedächtnis im Annolied, in: FRIEDRICH, QUAST [Anm. 2], S. 99–130, hier S. 100, verweist auf die Schwierigkeit, zwischen der Pluralität der wissenschaftlichen Theoriebildung einerseits und alltagssprachlich unverbindlicher Assoziation anderseits eine präzise Bestimmung zu leisten, die mittelalterlichen Texten und ihren Kontexten gerecht wird. Vgl. auch BERND BASTERT, Einleitung, in: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos, hrsg. von DEMS., Tübingen 2004, S. IX–XVII. So unter Verweis auf die von JAUß und KIENING vertretene Skepsis BENT GEBERT, Beobachtungsparadoxien mediävistischer Mythosforschung, Poetica 43 (2011), S. 19–61, hier S. 23, der einen

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sche Untersuchungen der jüngsten Zeit neigen in dieser Frage zu Polarisierungen, wenn sie entweder die radikale Andersartigkeit mittelalterlich-christlicher Kultur postulieren, innerhalb derer der Mythos obsolet geworden sei, oder aber das Mittelalter als Kultur vorrationaler Begriffslosigkeit zum Inbegriff des Mythischen machen und der Rationalität des Logos gegenüberstellen.8 Im Kontext dieser Kontroversen stellt die Rezeption antiker Texttraditionen in den europäischen Volkssprachen einen interessanten Testfall dar, da es sich bei den um die Figur Caesar rezipierten Stoffen in aller Regel zwar um Erzählkerne mit antiken Quellen handelt, doch sind diese Vorlagen nicht Literarisierungen mythologischer Stoffe, sondern historiographische Berichte mit gelehrter Aufbereitung in der Form von Kommentar, ›Accessus‹ und Glossierung.9 Allerdings weist die lange Traditionskette auch darauf hin, dass wir hier Akte wiederholten Umerzählens von Stoffen greifen, eines Prozesses also, der gelegentlich als Ausweis mythischer Strukturen gilt.10 Doch wo solche Verfahren des Umerzählens

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rasanten Überblick über die Theoriekonzepte jüngerer mediävistischer Arbeiten sowie ihrer jeweiligen »blinden Flecken« der unausgesprochenen Vorannahmen liefert. Geleitet wird diese Analyse von einer Beobachtung LUHMANNs, der auf die inhärenter Paradoxie der zugrundeliegenden Rationalitätskonzepte hinweist: European rationality distinguishes itself from other comparable semantics by its use of distinctions, NIKLAS LUHMANN, Observations on Modernity (Writing Science), Stanford 1998, S. 23; vgl. WILLIAM RASCH, Niklas Luhmann’s Modernity. The Paradoxes of Differentiation (Cultural Memory in the Present), Stanford 2000, S. 11f. Religionssoziologische und ethnologische Studien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts haben den Blick für den Zusammenhang zwischen ritueller Praxis und mythischen Denkformen geschärft; eine kritische Sichtung der Ansätze von JAMES G. FRAZER und ihrer Rezeption in der Ritualtheorie RENÉ GIRARDs bei SEGAL [Anm. 2], S. 61–78. In literaturwissenschaftlich orientierten Diskursen wird diese vor allem in Diskussionen um Formen des geistlichen Spiels virulent, am schärfsten in der Kontroverse zwischen RAINER WARNING, Funktion und Struktur. Die Ambivalenzen des geistlichen Spiels (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 35), München 1974 und FRIEDRICH OHLY, Rezension, Romanische Forschungen 91 (1979), S. 111–141, um das Verhältnis von Mythos und Kerygma; vgl. dazu WALTER HAUG, Rainer Warning, Friedrich Ohly und die Wiederkehr des Bösen im geistlichen Spiel des Mittelalters, in: DERS., Die Wahrheit der Fiktion, Tübingen 2003, S. 650–663; JAN-DIRK MÜLLER, Verabschiedung des Mythos. Zur HagenEpisode der Kudrun, in: FRIEDRICH, QUAST [Anm. 2], S. 197–217 und BRUNO QUAST, Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit (Bibliotheca Germanica 48), Tübingen/Basel 2005. Zur Bedeutung von ›Accessus‹ und Kommentar in spätantiker und mittelalterlicher gelehrter Rezeption antiker Texte vgl. ALASTAIR MINNIS, Medieval Theory of Authorship. Scholastic Literary Attitudes in the Later Middel Ages, Aldershot 21988; ALMUT SUERBAUM, ›Litterae et mores‹. Zur Textgeschichte mittelalterlicher Aviankommentare, in: Schulliteratur im späten Mittelalter, hrsg. von KLAUS GRUBMÜLLER (MMS 69), München 2000, S. 383–434. So HANS BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 62001, S. 40; vgl. GEBERT [Anm. 7], S.48–50, mit kritischer Stellungnahme zu LENA BEHMENBURG, Philomela. Metamorphosen eines Mythos in der deutschen und französischen Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 15), Berlin/New York 2009. GEBERT fordert vor allem, zwischen dem »kulturanthropologi-

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untersucht werden, dient bezeichnenderweise meist Ovid als Beispiel, dessen ›Metamorphosen‹ BLUMENBERGs Prinzip »marginaler Variationsfähigkeit« zum strukturbildenden Moment erheben.11 In der Retextualisierung der Taten Caesars im Medium volkssprachiger Texte dagegen greifen wir Prozesse eines Transfers, der in seiner Vermitteltheit sichtbar gemacht und oft explizit an die Bedingungen von Schriftlichkeit und gelehrter Tradition rückgebunden wird.12 Ob und wie weit Mythos und Historiographie einander ausschließen oder aber im Gegenteil historiographisch-genealogisches Erzählen dort Wissen sichert, wo mittelalterliche Wissenschaft an ihre Grenzen stößt, wird dabei genauer zu untersuchen sein.13 Auch in einem zweiten Aspekt dürften sich die mittelalterlichen Versionen des ersten Imperators als markanter Kontrast zu mythologischen Erzähltraditionen erweisen, da in ihnen sowohl genealogische Modelle wie Ursprungserzählungen eine wichtige Rolle spielen.14 Allerdings möchte ich zur Diskussion stellen, ob die über den gesamten europäischen Raum verbreiteten Auseinandersetzungen mit solchen Ursprungserzählungen die Postulierung eines universalen Modells von Genealogie erlauben oder ob nicht vielmehr in der Vielfalt der Perspektiven eine Distanz der mittelalterlichen Bearbeiter und Leser oft greifbar bleibt. Aufgabe dieses Beitrags wird es sein, solche Spuren einer Distanznahme nachzuweisen. Wenn ich im Folgenden drei Beispiele vormodernen Umgangs mit Figur und Texten Caesars vorführe, so dient diese Auswahl dazu, an drei je unterschiedlichen Diskursen der Frage nachzugehen, wie weit in ihnen die Frage nach dem etwaigen mythischen Status des Helden Caesar thematisiert wird. Damit möchte ich zum einen der Versuchung vorbeugen, jedes Wiederaufgreifen antiker Stoffe ohne Weiteres als mythisch zu werten. Zum andern aber dürfte anhand der hier ausgewählten Beispiele deutlich werden, in welcher Weise mittelalterliche Texte selbst über die Geschichtlichkeit beziehungsweise Überzeitlichkeit ihres Gegenstandes reflektieren. Zur Diskussion steht dabei allerdings auch, wie stark in der Forschungsgeschichte solche Überlegungen geleitet sind von einer a priori gesetzten Epochenwende vom Mittelalter zur Neuzeit, die

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schen Deutungsmühen des Mythenerzählens« und literarischen Intertextualitätsbeziehungen stärker zu differenzieren (S. 50). Zur Sonderstellung Ovids in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Verfahren intertextueller Referenz vgl. NIKLAS HOLZBERG, Ovid. Dichter und Werk, München 22005; ALMUT SUERBAUM, ›Ovidius christianus‹. Helius Eobanus Hessus in der Tradition der ›Heroides‹Rezeption seit dem Mittelalter, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. von NICOLA MCLELLAD, HANS-JOCHEN SCHIEWER, STEFANIE SCHMITT, Tübingen 2008, S. 89–103. Vgl. zu diesen Prozessen die Beiträge des Bandes von GRUBMÜLLER [Anm. 9]. FRIEDRICH, QUAST [Anm. 2], S. XXXIII; vgl. GERD ALTHOFF, Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter, in: Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins 3, hrsg. von HELMUT BERDING (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1246), Frankfurt am Main 1996. FRIEDRICH, QUAST [Anm. 2], S. XXXIIf., verweisen auf die zentrale Bedeutung von genealogischen Modellen für mittelalterliche Zeitvorstellungen und sehen eine Entwicklung »der« Genealogie zum »universalen Modell in den mittelalterlichen Ordnungen des Wissens« (S. XXXIII).

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unausgesprochen hinter Gegenüberstellungen von Mythos und Logos oder Mythos und Geschichtlichkeit stehen.15 Aus diesem Grund ist die auffällige Dissoziation des Autors Caesar vom Staatsmann in mittelalterlichen Rezeptionszeugnissen ein so interessantes Paradigma, da sich an ihm die Ausdifferenzierung und spätere Wiederzusammenführung unterschiedlicher Diskurse exemplifizieren lässt.

Antikenrezeption zwischen Aneignung und Distanz: Caesar im Mittelalter Worum also geht es, wenn in mittelalterlichen Texten und kulturellen Zeugnissen die Figur Caesar verwendet wird? Auffällig ist zunächst die Vielschichtigkeit der Überlieferung: Caesar hat seinen Platz in historiographischen Texten genauso wie in höfischen Erzählungen, in Texten wie in vornehmlich ikonographischen und erst sekundär textierten Traditionen, in gelehrten Kommentaren wie in volksprachigen narrativen Texten. Schon ein kursorischer Überblick lässt allerdings bestimmte Konturen hervortreten. Wo die antike Rezeption Caesars Rolle als Stratege und Heerführer in den Vordergrund rückt, gilt das Interesse mittelalterlicher Bearbeiter eher dem Herrscher und Städtegründer, so dass Caesar im anglo-normannischen Raum zum Anknüpfungspunkt nationaler Identität und Gegenpol des Königs Artus avanciert. Solche Situierungen gehen dabei schon früh einher mit einer explizit poetologischen Diskussion über den je unterschiedlichen Status der Materie; im prominentesten Beispiel aus der Zeit um 1200 unterscheidet Jean Bodels ›Chanson de Saisnes‹ drei Formen der literarischen matière voneinander, wobei epische Stoffe zur Geschichte Frankreichs ihm als wahr gelten und damit von den nur unterhaltenden Artuserzählungen der matière de Bretagne einerseits und den belehrenden Stoffen der matière Romain anderseits differenziert werden.16 Allerdings verdeckt diese scheinbar scharfe kategoriale Differenzierung die Tatsache, dass die Erzählstoffe gerade nicht in Reinform vorkommen, sondern in fast allen Fällen zwischen diesen Kategorien anzuordnen sind: Caesar etwa kann als Begründer des Kaisertums Teil der nationalen Geschichte sein, die eine direkte Linie vom antiken Rom zu den Herrschaftsformen der mittelalterlichen Gegenwart zieht, gleichzeitig aber in der Gegenüberstellung mit König Artus Teil einer höfischen Erzähltradition werden, wie sie 15

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Eine solche dichotome Gegenüberstellung prägt, bei aller Differenziertheit der Mythostheorie, die Untersuchungen BLUMENBERGs; vgl. JÜRGEN GOLDENSTEIN, Zwischen Texttreue und Spekulation. Hans Blumenbergs Hermeneutik des geschichtlichen Hintergrunds am Beispiel des Spätmittelalters, in: »Herbst des Mittelalters«? Fragen zur Bewertung des 14. und 15. Jahrhunderts, hrsg. von JAN A. AERTSEN, MARTIN PICKAVÉ (Miscellanea Mediaevalia 31), Berlin/New York 2004, S. 37– 54. Zu Jean Blodel und seiner Kategorisierung im Kontext einer mittelalterlichen Diskussion um translatio: RENATE BLUMENFELD-KOSINSKI, Reading Myth. Classical Mythology and its Interpretation in Medieval French Literature (Figurae), Stanford 1997, hier S. 5f.

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die ›Roman d’Eneas‹ repräsentiert. In der deutschsprachigen Literatur fehlt eine so explizit terminologische Reflexion, doch markieren auch hier die Übergänge zwischen Geschichtsschreibung, höfischem Erzählen und Antikenroman ein Spannungsfeld, in dem Erzählungen über eine von der Gegenwart der Leser unterschiedene Vorzeit sich der Diskussion darüber aussetzen, ob sie als Tatsachenbericht Wahrheitsanspruch haben oder allein als wahrhaftig oder ethisch vorbildhaft zu rechtfertigen sind. Innerhalb dieses Spannungsfeldes gibt es dabei unterschiedliche Pole. Wo die Geschichtserzählungen Caesar als Vorläuferfigur mittelalterlicher Herrscherdiskurse präsentieren, ist ein Bewusstsein um die Geschichtlichkeit der Figur dominant. In der Bildtradition der ›Neuf Sages‹/›Nine Worthies‹ dagegen wird Caesar zur exemplarischen Figur des guten Menschen und zum überzeitlich gültigen ethischen Vorbild.17 Beide Ausprägungen der Figur manifestieren prominente mittelalterliche Denkmodelle: Die Diskussion um ideale Herrschertugenden trägt zur Entwicklung politischer Diskurse bei, während die Verkörperung von Idealen in repräsentativen Beispielfiguren im Zeichen der Vermittlung ethischer Kategorien in praktische Handlungszusammenhänge steht. Zu fragen wird sein, in wie weit in dieser Hinsicht der Humanismus eine deutliche Zäsur markiert, so wie dies für den Antikenroman postuliert wird – oder anders, wie weit der Hang zum »Mediaevalisieren«, also der »Anpassung an mittelalterliche Verhältnisse« als Differenzkriterium zwischen mittelalterlichen Romanen einerseits und »humanistischer Übersetzungsliteratur und frühneuzeitlicher Bearbeitungen antiker Liebes- und Reiseromane« andererseits angesetzt werden kann.18 Während die Antikenromane ein Korpus narrativer Texte bilden, das nach seinem Stoff bzw. Handlungsort definiert ist, sich auf schriftliche Quellen beruft und so nach dem Ausweis Jean Bodels bereits von mittelalterlichen Autoren als homogen wahrgenommen wird, ist die hier vorgestellte Überlieferungsreihe disparater, da sie sich nicht auf Texte und Bezüge zwischen Texten beschränkt. Wir erfassen damit Formen kulturellen Wissens, die in ganz unterschiedlichen Gattungen und auch über reine Texttraditionen hinaus im europäischen Raum immer wieder evoziert werden, wobei man neben gelehrt-schriftgebundenen Tradierungswegen wohl auch mit nicht an die Schriftlichkeit gebundenen Strängen der Überlieferung zu rechnen hat, wie sie in der Bildtradition der ›Neuf Preudhommes‹ bzw. ›Neuf Sages‹/›Nine Worthies‹, vielleicht auch in Formen regionaler Sonderüberlieferung greifbar werden.19 Zwischen den Bereichen von Latein und Volkssprache, Text und Bild, schriftlicher und mündlicher Überlieferung finden, so soll gezeigt werden, ganz unterschiedliche Formen von Austauschbewegungen statt. Im Folgenden werden drei Ausprägungen der Caesar-Figur vorgestellt, die als Modelle für 17 18

19

BRUNNHÖLZL [Anm. 4], Sp. 1352f.; GUNDELFINGER [Anm. 4]; SUERBAUM [Anm. 4], S. 321–325. So ELISABETH LIENERT, Deutsche Antikenromane des Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 39), Berlin 2001, hier S. 9. Zur Bildüberlieferung vgl. Présènce de Césare. Actes du colloque des 9–11 decembre 1983. Hommage au doyen MICHEL RAMBAUD, hrsg. von MICHEL RAMBAUD, RAYMOND CHEVALLIER (Caesarodunum 20. Numéro special), Paris 1985.

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je unterschiedlichen Umgang mit Geschichts- und Texttraditionen im europäischen Raum dienen.

Caesar als Herrscher Caesar als historische Herrscherpersönlichkeit ist Thema mittelalterlicher Schulbildung, allerdings nicht auf Grundlage seiner eigenen Schriften. Im Gegenteil: Caesar markiert eine der großen Lücken im System der mittelalterlichen auctores, und anders als etwa Vergil oder Ovid ist er im Kanon mittelalterlicher Schulbildung nie direkt vertreten, sondern allein vermittelt über die Werke Lucans, des zwei Generationen jüngeren Historiographen.20 Lucans ›De bello civile‹ wird so zum Standardhandbuch römischer Geschichte, hinter dem Caesars eigene Schriften völlig in Vergessenheit geraten. Dabei wird der Lucantext auf zweifache Weise genutzt, denn er bietet einen Bericht über bestimmte Ereignisse, die in oft deutlich satirischer Weise kommentiert werden, die begleitenden Paratexte, in erster Linie ›Accessus‹ und Kommentar, lenken darüberhinaus die Lektüre. Der ›Dialogus super auctores‹ des Konrad von Hirsau ist ein Beispiel dafür, wie auf diese Weise die Fokussierung auf den Herrscher Caesar vollzogen wird. In Konrads Dialog zwischen einem Schüler und seinem Lehrer erhält die Person Caesars eine zentrale Stellung, so dass der Bürgerkrieg, einer der Angelpunkte in der Geschichte der römischen Republik, nicht als politische Auseinandersetzung um unterschiedliche Staatsformen, sondern vielmehr als Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Caesar und Pompeius präsentiert wird: Er ist, so erklärt der Magister, bellum quod erat inter Caesarem et Pompeium.21 In einer solchen Darstellung wird Caesar neben Pompeius zur Schlüsselfigur römischer Geschichte. Seine Rolle in diesem Bürgerkrieg, der Vater gegen Sohn, Bruder gegen Bruder gestellt habe, beurteilt Konrads Magister dabei allerdings ambivalent – das entspricht der Tendenz Lucans, der dem Objekt seiner Biographie kritisch gegenübersteht. Der mittelalterliche ›Accessus‹ fasst diese kritische Sicht in den Worten des Magisters konzis, wenn er den Bürgerkrieg auf Caesars Geltungsbedürfnis zurückführt: Maxima vera causa belli huius erat, quod Caesar nullum habere voluit equalem. (›Dialogus super auctores‹, Z. 1242) Auch in dieser Formulierung ist im Vergleich zur antiken Diskussion eine Akzentverschiebung deutlich, denn zur Debatte steht hier nicht, wie in der Antike, die ethische Beurteilung verschiedener 20

21

Die Kommentierung mittelalterlicher Caesarhandschriften dokumentiert BIRGER MUNK OLSEN, Catalogue des manuscrits classiques latins copiés du ixe au xiie siècle, 3 Bde., Paris 1982–1989. Zu den kanonischen auctores mittelalterlicher Schullektüre GÜNTER GLAUCHE, Schullektüre im Mittelalter, München 1974; NIKOLAUS HENKEL, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, mit einem Verzeichnis der Texte (MTU 90), München 1988; SUERBAUM [Anm. 9]. Accessus ad Auctores. Bernard d’Utrecht. Conrad d’Hirsau. Dialogus super auctores, hrsg. von ROBERT B. C. HUYGENS, Leiden 1972, hier S. 110.

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Staatsformen, also die Frage danach, ob Alleinherrschaft gegenüber der demokratischen Ordnung, die sie verdrängt, politisch inferior sei, sondern eher die Legitimität der Mittel, mit denen sie erreicht wird, aber auch die ethische Beurteilung des Herrschers. Lucans ›Pharsalia‹ liefern neben dem ›Bellum Civile‹ damit die Basis für eine kritische Auseinandersetzung mit positiven und negativen Modellen von Herrschaft.22 Indirekte Konsequenzen eines solch kritischen Blicks auf den Tyrannen Caesar sind auch dort noch nachweisbar, wo der Name Caesar kaum fällt, sondern nur als intertextuelle Anspielung präsent ist: Walther de Chatillons ›Alexandreis‹ artikuliert im Kontext der Kontroverse um Kirchenreform und Kreuzzug am Hof Philippe Augustes Kritik an den absoluten Machtansprüchen eines Herrschers, der wie Alexander alle Zeichen seiner Begrenztheit ignoriert.23 Schlüsselbegriff der intertextuellen Bezugnahme ist dabei das Bild des vaesanus, mit dem Lucan in den ›Pharsalia‹ Alexander bezeichnet, gleichzeitig aber auf die Ruhmsucht Caesars anspielt, der das Grab Alexanders besucht. In der ›Alexandreis‹ dagegen ist der verdiente Tod des seine Grenzen überscheitenden Alexander inszeniert als göttlicher Akt, der die Zerstörung Roms verhindert und damit heilsgeschichtliche Konsequenzen hat.24 Ob in dieser antithetischen Bezugsstruktur eine panegyrische Überhöhung oder eher das Produkt einer »Kultur der Mehrdeutigkeit« des Hochmittelalters zu sehen ist, bleibt in der Forschung umstritten.25 Deutlich allerdings ist, dass die Elemente kritisch-satirischer Distanzierung, wie sie das Werk Lucans charakterisieren, auch in mittelalterlichen Reflexionen über Herrschertugenden nachweisbar sind. Eine Umformung historiographischer Berichte unter dem Einfluss heilsgeschichtlicher Überbietungsstrukturen liegt auch dem zweiten Beispiel mittelalterlicher CaesarRezeption zugrunde: Ottos von Freisings ›Chronica sive historia de duabus civitatibus‹.26 Die um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene lateinische Prosachronik steht in direktem intertextuellem Bezug zu einer Reihe lateinischer Chroniken, muss aber wohl auch im Kontext gleichzeitiger volkssprachiger Geschichtsdichtung gelesen werden und demonstriert, wie stark regionale Interessen und Traditionen hinter der Präsen22

23

24 25

26

PETER VON MOOS, Lucet Alexander Lucani luce. Eine retractatio zur ›Alexandreis‹ des Walter von Châtillon, in: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis. Festschrift für FRITZ PETER KNAPP zum 65. Geburtstag, hrsg. von THORDIS HENNINGS u.a., Berlin/New York 2009, S. 39–58, hier S. 39. Ebd. S.42f., mit Hinweis auf MAURA LAFFERTY, Walther of Châtillon’s ›Alexandreis›. Epic and the Problem of Historical Understanding (Publications of the Journal of Medieval Latin 2), Turnhout 1998 und CHRISTINE RATKOWITSCH, Troja – Jerusalem – Babylon – Rom. Allgemeingültiges und Zeitkritik in der ›Alexandreis‹ des Walter von Châtillon, Poetica 28 (1996), S. 97–131. VON MOOS [Anm. 22], S. 48. Ebd. S 56f., mit Kritik an der Interpretation von CLAUDIA WIENER, Proles vaesana Philippi totius malleus orbis. Die ›Alexandreis‹ des Walter von Châtillon und ihre Neudeutung von Lucans ›Pharsalia‹ im Sinne des typologischen Geschichtsverständnisses (Beiträge zur Altertumskunde 140), München/Leipzig 2001. Otto von Freising, Chronica, sive historia de duabus civitatibus, hrsg. von ADOLF HOFMEISTER (MGH Script Germ. 16), Hannover 21913.

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tation weltgeschichtlicher Ereignisse sichtbar bleiben. Deutlich wird dies in den Passagen, die über die Unterwerfung der germanischen Stämme berichten: Wie das volkssprachige ›Annolied‹ und die ›Kaiserchronik‹ enthält Ottos Bericht Details, die sich in seinen lateinischen Quellen nicht nachweisen lassen, und es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass er neben Orosius und Frutolf auch volkssprachige Traditionen nutzt. Bemerkbar macht sich Ottos Bearbeitungstendenz vor allem in der Strukturierung der großen Geschichtsabschnitte. Wie schon der Titel der Chronik signalisiert, ist der entscheidende Bezugspunkt dabei Augustins Geschichtsdeutung, doch für Otto markiert Caesar, nicht Augustus den Übergang zwischen der heidnischen und der christlichen Welt, denn seine Strukturierung erfolgt nach heilsgeschichtlichen Kriterien – auch gegen die bekannte Chronologie. Der beim Tod Caesars ausbrechende Bürgerkrieg markiert für ihn daher den Wendepunkt, an dem die Geschichte der Welt als der einen civitas von der christlichen Ära als der zweiten abgelöst wird. Auch in der volkssprachigen Rezeption, wie sie ›Kaiserchronik‹ und ›Annolied‹ repräsentieren, liegt die wesentliche Rezeptionsleistung daher in der Herausarbeitung geschichtlicher Strukturen. Beide Bearbeitungen enthalten Erzählsequenzen, in denen aitiologische Modelle der lateinischen Quellen verarbeitet werden, so z.B. die Etymologie des Begriffs ›Kaiser‹ und die Gründung von Köln. Doch wie in der lateinischen Chronik Ottos von Freising dient die Figur Caesars vor allem dazu, heilsgeschichtliche Profilierungen der erzählten Ereignisse deutlich zu machen. Im ›Annolied‹ ist diese Verlängerung solch heilsgeschichtlicher Periodisierung bis in die Gegenwart zu verfolgen: Caesar, der Städtegründer, dessen Herrschaft den Beginn eines neuen Weltalters markiert, ist dort nicht nur beteiligt an der Gründung von Köln, sondern steht in Analogie zu Bischof Anno.27 Die Forschungskontroverse darüber, ob diese Vergleiche Anno in positivem oder eher negativem Licht zeigen, deutet allerdings auch an, dass solche Analogieschlüsse strategisch prekär sind, sobald die verwendete Vergleichsfigur zwar berühmt, aber ambivalent ist: Noch die amerikanischen Pressereaktionen auf Vergleiche zwischen Präsident Bush und Caesar illustrieren dies sehr deutlich.28 Festzuhalten bleibt erstens, dass die Figur Caesars in solchen Texten zwar mit Eigenschaften und Episoden ausgestattet wird, für die es keine verlässliche chronikale Basis gibt, doch bleibt sie eingebunden in eine wie auch immer modifizierte Chronologie – Caesar erhält einen Platz innerhalb einer Liste von Herrschern, auch wenn dieser Platz ein besonders hervorgehobener ist; Chronologie und nicht Genealogie ist strukturtragendes Prinzip der Ordnung. Zweitens demonstrieren die überlieferten Texte, dass der Lucan-›Accessus‹, also die schulmäßige Aufbereitung der Lucan-Lektüre mit in sich fester Texttradition, maßgeblich für die vielen Texten eingeschriebene Dynamik verantwortlich sein dürfte. Wie der zu kommentierende Autorentext entwirft der ›Acces27

28

Vgl. MATTHIAS HERWEG, Ludwigslied, De Henrico, Annolied. Die deutschen Zeitdichtungen des frühen Mittelalters im Spiegel ihrer wissenschaftlichen Rezeption und Erforschung (Imagines Medii Aevi 13), Wiesbaden 2002, zur These vom in das ›Annolied‹ inkorporierten ›Caesarlied‹. Vgl. WYLE [Anm. 1], S. 441.

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sus‹ eine Caesar-Figur, die widersprüchliche Elemente in sich vereint: Dynamik und Entschlossenheit des großen Strategen, der entschieden den Augenblick nutzt, stehen so unversöhnt neben der Neigung zu Alleinherrschaft und Tyrannis.

Caesar und König Artus Regionale Interessen beeinflussen nicht nur im deutschen Sprachraum den Umgang mit der antiken Tradition. Auch im anglo-normannischen Raum lenken regionale Bedingungen die Rezeption, und aus plausiblen Gründen steht dort daher eine andere Episode aus dem ›Bellum Gallicum‹ im Vordergrund, denn die Städtegründungen in Germanien, die eine so zentrale Rolle der Gliederung deutschsprachiger chronikalischer Texte spielen, sind dort kaum von Interesse. Stattdessen steht die nach mehreren Anläufen erfolgreiche Invasion Britanniens im Mittelpunkt der literarischen Auseinandersetzung. Wie in der Geschichtsdichtung des deutschsprachigen Raums ist der Einfluss Lucans beziehungsweise der gelehrten Kommentare zu Lucan deutlich nachweisbar, vor allem in der kritischen Perspektive auf Caesar. Doch ist die Rezeption angesichts der anderen politischen Vorzeichen auch deutlich kritischer als im deutschsprachigen Raum, da eine Verlängerung antiker Herrschaftsstrukturen in die politische Gegenwart ungleich problematischer ist als im römischen Reich, wo das Konzept der translatio eine bruchlose Angliederung an die Antike erlaubt. Dies ist in einer Rezeptionsstufe, in der die Rollen von Eroberer und Eroberten in unversöhnlichem Gegensatz zueinander stehen, nicht ohne weiteres möglich. Wace, der in seinem ›Roman de Brut‹ um die Mitte des 12. Jahrhunderts die Chroniken des Geoffrey of Monmouth für ein normannisches Publikum adaptiert, entwirft daher eine in mancher Hinsicht gespaltene Caesar-Figur: Cassivellaunus, der Führer der Briten, attackiert Caesar dafür, dass er versuche, die freien Briten zu unterwerfen und zu Sklaven zu machen – damit evoziert er das Bild von Caesar als dem Usurpator und Tyrannen.29 Gleichzeitig aber appelliert er an Caesar als den weisen und edlen Mann, der in der Lage sein sollte, die Unsinnigkeit eines solchen Unterfangens einzusehen. Im Verlauf der Erzählung wird deutlich, dass der Erzähler diese positive Einschätzung teilt, denn Cassivelaunus selbst nimmt zunehmend tyrannische Züge an, verursacht Spaltung im eigenen Lager und ist letztlich seinem Gegner strategisch unterlegen. Caesar wird damit für Wace zu einer Verkörperung zeitgenössischer Herrscherideale von Weisheit und Großzügigkeit. Gleichzeitig aber dient Wace die Episode zur Warnung vor den Gefahren politischer Intrige im Innern, wie sie seine Version britischer Geschichte von Brutus bis zu König Artus charakterisieren. Auch die nur etwa fünfzig Jahre jüngere, formal jedoch an viel ältere Traditionen anknüpfende 29

La Geste du Roi Arthur selon Le Roman de Brut de Wace et l’Historia Regum Britanniae de Geoffroy de Monmouth. Édition bilingue, hrsg., kommentiert und übersetzt von EMMANUÈLE BAUMGARTNER, IAN SHORT (Bibliothèque médiévale 10/18, 2346), Paris 1993; Vgl. A Companion to Wace, hrsg. von FRANÇOISE H. M. LE SAUX, Woodbridge 2010.

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mittelenglische Version des Laȝamon um 1200 steht der Figur Caesars mit Distanz gegenüber.30 Zwar ist Laȝamons Caesar weise und geschickt (he wes wis and swiđe iwar, 3619), doch beklagt der Erzähler, dass er trotz solcher Qualitäten into helle sculde gan! (3601) – eine Erinnerung daran, dass Caesar das Ende des heidnischen Reiches markiert und nach christlichen Maßstäben gemessen wird. Einerseits also stilisieren Wace und Laȝamon den römischen General zu einem Ritter avant la lettre, der Elemente zeitgenössischer Ideale von Ritterlichkeit präsentiert und damit innerhalb der Romane auf die Figur verweist, die als Fluchtpunkt der Erzählungen dient: König Artus. Andererseits aber halten beide die historische Distanz zumindest teilweise präsent, indem sie, besonders in Waces ›Brut‹, Differenzierungen zwischen Eigen- und Fremdperspektive beziehungsweise zwischen heidnischer und christlicher Welt im Blick behalten. Was im ›Annolied‹ damit noch fehlgeschlagene Strategie einer nicht uneingeschränkt positiven Leitfigur sein könnte, scheint hier Methode zu haben: Caesar dient nicht als Integrationsfigur, mit deren Hilfe sich das Fremde dem Eigenen anverwandeln lässt, sondern eher als Ideal, das gerade das Bewusstsein um die Differenz zur Gegenwart der Leser präsent hält.

Caesar als Autor in humanistischer Übersetzung Als Matthias Ringmann 1503 in Straßburg die erste deutsche Übersetzung der ›Commentarii‹ anfertigt, die der ersten italienischen Version um gut zehn Jahre vorangeht, hat er damit bemerkenswerten Erfolg, und zwar nicht so sehr als gelehrte Leistung humanistischer Sprachkunst, sondern weil er das Leserinteresse im elsässischen Raum offenbar genau trifft.31 Die Übersetzung wird in schneller Folge mehrmals nachgedruckt, und Ringmann benutzt die Gegebenheit, Vorrede und Präsentation mithilfe der dem Text beigegebenen Paratexte zu verändern. Der Titel des Straßburger Drucks von 1508 macht dies recht deutlich, denn er präsentiert sich als ›Julius der erste Römisch Keiser von seinem leben vnd Kriegen erstmals uß dem latein in tütsch gebracht vnd mit ander ordnung der capitel vnd zusetz nüw gedruckt‹ und steht in der Tradition der humanistischen Übersetzergruppe aus dem Elsass, die durch Namen wie Jakob Wimpheling und Johannes Adelphus Muling bekannt ist. In dem Bestreben, eine wortgetreue Übersetzung des lateinischen Textes zu liefern, markiert Ringmanns Unternehmen also durchaus den Bruch zwischen Mittelalter und Humanismus, den wir auch sonst im Um30

31

Laȝamon, Brut, edited from British Museum ms. Cotton Caligula A.IX and British Museum ms. Cotton Otho C.XIII, by GEORGE L. BROOK and ROY F. LESLIE., 2 Bde. (Early English Text Society 250, 277), London 1963–1978; vgl. KENNETH JACK TILLER, Lazamon’s Brut and the AngloNorman Vision of History, Cardiff 2007. Julius der erst Römisch / Keiser von seinem kriegen. Erst/mals uß dem Latin in Tütsch bracht / vnd nüw gedruckt, Strassburg, Joh. Grüninger 1507; vgl. FRANZ-JOSEF WORSTBROCK, Matthias Ringmann, 2VL, Bd. 11 (2004), Sp. 1310–1326.

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gang mit antiken Stoffen konstatieren. Dennoch verrät der zweite Teil der eben zitierten Rubrik und ein Blick in den Druck, dass die den Lesern so prominent versprochene Aufbereitung des antiken Textes Züge trägt, die gut mittelalterlich sind: Ringmann stellt seiner Übersetzung nicht nur ein Widmungsgedicht voran, in dem das Buch selbst seinen Gönner Kaiser Maximilian anredet, sondern es liefert auch eine umfangreiche Caesar-Vita, deren ausdrücklicher Zweck es ist, dem idealen Kaiser Maximilian sein antikes Spiegelbild zu offerieren. Dann wem schrib man soliche bücher / die dar vnder vil / vnnd mani/chen schoenen geschichten / nicht wenig ding das Keiserthům / vnd sunst tuetsche nacion berürende / in sich halten / bequemlicher zů / dann obgemeldeter Römischer Keiserlicher Maiestet / die mit fürsichtiger vnd manlicher weißheit / ouch hoch gebrisenener dapfferkeit / vnd allen tugenden vonn iugent vff // gleich Julio dem ersten Römischen Keiser großmechtige thaten an manigen ort verbracht hat / vnd noch on vnderlaß glückselig ubet / vnd volbringet. 32

Die Analogie zwischen Caesar und Maximilian wird hier bis in die aus der mittelalterlichen Etymologie bekannte Ableitung des Herrschertitels aus dem Namen verfolgt – das heißt, sie wird nicht als strukturelle Analogie, sondern als direkte Traditionslinie mit glücklich gefügten Entsprechungen präsentiert.33 Auch innerhalb der Vorrede, die das Übersetzungsprogramm entwickelt, und der Übersetzung selbst lässt sich nachweisen, dass ein solch »humanistisches« Bewusstsein von der Anknüpfung an antike Vorbilder durchaus nicht als Differenz von vorangehenden »dunkeln« Zeiten verstanden wird, sondern im Gegenteil unter Verwendung von Methoden, die direkt an mittelalterliche Traditionen anschließen. Schon in der Vorrede, die einen fast tabellarischen Kurzdurchgang durch römische Geschichte als Personenund Verfassungsgeschichte liefert, also neben der Namensreihe der Herrscher auch den Wechsel der Staatsformen (Königtum, Republik, Triumvirat, Kaisertum) thematisiert, werden Caesar, Pompeius und Crasses zu wolgehalthen ratßherren und sollichen vnd andre mer / wann die die Pretur vnd dz schulteissen ampt heten in den provintzen vnd lantschaften die inen in dem loß zuvielen. Caesars Ämterlaufbahn wird rigoros in gegenwärtige Strukturen überführt: der Senator ist schulteiss, seine Zeit als pontifex maximus wird zum bapstům vnd Bisthum, das Konsulat zum Amt des Burgermeister. Diese Beschreibung leistet damit genau das, was man als Mediaevalisierung bezeichnet hat, also die Überbrückung historischer Distanz durch Vereinnahmung – man könnte es aber übersetzungstheoretisch auch als kulturelle Adaptation sehen. Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede methodischer Art. Wenn Ringmann in der Vorrede sichtet, was es an 32

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Julius der erste Römisch / Keiser von seinem leben vnd / Kriegen erstmals vß dem latein in tütsch gebracht […] Gedruckt in der lobli/chen fryen stat/ Straßburg durch Joannem / grüninger / vff sant Adolfs des heiligen bischoffs tag im Jar.M.ccccc.viii. Benutzt im Exemplar der Taylorian Library, Oxford, Arch. F. G. 1508, hier f. Aiv – Aiir Zur Tendenz humanistischer Historiographie, antike Texte mithilfe des mittelalterlichen Instrumentariums an Texterschließungsstrategien zu lesen, vgl. RUTH MORSE, Truth and Convention in the Middle Ages. Rhetoric, Representation and Reality, Cambridge 1991, hier S. 88f.

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Informationen über den Autor gibt, so tut er dies ganz offensichtlich in Kenntnis der biographischen und etymologischen Traditionen – zum Beispiel die Bezeichnung des Kaiserschnitts. Allerdings stellt er sich hier, unter Sichtung des überlieferten antiken Schrifttums, kritisch gegen die mittelalterliche Tradition: Plinius der schreibt in dem sibenden bůch der natürlcihen History / das der Africanisch Scipio (von welichme Livius ouch vil gesagt hat) sy der aller erst gewesen den man Cesarem nennet / darumb das es om der geburt / vß seiner mutter leib ist geschnitten vnd genummen worden. Aber Julius Cesar warde nicht (wie dann etliche sagen) von seiner můter (als Scipio) geschnitten /so im doch sein můter Aurelia erst gestorben vnd vom tod abgegangen ist / die weil er im Gallier land gekrieget hat / sunder Cesar geheissen / eintweder von dem Elephanten den er in einem streit erschlug / als dann Cesar nach dem gezüng Maurorum elephanten bedütet /oder darum (welics mich bedunckt gloulicher sein) dz er gelwe ougen het / syntemaln gelb zu latein Cesium heisset / ider vileicht von wegen einz besundern locken hores mit dem er gebornen worden / so der im latein Cesaries genant würt. (Aiiiivb-Avra)

Schöner kann man vielleicht die Vermischung unterschiedlicher Prinzipien der Wissenssicherung nicht präsentieren: Am Anfang steht eine quellenkritische Auswertung des Materials, die auf breiter Lektüre beruht (nicht nur Plinius wird herangezogen, sondern auch Livius) und diese Schriftberufung als Gegenpol zur anonym-mündlichen Tradition (wie dann etliche sagen) positioniert: gelehrte Exklusivität gegen vox populi. Gleichzeitig wird die entstehende Lücke geschlossen: Wenn Caesar nicht deswegen Caesar heißt, weil er durch einen Kaiserschnitt auf die Welt kam, dann muss es eine andere Erklärung geben. Lucans Biographie mit ihrem Hinweis auf Caesars ungewöhnliche Augen mag den ersten Anhaltspunkt für eine der angebotenen Erklärungen liefern, doch ist auffällig, dass Ringmann an genau diesem Punkt das Prinzip der expliziten Quellenidentifizierung verlässt; an ihre Stelle tritt eine Kombination aus etymologischer Möglichkeit und Plausibilitätsabwägung. Charakteristisch und neu ist daher für Ringmanns Auseinandersetzung mit Caesar, dass er Elemente der durchaus mittelalterlichen Sicht auf die Figur und Person Caesar, in der Traditionswissen und das Bewusstsein kultureller Kontinuität eine große Rolle spielt, kombiniert mit einem neuen Interesse am Text der Vorlage. In dieser Hinsicht stellt sich das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz genau umgekehrt dar: Oberstes Prinzip seiner Übersetzung ist es, dem Duktus der Zielsprache gerecht zu werden: Es erfordert ein ietliche sprach iren eygen louff wann es es [sic] wz formlich syn vnd nicht vbel luten sol. (Aiira) – und programmatisch formuliert er seine Wertmaßstäbe: hab lieber gewolt von dem gemeinen man verstanden warden vnd als ferr es sich geschickt hat / by dem latein bleiben / dann nach eygenem willen weit darvon spacieren. Etc. Gut zwanzig Jahre vor Luthers sola fides-Polemik nimmt Ringmann damit entschieden Abstand vom Prinzip der Wort-für-Wort Übersetzung, verlangt allerdings andererseits, dass eine gute Übersetzung weder auslassen noch über die Vorlage hinausgehen dürfe. Maßstab ist hier also – gegen die zusammenfassenden Paraphrasen der mittelalterlichen Kommentartradition – die Integrität des Ausgangstextes. Dennoch fehlt das, was wir oft als charakteristisch ›humanistisch‹ empfinden: die ästhetische Qualität des

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Ausgangstextes spielt für Ringmann, anders als etwa für die italienischen Humanisten, keine Rolle. Vielmehr weist die umfangreiche Aufbereitung der Übersetzung mit biographischem Material darauf hin, dass letztlich Caesar der Herrscher, nicht Caesar als Künstler der lapidaren Formulierung im Zentrum des Interesses steht – denn in der Widmung macht sich der Übersetzer in genau der Geste, mit der er sein Werk Maximilian als dem modernen Caesar überreicht, gleichsam überflüssig: Wie wol ich nit vnwissen bin, ob schon diz werck nit transfferiert vnd getütschet wer / das obgemelte Römische K. Maiestet in lateinischer gleich wie in vil andern zungen / durch göttliche schickung gnůgsam bericht ist / solichs zů lessen vnd verston. (Aiira) Genau diese paradoxe Geste aber ist vielleicht erst in der Widmungsvorrede eines Drucks vorstellbar, der gleichzeitig den einzigartigen Mäzen als neuen Caesar stilisiert, sich dennoch aber an ein Lesepublikum wendet, das weniger an Caesars Herrschertugenden interessiert ist denn an seiner Leistung als Beschreiber fremder Länder und Völker.

Mythos und Integration? So wenig, wie es das Mittelalter gibt, kann man also von der Caesar-Figur sprechen und dies nicht nur, weil die Figur sich, wie die Beispiele gezeigt haben, je nach Bedingungen und Bedürfnissen anders funktionalisieren lässt, so dass der Städtegründer Kölns neben dem Katalysator britischer Königsordnungen oder dem Begründer höfischer Kultur stehen kann. Wichtig scheint mir vielmehr erstens, dass die Ambivalenz gegenüber der Caesarfigur, wie sie die antiken Biographen an den Tag legen, nicht etwa in harmonisierenden Idealbildern stillgestellt wird, sondern im Gegenteil immer wieder prominent zu Tage tritt. Ihren Ursprung haben die zwischen Bewunderung und Distanzierung oszillierenden Präsentationen in der bei Lucan angelegten doppelten Sicht auf den umstrittenen Herrscher, doch macht die hier präsentierte Auswahl deutlich, wie oft mittelalterliche Bearbeiter dieses in der ›Accessus‹-Tradition verfügbar gehaltene Wissen dazu benutzen, die eigene Standortbestimmung in ihrem Bezug zur antiken Tradition zu problematisieren. Wenn Caesar zur Integrationsfigur wird, so immer nur in einem je unterschiedlich konfigurierten politischen Kontext. Die Beispiele zeigen zweitens, dass dieses Interesse an der Differenzierung innerhalb einer Bildungslandschaft artikuliert wird, in der die lateinischen ›Accessus‹- und Texttraditionen eine wesentliche Rolle spielen. Mythologisierende Elemente wie Aitiologien und Gründungssagen werden damit immer wieder an ihren Status als Schrifttradition und gelehrtes Wissen zurückgebunden. Schließlich erweist sich, dass Caesar als Herrscherfigur auch dort noch literarisch wirkmächtig bleibt, wo mit dem Interesse an seinen Texten ein neuer Umgang mit Autorschaft und Tradition einsetzt.

Das Schlaraffenland – ein europäischer Mythos? Zur historischen Semantik einer literarischen »Dekonstruktion« von Hans Rudolf Velten

Dass Erzählungen vom Schlaraffenland, die uns literarisch überliefert sind, als »Mythen« bezeichnet werden sollten, ist auf den ersten Blick nicht ganz einleuchtend. Denn in diesen Erzählungen kommen keine Götter vor und sie speichern auch kein den Göttern bekanntes Wissen (WALTER BURKERT), sie sind nicht »Grund aller Sage« (JACOB GRIMM) und auch keine »Ausdruckssymbole des Psychischen« (SIGMUND FREUD) oder »Archetypen des kollektiven Unbewußten« (C. G. JUNG). Solche modernen Mythenbestimmungen mit ihrem engen Bezug zur antiken Mythologie, welche auch uns als erstes vertraut sind, verstellen allerdings die Sicht auf einfachere und gleichzeitig historisch und kulturell weniger determinierte Bestimmungen des Mythos, die auf das Schlaraffenland eher zutreffen können: etwa der Mythos als »erzählende Überlieferung aus einer vorschriftlichen Epoche« und als »Form eines vorrationalen Weltverständnisses«.1 Ein offener, an die Narration gekoppelter Mythosbegriff, wie ihn etwa strukturalistische Modelle wie jene von CLAUDE LÉVI-STRAUSS und ROLAND BARTHES schon Mitte des 20. Jahrhunderts befürwortet hatten, kommt auch unserem heutigen Verständnis entgegen, das die literarische Mythologie nicht auf das Feld der klassischen Antike und ihre Reaktualisierungen begrenzen mag.2 Dafür spricht auch die Etymologie des Begriffes im Griechischen: So bezeichnet der Sophist Protagoras mit dem Begriff mýthos in Platons gleichnamigem Dialog die fiktionale Erzählung schlechthin, welche jedoch allgemeine Wahrheit enthält, und Aristoteles erklärt mit dem Term im 6. Kapitel der ›Poetik‹ eine besondere, vom Dichter erschaffene, bedeutungsvolle Komposition von Handlungen.3 Das Christentum übernimmt dann ebenso die Definition der »erfundenen Rede«, 1

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UTE HEIDMANN VISCHER, Mythos, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2 (2007), S. 664–668, hier S. 664. HEIDMANN VISCHER sieht die »den antiken Mythen ähnliche kollektive Resonanz« der Texte als ein wichtiges Konstituens des literarischen Mythos. Noch allgemeiner fasst es das Oxford English Dictionary, Bd. 10 (21989), S. 177, wo es heißt: Myth. a. A purely fictitious narrative usually involving supernatural persons, actions, or events, and embodying some popular idea concerning natural or historical phenomena. Platon, Protagoras 320c, in: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 1, übersetzt von FRIEDRICH SCHLEIERMA31 CHER, Reinbek bei Hamburg 2009, S. 288. Im 2. und 3. Buch der ›Politeia‹ fordert Platon die Entfernung des als lügenhaft und kindlich charakterisierten Mythos aus dem Idealstaat. – Aristoteles,

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und damit auch die negative Konnotation, die der Begriff in Geschichtsschreibung und Philosophie der Antike erhalten hatte, nicht zuletzt, um damit die »heidnischen« Lehren auszugrenzen.4 Wenn also schon die Vertreter des Logos im Altertum den Mythos insofern »depotenzierten«, als sie mit ihm erfundene, ja sogar lügenhafte Erzählung bezeichneten (und damit auch den Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit markierten), kann es zunächst einmal nicht falsch sein, auch den (mittelalterlichen) Erzählungen vom Schlaraffenland, das in seinen literarischen und somit diskursiven Fassungen sich häufig genug als lügenhaft oder zumindest unzuverlässig ausweist, den Status eines Mythos (im oben genannten Sinne) zuzuschreiben. Selbst HANS BLUMENBERG, sicherlich einer der originellsten Mythenforscher des 20. Jahrhunderts, hat Mythen grundsätzlich als »Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit«5 bezeichnet – besser könnte man die unterschiedlichen Versionen des Schlaraffenlands nicht charakterisieren, zumal diese seit dem Mittelalter eine konstante Resonanz erfuhren und bis heute im kollektiven Imaginären Europas Bestand haben.6 Und auch das zweite konstitutive Definiens eines offenen Mythosbegriffs, welches ihm eine eigene Form des Denkens und des Weltverständnisses zuschreibt, die dem »rationalen« entgegengesetzt sei, scheint auf das Schlaraffenland zuzutreffen: ERNST CASSIRER hatte bereits in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zwischen »mythischem Denken« und »rationalem Denken« unterschieden, und CLAUDE LÉVISTRAUSS folgt ihm in diesem Punkt, wenn er das mythische Denken nicht als Vorstufe des Logos, sondern als eine alternative Form zur wissenschaftlichen Weltauffassung, als eine Manifestation eines »eigenen« Denkens, einer eigenen Logik der Ordnung der Welt beschreibt.

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›Poetik‹, Kap. 6, 1450a, im Deutschen meist mit ›Fabel‹ wiedergegeben: Aristoteles, Werke in dt. Übersetzung. Bd. 5: Poetik, übersetzt und erläutert von ARBOGAST SCHMITT, Berlin 2008, S. 9–11. Im 12. Jh. übersetzt Wilhelm von Conches gr. mýthos mit lat. fabula. Vgl. PETER DRONKE, Fabula. Explorations into the Uses of Myth in medieval Platonism, Leiden/Köln 1974, S. 55–67. HANS BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 31984, S. 40. MARTIN MÜLLER, Das Schlaraffenland. Der Traum von Faulheit und Müßiggang. Eine Text-BildDokumentation, Wien/München 1984, S. 11, attestiert dem »kollektiven Traum« vom Schlaraffenland »eine erstaunliche Beharrlichkeit«. Von einem myth (of the hedonist well-being of medieval origin) spricht auch CARMELINA IMBROSCIO in ihrem Artikel Utopia and Myth, Dictionary of Literary Utopias, hrsg. von VITA FORTUNATI, RAYMOND TROUSSON, Paris 2000, S. 415–421.

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Mythos im Mittelalter? Wenn die Erzählungen vom Schlaraffenland einen Mythos konstituieren, dann wäre dieser Mythos im Mittelalter entstanden. Aber man hat von der »babylonischen Gefangenschaft« der antiken Mythologie im Mittelalter gesprochen: Mythen nehmen, so die vorherrschende Meinung, im Mittelalter den Status des Restbestandes ein; einerseits werden sie von christlichem Kult und Dogmatik marginalisiert, andererseits wird das mythische Erbe der Antike nur verhüllt rezipiert.7 So verortete schon CASSIRER das mythische Denken, verstanden als symbolische Ordnung sui generis, allein in Residualformen, abgedrängt in kulturelle Sonderräume von mehr oder minder begrenzter Ausdehnung.8 Allerdings haben neuere Forschungen jedoch gerade das transformative Potential der mittelalterlichen Aufnahme mythischer Erzählungen nachgewiesen, das weit über Personifikation und Allegorese, von der HANS-ROBERT JAUSS noch ausging, hinausgeht. JAUSS selbst hatte die Möglichkeit eines »neuen Mythos« des Mittelalters nicht ausgeschlossen und sieht ihn in der höfischen Minnedoktrin des paradisus amoris greifbar.9 Betrachtet man die mediävistische Mythenkritik der letzten beiden Jahrzehnte, so ergibt sich durch einen erweiterten Mythosbegriff eine wesentlich stärkere Präsenz des Mythischen in der mittelalterlichen Literatur.10 UDO FRIEDRICH und BRUNO QUAST beobachten vier verschiedene Oppositionspaare, in welchen das Mythische als »Erzähl- und Denkform«11 fassbar zu werden scheint: (1) im Gegensatz zum Heilsgeschichtlichen 7

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Vgl. dazu die Diskussion zu Zitat und Wiederkehr des Mythischen in Mittelalter und Renaissance der Konstanzer Gruppe: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von MANFRED FUHRMANN (Poetik und Hermeneutik 4), München 1983, S. 617–638. ERNST CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 81987, S. 19. HANS-ROBERT JAUSS, Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter, in: FUHRMANN [Anm. 7], S. 187–210, hier S. 196f. Vgl. dazu UDO FRIEDRICH, BRUNO QUAST, Mediävistische Mythenforschung, in: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von DENS. (Trends in Medieval Philology 2), Berlin/New York 2004, S. IX–XXXVII. Sie stützen sich auch auf ein rezeptionsgeschichtliches Faktum, auf welches JAN-DIRK MÜLLER aufmerksam gemacht hat: dass nämlich das Bild vom mythenlosen Mittelalter nachmittelalterlich geprägt ist: Es ist reformatorischen und gegenreformatorischen Bemühungen zu verdanken, die Austreibung oder Marginalisierung mythischer Restbestände innerhalb des weltlichen Christentums vorgenommen zu haben. Das Bild von der entmythologisierten Religion im Mittelalter stamme, so MÜLLER, von hier. Vgl. JANDIRK MÜLLER, Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der Kudrun, in: FRIEDRICH, QUAST [Anm. 10], S. 197–218. Vgl. auch Artusroman und Mythos, hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, CORA DIETL, MATTHIAS DÄUMER (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), Berlin/Boston 2011. FRIEDRICH, QUAST [Anm. 10], S. XXXV, erläutern diese Dichotomie in Anlehnung an CASSIRER und LÉVI-STRAUSS: »Man kann im allgemeinen, und das gilt dann auch für das Mittelalter, den Be-

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(als Weiterleben des Antik-Mythischen oder als keltischer Gegenmythos zum Christlichen), (2) im Gegensatz zum Höfischen (als Ablösungsform oder Analogon des Mythischen), (3) im Gegensatz zum Literarischen (als Form der Überbietung und Überwindung eines vorgängig imaginierten Mythischen) und im Gegensatz zum Geschichtlichen (als inkommensurable Fatalität des Vor-Historischen).12 Es scheint offenkundig, dass der Mythos vom Schlaraffenland, wenn überhaupt, in der dritten Kategorie verortet werden kann. Denn er arbeitet weder mit antiken oder keltischen oder nordischen Gegen-Mythologien, bildet nicht wie in Artusroman und Heldenepik die Kontrastfolie zu höfischer Kultur und Geschichte. Er nimmt stattdessen als Erzählung eine überwundene Gegenposition zum Literarischen ein, »als im emphatischen Sinne Vor-literarisches, als das Wunderbare, das Offene, Unabgeschlossene und Entdifferenzierte«, welches der literarische Text präsentiert und zugleich arretiert und überbietet.13 Dabei erscheint das Mythische als das »Nicht-Integrierte« (JAN-DIRK MÜLLER) und gerät in den Fokus der jeweils unterschiedlichen Wirkungsstrategien der Texte. Dies möchte ich im Folgenden genauer an einer Reihe der frühen SchlaraffenlandTexte zeigen. Ich werde dabei von LÉVI-STRAUSS’ Mythostheorie14 ausgehen und versuchen, die Erzählungen vom Schlaraffenland in jene Segmente und einzelne Schichten (»Mytheme«) zu scheiden, die dem Mythischen als zugehörig erkannt werden können und dabei gleichzeitig bestimmte Daseinsproblematiken stets aufs Neue symbolisch konfigurieren. Das »Inventar der Mytheme« ist nach LÉVI-STRAUSS insofern diachronisch offen, als es die Gesamtheit aller Fassungen des Mythos bzw. deren Mytheme umfasst. Dies ist für die Anwendung seines anthropologischen Modells auf historische Situationen von Bedeutung.15 Bei jeder Aktualisierung des Mythos werden die Mytheme neu selegiert und kombiniert, so dass sich eine modifizierte mythische Rekonfiguration ergibt, die auf vertikalen und horizontalen Beziehungen beruht.16

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griff des Mythischen zugleich auf Text- und auf Mentalitätsstrukturen beziehen, auf den Mythos als Erzählform und das sogenannte mythische Denken als eine Texten vorausliegende und sie durchdringende Bewusstseinsform mit einer ihr eigenen Logik«. Ebd. S. XXXIV. Ebd. S. XXXIII. CLAUDE LÉVI-STRAUSS definierte die allen Mythen zugrunde liegende Struktur bekanntlich in Analogie zum Sprachmodell DE SAUSSUREs als ein System, das aus sogenannten Mythemen als konstituierenden Einheiten besteht. Unter Mythemen versteht er Beziehungsbündel, die durchaus auch in sich widersprüchliche semantische Einheiten umfassen. Der Sinn der Mythen ergibt sich somit aus ihrer formalen Zusammensetzung. Vgl. CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Die Struktur der Mythen, in: DERS., Strukturale Anthropologie I, Frankfurt am Main 1977, S. 225f. PAUL RICŒUR hatte diesen Aspekt als historisch invariant und insofern für wenig brauchbar erklärt, allerdings kann man die »Aktualisierung« im Sinne von LÉVI-STRAUSS durchaus auch als Form der historischen Abfolge verstehen. Vgl. PAUL RICŒUR, Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S. 57. LÉVI-STRAUSS [Anm. 14], S. 232f.

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Es geht mir dabei vor allem um die Frage, was der Mythosbegriff für ein heterogenes Gebilde wie das Schlaraffenland, welches bisher als Traum oder Phantasie, als Imagination und Utopie, oder neutraler als literarischer Darstellungskomplex bezeichnet wurde, leisten kann, welche Aspekte des Schlaraffenlandes er besser als bisher konturieren kann und wie mit ihm Forschungsprobleme auf neue Weise anzugehen wären.

Das Schlaraffenland als Gegenstand der Forschung Erzählungen vom Schlaraffenland in Form von schriftlich überlieferten Texten sind in Europa zuerst am Beginn des 13. Jahrhunderts greifbar, und bis zum 16. Jahrhundert haben sie sich in zahlreichen europäischen Sprachen und Literaturen verbreitet: im Französischen, Englischen, Deutschen und Niederländischen, im Italienischen und Spanischen, im Polnischen und Russischen sowie im Schwedischen und Finnischen. Bis zum 17. Jahrhundert zählt man 40 niederländische, 33 italienische, 22 deutsche und 12 französische, mehrere englische und spanische Versionen.17 Die Wortbedeutung im Deutschen – mhd. sluraffe / frnhd. schlauraffe = ›Müßiggänger, Faulenzer, Narr‹ – hat sich erst am Beginn des 15. Jahrhunderts herausgebildet (s.u.),18 während die vermutlich vom mlat. coquina (›Küche‹, davon abgeleitet cucania als ›Küchenland‹)19 bzw. von provenz. cocanha (›Kuchen, kleines Gebäck‹) herstammenden Bezeichnungen in den romanischen Volkssprachen cocagne (frz.), cuccagna (it.) – also ›Kuchenland‹ – ebenso das närrische Element (coquin = ›Narr‹) mittragen.20 Bereits die Etymologie verweist auf einen heterogenen Komplex verschiedener Elemente und Motive, von denen wohl das kulinarische Wohlleben, das Nichtstun, das 17

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Die folgende Analyse bezieht sich prinzipiell auf alle Varianten des Schlaraffenland-Komplexes. Aus methodischen Gründen konzentriere ich mich auf die frühen Texte: (1) das frz. Fabliau vom Land Cocagne (Mitte des 13. Jhs.), das irische Gedicht ›The Land of Cokaygne‹ (14. Jh.), die 3. Erzählung des VIII. Tages aus dem ›Decamerone‹ Giovanni Boccaccios über das Land Bengodi (um 1350), das mittelniederländische Gedicht ›Dit is van dat edele lant van Cockaengen‹, die deutschen Lügenmären ›Wachtelmaere‹, ›Vom packofen‹, ›Ich sach eins mâles in der affen zît‹, ›Das Narrenschiff‹ Sebastian Brants (1494) und die Predigt Geilers von Keysersberg darüber (1520), das Flugblatt ›Ain abentheurisch Lied‹ (16. Jh.), Hans Sachs’ Meisterlied ›Das Schlaweraffenland‹ (1530), der niederländische Prosatext ›Van’t Luye Leckerlant‹ (1546). Gegen Ende des 15. Jhs. taucht der Begriff auch in Fastnachtspielen häufig auf, meist in Verbindung mit anderen Spottnamen für närrische und arbeitsscheue Personen: her Schlauraff und her Rudiger, her Ocker und Lullzapf, tret her (Keller 19), zit. aus JACOB und WILHELM GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Unv. Nachdruck München 1984, Sp. 493–495, hier Sp. 494, zahlreiche Belegstellen dort. Der Begriff cucania taucht erstmals in den ›Carmina Burana‹, im Lied Nr. 222: ›Ego sum Abbas Cucaniensis‹ auf und meint hier eine Herkunftsbezeichnung, im Sinne eines parodistischen Säuferund Fresserordens. Zur Etymologie der europäischen Bezeichnungen immer noch am ergiebigsten: DIETER RICHTER, Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie, Frankfurt am Main 1989, S. 12–17, 105f.

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Närrisch-Verkehrte und das Lügenhafte als Kennzeichen einer topographischen Einheit cucania / Schlaraffenland die prägnantesten sind. Im Deutschen erscheint ›Schlaraffenland‹ als Begriff zum ersten Mal in Heinrich Wittenwilers satirischem Roman ›Der Ring‹ im Zusammenhang mit der Bauernhochzeit im zweiten Teil. Als der Kampf der Gäste um die Speisen seinen Höhepunkt erreicht, verschlingt Farindwand gierig einen ganzen Fisch und erstickt an den Gräten. Darauf heißt es im Text: Also fuor do Farindwand Da hin gen Schläuraffen land Mit seiner sel: daz was ir fuog; 21 Den leib man in den Neker truog.

Das Schlaraffenland wird hier als ein satirisches Fresser-Paradies greifbar, in das die Seele des exzessiven Schlemmers aufgenommen wird. Allerdings konstruiert Wittenwiler mit dieser Anspielung auf einen Bauernhimmel noch keinerlei schlaraffischen Mythos, wie ihn das französische Fabliau von der Mitte des 13. Jahrhunderts vorstellt, das von einem Wunderland mit Namen Cocaingne erzählt, das erste Gedicht vom Schlaraffenland, wie es uns auch heute noch bekannt ist: Li pais a a nom Cocaingne Qui plus i dort, plus i gaaigne. [...] De bars, de saumons et d’aloses Sont toutes les mesons encloses; Li chevron i sont d’esturjons, Les couvertures de bacons 22 Et les lates sont de saussices.

In Cocaingne ist alles essbar: Neben den hier genannten Fischen gibt es noch Wildbret und Eisbein, fette Gänse, die sich ganz von selbst am Spieß drehen, es regnet warme Fladen und die Flüsse führen Weiß- und Rotwein. Die meist luxuriösen Speisen sind vielfältig und im Überfluss vorhanden, man muss sich nur an bereits gedeckte Tische setzen. Doch es bleibt nicht beim ungehemmten Prassen; auch anderen Gelüsten kann man ohne weiteres nachgehen: Es gibt kostbare Kleidung und Schuhe für alle; die Feiertage vervielfachen sich und eine Fastenzeit gibt es nur alle 20 Jahre; jeder bekommt, was er will und kann tun, wie ihm beliebt; volle Geldsäcke liegen auf den Fel-

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Heinrich Wittenwiler, Der Ring. Fnhd./Dt., nach dem Text von EDMUND WIEßNER ins Neuhochdeutsche übersetzt und hrsg. von HORST BRUNNER, Stuttgart 1991, S. 342 (vv. 5909–12). ›De Cocaingne‹, Paris, BN Ms. fr. 837, fol 167v–168r (Pariser Fragment). Abgedruckt in VEIKKO VÄÄNÄNEN, Le »fabliau« de Cocagne. Le motif du pays d’abondance dans le folklore occidental, Neuphilologische Mitteilungen 48 (1947), S. 3–36. Die Lesarten des in der Handschrift Cod. 354 der Burgerbibliothek Bern enthaltenen Gedichtes ›Coquigne‹ finden sich im Apparat. ›Das Land heißt Cocaingne / wer dort mehr schläft, der verdient mehr / [...] / aus Barschen, Lachsen und Alsen / bestehen dort die Zäune um die Häuser, / Die Dachsparren dort sind aus Stören gemacht, / aus Speck die Ziegel / und die Latten aus Würsten‹ (Übers. HRV).

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dern, ohne gebraucht zu werden; Männer und Frauen üben sich in freier Liebe, wann immer sie Lust haben; und ein Jungbrunnen sorgt für ewige Jugend. Das Fabliau ist das früheste mittelalterliche Zeugnis für die Beschreibung einer Welt ohne Mangel, ohne Zwänge, ohne Krankheit, ohne Tod, in welchem die wichtigsten, später immer wieder in verschiedenen Varianten auftretenden schlaraffischen Elemente bereits aufgeführt sind: eine aus Essbarem bestehende Architektur und eine generelle Fülle von sich selbst darbietenden, teuren Speisen und Getränken, die Absenz von Arbeit und individuellem Besitz, die Verfügbarkeit von Sexualpartnern, immerwährende Jugend, aber auch die (närrische) Inversion von bekannten Normen und die unernsthafte Rahmung. Durch dieses Arrangement wird die genauere narratologische und gattungsgeschichtliche Bestimmung des Fabliau erschwert: Das hier beschriebene Land kann gleichzeitig Wunsch-, Narren- und Lügenland sein, ein Ort für Projektionen verschiedener Art, eine verkehrte Welt, eine augenzwinkernd vorgetragene Satire. Semantik und Struktur des Schlaraffenlandes sind von Unschärfe, Ambiguität und Widersprüchlichkeit geprägt, der literarische Komplex der meist anonym überlieferten Texte ist heterogen und nur schwer auf eine Deutungsebene zu bringen. Verkürzt und thesenhaft zusammengefasst lassen sich in der Forschung zwei zentrale Kontroversen erkennen. Die erste bezieht sich auf die Herkunft der Stoffelemente: Geht es hier um gelehrte Schriftlichkeit oder um populare, orale Volkserzählung? HANSJÖRG GILOMEN hat erst kürzlich wieder in Erinnerung gerufen, wie stark Themen und Motive des Schlaraffenlandes bereits in der griechischen Literatur vorgebildet sind: Intertextuelle Bezüge lassen sich in der Idee des Goldenen Zeitalters, vor allem bei Hesiod und Herodot, sowie im Motiv der Insel der Seligen (in Lukians Jenseitsreise)23 erkennen. Auch in den attischen Komödien von Telekleides und Pherekrates fliegen bereits gebratene Drosseln umher.24 Die Verweise auf das Paradies sind christlichorientalischer Herkunft, der damit im Zusammenhang stehende Jungbrunnen erscheint zuerst im ›Brief des Priesterkönigs Johannes‹ (1177) und in einigen Alexanderdichtungen.25 Nicht nur vor dem Hintergrund dieser offenkundigen Bezüge scheint es problematisch, den Schlaraffenland-Komplex zur Volksliteratur zu zählen; auch weisen die frühesten Texte eher auf die Klosterkultur als auf ein volkstümliches Märchenmotiv hin.26 23

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Lukian von Samosata, Wahre Geschichten. Aus dem Griechischen übersetzt und mit einem Vorwort von WALTER WEIDNER, Tübingen 2004. HANS-JÖRG GILOMEN, Das Schlaraffenland und andere Utopien im Mittelalter, Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 104 (2004) S. 213–248. GILOMEN macht besonders auf die Komödie ›Amphiktyones‹ des Telekleides und die historiographischen Beschreibungen vom Goldenen Zeitalter aufmerksam (S.223–225). Vgl. dazu auch schon RICHTER [Anm. 20], S. 12–24, der als Bindeglied zwischen den antiken Texten und der mittelalterlichen Rezeption Vergils 4. Ekloge (Landleben) nennt (S. 19). GILOMEN [Anm. 24], S. 233. WERNER WUNDERLICH, Das Schlaraffenland in der deutschen Sprache und Literatur. Bibliographischer Überblick und Forschungsgegenstand, Fabula 27 (1986), S. 54–75, hier S. 63: »Was für volks-

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Andererseits stand bereits für JACOB GRIMM außer Frage, dass sich hinter den literarischen Texten »verbreitete Volksvorstellungen« verbergen.27 So sahen es auch der Sozialphilosoph ERNST BLOCH und der Historiker FRANTIŠEK GRAUS, die dem Schlaraffenland den Status einer popularen Utopie zuwiesen.28 Literaturhistoriker wie HERMAN PLEIJ begreifen infolgedessen die literarischen Texte als Teil eines größeren imaginären Komplexes, zu dem auch mündliche Erzählungen, Rituale und Bilder zählen. PLEIJ ist der Ansicht, dass vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit alle Milieus »mit Cocagne experimentiert haben.«29 Er stützt diese These auf die vorgängige orale Zirkulation der Schlaraffenlandstoffe, was zwar naheliegend ist, aber an den überlieferten Texten allein nicht bewiesen werden kann, da deren Rahmungen zu ambivalent sind und der Einfluss des literaten Milieus zu dominant ist.30 Dennoch ist auch die Annahme einer rein gelehrten intertextuellen Aufnahme nicht befriedigend, da die Texte durchaus auf kulturanthropologische Semantiken und teils auch auf rituelle Praktiken verweisen (vor allem den Karneval und seine Rituale, oder das Erntedankritual des mât de cocagne).31 Außerdem sind Goldenes Zeitalter und Insel der Seligen trotz aller Motivähnlichkeit anders gelagerte literarische Entwürfe, gegen die sich die Erzählformen des Schlaraffenlands teilweise deutlich abheben: Sie sind sprachlich stark von der Oralität geprägt, ein Umstand, auf den Volkskunde und Ethnologie immer wieder hingewiesen haben. In dieser ersten Kontroverse bietet der Mythosbegriff mit seiner doppelten Verweisstruktur auf Erzählung und Denkform einen möglichen Ausweg, denn das Mythische

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tümlich gehalten wird, ist als literarische Äußerung unterer und breiter Volksschichten nicht zu dokumentieren und häufig genug auch gar nicht mit Volk identisch.« JACOB und WILHELM GRIMM, Anmerkungen zu KHM 158. Das Märchen vom Schlaraffenland, in: Kinder- und Hausmärchen, Köln 21819, S. 244–259. ERNST BLOCH, Freiheit und Ordnung. Abriß der Sozialutopien, Berlin 1947, S. 9; FRANTIŠEK GRAUS folgt Bloch in der Einschätzung, das Schlaraffenland stelle eine Sozialutopie des Mittelalters dar. FRANTIŠEK GRAUS, Social Utopias in the Middle Ages, Past and Present 38 (1967), S. 1– 19. HERMAN PLEIJ, Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben, Frankfurt am Main 2000, S. 37. PLEIJ [Anm. 29], S. 13, bettet den Text vom Schlaraffenland in eine populare mündliche Erzähltradition ein, in der der Schrifttext nur ein zufällig entstandenes Zeugnis gegen das Vergessen ist. An dieser Vorstellung übt GILOMEN [Anm. 24], S. 221f., Kritik: »Meines Erachtens ist der Stoff aber zunächst in rein gelehrtem Milieu entstanden und erst nachmittelalterlich volkstümlich geworden […]«. . Noch weiter geht HUBERT HEINEN, Das Schlaraffenland und die verkehrte Welt als Gegenutopien, in: Sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für ANTHONIUS H. TOUBER zum 65. Geburtstag, hrsg. von CARLA DAUVEN-VAN KNIPPENBERG, HELMUT BIRKHAN, Amsterdam 1995, S. 241–253, der in einem Vergleich mit der deutschsprachigen Spruchdichtung meint, dass die Schlaraffenlandtexte von Beginn an moralisch und satirisch gedacht sind.. Die Brüder GRIMM [Anm. 27], S. 248, machen auf ein Ritual in der neapolitanischen Fastnacht aufmerksam, bei dem la Cuccagna, eine »mit Gänsen, Würsten und andern Eßwaren besetzte Pyramide durch die Straßen« geführt wurde, was bereits Hans Sachs in seinem Gedicht ›Sturm des vollen Bergs‹ (Fabeln 1,5, 543a) beschrieben hatte.

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lässt sich gleichermaßen auf Text- und auf Mentalitätsstrukturen beziehen.32 Keineswegs wäre damit die Volkstümlichkeit der Texte bestätigt; die mythischen Substrate der Texte partizipieren jedoch am Imaginären der Volkskulturen, sind Ausdruck anthropologischer Grundkonstanten des Mittelalters. Umstritten ist zweitens die Frage nach der historischen Semantik des Schlaraffenlandes und seiner Symbolfunktionen. Handelt es sich dabei um eine Kompensation für Hunger, Unfreiheit und Armut? Der Kulturanthropologe PIERO CAMPORESI etwa geht ebenso von der Zugehörigkeit der Texte zur Volkskultur aus und begreift sie als symbolische Bearbeitung der ungleichen Verteilung der Lebensmittel und der existenziellen und körperlichen Nöte der agrarischen Bevölkerung.33 Für ihn ist das Schlaraffenland die bäuerliche Version des Traums vom Goldenen Zeitalter und fußt auf materiellen Mängeln in der menschlichen Lebenswelt. Allerdings würde dieser Traum niemals zum Antriebsmoment für eine authentische politische und soziale Erneuerung.34 Anders dagegen argumentiert der Historiker JACQUES LE GOFF, der im Schlaraffenland la seule véritable utopie médiévale sieht, welche die gesellschaftliche Realität grundsätzlich und umfassend kritisiere und die Vision einer ganz anderen Welt entwerfe, in der der Gegensatz Natur-Kultur aufgehoben sei.35 Dass das Schlaraffenland auch utopisch ist, dass es im 16. Jahrhundert geradezu zu einem falschen Utopia wird, scheint mir ausgemacht, denn es gibt klare Analogien in beiden Entwürfen: der gemeinschaftliche Besitz der materiellen Güter, die Verfügbarkeit von Nahrung für alle, die Aufhebung sozialer Unterschiede zwischen Menschen und die Neudefinition der Arbeit.36 Dennoch gibt es auch Probleme mit dem Begriff der ›Utopie‹, da der Schlaraffenland-Komplex keinerlei intellektuellen Anspruch auf Durchsetzung sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit vorsieht; er steht der rationalen, geplanten Vision von einer differenzierten Gemeinschaft mit den Attributen der geregelten Arbeit und Freizeit, Genügsamkeit und Mäßigung, Keuschheit und Vernunft geradezu diametral entgegen. Insofern wird er kaum zum Antriebsmoment für eine authentische politische Erneuerung.

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Vgl. FRIEDRICH, QUAST [Anm. 10], S. XXXV. PIERO CAMPORESI, Das Brot der Träume. Hunger und Halluzinationen im vorindustriellen Europa, Frankfurt am Main 1999, S. 9: »Die Flucht in künstliche Paradiese, in kopfstehende Welten und überspannte Träume, mit der die zerlumpten und ausgehungerten Massen im Verlauf der frühen Neuzeit ihren harten Lebensbedingungen zu entkommen suchten, war das Ergebnis der ungleichen Verteilung der Lebensmittel.« Ebd. S. 37f. JACQUES LE GOFF, L'utopie médiévale: Le pays de Cocagne, Revue européenne des sciences sociales 27 (1989), S. 271–286. HANS RUDOLF VELTEN, Utopien im 16. Jahrhundert in Deutschland und Europa, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd.1: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hrsg. von WERNER RÖCKE, MARINA MÜNKLER, München 2004, S. 529–571.

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Am weitesten gehen sozialhistorische Interpretationen, welche das Schlaraffenland als Gegenbewegung zu den Rationalisierungszwängen und der »bürgerlichen« Neuausrichtung des 16. Jahrhunderts sehen: An PAUL MÜNCHs Studie etwa ist eine allzu leichtfertige Übertragung der Schlaraffenland-Texte auf die historische Übergangsepoche zwischen Mittelalter und früher Neuzeit zu erkennen, indem er das Schlaraffenland als eine radikale Negation der neuen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und konfessionellen Entwicklungen des 15. und 16. Jahrhundert begreift und damit ein »archaisches« Mittelalter einer fortschrittlichen Moderne entgegenstellt. »Hier waren alle Prioritäten revolutionär neu gesetzt; fast spiegelbildlich vertauschten die Schlaraffen die mit den Prozessen der Rationalisierung, Zivilisierung und Konfessionalisierung einhergehenden Ideale der realen Welt durch ein lockeres Geflecht zwangloser, egalitärer und hedonistischer Verhaltensmuster. Ordnung, Hierarchie, Disziplin, Fleiß – die Grundwerte der heraufziehenden Moderne – besaßen für die Kukanier keinerlei Verbindlichkeit.«37 Abgesehen von der fragwürdigen Gleichsetzung des Schlaraffenlandes mit einer gesellschaftlichen Gruppe in diesem letzten Beispiel erscheinen solche sozial- und kulturhistorischen Deutungen, die vollkommen ohne eine Analyse literarischer und textueller Strategien auskommen, aus heutiger Sicht unterkomplex und aus verschiedenen Gründen angreifbar. Sie können z.B. nicht erklären, wie die negativdidaktischen Tendenzen der Texte (gerade derjenigen aus dem 16. Jahrhundert), ihre närrischen Inversionen und parodistischen Rahmungen zu erklären sind. Diese spielen wiederum einer anderen Deutung in die Hände, die im Schlaraffenland ein abschreckendes Beispiel mit starken Zügen, eine satirisch-belehrende Warndichtung erkennt. Betrachtet man vor allem die späteren Texte von Sebastian Brant, Geiler von Keysersberg und Hans Sachs, aber auch das ›Abentheurisch Lied in dem Roten Zwinger thon‹ und einige mittelniederländische Spruchgedichte, so findet man statt Kompensation, Gesellschaftskritik und Rationalitätsverweigerung die ethische und religiöse Verkehrtheit bestimmter Haltungen und Handlungen, die mit dem Attribut »närrisch« bezeichnet werden können und über das evozierte Lachen der negativen Didaxe dienen sollten.38 Hier ist das schluraffen landt das Land der Toren, Faulen und Müßiggänger, wohin sich das Narrenschiff Brants wendet, 39 geradezu eine Anti-Utopie, deren nirgendwo realisierbares utopisches Potenzial karikiert und lächerlich gemacht wird. 37 38 39

PAUL MÜNCH, Lebensformen in der frühen Neuzeit. 1500–1800, München 1996, S. 335. Vgl. dazu vor allem WUNDERLICH [Anm. 26], S. 67–69 und PLEIJ [Anm. 29], S. 391–442. Brant verwendet den Terminus schluraffen landt analog zu narragonia, einem fiktiven Land der Narren. Er gibt aber keine Beschreibung dieses Landes. Vgl. Sebastian Brant, Ein vorred in das narren schyff; Das schluraffen schyff, in: Ders., Das Narrenschiff, mit allen 114 Holzschnitten des Drucks Basel 1494, hrsg. von JOACHIM KNAPE, Stuttgart 2005, S. 107–112, 492–498; ferner Geiler von Kaysersberg, Predigt über die Schluchraffen Narren (1498), in: Narrenschiff aus Latein in Deutsch bracht, hrsg. von Johannes Pauli, Straßburg 1520; (Schlaraffen als lasterhafte Toren). Im Zusammenhang mit Brant redet 1515 die ›Quaestio de generibus ebriosorum‹ von der preiten gesellschaft, die do schiffen und segeln mit halben wind versus Narragoniam, in Schlauraffenland, do die heußer mit bratwürsten gezeunet und mit Honig bekleibt und mit fladen gedeckt seyn, da uns

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Keine der vorgestellten Lesarten nimmt allerdings einen Aspekt näher in Augenschein, welcher in fast allen überlieferten Texten eine wichtige Rolle spielt: die Abhängigkeit der präsentierten Erzählung – und somit des Schlaraffenlandes – von einem Erzähler, der sie in vielen Fällen selbst als Lügengeschichte, zumindest aber als unernste Geschichte ausweist und somit jegliche affirmative Lesart stört. Mit diesem Befund stehen die viel zu selten beobachteten innertextuellen Strategien des Karnevals (Verkehrte Welt-Topik, Adynata, Hyperbolisches, Familiarisierungen) in engem Zusammenhang, welche freilich dem »närrischen« Element zugeschlagen werden können, aber doch weniger auf der Handlungs-, als mehr auf der Erzählebene wirksam werden. Die schelmische Lügenerzählung und die karnevalesken Strategien machen aus dem präsentierten schlaraffischen Mythos eine naive Kinder- oder Bauernphantasie bzw. ein lächerliches Märchen. Die Brüder GRIMM sind m.E. die ersten gewesen, die diese strukturelle Nähe von Lügenerzählung und Schlaraffenland bemerkt haben, ohne sie freilich analytisch herauszuarbeiten.40 Eine Geschichte als Fiktion oder Lüge auszugeben und dies narrativ oder metanarrativ deutlich zu machen, muss jegliche inhaltliche Semantik beeinflussen, wenn nicht belasten. Andererseits kann sie durch ihre spezifische Rahmung gerade besondere Textmerkmale oder Rezeptionswünsche herausstreichen oder tilgen, oder die Erzählung selbst stärker in den Vordergrund treten lassen. Schlecht verträgt sich eine Lügengeschichte mit den oben diskutierten Funktionsvorschlägen des Schlaraffenlandes als Hungerkompensation, Utopie, Rationalitätskritik und Moraldidaxe. Betrachtet man das Schlaraffenland allerdings als Mythos, können dadurch narrative und semantische Analyse, textuelle und kulturelle Semiotik effektiver aufeinander bezogen werden, wodurch sich die bisherigen Forschungskontroversen abschwächen, wenn nicht obsolet machen ließen. Der Mythos ist nicht an Gattungen gebunden, sondern pflanzt seinen Kernbestand an Erzählungen in verschiedenen Varianten und somit auch Textgattungen fort. Ein literarischer Mythos ist auch offen zum Ritual und zum gesellschaftlichen Imaginären einer Epoche. Dennoch bezeichnet er präzise Formen und Konstanten, ohne seine Funktion im sozialen und kulturellen Leben des Menschen aufzugeben.41 Indem die überlieferten Texte einen literarischen Mythos vom Schlaraffenland – im Sinne einer vorrationalen, isolierten und paradoxen Anderwelt – konstruieren, dekonstruieren sie ihn gleichzeitig im Modus der Lügenerzählung, so meine These.

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die gebraten tauben in die meuler fliegen, zit. nach GRIMM [Anm. 27], S. 248; ferner Das Windschiff aus Schlaraffenland, hrsg. von ERICH KLEINSCHMIDT, Bern 1977. Vgl. GRIMM [Anm. 27]. CASSIRER [Anm. 8], S. 39: »Was wir zu wissen wünschen, ist nicht bloß der Stoff des Mythus, es ist eher seine Funktion im sozialen und kulturellen Leben des Menschen.«

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Mythische Schichten Mythische Topographie Beobachtet man die Rahmungen der Erzählungen vom Schlaraffenland, so erscheint es in große zeiträumliche Ferne gerückt. Um dorthin zu gelangen, muss eine imaginäre Grenze überschritten werden, welche das dahinter liegende Land als Anderwelt ausweist, eine Anderwelt, in der mythische Räume des Christentums und des Altertums persistieren und miteinander kombiniert werden. Dieses Arrangement setzt sich größtenteils aus Elementen und Motiven des (verlorenen) irdischen Paradieses der Genesis, des irdischen Glückslandes (der glücklichen Inseln Lukians von Samosata und ihren Prätexten, des platonischen Mythos von Atlantis und des homerischen Mythos von der Insel der Seligen) sowie des Topos des locus amoenus der griechischen Dichtung zusammen. So wird das paradiesische Cocaygne in einem Gedicht aus Irland von der Mitte des 14. Jahrhunderts – vielleicht auch in Anspielung auf die Seereise des Hl. Brandan – als unscharfes Inselland im westlichen Meer lokalisiert: Fur in sea / by west of Spayngne / Is a lond ihote Cokaygne. Kein Land auf Erden könne sich mit diesem an Wohlstand und Glückseligkeit messen: though Paradise be meri and bright, Cokaygne is of fairer site.42 Die Auszeichnung als das beste der Länder – hier noch in der Überbietung des Paradieses – und die undeutliche geographische Lokalisation stehen direkt nebeneinander, die imaginäre Geographie verheißt Glück und Wohlleben. Das Wunderland ist von Gott und seinen Heiligen gesegnet, mehr als alle anderen Gegenden, wie es ebenso im frz. Fabliau heißt: Je cuit que Diex et tuit si saint / L’ont miex beneïe et sacree / Que il n‘ont une autre contree,43 was nochmals die Analogie zum irdischen Paradies unterstreicht. Zweihundert Jahre später klingt das in einem deutschen Flugblatt kaum anders: Das Land leit drey Meil hinder den Weynnachte, Man muß durch Schne und Eyse, Dem der Weg wirt bekandt, Zur lincken Handt Nahent beym Paradeyse, 44 Daselben leyt Schlauraffenland.

Isolation und Abgeschlossenheit wird hier durch die paradoxe zeiträumliche Formulierung drey Meil hinder den Weynnachte evoziert. Der Zugang ist schwierig und selektiv, 42

43 44

›The Land of Cocaygne‹ (London, BL Ms. Harley 913, fol.3), abgedruckt in: Early English Poems and Lives of Saints. (With those of the wicked birds Pilate and Judas). Copied and ed. from ms in the Library of the British Museum, hrsg. von FREDERICK J. FURNIVALL, Berlin 1862, S. 156–161. ›Le fabliau de Cocagne‹ [Anm. 22], vv. 24–26. Ain Abenteürisch Lied von dem Schlauraffenlandt: in dem Roten Zwinger Thon. Fliegendes Blatt, abgedruckt in: Das Lied von dem Schlaraffenland im roten Zwingerton, hrsg. von OTTO CLEMEN (Zwickauer Faksimiledrucke 14), Zwickau 1912.

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wodurch sich das Land als Anderwelt bezeichnen und als geschlossener mythischer Raum wahrnehmen lässt. Diese »raummythisch begründete Idee der Limitation« (CAS45 SIRER) wird in vielen Texten auch als geographische Barriere hergestellt: Verschiedene Meere und Berge aus Hirse, Buchweizen, Reis oder Dreck und Schweinemist müssen überwunden, durchfressen und mühsam durchgraben werden, und so sind es mehr oder weniger phantastische Grenzen und Schwellen, die die Zugänglichkeit zu dieser paradiesähnlichen Anderwelt verhindern und gleichzeitig ermöglichen. Die (parodistische) Verbindung von mythischer Topographie und Glückseligkeit wird auch an den Varianten des locus amoenus deutlich. So heißt es im irischen Lied über ein schönes Kloster in Cocaygne: In Þe praer is a tre. Swipe likful for to se. Þe rote is gingeuir and galingale. Þe siouns beÞ al sedwale. Trie maces beÞ Þe flure Þe rind canel of swet odur Þe frute gilofre of gode smakke. Of cucubes per n‹ is no lake Þer beÞ rosis of rede ble. And lilie likful for to se. Þai faloweÞ neuer day no niſt. 46 Þis aſt be a swet[e] siſt.

Der in einem paradiesischen Garten gelegene Baum verbindet die Lustorttopik mit kostbaren und seltenen Gewürzen, welche wohltuenden Duft ausströmen; all dies in phantastischer Vereinigung von der Wurzel bis zu den Blättern. Hinzu kommen immerblühende Lilien und Rosen, Symbolträger für die Reinheit und Schönheit Marias. Hier liegen Heiliges und Profanes direkt beieinander, ein »Zusammenschluss aller Differenzierungen in einem großen Ganzen, in einem mythischen Grundplan der Welt«, wie CASSIRER den mythischen Raum charakterisiert.47 Vervollständigt wird dieser an die sinnliche Wahrnehmung gerichtete Paradieses-Paragone, wie man sagen könnte, durch den Glanz von Edelsteinen, den lieblichen Gesang zahlreicher Singvögel und vier Quellen von Heilwasser, Heilsalbe, Balsam und Wein. Wer in solch ein Land kommt, dem mag nit misselinge, / Er mag auch allzeit leben wol, wie es im Lied im roten Zwin45

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CASSIRER [Anm. 8], S. 124. Vgl. auch ERNST CASSIRER, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft (Hamburg) 25 (1931), S. 21–36. ›The Land of Cocaygne‹ [Anm. 42], vv. 71–82. ›Und auf der Wiese steht ein Baum, / der ist gar herrlich anzuschaun, / seine Wurzel ist Galgant und Ingwer, / seine Triebe sind ganz aus Zitwer, / aus feinem Muskat seine Blüten sind, / und die Rinde aus süßem duftenden Zimt, / die Früchte wohlriechende Nelken sind, dazu man reichlich Kubebe findt./ Rosen in herrlicher Farbe da stehen / und Lilien herrlich anzusehen. / Sie welken weder Tag noch Nacht, / dies Bild ist eine süße Pracht.‹ (Übers. RICHTER [Anm. 20], S. 137). CASSIRER [Anm. 8], S. 109.

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gerton48 im Hinblick auf die Glück verheißende Landschaft lautet: Zur mythischen Topographie gehört auch die mythische Zeit.

Mythische Zeit Das Schlaraffenland wird von fast allen Interpreten im Zusammenhang mit einer mythischen Urzeit und der Hoffnung auf ihre Wiederkehr verbunden. Doch die Struktur dieser Anderwelt ist in ihrer raumzeitlichen Unbestimmtheit keine Vergegenwärtigung einer verlorenen Vergangenheit, sondern sie ist ganz auf die Gegenwart ausgerichtet. Sie kennt keinen Anfang, weil sie keinen braucht. Ihr Dasein ist anfangslos, es ist die immerwährende, kosmische Zeit des Paradieses, die heilige Zeit. So wie es keine systematische räumliche Ordnung gibt, existiert auch keine lineare oder zyklische Zeit. Die Zeit bildet nicht den Raum für Geschehnisse, sondern sie ist die Geschehnisse selbst. Vergangenheit und Zukunft sind von der Gegenwart ungeschieden. Geburt, Wachsen und Werden, Altern und Tod sind keine zeitlichen Kategorien: N’is Þer no deÞ, ac euer lif, heißt es im irischen Gedicht – ›dort gibt es keinen Tod, nur ewiges Leben‹, und selbst der Wechsel von Tag und Nacht ist unbekannt: Al is dai, n’is Þer no niſte.49 Da verwundert es nicht, wenn der Kirchenkalender zugunsten einer Vervielfältigung der Feste auf den Kopf gestellt wird: Vj semaines a en j mois, Et iiij pasques a en l’an, Et iiij festes saint Jehan, Et s’a en l’an iiij vendenges, Toz jors festes et dïmenches, iiij toz sainz, iiij noez, Et iiij chandeliers anvez, Et iiij quaresmiaus prenanz, 50 Et j quaresme e en xx anz.

Hier ist die Abfolge des Kalenders aus den Fugen geraten; die zeitliche Eingrenzung und Liminalität der kirchlichen und heidnischen Feste erscheint gänzlich aufgehoben zugunsten einer hypertrophen und exzesshaften Wiederholung, die das Fest zum modus vivendi macht: jeder Tag ist ein Festtag, und meist noch ein Feiertag dazu. Mit MICHAIL BACHTIN gesprochen, dehnt sich hier das Karnevals-Chronotop auf die gesamte Zeit

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›Ain Abenteürisch Lied‹ [Anm. 44], Str. 4,8–9. ›The Land of Cokaygne‹ [Anm. 42], vv. 26, 28; ›die lichten Tage nie zu Ende gehen‹. ›Le fabliau de Cocagne‹ [Anm. 22], vv. 80–88. ›Ein Monat hat sechs Wochen, / Viermal im Jahr ist Ostern, / Viermal Sankt-Johannis-Fest, / Vier Weinernten gibt es im Jahr, / Alle Tag ist Feiertag und Sonntag, Viermal feiert man Allerheiligen, viermal Weihnachten / Und viermal jährlich Lichtmeß, / Viermal Karneval, / Und nur einmal alle zwanzig Jahre kommt eine Fastenzeit.‹

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aus und macht sie somit als mythische Festzeit begreifbar.51 Überwunden wird die von DURKHEIM beschriebene Idee des Festes als eines Übergangs von der alltäglichen Ordnung zu einer geheiligten Ordnung, der den Zeitfluss markiert. Wo es aber keine Zeit außerhalb der Festzeit mehr gibt, ist auch der Übergang verzichtbar. Das Fest verweist kultursemiotisch auf die primordiale Zeit des Ursprungs, auf den Schöpfungsakt und auf das fast schon vor-mythische Bewusstsein einer zeitlosen Ordnung.52 Diese Ordnung ist wie die mythische Geographie bereits mit Wohlleben und Fülle verbunden; das mnl. Gedicht ›Dit is van dat edele lant von Cockaengen‹, welches sich am frz. Fabliau orientiert, macht diese Beziehung unmittelbar deutlich: Het is daer altijt of’t waer meye. / Daer singt elc voghel sijnre leye. / Daer coemt in die maent vijf weken / [...] niet ghebreken.53 Immerwährender Frühling korrespondiert mit der Abwesenheit von jederlei Mangel, Krankheit und Tod. Alle zeitliche Abfolge, alles organische Entstehen und Vergehen ist diesem Bewusstsein fremd. Menschliches Altern wird durch ewige Jugend ersetzt, für welche ein Jungbrunnen zur Verfügung steht: [Noch is dae]r een beter doecht, [Daer elck myn]sche by is verhoecht. [In d]at lant loept een Jordane [?] en die daer quamen [?] men dat water in haren mont [?] ouden alle worden jonc, 54 [Re]cht of sy waren van twintich jaren.

Hier ist wieder ein Chronotopos zu erkennen, welcher mythischen Raum und mythische Zeit zum Zwecke der immerwährenden Jugend verbindet. Paradox daran bleibt allerdings, dass in einem Land, wo die Zeit still gestellt ist, ein Jungbrunnen gebraucht wird; vielleicht für diejenigen, die schon alt in das Schlaraffenland eintreten, vielleicht ist es aber auch ein offener Widerspruch. Die mythische Zeit tilgt unmerklich die zeitlich-his-

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MICHAIL BACHTIN, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1995, S. 57–60 und DERS., Chronotopos, Frankfurt am Main 2008, S. 20–25. CASSIRER [Anm. 8], S. 129–134, der sich hier auf Schelling beruft: »Es herrscht in ihm – mit Schelling zu reden – noch eine ›schlechthin vorgeschichtliche Zeit‹, eine ›ihrer Natur nach unteilbare, absolut identische Zeit, die daher, welche Dauer man ihr zuschreibe, doch nur als Moment zu betrachten ist, d.h. als Zeit, in der das Ende wie der Anfang und der Anfang wie das Ende ist, eine Art Ewigkeit, weil sie selbst nicht eine Folge von Zeiten, sondern nur Eine Zeit ist, die nicht in sich eine wirkliche Zeit, d.h. eine Folge von Zeiten ist, sondern nur relativ gegen die ihr folgende zur Zeit (nämlich der Vergangenheit) wird‹«. CASSIRER [Anm. 8], S. 131. ›Dit is van dat edele land van Cockaengen L‹ (London, BL Ms. Add. 10286, fol. 135r v), abgedruckt in PLEIJ [Anm. 29], S. 58–65. ›Auch ist’s dort immer wie im Mai, / Jed’Vöglein singt sein Melodei. / Fünf Wochen dort zum Monat gehören, / Und niemand braucht was zu entbehren‹ (Übers. S. 63). PLEIJ [Anm. 29], S. 64. ›Und schließlich ein noch größrer Segen, / Ein Quell der Freude allerwegen: / Durch das Land fließt ein Jorden, / Dass jeder Mensch, der dorthin kam, / Und mit Wasser netzt’ den Mund, / Aus schwach und alt ward wieder jung, / Als zählte er kaum zwanzig Jahr‹ (S. 65).

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torischen Kontexte des Erzählten: Sallustios’ Wendung »Es geschah nie, ist aber immer«55 beschreibt die Herrschaft dieser präsentischen Evidenzerfahrung sehr treffend.

Ungeschiedenheit In der Welt des Schlaraffenlandes gibt es somit kein Geschehen und keine in klarer Kausalität miteinander verknüpften Geschehensfolgen. Die Ursachen des Erzählten werden an keiner Stelle erklärt, sondern im Dunkeln gelassen. Es gilt CASSIRERs Formulierung von der Ungeschiedenheit und der Konkreszenz der Daseinsformen: »Ursache und Folge, Werden und Sein, Vorher und Nachher, Hier und Anderswo, Entferntes und Benachbartes verschwimmen. Indem sie nicht eindeutig geschieden sind, erweist sich diese Welt als mythisch.«56 So sind im mythischen Denken Traum und Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen, wie auch Subjekt und Objekt, Wort, Bild und Ding nicht geschieden sind und somit das eine das andere nicht repräsentieren kann, sondern selbstreferentiell bei sich ist.57 Auch die Relation von Zeichen und Bezeichnetem ist dem mythischen Denken fremd; es gibt nichts, was etwas anderes bezeichnen bzw. bedeuten würde, nichts, was etwas anderes figurativ darstellen würde. Indem die Bildhaftigkeit aller Elemente des Schlaraffenlandes mit sich selbst identisch ist, verweigern sie sich auch vereindeutigenden Allegoresen und Symbolen und lassen sich diskursiv kaum auflösen. Aus Geschehenslosigkeit und Ungeschiedenheit ergeben sich auch die wichtigsten Differenzen zum Märchen; denn dieses ist völlig handlungsbestimmt und operiert mit basalen semiotischen Differenzen (gut/böse, eigen/fremd, fleißig/faul usw.), welche in den Schlaraffenlanderzählungen entweder nicht auftreten oder subvertiert werden, womit wiederum ihre Zusammengehörigkeit unterstrichen wird. Blickt man auf die Erzählweisen der Schlaraffenlandtexte, stellt man fest, dass etwa in den Gedichten Verbalphrasen wie »Da sind…«, oder »Es gibt dort«, »Alles ist…«, »Wer dort hinkommt, der…« vorherrschen. Alles besteht bereits, wird vom Erzähler sukzessiv visualisiert und verändert sich nicht: Es verharrt in seinem So-Sein. Da es fast keine handelnden Personen gibt, müssen auch die Motive für ihr Handeln nicht genannt werden. Was das Arrangement der einzelnen schlaraffischen Elemente angeht, so folgen sie aufeinander im Sinne einer paradigmatischen Reihung, welche nicht kausallogisch geordnet ist. Das Verhältnis der Reihenelemente ist unterschiedlich, teils durch 55

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Sallust, ›De diis et mundo‹ IV, 9. Dt.: Sallustios, Von den Göttern und dem Weltall, Scheidewege – Jahresschrift für skeptisches Denken 3 (1973), S. 376–394. CASSIRER [Anm. 8], S. 32f. Diese Aussage wird später von LÉVI-STRAUSS kritisiert werden, der die These, der Mythos sei prä-logisch, in Frage stellt und ihn als eine Manifestation eines eigenen Denkens, einer eigenen Logik der Ordnung der Welt erkennt. Vgl. CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 21. CASSIRER [Anm. 8], S. 51: »Das ›Bild‹ stellt die ›Sache‹ nicht dar – es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt.«

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Kontiguität bestimmt, teils metrischen und klanglichen Aspekten geschuldet. So beginnt die Beschreibung des Wunderlandes im mnl. Gedicht ›Dit is van dat edele land van Cockaengen‹ mit einem Verweis auf die Abwesenheit von Arbeit (v. 10), es folgt ein vergleichendes Lob (vv. 11–13), darauf die Bemerkung, es gebe dort viele schöne Frauen (v. 14), dann der Hinweis, das Land sei eine Schöpfung des Hl. Geistes (v. 15), dann die Aussage: wer am längsten schläft, hat am meisten (v. 16), darauf folgen wieder zwei Verse zur Absenz von Arbeit (vv. 17–18), danach ein Hinweis auf das Wohlleben aller (v. 19), und erst dann beginnt ein längeres Cluster mit der bekannten ›Freßarchitektur‹ (vv. 20–38).58 Zentrum und Bezugspunkt der »Reihung unmöglicher Dinge«59 ist allein das Schlaraffenland selbst, seine Beschaffenheit, seine Bewohner und seine Regeln; untereinander stehen diese Elemente nicht in Beziehung zueinander. Wir könnten also sagen, dass den einzelnen Elementen des Schlaraffenlandes das Syntagma, die syntagmatische Ordnung fehlt; sie sind paradigmatisch relationiert.

Magische Automatismen Das Schlaraffenland ist berühmt für seine originellen Automatismen, welche die Gesetze der Mechanik und Physik sowie der Logik außer Kraft setzen und der menschlichen Erfahrung und Rationalität widersprechen: Semmeln, Puderzucker, Honig und Makkaroni fallen als essbarer Regen, Schnee oder Tau vom Himmel; die nicht bearbeitete Erde bringt wundersam gekochte Speisen hervor; an den Bäumen wachsen Schinken und Kleider; Menschen und zum Verzehr zubereitete Tiere können fliegen; Ess- und Trinkgefäße, Kleidung, Schmuck wachsen an Bäumen; Exkremente werden in Leckereien verwandelt usw. Solche Phänomene des magischen Wachstums, der automatischen Gütererzeugung und der magischen Selbstbewegung, die Hervorbringung und Darbietung von Dingen ohne menschliches Zutun sind bereits in den griechischen und römischen Prätexten, bei Hesiod, Lukian und Vergil zu beobachten. Hier wie dort stehen sie rationaler Welterfahrung und physikalischer Gesetzlichkeit entgegen, wirken jedoch in einem schlaraffischen Panorama als direkter Ausdruck einer überbordenden mythischen, phantastischen Fruchtbarkeit. Doch damit nicht genug: Die Natur muss nicht bezwungen oder gezähmt werden, sondern stellt dem Bedürftigen freiwillig alles zur Verfügung, sodass er die Vertreibung aus dem Paradies mit der Aufforderung, im Schweiße seines Angesichtes sein Brot zu verdienen (Gen 3,19) getrost »vergessen« kann: Das Schlaraffenland ist ein Ersatz-Paradies, das nicht von Gott geschaffen (wenn auch beschützt) ist, sondern auf einer magischen, irrationalen Ökonomie der Distribution und der Bereitstellung beruht.60 58 59

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PLEIJ [Anm. 29], S. 63. Vgl. dazu ERNST ROBERT CURTIUS, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern/ München, 101984, S. 104–108. Vgl. dazu RICHTER [Anm. 20], S. 36–38.

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Schöne Beispiele dafür sind Boccaccios Erzählung vom ›Paese di Bengodi‹ (›Decameron‹ VIII, 3), wo der naive Calandrino von einem Gebirge aus Parmesankäse hört, wo einem die Nudeln mit dem Käse direkt in den Mund fallen, oder die berühmten gebratenen Tauben aus den deutschen Schlaraffenland-Versionen, die noch heute sprichwörtlich sind. Was ist nun daran mythisch? Einmal sicherlich das Potential des mythischen Denkens, Beziehungen herzustellen, die der Logik und den wissenschaftlich-rationalen Gesetzen nicht zugänglich sind, ohne dass die mythische Welt dadurch in Frage gestellt würde. Nach CASSIRER liegt die entscheidende Differenz zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken darin, dass im Mythos nicht analytisch gedacht werde, dass es keine überprüfbaren Bedingungen gebe.61 Auf Grund dessen sind in den Erzählungen vom Schlaraffenland Adynata (unmögliche Dinge) und Paradoxa gerade möglich: Pferde scheiden statt Kot Eier bzw. Gold aus, Esel Feigen und Eulen Mäntel; in der deutschen Lügengeschichte ›vom packofen‹ (1450/60) sucht ein Backofen Abenteuer: Eins tags vor allten zeyten / Ein packoffen pegund außreyten und gerät gemeinsam mit einem Essigkrug ins Schlaraffenland. Dort gibt es lederne Glocken, die an einem Eiszapfen hängen und mit Stroh geläutet werden, so wie es im Lügengedicht ›Ich sach eins mâles in der affen zît‹ (14. Jh.), welches die Brüder GRIMM zum ›Märchen vom Schlauraffenland‹ umformten, fußlose Männer gibt, die vor Pferden herlaufen und auch einen pfluoc / âne ros und âne rint.62 Die Adynata, die sich hier zur ›Verkehrten Welt‹ auswachsen,63 sind in der mythischen Zeit und im mythischen Raum aufgehoben. Sie unterliegen nicht der Veränderung, dem Werden und dem Vergehen, sie bewirken nichts, haben keine Ursache und keine Konsequenzen. Denn das Adynaton zeigt nach CASSIRER das Inkompatible, zeigt das negative Andere der Potenz und drückt es in un-möglichen Bildern aus.64 Drittens schließlich verdankt sich die Tendenz zum Automatismus der Inaktivität der Menschen im Schlaraffenland. Die Arbeitsökonomie ist verkehrt: Nicht sie selbst arbeiten, sondern die Natur arbeitet für die Menschen, ganz so, wie sie für die Götter in den Mythologien des Altertums arbeitet. Dabei muss auch kein Grund und keine Ursache angegeben werden – das mythische Bewusstsein ist frei von jeglichem Rechtfertigungszwang. So verwundert es nicht, wenn der Erzähler des ›Fabliau von Cocaingne‹ beispielsweise von gedeckten Tischen am Wegesrand berichtet, ohne zu sagen, wie sie dort hingekommen sind, von herbeikommenden Gläsern oder von herumlaufenden gebrate-

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CASSIRER [Anm. 8], S. 57–59. ›Aus der Affenzeit: Sô ist diz von lügenen‹. Abgedruckt in: Altdeutsche Blätter, Bd. 1, hrsg. von MORIZ HAUPT, HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN, Leipzig 1836, S. 163–65, hier zit. aus RICHTER [Anm. 20], S. 181–182. Vgl. CURTIUS [Anm. 59], S. 106. Allerdings haben wir es hier nicht mit einem Topos zu tun, der im Stile einer Zeitklage die Zustände der Welt betrachtet. Da alle Adynata ausnahmslos auf die ferne Welt des Schlaraffenlandes bezogen sind, nehmen sie mythischen Charakter an. CASSIRER [Anm. 8], S. 46.

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nen Tieren. Sie sind da als Teile einer Topographie, die selbst nur da ist, weil sie erzählt wird. Eine solche Ausschließung jeder Art von Arbeit und Tauschhandel, von Produktion und Geldwirtschaft (wie häufig wird betont, dass alles nichts kostet), hat ihren Grund darin, dass das Schlaraffenland ein Ort der Konsumption und des Müßiggangs, des Nichtstuns und der Passivität, der fehlenden dynamis ist. Sie kennzeichnet den Raum des Inkompatiblen, das nie wirklich werden kann, aber als Figur des Imaginären umso wirksamer bleibt. Dieser Raum ist vom Niemals-Tun gekennzeichnet, das immer das Andere des Tuns bleibt.65 So füllen die Adynata in ihrer unmöglichen Realisierung den Raum des Nicht-Tuns an, ohne ihn diskursiv zu benennen. Mit dem Nicht-Tun korreliert das Schweigen, welches im Schlaraffenland herrscht, der autistische, sprachlose Charakter seiner Bewohner. Erst im 17. Jahrhundert beginnt das Personal des Schlaraffenlandes zu sprechen, alle vorherigen Texte kennen nur die Stimme des Erzählers. Die Passivität im Handeln der Figuren wird nur noch durch die Passivität im Sprechen überboten: Es gibt so gut wie keine Kommunikation unter ihnen. Man würde nur ihr Nuckeln, Rülpsen, Schmatzen, Furzen oder Schnarchen hören, beobachtet MÜLLER, aber keine Gespräche oder gar Streit.66 Als Raum der Passivität, der adynamia, ist das Schlaraffenland auch der Raum des Erleidens, der Unfähigkeit und der Machtlosigkeit. Der Mensch muss nichts tun, er ist im Mythos geborgen, welcher wie die Gottheit und stellvertretend für sie handelt. Das Schlaraffenland widerfährt seinen Bewohnern, ist impotente Widerfahrnis, und gleichzeitig Überwindung des Leidens und Aufhebung im Immerwährenden.

Die Rahmung als Lügenerzählung und die Dekonstruktion des Mythos Mythen bedürfen der Erzählung und somit der Rahmung durch den Logos. Doch seit Platon gilt der Mythos, wie er durch Homer und Hesiod überliefert wird, (auch) als Lügenerzählung, als etwas Unwahres und Unverbürgtes und darum Zweifelhaftes.67 Wenn wir die erzählerischen Rahmungen der Schlaraffenlandtexte betrachten, fällt auf, dass nicht nur eine Affinität zu expliziten Lügengeschichten besteht, sondern dass der präsentierte Mythos und sein Wahrheitsgehalt schon im Erzählen in Frage gestellt werden. Nicht zu Unrecht rubriziert der ›Motif index‹ das Schlaraffenland unter Lies about 65

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Vgl. dazu: Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs, hrsg. von INGOLF U. DALFERTH, PHILIPP STOELLGER, ANDREAS HUNZIKER (Religion in Philosophy and Theology 38), Tübingen 2009 sowie PHILIPP STOELLGER, Das Andere der Aktivität. Von der Kreativität der Passivität – im Zeichen der Pathosperformanz, in: Performanzen des Nichttuns, hrsg. von BARBARA GRONAU, ALICE LAGAAY, Wien 2008, S. 89–101. MÜLLER [Anm. 6], S. 24. Platon, ›Politeia‹ 2 u. 3 [Anm. 3].

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geography and topography.68 Damit sind nicht allein die explizit als Lügenmären auftretenden und sich zur Unwahrheit bekennenden deutschen Texte (›Wachtelmaere‹, ›Ich sach eins mâls in der affen zît: So ist diz vom lügene‹, ›Vom packofen‹)69 gemeint, sondern auch alle anderen Texte zeigen sich dem aufmerksamen Leser oder Hörer vor allem am Erzählbeginn und am Erzählschluss, also in ihren Rahmungen, als Lügen-, Unsinns-, Scherz- oder Spottliteratur. Seit ERVING GOFFMANS ›Rahmen-Analyse‹ gelten Rahmungen in der Literaturwissenschaft als Prinzipien der Wahrnehmung bzw. Auffassung eines Textes und somit als Instrumente der Rezeptionssteuerung. Wichtig ist, dass die Grenze, die der Rahmen zieht, zwei nicht messbare Bereiche trennt, und das sind einerseits die Erzählsituation und -position des Sprechers (mitsamt dem meist inkommensurablen gesellschaftlichen Milieu ihrer erzählerischen Vermittlung), und andererseits die eigentliche Binnenerzählung, die imaginäre Welt der mythischen Fabel Schlaraffenland. Der Rahmen ist notwendigerweise durch Ausschließung gekennzeichnet und insofern ambivalent. Die Lügendichtung, welche nach einer geläufigen Definition »in unterhaltsamer oder auch satirischer Weise [augenzwinkernd] die Irrealität ihrer Fiktion [signalisiert]«, tut dies sowohl in ihren Rahmungen als auch in ihren Binnenerzählungen. Sie kann dies im Rahmen durch »(1) direktes Eingeständnis der Unwahrheit, (2) ironische Beteuerung der Wahrheit, und (3) durch den Einsatz einer als unwahrhaftig erkennbaren Erzählerfigur« tun, und sie kann es sowohl im Rahmen als auch in der Binnenerzählung durch (4) »die Häufung sachlich unmöglicher Behauptungen« oder auch (5) durch die »Verwendung genretypischer Topoi« erreichen.70 Bei der Anwendung dieser fünf Kriterien auf die von mir behandelten Schlaraffenlandtexte ergeben sich hohe Übereinstimmungen. Während die offene Markierung der Unwahrheit (Kriterium 1) auf die genannten drei deutschsprachigen Lügenmären zu-

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ANTTI AARNE, STITH THOMPSON, The Types of the Folktale, Helsinki 21964 klassifizieren ähnlich: AaTh 1930 - Schlaraffenland / Land of Cokaygne: Land in which impossible things happen: doves fleece a wolf, roast fowls fly etc.; STITH THOMPSON, Motif Index of Folk Literature, Bd. 5 L-Z, X 1500–X1599, Bloomington (Ind.) 31975. Die Lügenmären des deutschen Sprachraums des 14. Jahrhunderts können nur eingeschränkt zu den Varianten des Schlaraffenland-Mythos gezählt werden. So besteht etwa das um 1350 entstandene ›Wachtelmaere‹ vornehmlich aus einer Reihe von Adynata, wo die Mutter eines alten Essigkrugs mit dem König von Nirgendwo in das Land Kurrelmurrel reitet, welches mit der bekannten Fressarchitektur und mit Kirchenglocken aus Leder, die man nicht hört, ausgestattet ist. Eine noch marginalere Rolle spielen solche Motive in dem von JACOB GRIMM als ›Märchen vom Schlaraffenland‹ getauften Märe ›Sô ist diz von lügenen‹ (2 Verse). Allerdings werden hier die strukturellen Beziehungen zu den Cocagne-Texten deutlich: Der fingierte Erzählerbericht von unmöglichen Dingen ist nach dem Anfangsmuster: Ich sach eins mâles in der affen zît […] strukturiert. Ganz ähnlich dann eine Reihe späterer Texte: die Lügendichtung ›Vom packofen‹, Teile des ›Finckenritters‹ von 1560, der ›Bienenkorb‹ (1579) und die Geschichten des Narren Hans Clawert. Ich stütze mich bei diesen Kriterien auf PETER KÖHLER, Lügendichtung, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd 2 (2000), S. 496–498, hier S. 496.

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trifft,71 erscheint die ironische Beteuerung der Wahrheit (2) in fast allen Texten gegeben. So sagt beispielsweise im ›Abentheurisch Lied‹ der Erzähler/Sänger: Noch sing jch eins, daran will jch nit liegen,… Die Warheyt sing jch unverhol (3,1; 7,9 – S. 149, 151), und im frz. Fabliau heißt es C’est fine veritez provee.72 Dass die Erzählerfigur als unwahrhaftig erscheint, ist schon an der ersten Zeile des bekannten ›Ego sum abbas Cucaniensis‹ der ›Carmina Burana‹,73 dann aber auch ausführlicher in Boccaccios dritter Novelle des achten Tags aus dem ›Decameron‹ zu erkennen, wo das Wunderland Bengodi in einer Binnenerzählung als Lügenmärchen vorgestellt wird, das zwei Possenreißer dem naiven Calandrino erzählen und über dessen Leichtgläubigkeit sie sich belustigen. Boccaccio bezeichnet den Stil der Erzählung als linguaggio furbesco, d.h. als zweideutige, listige Rede in komischer Absicht, die von Vernünftigen als Lügenerzählung erkannt, von Naiven aber für wahr gehalten wird.74 Auch der Ich-Erzähler des Fabliaus lässt seinen unsicheren Status durchblicken: Er berichtet – in der Form einer Reiseerzählung – von einer Wallfahrt, die der Papst selbst (!) ihm zur Buße auferlegt habe, und die ihn ins Schlaraffenland führte. Am weitesten treibt es der Erzähler im irischen Gedicht, der zur Buße sieben Jahre lang durch Schweinemist waten muss, bevor er nach Cockaygne gelangt.75 So wird in den Schlaraffentexten bereits in den Rahmenteilen auf eine besondere Art und Weise gelogen, die für die Lügengeschichte typisch ist: Die Lüge ist als solche erkennbar, sie kann von Beginn an als solche identifiziert und durchschaut werden. Doch der ambivalente Status der Rede schließt auch nicht aus, dass man sie für wahr halten kann. Dadurch werden die Erzählungen vom Schlaraffenland für verschiedene Gruppen von Rezipienten geöffnet: Perspektiviert man sie vom Rahmen her, erkennt man, dass sie als Lüge intendiert sind. Wird die Wertigkeit des Rahmens nicht erkannt oder als nicht relevant eingeschätzt, fokussiert man den Inhalt als glaubwürdig. Hier wird deutlich, dass der mythische Gehalt der Binnenfabel, der ja von der Rahmung abhängig ist, ganz unterschiedlich rezipiert werden kann, etwa so, dass Kinder und Narren staunen und die anderen sich mit dem Erzähler amüsieren können. Auch dafür 71

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Dadurch unterscheidet sich die Lügendichtung von verwandten Gattungen phantastischer Fiktion. Besonders mittelalterliche Lügendichtungen kündigen sich oft ausdrücklich als Lügen, etwa nach Art einer Lügenwette an. Und schon das älteste bekannte Lügenmärchen in Deutschland, der ›Modus florum‹, stellt sich als mendosam cantilenam vor. ›Ain abentheurisch Lied‹ [Anm. 44], Str. 3,1; 7,9 (S. 149, 151), ›Le fabliau de Cocagne‹ [Anm. 22], v. 59: ›Das ist die reine, erwiesene Wahrheit‹. ›Ego sum abbas Cucaniensis‹ [CB 222]. ›Carmina Burana‹. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Vollständige Ausgabe des Originaltextes nach der von BERNHARD BISCHOFF abgeschl. Krit. Ausgabe von ALFONS HILKA und OTTO SCHUMANN. Bd. 1: Text, Heidelberg 1970, S. 81–82. Giovanni di Boccaccio, Das Dekameron. Mit 110 Holzschnitten der italienischen Ausgabe von 1492. Deutsch von ALBERT WESSELSKI, VIII, 3, Frankfurt am Main 1999, S. 670–679. Die Übertölpelung erinnert an den listenreichen Bauern Unibos in der gleichnamigen mlat. Erzählung, welcher seine Widersacher besiegt, indem er ihnen von einem inexistenten Glücksland erzählt. Entor l’apostoile de Romme / Alai por penitence querre / Si m’envoia en une terre / La ou je vi mainte merveille [...]. ›Le fabliau de Cocagne‹ [Anm. 22], vv. 18–21.

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lässt sich ein Beispiel angeben, wenn nämlich der Erzähler seine Erzählung zum Lachen findet: Des mag ein yeder jm selbs gar wol lache, heißt es im Flugblatt vom ›Abentheurisch Lied‹.76 Dies führt schließlich zu den beiden noch fehlenden Kriterien der Binnenerzählung, die Häufung sachlich unmöglicher Behauptungen und die Verwendung genretypischer Topoi. Ich habe dazu oben mit den Adynata und Paradoxa sowie mit der parodistischen Verwendung von Topoi des paradisus und locus amoenus bereits einiges gesagt und will jetzt nur noch wenige Zusätze vermerken. Im Meisterlied von Hans Sachs erscheint das Lügen nicht im Rahmen, sondern in der Fabel, und zwar in der Darstellung des Schlaraffenlandes als mundus inversus. Dort wird nämlich der größte Lügner für seine Lügen ausgezeichnet: Hie leugt mancher viel umbsonst, / dort helt mans für die beste konst.77 Aufgenommen wird dieser Aspekt auch im niederländischen Prosatext ›Van’t Luye Leckerlant‹: Ist aber einer ein Spaßvogel, welcher versteht, gute Leute zu höhnen und zu verspotten, so verdient er zwei Schillinge am Tag. Ein Lügner dagegen verdient das große Geld, alldieweil [er] für jede Lüge eine Krone erhält, und je behänder und ausgefuchster im Lügen, desto mehr.78 Diese Bemerkungen gehören freilich zu den Inversionen der Binnenerzählung, sie weisen jedoch verdeckt auf die Bedeutung des Lügens für die gesamte Sprechsituation der Texte hin. Wenn somit die Schlaraffenlandtexte sowohl vom Rahmen als auch von der Binnenerzählung her sich als Lügengeschichten erweisen, ist nach der Funktion dieses Typus und seinem Verhältnis zum mythischen Gehalt der Texte zu fragen. Sicherlich muss man die Sprecherposition fast aller Schlaraffenlandgedichte als scherzhaft annehmen, was nicht heißen muss, dass dadurch die Inhalte verlacht werden. Vielmehr geht es in diesem Spiel mit der Wahrheit, welches die Lügengeschichten inszenieren, auch um (Selbst-)Ironie und den leicht spöttischen Ton des Wissenden und Listigen, es geht um das Spiel mit der Sprache (auch die Verballhornungen von Namen gehören hierher) und um jenes mit den Zuhörern. All dies sind literarische Mittel, das Ganze auf komische Distanz zu rücken und seine Fiktion durchsichtig zu machen. Am schönsten ist dies im mittelenglischen Gedicht von Cokaygne zu erkennen, wo das Schlaraffenland das irdische Paradies übertrumpft (though Paradise be meri and bright, Cokaygn is of fairer site): Während es in diesem nur Früchte zu essen gebe, hätte jenes Speise und Trank in 76

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›Ain Abenteürisch Lied‹ [Anm. 44], Str. 7,5. Einige weitere Belege für die These, dass der Mythos durch seine Rahmungen in scherzhafter Absicht depotenziert und somit für verschiedene Rezipientengruppen anders verwendbar wird: Seit dem ›Narrenschiff‹ Sebastian Brants mit dem Kap. ›Das schluraffen schyff‹ werden immer wieder Narren und Tölpel als Reisende ins Schlaraffenland genannt und somit als mögliche Rezipientengruppe suggeriert. Auch verweist ein Ostermärlein von 1555 auf Komik, welches von törichten Leuten berichtet, die auf Krebsen nach Jerusalem reiten wollen: Oho, dacht ich, so käm ich lestlich in das schlauraffenlandt. GRIMM [Anm. 27], S. 251– 253. Hans Sachs, ›Das Schlaweraffenland‹, in: Sämtliche Fabeln und Schwänke, Bd. 4, hrsg. von EDMUND GOETZE, Halle 1893, S. 338–340. Vv. 117–121, zit. aus PLEIJ [Anm. 29], S. 74–78.

Das Schlaraffenland – ein europäischer Mythos?

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Fülle, während dieses nur von zwei alten Männern, Elias und Henoch, bewohnt werde, fände man in jenem viele fröhliche und sorgenfreie Menschen. Die Komik dieser Parodie reizt zum Lachen, wie überhaupt das Lachen als ein Ziel der Rezipientensteuerung der Rahmen identifiziert werden kann. ARTURO GRAF hat das in einem luziden Aufsatz zum paradiso terrestre bereits Ende des 19. Jahrhunderts gesehen, wenn er sagt: A volte poi i racconti [del paese della Cuccagna] non sembrano nascere da altro che dalla voglia di ridere e di sballarle grosse.79 HERMAN PLEIJ hat festgestellt, dass die Fassung B des ältesten mnl. CockagneTextes sich in einer Sammelhandschrift mit Liedern, Sprichwörtern, Rätseln, Lügenpredigten und Scherzrezepten findet, und zwar in direkter Folge zu einem Scherzrezept, welches dazu bestimmt ist, im Karneval von einer Quacksalberfigur vorgelesen und damit spielerisch »verordnet« zu werden. Auch die Fassung L steht in der Londoner Handschrift unmittelbar nach einem solchen Scherzrezept. Abgesehen von einer möglichen Aufführung des Textes an Fastnacht weisen diese Indizien in jedem Fall auf den scherzhaften Gebrauch dieser Texte zum Lachen hin.80

Zusammenfassung Ausgehend von einem synchron und diachron offenen Mythosbegriff, welcher den literarischen Mythos in den Varianten eines ›anderen‹ Logiken folgenden narrativen Kerns erkennt, sollten die spätmittelalterlichen Erzählungen vom Schlaraffenland daraufhin untersucht werden, ob und mit welcher Berechtigung man von einem ›Mythos Schlaraffenland‹ sprechen und welche Vorteile dies mit sich bringen könne. In der Analyse, die den Arbeiten von LÉVI-STRAUSS und CASSIRER zur Mythenstruktur und zum mythischen Denken folgte, ließen sich verschiedene Schichten am Material identifizieren: (1) die mythische Topographie des Schlaraffenlandes als limitierte Anderwelt; (2) die mythische Gegenwärtigkeit aller beschriebenen Phänomene und die Dominanz einer alinearen und azyklischen Festzeit, welche direkt an die semantischen Inhalte gekoppelt ist (Verheißung immerwährenden Glücks und Wohllebens); (3) die Konkreszenz der Daseinsformen, die durch den Mangel an Handlung und Dynamik, an referentiellen Bezügen und durch die Entdifferenzierung der semiotischen Oppositionen des Logos (Adynata) charakterisiert ist; schließlich (4) die magischen Automatismen des Schlaraffenlandes, welche die Gesetze der Physik und der Logik außer Kraft setzen, aber in ihrer irrationalen Ökonomie der Bereitstellung die existenzielle Inaktivität und das Schweigen der Bewohner beobachten lässt. Das Mythische zeigt sich hier in der Doppelung des Inkompatiblen (Adynata) und der Passivität (Adynamis). 79

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ARTURO GRAF, Miti, leggende e superstizioni de Medio Evo. Appendice III: Il mito del paradise terrestre, Turin 1892, S. 236. ›Manches Mal scheinen die Erzählungen vom Schlaraffenland aus nichts anderem zu entstehen als aus der Lust zu lachen und Possen zu reißen‹. (Übers. HRV) PLEIJ [Anm. 29], S. 87–89.

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Der Mythosbegriff vermag diese zentralen Aspekte des Schlaraffenlandes anschlussfähiger an ihre Intertexte zu machen, seien es die klassischen Erzählungen vom Goldenen Zeitalter und von der Insel der Seligen, sei es der christliche Mythos vom irdischen Paradies. Allerdings bedeutet das keine Bestätigung des intertextuellen Paradigmas vor dem anthropologisch-kulturellen, denn Mythos schließt weder gelehrte Bezugnahmen noch kollektive Imaginationen aus. Gleichzeitig erlaubt es die mythische Perspektive nämlich, auch die Kontroversen um die historische Semantik und die Gattungsfragen des Schlaraffenlandes zu entspannen: Während mit Bezeichnungen wie ›Traum‹, ›Phantasie‹, ›Utopie‹ und ›Anti-Utopie‹ oder ›Verkehrte Welt‹ immer nur Teilaspekte des Schlaraffenlandes beleuchtet werden, die teils angestrengte (Kompensation, Sozialkritik), teils pathetische (Rationalitätskritik) Deutungen hervorriefen, vermag der Mythosbegriff, gerade w e i l er hier nicht alleine stehen kann, sondern von den, wie ich oben gezeigt habe, literarischen Rahmenerzählungen abhängig ist und von ihnen scherzhaft oder auch negativ perspektiviert wird, die narrativen, metanarrativen und sprachlichen Inkonsistenzen und Brechungen der Texte in ihrer Ganzheit zu verdeutlichen und ihr spielerisches Potential zu Bewusstsein zu bringen. Er dient dabei als Gegenfolie zum Literarischen, welches ihn in eine unsichere, die Fiktionalität herausstellende diskursive Rahmung einbindet (nicht vertrauenswürdiger Erzähler, ironische Beteuerung der Wahrheit, offenes Bekenntnis zur Lüge), um seinen Wahrheitsgehalt einzugrenzen und diversen, meist unterhaltenden Zwecken (vor allem der Komik) dienstbar zu machen. Daran ist erkennbar, dass der Mythos immer nur als negativ gerahmter greifbar ist: als Parodie, als Lügengeschichte, als spöttischer Reisebericht, als satirische Negativdidaxe, sogar als dankbares Objekt unbändiger Aufschneidekunst. Er erscheint niemals in reiner Form (was auch nicht möglich wäre), sondern immer schon als eine Form des Logos, als depotenzierte literarische Erzählung. So tritt der ›Mythos vom Schlaraffenland‹ von Beginn an in paradoxer Form auf: Seine literarische Konstruktion und somit seine Vergegenwärtigung ist nur im Modus seiner Dekonstruktion möglich. Das heißt nicht, dass dieser spezifische Mythos entwertet wäre: Gerade als Lügengeschichte schließt sich ihm das gesamte Potential des Literarischen auf – vom Denkunmöglichen als radikalisierte Möglichkeit von Literatur bis zum Komischen als Distanzierungs- und Autonomisierungsmoment. Mit den Erzählungen vom Schlaraffenland transportiert das Mittelalter vielleicht seinen einzigen standesübergreifenden und somit auch popularen Mythos in die Neuzeit, wo man seine Ambiguität allmählich nicht mehr verstehen wird. Eine Ambiguität, die zwischen der Bewältigung der Furcht durch das Erzählen vom Mythos und seiner scherzhaften Markierung als närrische Vorstellung oszilliert. Eine Ambiguität, die verschiedene Lektüreoptionen offen lässt, mit verschiedenen Rezeptionsgruppen kalkuliert, die den so e r z ä h l t e n Mythos je anders auffassen wollen und können.

Zwischen Bedeutsamkeit und Bedeutung Zum Status des Mythischen im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven von Ulrich Hoffmann

Der ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven ist trotz einer lange Zeit nur geringfügigen Beachtung durch die germanistische Forschung schon mehrfach auf mythische Elemente hin untersucht worden.1 Auffallend viele Figuren, Motive oder Handlungsschauplätze sind offensichtlich einer keltischen Erzähltradition entlehnt, seien es Feen oder Riesen, Drachenkämpfe oder Verkehrungszauber, Paradiesgärten oder Totenreiche. Von daher richtete sich das Interesse der Forschung in den letzten Jahren vornehmlich auf die strukturelle Seite des Mythischen im Roman. So hat ARMIN SCHULZ eindringlich betont, es gehe ihm in seiner Lektüre des ›Lanzelet‹ »nicht um die Provenienz mythischer Motive und Inhalte – solches ist in der Forschung seit langem aufgearbeitet worden –, sondern um ihre Strukturen und Funktionen«, die auf mythischem Denken aufruhten. SCHULZ spricht von »mythischen Residuen im arthurischen Roman«, die er vor dem Hintergrund eines heterogenen, von christlicher Gelehrsamkeit wie von einer noch archaisch geprägten Adelsgesellschaft gleichermaßen dominierten Umfeldes »als Kristallisationspunkte einer Selbstvergewisserung der eigenen höfischen Kultur« verstehen möchte.2 Ulrichs ›Lanzelet‹ verfolge hierfür ein kalkuliertes Spiel von Entmythisierung und Remythisierung, er verabschiede den Mythos, um über die Ausgrenzung des Nichthöfischen die höfische Kultur mit ihren eigenen Wert- und Weltmaßstäben letztlich ihrerseits mythisch zu fundieren.3 Grundsätzlich skeptisch tritt FLORIAN KRAGL solchen, vornehmlich mythische Strukturen als Erklärungsmodell für den höfischen Roman heranziehenden Ansätzen entgegen.4 Anhand des ›Lanzelet‹ und des ›Iwein‹ Hart1

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Vgl. den Überblick über die Forschung in Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet, hrsg. von FLORIAN KRAGL, Bd. 1: Text und Übersetzung, Bd. 2: Forschungsbericht und Kommentar, Berlin/New York 2006, im Speziellen S. 938–955; vgl. ferner MARKUS WENNERHOLD, Späte mittelhochdeutsche Artusromane. ›Lanzelet‹,›Wigalois‹,›Daniel von dem Blühenden Tal‹, ›Diu Crône‹. Bilanz der Forschung 1960–2000, Würzburg 2005, S. 20–73. ARMIN SCHULZ, Der neue Held und die toten Väter. Zum Umgang mit mythischen Residuen in Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹, PBB 129 (2007), S. 419–437, hier S. 420–422. Vgl. ebd. S. 437. Vgl. FLORIAN KRAGL, Land-Liebe. Von der Simultaneität mythischer Wirkung und logischen Verstehens am Beispiel des Erzählens von arthurischer Idoneität in ›Iwein‹ und ›Lanzelet‹, in: Ar-

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manns von Aue diskutiert er jeweils mythische und logische Lektüren derselben Szenen, die je auf ihre Art überzeugen könnten, sodass er Mythisches und Logisches weniger als Qualitäten eines Textes auffassen möchte, als er vielmehr in ihnen Wahrnehmungsstrategien sieht, die das eine oder andere präferieren ließen, je nach eingenommenem Standpunkt. Mythisch ist für KRAGL letzthin eine Kategorie der Rezeption, die am Faszinosum des Erzählten ansetze und von daher gerade in solchen Szenen verstärkt zum Tragen komme, in denen Kernfragen höfischer Adelskultur berührt werden.5 Beide Ansätze einer mythentheoretisch geleiteten Lektüre des ›Lanzelet‹ gehen von einer kulturellen Relevanz der im Roman verhandelten Themen aus und beziehen diese auf die höfische Kultur des Hochmittelalters. SCHULZ wie KRAGL stellen dabei das mythische Denken ins Zentrum ihrer Argumentation, über das sich diese Relevanz zu erkennen gebe. Ob nun als Residuen einer wie auch immer zu verstehenden vor- oder außerhöfischen Weltauffassung oder als Lektüreoption eines am Fremden faszinierten Rezipientenkreises – beide Ansätze widmen sich von je anderer Seite dem Mythischen des Romans. Beide Ansätze werfen jedoch weiterhin die Frage nach den spezifisch literarischen Formen des Umgangs mit Mythischem im Erzählen auf. Im Fokus der folgenden Ausführungen soll daher diese Frage nach dem Status des Mythischen im Erzählen selbst stehen, im Erzählen vornehmlich der Namenssuche Lanzelets, die einen wesentlichen, den Roman prägenden Erzählkern darstellt.6 Hierfür muss eine synchrone Perspektive auf den Roman ebenso eingenommen werden, die auf formaler Ebene Darstellungsweisen kulturell relevanter Sachverhalte berücksichtigen kann, wie dann erst eine diachrone Perspektive auf eine an Inhalte gebundene Tradition und damit Rezeption des Erzählten diese weiter konturieren lässt.7 In textnaher Lektüre ist dem Umgang mit Mythischem inhaltlicher wie struktureller Art im literarischen Erzählen nachzugehen. Dabei sollen verschiedene Formen der Symbolisierung aufgezeigt werden, deren Verflechtungen schließlich den Roman konstituieren. Indem der Roman an Strukturen mythischen Denkens ebenso partizipiert wie er kulturell bedeut-

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tusroman und Mythos, hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL, CORA DIETL, MATTHIAS DÄUMER (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 8), Berlin/New York 2011, S. 3–39, hier v.a. S. 7f. Vgl. ebd. S. 28–39. Die Konzentration auf den ersten Teil des Romans ist natürlich zunächst dem Umfang der vorliegenden Argumentation geschuldet, mag mit Blick auf den dominierenden Erzählkern jedoch auch vom Gegenstand her hinreichend begründet sein. Zum Konzept des Erzählkerns siehe JAN-DIRK MÜLLER, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, hier v.a. S. 170–224. Der Roman wird zitiert nach KRAGL [Anm. 1], Bd. 1. Der Blick richtet sich damit freilich nicht auf die Rezeption des Romans am hochmittelalterlichen Hof – so die Perspektive bei KRAGL [Anm. 4] –, sondern er richtet sich auf die Tradierung bekannter Inhalte bis zu ihrer Integration und Präsentation im Roman. Vgl. ähnlich zum ›Lancelot‹ Chrétiens de Troyes die Arbeit von SONJA GLAUCH, Poetische Evidenz. ›Mythos‹ als Denkform oder als erzählerisches Kalkül im ›Lancelot‹ Chrétiens de Troyes?, in: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für ALFRED EBENBAUER, hrsg. von JOHANNES KELLER, FLORIAN KRAGL, Göttingen 2009, S. 105–127.

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same Themen in ihrem Bedeutungszusammenhang neu konfiguriert, mag er Ausdruck eines vielleicht spezifisch mittelalterlichen Erzählens sein.8

I. In der die germanistische Forschung nachhaltig geprägten Debatte um eine kulturwissenschaftlich betriebene Literaturwissenschaft hebt GERHARD VON GRAEVENITZ den »Pluralismus des Kulturellen« hervor, um eine methodische Vielfalt und Flexibilität innerhalb des wissenschaftlichen Ansatzes anzuregen, der die Berücksichtigung von Kultur generierenden Faktoren, seien es materielle oder mediale Bedingungen, seien es Strukturen oder Geschichte von Kulturellem, ermöglichen soll.9 Diese Forderung setzt an der grundlegenden Beobachtung an, dass Literatur niemals als bloßes Objekt gesehen werden kann, sondern Literatur stets in ihrem kulturellen Zusammenhang zu verorten und nur innerhalb ihres Kontextes zu verstehen ist. Wenngleich sich der Fokus vielfach auf ebendiesen Kontext richtet, er mitunter zu einem zentralen Untersuchungsfeld wird, kann es jedoch innerhalb der Literaturwissenschaft nicht darum gehen, die Kultur als solche zu beschreiben oder gar erklären zu wollen – ein gewagtes Unterfangen, das der Literaturwissenschaftler wohl kaum in Angriff nehmen wollte.10 Es geht vielmehr um ein Aufdecken der vielfältigen Verflechtungen der Literatur in ihrem geographisch wie historisch je eigens zu berücksichtigenden kulturellen Kontext, es geht um ein Erfassen auch ihrer spezifischen Möglichkeiten der Darstellung erzählter Inhalte, ihrer Wirksamkeiten und Funktionen. Literatur – vormoderne Literatur zumal – ist kein eigenes, wie auch immer von seinem Kontext zu trennendes, gar geschlossenes System. In ihr überkreuzen sich unterschiedlichste, in der Kultur verfügbare Praktiken rezeptiver wie produktiver Welterschließung, die als ›symbolische Ordnungen‹ Text und Kontext in gleicher Weise zugrunde liegen. So müssen Sprache, Diskurs oder auch das mythische Denken in ihren Grundzügen zunächst nachvollzogen werden, um über ihr mitun-

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Die folgenden Ausführungen basieren zum Teil auf Beobachtungen, die ich im Rahmen meiner Dissertation angestellt habe: ULRICH HOFFMANN, Arbeit an der Literatur. Zur Mythizität der Artusromane Hartmanns von Aue (Literatur – Theorie – Geschichte 2), Berlin 2012. Was hier gerade in theoretischer wie methodischer Hinsicht nur knapp ausfallen kann, konnte dort umfassender dargelegt werden. GERHARD VON GRAEVENITZ, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Eine Erwiderung, DVjs 73 (1999), S. 94–115, hier S. 98. Siehe hierzu WALTER HAUG, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, DVjs 73 (1999), S. 69–93; WALTER HAUG, Erwiderung auf die Erwiderung, DVjs 73 (1999), S. 116–121. Vgl. so schon VON GRAEVENITZ [Anm. 9], S. 100; zu den Ansprüchen einer modernen Kulturwissenschaft jetzt JAN-DIRK MÜLLER, Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft, in: DERS., Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, Berlin/New York 2010, S. 1–8.

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ter spannungsreiches und auch produktives Verhältnis zueinander letzthin die Spezifität der Literatur zu erfassen.11 Symbolische Ordnungen sind bereits seit den Anfängen der Kulturwissenschaft unter je fachspezifischen Fragestellungen und Methoden Gegenstand der Forschungen von Vertretern verschiedenster Disziplinen gewesen, von Historikern und Soziologen, von Anthropologen und Psychologen, von Ethnologen und Philologen. Aus philosophischer Perspektive kann hier vor allem die ›Philosophie der symbolischen Formen‹ von ERNST CASSIRER angeführt werden.12 CASSIRER widmet sich ausführlich der Sprache wie dem Mythos und der wissenschaftlichen Erkenntnis und geht im Rahmen seiner umfassend angelegten Kulturtheorie an verschiedenen Stellen auch auf Religion, Geschichte, Technik sowie die Kunst ein.13 CASSIRER geht von einem weiten und handlungstheoretisch ausgerichteten Kulturbegriff aus, über den er Formen geistigen Produzierens erfassen und als symbolische Formen in ihren Grundzügen beschreiben möchte. Gemein ist diesen jeweils ihre Funktion, die CASSIRER dahingehend bestimmt, als sie »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden« ermöglichen.14 Reagieren sie auch zumeist auf dieselben Inhalte, so unterscheiden sie sich maßgeblich doch in der Form ihrer Symbolisierungen, was auf eine je andere Einstellung gegenüber jenen zurückgeführt werden kann. Anhand des Verhältnisses von Mythos, Religion und Kunst expliziert CASSIRER dies genauer. Richte sich der Mythos allein auf die »bloße Präsenz des Inhalts«, sei damit ein wesentlicher Grundzug mythischen Denkens greifbar, dem »jede feste Grenzscheide zwischen dem bloß ›Vorgestellten‹ und der ›wirklichen‹ Wahrnehmung, zwischen Wunsch und Erfüllung, zwischen Bild und Sache« fehle.15 Die Religion dagegen führe »geradezu den Gegensatz zwischen ›Bedeutung‹ und ›Dasein‹ erst in das Gebiet des Mythos ein«: Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdrucksmittel, 11

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Vgl. UDO FRIEDRICH, Konkurrenz der symbolischen Ordnungen, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 46 (1999), S. 562–572. Als ›symbolische Ordnung‹ möchte FRIEDRICH eine Struktur verstanden wissen, »innerhalb derer Subjekte handeln oder sich verhalten: Sprache, Mythos, Habitus, Diskurs« (ebd. S. 571). ERNST CASSIRER, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Darmstadt 101994. Siehe zum Ansatz und zu einzelnen Kategorien in CASSIRERs ›Philosophie der symbolischen Formen‹ grundlegend BIRGIT RECKI, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (DZPH, Sonderband 6), Berlin 2004. Neben den impliziten Ausführungen innerhalb seiner Philosophie der symbolischen Formen sind hier vor allem zu nennen: ERNST CASSIRER, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hrsg. von ERNST WOLFGANG ORTH, JOHN MICHAEL KROIS unter Mitwirkung von JOSEF M. WERLE (Philosophische Bibliothek 372), Hamburg 1985; ERNST CASSIRER, Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, aus dem Englischen von REINHARD KAISER, Frankfurt am Main 1990. CASSIRER [Anm. 12], Bd. 1, S. 12, Hervorhebung dort. Ebd. [Anm. 12], Bd. 2, S. 47f.

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die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ›hinweisen‹, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.16

Es ist dieser Gegensatz von Präsenz und Bedeutung, der als Unterscheidungskriterium nicht nur von Mythos und Religion, sondern ebenso zur Abgrenzung auch von anderen symbolischen Formen herangezogen werden kann. So geht CASSIRER an anderer Stelle auf die »beiden Extreme, zwischen denen alle Kulturentwicklung sich bewegt«, ein und bestimmt sie als »die Welt des Ausdrucks und die Welt der reinen Bedeutung«, wobei die Kunst – und hierauf ist in Abgrenzung zum Mythos im Weiteren der Fokus zu richten – »gewissermaßen das ideale Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen« erreiche.17 CASSIRER spricht mit Blick auf die »ästhetische Welt« von einer »Welt des ›Scheines‹«, die »die Welt des Daseins und des Wirkens, in der auch die magischmythische Anschauung sich bewegt, hinter sich läßt«. Während also der Mythos insofern indifferent und konkret ist, als in ihm »die beiden Momente, das Dingmoment und das Bedeutungsmoment, unterschiedslos ineinander aufgehen, daß sie hier in eine unmittelbare Einheit zusammengewachsen, ›konkresziert‹ sind«, zeichnet sich die Kunst durch die Annahme einer Bedeutungsebene aus, die sich von der bloßen Präsenz der Inhalte abhebt, ohne diese jedoch gänzlich zu verabschieden.18 Für CASSIRER stellt sich mit Blick auf das Verhältnis von Mythos und Kunst dennoch ein »systematischer Stufengang, ein ideeller Fortschritt dar, als dessen Ziel es sich bezeichnen läßt, daß der Geist in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift«.19 Trotz dieses teleologisch ausgerichteten Fortschrittsgedankens, der durchaus Kritik erfahren hat, zeichnet sich die Theorie CASSIRERs dadurch aus, ein Modell entwickelt zu haben, nach dem in synchroner Perspektive verschiedene Symbolisierungsweisen voneinander abgegrenzt werden können, die in einem prinzipiell gleichwertigen Verhältnis zueinander stehen und auf keine historische Epoche ausschließlich beschränkt werden können.20 Denn so ist es 16 17 18

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Ebd. S. 286, Hervorhebung dort. ERNST CASSIRER, Form und Technik, in: DERS. [Anm. 13], S. 39–91, hier S. 86. CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 32–34. CASSIRER selbst vermittelt eine mitunter emphatische Vorstellung von Kunst, die bereits Ansätze von Autonomie vermuten lässt und wohl auf seine intensive Rezeption der Philosophie und Literatur, vornehmlich Kants und Goethes, zurückzuführen ist; vgl. BAREND VAN HEUSDEN, Kunst – die vierte symbolische Form?, in: Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, hrsg. von HANS JÖRG SANDKÜHLER, DETLEV PÄTZOLD in Zusammenarbeit mit SILJA FREUDENBERGER u.a., Stuttgart/Weimar 2003, S. 191–210, hier S. 201– 207. PAETZOLD hebt in seiner Auseinandersetzung mit CASSIRER entsprechend hervor, dass erst die »Kunst der Moderne« sich »vom religiösen Kult und von der höfischen Repräsentation« scheide; HEINZ PAETZOLD, Die symbolische Ordnung der Kultur. Ernst Cassirers Beitrag zu einer Theorie der Kulturentwicklung, in: Ernst Cassirers Werk und Wirkung: Kultur und Philosophie, hrsg. von DOROTHEA FREDE, REINHOLD SCHMÜCKE, Darmstadt 1997, S. 163–184, hier S. 177. CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 34. CASSIRER selbst geht vom mythischen Denken jedoch noch in der Moderne aus; vgl. ebd. S. 19. Kritik ist aus philosophischer Perspektive zusammenfassend dargestellt bei RECKI [Anm. 12],

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gerade der formale Aspekt, der unabhängig von den Inhalten ausschlaggebend zur Bestimmung des jeweils Mythischen, Religiösen oder Ästhetischen ist, hier in der Unterscheidung von Indifferenz und Differenzierung, von Präsenz und Bedeutung. Vor allem mit Blick auf die Kunst – die Literatur der Vormoderne zumal – können so in ihren jeweiligen formalen Ausprägungen strukturelle Eigenheiten deutlich werden, wie sie in einer gegenüber dem Mythos zunehmend ins Bewusstsein tretenden Bedeutungsebene vorliegen. Diesem Verhältnis von Präsenz und Bedeutung soll im Folgenden genauer nachgegangen werden, zunächst mit einem Rekurs auf Ansätze der Erforschung des Mythischen im Artusroman.

II. Die Frage nach dem Mythischen in der Literatur ist immer wieder und speziell für die Artusromane des 12. und 13. Jahrhunderts gestellt worden.21 Dies war zunächst dem Umstand geschuldet, dass der Artusroman über die sogenannte matière de Bretagne an eine keltische Erzähltradition anschließt und noch im schriftliterarisch konzipierten Erzählen von Artus und seinen Rittern mythisch geprägte Inhalte und Motive erkennen lässt.22 So machte es sich gerade die ältere Forschung zur Aufgabe, der Provenienz einzelner Figuren oder Themenkomplexe nachzugehen und in komparatistisch ausgerichteten Untersuchungen deren mögliche Ursprünge in keltischen Mythen aufzuspüren.23 Strukturalistisch ausgerichtete Forschungen haben sich in der Folge der Aufdeckung mythischer Erzählschemata gewidmet,24 woran sich Fragen auch nach der

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S. 43–49, 84–108; vgl. auch ENNO RUDOLPH: Über einige Schwierigkeiten, sich dem Thema Mythos (philosophisch) zu nähern, in: Rationalitätstypen, hrsg. von KAREN GLOY (Alber-Reihe Philosophie), Freiburg/München 1999, S. 129–145. An dieser Stelle sollen nur ausgewählte Tendenzen der Forschung knapp aufgezeigt werden, einen konzisen Überblick zum Mythischen in der mittelalterlichen Literatur bietet der Band Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von UDO FRIEDRICH, BRUNO QUAST (Trends in Medieval Philology 2), Berlin/New York 2004, hier v.a. S. IX– XXXVII. Zu den keltischen Ursprüngen grundlegend STEFAN ZIMMER, Die keltischen Wurzeln der Artussage. Mit einer vollständigen Übersetzung der ältesten Artuserzählung ›Gulhwch und Olwen‹ (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2006. Stellvertretend sind hier die zahlreichen Studien von ROGER SHERMAN LOOMIS zu nennen, etwa DERS., Celtic Myth and Arthurian Romance, New York 1927; DERS., Arthurian Tradition and Chrétien de Troyes, New York 1949. Etwa HUGO KUHN, Parzival. Ein Versuch über Mythos, Glaube und Dichtung im Mittelalter, in: DERS., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 151–180. DAGMAR Ó RIAIN-RAEDEL, Untersuchungen zur mythischen Struktur der mittelhochdeutschen Artusepen. Ulrich von Zatzikhofen, ›Lanzelet‹ – Hartmann von Aue, ›Erec‹ und ›Iwein‹ (Philologische Studien und Quellen 91), Berlin 1978; RALF SIMON, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne (Epistemata 66), Würzburg 1990.

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Funktion innerhalb der höfischen Literatur anschlossen.25 Neuere Forschungen fokussierten dagegen überwiegend Strukturen mythischen Denkens, die in kulturwissenschaftlicher Perspektive und meist im Anschluss an die theoretischen Grundlegungen von ERNST CASSIRER in einzelnen Romanen nachgezeichnet wurden. So hat jüngst JANDIRK MÜLLER in einem Beitrag zum Verhältnis von Mythos und mittelalterlicher Literatur die Konzentration der Forschung auf ebendiese strukturelle Seite des Mythischen eindringlich betont: »Es geht um Mythos und mythisches Denken als Struktur, nicht um mythische Inhalte.«26 Dass das Mythische in der Literatur jedoch weder über Inhalte noch Strukturen ausschließlich erfasst werden kann, wurde dagegen bereits in dem von UDO FRIEDRICH und BRUNO QUAST herausgegebenen Tagungsband zur ›Präsenz des Mythos‹ überzeugend demonstriert. So muss die literaturwissenschaftliche Analyse differenziert zurückgreifen auf den »Mythos als Erzählform und das sogenannte mythische Denken als eine Texten vorausliegende und sie durchdringende Bewusstseinsform mit einer ihr eigenen Logik«.27 In interdisziplinärer Erweiterung setzen jetzt CORA DIETL, MATTHIAS DÄUMER und FRIEDRICH WOLFZETTEL hier an und propagieren ihrerseits einen die einzelnen Untersuchungsebenen von Inhalt, Funktion und Struktur verbindenden Ansatz, der notwendigerweise auch verschiedene, transdisziplinär angelegte Mythostheorien integrieren und fruchtbar machen müsse.28 Um die inhaltsbezogene Seite des Mythischen in spezifischen Formen des Erzählens wie den Mythos als Denkform gleichermaßen berücksichtigen zu können, bietet sich für die hier verfolgte Fragestellung nach dem Status des Mythischen im Verhältnis von Präsenz und Bedeutung eine Vermittlung der Theorien ERNST CASSIRERs und HANS BLUMENBERGs an.29 Diese den Mythos je anders fokussierenden Ansätze erlauben darüber hinaus eine synchrone, den kulturellen Kontext berücksichtigende, wie diachrone, die Tradierung von Inhalten und Schemata in der Rezeption herausstellende, Perspektivierung vorzunehmen:

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Etwa HANS FROMM, ›Aufklärung‹ und neuer Mythos im Hohen Mittelalter, in: DERS., Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 1–23; ALFRED EBENBAUER, ULRICH WYSS, Der mythologische Entwurf der höfischen Gesellschaft im Artusroman, in: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200, hrsg. von GERT KAISER, JAN-DIRK MÜLLER (Studia humaniora 6), Düsseldorf 1986, S. 513–539. JAN-DIRK MÜLLER, Mythos und mittelalterliche Literatur, in: KELLER, KRAGL [Anm. 7], S. 331– 349, hier S. 332. FRIEDRICH, QUAST [Anm. 21], S. XXXV. In weiter gefasster Perspektive vgl. hierzu grundlegend ALEIDA ASSMANN, JAN ASSMANN, Mythos, Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 4 (1998), S. 179–200, hier S. 187. Vgl. Vorwort der Herausgeber DIETL, DÄUMER, WOLFZETTEL [Anm. 4], S. XI–XVI, hier S. XIIf. Eine Annäherung aus philosophischer Sicht unternimmt ENNO RUDOLPH, Metapher, Symbol, Begriff. Anregungen zu einem möglichen Dialog zwischen HANS BLUMENBERG und ERNST CASSIRER, in: Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen, hrsg. von RUBEN ZIMMERMANN mit einem Geleitwort von HANS-GEORG GADAMER (Übergänge 38), München 2000, S. 77–89.

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Fasst CASSIRER den Mythos als symbolische Form, möchte er im Rahmen einer kritischen Phänomenologie das mythische Denken gleichsam von innen verstehen und beschreiben. Als dessen wesentlichen Grundzug – hierauf wurde oben bereits bei der Verhältnisbestimmung der symbolischen Formen zueinander eingegangen – stellt er die grundsätzliche Indifferenz von Sache und Bedeutung in allen Gestaltungsformen des Mythos heraus, die in die Wahrnehmung einer bloßen, nicht weiter differenzierbaren Präsenz mündet und als ein »Gesetz der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder im mythischen Denken« gefasst werden kann.30 Metonymische Relationen sind davon in quantitativer wie qualitativer Hinsicht ebenso betroffen, wie selbst Ähnlichkeiten als Ausdruck unmittelbarer Identität wahrgenommen werden können.31 Gleiches trifft für den mythischen Kausalbegriff zu. So genügt dem mythischen Denken allein die räumliche oder zeitliche Nähe zweier Zustände, um ein Verhältnis von Ursache und Wirkung anzunehmen, was letztlich aber jede Frage nach dem Warum, Fragen auch nach dem Ursprung, dem Zufall oder dem Allgemeinen obsolet werden lässt.32 Im Weiteren sind es vor allem die Ordnungskriterien Raum und Zeit, die dem Mythos seine Anschauungsform geben und in ihren charakteristischen Akzentuierungen auf eine zugrunde liegende Scheidung des Heiligen vom Profanen zurückgeführt werden können.33 Räumliche Grenzziehungen auf der einen, Zeitlosigkeit und rhythmische Gliederung auf der anderen Seite prägen so – gleichsam als Koordinaten – nicht zuletzt auch die Inhalte des Mythos: Weil alles Dasein in die Form des Raumes, alles Geschehen in die Rhythmik und Periodik der Zeit eingespannt ist, so überträgt sich jede Bestimmung, die an einer gewissen räumlich-zeitlichen Stelle haftet, alsbald auf den Inhalt, der in ihr gegeben ist; – wie umgekehrt auch der besondere Charakter des Inhalts auch der Stelle, an der er sich befindet, einen auszeichnenden Charakter gibt. Kraft dieser Wechselbestimmung wird allmählich alles Sein und Geschehen in ein Netzwerk der feinsten mythischen Beziehungen eingesponnen.34

Mythisches präsentiert sich nach CASSIRER somit letzthin in der Form, die den Inhalt als mythischen ausstellt, während dieser selbst die Form erst zu erkennen gibt.35 Es ist dieser an den erzählten Inhalten zwar orientierte, doch über diese hinausgehende formal-strukturelle Bezugspunkt, der die Mythentheorie CASSIRERs für die literaturwissenschaftliche Analyse produktiv macht. Weniger an der Form als vielmehr an der Vermittlung von Inhalten setzt die Theorie HANS BLUMENBERGs an.36 Sein Interesse gilt nicht dem Mythos als solchem, da er in 30 31 32 33 34 35

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CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 82, Hervorhebung dort. Vgl. ebd. S. 78–90. Vgl. ebd. S. 57–65. Vgl. ebd. S. 93–103, sowie v.a. S. 104–107 u. S. 129–133. Ebd. S. 103, Hervorhebung dort. Dieses Ergebnis CASSIRERs ist nicht zuletzt aber seiner Methode geschuldet; vgl. CASSIRER [Anm. 12], Bd. 1, S. 12. HANS BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 62001. BLUMENBERG führt darin Gedanken weiter aus, die er bereits 1971 in der Forschungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹ referiert

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seiner ursprünglichen Form lediglich Hypothese sein kann, sondern BLUMENBERG widmet sich ganz der Rezeption des Mythos, deren Verfahrensweisen er beschreiben möchte, die gleichsam als Kennzeichen mythischen Erzählens aufgefasst werden können.37 Die Rezeption des Mythos liegt für BLUMENBERG in der Notwendigkeit des immer neuen Erzählens von Geschichten begründet, das die Depotenzierung einer als bedrohlich wahrgenommenen Übermacht verfolgt, die er den »Absolutismus der Wirklichkeit« nennt.38 Diese Depotenzierung erfolgt nun im Erzählen mittels verschiedener Verfahren des Willkürentzugs, der Gewaltenteilung, der Namengebung, schließlich auch der Umständlichkeit, die in den erzählten Geschichten immer wieder aufs Neue vollzogen und vergegenwärtigt werden; von daher zeichnet Mythen eine besondere Beständigkeit ihres narrativen Kerns bei prinzipieller Variationsfähigkeit aus, was sie traditionsfähig macht und zur Rezeption disponiert.39 Die die jeweilige Geschichte prägenden Inhalte, Motive oder Erzählschemata können mit Kategorien wie ikonische Konstanz oder Elastizität erfasst werden, die in zeitlicher Persistenz eine Wiederholbarkeit gehärteter Grundmuster garantieren, während die Erzählung selbst, aufgrund ihrer Variabilität in der Anordnung einzelner Elemente, geradezu von Zeitlosigkeit wie Akausalität geprägt ist. Blumenberg bringt es auf die griffige Formel: Im Mythos hinterläßt keine der Geschichten Spuren in der nächsten, so gut sie auch nachträglich miteinander verwoben sind. Die Götter machen Geschichten, aber sie haben keine Geschichte. Das Ewige ist ihnen gleichgültig, wie es denen gleichgültig sein kann, denen ihre Geschichten erzählt werden.40

Damit ist letztlich aber erneut die pragmatische Dimension des Erzählens aufgerufen. So erschöpft sich für BLUMENBERG das Erzählen nicht darin, Übermächtiges zu entmächtigen, sondern im Rahmen einer »Arbeit am Mythos« dessen Inhalte als bedeutsame noch zu qualifizieren, was als ein Prozess der Optimierung sich vollziehe. Denn die Arbeit am Mythos ist beschreibbar als ein Rezeptionsvorgang mit einem »selektiven Effekt, und zwar auf das ›menschlich‹ Bedeutsame hin: was den Menschen zentral affiziert, was unabhängig von den Aussichten theoretischer Verifikation seinem Selbstverständnis zur Artikulation verhilft«.41 Bedeutsamkeit ist dabei »ein Resultat, kein angelegter Vorrat: Mythen bedeuten nicht ›immer schon‹, als was sie ausgelegt und wozu sie verarbeitet werden, sondern reichern dies an aus den Konfigurationen, in die sie einge-

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hat: DERS., Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hrsg. von MANFRED FUHRMANN (Poetik und Hermeneutik 4), München 1971, S. 11–66. BLUMENBERG setzt sich entsprechend deutlich von CASSIRERs Mythentheorie ab, in der er gerade das Moment der Rezeption vermisst; vgl. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos [Anm. 36], S. 185f. Ebd. S. 9. Vgl. ebd. S. 40. Ebd. S. 148. BLUMENBERG, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential [Anm. 36], S. 35.

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hen oder in die sie einbezogen werden.«42 Mit dem Begriff ›Bedeutsamkeit‹ ist ein zentrales, wenn nicht das zentrale Kriterium des theoretischen Ansatzes BLUMENBERGs bezeichnet, das zunächst und primär an Inhalte gebunden ist, wie es schließlich aber über die Rezeption erst an Prägnanz gewinnt. Mögen im Zuge der Rezeption verschiedene, auf formaler Ebene operierende Verfahren zur Stiftung von Bedeutsamkeit greifen – BLUMENBERG nennt hier als Wirkungsmittel etwa die Kreisschlüssigkeit, die Wiederkehr des Gleichen, die Isolierung des Realitätsgrades oder auch die Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung –,43 bleibt diese letztlich aber auf das Erzählte bezogen und damit eine die Inhalte qualifizierende Kategorie. Mythisches kann im Erzählen somit in zweifacher Weise perspektiviert werden: Im Rückgriff auf die synchron ausgerichtete, grundlegende Strukturen mythischen Denkens herausstellende Theorie der symbolischen Formen CASSIRERs können formale Kriterien von Raum und Zeit, von Konkreszenz und Indifferenz Gegenstand der Analyse werden, um diese von anderen Formen der Symbolisierung abzugrenzen, die sich im literarischen Erzählen vor allem über Differenzierungen und damit in Bedeutung generierenden Momenten ausdrücken. Die so dargestellten Inhalte können schließlich in Anlehnung an BLUMENBERG auf ihre Bedeutsamkeit hin überprüft werden, wobei in einer diachron ausgerichteten Perspektive auf die zu berücksichtigende Rezeption des Erzählten verschiedene Kennzeichen und Verfahren des Erzählens zu untersuchen sind. So gilt es den mythisch präsentierten Inhalten und ihrer an die Tradition gebundenen Bedeutsamkeit nachzugehen, um letztlich ihre Wirkung und Funktion im literarischen Erzählen zu ermitteln.

III. Nach der Erzählung vom Schicksal der Eltern und der Zeit seiner Jugend auf der Insel der Meerfee beginnt mit dem Aufbruch des noch jungen und unerfahrenen Lanzelet eine von mitunter merkwürdigen Begegnungen geprägte Handlung. Deren Fortgang scheint zunächst allein vom Zufall bestimmt zu sein, bis mit der Namensnennung Lanzelets durch eine Botin der Fee ein erstes Handlungsziel erreicht ist. Zu Beginn aber beruft sich der Erzähler nicht nur auf die âventiure (v. 389) als Quelle seiner Erzählung, sondern er hebt noch besonders die seltsæniu dinc (v. 403) hervor, von denen der Aufbruch begleitet ist: Lanzelet erweist sich als so überaus ungeschickt im Reiten, dass selbst die beim Abschied anwesenden Damen von Sorge um ihren Schützling erfüllt sind. Daher übernimmt das Pferd gleichsam die Initiative und schwenkt in den Weg ein, der vom See in eine unbekannte Zukunft führt. Lanzelet vertraut sich ganz dieser fremden Führung an, denn – so der Erzähler – gelücke was der wîse sîn (v. 413). Der 42

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Ebd. S. 66. Zum Kriterium der Bedeutsamkeit siehe ausführlich BLUMENBERG, Arbeit am Mythos [Anm. 36], S. 68–126. Vgl. ebd. S. 80.

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Aufbruch Lanzelets ist mit Pferd- und Wegmotiv ganz auf eine auch für andere Artusromane charakteristische Weise in seiner Funktion als Kontingenzexposition geschildert.44 Und so entfaltet sich entlang des Weges, dem Lanzelet nun folgt, eine ganze Reihe einzelner Episoden, die zunächst in keinem engeren Zusammenhang zu stehen scheinen, außer vielleicht, dass immer wieder vom Weg die Rede ist, der zwischen den einzelnen Schauplätzen zurückzulegen ist, der damit aber die Episodengrenzen nur umso deutlicher markiert: Lanzelet begegnet zunächst einem Zwerg, der ihn ohne Ankündigung oder weitere Begründung mit der Geißel schlägt, und er trifft auf Johfrit de Liez, der ihn freundlich in seinem Haus aufnimmt und ihm Ratschläge fürs Reiten gibt. Nach diesem kurzen Aufenthalt kommt er, als uns diu âventiure seit, / ûf ein strâze, diu was sleht. / diu wîset in in ein vôreht (vv. 670–672). In diesem Wald trifft er die Ritter Kuraus und Orpilet und erreicht mit ihnen Moreiz, wo er die Nacht mit der schönen Tochter des Burgherrn verbringt, gegen den er am nächsten Morgen im Kampf antreten muss. In Fortsetzung seiner Fahrt stößt Lanzelet im Wald dann auf drei Straßen, von denen er die mittlere wählt, die ihn geradewegs zu einer Burg mit dem Namen Limors führt: diu gienc ûf ein burc vast (vv. 1376f.). Auch hier muss er sich Kämpfen stellen, gegen einen Riesen, gegen Löwen und den Burgherrn, und auch hier gewinnt er die Zuneigung einer jungen Dame, bis er auf einer wecscheide (v. 2364) Walwein trifft, der ihm von Artus erzählt, vor dem er später in Djofle unerkannt im Turnier auftreten kann. Schließlich kommt Lanzelet in ein überaus schönes Land, wohin ihn ein breitiu strâze truoc (v. 3535), wo er allerdings jenseits der Burg Schadil li Mort wiederum einen Kampf im zugehörigen schönen Wald Behforet gegen den scheinbar übermächtigen Iweret führen muss. Doch auch hier gewinnt er die Liebe einer Frau, die als seine Frau nun fortwährend an seiner Seite bleiben wird, und er erfährt durch die Botin der Meerfee seinen Namen. Die nicht zuletzt über das Wegmotiv auffallende Episodizität des Romans hat schon früh die Forschung beschäftigt, gerade im Zusammenhang mit der Frage nach möglichen Quellen, die Ulrich beziehungsweise der Verfasser der von Ulrich verwendeten Vorlage – er nennt selbst ein welschez buoch (v. 9324) – herangezogen haben könnte.45 GUSTAV EHRISMANN nimmt den ›Lanzelet‹ als typisches Beispiel dafür, wie Artusromane einzelne Episoden oder Motive aus keltischen Mythen aufgenommen hätten, denn so sei bei Ulrich »der rohstoff noch am wenigsten künstlerisch verarbeitet, hier stehen die episoden noch deutlich isoliert nebeneinander, hier herscht [sic!] noch die freude vor an den bunten bildern und noch ist die materie nicht nach einer einheitlichen idee umgebildet«.46 Und noch RENÉ PÉRENNEC hebt das Prinzip der bloßen Aneinanderreihung einzelner Episoden gerade für den ersten Teil des Romans hervor, dem 44

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Vgl. ERNST TRACHSLER, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman (Studien zur Germanistik, Anglistik, und Komparatistik 50), Bonn 1979, S. 112–121. Auf Fragen der Vorlage und Vorlagenbearbeiten ist hier nicht weiter einzugehen, verwiesen sei auf die Zusammenstellung der Thesen in der Forschung bei KRAGL [Anm. 1], Bd. 2, S. 916–924. GUSTAV EHRISMANN, Märchen im höfischen Epos, PBB 30 (1905), S. 14–54, hier S. 15.

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somit schon in kompositioneller Hinsicht »eine nicht weiter bestimmbare, nicht-hinterfragbare Vorstellung vom ›Lauf der Welt‹« zugrunde liegen könnte, womit zumindest eine Nähe zum Mythos noch gegeben sei.47 Abgesehen von den mitunter beiläufigen Begegnungen sind es vor allem die drei Hauptepisoden des ersten Teils – Lanzelets Kämpfe an herausgehobenen Orten –, die einer vergleichenden Betrachtung unterzogen werden können. Schon über die Namen der jeweiligen Burgen – Moreiz, Limors, Schadil li Mort – wurde ein gemeinsamer Bezugspunkt in der Überlieferung vermutet. Als je verschiedene Ableitungen von li mors, altfranzösisch für ›der Tod‹, liest LOOMIS die jeweiligen Namen der Schauplätze und deutet sie als Grenzbezirke zu jenseitigen Totenreichen, die er unter der Bezeichnung castle of the Dead Man und im Vergleich mit dem ›Erec‹ und dem ›Livre d’Artus‹ als Modifikationen einer älteren keltischen Erzählung behandelt.48 Auf die innere Ausgestaltung der Episoden ist im Weiteren SCHULZ näher eingegangen: So lassen sich die jeweils im Wald gelegenen Burgen aufgrund ihrer höfischen Vollkommenheit wie aber auch ihrer allgegenwärtigen Gewalt bereits als »ambivalente Grenzbereiche zwischen Kultur und Natur« bestimmen, womit eine ebensolche ambivalente Figurenzeichnung der jeweiligen Herrn einhergeht.49 Auffallend unkontrolliert bei doch streng reglementierten Ordnungen auf ihren Burgen treten diese dann auch auf. Bereits Galagandreiz, der Herr von Moreiz, ist – so der Erzähler – der hœnden ursprinc, / ein strenger urliuges man (vv. 738f.). Dies muss Lanzelet nach der gemeinsam mit dessen Tochter verbrachten Nacht am eigenen Leib erfahren, wenn er einen Messerkampf zu führen hat, dessen eigentümliche Spielregeln (v. 1148) ihm der in seiner Ehre gekränkte Vater ausführlich darlegt. Auch Linier von Limors zeichnet sich in erster Linie über seinen Zorn aus. Schon Ade, seine von ihm behütete Nichte, fürchtet an ihm zorn und drô (v. 1594), die der Onkel sogleich fiurrôt (v. 1607) erkennen lässt,50 sobald er vom Eindringen Lanzelets in sein Herrschaftsreich erfährt. Da Lanzelet den geheimen Brauch des Landes, bei der Ankunft einen Friedenszweig voran zu führen, nicht befolgt hat, muss er in einer streng geregelten âventiure (v. 1711), die Linier durch sîne ritterschaft / und durch sîner übermüete kraft (vv. 1715f.) vor unbestimmter Zeit eingerichtet und bekannt gemacht hat, entsprechend der ihm von Ade gegebenen Erläuterung (vv. 1725–61) innerhalb eines Tages erst gegen einen Riesen kämpfen, dann gegen zwei Löwen, zuletzt gegen den Burgherrn selbst. Auf Schadil li Mort ist es schließlich Mabuz, der als Herr über ein Gefängnis, in dem er mehr als 100 Ritter eingesperrt hat, ganz offensichtlich seiner Willkür freien Lauf lässt. Denn swenne Mâbûz erzürnt wart / und im iht leides 47

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RENÉ PÉRENNEC, Zur Funktion des Märchenhaften im ›Lanzelet‹ Ulrichs von Zatzikhoven, in: KELLER, KRAGL [Anm. 7], S. 373–390, hier S. 379. LOOMIS, Arthurian Tradition [Anm. 23], S. 164f., zur gemeinsamen Erzähltradition mit Chrétiens bzw. Hartmanns ›Erec‹ S. 101f. SCHULZ [Anm. 2], S. 428. Auch im Folgenden ist immer wieder von seinem Zorn (vv. 1660, 1662, 1664) und seinem wüetenden sin (v. 1676) die Rede.

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wart getân, / sô hiez er einen man erslân (vv. 3560–62). Die Ordnung seines Hofes stellt sich als eine verkehrte Ordnung dar, die den jeweils Stärksten zum Schwächsten, den Schwächsten zum Stärksten werden lässt, was von der Meerfee aufgrund einer zurückliegenden Prophezeiung so eingerichtet worden war (v. 3570). Daher kann Mabuz, der blœde (v. 3551), den ahnungslos das Innere der Burg betretenden Lanzelet im Kampf bezwingen, sodass dieser für tôt lac und stille (v. 3633). Aus seiner Gefangenschaft kann er sich erst durch einen Sieg über den gewaltsamen Iweret im angrenzenden, schönen Wald Behforet befreien, womit er zugleich die Hand von dessen Tochter erwirbt. Es sind somit nicht nur die Orte, die in ihrer Ambivalenz deutlich werden, so in ihrer klar umrissenen Ordnung bei verdeckter bis offensichtlicher Willkür gegenüber dem Fremden. Es sind gerade auch die Herren der Burgen, die eine Willkür an den Tag legen, während die jeweiligen Mädchen scheinbar unbeeindruckt über den Verlust ihres Verwandten hinwegsehen und sich mit Lanzelet verbinden: Die Tochter von Galagandreiz betont gegenüber ihren Landsleuten sowohl grimmecheite wie unrehte ihres Vaters (vv. 1203f.) und wählt somit Lanzelet, der mit ihr beidiu liut und lant (v. 1246) erhält; Ade und ihre Landsleute sind beeindruckt von Lanzelets Sieg in der Aventiure, weshalb zum besten man in ûf huop, während man noch schnell den wirt begruop (vv. 2161f.) und ihm anschließend guot und wîp überträgt (v. 2179); Iblis schließlich empfindet solch große Liebe zu Lanzelet, dass sie schiere vergaz, / daz er ir vater het erslagen (vv. 4600f.), und mit ihm zusammen die Herrschaft über burc und lant (v. 4640) antreten möchte. Über Orte, Figuren und Handlungen lassen sich deutliche Parallelen zwischen den Episoden ausmachen, die – dies hat RENÉ PÉRENNEC überzeugend dargelegt – einem gemeinsamen Erzählmuster folgen, nach dem der Held in einen fremden Bereich eindringt, die herrschende Vaterinstanz tötet, um mit der Hand der Tochter die Herrschaft auch über das Land zu erhalten.51 Von einer solchen strukturellen Entsprechung der Episoden geht ebenfalls DAGMAR Ó RIAIN-RAEDEL aus, die ein »typisches Initiationsschema« von Isolierung, Erniedrigung und Erhöhung des Helden ausmacht, dessen »mythische Struktur« gerade darin zum Ausdruck komme, dass die Kämpfe allein dazu dienten, »dem Helden Gelegenheit zur Bewährung zu geben und ihn auf eine höhere Daseinsstufe zu heben«.52 In Weiterführung dieser Beobachtungen verweist sie mit Rückgriff auf die theoretischen Grundlegungen von ARNOLD VAN GENNEP und MIRCEA ELIADE,53 mit Blick vor allem auf die Episode von Schadil li Mort, auf einzelne Details

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Vgl. RENÉ PERENNEC, Artusroman und Familie. daz welsche buoch von Lanzelete, Acta Germanica 11 (1979), S. 1–51, hier S. 41f.; vgl. im Anschluss auch SCHULZ [Anm. 2], S. 425f. Ó RIAIN-RAEDEL [Anm. 24], S. 82f.; vgl. dazu auch ebd. S. 79, 205. ARNOLD VAN GENNEP, Übergangsriten (Les rites de passage). Aus dem Französischen von KLAUS SCHOMBURG und SYLVIA M. SCHOMBURG-SCHERFF, mit einem Nachwort von SYLVIA SCHOMBURGSCHERFF (Campus-Bibliothek), Frankfurt am Main/New York 32005. MIRCEA ELIADE, Initiation, rites, société secrètes. Naissances mystiques. Essais sur quelques types d’initiation, Paris 1992.

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wie den Scheintod des Helden, die diese anthropologische Struktur erhärten.54 Zuletzt hat ARMIN SCHULZ diese Deutung wieder aufgegriffen und seinerseits auf den Stationenweg des Helden bezogen. So sei es letztlich das wiederkehrende Grundmuster der Episoden, das deutlich auf ein Männlichkeitsideal ziele, das – so SCHULZ – »von Kultiviertheit und Affektkontrolle geprägt ist, ohne dabei den Anspruch auf exorbitante, nötigenfalls regellose Kampfkraft aufzugeben«.55 Weniger ausschließlich auf den Habitus des Helden als vielmehr auf den jeweils aktualisierten thematischen Fluchtpunkt der Episoden bezogen, lässt sich eher von einer Bewährung des Helden sprechen, der in wiederkehrenden Kämpfen willkürlichem Gebaren entgegentreten und sich so für die Übernahme von Herrschaft nicht zuletzt auch gegenüber der Partnerin qualifizieren kann.56 Das den Episoden zugrunde liegende mythische Schema der Initiation lässt sich mit Blick auf das wiederholte Erzählen von dieser Initiation als ein – im Sinne BLUMENBERGs – gehärtetes Grundmuster bestimmen. In immer wiederkehrender Variation kann es einen elementaren Sachverhalt zur Anschauung bringen, der mit der Bestätigung der Eignung des Helden zu Herrschaft und Liebe einen scheinbar zeitlos gültigen Anspruch formuliert. Dieser weist sich letztlich in seiner inhaltlichen Bestimmung als persistent innerhalb der Überlieferung aus, insofern auch die besprochenen Episoden auf eine gemeinsame Tradition zurückgeführt werden können und den nämlichen Sachverhalt noch im Roman aktualisieren. Ikonisch konstante Motive lassen sich über die dem Grenzbereich zu einer als jenseitig aufgefassten Welt zuzuordnenden Orte ebenso unschwer ausmachen, wie deren Ordnungen als verkehrte und von Willkür geprägte Ordnungen zunehmend an Prägnanz gewinnen.57 Bei aller Regelhaftigkeit bleiben deren Begründungen letztlich aber unklar, seien es unbestimmt wiederkehrende Spiele in Moreiz, eine aufgrund von Ritterlichkeit und Gewaltbereitschaft installierte Aventiure in Limors oder eine ominöse Prophezeiung. Im umständlichen Erzählen werden solche Begründungen geradezu abgewiesen, die Ursprünge werden mehr verdeckt, als dass sie auf54

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Vgl. Ó RIAIN-RAEDEL [Anm. 24], S. 96–102; zu nennen sind hier etwa noch die Nacktheit Lanzelets wie das Essenstabu auf der Burg, was schon LOOMIS, Arthurian Tradition [Anm. 23], S. 163 hervorgehoben hat. SCHULZ [Anm. 2], S. 431, zur Deutung der Episodenstruktur als Initiationsschema S. 436. Insofern ließe sich an anderer Stelle überlegen, ob dem Initiationsschema der Episoden nicht auch ein Souveränitätsmythos insgesamt eingeschrieben ist, wie ihn Ó RIAIN-RAEDEL zumindest für die Moreiz-Episode annimmt und er dann auch der sogenannten Fier baiser-Episode zugrunde liegen mag; vgl. Ó RIAIN-RAEDEL [Anm. 24], S. 205f. Diese inhaltlich aufzufassenden Motive von Todesburg, verkehrter Ordnung und Willkürherrschaft, die die Episoden jeweils prägen, ließen sich von weiteren, der Tradition entstammenden und als ikonisch konstant beschreibbaren Motiven ergänzen. Zu nennen wäre etwa die aus keltischen Erzählungen bekannte gefahrvolle Burg oder der Friedenszweig von Limors, der in verschiedenen keltischen und antiken Mythen und noch in Vergils ›Aeneis‹ bzw. Heinrichs von Veldeke ›Eneasroman‹ als Hilfsmittel auf dem Weg in die Unterwelt belegt ist. Zu nennen wäre aber auch der Riesenkampf, der in Mythen nahezu aller Kulturen und prominent auch in der Artusüberlieferung etwa von Geoffrey of Monmouth erzählt wird.

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gezeigt werden. Nicht zuletzt scheint den Episoden im syntagmatischen Verlauf der Erzählung jeglicher Zusammenhang zu fehlen. Es sind diese, mythisches Erzählen geradezu kennzeichnenden fehlenden Spuren der Episoden in der weiteren Erzählung, die seit jeher den Eindruck von bloßer Episodizität vermitteln. Schließlich ermöglicht allererst der Weg – der Weg ohne Spuren, ließe sich ergänzen – den immer neuen Anlauf des Helden zu immer neuen Kämpfen, wenn zuvor allerdings die Gegner getötet, Land und Frau verlassen beziehungsweise verabschiedet worden sind. Verlässt Lanzelet zuerst Moreiz in aller Heimlichkeit, geswâslîch (v. 1367), verlassen ihn Ade und ihr Bruder noch zeitig genug vor Schadil li Mort, um keinen Einfluss auf die weitere Handlung zu nehmen, keine Spuren somit in der weiteren Erzählung zu hinterlassen, was der Erzähler geradezu betont: iu enwirt mêr niht geseit / von ir twederm ein wort (vv. 3674f.).58 Die letzte Episode in dieser Reihe, Lanzelets Gefangenschaft und Scheintod in Moreiz mit dem anschließenden Kampf gegen den übermächtig anmutenden Gegner in Behforet, deckt in ihrer ausführlichen, wesentliche Merkmale mythischen Erzählens damit umso deutlicher herausstellenden Erzählung den inhaltlich-thematischen Bezugspunkt geradezu auf. Dieser gewinnt an Prägnanz: über die Reziprozität von Steigerung und Depotenzierung,59 über die variierende Wiederkehr des Gleichen, die das ihm eingeschriebene Grundmuster erst auf seinen Inhalt hin transparent macht. Die erzählten Inhalte erweisen sich somit im Sinne BLUMENBERGs als bedeutsam, das Erzählen von ihnen folgt einer Arbeit am Mythos, bis der bedeutsame Sachverhalt in finaler Konsequenz gleichsam rein dargestellt ist: Lanzelet hat sich bewährt, er hat seine manheit bestätigt, sich für Herrschaft und Partnerschaft qualifiziert.60 Kommt diese mythische Bedeutsamkeit der Inhalte spätestens im Erzählen der letzten Episode zum Ausdruck, verdichten sich gerade hier mythischem Denken analoge Strukturen in der Darstellung. BLUMENBERG hebt allgemein hervor, dass Bedeutsamkeit »auf der Indifferenz von Raum und Zeit« beruhe und eine »Dichte« erlaube, »die Leerräume und Leerzeiten ausschließt, aber auch eine Unbestimmtheit der Datierung und Lokalisierung«.61 Unter Rückgriff auf die von CASSIRER beschriebenen Grundzüge mythischen Denkens lassen sich ebensolche Gestaltungen von Raum und Zeit in der Darstellung des Waldes Behforet ausmachen:62 Der Wald Behforet erweist sich schon über 58

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Siehe hierzu auch ALMUT MÜNCH, Die Nebenfiguren in Ulrichs von Zatzikhoven ›Lanzelet‹. iu enwirt mê niht geseit / von ir dewederem ein wort (V. 3674f.) (EHS Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1917), Frankfurt am Main 2005. Vgl. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos [Anm. 36], S. 85f. In diese Richtung zielen auch die Interpretationen von SCHULZ [Anm. 2] und KRAGL [Anm. 4], wobei sie diese inhaltliche Ausrichtung gerade nicht auf Mythisches beziehen und damit diesen grundlegenden Aspekt der Rezeption des Mythos nicht erfassen. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos [Anm. 36], S. 109. Vgl. hier schon die Besprechung von Behforet bei SCHULZ [Anm. 2], S. 428–431, der es jedoch bei allgemeinen Feststellungen zu Raum und Zeit belässt, was eine textnahe Untersuchung der Darstellung hier angemessen erscheinen lässt, um deren Auswirkungen auf die Handlung nachzuzeichnen, zumal auch KRAGL [Anm. 4] seinerseits den Text – hier vornehmlich die Pluris-Aventiure des

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seinen Namen und der wiederholten Bezeichnung als explizit schœner walt (vv. 332, 3579, 3705, 3887, 3939, 3989), der zugleich Schauplatz auch des finalen Kampfes Lanzelets gegen Iweret ist, als ein ambivalenter Ort, der prachtvolle Schönheit wie bedrohliche Gewalt in sich vereint und sich so bereits von seiner Umgebung abhebt. Von einer solchen Ambivalenz ist auch seine räumliche Gestaltung geprägt. Im Text erfährt man nichts über eine genaue Grenze des Waldes,63 und doch scheint er auf eigentümliche Weise nur schwer zugänglich zu sein. Zutritt erhält Lanzelet allein über Schadil li Mort, das zur selben Herrschaft gehört (v. 3578), vom beschriebenen Verkehrungszauber bestimmt ist (vv. 3542–49) und mit Wasser, Brücke und Tor (vv. 3607–09) gleichsam selbst als Grenze aufgefasst werden kann. Die Burg markiert damit eine Schwelle, die dem ihr eingeschriebenen Erzählmuster der Initiation entspricht und die zu übertreten es allein dem auserwählten Helden möglich ist:64 So wählt Mabuz Lanzelet aus, um im Wald gegen Iweret zu kämpfen, da er sich aufgrund seiner Feigheit innerhalb der Burg als der tapferste unter den gefangenen Rittern bestätigt hat – er ist bewæret, heißt es explizit (v. 3727) –, und stattet ihn mit neuen Kleidern aus (v. 3755). Auf seinem Weg in den Wald trifft Lanzelet einen Abt, der ihm seinen vaterlichen segen (v. 3919) gibt, womit der Übertritt gleichsam seine Heiligung erfährt.65 Der Wald selbst ist schließlich von Zeitlosigkeit geprägt. Schon sein Ursprung scheint in einer nicht näher bestimmbaren Vergangenheit zu liegen,66 und noch hiut und imer mê (v. 4085) sei der wundersame

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zweiten Teils des Romans – nur summarisch bespricht und grundsätzlich den aus mythischen Vorstellungen entnommenen Details keine Bedeutung für die Interpretation beimisst; siehe KRAGL [Anm. 1], Bd. 2, S. 938. Im Text heißt es lediglich an einer Stelle, dass in schiet ein wazzer wol getân (v. 3999), was KRAGL mit »ihn umgab ein schönes Gewässer« übersetzt. Damit kann aber kaum ein Gewässer gemeint sein, das den Wald gleichsam kreisförmig einfriedet, da es unmittelbar im Anschluss heißt, dass einhalp Tiere seien, anderhalp dagegen Vögel sängen (vv. 4000–02). Wenn zugleich betont wird, dass der Wald voller Tiere ist (v. 3993), und Vögel – man denke nur an die Schilderungen des Brunnenbereichs im ›Iwein‹ oder des Baumgartens im ›Erec‹ – topisch für einen solchen locus amoenus sind, kann das Wasser nur in (in) dem Wald angenommen werden. Zum locus amoenus siehe DAGMAR THOSS, Studien zum ›locus amoenus‹ im Mittelalter (Wiener romanistische Arbeiten 10), Wien/Stuttgart 1972. CASSIRER beschreibt ausführlich solche Schwellen, deren Übertritt an strenge Regeln, an »sorgfältig zu beachtende Übergangsriten« gebunden ist, die eine Initiation begleiten und »den Eintritt in jede neue Lebensphase, den Übergang von der Kindheit zur Mannbarkeit, von der Ehelosigkeit zur Ehe, den Übergang zur Mutterschaft usf. regeln«; CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 128, Hervorhebung dort. Den Segen für Lanzelet verbindet der Abt überdies mit einer Verdammung seines Gegners (vv. 3862f.), womit auf der Grenze ein Dualismus aufgerufen ist, der seine auch räumliche Zuordnung erhält. Zur Reziprozität von Raum und Inhalt ebd. S. 103. Aus der umständlichen Aitiologie, die der Erzähler der Burg gibt (vv. 3570–3600), lässt sich weder der Ursprung dieser noch des Waldes erschließen. Vielmehr könnte man noch annehmen, dass die Meerfee gerade deshalb den an den Wald angrenzenden Ort für ihren Sohn Mabuz ausgewählt hat, damit dieser dort ein angenehmes Leben führen kann. Schließlich ist es erklärtermaßen deshalb ihre Absicht, Iweret zu bezwingen.

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Ort nach Auskunft des Erzählers bekannt. Es ist diese mythischem Denken folgende absolute Vergangenheit, die jede weitere Erklärung obsolet werden lässt und eine Zeitlosigkeit impliziert, der noch alle inhaltlichen Gestaltungen unterliegen:67 Im Moment des Eintritts Lanzelets in den Wald berichtet der Erzähler wi des waldes site was: er was grüene als ein gras beidiu winter und sumer. dâ stuont manic boum sô frumer, der aldaz jâr obez truoc, zîtig und guot genuoc, und anderhalp doch bluote. (vv. 3941–47)

Die zugleich Blüten und Früchte tragenden Bäume machen diese Zeitlosigkeit geradezu anschaulich,68 und so steht auch die im zugehörigen Tal gelegene Heide in stets sommerlicher Blüte, ân wandel an ir stæte (v. 3979). Der Natur eignet eine insgesamt regenerative Kraft, die sich im unmittelbaren Nachwachsen ausgerissener Blumen ebenso zeigt (vv. 4080f.), wie die Heilkraft von Früchten und Wurzeln letzthin Iweret zugute kommt, ihn starc, küene und geil macht (v. 3969). Diese über die Natur ansichtig werdende Konkreszenz zeitlicher Relationen wie die ihr inne wohnende regenerative Kraft drückt sich im Geschehen an diesem Ort in einer entsprechend rhythmischen Wiederholung aus. So bricht Iblis mit ihren 100 Mädchen täglich (v. 4072) die Blumen im Tal,69 während der Abt die Zahl der bislang von Iweret getöteten Ritter nicht nennen kann (vv. 3850–52), wenngleich ihm die Aufgabe zukommt, jeden von ihnen zu bestatten. Über diese nicht näher bestimmten, doch zyklischen Wiederholungen stellt sich mythischem Denken analog eine alles bestimmende Ordnung ein, die in ihrer Wirkung auf das Geschehen von CASSIRER genauer beschrieben wird: Von der Rhythmik und Periodik, die schon in allem unmittelbaren Dasein und Leben fühlbar ist, erhebt sich jetzt der Gedanke zur Idee der Zeitordnung als einer universellen, alles Sein und Werden beherrschenden Schicksalsordnung. Erst in dieser Fassung als Schicksal wird die mythische Zeit zu einer wahrhaft kosmischen Potenz – zu einer Macht, die nicht nur den Menschen, sondern die auch die Dämonen und Götter bindet, weil nur in ihr und kraft ihrer unverbrüchlichen Maße und Normen alles Leben und Wirken der Menschen und selbst der Götter möglich ist.70

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Vgl. zu diesem Verhältnis von absoluter Vergangenheit und Zeitlosigkeit unter Berücksichtigung auch der inhaltlichen Gestaltungen im mythischen Denken CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 130f. Dieses weit verbreitete Motiv markiert in gleicher Weise auch in zahlreichen keltischen Erzählungen mythische Orte der Anderwelt; vgl. Ó RIAIN-RAEDEL [Anm. 24], S. 259f. Nicht zuletzt aufgrund dieses, an eine Defloration gemahnende Blumenbrechen, hat die Forschung bisweilen das Verhältnis von Iweret zu seiner Tochter als einen Dauerinzest in zyklischer Regeneration der Jungfräulichkeit deuten wollen, was mitunter Widerspruch fand. Vgl. etwa ELISABETH SCHMID, Mutterrecht und Vaterliebe. Spekulationen über Eltern und Kinder im ›Lanzelet‹ des Ulrich von Zatzikhoven, Archiv 229 (1992), S. 241–254, hier S. 253; kritische Überlegungen vor dem Hintergrund mythischer Ambivalenz bei SCHULZ [Anm. 2], S. 430f. CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 138, Hervorhebung dort.

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Von einer solchen Schicksalsordnung scheint in geradezu fatalistischer Weise der Wald förmlich imprägniert zu sein. Bereits Mabuz mag diese vor Augen haben, wenn er die Notwendigkeit des Kampfes gegenüber Lanzelet betont, swaz joch imer werde drûz (v. 3748). Und auch die wiederholten Mahnungen des Abtes (vv. 3858, 3915) zielen in ebendiese Richtung, während die mitgeführte noch leere Bahre den entsprechenden Fatalismus ansichtig werden lässt.71 Nur folgerichtig fällt dann auch in Erwartung des Kampfes gegen Iweret die Reaktion Lanzelets aus: ez ist mîn tôt oder aber der sîn (v. 3928). Geradezu greifbar wird diese Schicksalsordnung im Reglement, das Lanzelet zu beachten hat und ihm der Abt näher ausbreitet, wenn er ihm von der âventiure site (v. 3868) berichtet: An einer Quelle im Wald hänge an einer immergrünen Linde ein eisernes Glöckchen, das jeder Fremde, der manheit wil bejagen (v. 3903), mit einem Hammer schlagen müsse. Beim dritten Schlag komme schließlich Iweret, der Herr der Quelle.72 Über Raum und Zeit werden Koordinaten abgesteckt, die dem Ort des Geschehens eine mythische Schicksalsordnung zuweisen. Auf inhaltlicher Ebene kommt diese nicht zuletzt in der streng geregelten site zum Ausdruck, die einen unerklärt bleibenden Zwang auf alle Beteiligten gleichermaßen ausübt und in ihrer Wirkung Einfluss auf die erzählte Handlung nimmt.73 Präsenzeffekte von Personifikation und stichomythischer Wechselrede beim Auftritt Iwerets verstärken diesen Eindruck.74 Infolge der auch auf 71

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Die Bahre firmiert angemessen als Attribut des Abtes und ist hier ebenso anzunehmen, wie sie später noch erwähnt wird, wenn Lanzelet ihm begegnet mit einer bâr, als er dâ vor / nâch den tôten was gevarn (vv. 4626f.). In Anlehnung an einen von LOOMIS stoffgeschichtlich ausgerichteten Vergleich zwischen dem Friedhof des Abtes und dem Ring aus Eichenpfählen mit aufgespießten Köpfen im ›Erec‹ kann vielleicht eine funktionale Analogie der beiden Szenen angenommen werden, insofern der Ring im ›Erec‹ in gleicher Weise die zyklische Wiederkehr der tödlich endenden Kämpfe im Baumgarten zu Brandigan synchron zur Anschauung bringt, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann. LOOMIS vermutet bei Ulrich wie Hartmann ein gegenüber Chrétiens ›Lancelot‹ noch ursprünglicher erhaltenes keltisches Motiv, das im ›Lanzelet‹ in an effective, though less repulsive, variation vorliege; LOOMIS Arthurian Tradition [Anm. 23], S. 234; vgl. insgesamt ebd. S. 232–236. Der vom Abt geschilderte Brunnen wurde in der Forschung immer wieder zum Anlass genommen, einen Vergleich mit der sogenannten Brunnenaventiure im ›Iwein‹ anzustellen, um mythische Strukturen aufzuzeigen; vgl. Ó RIAIN-RAEDEL [Anm. 24], S. 177–195; die Forschung im Überblick bei KRAGL [Anm. 1], Bd. 2, S. 1160–1164; zum ›Iwein‹ ausführlich ANDREAS HAMMER, Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg und im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007, S. 215–237. Auf einen Vergleich kann im Rahmen der hier verfolgten Argumentation verzichtet werden. Es ist das dreimalige Schlagen, das nicht nur einer rituellen Handlung nahe kommt, sondern ausschlaggebend für das unmittelbare Erscheinen Iwerets ist, der damit aber – selbst wenn er der Herr der Quelle ist – offensichtlich einem Zwang ausgesetzt ist. Zunächst erscheint Iweret als ein engel, niht ein man (v. 4430), während ihn wiederum der Tod erwartet: im was niht vor wan der tôt (v. 4446). Die anschließende stichomythische Wechselrede (vv. 4454–61) unterstützt diese gleichsam dramatisierende Präsenz. Zur Präsenz der Personifikation in der Literatur siehe CHRISTIAN KIENING, Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrau-

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formaler Ebene inszenierten mythischen Übersteigerung firmiert der Sieg Lanzelets somit als ein Sieg, der die vorangegangenen noch überbietet. Die den Episoden eingelagerten bedeutsamen Inhalte stellen sich hier umso deutlicher dar: Auf die Frage Iwerets, was Lanzelet an der Quelle zu erreichen gedenke, antwortet dieser ihm unumwunden: ein schœne wîp und iuwer lant (v. 4461). Der Kampf zielt ganz auf diesen Erwerb von Frau und Land, verbunden mit der Bewährung des Helden. Der erzürnte Iweret muss es nicht nur leidvoll erfahren, er bestätigt es noch: dô sprach Iweret: ›ich habe gestriten mit kinden unz her. ditz ist ein man; idoch muoz er beidiu wîp und lant sô tiur koufen, daz sîn pfant dar umb hôhe stênde wirt und ez in iemer mêre swirt.‹ (vv. 4512–18)

Mit dem Sieg über Iweret im Wald von Behforet hat Lanzelet nicht nur seine manheit und damit seine Eignung zu Herrschaft und Liebe nachhaltig bewiesen, sondern diese mit Iblis auch tatsächlich erworben. Die Handlung erschöpft sich damit weniger in einem repräsentativen Akt, vielmehr stellt sie unumstößliche Tatsachen her, die sich vom Vorangegangenen abheben. Lanzelet und Iblis verlassen den Wald (v. 4623), treffen auf den Abt, der die Nachricht vom Sieg als ein vremde mære (v. 4634) aufnimmt, und schließlich wird Iweret gerade dort begraben, / dâ unser ritter solte ligen (vv. 4656f.), während das neue Paar sich der Liebe hingibt: si wurden gesellen, / als in diu minne geriet (vv. 4672f.). Die Episodenreihe erzählt die Initiation des Helden und sie entwirft hierfür den thematischen Bezugsrahmen von Frauenerwerb und Landgewinn. Die Eignung zu Herrschaft und Liebe stellt sich als ein mythisch bedeutsamer Sachverhalt dar, der bereits über ein variierend wiederholendes Erzählen desselben Grundmusters als Resultat bestehen bleibt und nicht zuletzt im mythischem Denken analogen Erzählen raumzeitlicher Bestimmungen seine wirkmächtige Präsenz gewinnt. Auf allen Ebenen arbeitet die Erzählung an dieser Initiation: Auf inhaltlicher Ebene beschreitet sie den Weg von der Jungfraueninsel über bedrohliche Burgen bis zur letztgültigen Identifizierung des Helden. Im Aufrufen verschiedener Motive vornehmlich keltischer Provenienz stellt sich dieser Weg mithin als vom Mythischen geprägt dar und mündet konsequent in die Namensnennung durch eine Botin der Meerfee: iuwer name was iu ê verswigen; / den vernement durch mîn bet: / ir sint geheizen Lanzelet (vv. 4704–06). Und auch auf formaler Ebene der Darstellung erweist sich die Erzählung vom mythischen Denken bestimmt, nicht allein in den spezifischen Gestaltungen von Raum und Zeit, sondern ebenso mit Blick auf die narrative Anordnung der einzelnen Episoden und die ihnen eingeschriebeten in mittelalterlicher Literatur, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur, hrsg. von HELMUT BRALL, BARBARA HAUPT, URBAN KÜSTERS (Studia humaniora 25), Düsseldorf 1994, S. 347–387.

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ne Handlungsmotivation. Eröffnet bereits das Wegmotiv beim Aufbruch Lanzelets ein scheinbar kontingentes Geschehen, wird es an den jeweiligen Episodengrenzen – und nur dort – entsprechend immer wieder aufgerufen. Es sind diese Wege ohne Spuren, die die Episoden in syntagmatischer Hinsicht verbinden, es ist deren Nähe zueinander im Erzählverlauf, die einzig einen Zusammenhalt garantiert. Die Erzählung folgt damit einer mythischen Kausalität, die entsprechende Irritationen in der Geschichte bewirkt – erinnert sei etwa an das »Verschwinden« von Nebenfiguren – und den Blick auf das Ende lenkt. Diese, allein auf der Ebene der Darstellung sich abzeichnende finale Motivation75 lässt sich mit Blick auf die Handlungsziele genauer konturieren: JAN-DIRK MÜLLER zeichnet den Weg der Namenssuche Lanzelets detailliert nach und zeigt auf, wie die Identität über Name und der damit verbundenen Abstammung konstitutiv für das im Roman entworfene Ritterbild ist, der Erwerb des Namens sei im ›Lanzelet‹ letzthin »Ziel der Handlung«.76 Dieses bereitet schon die Meerfee vor, wenn sie – von Racheplänen für an ihr begangenes Unrecht erfüllt (v. 335) – den Sieg über Iweret zur Bedingung für die Namensnennung macht (vv. 328f.). Doch ist diese, auf der Ebene der Geschichte anzusiedelnde, vorbereitende Motivation dem Ziel der Initiation des Helden offenkundig nachgeordnet, insofern die Namensnennung als finaler Ausweis der Initiation des Helden firmiert, worauf die Erzählung von Beginn an zusteuert: unz daz der helt mære / geschuof mit sîner manheit, / daz im sîn name wart geseit (vv. 34–36). Die Initiation bleibt aber an den Erwerb von Land und Frau gebunden, was im resultathaften, Bedeutsamkeit stiftenden Erzählen gründet.77 Im Zuge mythischer Präsentation dieses elementaren Sachverhalts folgt konsequent auch erst am Ende die Nennung des Namens auf der Ebene des Erzählens. Wird Lanzelet zuvor noch selbst vom Erzähler lediglich als der ungenande (v. 1287), der ritter âne namen (v. 2059), der namelôse (v. 2241) oder als der ritter von dem Sê (v. 2475) bezeichnet, erfährt auch der Rezipient allererst jetzt seinen Namen.78 Die Erzählung partizipiert hier an einem mythischen Vorstellungsmuster, das CASSIRER unter dem Begriff des »Namenszaubers« näher erläutert. Gerade im Gebrauch des Namens zeige sich das »Unvermögen des mythischen Denkens, ein bloß Bedeutungsmäßiges, ein rein Ideelles und Signifikatives zu erfas75

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Zur mythosanalogen Erzählform finaler Motivation sei an dieser Stelle lediglich verwiesen auf CLEMENS LUGOWSKI, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung (Neue Forschung. Arbeiten zur Geistesgeschichte der germanischen und romanischen Völker 14), Berlin 1932, S. 73–89; zur näheren Abgrenzung von kausaler Motivation siehe MATIAS MARTINEZ, Motivierung, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2 (2000), S. 643–646. Vgl. MÜLLER [Anm. 6], S. 186–194, Zitat S. 205. Hervorzuheben ist hier diese enge Verbindung im mythisierenden Erzählen, die die inhaltliche wie formale Seite umfasst, was MÜLLER augenscheinlich nicht im Blick hat, wenn er den Erwerb von Herrschaftsrechten gegenüber der Gewinnung des Namens als »sekundär« einstuft; ebd. S. 191. Wenn MÜLLER, ebd. S. 188, festhält, dass »Lanzelet für den Rezipienten keineswegs ›namenlos‹, sondern allenfalls für seine Umgebung« sei, setzt er – wohl auch zurecht – eine gewisse Kenntnis des Stoffes beim Publikum voraus.

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sen«; so sei es insbesondere »der Eigenname, der in dieser Weise mit geheimnisvollen Banden an die Eigenheit des Wesens geknüpft ist«.79 Mit der letztgültigen Bestätigung seiner manheit und Eignung zu Herrschaft und Liebe erhält Lanzelet seinen Namen. Die Erzählung von Lanzelets Weg bis zur Entdeckung des Namens ist in mehrfacher Hinsicht und auf verschiedenen Ebenen des Textes vom Mythischen geprägt. Inhaltlich tritt Mythisches in Motiven oder ganzen Schauplätzen entgegen, die einer vornehmlich keltischen Erzähltradition entstammen. Im Rahmen dieser an Inhalte gebundenen Rezeption lassen sich spezifische Schemata ausmachen, hier in erster Linie das mythische Schema der Initiation des Helden, das sich im wiederholt variierenden Erzählen als gehärtetes Grundmuster erweist. Der so erzählte elementare Sachverhalt, die Bestätigung der Eignung des Helden zu Herrschaft und Liebe, lässt sich als bedeutsam in Sinne BLUMENBERGs bestimmen, insofern auch verschiedene Verfahren zur Stiftung von Bedeutsamkeit greifen: Die einzelnen Episoden basieren bereits auf einer augenfälligen Wiederkehr des Gleichen und zeigen in den jeweiligen Kämpfen des Helden eine charakteristische Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung an. Die Erzählung wendet sich nicht zuletzt in Schadil li Mort und Behforet über die verstärkte Aufnahme topischer Motive zur Markierung von Anderwelten einer Isolierung des Realitätsgrades zu, bis der noch in Figurenrede verhandelte Sachverhalt geradezu explizit wird und rein zur Darstellung gelangt. Und mit der Nennung des Namens durch die Botin der Meerfee erfolgt ein schon personell angezeigter Rückgriff auf die Ausgangssituation, womit der Erzählung letzthin eine Kreisschlüssigkeit zukommt. Auf formaler Ebene verdichten sich zur Darstellung ebendieses bedeutsamen Sachverhalts Strukturen mythischen Denkens, die über die raumzeitliche Bestimmung des Erzählten einerseits, über die mythischer Kausalität folgende Motivation des Geschehens andererseits Auswirkungen auch auf die erzählte Handlung haben. Nicht zuletzt mit der kongruenten Namensnennung in Geschichte und Erzählung öffnet sich die Darstellung einer Präsenz der Inhalte, deren bloße Präsentation Ausdruck einer von CASSIRER beschriebenen mythischen Symbolisierungsleistung ist, die sich über eine ebensolche Indifferenz von Form und Inhalt auszeichnet und an elementaren Erfahrungen ansetzend Teil kultureller Praxis ist.

IV. Lassen sich mythische Inhalte und Strukturen zwar ausmachen, die nicht nur die erzählte Geschichte, sondern ebenso deren Präsentation bestimmen, erzählt der Roman dennoch keinen Mythos. Der Roman mag zwar teilhaben an einer Arbeit am Mythos wie er auch an Vorstellungsmustern mythischen Denkens partizipiert, doch sind diese mythischen Inhalte und Strukturen immer schon literarisch vermittelt, Teil der Literatur und 79

CASSIRER [Anm. 12], Bd. 2, S. 53f. Hervorhebung dort. Siehe im Anschluss an CASSIRER auch DIETER LAMPING, Der Name in der Erzählung. Zur Poetik des Personennamens (Wuppertaler Schriftenreihe Literatur 21), Bonn 1983, S. 105–122.

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Teil auch einer Arbeit an der Literatur. Als Literatur steht der Roman letzthin in einer eigenen, genuin literarischen Tradition mit einer ihr eigenen Form auch der Darstellung. Gerade der höfische Roman des 12. Jahrhunderts stellt ein solches Bewusstsein immer wieder aus. In der Forschung zum ›Lanzelet‹ ist viel über ein ominöses welschez buoch (v. 9324) diskutiert worden, das Ulrich als Vorlage seines eigenen Romans nennt.80 Ob es sich dabei um eine tatsächliche Vorlage handeln mag, oder ob diese gar fingiert sein könnte, in jedem Fall markiert dieses Buch eine im kulturellen Transfer angesiedelte literarische Tradition des erzählten Inhalts, in die sich Ulrich stellt. Und ist literarisches Erzählen im Mittelalter immer schon als ein Wiedererzählen einer Materie aufzufassen, sei diese nun schriftlich oder mündlich vorgegeben, richtet sich das Interesse vornehmlich auch auf die Darstellung der vermittelten Inhalte.81 Deren spezifisch literarischen Ausgestaltungen soll im Folgenden nun nachgegangen werden, die – in Abgrenzung zu mythischen Formen der Symbolisierung – hier in einem Bedeutung generierenden Erzählen angesetzt werden.82 Mit Blick auf die in ihrer Mythizität beschriebene Episodenreihe vom Aufbruch Lanzelets bis zur Namensnennung lassen sich verschiedene Verfahren solcher Bedeutungssetzungen ausmachen: Formen uneigentlicher Rede, die an die erzählten Inhalte anschließen; ein gezieltes Spiel mit Zeichenhaftigkeit, das eine Bedeutungsebene im Erzählen allererst bewusst macht; schließlich über die Anzeige des Erzählvorgangs selbst, über den Bedeutungen transportiert werden können. Mythische Bedeutsamkeit, die im Moment der Initiation die Eignung zu Herrschaft und Liebe integriert, wird damit von einem genuin literarischen Erzählen eingeholt, das zunächst Einzelaspekte fokussiert, indem es deren Bedeutung differenziert anzeigt. Schon die erste Episode kann vor diesem Hintergrund auf einen Aspekt vornehmlich bezogen werden: Von Beginn an erscheint die Erzählung von Moreiz im Horizont ungezügelter Minne und ist zugleich von einer streng reglementierten Ordnung geprägt. Während der Burgherr die ankommenden Ritter Lanzelet, Orpilet und Kuraus bereits in minnenclîcher (v. 805) Vollkommenheit empfängt und sie in die Gesellschaft seiner Tochter und anderer Damen einlädt, wo von minnen vil manicvalt (v. 814) gesprochen wird, ist es ebendiese Tochter, die die aufgerufene Ordnung untergräbt, wenn sie von starken minnen (v. 857) erhitzt in der Nacht aus ihrer huot (v. 878) entflieht, um sich den Gästen anzubieten. Dass sie sich damit nachhaltig dem Zwang ihres Vaters widersetzt und noch die geltenden Regeln des Minnedienstes umkehrt, macht nicht allein 80

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Einen konzisen Überblick über bisherige Thesen in der Forschung bietet KRAGL [Anm. 1], Bd. 2, S. 916–924, 1272–75. Siehe hierzu grundlegend FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Wiedererzählen und Übersetzen, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, hrsg. von WALTER HAUG (Fortuna vitrea 16), Tübingen 1999, S. 128–142. Zur Diskussion auch der Differenz von Inhalt und Bedeutung als mögliches Literarizitätskriterium siehe SIMONE WINKO, Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion, in: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hrsg. von FOTIS JANNIDIS, GERHARD LAUER, SIMONE WINKO, Berlin/New York 2009, S. 374–396, hier S. 381.

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schon Orpilets Ablehnung ihrer Werbung deutlich,83 sondern explizit auch ihre Absichtserklärung gegenüber Kuraus: Mir verbôt mîn vater alle man, âne mich wænt er niht genesen. nuo wil ich doch der volge entwesen. ich wirbe ê selbe umb einen man, der witz und êre pflegen kan, dan ich des mannes bîte, der gern sam mir strîte. (vv. 1046–52)

Im Bruch der Ordnung – hier in Umkehrung der geschlechtsspezifisch generalisierten Rollenfunktionen von Werber und Umworbener – zeichnet sich in Abgrenzung zur sanktionierenden Vaterinstanz bereits ein Gewaltpotenzial ab, das seine konsequente Umsetzung in der metaphorischen Bezeichnung des Liebesspiels als Kampf erfährt. Lanzelet schließt hier unmittelbar an, wenn er die geltenden Regeln des Minnedienstes zwar einhält, doch dies allzu eifrig und mit vollem Einsatz von der schönen Tochter geradezu erzwingt: du endarft umb mich niht werben. / zehant wolt ich ersterben, / ê ich dich hinnen lieze (vv. 1089–91).84 Damit ist zunächst natürlich die Voraussetzung zur Erfüllung des Begehrens und der Vereinigung der beiden Liebenden gegeben, denn in wart diu beste minne kunt (v. 1098); damit ist vor allem aber die Grundlage für den von der Tochter schon sprachlich evozierten Liebeskampf geschaffen, der nach Entdeckung der beiden Liebenden im Kampf Lanzelets gegen den Vater seine Fortführung und Umsetzung erfährt. Der Kampf, den Lanzelet gegen Galagandreiz zu führen hat, schließt an die vorgegebene Metaphorik an, wenn er ein Kampf in Sachen Liebe ist, doch ist er weniger als eine Konkretisierung der Metapher zu sehen – in diesem Fall müsste die Tochter selbst kämpfen –, als dass er vielmehr in repräsentativer Hinsicht ein Kampf auch um die geregelte Ordnung in der Minne ist – weshalb entsprechend der Vater als die ebenfalls von der Tochter bereits aufgerufene Ordnungsinstanz kämpft. Diese repräsentative Dimension wird noch unterstrichen, wenn der Kampf seinerseits metaphorisch als Spiel bezeichnet wird. Galagandreiz erklärt seinem Gegner ebendieses spil (v. 1148), das beide unerbittlich spielen, und der Erzähler macht auf diese Metaphorik auch nachdrücklich aufmerksam, wenn er betont: si spilten nôtlîch âne bret (v. 1167). Als Spiel nähert der Kampf sich gleichsam von der anderen Seite der zuvor aufgerufenen Metaphorik an, die damit im Text letztlich hergestellt und zum Verstehen hinreichend kontextualisiert ist.85 Ist es der konkrete Kampf um die Ordnung in der Minne, 83

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Orpilet lehnt ihr Angebot nicht von ungefähr mit der Feststellung ab, er habe dar ûf gedienet niht (v. 948). Die implizite Einhaltung der eigentlichen Ordnung durch Lanzelet hebt ULRIKE ZELLMANN, Lanzelet. Der biographische Artusroman als Auslegungsschema dynastischer Wissensbildung (Studia humaniora 28), Düsseldorf 1996, S. 206f., hervor. Die Minnemetaphorik ließe sich mit dem Hinweis des Erzählers auf das Brettspiel überdies an die in der höfischen Literatur konventionalisierte Metaphorik des Spiels, des Schachspiels im Besonderen, anschließen, wie sie etwa im Minnesang begegnet; siehe etwa ALBRECHT CLASSEN, Minnesang

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der in seiner repräsentativen Dimension als Spiel bezeichnet ist, ist es das zuvor regellose Liebesspiel, das als Kampf anvisiert wird. Ein Wechselspiel von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit kennzeichnet die Episode und macht auf eine Bedeutungsebene allererst aufmerksam, über die die Minne als ein über das konkrete Geschehen hinausgehender Sachverhalt ausgewiesen wird, der einer inneren Ordnung wie äußeren Reglementierung folgt. Als Garant dieser Ordnung firmiert repräsentativ der Vater, während Lanzelet – wie auch die namenlose Tochter – selbst von ungezügelter Begierde und Gewaltbereitschaft geprägt ist. Dieser Kontrast stellt sich wiederum erst über den gezielten Gebrauch – jetzt konventionalisierter – Jagdmetaphorik86 her: Wird Galagandreiz zu Beginn als rîcher fôrehtier (v. 732) vorgestellt, der seine Tiere durch der liebe bannet (v. 731), erweist er sich entsprechend als übermäßiger Wahrer auch der rechten Minneordnung im Kampf gegen ebenso übermäßige Begierde.87 Von dieser zeigt sich Lanzelet nicht nur in der Nacht mit der schönen Tochter geleitet, sondern weiterhin auch zum Abschluss der Episode, wenn die Jagdmetapher erneut, doch jetzt in entscheidender Variante aufgerufen wird: Lanzelet, der nach dem Tod Galagandreiz’ die Herrschaft über alles angetreten hat, daz ê des fôrehtieres was (v. 1248), widmet sich nun ganz und ohne Einhaltung von Schonzeiten der Jagd: er begunde tegelîchen traben / durch jagen ûz in den walt (vv. 1360f.). Bestätigt sich über die Jagdmetaphorik somit erneut das ausschließlich auf Minne zielende Begehren Lanzelets, der überdies Herrschaft und Besitz so freigebig verteilt wie jemand, dem daz guot lützel swirt (v. 1250), bestätigt sich aber abschließend auch diese ausschließlich über Formen uneigentlicher Rede angezeigte Fokussierung der Episode auf Minne. Folgt die Episode dem mythischen Schema einer Initiation des Helden, stellt sich allererst auf einer Ebene der Bedeutung ein Fluchtpunkt der Erzählung ein, der die Initiation des Helden als eine

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als Spiel. Sinnkonstitution auf dem ›Schachbrett‹ der Liebe, Studi medievali 36 (1995), S. 211–239. In vergleichbarer metaphorischer Funktion der Aufdeckung einer Liebesvereinigung steht das Schachbrett auch im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg, hier bei der Entdeckung Tristans und Isoldes durch Marjodo: Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH RANKE neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von RÜ7 DIGER KROHN, 3 Bde., Stuttgart 2002, vv. 13510, 13593. Die Jagdmetaphorik in der Sprache der Liebe ist im Mittelalter weit verbreitet und nicht erst in Hadamars von Laber ›Jagd‹ in aller Breite umgesetzt. Verschiedene Aspekte des metaphorischen Sprechens über die Jagd wie etwa in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹ oder schon in Heinrichs von Veldeke ›Eneasroman‹ zeigt im Überblick HELMUT BRACKERT: deist rehtiu jegerîe. Höfische Jagddarstellungen in der deutschen Epik des Hochmittelalters, in: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter, hrsg. von WERNER RÖSENER (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 135), Göttingen 1997, S. 365–406, hier v.a. S. 390–401. Diese Funktion widerspricht jedoch nicht der insgesamt ambivalenten Figur, die an der Grenze zwischen Natur und Kultur in sich Widersprüchliches vereint, was SCHULZ [Anm. 2], S. 427 herausgestellt hat. Entsprechend ist auch zu Beginn der Episode davon die Rede, dass der Empfang nur deshalb so freundlich ausgefallen sei, da Galagandreiz an einem nicht näher bezeichneten Spiel (!) kurz zuvor Gefallen gefunden hat (vv. 780–784), womit aber letztlich dessen Willkür erneut angemahnt ist.

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Auseinandersetzung mit der rechten Minneordnung inszeniert. Formen uneigentlicher Rede sind entsprechende Möglichkeiten im Erzählen, um an der Präsenz des Mythischen anzuschließen und auf eine Bedeutungsebene zugleich aufmerksam machen zu können. Auch im Zentrum der nächsten Episode, Lanzelets Bewährung in der von Linier initiierten Aventiure, lässt sich die Anzeige einer Bedeutungsebene ausmachen, hier im alludierenden Spiel mit Zeichen, über das auch dieser Episode ein thematischer Schwerpunkt zugewiesen wird. Mit der Ankunft Lanzelets in Limors beginnt ein erbitterter Kampf, den erst Ade vermittelnd beenden kann, was jedoch den Burgherrn Linier nicht davon abhält, den fremden Ritter gefangen zu nehmen. Lanzelet wird vorgeworfen, gegen die site (v. 1389) des Landes verstoßen zu haben, da er seine friedliche Absicht nicht wie vorgesehen angezeigt habe, denn: dar enkom nie kein gast, weder tump noch wîs, er fuort ein ölboumes rîs. daz was ein wortzeichen, daz er vride wolte reichen. und swer gewæfent dar kam, den helm in di hant nam und lie di vinteilen nider, oder ez gerou in aber sider, swenne er die burc an sach. (vv. 1378–87)

Wenngleich auf eigentümliche Weise dieser Brauch geheim ist – dirr sit was verborgen (v. 1393) –, halten sich dennoch alle Ankommenden daran, mittels eines Ölzweigs ein wortzeichen zu geben, das mit der entsprechenden Geste der Helmabnahme unmissverständlich als Friedenszeichen wahrgenommen werden kann.88 Nicht erst die sanktionierende Gewalt höchster Instanz, der installierte Brauch dient damit faktisch schon der Sicherung von Herrschaft. Und mit Zeichen und Geste ist bereits repräsentativ wie in körperlicher Präsenz89 eine herrschaftsrechtliche Dimension am Beginn der Episode aufgerufen, die sich in der öffentlich angekündigten Aventiure des Burgherrn in ebendiesem Verhältnis von Präsenz und Repräsentation fortsetzt. Wenn Lanzelet erst gegen einen Riesen, dann gegen zwei Löwen, schließlich gegen Linier selbst antreten muss, fällt zunächst diese Anordnung der Kämpfe auf. Der Kampf gegen die Löwen nimmt dabei eine mittlere Position ein, folgt auf den Kampf gegen die im Riesen verkörperte brachiale Gewalt und ist dem ritterlichen Zweikampf vorgeschaltet. Die Löwen markieren damit gleichsam die Grenze von mythischer Präsenz und höfischer Repräsentation 88

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Das Zusammentreffen von wortzeichen und Geste zeigt deren Bedeutung hinreichend an, sodass nicht erst auf eine Tradition des Ölzweiges als Friedenssymbol – etwa aus Gen 8,11 hergeleitet – an dieser Stelle des Romans hingewiesen werden muss. Zur näheren Bestimmung der Geste als eine Form von Unmittelbarkeit und Präsenz siehe SILKE PHILIPOWSKI, Geste und Inszenierung. Wahrheit und Lesbarkeit von Körpern im höfischen Epos, PBB 122 (2000), S. 455–477.

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und nähern sich strukturell heraldischen Zeichen an. UDO FRIEDRICH hat den ambigen Zeichenhaushalt mittelalterlicher Wappen gerade in der Literatur aufgezeigt: »Die Schlachten und Zweikämpfe, die in den Epen immer wieder narrativ entfaltet werden und dem Adeligen die natürliche Basis seines Machtanspruchs vor Augen führen, wären der Ort, an dem die Repräsentation hinter die Präsenz der animalischen Gewalt wieder zurücktritt: erneut also ein mythisches Element.«90 Während somit also signifikanter Weise gerade Löwen auf dieser Grenze zwischen Riese und Ritter angesiedelt sind, treten sie natürlich dennoch dem Helden unmittelbar gegenüber und bedrohen ihn, bis er sie schließlich bezwingen und töten kann. Im nun folgenden Zweikampf, der bei aller Gewalt doch einer höfischen Ordnung von Lanzen- und Schwertkampf folgt, ist es ebenso signifikanter Weise jetzt Lanzelet, der vom Erzähler erstmals über sein Wappen identifiziert wird: der junge, der den arn truoc (v. 2036).91 An den mythischen Riesenkampf anschließend entfaltet sich auf der Grenze zwischen Präsenz und Repräsentation ein Austarieren der Zeichenhaftigkeit von Tier und Wappen, das eine Ebene der Bedeutung bewusst macht und mit Löwen und Adler auf den thematischen Fluchtpunkt der Episode zielt. Die im Kampf bestätigte Eignung zur Herrschaft prägt dann auch – nach dem Tod Liniers – den Abschluss der Episode, wenn Lanzelet und Ade das Land des Onkels verlassen: diu juncvrouwe wol geborn wolte gerne süenen ir vater und den küenen, der neben ir reit, ir vartgenôz. des weges si lützel verdrôz, der hin gein Bîgen lac. der degen wunscht al den tac, daz im got zuo sande einen helt, daz er bekande, waz er an im selben möhte hân. er jach, er getorste wol bestân einen man – swer er wære –, der in dûhte kampfbære. Dest mêr was sîner manheit, wan er bî der vrouwen reit, 90

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UDO FRIEDRICH, Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter (Historische Semantik 5), Göttingen 2009, S. 207. Unterstreicht FRIEDRICH somit die mythische Präsenz noch im Wappen, ist hier in geradezu umgekehrter Blickrichtung das Bedeutungspotenzial im repräsentativen Moment zu betonen, das sich vom Mythischen abhebt. Lanzelet trägt den Adler als Wappentier auf seinem Schild, den ihm die Meerfee bei seinem Aufbruch von der Insel gegeben hat (vv. 370–374) und erst hier im besprochenen Kampf wieder erwähnt wird. Weitere folgende Belegstellen sowie Hinweise zum Gebrauch des Adlerwappens im ausgehenden 12. Jahrhundert verzeichnet KRAGL [Anm. 1], Bd. 2, S. 1095. Zur langen Symboltradition des Löwen siehe grundlegend DIRK JÄCKEL, Der Herrscher als Löwe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Symbols im Früh- und Hochmittelalter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 60), Köln u.a. 2006.

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diu zen êren niht was træge. ob er ie bî ir gelæge, des enweiz ich niht, wan ichz niht sach. (vv. 2332–49)

Während Lanzelets unbedingte Kampfbereitschaft eindringlich betont wird und Ade mit der Fahrt zum Vater zugleich seine Integration in die Familie beabsichtigt,92 unterstreicht der Erzähler diese Konzentration auf das auf der Bedeutungsebene der Episode zugeschriebene Thema der Herrschaft noch, wenn er in geradezu ironisch anmutender Replik auf die vorangegangenen Ereignisse in Moreiz jegliches Liebesspiel der beiden offen lässt.93 Zielt ein Wechselspiel von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit im Erzählen von Moreiz auf das Thema der Minne, zielt ein Austarieren der Zeichenhaftigkeit an der Grenze von Präsenz und Repräsentation auf das Thema der Herrschaft in Limors. Minne wie Herrschaft sind dabei gleichermaßen in beiden Episoden schon in mythischer Bedeutsamkeit angelegt, doch werden sie in jeweils neu aufgeworfenen Bedeutungsgeflechten erst differenziert fokussiert und schließlich genauer konturiert. Die Episode von Schadil li Mort und Behforet scheint dagegen ganz von mythischer Präsenz bestimmt zu sein. Doch auffallend verdichten sich hier Wahrheitsbeteuerungen des Erzählers mit einer verstärkten Bezugnahme auf die Autorität seiner Vorlage, womit eine Distanznahme gegenüber den erzählten Inhalten ebenso einhergeht wie der Moment ihrer Vermittlung überhaupt angezeigt wird:94 Schon im Zuge der Beschreibung der die Episode prägenden Schauplätze greift der Erzähler immer wieder auf Quellen zurück. So setzt er für die Beschreibung von Behforet mit seiner Erzählung zunächst neu an – ich enweiz, ob ich iu zalde, / wi des waldes site was (vv. 3940f.) –, um diese unter Hinweis auf diu sage (v. 3991) zu beenden. Auch beteuert er die Wahrheit seiner Schilderung des Tales, die zumindest soweit garantiert sei, sofern di meister 92

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Lanzelet soll damit in den Sippenverband aufgenommen werden, was der Herrschaftsthematik folgt; vgl. MÜLLER [Anm. 6], S. 189. Selbst SPIEWOK, der in der Episodenreihe verschiedene Minnemodelle entworfen sehen möchte, betont mit Blick auf Ade, dass sie eher im Licht der »Überlegenheit der jungen Landesherrin« erscheine als eine Liebespartnerin zu sein; WOLFGANG SPIEWOK, Zur Minneproblematik im Lanzelet des Ulrich von Zazikhofen, in: Fiktionalität im Artusroman, hrsg. von VOLKER MERTENS, FRIEDRICH WOLFZETTEL, Tübingen 1993, S. 135–145, hier S. 142. Zum ironischen Potenzial des Romans siehe EDITH FEISTNER, er nimpt ez allez zeime spil. Der Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven als ironische Replik auf den Problemhelden des klassischen Artusromans, Archiv 147 (1995), S. 241–254, zur Szene S. 244. CORA DIETL stellt ausgehend von einer solchen Distanz konsequent die Frage nach einem poetologischen Konzept: CORA DIETL, Kunst vom Stahlroß bis zum Metallkügelchen. Gibt es ein poetologisches Konzept in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet?, in: Mittelalterliche Poetik in Theorie und Praxis, hrsg. von THORDIS HENNINGS u.a. Festschrift für FRITZ PETER KNAPP zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2009, S. 193–203. Zur weiterführenden Frage nach der Selbstbehauptung Ulrichs als eigenständiger Autor im distanzierten Verhältnis zu seiner Vorlage siehe auch JESSICA QUINLAN, ›diese nôt nam an sich / von Zatzichoven Uolrich, / daz er tihten begunde‹ (V. 9343–45). Darstellungen dichterichen Selbstbewußtseins bei Ulrich von Zatzikhoven, in: Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft, hrsg. von RENATE SCHLESIER, BEATRICE TRÎNCA (Spolia Berolinensia 29), Hildesheim 2008, S. 57–72.

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niht enlugen (v. 4079). Schließlich wolle er auch von der Burg Iwerets nichts anderes berichten, als uns diu buoch kunt tuont (v. 4094). Eine solchermaßen angezeigte Distanz gegenüber den Inhalten erscheint dann geradezu notwendig für deren souveräne Vermittlung, die vor allem bei der Vorstellung der handelnden Figuren deutlich wird. Wird Iweret schon zu Beginn des Romans über seine Gegnerschaft zur Meerfee in die Erzählung eingeführt, schließt der Erzähler hieran an, um in epischer Vorausdeutung dessen Tötung durch Lanzelet als eine Ordnung restituierende und den Sieger damit qualifizierende Tat vorzubereiten: ir [der Meerfee] wân het si niht betrogen, den siu dingende truoc, wan er sît Îwereten sluoc, einen helt an manheit ûz genomen. doch ensîn wir dar niht komen. (vv. 3596–3600)

Ebenso verfährt er bei der Vorstellung Iblis’, deren Vollkommenheit und Treue er betont und zugleich unheilvolle Verwicklungen in Sachen Minne andeutet: so stæt wârn ir sinne, wan daz si sît diu minne brâht an solchiu mære, der si doch gern enbære. (vv. 4049–52)

Mittels solcher epischer Vorausdeutungen präsentiert sich der Erzähler nicht nur als souverän im Umgang mit der ihm vorgegebenen Materie, sondern er unterläuft zugleich jede Unmittelbarkeit der Erzählung. Nicht zuletzt eröffnet er sich damit die Möglichkeit, der angedeuteten Handlung gleichsam eine Richtschnur vorzugeben, die sich mit Iweret nach dem Thema der geordneten Herrschaft, mit Iblis nach dem Thema der beständigen Minne ausrichtet: Während Iweret bereits als Ordnungsstörer angezeigt ist, ist im Weiteren konsequent und nachdrücklich von seinem Wappen die Rede. Sind auf seiner Satteldecke rôte lewen von golde (v. 4419) zu sehen, trägt er ebensolche guldînen lewen (v. 4422) auf seinem Schild. Mit diesen Löwen rekurriert die Darstellung Iwerets augenscheinlich auf die vorangegangene Episode von Limors, die ganz im Zeichen der Herrschaftswahrung steht. Doch ereignet sich dort im Löwenkampf ein bezeichnendes Wechselspiel von Präsenz und Repräsentation zur Anzeige einer Bedeutungsebene, wird diese hier noch aufgerufen, ohne erneut hergestellt werden zu müssen. Und auch mit Blick auf Iblis stellt sich ein vergleichbarer Bezug zur früheren Episode ein, hier über die Minne zur Erzählung von Moreiz, ansichtig in den Blumenkränzen der jeweiligen Mädchen. Während Galagandreiz’ Tochter ein aus Blumen selbst geflochtenes schapellîn (v. 868) trägt, ist es hier die Tochter Iwerets, die ihrerseits im Tal ebensolche schapellîn (v. 4075) macht. Mit Löwen und Blumenkränzen manifestiert sich in der Geschichte, was in epischer Vorausdeutung durch den Erzähler bereits thematisch aufgerufen ist und die Episode insgesamt prägt: die Integration von Herrschaft und Minne im entscheidenden Kampf Lanzelets um beidiu wîp und lant (v. 4515). Die Episode folgt damit aber dennoch dem

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mythischen Schema der Initiation, sie stellt die Bedeutsamkeit der Qualifikation zu Herrschaft und Liebe heraus und bleibt mit ihrer wirkmächtigen Präsenz des Mythischen auch strukturell in ihrer Mythizität gewahrt. Erst auf einer durch genuine Formen literarischen Erzählens gestifteten Ebene der Bedeutung – hier angezeigt über Vorlagentreue und epische Vorausdeutungen durch den Erzähler – stellt sich ein Bezug zu den vorangegangenen Episoden ein. Herrschaft und Minne erhalten dort mittels uneigentlicher Rede und Zeichenreflexion eine über das singuläre Geschehen hinausreichende allgemeine Bedeutung, die auch der folgenden Erzählung zugeordnet werden kann, die die zunächst einzeln konturierten Themen letzthin integriert. Erst das literarische Erzählen stellt somit einen Zusammenhang zwischen den Episoden auf paradigmatischer Ebene her, doch schließt es am bedeutsamen Sachverhalt an. Literarisches Erzählen kann Differenzierungen vornehmen, kann Einzelaspekte zu Themen bündeln und so den einzelnen Episoden gleichsam ihre Färbung geben. Es kann diese Themen auf der Ebene der Inhalte wie der Darstellung aufrufen und im geradezu akkumulierenden Erzählen immer wieder neu re-präsentieren. Es sind diese Verfahren der Differenzierung und Akkumulation, die ein Bedeutung generierendes literarisches Erzählen vielleicht kennzeichnen mögen, die mythischem Denken aber jedenfalls fremd sind. Literarisches Erzählen setzt sich von der Indifferenz des Mythischen auf struktureller Ebene ab und es schließt an mythische Bedeutsamkeit an, die an Inhalte und Tradition gebunden ist. Mythisches ist auf allen Ebenen des Textes präsent, es partizipiert auf inhaltlicher Ebene über die Stiftung von Bedeutsamkeit am Bedeutungsaufbau und es stellt eine Unmittelbarkeit im Erzählen her, die nicht zuletzt der Anschauung kulturell relevanter Sachverhalte dient. Bei Berücksichtigung erst der inhaltlichen wie strukturellen Seite des Mythischen lässt sich dieses somit zwischen Bedeutsamkeit und Bedeutung verorten. Mythisches bietet eine Grundlage für wie zugleich eine Folie vor der eine Bedeutung im Erzählen sich abzeichnen kann. Am Ende ist es aber das Erzählen, das auf der Ebene der Geschichte wie der Erzählung eine nicht unerhebliche Funktion einnimmt, worauf abschließend und gleichsam als Ausblick auch auf den zweiten Teil des Romans noch kurz einzugehen ist.

V. Die Erzählung von Lanzelets Namenssuche folgt einer Episodenreihe, die immer neue Bewährungskämpfe für den Helden bereithält und mit Moreiz, Limors sowie Schadil li Mort und Behforet auch räumlich strukturiert ist. Der Eindruck von Episodizität resultiert bereits aus dieser inneren wie äußeren Gliederung und er resultiert aus dem wiederholten Erzählen des immer gleichen Sachverhalts, der jeder dieser Episoden in elementarer Weise zugrunde liegt und an das gehärtete Grundmuster der Initiation gebunden ist: die Bestätigung der Eignung des Helden zu Herrschaft und Liebe. Dieser Sachverhalt gewinnt im Zuge einer an die Tradition des Erzählens von ebensolchen

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Initiationen anschließenden Arbeit am Mythos zunehmend an Prägnanz und erweist sich im Resultat als bedeutsam. Von HANS BLUMENBERG angeführte Wirkungsmittel zur Stiftung von Bedeutsamkeit lassen sich schon in der Wiederkehr des Gleichen und der Kreisschlüssigkeit der Erzählung ausmachen, ebenso in der Reziprozität von Widerstand und Daseinssteigerung in den einzelnen Kämpfen und nicht zuletzt in der zunehmenden Isolierung des Realitätsgrades. Die Darstellung des Erzählten folgt entsprechend auf formaler Ebene mythischem Denken, wie es ERNST CASSIRER beschrieben hat. Über die Konkreszenz einzelner Relationsglieder von Raum und Zeit, über die mythischer Kausalität folgende Motivation des Geschehens bis zur in Geschichte wie Erzählung kongruent sich ereignenden Namensnennung öffnet sich der Roman einer bloßen Präsenz der Inhalte, sodass diese gleichsam rein zur Anschauung kommen. Allein die Initiation Lanzelets, seine Qualifikation zu Herrschaft und Liebe, stellt somit einen gemeinsamen Bezugspunkt der Episoden dar, die innerhalb des Erzählverlaufs geradezu isoliert stehen und keine Spuren in der jeweils nächsten hinterlassen. An diese Bedeutsamkeit stiftende Form des auch mythischem Denken analogen Erzählens schließt ein Erzählen an, das Bedeutung generiert und als literarisches Erzählen bezeichnet werden kann, insofern eine Ebene der Bedeutung eine Distanz zum Erzählten notwendig voraussetzt und sich von einer mythischen Indifferenz von Inhalt und Darstellung somit abhebt. Diese, auf Differenzierungen basierende Form des Erzählens setzt im Roman letzthin Schwerpunkte, fokussiert einzelne Themen – hier der Herrschaft (Limors) und Minne (Moreiz) – und stellt ihre Verbindung zur Bewährung des Helden im weiteren Verlauf der Erzählung in akkumulierender Weise heraus (Schadil li Mort und Behforet), womit eine über das jeweils konkrete Geschehen hinausgehende Bedeutung nachhaltig angezeigt ist. Erst diese Form des Erzählens stellt einen einzelne Episoden übergreifenden Zusammenhang her und macht an die Bedeutsamkeit des Erzählten anschließend, als eigene ästhetische Form der Symbolisierung, deren Bedeutungspotenzial auf den kulturellen Kontext hin transparent. Diese Funktion des Erzählens mag seinen Ausdruck schon auf der Ebene der Geschichte finden, hier im Erzählen von Aventiuren: RAINER WARNING hat anhand des ›Yvain‹ Chrétiens de Troyes die grundlegende Struktur der Aventiure im höfischen Roman beschrieben, die über wiederholte Kämpfe und Siege des Helden zur Befreiung von Gefangenen oder auch zum Erwerb von Land und Frau führe und als ein »Dreischritt von Konfrontation, Domination und Attribution« aufgefasst werden könne. Jede einzelne Aventiure folge damit einem Schema von Störung und Restitution einer Ordnung, sodass der Roman »auf einen potentiell unendlichen Zyklus von Störung, Restitution, erneuter Störung, erneuter Restitution usw.« hinauslaufe. Aufgefangen werde diese Zirkularität von der »Identitätssuche als der zentralen thematischen Rolle des höfischen Romans«, die letzthin in die Annahme objektiver Werte der höfischen Gesellschaft münde, womit sich der Weg des Helden als »die Überführung eines Noch-nicht in ein Nunmehr des Innehabens dieser modalen Werte«

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darstelle.95 Die Aventiuren, die Lanzelet zu bestehen hat, lassen sich mit dem von WARNING aufgestellten Modell beschreiben: Der Held kämpft gegen Gewalt ausübende Gegner, er besiegt Galagandreiz, Linier und Iweret, womit ihm jeweils Land und Frau zufallen. Doch dauerhaft attribuiert er sich erst in Behforet Frau und Land, während ihm zuvor aller Besitz scheinbar gleichgültig ist (v. 1250) und selbst der Erzähler die Trennung von Ade nur beiläufig erwähnt (vv. 3674f.). So sind es weniger die Aventiuren selbst, die zur Attribution führen – sie hinterlassen keine Spuren –, als es vielmehr das Erzählen dieser Aventiuren ist, das im Weiteren relevant ist und einen Zusammenhang garantiert. Nach Lanzelets Sieg über Galagandreiz kehrt Orpilet an den Artushof zurück, wo er allen von wunder und von mære (v. 1327) berichten soll, und so erzählt Orpilet von Lanzelet, von sîner manheite vil / und von sîner sigenünfte (vv. 1352f.). Auch die Nachricht von seinem Sieg in Limors verbreitet sich rasch, sodass sich sîn manheit niht verhal / und sîn prîs ûz erschal / allenthalben in diu lant (vv. 2251–53). Bis zum Artushof reicht sein Ruhm, wo erneut von seiner manheit (v. 2274) erzählt wird, weshalb am Ende Artus eben diesen Ritter sehen möchte, von dem ich der manheit hœre jehen (v. 2292), und Walwein beauftragt, ihn an den Hof zu holen. Die Erzähler von Lanzelets Aventiuren am Artushof heben die Erlangung von manheit immer wieder hervor, sie stellen diesen offensichtlich elementaren Sachverhalt förmlich ins Zentrum ihrer Erzählungen, die vom entsprechenden gehärteten Grundmuster der Initiation offensichtlich dominiert sind. Sie entfalten ein Wirkungspotenzial, das weithin Reaktionen auslöst, nicht zuletzt ist es König Artus, der scheinbar auf das reagiert, was ihn – um mit BLUMENBERG zu sprechen – zentral affiziert, was seinem Selbstverständnis zur Artikulation verhilft, mithin mythische Bedeutsamkeit impliziert.96 Die Artusgesellschaft rezipiert damit die Erzählungen von Lanzelets Aventiuren schon in einem Maße, wie es ARMIN SCHULZ für den Roman herausgestellt hat; dieser verfolge »das kalkulierte Spiel mit mythischen Residuen, dessen Funktion es ist, sich der textuell gewünschten Normen und Werte zu versichern. Das propagierte ›Eigene‹ konturiert sich nicht zuletzt im Zerrspiegel des fremd-vertrauten Mythischen.«97 Doch darin erschöpft sich weder das Erzählen von Aventiuren in der Geschichte, noch ist damit der Status des Mythischen im Roman hinreichend erfasst. Über die einzelne Aventiure hinweg ergibt sich erst ein Zusammenhang, der auf die zunächst annähernde, dann endgültige Identifizierung Lanzelets hinausläuft: So kann Orpilet gegenüber Artus Lanzelets Namen zwar nicht nennen, doch weiß er immerhin aus eigener Zeugenschaft zu berichten, wi er di âventiure brach / ze Môreiz ûf der veste (vv. 1344f.). Später kann er ihn so aufgrund der an den Hof gelangten Erzählungen erkennen: 95

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RAINER WARNING, Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman, in: Identität, hrsg. von ODO MARQUARD, KARLHEINZ STIERLE (Poetik und Hermeneutik 8), München 1979, S. 553– 589, hier S. 561f. Vgl. BLUMENBERG, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential [Anm. 36], S. 34f. SCHULZ [Anm. 2], S. 437.

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dar nâch, als uns ist gezalt, sô ist ez der helt balt, der selbe niht sînes namen weiz. von Môreiz Galagandreiz, der hât sîn immer genuoc. daz er nuo Lîniern sluoc vermezzenlîchen, sô man seit, daz was ein michel manheit. er muoz wol getiurt sîn. (vv. 2267–75)

Lanzelet werden am Hof einzelne, mit Namen spezifizierte Aventiuren zuerkannt. Ist er zunächst der Ritter, der auf Moreiz gekämpft hat, worüber man ihn identifizieren kann, ist er jetzt zugleich der Bezwinger von Linier. Als diesen erkennt ihn schließlich Walwein, wenn er ihn im Auftrag des Königs sucht und auf einer Heide antrifft: der helt von Britângen, der wartet im vaste, daz im ein are glaste von golde ab dem schilte. dô gedâhte der milte: ›ditz mac wol sîn der wîgant, durch den ich ûz bin gesant.‹ (vv. 2370–76)

Vergewissern kann sich Walwein dann konsequent im Rückgriff auf die erzählten Aventiuren: iuwer tugent hœr ich sagen genuoc; / sît ir, der Lîniern sluoc (vv. 2409f.). Nicht nur werden gewissermaßen in Kompensation für den fehlenden Namen einzelne Aventiuren Lanzelet geradezu akkumulierend attribuiert, sie dienen allererst seiner Identifikation am Artushof. Das Erzählen von Aventiuren ermöglicht eine Anbindung an den Artushof, die über Akkumulierung wie Differenzierung erfolgt. Ist Lanzelet zunächst der Ritter, der in Moreiz kämpfte, ist er später der Ritter, der auch Linier bezwang; und nicht zuletzt markiert gerade in der Szene des Erkennens durch Walwein Lanzelets Schild mit dem Adler das den Artushof konstituierende und Differenzierung voraussetzende Moment der Repräsentation.98 Auf der Ebene der Geschichte wird gleichsam vorgeführt, was die Erzählung bis zur Namensnennung Lanzelets auszeichnet: ein die bloße Präsenz überschreitendes Erzählen. Und so bestätigen sich am Ende auch die erst über Akkumulierung und Differenzierung in ihrer Bedeutung angezeigten Werte von geordneter Herrschaft und beständiger Minne, die am finalen Schauplatz von Behforet ihre auch mythische Symbolisierung erfahren, bevor Lanzelet endgültig seinen Namen durch eine Botin der Meerfee erhält. 98

Das gesamte Turnier von Djofle (vv. 2801–3521), auf dem Lanzelet in täglich anderer Farbe, Rüstung und Schild auftritt, erscheint als ein einziges Spiel mit der Repräsentation, das die Differenz von Wappen und Ritter geradezu ausstellt, bis das Wappen erst später wieder seine eigentliche Funktion eindeutiger Identifizierung einnehmen kann. Vgl. mit konkretem Bezug zu dieser Stelle ARMIN SCHULZ, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik (MTU 135), Tübingen 2008, S. 229f.

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Nicht die einzelnen Aventiuren in ihrer Summe, erst das Zusammenhänge herausstellende Erzählen von Aventiuren konstituiert Sinn, wie die »âventiure-Erzählung« überhaupt vor diesem Hintergrund »als so unverzichtbares wie zentrales Konstitutionsmoment des idealen Hofes« gelten kann.99 Lanzelets Drachenkuss-Aventiure, die sogenannte Fier baiser-Episode, mag dies geradezu veranschaulichen: In trauter Gemeinsamkeit – eines nahtes (v. 7828), wie es heißt – fragt Lanzelet seine Frau, waz siu mæres weste / aller vremdeste nâch ir wâne (vv. 7834f.). Iblis erzählt ihm daraufhin von einem sprechenden Drachen im Wald, der von jedem ankommenden Ritter geküsst werden wolle. Doch bricht sie ihre Erzählung ab, da sie vermeiden möchte, dass Lanzelet ebendiese am Hof erzählte âventiure (v. 7854) selbst in Angriff nimmt. Nur mit listen (v. 7873) kann Lanzelet sie dazu bewegen noch mehr zu erzählen und so erfährt er, dass der Drache solange warte, bis jemand komme, ihn zu lœsen von der harnschar (v. 7881). Die von Iblis erzählte Aventiure ließe sich sowohl in inhaltlicher wie formaler Hinsicht in ihrer Mythizität beschreiben, was hier jedoch nicht weiter unternommen werden kann.100 Vielmehr ist die Art ihrer Vermittlung hervorzuheben. So erscheint gerade der zunächst getrennt vermittelte, doch notwendig herzustellende Zusammenhang von Kuss und Ordnungsstiftung Ansporn genug, um die Aventiure zu wagen. Auf der Ebene der Geschichte ist es Lanzelet, der zer âventiure (v. 7874) in den Wald aufbricht, den Drachen küsst und den Zusammenhang in der Verwandlung des Drachens in ein schönes Mädchen unmittelbar erfährt, mit dem er schließlich an den Hof zurückkehrt und sich so erneut als bester Ritter bewæret (v. 7972) hat. Doch dann tritt erst der Erzähler auf den Plan und berichtet daz mære, / wer diu vrouwe wære (vv. 7985f.). Er erzählt von Elidia, von ihrer Herkunft aus Thile und ihrem Verstoß gegen die allseits geltende Minneordnung (vv. 8008–17), weshalb sie zum Drachen verwandelt worden sei. Mit diesem mære aber stellt er das dem Geschehen zugrunde liegende Thema der Minne nicht nur heraus, er schreibt es geradezu erst hinein. Seine Erzählung kann als konsequente Begründung für das von Elidia am Hof im Weiteren übernommene Amt der Minnerichterin fungieren (vv. 8033–40). Verkörpert sie gewissermaßen als Drache noch den Regelbruch, repräsentiert und wahrt sie im Folgenden als schönste Frau die höfische Ordnung. Am Ende ist es die Aventiure Lanzelets, die die Verbindung zum Hof zwar ermöglicht, doch ist es das Erzählen der Aventiure, das die für den Hof repräsentative Bedeutung der präsentierten Sachverhalte nachhaltig erst anzeigt. Es ist nicht allein das Mythische, sei es inhaltlicher oder struktureller Art, das der kulturellen Selbstvergewisserung im ›Lanzelet‹ dient, es ist das Erzählen, indem es an mythische Bedeutsamkeit anschließt und Bedeutung generiert, sich relevanten Themen 99

PETER STROHSCHNEIDER, âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hrsg. von GERD DICKE, MANFRED EIKELMANN, BURKHARD HASEBRINK (Trends in Medieval Philology 10), Berlin/New York 2006, S. 377–383, hier S. 379. 100 Verschiedene Ansätze der Forschung referiert KRAGL [Anm. 1], Bd. 2, S. 1251–55.

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und Kernfragen höfischer Kultur annimmt und diese je neu konfiguriert. Das Erzählen im Roman partizipiert dabei am Mythischen – auf der Ebene der Inhalte wie der Darstellung –, sodass Mythisches immer nur in enger Verflechtung mit Literarischem präsent ist. Anzusiedeln wäre Mythisches demnach zwischen Bedeutsamkeit und Bedeutung.

Die Konstruktion kulturellen Erbes Zur Aufnahme des ›Nibelungenliedes‹ in das Weltdokumentenerbe der UNESCO von Elke Brüggen

I. Zweifellos zählt die ›United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization‹, kurz UNESCO, zu den bedeutendsten und einflussreichsten Institutionen der internationalen Kulturpolitik. Über die Genese dieser Einrichtung und die Transformationen, welche sie während ihrer Existenz erfuhr, ist in der Öffentlichkeit eher wenig bekannt, ebenso über die sich im Laufe der Jahre verändernden Orientierungen und Leitlinien, auf denen die institutionelle Arbeit basiert.1 Umso größer ist aber das Interesse für die von der UNESCO ausgesprochene Zuerkennung eines besonderen Status’ für einzelne herausragende materielle Elemente der Kultur, durch den diese als ›Welterbe‹ eingestuft und aus einer großen Menge anderer Zeugnisse ausgewählt werden,2 ein Prozess, der nicht nur eine ideelle, sondern auch eine ökonomische Inwertsetzung impliziert.3 Der Umstand, dass dabei das ›Weltkulturerbe‹ gegenüber dem ›Weltnaturerbe‹ eine größere Popularität besitzt, konvergiert mit UNESCO-internen Wahrnehmungen und Zuschreibungen von Dignität, die, urteilt man aufgrund der Eintragungspraxis, welche in ent1

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Vgl. FRANK ANDRÉ WEIGELT, Von »Cultural Property« zu »Cultural Heritage«. Die UNESCOKonzeptionen im Wandel der Zeit, in: Prädikat »Heritage«. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen, hrsg. von DOROTHEE HEMME, MARKUS TAUSCHEK, REGINA BENDIX (Studien zur Kulturanthropologie/Europäischen Ethnologie 1), Berlin 2007, S. 129–146. Vgl. HENRY CLEERE, The Concept of »outstanding universal value« in the World Heritage Convention, Conservation and Management of Archaeological Sites 1,4 (1996), S. 227–233; SARAH TITCHEN, On the Construction of Outstanding Universal Value. UNESCO’s World Heritage Convention and the Identification and Assessment of Cultural Places for Inclusion into the World Heritage List, Syndney 1995. Vgl. BARBARA KIRSHENBLATT-GIMBLETT, Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley u.a. 1998; ARNIKA PESELMANN, PHILIPP SOCHA, Cultural Property und das Heritage-Regime der UNESCO. Parallelen und Interaktionen bei ideellen und wirtschaftlichen Inwertsetzungsprozessen von kulturellen Elementen, in: Die Konstitutierung von Cultural Property. Forschungsperspektiven, hrsg. von REGINA BENDIX, KILIAN BIZER, STEFAN GROTH (Göttinger Studien zu Cultural Property 1), Göttingen 2010, S. 65–87.

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sprechenden Listen von Kultur- und Naturgütern Gestalt annimmt, (bis heute) dem – überwiegend steinernen – Monument eine größere Bedeutung und somit ein höheres Renommee zubilligen als der Landschaft.4 Diese Eintragungspraxis wiederum resultiert, scheint mir, auch aus der Geschichte der auf Erhaltung und Schutz gerichteten Bemühungen der UNESCO, wie sie sich aus den von ihr angestoßenen, völkerrechtlich bindenden Konventionen und ihren Empfehlungen rekonstruieren lässt.5 So war die erste Konvention der UNESCO, die ›Hague Convention on the Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict‹ von 1954,6 maßgeblich auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen und zielte vor allem auf einen Schutz vor Zerstörung, der als bedeutend eingestuften immobilen Hervorbringungen zugute kommen sollte.7 Dagegen rückte die Relevanz mobiler Elemente erst mit der Zeit stärker in den Blick und ist etwa in der Ausweitung der Schutzbestrebungen dokumentiert, 8 wie sie in der ›Recommendation concerning the Preservation of Cultural Property endangered by Public or Private Works‹ von 19689 oder der ›Convention on the Means of Prohibiting and Preventing Illicit Import, Export and Transfer of Ownership of Cultural Property‹ aus dem Jahre 197010 zur Geltung kommen. Inzwischen existieren neben dem »Flagschiff-Programm« der UNESCO zum ›Welterbe‹11 weitere, wenngleich (noch) weniger stark beachtete Programme, durch die das Konzept des Welterbes auf eine aufschlussreiche Art und Weise erweitert wurde, so das Programm ›Memory of the World‹ /

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Vgl. PETER STRASSER, Welt-Erbe? Thesen über das »Flagschiffprogramm« der UNESCO, in: HEMME, TAUSCHEK, BENDIX [Anm. 1], S. 101–127. Vgl. MARIE-THERES ALBERT, UNESCO-Konventionen – Historische Kontexte und Bezüge, in: Natur und Kultur. Ambivalente Dimensionen unseres Erbes – Perspektivenwechsel, hrsg. von der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. und der Brandenburgischen Universität Cottbus, Cottbus 2002, S. 19–25; KEITH D. SAUER, The UNESCO World Heritage Convention, Environmental Planning and Law Journal 8 (1991), S. 4–15; PETER STRASSER, »Putting reform into action« – Thirty Years of the World Heritage Convention: How to reform a Convention without changing its Regulations, International Journal of Cultural Property 11 (2002), S. 215–266. http://portal.unesco.org/culture/en/ev.php-URL_ID=8450&URL_DO=DO_TOPIC&RRL_SEC TION=201.html [18.03.2012]. Vgl. JIŘÍ TOMAN, The Protection of Cultural Property in the Event of Armed Conflict, Dartmouth 1996. Zum begrenzten Einfluss der UNESCO vgl. LYNDEL V. PROTT, Macht und Ohnmacht der UNESCO bei der Durchsetzung von Kulturgüterschutzanliegen, in: Die grenzüberschreitende Verantwortung des Kulturgüterschutzes. Bregenzer Symposion 1996, hrsg. von KARL REDL und GERHARD SLADEK (Schriftenreihe Österreichische Gesellschaft für Kulturgüterschutz 3), Bregenz/Wien 1996, S. 59–73. http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=1308&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201. html [18.03.2012]. Zur zunächst mangelnden Unterstützung für das Abkommen vgl. WEIGELT [Anm. 1], S. 132. Vgl. STRASSER [Anm. 4].

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›Weltdokumentenerbe‹ oder das nach langer Diskussion aus der Taufe gehobene Programm für die ›Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage‹.12 Mit den verschiedenen Konventionen, Empfehlungen, Programmen und Listen verfügt die UNESCO über ein differenziertes und einflussreiches kulturpolitisches Instrumentarium zur Sicherung kultureller Hinterlassenschaften und Traditionen. Auf der ideologischen Ebene sind dabei in den institutionellen Verlautbarungen der Begriff und das Konzept des ›kulturellen Erbes‹ neben die ältere Rede vom ›kulturellen Eigentum‹ getreten, haben gar eine gewisse Dominanz erlangt. Die Entwicklung ist überzeugend auf komplexe weltpolitische Dynamiken zurückgeführt worden, die auf ein Ende der kolonialistischen Ära hinausgelaufen sind.13 Die Infragestellung der den Kolonialismus fundierenden Haltungen und Überzeugungen und das Aufbrechen der ihn tragenden Strukturen haben nicht nur das Bewusstsein für die Existenz unterschiedlicher Erscheinungsformen und Typen von ›Weltkultur‹ geschärft, sondern auch die Problematik und eingeschränkte Anwendbarkeit des sehr stark europäisch-amerikanisch geprägten Eigentumsbegriffs sichtbar werden lassen; die Haager Konvention von 1954 und die Welterbekonvention von 197214 können in ihrer Abfolge als exemplarische Belege für eine entsprechende Veränderung im institutionellen Diskurs herangezogen werden. Die grundlegenden Differenzen zwischen den mit den Begriffen ›Eigentum‹ resp. ›Erbe‹ verbundenen Konzepten können im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich erörtert werden.15 Ich muss es hier bei einigen Hinweisen belassen. Aufgrund seiner Bindung an das Moment der Übertragbarkeit impliziert der juristische Begriff des ›Eigentums‹ bei 12

13

14 15

Der Text der Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage aus dem Jahre 2003 ist zugänglich unter http://www.unesco.org/culture/ich_convention/index.php?pg=00022 [18.03. 2012]. Zu dieser Initiative der UNESCO vgl. BARBARA KIRSHENBLATT-GIMBLETT, Intangible Heritage as Metacultural Production, Museum International 56 (2004), S. 52–65; KRISTIN KUUTMA, The Politics of Contested Representation. UNESCO and the Masterpieces of Intangible Cultural Heritage, in: HEMME, TAUSCHEK, BENDIX [Anm. 1], S. 177–196. Vgl. WEIGELT [Anm. 1]; REGINA BENDIX, KILIAN BIZER, Cultural Property als interdisziplinäre Forschungsaufgabe. Eine Einleitung, in: BENDIX, BIZER, GROTH [Anm. 3], S. 1–20, hier S. 4. http://www.unesco.de/c_bibliothek/welterbekonvention.htm [18.03.2012]. Vgl. BENDIX, BIZER [Anm. 13]; JANET BLAKE, On Defining Cultural Heritage, International Comparative Law Quarterly 49 (2000), S. 61–85; MANLIO FRIGO, Cultural Property versus Cultural Heritage. A Battle of Concepts in International Law? International Committee of the Red Cross 86 (2004), S. 367–378; Properties of Culture – Culture as Property: Pathways to Reform in post-soviet Siberia, hrsg. von ERICH KASTEN, Berlin 2004; BARBARA KIRSHENBLATT-GIMBLETT, Theorizing Heritage, Ethnomusicology 39 (1995), S. 367–380; JOHN HENRY MERRYMAN, Two ways of Thinking about Cultural Property, The American Journal of International Law 80 (1986), S. 831–853; DERS., Cultural Property Internationalism, International Journal of Cultural Property 12 (2005), S. 11–39; LYNDEL V. PROTT, PATRICK J. O’KEEFE: Law and the Cultural Heritage. Bd. 1, Abingdon 1984; DIES., Cultural Heritage or Cultural Property?, International Journal of Cultural Property 1 (1992), S. 307–320; DIES., International Standards for Cultural Heritage, in: World Culture Report, hrsg. von der UNESCO, Paris 1998, S. 12–23; PETER STRASSER, Das kulturelle Erbe auf internationalem Parkett, Bricolage. Innsbrucker Zeitschrift für europäische Ethnologie 2 (2005), S. 2– 77; WEIGELT [Anm. 1].

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seiner Anwendung auf kulturelle Elemente deren ›Verdinglichung‹ und präjudiziert einen Umgang mit diesen ›Dingen‹, wie er einem westlichen Verständnis entspricht, das jedoch keineswegs universelle Akzeptanz erfährt. Zum anderen wird auf diese Weise der Charakter einer Ware betont, mit der man handeln kann und deren Wert von Mechanismen des Marktes bestimmt wird; auch das ist eine Auffassung von Eigentum, die keine allgemeine Gültigkeit besitzen muss. Der Erbebegriff16 wird dagegen den Momenten des symbolischen Kapitals und des ideellen Wertes von Elementen der Kultur eher gerecht. Außerdem erleichtert er die Einbeziehung von Erscheinungsformen der Kultur, die bei der UNESCO unter einer Bezeichnung firmieren, für die eine treffende Übersetzung aussteht: ›intangible heritage‹ – gemeint sind damit kulturelle Phänomene, die sich zwar in bestimmten Praktiken materialisieren können, die aber eigentlich in die Kategorie des Immateriellen, Geistigen, Spirituellen, Intellektuellen gehören und somit einem Bereich zuzuordnen sind, der durch den Eigentumsbegriff nur schwierig zu fassen ist. Die neue Begrifflichkeit indiziert zudem die Wichtignahme der kulturpolitischen Aufgabe, die Hinterlassenschaften der Vergangenheit für gegenwärtige und zukünftige Generationen zu erhalten, sie ihnen zugänglich zu machen und ihnen durch deren fortgesetzte interpretatorische Aufbereitung wichtige Möglichkeiten der Identitätsbildung zu sichern.17 Was hat all das mit germanistischer Mediävistik zu tun und im Rahmen einer Tagung zum Thema ›Kulturelle Kontinuitäten und Mythen-Transfer in der deutschen Literatur 16

17

Zu den problematischen Implikationen des Erbebegriffs und den Widersprüchen des Konzepts des kulturellen Erbes vgl. die Einführung von INGO SCHNEIDER in dem von ihm in Zusammenarbeit mit KARL C. BERGER und MARGOT SCHINDLER herausgegebenen Band Erb.gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft. Referate der 25. Österreichischen Volkskundetagung vom 14.– 17.11.2007 in Innsbruck (Buchreihe der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde N.S. 23), Wien 2009, S. 11–13; außerdem DIETER HOFFMANN-AXTHELM, Die Welt beerben. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines Weltkulturerbes, Ästhetik und Kommunikation 22 (2002), S. 15–22; Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachcodierung des historischen Gedächtnisses, hrsg. von MORITZ CSÁKY, Innsbruck 2000. Zu den unterschiedlichen Semantiken der im Deutschen, im Englischen und im Französischen verwendeten Begriffe und der daraus resultierenden Übersetzungsproblematik vgl. ASTRID SWENSON, »Heritage«, »Patrimoine« und »Kulturerbe«. Eine vergleichende historische Semantik, in: HEMME, TAUSCHEK, BENDIX [Anm. 1], S. 53–73. Zum deessentialisierten Verständnis von ›Kulturerbe‹ als ›soziokulturelle Praxis‹ vgl. Kulturerbe als soziokulturelle Praxis, hrsg. von MORITZ CSÁKY, MONIKA SOMMER, Innsbruck/Wien 2005. Zum Prozess der Aufbereitung eines historischen Elements zum ›heritage product‹ vgl. G. J. ASHWORTH, From History to Heritage – From Heritage to Identity. In Search of Concepts and Models, in: Building a New Heritage. Tourism, Culture, and Identity in the New Europe, hrsg. von GREGORY J. ASHWORTH, PETER J. LARKHAM, London/New York 1994, S. 13–30. Die hochinteressante Frage, wie das auf einer nationalen Wertzuschreibung aufruhende Konzept des Welterbes in einer globalisierten Welt und Kultur gefasst werden kann, wird hier ausgeklammert; vgl. dazu die Hinweise bei GREGORY J. ASHWORTH, BRIAN GRAHAM, J.E. TURNBRIDGE, Pluralising Pasts. Heritage, Identity and Place in Multicultural Societies, London/Ann Arbor 2007; J.E. TURNBRIDGE, Whose Heritage? Global Problem, European Nightmare, in: ASHWORTH, LARKHAM [Anm. 17], S. 123– 134.

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des Mittelalters‹ zu suchen? Die Antwort auf diese Frage setzt bei einer Auffassung des Titels der Tagung an, die, zugegeben, etwas weiter gefasst ist: Es geht mir nicht um kulturelle Kontinuitäten, die im Mittelalter selbst beobachtbar sind, sondern um solche, die in der heutigen Kultur im Rekurs auf mittelalterliche Literatur und Kunst verhandelt werden. Dabei wird ein spezieller Fall betrachtet, an dem sich m.E. allerdings Beobachtungen von grundsätzlicher Bedeutung machen lassen, nämlich die internationale Sichtbarkeit, die dem ›Nibelungenlied‹ durch die Kulturpolitik der UNESCO zuteil wurde und die man als eine folgerichtige Steigerung seiner nationalen Bedeutung begreifen könnte: Das ›Nibelungenlied‹, um 1200 entstanden, ist schließlich das bekannteste und das in der Öffentlichkeit am höchsten geschätzte Werk des deutschen Mittelalters, und sobald in Deutschland die zyklisch wiederkehrende Diskussion um einen Kanon literarisch wertvoller und daher von den Gebildeten zu kennender Texte in deutscher Sprache auflebt, kann man sichergehen, dass das ›Nibelungenlied‹ unter den mittelalterlichen Werken an erster Stelle genannt wird. Wenn im Folgenden eher einer kritischen Analyse des Vorgangs Raum gegeben wird, ist das nicht Ausdruck einer fehlenden Wertschätzung der verdienstvollen Arbeit, die in den nationalen und internationalen Gremien getan wurde und die den herausragenden Status des mittelhochdeutschen Textes zweifelsohne weiter gesteigert und seine Auratisierung befördert hat. Sie ist eher als Beschreibung von Abläufen und Mechanismen einer Inwertsetzung zu verstehen, die den mittelalterlichen Text der Fachwissenschaft teilweise entfremden. Insofern gehört der Beitrag in einen Diskurszusammenhang, in dem es darum geht, für die Transformationen zu sensibilisieren, die mit der veränderten Kontextualisierung kultureller Elemente einhergehen können.18

II. In Gestalt der drei Haupthandschriften A (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 34), B (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857) und C (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 63)19 wurde das ›Nibelungenlied‹ Ende Juli 2009 vom Internationalen Komitee für das UNESCO-Programm ›Memory of the World‹ (MOW) /

18

19

Vgl. BERNHARD TSCHOFEN, Antreten, ablehnen, verwalten? Was der Heritage-Boom den Kulturwissenschaften aufträgt, in: HEMME, TAUSCHEK, BENDIX [Anm. 1], S. 19–32. Ebd. S. 19: »Wenn sich Wissenschaft auf solche boomenden Felder einlässt, muss sie immer der Tatsache gewahr sein, selbst daran beteiligt zu sein und durch ihre Begriffe und Praktiken zu dem beizutragen, was sie vielleicht mit Skepsis und wenig Wohlgefallen lieber aus sicherer Distanz beobachten würde.« Kritisch zum Begriff der Haupthandschriften: PETER GÖHLER, Daz was ein not vor aller not. Der Platz des ›Nibelungenliedes‹ im literarischen Ensemble um 1200. Überlegungen zur literaturgeschichtlichen Stellung des ›Nibelungenliedes‹, in: 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und die Europäische Heldendichtung, hrsg. von ALFRED EBENBAUER, JOHANNES KELLER (Philologica Germanica 26), Wien 2006, S. 121–146, hier S. 139f.

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›Gedächtnis der Menschheit‹20 für die Aufnahme in das Register des Weltdokumentenerbes empfohlen.21 Die Bestätigung durch die endgültige Entscheidung des Generaldirektors der UNESCO erfolgte wenig später, und so konnte am 25. Januar 2010 die Überreichung der Zertifikate an die beteiligten Institutionen, die Bayerische Staatsbibliothek München, die Stiftsbibliothek St. Gallen und die Badische Landesbibliothek Karlsruhe mit einem Festakt in München begangen werden.22 Flankierend erfolgte in München und in Karlsruhe eine öffentlichkeitswirksame Inszenierung der Auszeichnung mittels mehrtägiger Ausstellungen, in denen die kostbaren Exponate aus dem Tresor geholt und im Zusammenspiel mit weiteren Schätzen aus den Handschriftenabteilungen der renommierten Bibliotheken gezeigt wurden. Das Programm ›Memory of the World‹23 wurde 1992 auf der UNESCO-Generalkonferenz in Paris initiiert. Ein International Advisory Committee (IAC) trat zum ersten Mal 1993 zusammen; es erarbeitete einen Aktionsplan für die Kommunikation mit Regierungen, internationalen Organisationen und Stiftungen und für Kooperationen, mit deren Hilfe Projekte entwickelt und implementiert werden sollten. Die Richtlinien des Programms wurden in Absprache mit der International Federation of Library Associations (IFLA) und dem International Council of Archives (ICA) formuliert. ›Memory of the World‹ ergänzt die zu Beginn der 90er Jahre bereits gut etablierten Programme des Weltkultur- und -naturerbes und bildet so eine weitere Säule, mit deren Hilfe die Anstrengungen, ein weltumspannendes ›Erbe der Menschheit‹ auszuweisen, realisiert werden sollen. Mit dem Weltdokumentenerbe werden herausragende kulturelle Zeugnisse in den Blick gerückt, die in Archiven, Bibliotheken, Gedenkstätten und Museen aufbe20

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Informationen zu diesem Programm findet man unter: http://www.unesco.org/webworld/mow [18.03.2012]. Vgl. die Pressemitteilungen der UNESCO: http://www.unesco.de/ua41-2009.html?&L=0 [18.03. 2012]; http://www.unesco.de/uho_0809_nibelungenlied.html?&L=0 [18.03.2012]; http://www. unesco.de/mow-nibelungenlied.html?&L=0 [18.03.2012]. Pressemitteilungen der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe anlässlich der Nominierung und des Festakts zur Verleihung der Urkunde finden sich unter: www.bsb-muenchen.de/Archiv-Einzeldarstellung.395+M55c6d6d6ae0.0.html [18.03.2012]; http:// www.bsb-muenchen.de/Archiv-Einzeldarstellung.395+M5ce14163582.0.html [28.04.2011]; http:// idw -online.de/pages/de/news?print=1&id=327886 [28.04.2011]; http://www.blb-karlsruhe. de/blb/blbhtml/ nib/weltkulturerbe.php [28.04.2011] hier wie unter: http://www.blb-karlsruhe.de /blb/blbhtml/2010/ nibelungen-presse.php [28.04.2011] auch eine Zusammenstellung von Presseberichten. Vgl. dazu http://portal.unesco.org [18.03.2012] und http://www.unesco.de/mow.html [18.03.2012]. Zur Ausrichtung des Programms vgl. bes. Memory of the World, General Guidelines to Safeguard Documentary Heritage. Revised Edition, prepared for UNESCO by RAY EDMONDSON, Paris 2002, als pdf-file zugänglich unter: http://portal.unesco.org/ci/en/ev.php-URL_ID=6644&URL_DO=DO_TOPIC &URL_SECTION=201.html [18.03.2012]; außerdem die von der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. herausgegebene Publikation: Gedächtnis der Zukunft. Das UNESCO-Programm ›Memory of the World‹ zum Weltdokumentenerbe, Bonn 2010, als pdf-file zugänglich unter: http://www.unesco. de/fileadmin/medien/Dokumente/-Bibliothek/100907_A5_MoW_Broschuere_Druckdatei.pdf. [18.03.2012]

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wahrt werden. Erklärtes Ziel ist zum einen die Sicherung (preservation) der betreffenden schriftlichen oder audiovisuellen Dokumente, zum anderen die Ermöglichung eines weltweiten Zugangs (public access);24 für beide Anliegen bietet eine konsequente Nutzung moderner Informations-, Kommunikations- und Speichertechniken die Basis. So verpflichten sich die Herkunftsländer registrierter Dokumente, diese digital aufzubereiten, um sie vor Zerstörung und Verlust zu schützen und sie außerdem öffentlich zugänglich zu machen. Insofern haben die Techniken der elektronischen Datenverarbeitung erst die Voraussetzungen für das Programm geschaffen. Als Motor eines in der Geschichte der Menschheit bis dato beispiellosen Globalisierungsprozesses haben die EDV und die neuen Möglichkeiten des world wide web zudem einen unübersehbaren Einfluss auf die bewusstseinsbildenden Prozesse ausgeübt, die der Initiierung des Programms vorausgingen. Die Option globaler Kontakte und weltweiter Vernetzung sowie die daraus resultierende Erfahrung, dass Vorgänge, Dinge, Entscheidungen und Entwicklungen, die sich vor der medialen Umwälzung als relativ entfernt wahrnehmen ließen, nun auf eine aufregende wie beunruhigende Weise nahe gerückt wurden, an den »eigenen« Grenzen nicht halt machten, hat offenbar dazu beigetragen, der Vorstellung eines ›Welterbes der Menschheit‹ weiteres Gewicht zu verschaffen und für den Gedanken einer gemeinsamen Verantwortung für die Überlieferungen der Vergangenheit zu sensibilisieren. »Zukunft braucht Erinnerung«25 – mit diesem Wahlspruch, dem durchaus auch eine gewisse Reserve gegenüber der massenhaften Verbreitung und Beschleunigung der im world wide web verfügbaren Informationen eingeschrieben ist, verbinden sich in den Verlautbarungen der UNESCO und ihrer Mitglieder weitgehende kulturpolitische Überlegungen. Zu ihnen zählen, um nur einige zentrale Punkte zu nennen: – das Beharren auf Unverzichtbarkeit von Gedächtnis und Erinnerung für die Sicherung einer globalen Zukunft und auf der daraus abgeleiteten gemeinsamen Verantwortung und Pflicht zur Sicherung der Authentizität und zur Bewahrung der Integrität als herausragend eingestuften Kulturguts, – damit in Zusammenhang stehend: eine spezielle Sicht auf die Kategorie des ›Eigentums‹, wie sie etwa das folgende Zitat aus einem Artikel belegt, in dem VERENA METZE-MANGOLD, die ehemalige Vizepräsidentin der Deutschen UNESCO-Kommission, die Stoßrichtung des Programms ›Memory of the World‹ expliziert hat: »Die herausragenden kulturellen Zeugnisse sind geistiges Eigentum aller Menschen und gehören nicht allein den Völkern und Staaten, auf deren Boden sie entstanden sind oder sich befinden«26, 24 25

26

Vgl. http://www.unesco.de/mow-ziele.html [18.03.2012]. VERENA METZE-MANGOLD, Memory of the World – Das Gedächtnis der Menschheit. Zur Entstehung des deutschen Nationalkomitees, in: Wege und Spuren. Verbindungen zwischen Bildung, Wissenschaft, Kultur, Geschichte und Politik. Festschrift für JOACHIM-FELIX LEONHARD, hrsg. von HELMUT KNÜPPEL u.a., Berlin 2007, S. 471–484, hier S. 479. Ebd. S. 481.

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– ferner das Bewusstsein, die regional und kulturspezifisch fundierte Besonderheit von kulturellen Objekten und mit ihnen verknüpften Bedeutungszuschreibungen auf der einen Seite und den Anspruch auf eine universelle Geltung auf der anderen Seite in einen Ausgleich bringen zu müssen, – dann die Einsicht, dass der Wert kultureller Vielfalt und die Homogenisierungstendenzen, welche Kanonisierungsvorgängen inhärent sind, sich nicht bruchlos vermitteln lassen, gleichwohl in ein Verhältnis (womöglich prekärer) Balance gebracht werden müssen, – und schließlich die Überzeugung, durch Austausch und auf dem Wege der Konsensbildung die Chance für ein Verständnis der Kultur der ›anderen‹ wie für eine Reflexion auf das von ›eigenen‹ kulturellen Traditionen genährte Selbstverständnis zu eröffnen. Als besonders öffentlichkeitswirksam hat sich das ›Memory of the World Register‹ erwiesen, in dem derzeit 193 Zeugnisse erfasst sind.27 Mit dem ›Nibelungenlied‹ wurde der elfte deutsche Beitrag in das immer wieder als »Schatzkammer der Geistesgeschichte« bezeichnete Weltdokumentenerbe aufgenommen. »Als erstes Dokument aus Deutschland überhaupt – und noch ohne die Auswahl durch ein nationales Nominierungskomitee –« wurde 1999 das von Carl Stumpf im Jahr 1900 gegründete Berliner Phonogramm-Archiv ausgewählt, eine singuläre Sammlung von mehr als 145.000 Tondokumenten aus den verschiedensten Kulturen, die auf unterschiedlichen Tonträgern, u.a. auf sog. Edison-Zylindern gespeichert wurden, und »die zu den ältesten erhaltenen Tonträgern weltweit gehören«. Die weiteren Einträge erhielten (in der Reihenfolge ihrer Aufnahme) die 42-zeilige Gutenberg-Bibel, der literarische Nachlass Johann Wolfgang Goethes, Beethovens Neunte Sinfonie, Fritz Langs Stummfilm ›Metropolis‹ (alle 2001), die in den Handschriften der Reichenau entfaltete ottonische Buchmalerei (2003), die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die Weltkarte von Martin Waldseemüller aus dem Jahre 1507, die Renaissance-Bibliothek des Mathias Corvinus (alle 2005), der Briefwechsel von Gottfried Wilhelm Leibniz (2007), und dann 2009 das ›Nibelungenlied‹.28 Für die Mitarbeit an dem Programm ›Memory of the World‹ existiert in Deutschland seit 1999 ein Nationales Nominierungskomitee, von dem Vorschläge für die Aufnahme von Dokumenten in das Welterberegister erarbeitet werden, um sie dann dem alle zwei Jahre tagenden Internationalen Komitee zu unterbreiten, welches seine Auswahl wiede-

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28

Nominierungen können alle zwei Jahre erfolgen, wobei pro Land zwei Vorschläge eingereicht werden dürfen; allerdings existiert zusätzlich die Möglichkeit, dass zwei oder mehr Länder gemeinsame Nominierungsvorschläge unterbreiten – in Fällen nämlich, in denen das kulturelle Erbe auf verschiedene Orte, Besitzer oder Treuhänder verteilt ist. Vorgeschlagen werden sollen ausschließlich Dokumente von Weltrang. Einen Überblick über die deutschen Einträge bietet die Seite http://www.unesco.de/mowdeutschland.html [28.04.211].

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rum an die UNESCO-Generalkonferenz weiterleitet.29 Eine gesonderte Begründung für die Aufnahme der einzelnen Dokumente gibt die UNESCO nicht ab,30 sondern belässt es bei einigen knappen Pressemitteilungen, mit denen die Öffentlichkeit über die Entscheidung informiert wird. Aufschluss über die zentralen Auswahlkriterien gibt daher am ehesten das von der UNESCO verlangte Formular, das bei der Formulierung einer Nominierung zugrunde gelegt werden muss.31 Im Falle des ›Nibelungenliedes‹ wurde die Nominierung federführend von der Bayerischen Staatsbibliothek München betrieben; man handelte zugleich im Namen der beiden anderen involvierten Institutionen, der Stiftsbibliothek in St. Gallen und der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe. Eine Auswertung des Nominierungsformulars gibt Hinweise auf die Parameter, die für den Erfolg des Vorschlags als ausschlaggebend erachtet wurden und es auch waren. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Teil A, der die essentiellen Informationen bündelt, und aus den detaillierten Angaben aus Teil B die Aussagen zu Punkt 4 Justification for inclusion / assessment against criteria / ›Begründung für die Aufnahme / Bewertung auf der Grundlage der vorgegebenen Kriterien‹. Bereits die Überschrift, unter die die Bewerbung gestellt ist, verdeutlicht, dass das ›Nibelungenlied‹ als Werk der Heldendichtung annonciert werden soll: The Song of the Nibelungs, a heroic poem from mediaeval Europe. Der Hintergrund dürfte nicht zuletzt eine strategische Überlegung gewesen sein: Bis dato war, worauf der Antrag explizit hinweist,32 noch keine Handschrift einer Heldendichtung in das Weltdokumentenerbe aufgenommen worden. Als »berühmteste Heldendichtung des Mittelhochdeutschen« bezeichnet und als einer der raren Vertreter des Texttyps in der deutschen Literatur eingeschätzt, wird das Werk zugleich in europäischen Bezügen gesehen. Seine Bedeutung für das mittelalterliche Europa unterstreicht der Antrag, indem er auf das babylonische ›Gilgamesh‹-Epos, die indischen ›Mahabharata‹, die ›Heike Monogatari‹ des mittelalterlichen Japan, die ›Ilias‹ und die ›Odyssee‹ verweist, denen das ›Nibelungenlied‹ unter dem Gesichtspunkt der Relevanz an die Seite gestellt werden könne; innerhalb der literarischen Kultur des europäischen Mittelalters könnten der altenglische ›Beowulf‹ sowie

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30 31

32

Vgl. Resolution zum UNESCO-Programm ›Memory of the World‹ der 59. Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Komission, in: Geschichte und Erinnerung – Gedächtnis und Wahrnehmung. Kolloquium zum UNESCO-Programm MEMORY OF THE WORLD, hrsg. von der Deutschen UNESCO-Kommission (CHRISTIANE DEUßEN), Bonn 2000, S. 87f., auch zugänglich unter: http://www.unesco.de/reshv59-1.html [18.03.2012]. Vgl. ferner die Seite http://www.unesco.de/ mow-komitee.html [18.03.2012] sowie den Beitrag von METZE-MANGOLD [Anm. 25], S. 473. Herrn GAŠPER HRASTELJ von der Deutschen UNESCO-Kommission danke ich für diese Auskunft. Das Nominierungsformular für die Aufnahme des ›Nibelungenliedes‹ in das Register des Weltdokumentenerbes der UNESCO kann über die Website der UNESCO unter folgender Adresse eingesehen werden: http://portal.unesco.org/ci/en/ev.php-URL_ID=27042&URL_DO=DO_TOPIC&U RL_SECTION=201.html [18.03.2012]. Unterzeichnet wurde das Formular vom Generaldirektor der Bayerischen Staatsbibliothek München, DR. ROLF GRIEBEL. Vgl. Nominierungsformular [Anm. 31], Punkt 1, S. 1.

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die altfranzösische ›Chanson de Roland‹ als vergleichbar gelten.33 Die unter dieser Perspektive vorgenommene Bedeutungszuschreibung gipfelt in dem Satz: It [Das ›Nibelungenlied‹] marks the ending of antiquity and the birth of Europe.34 Unter dieser Vorgabe verwundert es nicht, dass das ›Nibelungenlied‹ zwar als ein Werk der Zeit um 1200 und damit als wichtiger Vertreter der sog. mittelhochdeutschen Klassik apostrophiert wird, dass der Akzent bei seiner Vorstellung jedoch auf seinen stoffgeschichtlichen Wurzeln liegt, auf seinem im Frühmittelalter, in der sog. Völkerwanderungszeit des 5. und 6. nachchristlichen Jahrhunderts postulierten historischen Kern, der mit dem Mythos um die Siegfried-Figur amalgamiert wurde.35 Die angenommene Rückführbarkeit des hochmittelalterlichen Schrifttextes auf historische Fakten, die Formierung einer mythosgestützten Sage und deren jahrhundertelange mündliche Tradierung36 werden als Ausweis seiner Dignität geltend gemacht, die zudem durch den Hinweis gestützt werden soll, dass die drei für die Nominierung aus einer breiten Überlieferung von Textzeugen aus dem 13. bis 16. Jahrhundert ausgewählten Manuskripte alle noch dem 13. Jahrhundert entstammen,37 somit in relativer zeitlicher Nähe zur Entstehung des Werkes angesiedelt sind und die ältesten (und für die Textkonstitution wichtigsten) der »vollständigen« Handschriften des ›Nibelungenliedes‹ darstellen. Dass die drei Handschriften divergierende Versionen bieten, für die ein unterschiedliches Maß an Nähe bzw. Ferne zur mündlichen Überlieferung in Anschlag zu bringen sei, wird mehrfach erwähnt und spielt für die Argumentation insofern eine Rolle, als damit das Kriterium der uniqueness, der ›Einzigartigkeit‹, erfüllt werden kann.38 Die Zugehörigkeit des ›Nibelungenliedes‹ zur Kategorie ›Weltliteratur‹ setzt der Nominierungsvorschlag als Faktum voraus.39 Eine Gratwanderung erforderte jedoch der offenkundige Wunsch, das Werk zugleich in seiner Wahrnehmung als nationales Epos anzusprechen40 und es als eine künstlerische Hervorbringung zu würdigen, die mit der Größe ›Europa‹ verknüpft ist. Wiewohl die anhaltende, breite und vielgestaltige Rezeption des ›Nibelungenliedes‹ und -stoffes, seine Popularität und sein beträchtlicher Einfluss auf Ideengeschichte, Literatur, bildende Kunst und Musik als ein weiterer Beleg für die außerordentliche Qualität des in Rede stehenden Zeugnisses in Anschlag gebracht wird,41 bleibt seine politische, insbesondere die völkisch-nationale Indienstnahme 33 34 35 36 37 38

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Vgl. ebd. Punkt 4.2, S. 4. Vgl. ebd. Punkt 4.3 (d), S. 5. Vgl. ebd. Punkt 1, S. 1. Punkt 4.3 (a), S. 4. Punkt 4.3 (d), S. 5. Vgl. ebd. Punkt 1, S. 1. Punkt 4.3 (c), S. 5. Vgl. ebd. Punkt 1, S. 1. Vgl. ebd. Punkt 4.2, S. 4: The three manuscripts of the Nibelungenlied are unique. Each one transmits another version of the text. Vgl. auch Punkt 4.4, S. 5. Vgl. ebd. Punkt 4.2, S. 4: The text of the Nibelungenlied, one of the rare examples of heroic poetry in German literature, forms an important part of the world literature. Vgl. ebd. Punkt 4.3, S. 5: All in all, the story depicting a catastrophe has become a national epic [...]. Vgl. ebd. Punkt 1, S. 1. Punkt 4.3 (d), S. 5.

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unerwähnt. Stattdessen streicht man die europäische Dimension des Unternehmens heraus, indem als Handlungsraum Zentraleuropa benannt wird, ein Gebiet, das in modernen Termini Deutschland, Österreich und Ungarn entspreche und für bestimmte Phasen der Handlung sogar um nordeuropäisches Territorium (Island) erweitert werde.42 Für die europäische Relevanz werden zudem Bildzeugnisse ins Feld geführt, die eine Verbreitung der Nibelungensaga sowohl in Skandinavien als auch auf der iberischen Halbinsel bezeugen.43 Informationen über Inhalt, Thematik und Motivik sowie über formale Merkmale und ästhetische Eigenheiten des ›Nibelungenliedes‹ nehmen im Nominierungsantrag eine randständige Position ein. Der Text wird dabei in auffallender Weise mit Blick auf die Figur Siegfrieds, des Drachentöters, perspektiviert: Seine Essenz macht demnach eine biographisch angelegte Erzählung aus, welche den Weg Siegfrieds von dessen Jugendtagen über seine Hochzeit mit Kriemhild bis hin zu seiner Ermordung abschreitet, einer Ermordung, die dann wiederum den »Rest« der Handlung bedingt, »Kriemhilds Rache«, die im Untergang der Burgunden resp. Nibelungen kulminiert.44 Unter dem Stichwort form and style findet sich ein Hinweis auf die sangbare Langzeilenstrophe mit ihrer Zäsurierung in einen Anvers und einen Abvers; er wird an anderer Stelle durch die Erwähnung der Segmentierung des Textes in 39 Aventiuren, i.e. sections within the plot, ergänzt.45 Die Fokussierung auf ein an die Figur Siegfried geknüpftes mythisches Substrat, ein »mythisches Heldenleben«, und die Herausstellung der sangbaren Langzeilenstrophe als basaler metrischer Einheit, die auf mündliche Tradierung hindeuten soll, fügen sich insofern stimmig zueinander, als damit erneut auf etwas Vorgängiges verwiesen ist, das dem Text, so wie er uns überliefert ist, vorausliegt.

III. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der Aufnahme des ›Nibelungenliedes‹ in das Weltdokumentenerbe der UNESCO eine Fortschreibung jener Aufladung mit Bedeutung sieht, die der Text seit seiner ›Wiederentdeckung‹ im 18. Jahrhundert erfahren hat – so wie bereits seine Berücksichtigung in den »Deutschen Erinnerungsorten«, dem von ÉTIENNE FRANCOIS und HAGEN SCHULZE 2001 vorgelegten Kompendium von Konden-

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Vgl. ebd. Punkt 4.3 (b), S. 4: The story takes place in Central Europe along the Rhine and the Danube, corresponding to the modern states of Germany, Austria, and Hungary. An episode even takes place in Iceland. Vgl. ebd. Punkt 4.3 (b), S. 4: Pictorial testimonies from Norway, Sweden, the Isle of Man, and Spain prove the saga’s dissemination both in Scandinavia and in the Iberian Peninsula. Vgl. ebd. Punkt 1, S. 1. Vgl. ebd. Punkt 4.3 (e). Punkt 1, S. 1.

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saten eines – hier nationalen – kollektiven Gedächtnisses, als solche gelten kann.46 Als Mediävisten, die sich innerhalb der akademischen Disziplin der Germanistik gegen eine Marginalisierung zur Wehr setzen müssen, und als Germanisten, die in Permanenz die Relevanz ihrer Gegenstände und ihres Tuns zu plausibilisieren haben, können wir uns über diese Vorgänge nur freuen. Gleichwohl muss man festhalten dürfen, dass die (von Erfolg gekrönten) Begründungsstrategien, mit denen man auf die vorgegebenen Auswahlkriterien reagierte und die sich aus dem Nominierungsformular extrapolieren lassen, in einer gewissen Spannung zu aktuellen Tendenzen der ›Nibelungenlied‹-Forschung stehen und sich mit dem Bemühen um eine differenzierte Betrachtung des Textes, der es um die Herausarbeitung seiner Komplexität, seiner Literarizität und seiner Poetik geht, nur bedingt in Einklang bringen lassen. Dies soll im Folgenden wenigstens skizzenhaft erläutert werden. Schon die Fraglosigkeit einer Einordnung des ›Nibelungenliedes‹ als Heldenepos birgt Irritationspotential, unterschlägt sie doch, dass die gattungstypologische Bestimmung des Textes im Laufe seiner Erforschung keineswegs einhellig gewesen ist, dass es, im Gegenteil, durchaus »Probleme der Gattungszuordnung« gegeben hat.47 Da es aus dem Mittelalter hier wie in anderen Fällen auch weder eine gattungstypologisch belastbare Terminologie gibt noch eine explizite Gattungsreflexion,48 müssen die konstitutiven Merkmale mittels weitgespannter Vergleiche aus den Texten selbst abgeleitet und zu einem idealtypischen Konstrukt zusammengeführt werden. Über die Rubrizierung des ›Nibelungenliedes‹ als ›Epos‹ resp. ›Heldenepos‹ entscheidet daher, wie zu Recht betont worden ist, die zugrunde gelegte Gattungsdefinition ebenso wie die Interpretation des Textes.49 Wie es die literarische Situation der Zeit um 1200 nahe legt, ist das ›Nibelungenlied‹ als Heldenepos in erster Linie in Abgrenzung zum sog. ›höfischen Roman‹ profiliert worden. Für das Heldenepos hat man in diesem Rahmen eine Reihe von Merkmalen namhaft gemacht; ich rufe im Folgenden die wichtigsten auf: – ein Stoff, der auf mündlicher Tradition (einheimischer Heldensage) basiert und in den kriegerischen Taten großer Kämpfer zentriert ist; – damit zusammenhängend: das Fehlen einer schriftlichen Vorlage, 46

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Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. von ETIENNE FRANÇOIS, HAGEN SCHULZE, Broschierte Sonderausgabe, 3 Bde., München 2003; das ›Nibelungenlied‹ wird hier von PETER WAPNEWSKI vorgestellt (Bd. 1, S. 159–169). Vgl. dazu JAN-DIRK MÜLLER, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 103–151; OTFRID EHRISMANN, Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung, 2., neu bearbeitete Aufl., München 2002, S. 148f.; URSULA SCHULZE, Das Nibelungenlied, durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 2003, S. 104–112 (das Zitat bezieht sich auf die Kapitelüberschrift), ferner S. 19–22. Für die einschlägige Forschung kann auf die Bibliographien bei EHRISMANN (S. 150–152) und bei SCHULZE (S. 315f.) verwiesen werden. Vgl. KLAUS DÜWEL, Werkbezeichnungen der mittelhochdeutschen Erzählliteratur (1050–1250), Diss. Göttingen 1965. Unv. Nachdruck Göttingen 1983. Vgl. SCHULZE [Anm. 47], S. 104.

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– Anonymität resp. fehlende Autornennung, – der Verzicht auf eine Ausarbeitung der Instanz des Erzählers zugunsten einer vornehmlich »objektiven« Erzählhaltung, – die Abfassung in sangbaren Strophen, die eine Realisierung in der Form des öffentlichen Vortrags nahe legt; – eine blockhafte Erzählweise, die ohne die für den höfischen Roman in Anschlag gebrachte Symbolstruktur (›Doppelwegstruktur‹) auskommt, – historische Glaubwürdigkeit (resp. zugespitzt: Rückführbarkeit auf historisch verifizierbare Ereignisse); – eine Denkform, bei der die Untrennbarkeit von öffentlicher und privater Sphäre, die Normen und Regeln des Kollektivs und der Glaube an die Unveränderlichkeit des Schicksals einen zentralen Stellenwert innehaben. Auf der Grundlage solcher Merkmale erscheint eine Einordnung des ›Nibelungenliedes‹ als Heldenepos plausibel. Allerdings bleiben dabei andere Charakteristika des Textes unberücksichtigt, die ihn deutlich an den höfischen Roman heranrücken und die dazu einladen, ihn eher als ein »opus mixtum« 50 wahrzunehmen und gerade in der Mischung der Merkmale die Einzigartigkeit des ›Nibelungenliedes‹ begründet zu sehen (dazu gleich noch Genaueres). Die Ausblendung von Momenten, die einer glatten Zuordnung zu e i n e r Gattung widersprechen, und das Aufrufen von Werken der internationalen heldenepischen Tradition, denen das ›Nibelungenlied‹ zur Seite gestellt werden kann, setzen, so könnte man pointiert formulieren, die Ideologisierung des ›Nibelungenliedes‹ fort, die es in der Frühgeschichte der Germanistik zur ›Teutschen Ilias‹ resp. zur ›Ilias des Nordens‹51 werden ließen. Ein Weiteres kommt hinzu: Selbst dann, wenn einzig oder vorrangig die heldenepisch-mythische Schicht des Textes in den Blick genommen werden soll, wäre nicht nur zu reflektieren, was das ›Nibelungenlied‹ mit anderen Heldenepen teilt, sondern 50

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WERNER HOFFMANN, Das Nibelungenlied – Epos oder Roman? Positionen und Perspektiven der Forschung, in: ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985, hrsg. von FRITZ PETER KNAPP, Heidelberg 1987, S. 124–151, hier S. 150. Zum Vergleich des ›Nibelungenliedes‹ mit Homers ›Ilias‹ vgl. den instruktiven Beitrag von ULRICH WYSS, Zum letzten Mal. Die Teutsche Ilias, in: Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum, hrsg. von KLAUS ZATLOUKAL (Philologica Germanica 12), Wien 1990, S. 157–179, hier S. 161. Dass die Parallelisierung mit dem Epos Homers Auswirkungen bis in die Editionsgeschichte hinein gehabt haben könnte, erwägt NIKOLAUS HENKEL, ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. Überlegungen zum Nibelungenverständnis um 1200, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997, hrsg. von NIGEL F. PALMER, HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 73–98, hier S. 84f., diese Parallelisierung habe den Blick auf den Untergang der Burgunden in seiner Relation zum Untergang Trojas fokussiert, wodurch die ›Klage‹ mit ihrer Weiterführung und Deutung des Geschehens verdrängt worden sei.

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auch, wodurch es sich von ihnen unterscheidet.52 Zieht man beispielsweise die antiken Vertreter der Gattung und die nordischen Zeugnisse der Nibelungensage zum Vergleich heran, so erscheint die anderweltlich-mythische, auf Transzendentes verweisende Dimension im ›Nibelungenlied‹ erstaunlicherweise zurückgedrängt, ja marginalisiert;53 JAN-DIRK MÜLLER hat von einer regelrechten »Depotenzierung der mythischen Welt« gesprochen.54 Mit Blick auf die Siegfried-Figur55 artikuliert sich ihr relativer Bedeutungsverlust in der Art und Weise, in der der Text von Siegfrieds Jugendabenteuern erzählt – Hortgewinn, Erwerb des Tarnmantels, Drachenkampf und Bad im Drachenblut mit der daraus resultierenden (bedingten) Unverwundbarkeit56 des Helden. Das, was man bis heute als Kern des Siegfried-Mythos verstehen möchte, erwähnt das ›Nibelungenlied‹ eher beiläufig; es trägt nämlich die Informationen in verknappter, fragmentarischer Form erzählerisch nach, in der dritten Aventiure (Str. 86–101), zu einem Zeitpunkt somit, als bereits eine völlig andere Jugend erzählt worden ist, die des Xantener Königssohnes nämlich, dessen vorbildliche ritterlich-höfische Erziehung mit der Zeremonie der Schwertleite abgeschlossen wurde. Diese Präsentation unterschiedlicher Jugendgeschichten ist zudem mit einem Wechsel der Sprecherinstanzen verbunden: Während die erste vom Erzähler stammt, wird die zweite von Hagen, einer Figur des 52 53

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Vgl. EBENBAUER, KELLER [Anm. 19]. Vgl. z.B. ALOIS WOLF, Mythos und Geschichte in der Nibelungensage und im Nibelungenlied, in: Nibelungenlied (Ausstellungskatalog des Vorarlberger Landesmuseums 86), Bregenz 1979, S. 41– 54; GEORGE T. GILLESPIE, Das Mythische und das Reale in der Zeit- und Ortsauffassung des ›Nibelungenliedes‹, in: KNAPP [Anm. 50], S. 43–60. Zur Relationierung von aktualisierenden und mythisierenden Erzählverfahren vgl. URSULA SCHULZE, Die alten maeren in neuer Zeit. Historisierung mythischer Elemente im Nibelungenlied, in: 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldenzeiten – Heldenräume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage?, hrsg. von JOHANNES KELLER, FLORIAN KRAGL (Philologica Germanica 28), Wien 2007, S. 159–176; JOACHIM KÜPPER, Transzendenter Horizont und epische Wirkung. Zu ›Ilias‹, ›Odyssee‹, ›Aeneis‹, ›Chanson de Roland‹, ›El Cantar de mio Cid‹ und ›Nibelungenlied‹, Poetica 40 (2008), S. 211–267, 246–266, mit der Zuspitzung auf S. 264: »Konsequent scheint der Autor-Schreiber des Nibelungenliedes der Instruktion zu folgen, nur das an mythischem Material aufzunehmen, was für den weiteren Verlauf der Handlung unabdingbar ist, um den gesamten ›Rest‹ zu eskamotieren.« JAN-DIRK MÜLLER, Das Nibelungenlied (Klassiker-Lektüren 5), Berlin 22005, hier S. 152–154. Zur mythischen Dimension der Siegfried-Figur vgl. OTFRID EHRISMANN, Siegfried. Ein deutscher Mythos?, in: Herrscher, Helden, Heilige, hrsg. von ULRICH MÜLLER, WERNER WUNDERLICH (Mittelaltermythen 1), St. Gallen 1996, S. 367–387; VOLKER MERTENS, Helden im Nirgendwo. Heldendichtung und Mythos, in: KELLER, KRAGL [Anm. 53], S. 117–129; IRMGARD GEPHART, Mythos und Antimythos in der Figur Siegfrieds, in: Schätze der Erinnerung. Geschichte, Mythos und Literatur in der Überlieferung des Nibelungenliedes. Dokumentation des 7. wissenschaftlichen Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. und der Stadt Worms vom 17. bis 19. Oktober 2008, hrsg. von VOLKER GALLÉ (Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. 6), Worms 2009, S. 61–77. Zum Motiv der Unverwundbarkeit des Helden vgl. ALFRED EBENBAUER, Achillesferse – Drachenblut – Kryptonit. Die Unverwundbarkeit des Helden, in: EBENBAUER, KELLER [Anm. 19], S. 73– 101.

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Textes, eingespielt.57 Die Diskrepanz zwischen den beiden Entwürfen wird durch das Fehlen einer zeitlichen und räumlichen Situierung der von Hagen nachgetragenen Vorgänge verschärft, und die semantische Inkohärenz dürfte auch für die zeitgenössischen Rezipienten spürbar gewesen sein.58 Vor der Folie der nordischen Zeugnisse nimmt sich die Wiedergabe der heldenhaften Jugendgeschichte Siegfrieds als lückenhaft und verkürzt aus.59 Dies hat, da viele Fragen offen bleiben, Folgen für die Logik und den »Sinn« der Erzählung. Auf ein wesentliches Moment in diesem Zusammenhang hat der Romanist JOACHIM KÜPPER in einem 57

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Auf diese Weise partizipiert die Figur ebenfalls an der mythischen Dimension des Textes. Vgl. SCHULZE [Anm. 53], S. 162; VOLKER MERTENS, Hagens Wissen – Siegfrieds Tod. Zu Hagens Erzählung von Jungsiegfrieds Abenteuern, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von HARALD HAFERLAND, MICHAEL MECKLENBURG (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), München 1996, S. 59–69. Zur doppelten Jugendgeschichte Siegfrieds und zu Hagens Bericht vgl. auch MÜLLER [Anm. 47], S. 125–136; kritisch-präzisierend dazu KÜPPER [Anm. 53], hier S. 248f., Anm. 120. Zur möglichen Funktion der mythischen Elemente resp. eines solchermaßen hybriden Erzählens vgl. die Überlegung von SCHULZE [Anm. 53], S. 166: »Sie [die mythischen Elemente] authentisieren die Sage und gewährleisten die Identität der Figuren für Hörer, die mündliche Traditionen kannten; der Gegenwartsbezug schafft den Verständnishorizont. Auf das Ganze gesehen bildet das Mythische einen integralen Teil der irrationalen Handlungslogik, welche die Geschichte der Nibelungen charakterisiert, es gehört zu der Fatalität von Siegfrieds Tod und vom Burgundenuntergang.« Zu berücksichtigen sind im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die altisländischen Lieder der ›Edda‹, die eine im ›Nibelungenlied‹ nicht aufgenommene Vorgeschichte des Schatzes erzählen: Die Götter Odin, Loki und Hönir erschlagen mutwillig den Bruder von Reginn und Fafnir. Dafür sollen sie durch die Übergabe eines Goldschatzes an Hreidmarr, den Vater, sühnen. Loki trotzt diesen Goldschatz dem Zwerg Andwari ab, der den Schatz (und speziell einen goldenen Ring aus diesem Schatz) daraufhin mit einem Fluch belegt, der jedem künftigen Besitzer Unglück bringen soll (›Reginnsmál‹). Der Fluch zeigt schon bald Wirkung. Hreidmarr wird wegen des Schatzes von seinem Sohn Fafnir erschlagen (›Reginnsmál‹). Reginn, Sigurds Erzieher, stiftet diesen dazu an, Fafnir zu töten, der in Gestalt einer ›Schlange‹ den Schatz auf der Gnittaheide versteckt hat und ihn dort hütet (Verbindung von Drachentötung und Horterwerb). Als Sigurd erfährt, dass Reginn den Schatz für sich allein möchte, tötet er auch Reginn (›Fáfnismál‹). Diese Vorgeschichte perspektiviert das gesamte nachfolgende Geschehen, indem die schrecklichen Ereignisse, von denen erzählt wird, aus einer (im mittelhochdeutschen Text ausgesparten) Verfehlung der Götter und dem dadurch provozierten Fluch Andwaris abgeleitet werden. – Texte: Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern, Bd. 1: Text, 5., verbesserte Aufl. von HANS KUHN (Germanische Bibliothek, Reihe 4, Texte 1), Heidelberg 1983; Edda, übertragen von FELIX GENZMER, Bd. 1: Heldendichtung, Bd. 2: Götterdichtung und Spruchdichtung. Einleitung und Anmerkungen von ANDREAS HEUSLER und FELIX GENZMER. Revidierte Neuausgabe mit einem Nachwort von HANS KUHN (Thule. Altnordische Dichtung und Prosa 1–2), Düsseldorf/Köln 1963; Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen, übertragen von FELIX GENZMER, eingeleitet von KURT SCHIER, München 1992; Die Heldenlieder der älteren Edda, übersetzt, kommentiert und hrsg. von ARNULF KRAUSE (RUB 18142), Stuttgart 2001, bes. S. 94–116. Vgl. auch die in der ›SnorriEdda‹ erzählte Version: Die Edda des Snorri Sturluson, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von ARNULF KRAUSE (RUB 782), Stuttgart 1997, bes. S. 145–148.

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Beitrag von 2008, ›Transzendenter Horizont und epische Wirkung‹, aufmerksam gemacht. Dadurch, dass der Horterwerb und die Drachentötung im Bericht Hagens dissoziiert werden, bleibt ein in der Sagengeschichte entscheidendes Moment außen vor: der Fluch über den Hort. Damit aber werde jene Qualität generiert, die KÜPPER zufolge als das »Eigentliche« des Textes anzusprechen ist, als das, was ihm im Vergleich seine einzigartige Stellung verleiht: seine Rätselhaftigkeit.60 Geschaffen ist damit nämlich, so KÜPPER, »die Struktur einer fatalen causa ohne Verursacher oder auslösendes Moment, die eines Fluches ohne Verfluchenden, die eines Verhängnisses, das keinem, der ihm zum Opfer fällt, auch nur in Ansätzen transparent wird«.61 Dass das verschwiegene, in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzende Detail von den damaligen Hörern aufgrund einer Kenntnis der Sage ggf. ergänzt werden konnte, wird dabei nicht bestritten,62 doch entscheidend bleibt für KÜPPER, »dass dieses Wissen um die causa der im ›Nibelungenlied‹ selbst erzählten Geschichten äußerlich ist und bleibt«.63 Das ›Nibelungenlied‹ führt die Handlung zweimal an einen Tiefpunkt: das erste Mal durch den Tod Siegfrieds, des strahlenden Heros, im Zentrum des burgundischen Königshofs, mit dem ihn eine durch Dienst und eheliche Bindung begründete Allianz verbindet, das zweite Mal mit einer allgemeinen Vernichtung unvorstellbaren Ausmaßes in der Fremde, am Hof von König Etzel, Ergebnis einer mit größter Unbarmherzigkeit und Kaltblütigkeit ins Werk gesetzten Rache Kriemhilds an ihrer familia, bei der ganze Völker in den Untergang gehen und es am Ende nur vereinzelte Überlebende gibt. Auch

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Vgl. KÜPPER [Anm. 53]. KÜPPER stellt zunächst die Gemeinsamkeiten der von ihm betrachteten Epen heraus (S. 241–246), um die Sonderstellung des ›Nibelungenliedes‹ dann mit dessen Enigmatik zu begründen (S. 246–266). KÜPPER [Anm. 53], S. 265. Dazu auch WOLFGANG DINKELACKER, Nibelungendichtung außerhalb des ›Nibelungenliedes‹. Zum Verstehen aus der Tradition, in: Ja muz ich sunder riuwe sin. Festschrift für KARL STACKMANN zum 15. Februar 1990, hrsg. von WOLFGANG DINKELACKER, LUDGER GRENZMANN, WERNER HÖVER, Göttingen 1990, S. 83–96, hier S. 87f. KÜPPER [Anm. 53], S. 265. Wenn KÜPPER freilich meint, dass für keinen, der dem Verhängnis zum Opfer fällt, dieses Verhängnis »auch nur in Ansätzen transparent wird«, dass die »in der Nibelungenwelt Agierenden [...] nicht die geringste Ahnung von dem [hätten], was sie unentrinnbar ins Verderben reißt« (S. 265), blendet er um der Pointierung seiner These willen aus, was er an anderer Stelle selbst anspricht: dass der Text immer wieder mit Mehrfachmotivierungen arbeitet und auch für den Untergang der Burgunden resp. Nibelungen eben nicht ausschließlich auf die eine Ursache, den (in der Narration ausgesparten) stoffgeschichtlich ererbten Fluch setzt, sondern eine ganze Kette von Gründen akkumuliert, bei denen jeweils ein problematisches Handeln in Anschlag zu bringen ist, das sich bewusster Entscheidung verdankt – man denke etwa an den Steigbügeldienst, den Brautnachtbetrug, die Ermordung Siegfrieds, den Entschluss, die Einladung Kriemhilds in das Land der Hunnen anzunehmen. Insofern scheint mir auch Skepsis angebracht, wenn KÜPPER am Ende alles auf die Macht eines Mythos vom »unentrinnbare[n] und auf immer unverstehbare[n] Verhängnis« zulaufen lässt, deren »unheimlichster« Aspekt in der absoluten Kontingenz ihrer Entstehung liege: »Mit Blick auf den menschlichen Verursacher ist sie vermutlich wenig mehr als eine Lösung aus Verlegenheit, möglicherweise gar aus Ungeschicklichkeit.« (S. 265f.).

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diese Radikalität seines »in Rache und Blut versinkenden Schluß[es]«,64 die Destruktivität, die durch keine erzählerische Volte, keinen Ausblick auf ein Weiterleben im Diesseits und keine Aussage über eine jenseitige Kompensation gemildert wird, verleiht dem Text Singularität.65 Zu bedenken bleibt dabei freilich, dass diese Finalität des Erzählens Suggestion einer Editionspraxis ist, welche dem aus der Überlieferung ableitbaren mittelalterlichen Rezeptionsmodus nicht Rechnung trägt. Statt mit einem von einem (unbekannten) Autor verantworteten Einzelwerk ›Das Nibelungenlied‹ haben wir es hier mit einem – vermutlich in dichter zeitlicher Folge entstandenen66 – NibelungenErzählkomplex zu tun, zu dem die drei relativ eigenständig modellierten ›Nibelungenlied‹-Redaktionen *A, *B und *C ebenso gehören wie die *B und die *C-Redaktionen der ›Klage‹.67 JOACHIM BUMKE hat dafür votiert, sie als Zeugnisse eines für die Zeit um 1200 anzusetzenden Austauschs über die adäquate Literarisierung heldenepischer Stoffe aufzufassen, der alten maeren mithin, wie sie in der berühmten ›Prologstrophe‹ heißen, mit der in den Handschriften A und C das ›Nibelungenlied‹ eröffnet wird.68 Diejenigen Handschriften, welche die ›Klage‹ vollständig überliefern, bieten sie im Anschluss an das ›Nibelungenlied‹, und das ›Nibelungenlied‹ wird von der ›Klage‹ »von Anfang an in all seinen Fassungen begleitet«.69 JOACHIM HEINZLE, NIKOLAUS HENKEL und BERND SCHIROK sehen die Weiterführung der Nibelungen-»Geschichte« in der ›Klage‹ durch die folgenden Momente gekennzeichnet: die Arbeit an Motivations- und Kohärenzdefiziten, den Versuch der Erklärung, Deutung und Bewertung des Geschehens durch seine Einordnung in einen christlichen Denkhorizont, die Minderung der durch die Aussichtslosigkeit des Schlus64 65

66

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68 69

HENKEL [Anm. 51], S. 95. Vgl. KÜPPER [Anm. 53], S. 260f.; WALTER HAUG, Szenarien des heroischen Untergangs, in: EBENBAUER, KELLER [Anm. 19], S. 147–161. Bezüglich des Zeitraums der Entstehung der verschiedenen Gestaltungen von ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹ gibt es in der Forschung keinen Konsens. Für eine Entstehung in unmittelbarer zeitlicher Nähe um 1200 votieren BUMKE und HENKEL, wobei für beide die übereinstimmende Handschriftengruppierung von ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹ ein zentrales Argument darstellt, da sie zeigt, dass die ›Klage‹ mit dem ›Nibelungenlied‹ verbunden war, bevor sich die Überlieferung in die erhaltenen Fassungen mit den sie bezeugenden Gruppen von Textzeugen aufspaltete. Vgl. JOACHIM BUMKE, Die vier Fassungen der ›Nibelungenklage‹. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8 [242]), Berlin/New York 1996, hier S. 590–594; HENKEL [Anm. 51], S. 76–79; DERS., Die Nibelungenklage und die *C-Bearbeitung des Nibelungenliedes, in: Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos, hrsg. von JOACHIM HEINZLE, KLAUS KLEIN, UTE OBHOF, Wiesbaden 2003, S. 113–133, hier S.114, 115, 125. Anders z.B. MÜLLER [Anm. 47], S. 69f. Edition: Die ›Nibelungenklage‹. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, von JOACHIM BUMKE, Berlin/New York 1999. Zur Editions- und Forschungsgeschichte der ›Klage‹ vgl. BUMKE [Anm. 66], S. 104–135; ferner MONIKA DECK, Die Nibelungenklage in der Forschung. Bericht und Kritik (Europäische Hochschulschriften, Reihe I 1564), Frankfurt am Main 1996. Vgl. BUMKE [Anm. 66], S. 590–594; so auch HENKEL [Anm. 66], S. 113. HENKEL [Anm. 66], S. 116.

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ses evozierten Wucht des Erzählens durch die Thematisierung von Formen religiöser Bewältigung des Leids und den Aufweis von Zukunftsperspektiven. Dadurch, dass die ›Klage‹ in Reimpaarversen verfasst wurde und zudem durch eine Rahmung der Erzählung mittels Prolog und Epilog erkennbar um 1200 geläufigen Standards buchepischer Gestaltung verpflichtet ist, sind ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹ durchaus als zwei getrennte Entitäten wahrnehmbar. Zugleich aber wurde im Rekurs auf paläographische und kodikologische Details plausibel gemacht, dass sie im Mittelalter als ein zusammengehöriger Erzählkomplex rezipiert und akzeptiert wurden.70 Vieles spricht dafür, dass wir die Engführung der von uns als getrennt wahrgenommenen Texte und den so generierten ›Nibelungen-Komplex‹ als historische Erscheinungsform würdigen und als Herausforderung für unsere Interpretation annehmen müssen.71 Im Nominierungsformular für das Weltdokumentenerbe geschieht dies allenfalls auf indirektem Wege, indem der sich auf das ›Nibelungenlied‹ beziehende Vorschlag an seine konkrete historische Materialität gebunden wird, an die Handschriften A, B und C, in denen auf das ›Nibelungenlied‹ die ›Klage‹ folgt. Unter dem Gesichtspunkt der uniqueness, der Einzigartigkeit, hätte man indes forcierter den Nibelungen-Komplex mit der in der deutschen Literatur des Mittelalters beispiellosen »Vielzahl seiner auf relativ engem zeitlichen Raum sich drängenden Fassungen und Bearbeitungen« und somit die »Vielzahl unterschiedlich akzentuierter ›Aggregatzustände‹«72 des Epos als Ansatzpunkt wählen können. In der Forschung zum ›Nibelungenlied‹ besteht seit geraumer Zeit der Konsens, dass der komplexe Vorgang einer Umformung jahrhundertealter, ursprünglich mündlicher und die längste Zeit mündlich tradierter Sagenstoffe zu einem Werk großepischer Schriftlichkeit der entscheidende Ansatzpunkt für jeden Verstehensversuch darstellen muss.73 Der Vorgang wird unter den Stichworten ›Literarisierung‹, ›Aktualisierung‹, ›Höfisierung‹ oder ›adaptation courtoise‹ behandelt. Bedenkt man, dass über weite Strecken der Nibelungenforschung zuvor Begriffe wie ›Vorzeitkunde‹, ›Sagengedächt70

71

72 73

Vgl. BUMKE [Anm. 66], S. 141–211; HENKEL [Anm. 51], S. 79–81; ebd. S. 79, Anm. 22, eine Zusammenstellung von Abbildungen zu den Übergängen von ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹. HENKEL [Anm. 51], S. 83, hat zu Recht festgestellt: »Eine konsequente Interpretation des ›Liedes‹ aus dem Deutungshorizont der ›Klage‹, wie ihn die mittelalterliche Werkkoppelung beider Texte nahelegen würde, ist bislang nicht versucht worden.«; Hinweise darauf, wie sie aussehen könnte, ebd. S. 85–98. Bis heute gibt es deutliche Reserven gegenüber diesem Anliegen, nicht zuletzt wegen des in sprachlicher, literarischer, ästhetischer Hinsicht fassbaren Abstands zwischen ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹, den wahrzunehmen wir nicht umhin können. Ob dieser Abstand freilich für die Zeitgenossen dieselbe Bedeutung hatte wie für uns moderne Rezipienten, die wir einer Ästhetik der Ambivalenzen und Ambiguitäten, der Spannungen und Antagonismen, der Dissonanzen und Brüche, der Aporien und der Destruktion zuneigen, erscheint mir fraglich. Der Punkt kann im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden; ich möchte es bei dem Hinweis belassen, dass eine Einbeziehung der ›Tristan‹- und ›Willehalm‹-Forschungen hilfreich sein dürfte. HENKEL [Anm. 66], S. 113–133, hier S. 129. Zum Folgenden vgl. ELKE BRÜGGEN, Räume und Begegnungen Konturen höfischer Kultur im Nibelungenlied, in: HEINZLE, KLEIN, OBHOF [Anm. 66], S. 161–188.

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nis‹ oder ›mündliche Erzähltradition‹ in Anschlag gebracht worden waren, wird hier eine andere, eine neue Perspektive deutlich, mit der Konsequenz einer Privilegierung des überlieferten Textes in seinen verschiedenen Fassungen und in seiner Tradierungsgemeinschaft mit der ›Klage‹ gegenüber sagengeschichtlichen Rekonstruktionsversuchen und mit der Konsequenz einer erhöhten Aufmerksamkeit für jene Elemente des Textes, die den Erzählstoff in seiner buchepischen Gestaltung an das kulturelle und literarische Umfeld der Zeit um 1200 heranrücken, einer Zeit, in der im Bereich der Epik »der ›höfische Roman‹ zur führenden Erzählform« geworden war.74 In dieser Linie der Argumentation führen denn auch die Frage nach dem Vorstellungskomplex einer höfischen Kultur im ›Nibelungenlied‹, nach seiner Präsenz und Funktionalisierung, und die Diskussionen um die Modi der Kohärenzstiftung in das Zentrum der interpretatorischen Bemühungen um den eigenwilligen und widerständigen Text. Eine auf die Präsenz und Funktionalisierung von Momenten höfischer Kultur gerichtete Textlektüre müsste eine ganze Reihe von Phänomenen in die Betrachtung einbeziehen. Anzufangen wäre bei der Parallelführung des Erzählens in der Vorstellung von Kriemhild und Siegfried, welche mit der Akzentuierung von Hofleben und höfischer Erziehung ein Thema anschlägt, das dann zur Modellierung der Protagonisten als höfische Dame und höfischer Ritter ausgebaut wird.75 Es dürfte sich bei diesem Einsatz des Erzählens um eine programmatische Neukonzeption handeln. Im Falle der SiegfriedFigur war sie nur um den Preis einer Zurückdrängung ihrer traditionellen mythischheldischen Qualitäten zu haben; die Jugendabenteuer, welche diese Qualitäten hervortreten lassen, werden erst später erwähnt, in stark raffendem Erzählmodus präsentiert und nicht im Zusammenhang entfaltet. Beachtung zu finden hätte dann die Darstellung eines Minneverhältnisses zwischen Kriemhild und Siegfried, welche mit Vorstellungen und Sprachmaterial aus dem Minnesang arbeitet und dabei das Konzept ›Frauendienst‹ 74

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Vgl. etwa WALTER HAUG, Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied, in: Colloquio italo-germanico sul tema: I Nibelunghi, Roma, 14–15 maggio 1973, Accademia Nazionale dei Lincei (Atti dei Convegni Lincei 1), Rom 1974, S. 35–51. Wieder in: DERS., Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1990, S. 293–307. SCHULZE [Anm. 53], die nicht nur »im Sinne der viel berufenen Höfisierung mit Bezug auf allgemeine kulturelle Requisiten, sondern durchaus auch bei der Konzeption von Handlungsteilen, ihrer Motivierung und Verortung in Raum und Zeit« eine »Historisierung« am Werk sieht, welche – »im Kontrast zur Zeitlosigkeit von Mythen« – das Erzählte an die Gegenwart des Wiedererzählenden heranrückt (S. 161). Diese »Aktualitätspotenz« bestimmt für SCHULZE die Textur des ›Nibelungenliedes‹ (S. 168). Zur Genese dieser Sicht auf den Text vgl. BRÜGGEN [Anm. 73], hier S. 161–163, 184f. Vgl. ALOIS WOLF, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (ScriptOralia 68), Tübingen 1995, hier S. 277–289; SCHULZE [Anm. 47], S. 142–151; JOACHIM HEINZLE, Zum literarischen Status des Nibelungenliedes, in: Nibelungenlied und Klage. Ursprung – Funktion – Bedeutung. Symposion Kloster Andechs 1995 mit Nachträgen bis 1998, hrsg. von DIETZ-RÜDIGER MOSER, MARIANNE SAMMER (Beiträge zur Zeitschrift ›Literatur in Bayern‹ 2), München 1998, S. 49–65, hier S. 60–65.

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auf eine höchst eigenwillige Weise episiert.76 Von Belang wäre weiterhin das dem alten Stoff abgerungene »Pathos der Innerlichkeit«,77 das sich zwar besonders an Kriemhild beobachten lässt, an der Emotionalisierung dieser Figur im Gefolge der ihr attribuierten Leiderfahrung, das aber auch andere Figuren erfasst.78 Die von der Forschung stark beachtete Ausgestaltung Rüdigers von Bechelaren zum höfischen Ritter par excellence und die Herausarbeitung seiner Zerrissenheit zwischen unterschiedlichen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten gehört natürlich ebenfalls in diesen Zusammenhang. Jenseits von Personal und Figurengestaltung hätte Weiteres Berücksichtigung zu finden: die erzählerische Ausgestaltung höfischer Räume, die Sozialstruktur und die Organisation des Hofes, die Detaillierung der materiellen Kultur, der Stellenwert des Festes und das Ritual der Gabe sowie die zeremoniellen Empfänge, die den Erzählstil des ›Nibelungenliedes‹ in weit höherem Maße prägen als eine auf die Finalität des Geschehens (den Untergang der Burgunden resp. Nibelungen) fokussierte Lektüre es zunächst bewusst werden lässt. All diese Momente stehen im ›Nibelungenlied‹ im Zeichen höfischer Ordnung, sie werden aber ebenso für die Poetisierung der Störung und des Zerbrechens dieser Ordnung in Dienst genommen. So wenig die Lektüre des ›Nibelungenliedes‹ im Mittelalter ohne die ›Klage‹ auskam, mit der es in der Überlieferung im Allgemeinen zu einer »sinnstiftenden Einheit«79 verbunden wurde, so wenig war offenbar um 1200 die Geschichte Siegfrieds und die der Burgunden ohne Rekurs auf höfische Symbolwelten erzählbar: Deren Macht aber erweist sich nicht zuletzt daran, dass es immer wieder ihre Pervertierung ist, die dem desaströsen Geschehen Kontur verleiht. Damit setzen sie ein spürbares Gegengewicht zu den heldisch-mythischen Dimensionen des Erzählens, sind aber andererseits auf intrikate Weise mit ihnen verschränkt. »Eine strophenraubende Angelegenheit« hat ANDREAS HEUSLER einst die Höfisierung des Stoffes genannt,80 und wenn man das leicht Abschätzige der Formulierung abstreicht, wird man seinem Urteil bis heute folgen können. Verfehlt wäre es allerdings, seine Kennzeichnung entsprechender Passagen als »beschauliche Zugaben«81 oder als »tatenlos-redselige Strecken«82 zu übernehmen. Dabei ist nämlich eine Differenzierung 76

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Vgl. URSULA SCHULZE, Das ›Nibelungenlied‹ und Walther von der Vogelweide. Diskursaktualisierung und konzeptuelle Qualitäten des Epos, in: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für HORST BRUNNER, hrsg. von DOROTHEA KLEIN, Wiesbaden 2000, S. 161–180. JOACHIM HEINZLE, Das Nibelungenlied. Eine Einführung, überarb. Neuausgabe, Frankfurt am Main 1994, S. 84–87. Vgl. auch die von WOLF unter dem Stichwort ›Sentimentalisierung‹ zusammengestellten Beobachtungen: ALOIS WOLF, Die Verschriftlichung der Nibelungensage und die französisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, in: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied, hrsg. von ACHIM MASSER, Dornbirn 1981, S. 53–71; WOLF [Anm. 75], S. 304–315. HENKEL [Anm. 51], S. 81. ANDREAS HEUSLER, Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des Deutschen Heldenepos. Unv. Nachdruck der 6. Aufl. von 1965, Darmstadt 1991 [Erstpublikation 1920], S. 66. Ebd. Ebd. S. 67.

Die Konstruktion kulturellen Erbes

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zwischen Zentrum und Peripherie des erzählerischen Projekts impliziert, die gegenüber der historischen Besonderheit einer Bearbeitung traditioneller mündlicher Erzählstoffe im Zeitalter höfischer Schriftkultur blind ist. Für den Erfolg des Projekts dürfte die partielle Angleichung der Erzählung an Standards der höfischen Epik, die durch die Höfisierung des Stoffes erreicht wurde, kein unerheblicher Faktor gewesen sein. Ich würde indes weiter gehen: Entsprechende Passagen haben für die Poetik des ›Nibelungenliedes‹ keine geringere Bedeutung als seine spektakulären ›Schaubilder‹, die, »nicht ganz unbegreiflich«83, das Interesse der Forschung in weitaus stärkerem Maße auf sich ziehen konnten.84 Ebenso wie diese und weitere Momente (die das ganze Epos bestimmende, einheitstiftende Strophenform und die auf sie abgestimmte Syntax, die epischen Vorausdeutungen, die produktive Anverwandlung des Brautwerbungsschemas, die Arbeit mit zentralen Motiven – etwa: dem Hort, Siegfrieds Schwert –, der Dominanz bestimmter thematischer Komplexe wie Treue und Verrat, die Installierung von Kriemhild und Hagen als handlungstragende Figuren etc.) leisten sie innerhalb eines blockhaften, zur Isolierung von einzelnen Episoden und Szenen neigenden Erzählens ihren Beitrag zu einer Form der Kohärenzstiftung, in die sich ein neuzeitlicher Blick mit seiner Fixierung auf die Prinzipien linearer Sukzession und logischer Verknüpfung erst einüben muss. Ihr Potential ist in Weiterführung der Diskussion um das ›paradigmatische‹, stark auf Parataxe und Parallelisierung vertrauende Erzählen des ›Nibelungenliedes‹ noch genauer auszuloten.85

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HAUG [Anm. 74], S. 293. Vgl. HUGO KUHN, Über nordische und deutsche Szenenregie in der Nibelungendichtung, in: DERS., Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart 1959, S. 196–219; JOACHIM BUMKE, Die Quellen der Brünhildfabel im ›Nibelungenlied‹, Euphorion 54 (1960), S. 1–38; HORST WENZEL, Szene und Gebärde. Zur visuellen Imagination im Nibelungenlied, ZfdPh 111 (1992), S. 321–343; HEINZLE [Anm. 77], S. 81–83. Vgl. dazu ELKE BRÜGGEN, FRANZ-JOSEF HOLZNAGEL, ›Sehen‹ und ›Sichtbarkeit‹ im Nibelungenlied. Zur Genese einer mediävistischen Fragestellung, in: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009, hrsg. von RICARDA BAUSCHKE-HARTUNG, SEBASTIAN COXON, MARTIN JONES, Berlin 2011, S.78 – 99. Vgl. dazu GERNOT MÜLLER, Zur sinnbildlichen Repräsentation der Siegfriedgestalt im Nibelungenlied, Studia neophilologica 47 (1975), S. 88–119; JAN-DIRK MÜLLER, Motivationsstrukturen und personale Identität im Nibelungenlied. Zur Gattungsdiskussion um ›Epos‹ oder ›Roman‹, in: KNAPP [Anm. 50], S. 221–256; HEINZLE [Anm. 77], S. 78–83; SCHULZE [Anm. 47], S. 132–136; MÜLLER [Anm. 47]; BRUNO QUAST, Wissen und Herrschaft. Bemerkungen zur Rationalität des Erzählens im Nibelungenlied, Euphorion 96 (2002), S. 287–302.

Personen- und Werkregister

Aal, Johannes ›Tragoedia Johannis des Täufers‹ 164–172, 174f., 176, 178f., 180–182 Abaelard, Peter 111 Adalbert ›Vita St. Afras‹ 209, 211–213, 217, 220, 223 Aeneas 26, 59 Aegidius Romanus ›Regimine principum‹ 132 ›Ain Abentheürisch Lied von dem Schlauraffenlandt‹ 249, 254, 256–258, 265f. Alain de Lille ›Anticlaudianus‹ 104 Alberich von Montecassino ›Breviarium de dictamine‹ 85 Alciato, Andrea 151 Alexander der Große 113 König Alfred der Große 119, 127 König Alfons II. von Kastilien 30, 37 Alkuin ›De grammatica‹ 19f. ›Alsfelder Passionsspiel‹ 164 Amalie von Zweibrück-Bitsch 149 Andreas von Regensburg ›Chronica pontificium et imperatorum Romanorum‹ 120 König Andreas II. von Ungarn 73 ›Annolied‹ 208, 221, 238, 240 Apiarius, Matthias 166 Aristoteles ›Poetik‹ 161, 180, 196f., 245f. Artus 17, 31 ›Augusburger Chronik von der Gründung der Stadt bis zum Jahr 1469‹ 210, 227

Augustin 19, 151 ›De civitate Dei‹ 108f., 112 Ausonius 151 Badius, Jodocus 20 Balbus Johannes ›Catholicon‹ 181 ›Liber glossarum‹ 181 Beatrix de Bourgogne 33, 40 Bernart de Ventadorn 51–54 PC 70,39 51f. Bernhard von Chartres 20 Bibel 12, 85, 123, 151f., 164f., 172, 175f., 180– 184, 219 Gn 188 Mc 162–164, 170, 178, 181 Mt 58, 162–164, 168, 170, 176, 181 Lc 58, 169 Io 168 Paulusbriefe 161 ›Bibliothek Apollodors‹ 205 Boethius 85 ›Consolatio Philosophiae‹ 12, 19–21, 25, 117–140 ›Opuscula sacra‹ 119 Brant, Sebastian 151 ›Das Narrenschiff‹ 249, 254, 266 Brentano, Clemens; von Arnim, Achim ›Des Knaben Wunderhorn‹ 79 Caedmon ›Hymnus‹ 201 Caesar 17, 60, 203, 229–243 ›De Bello Gallico‹ 229, 239 ›Calendrier des bergiers‹ 156

326 ›Carmina Burana‹ 249, 265 ›De phyllide et flora‹ 92 Cassidor 19 ›Chanson de Roland‹ 37, 42, 197f., 312 Chaucer, Geoffrey ›Boece‹ 128 Chrétien de Troyes 33, 101 ›Conte du Graal‹ 103 ›Erec et Enide‹ 33, 103 ›Lancelot‹ 33, 103 ›Yvain‹ 33, 103, 298 ›Chronica Reinhardsbrunnensis‹ ›De ortu principum Thuringie‹ 71 Cicero 85, 86–89, 94 Cisner, Nikolaus 141, 147 ›Descriptio Eorum‹ 141, 147, 150 ›Idyllion de mai et veris laudibus‹ 150 ›Oratio de veris et autumni collatione et laudibus‹ 150 Clementia von Namur 30 Clementia von Zähringen 30 ›Codex Emelianensis‹ 197 ›Comedia latinae‹ 85 ›Corpus Iuris Civilis‹ 21 de Béze, Théodore 159 Dedekind, Friedrich ›Grobianus‹ 141, 149 ›De phyllide et flora‹ s.v. ›Carmina Burana‹ ›Dit is van dat edele lant van Cockaengen‹ 249, 259, 261 Donat ›Ars Grammatica‹ 130 Dorothea von Dänemark 147 ›Du bist min, ich bin din‹ (MF 3,1) 75–97 ›Edda‹ 317 Einhart ›Chronik‹ (›Vita Karoli Magni‹) 197 Eleonore von Aquitanien 30, 36 Elisabeth von Ungarn 73 König Emmerich von Ungarn 30, 39 Ermesinde von Luxemburg 30 Eusebius von Caesarea ›Chronographica‹ 58 ›Excerptum ex Gallica historia‹ 209, 211–214, 217, 220

Personen- und Werkregister ›Fabliau vom Land Cocagne‹ (›De Cocaingne‹) 249–251, 256, 258f., 262, 265 Fischart, Johann ›Ehezuchtbüchlein‹ 157 ›Geschichtklitterung‹ 157 ›Flöh Hatz, Weiber Tratz‹ 157 Flexel, Lienhard 147 Foel, Gerhard 122 Folquet de Marseille 54 Friedrich der Schöne 70 Friedrich I. Barbarossa 30, 33, 40, 64–66, 73 Friedrich II, der Weise, Kurfürst der Pfalz 141, 145–149 Friedrich III., der Fromme, Kurfürst der Pfalz 159 Friedrich, Graf von Ziegenhain 70 Fuertrer, Ulrich ›Buch der Abenteuer‹ 132 Gace Brulé 43–45 R 1232 43f. Gaucelm Faidit 45–47 ›Mon cor e mi‹ 46f. Gerbel, Nikolaus 148 Gerengel, Simon ›Johannesspiel‹ 164–183 Gertrud von Andechs-Meranien 73 Geoffrey of Monmouth ›Historia regum Britanniae‹ 239, 282 Giovanni Boccaccio ›Decamerone‹ 249, 262, 265 Gnaeus Pompeius Magnus 236, 241 Gottfried von Namur 30 Gottfried von Straßburg ›Tristan‹ 292, 320 Gottfried von Viterbo ›Speculum regum‹ 71 Grüninger, Johann 20 Handschriften und Drucke Berlin, SBB-PK, Ms. theol. lat. fol. 490 124f. Frankfurt am Main, Ms. Barth. 178 (›Frankfurter Dirigierrolle‹) 164 Gießen, UB, cod. 863 122f. Heidelberg, UB, cod. pal. germ. 357 (›Kleine Heidelberger Liederhandschrift‹) 44 Mainz, StB, Hs. III 44 124f.

Personen- und Werkregister München, UB, 2° Cod. ms. 731 (›Hausbuch des Michael de Leone‹) 44 München, BSB, clm 19411 (›Tegernseer Liebesbriefe‹) 84–90 Oxford, Bodleian Library, MS Hamilton 46 123 Schaffhausen, StB, Gen. 28 125f. Stuttgart, WLB, HB II 24 (›Landgrafenpsalter‹) 72 Tübingen, UB, Md 124 124f. Vorau, Stiftsbibl., Cod. 276 (›Vorauer Handschrift‹) 22 Harer, Peter 147 Hartmann von Aue 33 ›Erec‹ 280, 284, 286 ›Gregorius‹ 202 ›Iwein‹ 108, 112, 269f., 284, 286 ›Heidelberger Passionsspiel‹ 164 Heinrich der Löwe 30, 32, 36, 41, 67f., 73 Heinrich Raspe III. 70 Heinrich von dem Türlin ›Diu Crône‹ 22, 26, 102–115 Heinrich von Melk ›Von des todes gehugde‹ 92 Heinrich von Schwarzburg 70 Heinrich von Veldeke ›Eneasroman‹ 26, 63–74, 282, 292 Heinrich II. Plantagenet 30 Heinzelin von Konstanz 92 Helene von Simmern 149 Henricus Francigena ›Aurea gemma‹ 85 Hermann I., Pfalzgraf von Sachsen und Landgraf von Thüringen 70 Hesiod ›Katalog der Frauen‹ 60 ›Theogenie‹ 60 Hieronymus 58 ›Ad Laetam de institutione filiae‹ 109f. ›Hildebrandslied‹ 197 Hofmann, Gregorius 149 Holbein, Hans 149 Homer 60 ›Ilias‹ 220, 311, 315 Horaz 85 ›Ars poetica‹ 87, 89f., 94, 104, 109, 114f. Humbert III. von Maurienne 30 Humery, Konrad ›Tröstung der Weisheit‹ 25, 124–126, 129, 131–133, 137, 139

327 ›Ich sach eins mâles in der affen zît‹ 249, 262, 264 Isidor ›Etymologiae‹ 181 Ivo von Chartes 111 Jean Bodel ›Chanson de Saisnes‹ 234 Johann von Würzburg ›Wilhelm von Österreich‹ 70 Johannes Latomus ›Chronik‹ 173 Johannes Mercurius 141, 150f. Justinian s.v. ›Corpus Iuris Civilis‹ Jutta Claricia von Thüringen 64 ›Kaiserchronik‹ 207f., 221, 238 Karl der Große 17, 31, 35 Karl der Kahle 34–36, 41 ›Klage‹ 319–321 Koberger, Anton 20f., 125f., 130f., 133 Der Königsberger 151 Pfaffe Konrad ›Rolandslied‹ 37f., 41, 67f., Konrad von Hirsau ›Dialogus super auctores‹ 203, 236 Konrad von Winterstetten 69 Konrad III. 30, 63 Konstanze von Aragon 30, 37 ›Kreuzensteiner Passion‹ 164 Krüginger, Johannes ›Tragoedia von Herode vnd Joanne dem Tauffer‹ 164 Küchlin ›Reimchronik vom Herkomen der Stadt Augsburg‹ 203, 209–219, 222f., 226 ›Künzelsauer Passionsspiel‹ 164 Der Kürenberger 81, 96 ›La mule sans frein‹ 103 Laȝamon ›Brut‹ 240 Lemaire de Belges, Jean 157 Leodius, Hubertus Thomas ›Annalium de vita et rebus gestis illustrissimi principis Friderici II.‹ 147, 150 Leopold I. 70 ›Livre d’Artus‹ 280 Lothar I. 34–36

328 Lucan ›De bello civile 236f. ›Pharsalia‹ 237 ›Lucidarius‹ 67 Ludwig der Springer 72 Ludwig mit dem Barte 71 Ludwig I. der Deutsche 34 Ludwig II. der Fromme 34–36, 41, 64, 70 Ludwig III. 66, 70 Ludwig VII., König von Frankreich 30 Luther, Martin 162 ›Biblia Deutsch‹ 181 ›Zum vierten Sonntag im Advent‹ 165, 183 Manegold von Sibinache 69 Margarethe von Kleve 66 Marie de Champagne 33 Marot, Clement 152, 156–159 ›Le temple de Cupido‹ 157 Mathilde von England 31f., 36 Mayenbrunn, Andreas ›Tragoedia Johannis‹ 165 Meisterlin, Sigismund ›Cronographia Augustensium‹ / ›Cronik der Augspurger‹ 203, 209, 215–227 Mercurius, Johannes 141, 150f. Micyllus, Jacobus 145, 149 ›Certamen saggittariorum‹ 147 Münster, Sebastian ›Cosmographia‹ 190 ›Neidhart Fuchs‹ 153 Neidhart 151, 153f. ›Nibelungenlied‹ 42, 79, 197, 204, 208, 307–323 Nithard ›Historiae‹ 34–36 Notker I. von St. Gallen 119f., 124, 127, 130, 132 Novalis, Friedrich Freiherr von Hardenberg ›Die Christenheit oder Europa‹ 16f. Octavian 60 Opitz, Martin 142–146, 159 ›Buch von der Deutschen Poeterey‹ 180f. Otto von Freising ›Chronica sive historia de duabus civitatibus‹ 213, 223, 237f. Ovid 85, 150f., 156 ›Fasti‹ 152 ›Metamorphosen‹ 154, 195, 233

Personen- und Werkregister Palladius 151 Peire de la Cavarana 39 Peire Vidal 37–41, 52f. PC 364,14 39f. PC 364,36 52 PC 364,37 52f. PC 366,12 53 Peirol 53f. Peter von Kastl 120, 125, 127, 131 Petrus Pictaviensis ›Compendium historiae in genealogia Christi‹ 59 Phillip von Hanau 149 Phillip I. von Leiningen 149 Piccolomini, Enea Silvio 17 Platon ›Politeia‹ 245, 263 ›Protagoras‹ 245 Pons de Capduelh 45, 54 Přemysl Ottokar I. 73 ›Priesterleben‹ 92 ›Prosa-Lancelot‹ 103 Pseudo-Thomas ›Expositio in Boethii De consolatione Philosophiae‹ 20f., 126, 130 Rabelais, François 157 Raimund von Toulouse 38 ›Reinhardsbrunner Gründungsgeschichte‹ 71 Reinmar 25, 42–56 MF 159,1 51f. MF 162,7 43, 44 MF 165,10 53f. MF 170,1 54f. MF 183,33 47f., 50 MF 194,18 45, 47 Lied LXVI 50f. Remigius von Auxerre 20 Ringmann, Matthias ›Julius der erst Römisch / Keiser von seinem kriegen [...]‹ 240–243 ›Roman d’Eneas‹ 63, 235 Roscelin, Johannes 111 Rudolf von Ems ›Willehalm‹ 69 Rudolf von Fenis 33 Runge, Philipp Otto 80 ›Ruodlieb‹ 85, 92 Rupert von Deutz 76, 85

Personen- und Werkregister Sachs, Hans 151 ›Boecii, des christlichen philosophi und poeten history‹ 134 ›Das Schlaweraffenland‹ 249, 254, 266 ›Die Enthauptung Johannis‹ 162, 164f., 173, 177, 179–183 ›Gespräch der Philosophiea mit einem melancjolischen, betrübten jüngling‹ 134 Sanders, Johan ›Tragoedia Johannis des Teuffers‹ 165 Schede, Paul Melissus 146 ›Hugenottenpsalter‹ 159 Scheit, Kaspar ›De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‹ 149 ›Die volle Bruderschaft‹ 149 ›Fröhliche Heimfahrt‹ 142, 149, 157f. ›Lobrede auf den Mai‹ 27, 141–159 ›Reformation‹ 149 ›Trostspruch‹ 149 ›Wol gerissene Figuren ausz der Bibel‹ 148 Schiller, Friedrich 75, 77 Schirl, Jakob 25, 132f. Schott, Johannes 130 Seneca 131, 151, 161 Steinhöwel, Heinrich 131 ›Straßburger Eide‹ 34–36 Strozzi, Tito Vespiano ›Laus veris ad Sylviam‹ 151, 153–155 Terenz 151 ›The Land of Cokaygne‹ 249, 256–258, 266 Tieck, Johann Ludwig ›Minnelieder aus dem Schwaebischen Zeitalter‹ 75, 79f. Tornesius, Johannes 148 Trevet, Nicholas 20f. Quintilian ›Institutiones Oratoriae‹ 109f.

329 Ulrich von Zatzikhoven ›Lanzelet‹ 103, 204, 269f., 278–302 ›Van’t Luye Leckerlant‹ 249, 266 Vergil 85, 150f., 154, 156f. ›Aeneis‹ 26, 60–64, 73, 188, 282 ›Völuspa‹ 188 ›Vom packofen‹ 249, 262, 264 von Arnim, Achim s.v. Brentano von Wyle, Niklas 126f., 129f. ›Translatzen‹ 126f. Wace ›Roman de Brut‹ 203, 212, 239f. ›Wachtelmaere‹ 249, 264 Walther von Châtillion ›Alexandreis‹ 113, 237 Wahraus, Erhard ›Chronik der Stadt Augsburg‹ 210 Walther, Daniel ›Tragedia von Johanne dem Teuffer‹ 164 Walther von der Vogelweide 39, 55 La. 56,14 39 Walton, John ›Boethius‹ 128 Priester Wernher ›Maria‹ 69 ›Wessobrunner Gebet‹ 201 Wickram, Jörg 151f., 154 Wilhelm von Aquitanien 92 PC 183,2 48–50 Wilhelm von Conches ›Glosae super Boecium‹ 20 Wirnt von Grafenberg ›Wigalois‹ 22, 103 Wittenwiler, Heinrich ›Der Ring‹ 250 Wolfram von Eschenbach ›Parzival‹ 22, 103