Das Gewissen als Argument im Recht [1 ed.] 9783428499427, 9783428099429

Bezugnahmen auf das Gewissen im Recht enthalten immer einen Bezug auf außerrechtliche Normativität. Sie sind positiviert

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German Pages 334 Year 2000

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Das Gewissen als Argument im Recht [1 ed.]
 9783428499427, 9783428099429

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FRIDTJOF FILMER

Das Gewissen als Argument im Recht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 808

Das Gewissen als Argument im Recht

Von Fridtjof Filmer

SPS»!

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Filmer, Fridtjof: Das Gewissen als Argument im Recht / von Fridtjof Filmer. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 808) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-428-09942-7

Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09942-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Vorwort Bezugnahmen auf das Gewissen im Recht enthalten immer einen Bezug auf außerrechtliche Normativität, sie sind ausschnitthaft positivierte Aspekte des ambivalenten Verhältnisses von Moral und Recht. Die Arbeit ist ein Versuch, den Gewissensbegriff als einen normativen Grenzbegriff im positiven Recht darzustellen und handhabbarer zu machen. Insbesondere will sie aufzeigen, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 I G G die Funktion hat, ein spezielles Konkurrenzverhältnis von rechtlicher und außer-rechtlicher Normativität in die Rechtsordnung zu integrieren. Die Rechtsordnung kann sich dem Gewissensargument - der Infragestellung durch das Gewissen des einzelnen - ein Stückweit öffnen, ohne sich ihm preiszugeben. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn hat die vorliegende Arbeit im Wintersemester 1998/ 1999 als Dissertation angenommen. Der Text ist nur in Details überarbeitet; er berücksichtigt die nach Anfang 1998 erschienene Literatur nur sporadisch. Für ihre Beiträge zu dieser Arbeit habe ich vielen zu danken; an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Klaus Schiaich. Ohne seine Anregungen und sachkundigen wie verständnisvollen Hilfen hätte ich die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht gewagt und nicht zu einem Ende bringen können. Als seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter hat er mir zudem großzügig Freiraum dafür gewährt. Einem besonders ausgewiesenen Kenner des Themas, Herrn Professor Dr. Matthias Herdegen, gilt mein Dank für die Erstellung des Zweitvotums. Für viele Hinweise, Fragen und offene Kritik danke ich allen meinen ehemaligen Bonner Kollegen, vor allem Herrn Rechtsreferendar Dr. Christoph Görisch, Herrn Rechtsanwalt Dr. Nicolai Kranz, Herrn Rechtsanwalt Gerrit Böning sowie Herrn Professor Dr. Stefan Korioth. Meiner lieben Frau Nicola und meinen Eltern verdanke ich Grundlegendes, das auch die Fertigstellung dieser Arbeit ermöglichte.

Fridtjof

Filmer

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Der Gewissensbegriff im Recht

A. Statt einer Einleitung: Das Gewissen als Argument am Beispiel der Diskussion um die rechtliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs

11

B. Der begriffliche Rahmen

24

C. Funktionen des Gewissensbegriffs im Recht

32

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

35

I. Verweisfunktion 1. Verstärkungsfunktion

35 35

a) Das Gewissen des Auskunftspflichtigen

39

b) Das Gewissen des Trägers öffentlicher Aufgaben

43

aa) Verfassungsorgane

44

bb) Richter

45

cc) Beamte

48

dd) Andere Amtsträger und besonders Verpflichtete

51

ee) Träger öffentlicher Aufgaben im weitesten Sinne c) Das Gewissen der Schwangeren in der Schwangerschaftsberatung d) Das Gewissen des Straftäters in der gerichtlichen Feststellung von Unrechtsbewußtsein 2. Ergänzungsfunktion

52 56 60 67

a) Das Gewissen des Abgeordneten

67

b) Das Gewissen anderer Amtsträger

77

c) Das „ärztliche Gewissen44 II. Konfliktregelungsfunktion

79 82

Inhaltsverzeichnis

8

2. Teil Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

A. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht? I. Gewissensfreiheit als objektive Wertentscheidung der Verfassung („Werttheorie der Grundrechte" und „institutionelle Grundrechtstheorie") 1. Gewissensfreiheit als metajuristisches Prinzip

90

91 91

a) Demokratie

92

b) Rechtsgeltung

93

c) Säkularität

97

d) Neutralität

99

2. Gewissensfreiheit als Auftrag an den Gesetzgeber

100

3. Gewissensfreiheit als Richtlinie für die Gesetzesanwender

104

II. Gewissensfreiheit als staatsgerichtetes subjektives Recht des Bürgers

106

1. Gewissensfreiheit als „Ur-Grundrecht"

107

2. Gewissensfreiheit als Abwehrrecht zur Sicherung einer individuellen Freiheitssphäre („liberale Grundrechtstheorie")

110

a) Grundrechte als Abwehrrechte

110

b) Besonderheiten der Gewissensfreiheit

112

c) Grundrechtsdogmatische Modifikationen

115

aa) Modifikationen des grundrechtlichen Schutzgutes

115

bb) Modifikationen der Grundrechtswirkungen

125

aaa) Beschränkung der Grundrechtswirkungen gegenüber der Gesetzgebung 125 bbb) Ausschluß der Grundrechtswirkungen gegenüber der Gesetzgebung ÖL) Immanente Tatbestandsbegrenzung

128 128

ß) Kategorische Tatbestandsbeschränkung (Gewissensfreiheit als „Wohlwollensgebot")

131

3. Gewissensfreiheit als Leistungsrecht („sozialstaatliche Grundrechtstheorie")

146

4. Gewissensfreiheit als staatsbürgerliches , Amt" und demokratisches Teilhaberecht („demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie") 151

Inhaltsverzeichnis Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht I. Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit

9 166 167

1. Definitionskompetenz und Selbstverständnisse

167

2. Das „Schutzgut" der Gewissensfreiheit

174

a) Subjektive und objektivierte Schutzgüter

176

b) Subjektive und objektivierte Gewissensverständnisse

179

aa) Explizite Zuordnungen der Gewissensfreiheit

180

bb) Gewissensfreiheit als sittliche Handlungsfreiheit (normatives Gewissensverständnis) 183 cc) Gewissensfreiheit als Schutz der psychischen Integrität (empirisches Gewissensverständnis) 185 c) Das Gewissen als beschränkt objektivierbares Schutzgut der Gewissensfreiheit 193 aa) Handlungsrecht oder Integritätsrecht bb) Handlungsbezug und Normativität des Gewissens aaa) Gründe а) Wortlaut

193 199 199 199

ß) Systematischer Kontext

200

7) Bezüge zu objektiven Grundrechtsgehalten

201

S) Menschenrechtliche Bezüge

202

ε) Gewissen als Rechtsbegriff

205

ζ) Normativität von Gewissen und Recht

206

η) Gewissensfreiheit und Anarchieargument

211

bbb) Konsequenzen

213

α) forum internum

213

β) Verbales Handeln

217

7) Handeln und Unterlassen

219

б) Gemeinschaftliches Handeln

221

ε) Notwendigkeit des Verhaltensbezugs

222

3. Immanente Gewährleistungsgrenzen der Gewissensfreiheit

229

a) Gewissensfreiheit als Schutz der individuellen normativen Identität des Menschen 229 aa) Moralische Verpflichtung durch das Gewissen

230

bb) Unbedingtheit der Gewissenspflicht - Art. 41GG als Kollisionsnorm 235 cc) Existentialität der Gewissenspflicht

248

10

Inhaltsverzeichnis b) Gewissensfreiheit des Bürgers und Gewaltmonopol des Staates

253

c) Gewissensfreiheit und persönlicher Verantwortungsbereich

255

II. Die Schranken der Gewissensfreiheit

264

1. Bürgerliche und staatsbürgerliche Pflichten (Art. 140 GG iVm Art. 136 I WRV) 265 a) Die übrigen Grundrechte des Art. 4 GG

266

b) Die Gewissensfreiheit

271

2. Verhältnismäßigkeit

277

a) Erforderlichkeit

277

b) Zumutbarkeit

281

III. Sekundäre Grundrechtswirkungen - Das Gewissen im Dialog

288

1. Gewissensfreiheit und Dialog

288

2. Verfahrensrechtliche Konsequenzen

292

3. Gewissensfreiheit und allgemeiner praktischer Diskurs

294

Zusammenfassung

297

Literaturverzeichnis

303

Sachwortverzeichnis

330

L Teil

Der Gewissensbegriff im Recht A. Statt einer Einleitung: Das Gewissen als Argument am Beispiel der Diskussion um die rechtliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs Der Begriff des Gewissens ist ein zentraler Begriff der Moral und der Moralphilosophie. In einem auf weltanschauliche Neutralität verpflichteten Rechtsstaat verwundert es daher heute wenig, daß das staatliche Recht keine Vorschriften über Inhalt und Gebrauch des Gewissens enthält;1 überraschen könnte es eher, daß der Begriff des Gewissens überhaupt in Rechtssätzen des positiven Rechts als Tatbestandsmerkmal erscheint und auch darüber hinaus in der praktischen Rechtsanwendung verbreitetes Argument (zur Begründung individueller Rechtsnormen) ist. Die Vielfalt der Zusammenhänge, in denen das Argument in der Rechtspraxis verwendet wird, soll zunächst ausgehend von den Bemühungen zur gesetzgeberischen Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs beispielhaft verdeutlicht werden. Bereits der von deutschen und schweizerischen Strafrechtswissenschaftlern im Jahre 1970 veröffentlichte Alternativentwurf eines Strafgesetzbuches enthielt eine primär auf Schwangerschaftsberatung ausgerichtete Regelung. Als Ziel der Beratung wurde in der Begründung angeführt, „der Schwangeren eine überlegte und verantwortete Entscheidung" zu ermöglichen, ihr zu verdeutlichen, „daß eine hohe ethische Verantwortung berührt und verletzt wird". 2 Der Regierungsentwurf einer Indikationenregelung von 1972 3 führte an, die Entscheidung für den Abbruch einer Schwangerschaft entspringe einer „schwerwiegenden Konfliktsituation [ . . . ] in den Tiefen der Persönlichkeit", so daß ein Aus-

1

So aber - rhetorisch? - Luhmann, Die Funktion der Gewissensfreiheit im öffentlichen Recht, in: H. Kallenbach / W. Schemel (Hrsg.), Die Funktion des Gewissens im Recht, Frankfurt 1970, S. 9 (9). 2 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, Besonderer Teil, 1. Halbband, Tübingen 1970, S. 25 ff. (27). 3 BR-Drucks. 58/72.

12

. e

e Gewissensbegriff im Recht

gleich zu finden sei zwischen dem Recht des ungeborenen Kindes und der Menschenwürde der Schwangeren sowie ihrem Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung. Die schließlich 1974 aufgrund eines Entwurfs der Fraktionen von SPD und FDP als 5. StrRG 4 beschlossene5 Fristenregelung wurde unter anderem damit begründet, „Einsicht und Selbstverantwortung" 6 zu stärken, sei erfolgversprechender als eine Strafdrohung. Das Bundesverfassungsgericht, das die Nichtigkeit dieses Gesetzes in seinem Urteil vom 25. 2. 1975 feststellte, sah die Entscheidung für eine Abtreibung zwar vom Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit umfaßt, dies jedoch durch die Menschenwürde des Nasciturus beschränkt7. Es konzedierte, daß bei der Frage, welches Maß an „Aufopferung eigener Lebenswerte" durch staatlichen Zwang der Schwangeren zuzumuten sei, im Einzelfall besondere Konfliktsituationen zu berücksichtigen seien: „In einer solchen Konfliktsituation, die im allgemeinen auch keine eindeutige moralische Beurteilung zuläßt und in der die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben kann, ist der Gesetzgeber zu besonderer Zurückhaltung verpflichtet." 8 Im Einigungsvertrag von 1990 (Art. 31 IV) vereinbarte die Bundesrepublik mit der DDR eine Neuregelung der nunmehr in der Bundesrepublik geltenden und von der Fristenregelung der DDR abweichenden Indikationenregelung bis spätestens zum 31. 12. 1992. Am 25. 6. 1992 nahm der Bundestag nach 16stündiger Sitzung einen von Abgeordneten verschiedener Fraktionen erarbeiteten Gesetzentwurf (sog. Gruppenantrag) 9 an, der das Konzept einer Beratung der Schwangeren in den Mittelpunkt stellte. 10 Danach sollte ein Schwangerschaftsabbruch unter anderem dann nicht rechtswidrig sein, wenn er nach einer gesetzlich geregelten Beratung (§219 StGB) und innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen durch einen Arzt vorgenommen wird (§ 218a I StGB). Auch wegen dieser Regelung erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz durch Urteil vom 28. 5. 199311 in wesentlichen Teilen für nichtig. Die Begründung des 1992 als Gesetz verabschiedeten Gruppenantrags beginnt mit dem wörtlichen Zitat der 1975 vom Bundesverfassungsgericht konzedierten 4 Gesetz vom 18. 6. 1974, BGBl. I, S. 1297. 5 7/95 und 7/96, Sten.Ber, S. 6443 ff. und S. 6503 ff. So ζ. Β. H. Ehmke in einer Stellungnahme des Bundestages zum Verfahren des BVerfG, BVerfGE 39, 1 (28 f.). 7 BVerfGE 39, 1 (43). 6

8 BVerfGE 39, 1 (48). Hervorhebung nicht im Original. 9 BT-Drucks. 12/2605 (neu) v. 14. 5. 1992. 10 Annahme des Entwurfs nach dritter Beratung mit 355 von 654 abgegebenen Stimmen bei 16 Enthaltungen als „Schwangeren- und Familienhilfegesetz" vom 27. 7. 1992, BGBl. 1992 I, S. 1398 ff. π BVerfGE 88, 203 ff.

Α. Einleitung

13

Möglichkeit „achtenswerter Gewissensentscheidungen".12 Zentrales Ziel des Entwurfs war danach neben einem effektiven Lebensschutz, „der Frau in ihrer Konfliktlage Hilfe zu geben und sie in die Lage zu versetzen, eine verantwortungsbewußte Gewissensentscheidung zu treffen." 13 Die gesetzliche Ausgestaltung der Schwangerschaftsberatung in § 2191 StGB nach dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz vom 27. 7. 1992 normierte aufgrund dessen als Beratungsziel den Lebensschutz „durch Rat und Hilfe für die Schwangere unter Anerkennung des hohen Wertes des vorgeburtlichen Lebens und der Eigenverantwortung der Frau. Die Beratung soll [ . . . ] die Schwangere in die Lage versetzen, eine verantwortungsbewußte eigene Gewissensentscheidung zu treffen." 14 Auch mit dem Gruppenantrag konkurrierende Gesetzentwürfe bzw. ihre Begründungen hatten bereits ähnliche Formulierungen enthalten.15 Die SPD-Fraktion begründete ihren Entwurf auch mit der genannten Passage aus BVerfGE 39, 1 und ging vom Vorliegen einer „Gewissensentscheidung" aus 16 ; die gesetzliche Ausgestaltung der Beratung zielte auf die Bewältigung einer „seelischen oder wirtschaftlich-sozialen Not- oder Konfliktlage" 17 . Die Begründung des Entwurfs der CDU / CSU-Fraktion anerkannte (unter Beibehaltung strafrechtlicher Sanktionen für die Schwangere), daß in der zu regelnden Notlage „primär subjektive Elemente"18 ausschlaggebend seien; Ziel der Beratung sollte es nach dem Wortlaut des Gesetzentwurfes sein, der Schwangeren und dem Vater zu helfen, „eine verantwortliche Entscheidung zu treffen" 19 , eine „Notlage oder innere Konfliktsituation" 20 zu bewältigen. Nur der „Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der ungeborenen Kinder" der sog. »Gruppe Werner 4 , 21 der die bewußtseinsbildende Kraft auch des Strafrechts betonte, und die Entwürfe einer Gruppe von PDS-Abgeordneten 22 sowie der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen 23 , die die gegenteilige Grundsatzposition vertretend einen „Rechtsanspruch auf Schwangerschaftsabbruch" begründen wollten, enthielten keine vergleichbaren Formulierungen. Während die parlamentarische Auseinandersetzung im Jahre 1974 noch ganz vom Argument des ,Selbstbestimmungsrechts der Frau* bestimmt war 24 , dominier12 BT-Drucks. 12/2605 v. 14. 5. 1992, S. 4 f. 13 Ebd., S. 5. 14 BGBl. 1992 I, S. 1398(1403). 15 So sprach der Entwurf der FDP-Fraktion in § 219 StGB ebenfalls von einer „verantwortungsbewußten Gewissensentscheidung44. BT-Drucks. 12/551 v. 16. 5. 1991, S. 10; vgl. ebd. S.4. 16 BT-Drucks. 12/841 v.21.6. 1991, S. 2 f. 17 Ebd., S. 11.

ι» BT-Drucks. 12/1178 (neu) v. 19.9. 1991, S. 3. 19 Ebd., S. 5. 20 Ebd., S. 15. 21 BT-Drucks. 12/1179 v. 20. 9. 1991. 22 BT-Drucks. 12/898 v. 1.7. 1991. 23 BT-Drucks. 12/696 v. 6. 6. 1991.

14

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e Gewissensbegriff im Recht

ten in der Debatte des Bundestages vom 25. 6. 1992 der Begriff „Gewissen" und entsprechende Wortverbindungen. 25 Der Begriff des Gewissens scheint hier ein ungeahntes Eigenleben zu entfalten. Er wird schon in bezug auf die diskutierte Abtreibungsregelung mit verschiedensten Zielrichtungen und Bedeutungen verwendet. Hinsichtlich der rechtlichen Qualität einer Gewissensentscheidung der Schwangeren geht man zum Teil davon aus, es handele sich um ein „der Gewissensfreiheit verwandtes Recht" 26 , ein „Recht auf Gewissensfreiheit und Gewissensentscheidung" 27 . Neben der hier anklingenden Beziehung zum Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 I GG werden auch Analogien zur Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 ΠΙ GG) gezogen, wo für Männer „die freiwillige Gewissensentscheidung für oder gegen einen Dienst mit der Waffe sogar grundgesetzlich festgeschrieben" sei; bezüglich der Gewissensentscheidung von Frauen über einen Schwangerschaftsabbruch, bei der es ebenfalls „um Leben und Tod" gehe, sei aufgrund der im Bundestag bestehenden Mehrheitsverhältnisse ein „Recht auf freie Gewissensentscheidung [ . . . ] wenigstens mit einem einfachen Gesetz" einzuräumen. 28 Ein anderer Teil der Abgeordneten weist der Gewissensentscheidung der Schwangeren keine spezifische Rechtsqualität zu, sondern betont den Ausnahmecharakter der Konflikt- oder Notlage für die Schwangere29 und die Unvertretbarkeit der moralischen Entscheidung in einer solchen Situation. „Niemand, kein Arzt, kein Berater, kein Gericht und kein Gesetzgeber [kann] der Schwangeren vor der Instanz ihres Gewissens die Entscheidung und damit auch die Verantwortung dafür abnehmen [ . . . ] , ob sie das Leben, das sie in sich trägt, annimmt, oder ob sie glaubt, dem in ihrer besonderen Lage nicht gewachsen zu sein und deshalb zureichende Gründe für den Abbruch der Schwangerschaft zu haben."30 „Der Gruppenantrag geht davon aus, daß Dritte raten und helfen können, daß aber nur die Frau allein entscheiden kann und nach ihrem Gewisse entscheiden muß." 31 24 Sitzungen des Deutschen Bundestags 7/96 u. 7/95, Sten.Ber. S. 6443 ff. u. 6503 ff.; vgl. Starck, Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung?, JZ 1993, S. 31 (31). 25 Plenarprotokoll 12/99, Sten.Ber., S. 8223-8358. Von den 107 Abgeordneten, die das Wort zur Sache ergriffen, führten mehr als die Hälfte das „Gewissen44 an; Anhänger sämtlicher Gesetzentwürfe und Vertreter aller Fraktionen (20 von 41 Rednern der CDU/CSU, 18 von 35 Rednern der SPD, 10 von 17 Rednern der FDP, 5 von 6 Rednern der Gruppe Bündnis 90 /Die Grünen, 3 von 6 Rednern der Gruppe PDS/Linke Liste). Zu den lediglich zu Protokoll gegebenen Reden und Erklärungen vgl. Sten.Ber., S. 8385-8456. Ausdrücklich gegen eine Verwendung des Gewissensbegriffs: Christina Schenk (Bündnis 90/Die Grünen), Sten.Ber., S. 8234; Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste), a. a. O., S. 8276, Dr. Jürgen Warnke (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8326, vgl. die Äußerungen zum Entwurf des § 219 StGB von Monika Brudlewsky (CDU/CSU) und Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8297 und 8343. 26 Dr. Sigrid Semper (FPD), Sten.Ber., S. 8325. 27 Roland Sauer (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8429. 28 Dr. Konrad Eimer (SPD), Sten.Ber., S. 8328 f. 29 Ζ. B. Rosemarie Priebus (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8327. 30 Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), Sten.Ber., S. 8284 f.

Α. Einleitung

15

Aufgrund der Unmöglichkeit für Dritte, den Einzelfall - im Namen des Staates angemessen zu beurteilen, tritt das individuelle Gewissen als Beurteilungsmaßstab an die Stelle des staatlichen Rechts. Darüber hinaus verbietet es sich nach Auffassung einiger Abgeordneter, die gesetzliche Schwangerschaftsberatung als „Gewissensprüfung" auszugestalten32. Gegen eine solche rechtliche Konzeption wird in der Debatte wiederum die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1975 zitiert: „Der Staat darf sich seiner Verantwortung nicht durch Anerkennung eines rechtsfreien Raumes entziehen, indem er sich der Wertung enthält und diese der eigenverantwortlichen Entscheidung des einzelnen überläßt." 33 Gegen die Schaffung eines »rechtsfreien Raumes*34 wird von Befürwortern des CDU/CSU-Entwurfs der Entscheidung der Schwangeren zwar die Qualität einer „Gewissensentscheidung" zuerkannt, dies schließe jedoch weder die Verfügungsgewalt über das ungeborene Leben ein 3 5 noch eine Mitverantwortung der Gesellschaft und des Gesetzgebers aus 36 Hinsichtlich dessen, was die Entscheidung einer Schwangeren überhaupt zu einer Gewissensentscheidung macht, werden ebenfalls weitgehende Differenzen deutlich. Zum Teil stellen die Abgeordneten allein darauf ab, daß es sich um eine singuläre Entscheidungssituation handele und dadurch um eine Entscheidung vor der Instanz des Gewissens37. Die Art und Weise des Zustandekommens der Entscheidung ist auch für die Abgeordneten ausschlaggebend, die eine Gewissensentscheidung als auf einer „gewissenhaften Abwägung" beruhend 38, „reiflich überlegt" und als „nicht leichtfertig" 39 beschreiben. Die moralische Qualität der Entscheidung („Verantwortung") erscheint manchmal als bloßer Reflex („Kehrseite") der Abwesenheit rechtlicher Handlungsmaßstäbe („Freiheit") 40 . Dabei werden zumeist sowohl der Aspekt rechtlicher Ungebundenheit als auch der Aspekt moralischer Gebundenheit betont: „Frauen müssen frei nach ihrem Gewissen entscheiden können", aber: eine rechtliche Liberalisierung rückt „die Norm 31 Inge Wettig-Danielmeier (SPD), Sten.Ber., S. 8230. 32 Ζ. B. Gerhart Rudolf Baum (FDP), Sten.Ber., S. 8249; Dr. Jürgen Meyer (SPD), Sten.Ber., S. 8262. 33 So Ursula Männle (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8238; BVerfGE 39, 1 (44). 34 Vgl. dazu u. D.I.2.C), S. 81 mit Anm. 495. 35 Ortrun Schätzle (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8308. 36 Renate Diemers (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8311. 37 Vgl. Konrad Weiß (Bündnis 90/Die Grünen), Sten.Ber., S. 8251. 38 Peter Hintze (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8264. 39 Rosemarie Priebus (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8327. 40 Norbert Eimer (FDP), Sten.Ber., S. 8312.

16

. e

e Gewissensbegriff im Recht

in den Vordergrund und macht so eine Selbstbindung daran möglich." 41 Ziel ist es, eine „Gewissensentscheidung in Freiheit und Würde" zu ermöglichen..., aber: eigentliche Aufgabe auch des Staates (der Beratung) ist es, das Gewissen „auszubilden und zu sensibilisieren". 42 Die Rolle des Staates bei der Gewissensbildung43 ist jedoch durchaus umstritten: So wird von der Schwangeren auch angenommen, „daß sie ein Gewissen hat, das wir nicht erst prägen müssen"44, Frauen können danach nicht erst nach gesetzlich vorgeschriebener Beratung „verantwortungsvoll eine Gewissensentscheidung treffen" 45 . Anders als die genannten Redner macht die Qualifizierung einer Entscheidung der Schwangeren als „Gewissensentscheidung" eher vom Inhalt, vom Ergebnis dieser Entscheidung abhängig, wer fordert: „Das Gewissen sollte eine warnende Stimme bleiben, wenn ich Unrecht tun will. [ . . . ] Man sollte das Gewissen nicht anwenden, um dem Töten zuzustimmen. Man kann das Gewissen nur anwenden, um Töten abzuwenden."46 Eine Zurückweisung des Gewissensarguments aus inhaltlich entgegengesetzter Haltung bildet eine Forderung, in der das Gewissen nur noch als negativum erscheint: „Schwangerschaftsabbrüche [ . . . ] müssen normal in dem Sinne werden, daß Frauen die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ohne Gewissensbisse und ohne Schuldgefühle in einem gesellschaftlichen Klima der Akzeptanz dieser ihrer Entscheidung treffen können." 47 Schließlich machen einige Redebeiträge deutlich, daß bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs auch das Gewissen weiterer Beteiligter in rechtlich relevanter Weise betroffen ist. Angesprochen werden vor allem der die Beratung vornehmende Arzt und die einen Schwangerschaftsabbruch ausführenden Ärzte und Krankenschwestern. Auch sie treffen danach „Gewissensentscheidungen" im Sinne „verantwortlicher Entscheidungen".48 Darüber hinaus verbietet die notwen41 Ministerin Waltraud Schoppe (Niedersachsen), Sten.Ber., S. 8266 f.; vgl. ζ. B. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Sten.Ber., S. 8281 zur Beratungsregelung, die „die Freiheit und die Pflicht zubilligt, selbstbestimmt und so in sittlicher Verantwortung vor sich selbst" zu entscheiden. 42 Konrad Weiß (Bündnis 90/Die Grünen) Sten.Ber., S. 8251 f.; auch neben einer strafrechtlichen Regelung der Materie wird eine „gewissensbildende Kampagne über den Schutz des ungeborenen Lebens" gefordert, Gertrud Dempwolf (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8397. 4 3 Vgl. auch Dr. Dorothee Wilms (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8446 zur Bedeutung einer „gesellschaftlichen Wertordnung" und des Strafrechts zur Bildung und Vermittlung von allgemein gültigen ethischen Werten, an denen sich unser Gewissen orientieren muß, weil sie über uns selbst hinausweisen". 44

Christel Hanewinckel (SPD), Sten.Ber., S. 8248. Regina Kolbe (SPD), Sten.Ber., S. 8334 f. ^ Monika Brudlewsky (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8297. 4

? Christina Schenk (Bündnis 90/Die Grünen), Sten.Ber., S. 8300. Vgl. dies, ebd. S. 8234 gegen die Formulierung des § 219 StGB im Gruppenantrag.

Α. Einleitung

17

dige Rücksicht auf ihr Gewissen auch grundsätzlich jeglichen Zwang zur Mitwirkung an einer Abtreibung. 49 Dies soll nach einigen Gesetzentwürfen auch gesetzlich garantiert werden. 50 Eine entsprechende Regelung enthielt bereits Art. 2 des 5. StRG von 1974, der vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als Konkretisierung der „Gewissensfreiheit des Einzelnen" und zum Schutz der „Freiheit der ethischen Überzeugung" gebilligt wurde. 51 Auch in der juristischen Literatur wurde dies bereits früh als Anwendungsfall der Gewissensfreiheit nach Art. 4 I GG behandelt.52 Uneinheitlich wird indes die - wie gesehen auch von den Parlamentariern unterschiedlich eingeschätzte - grundrechtliche Qualität der Gewissensentscheidung der Schwangeren beurteilt. Dabei kann man auch hier einen Ansatzpunkt für die Anwendbarkeit von Art. 4 I GG bereits in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1975 finden. Es benennt dieses Grundrecht dort zwar nicht ausdrücklich, verweist aber bei der Konkretisierung der unter Umständen zu „achtenswerten Gewissensentscheidungen" führenden schweren inneren Konflikte, in denen ihm eine Strafdrohung im allgemeinen nicht als angemessen erscheint, auf die Entscheidung BVerfGE 32, 98 ff. („Gesundbeter"), eine der wichtigen Entscheidungen des Gerichts zu Art. 41 GG. 53 Unter Berufung auf diese Passage im Urteil von 1975 wird in einer gemeinsamen Stellungnahme einiger Landesregierungen zum Verfahren des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1993 die Ansicht vertreten, „auch das Grundrecht des Art. 4 I GG verlange, daß die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft gerechtfertigt sei. [ . . . ] Das heiße nicht, daß alle Entscheidungen über Annahme oder Abbruch der Schwangerschaft Gewissensentscheidungen wären. Dennoch sei es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die Gewissensentscheidung als die Regel und den Fall, in dem die Gewissensdimension verstellt und verkannt sei, als die Ausnahme anzusehen."54 Die Antragsteller dieses Verfahrens 55 führen dagegen zur Begründung der Nichtigkeit des neuen § 219 StGB an, die gesetzliche Ausgestaltung der Schwangeres Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8292. 49 Konrad Weiß (Bündnis 90/Die Grünen), Sten.Ber., S. 8251. 50 Ζ. B. § 10 des Entwurfes der SPD-Fraktion für ein „Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruches", BT-Drucks. 12/841 v. 21.6. 1991,S. 11. 51 BVerfGE 39, 1 (54); BVerwG 89, 260 (262). Vgl. BVerfGE 88, 203 (294), jetzt mit Art. 2 I iVm. Art. 12 I GG begründet (!). 52 Bosch/Habscheid, Nochmals: Vertragspflicht und Gewissenskonflikt, JZ 1956, S. 297 ff. (300); Mayer-Maly, Das staatliche Arbeitsrecht und die Kirchen, Essener Gespräche 10 (1976), S. 127(149). 53 BVerfGE 39, 1 (48 f.). 54 Gemeinsame Stellungnahme der Landesregierungen von Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein nach BVerfGE 88, 203, 243 ff. (248).

2 Filmer

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e Gewissensbegriff im Recht

schaftsberatung werde in ihrem Kern, wonach Ziel der Beratung sei, die Schwangere in die Lage zu versetzen, eine verantwortungsbewußte eigene Gewissensentscheidung zu treffen (§ 219 I 3), verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. „Mit dieser verfehlten Umschreibung werde ein falsches Vorverständnis erzeugt, das zu Denk- und Argumentations verboten führe und geeignet sei, die unkontrollierbare Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch mit dem Schein einer verfassungsrechtlich geschützten Gewissensentscheidung zu umgeben."56 Auch in der juristischen Literatur wurde im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1993 die Auffassung vertreten, die auf Art. 4 1 GG zielende „Rhetorik" gehe fehl und stelle lediglich einen Versuch dar, die Entscheidung der Schwangeren auf eine höhere Ebene zu heben und damit vor „juristischen Anfechtungen aller Art" zu schützen; die auch vom Bundesverfassungsgericht für eine durch Art. 4 I GG geschützte Gewissensentscheidung geforderte Unbedingtheit sei bei Entscheidungen für einen Schwangerschaftsabbruch nur in besonders gelagerten Ausnahmefallen denkbar. 57 Dementsprechend stellte das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 28. 5. 1993 fest, der Gesetzgeber könne mit der Beratungsregelung nicht an frühere Formulierungen des Gerichts (BVerfGE 39, 1, 48) anknüpfen. Die Frau, die sich nach Beratung zum Schwangerschaftsabbruch entschließe, könne „für die damit einhergehende Tötung des Ungeborenen nicht etwa eine grundrechtlich in Art. 4 I GG geschützte Rechtsposition in Anspruch nehmen. Verfassungsrechtlich zulässig kann das Gesetz nur eine gewissenhaft zustande gekommene und in diesem Sinne achtenswerte Entscheidung meinen." Und an die Adresse des Bundestages: „Dies wird in geeigneter Weise klarzustellen sein." 58 Bei einem erneuten Versuch der Neuregelung der Materie hat der Bundestag am 26. 5. 1994 einen, vom Bundesrat später nicht angenommenen, Gesetzentwurf 59 beschlossen, der in § 2191 StGB als Ziel der Beratung normiert, zu „helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen". 60 Ziel der Beratung ist es danach auch, der Schwangeren „bewußt" zu machen, daß das Ungeborene zu jeder Zeit ein eigenes Recht auf Leben hat und ein Schwangerschaftsabbruch nur in außergewöhnlichen, die zumutbare Opfergrenze übersteigenden Ausnahmesituationen, die denen der Indikationen des § 218a StGB vergleichbar sind, in Betracht kommt. Dem entspricht die seit dem 21. 8. 1995 geltende Neufassung des § 219 I 55

Die Bayerische Staatsregierung und 249 Mitglieder des Deutschen Bundestages im Verfahren nach Art. 92 I Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG. 56 Zit. nach BVerfGE 88, 203, 238 ff. (242). 57 Starck, Chr., Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung?, S. 31. 58 BVerfGE 88, 203 (308); vgl. die Formulierungen ebd., S. 283: „Verantwortung" als „Grundlage einer gewissenhaften Entscheidung", S. 268: „gewissenhafte Ausübung" von „Verantwortung". 59 BT-Drucks. 12/7660; Entwurf der Fraktionen von CDU/CSU und FDP. 60 BR-Drucks. 529/94 vom 27. 5. 1994, S. 14.

Α. Einleitung

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2, 3 StGB. 61 Auch andere Gesetzentwürfe sprachen von einer „eigenverantwortlichen und gewissenhaften Entscheidung"62 oder einer „verantwortlichen und gewissenhaften Entscheidung"63, wurden jedoch zum Teil auch weiter mit dem Beratungsziel begründet, eine „Not- und Konfliktlage mittels einer verantwortungsbewußten eigenen Gewissensentscheidung zu bewältigen. 64 " Als Gewissensentscheidung betrachtet wohl die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten auch die jeweils eigene Haltung zur Regelungsmaterie des Schwangerschaftsabbruchs und das daraus resultierende Abstimmungsverhalten in dieser Sache. Dies wird wiederum besonders deutlich an der Debatte des Bundestages vom 25. 6. 1992, in der das „Gewissen" des Abgeordneten ebenfalls in mehr als der Hälfte der Reden zur Sprache kommt. 65 Dabei treten auch in diesem Zusammenhang wieder verschiedenste Vorstellungen von der Rechtsqualität einer Gewissensentscheidung und der Bedeutung des Gewissensbegriffs zutage. Viele dieser Äußerungen lassen schon nicht klar erkennen, ob sie überhaupt als Aussagen zum Recht gemeint sind. Wo dies doch der Fall ist, wird in einigen Fällen auch auf eine gesetzliche Grundlage, auf Art. 38 I 2 GG („nur ihrem Gewissen unterworfen") Bezug genommen. Die Vorschrift wird zum Teil explizit genannt66 oder auch vor dem Bundestagsplenum67 zitiert, zum Teil wird nur pauschaler auf die „Verfassung" verwiesen. 68 Als Inhalt dieser Rechtsposition wird entweder die dem einzelnen Abgeordneten verbürgte „Gewissensfreiheit" 69 benannt oder die „Pflicht des Gewissens"70, in der jeder einzelne Abgeordnete stehe. Auch die Frage, was eine Entscheidung des Abgeordneten zur Gewissensentscheidung macht, wann der Abgeordnete aufgrund seines Gewissens berechtigt oder gefordert ist, wird sehr unterschiedlich beantwortet. Ein Teil der Abgeordneten hält dies für den nicht an besondere Voraussetzungen geknüpften Regelfall, der auch für das Abstimmungsverhalten keine prinzipiellen Unterschiede begründe. 71 61 BGBl. I, S. 1050. 62 Entwurf der FDP-Fraktion v. 17. 1. 1995. 63 Entwurf der SPD-Fraktion, BT-Drucks. 13/27, v. 17. 11. 1994, S. 4. 64 Ebd., S. 7. 65 Vgl. o. bei Anm. 25. Plenarprotokoll 12/99, Sten.Ber., S. 8223-8358; 66 von 107 Abgeordneten. 66 Dr. Axel Wernitz (SPD), Sten.Ber., S. 8343. 67 Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (FDP), Sten.Ber., S. 8335; Dr. Eckhart Pick (SPD), Sten.Ber., S. 8348. 68 Renate Schmidt (SPD), Sten.Ber., S. 8298; vgl. auch Wolfgang Börnsen (CDU/CSU), ebd., S. 8393: „fundamentales Recht"; Gisela Schröter (SPD), ebd., S. 8436: „Grundregeln der parlamentarischen Demokratie". 69 Renate Schmidt (SPD), (Anm. 68). 70 Dr. Axel Wernitz (SPD), (Anm. 66). 71 Dr. Immo Lieberoth (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8344, „nicht nur bei einer Abstimmung wie heute, sondern jedesmal"; vgl. Renate Schmidt (SPD), Sten.Ber., S. 8298: „Gewissens2*

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Von anderen wird demgegenüber der Ausnahmecharakter einer nur vom einzelnen Abgeordneten nach seinem Gewissen zu treffenden Entscheidung betont, die sich „elementar von der Fülle unserer sonstigen parlamentarischen Geschäfte" unterscheide. 72 In manchen Redebeiträgen wird zumindest der Eindruck erweckt, die Möglichkeit einer persönlichen Gewissensentscheidung verlange von den Fraktionen einen „Entschluß, die anstehenden Entscheidungen dem Gewissen jedes einzelnen [ . . . ] zu übertragen." 73 Statt dieser mehr formalen Voraussetzung werden in der Debatte auch andere Umstände genannt, deren Vorliegen ausnahmsweise eine Gewissensentscheidung des Parlamentariers ermögliche oder erzwinge. Solche Umstände sind etwa die besondere Komplexität 74 oder die besondere ethische Qualität 75 der häufig als „Gewissensfrage" 76 bezeichneten Regelungsmaterie des Schwangerschaftsabbruchs. Dabei wird zum Teil vom Vorliegen einer solchen Gewissensfrage darauf geschlossen, daß es „verbindliche Mehrheitsentscheidungen nicht geben kann" 77 und deswegen der einzelne Abgeordnete nur nach seinem Gewissen entscheiden könne. Zum Teil wird nicht von der Unmöglichkeit einheitlicher Entscheidungsbildung (etwa durch Mehrheitsbeschluß innerhalb der Fraktion) ausgegangen, sondern im Gegenteil von der Notwendigkeit einer Entscheidungs- und Mehrheitsfindung innerhalb des Parlaments, die Gewissensentscheidungen erfordere, „wenn wir hier eine Mehrheit finden wollen, [ . . . ] wenn wir uns entscheiden wollen". 78 freiheit 44 als „Selbstverständlichkeit44; Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste), Sten.Ber., S. 8338: „das sollte immer so sein44. 72 Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), Sten.Ber., S. 8284; weniger strikt: Dr. Axel Wernitz (SPD), Sten.Ber., S. 8343: „Mehr als bei anderen Entscheidungen...44; Dr. Eckhart Pick (SPD), Sten.Ber., S. 8348: „gelegentlich44. 73 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Sten.Ber., S. 8280; ebd.: „Entscheidung, die Abstimmung [ . . . ] aus den Zwängen von Koalitions- und Fraktionsabsprachen zu entlassen und der persönlichen Gewissensentscheidung jedes einzelnen Abgeordneten zu überantworten44; vgl. Carl-Ludwig Thiele (FDP), Sten.Ber., S. 8442: „Aufhebung der Fraktionsbindung44. 74 Wolfgang Ehlers (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8322: „vor der wohl kompliziertesten Entscheidung, die von jedem Abgeordneten dieses Hohen Hauses nur seinem Gewissen folgend getroffen werden kann44; vgl. Dr. Jürgen Schmude (SPD), Sten.Ber., S. 8288: „sehr schwierige Entscheidung44; Hartmut Bittner (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8449: „schwierige Gewissensfrage44. 75 Ζ. B. Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), Sten.Ber., S. 8284: Entscheidung „fundamentaler Natur [ . . . ] Grundfragen unserer Daseinsordnung betrifft 44. Christel Hanewinckel (SPD), Sten.Ber., S. 8248 verknüpft die Notwendigkeit einer Gewissensentscheidung des Abgeordneten mit der Notwendigkeit, in der gleichen Sachfrage auch der einzelnen Schwangeren eine rechtlich ungebundene Gewissensentscheidung zuzubilligen; vgl. Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Sten.Ber., S. 8281; vgl. S. 8388. 76 S. Anm. 77 u. ζ. B. Dr. Hans de With (SPD), Sten.Ber., S. 8242; Dr. Bertold Reinartz (CDU/CSU), Sten.Ber, S. 8427. 77 Hans-Ulrich Klose (SPD), Sten.Ber., S. 8254.

Α. Einleitung

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Gewissensentscheidungen werden jedoch nicht nur - wie bei den bisher genannten Auffassungen - objektiv, unabhängig von der Person des einzelnen Abgeordneten bestimmt, sondern auch subjektiv, als unvermittelte Folge höchstpersönlicher Dispositionen, Werthaltungen oder Überzeugungen des einzelnen Parlamentariers in bezug auf die konkrete Regelungsmaterie.79 Wo vom Gewissen des Abgeordneten die Rede ist, wird von einigen Rednern die Gewissens/rez7ie/r hervorgehoben, von anderen die mit dem Gewissen verbundene Verpflichtung. 80 Der Betonung von Gewissensfreiheit liegt meist ein negativer Freiheitsbegriff zugrunde, wobei offenbar sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber bestehen, wovon dem Abgeordneten Freiheit gegeben ist. Angeführt werden etwa die Freiheit von einer durch die „Fraktionsführungen [ . . . ] verordneten Beschlußlage"81, die „vollkommene" Freiheit von „Fraktionszwängen"82 oder die Abwesenheit von Versuchen, „auf Mitglieder der Fraktion auf andere als argumentative Weise Einfluß zu nehmen"83. Nach Ansicht mancher Abgeordneter ist auch der von einer „Vielzahl von Experten für Sittlichkeit und Ethik" erzeugte „Druck" geeignet, den Abgeordneten , jener Freiheit zu berauben, die für eine verantwortliche Gewissensentscheidung unbedingt benötigt wird" 8 4 ; dabei erscheint die Gewissensfreiheit als nicht nur innerhalb von Parlament und Fraktionen wirksam, sondern wird auch gerichtet etwa gegen eine „Kampagne konservativer Lebensschützer aus allen Ecken der Bundesrepublik, mit der die Bundestagsabgeordneten [ . . . ] überzogen werden" und die als „massiver Angriff auf [ . . . ] die Gewissensfreiheit des Abgeordneten" verstanden wird 8 5 . Insbesondere auch „gegenüber den unerträglichen Bevormundungsversuchen durch die katholische Kirche und manche ihrer Gefolgsleute" wird die Gewissensfreiheit der Abgeordneten verteidigt und „Widerstand" zur „Pflicht" erklärt. 86 78 Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8320; vgl. Horst Gibtuer (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8403: „Dennoch haben wir die Pflicht zur Entscheidung. [ . . . ] So bleibt nur die Gewissensentscheidung jedes einzelnen Volksvertreters...". 79 Vgl. die Nachweise bei Anm. 88. so S.o. Anm. 69 u. 70; vgl. Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), Sten.Ber., S. 8284 f.; vgl. Anm. 81 ff. 81 Dr. Eckhart Pick (SPD), Sten.Ber., S. 8348. 82 Dr. Sigrid Semper (FDP), Sten.Ber., S. 8324. 83 Hans-Ulrich Klose (SPD), Sten.Ber., S. 8254; vgl. auch die Beiträge S. 8290; 8292; 8306; 8442. 84 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Sten.Ber., S. 8280. 85 Gisela Schröter (SPD), Sten.Ber., s. 8436; dagegen Dr. Hans de With (SPD), Sten.Ber., S. 8242. 86 Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (FDP), Sten.Ber., S. 8335; vgl. moderater Wolfgang Börnsen (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8393. Die Kirchen spielen insgesamt eine wichtige Rolle in zahlreichen Redebeiträgen von Mitgliedern sämtlicher Fraktionen. Teilweise wehrt man

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Wo der Verpflichtungsaspekt des Gewissens betont wird, wird auch die Frage nach dem Maßstab aktuell, den der Abgeordnete anzulegen hat, wenn er sein Verhalten im Parlament an seinem Gewissen ausrichtet. Dabei erscheint den einen als Gewissensentscheidung offenbar nur eine solche Entscheidung, die die eigenen moralischen Vorstellungen optimal verwirklichen kann 87 ; dagegen fordert für andere das Gewissen kein »moralisches Optimum4, sondern ein »moralisches Minimum 4 , die Beachtung für den Einzelnen nicht hintergehbarer moralischer Mindeststandards, mit denen das eigene Verhalten noch vereinbar sein muß. 88 Für beide Auffassungen ist die Gewissensentscheidung jedenfalls abzugrenzen von „rein taktischen44 (Kompromiß-) Entscheidungen.89 Im Gegensatz dazu betont ein anderer Ansatz, daß es sich um eine „Entscheidung zwischen dem kleineren und dem größeren Übel44 handele.90 Die Gewissensentscheidung bestimmt sich danach nicht in erster Linie durch inhaltliche Handlungsmaßstäbe, sondern ist durch die Art und Weise ihres Zustandekommens geprägt: sie wird getroffen durch „Abwägung aller Umstände und Fakten 4491 , im Bewußtsein der Entscheidungsfolgen 92, nach „sorgfältiger 4493 oder „gewissenhafter Prüfung 4494, sie ist vor allem eine Entscheidung, bei der man es sich „nicht leicht gemacht4495 hat.

sich gegen kirchliche „Einmischung", „Bevormundungsversuche" (S. 8335), „Gewissenspatronage" (S. 8282) oder kirchlichen „Amtsmißbrauch" (S. 8399), vgl. auch z. B. S. 8310; 8323; 8340; 8345; 8349 usw. Teilweise hebt man die positive Rolle der Kirche hervor, die ein allgemeines Interesse, „kein speziell kirchliches Anliegen" vertrete (S. 8283), im „Dialog" (S. 8324) besondere Legitimation besitze und einen besonderen „Auftrag" wahrnehme (S. 8288; 8320; 8257); vgl. auch S. 8326; 8422 usw. Einige Abgeordnete berufen sich, um die Begründung der eigenen Position zu stützen, auf konkrete Äußerungen der Kirchen oder ihrer Repräsentanten (z. B. S. 8231; 8264; 8283; 8395; 8396; 8423 usw.). 87 Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste), Sten.Ber., S. 8338 f.; vgl. Petra Bläss (PDS/Linke Liste), Sten.Ber., S. 8351. 88 Maria Eichhorn (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8302 f.: „mit dem Gewissen vereinbaren können; ähnlich Eva-Maria Kors (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8323; Jürgen Koppelin (FDP), Sten.Ber., S. 8418; Dr. Dorothee Wilms (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8446; vgl. Wolfgang Ehlers (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8322: „Bestehen wir [ . . . ] vor unserem Gewissen und vor Gott?"; Alfons Müller (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8421: „Mein Gewissen verbietet mir ..."; Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8450: „Mein Gewissen läßt keine andere Entscheidung zu"; vgl. auch S. 8283 und 8297. 89 Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste), Sten.Ber., S. 8338 f. 90 Dr. Immo Lieberoth (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8345; vgl. Dr. Peter Ramsauer (CDU/ CSU), Sten.Ber., S. 8425.

91 Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), Sten.Ber., S. 8284. 92 Irmgard Karnatzki (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8226. 93 Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD), Sten.Ber., S. 8284. 94 Dr. Axel Wernitz (SPD), Sten.Ber., S. 8344. 95 Dr. Bruno Menzel (FDP), Sten.Ber., S. 8244; Petra Bläss (PDS/Linke Liste), Sten.Ber., S. 8351.

Α. Einleitung

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Manche Abgeordnete verweisen mit ihren Formulierungen auf feststehende Wendungen aus Amtseiden und beamtenrechtlichen Rechtssätzen, wonach Entscheidungen „nach bestem Wissen und Gewissen" zu treffen sind. 96 In anderen Debattenbeiträgen werden die inhaltlichen Maßstäbe des Gewissens konkreter bezeichnet. Zahlreich sind Bezugnahmen auf christliche Handlungsmaßstäbe97; in einigen Beiträgen wird zumindest der Eindruck erweckt, das »christliche Gewissen* sei ohnehin die einzige Erscheinungsform des Gewissens.98 Andere Redner wenden sich gegen jegliche Form von „Kollektivgewissen" oder „Gruppengewissen"99 und streichen den „höchstpersönlichen" Charakter jeder Gewissensentscheidung heraus und damit eine Bindung an nur individuell zu bestimmende persönliche höchste Werte 100 . Ein ganz anderes Verständnis vom Gewissen des Parlamentariers offenbart sich, wo ausdrücklich betont wird, eine Gewissensentscheidung bedeute für den Abgeordneten „nur, daß er vor seinem Gewissen eine in seinem Wahlkreis mehrheitlich vertretene Meinung in die Abstimmung einbringt." 101 Zu diesem Zwecke legt man das „Stimmungsbild" in der Bevölkerung zugrunde 102, oder man hat die unterschiedlichen Gesetzentwürfe bereits vor der parlamentarischen Debatte bei Mitgliederversammlungen von Partei-Kreisverbänden zur Abstimmung gestellt und glaubt so, bei der eigenen „Gewissensentscheidung [ . . . ] die grundsätzlichen Interessen unserer Partei berücksichtigt zu haben". 103 Übereinstimmung besteht in der Debatte vom 25. 6. 1992 wohl nur darüber, daß man Gewissensentscheidungen anderer Abgeordneter mit Respekt zu begegnen habe. 1 0 4 Darüber aber, was die besondere Qualität des Gewissens und einer Gewissensentscheidung ausmacht, herrscht wenig Einigkeit; ebensowenig darüber, welchem Zwecke die Berufung des Abgeordneten auf das Gewissen dient: der Mehrheitsfindung oder dem Schutz des einzelnen Abgeordneten, der Wahrung objekti96 Dr. Jürgen Schmude (SPD), Sten.Ber., S. 8288; ebenso Dr. Bruno Menzel (FDP), Anm. 98. Vgl. u. Teil 1 D)I)1), S. 35 ff. 97 Ζ. B. Maria Eichhorn (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8302 f.; Wolfgang Ehlers (CDU/ CSU), Sten.Ber., S. 8322; Wolfgang Börnsen (CDU)CSU), Sten.Ber., S. 8393; vgl. auch ebd., S. 8421; 8450; 8252; 8280. 98 Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8342; Maria Eichhorn (CDU/ CSU), Anm. 97. 99 Hans A. Engelhard (FDP), Sten.Ber., S. 8289; Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (FDP), Sten.Ber., S. 8335. 100 Wie Anm. 99; vgl. auch Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD, Sten.Ber., S. 8284 f.; Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8291; Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU), Sten.Ber., S.8347. ιοί Dr. Immo Lieberoth (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8344; vgl. Petra Bläss (PDS/Linke Liste), Sten.Ber., S. 8351. 102 Dr. Immo Lieberoth (CDU/CSU), Anm. 104. 103 Manfred Kolbe (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8417. 104 Vgl. ζ. B. S. 8252; 8280 f.; 8284; 8287; 8289; 8291; 8322; 8323; 8324 usw.

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ver Werte oder der Verbesserung der Diskussion, einer stärkeren Beachtung des Wählerwillens oder der Imagepflege 105 des Parlaments. Dennoch wird der Begriff des Gewissens im parlamentarischen Betrieb immer häufiger zu einem zentralen Argument, ob bei der Debatte über den Sitz der Bundesregierung oder in den Auseinandersetzungen um das Staatsziel Umweltschutz, um Auslandseinsätze der Bundeswehr oder um ein neues Transplantationsgesetz.106 Wo hier die Grenze verläuft zwischen juristischer und moralischer Semantik sowie zwischen juristischer Argumentation und politischer Rhetorik, ist schon wegen der Eigenarten des Gewissensbegriffs sicher nicht immer eindeutig zu bestimmen. Auch im obersten Rechtssetzungsorgan der Bundesrepublik herrscht jedenfalls wenig Einigkeit darüber, was der Begriff „Gewissen" als Bestandteil des jeweils zu beachtenden Verfassungsrechts (z. B. Art. 4 I; 38 I 2 GG) und als Bestandteil (selbst gesetzter) einfachgesetzlicher Rechtssätze (z. B. § 219 I StGB) bedeuten und bewirken soll. Die Präsidentin des Bundestages beschließt ihren Redebeitrag in der Debatte vom 25. 6. 1992 dem entsprechend kritisch: „Ich finde problematisch, was in den letzten Wochen über Gewissen und Gewissensentscheidung gesagt worden ist, und will dies hier nicht vertiefen." 107

B. Der begriffliche Rahmen Das Beispiel der Diskussion um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs hat bereits vielfache Bezüge des Gewissensbegriffs im Recht angedeutet. Im folgenden 108 sollen Bezugnahmen auf das Gewissen im Recht systematisch dargestellt werden. Dazu bieten sich zunächst zwei Wege an: Erstens eine Darstellung der Berufungen einzelner Personen auf ihr Gewissen sowie der zugrundeliegenden Motive und Ziele; zweitens eine Darstellung staatlicher Berücksichtigungen des Gewissensarguments im Recht. Der erstgenannte Weg stößt jedoch auf erhebliche praktische Schwierigkeiten. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß sich das erforderliche Material nicht systematisch erfassen läßt: Gerichtsurteile etwa spiegeln in ihrer veröffentlichten Form Berufungen auf das Gewissen meist nur dann wider, wenn ein Rechtssatz - in aller Regel kommt nur Art. 4 I GG in Betracht - den Bezug auf das Gewissen rechtlich relevant macht. Umgekehrt lassen viele Gerichtsurteile, die bei der Anwendung von Art. 41 GG undifferenziert von „Glaubens- und Gewissensfreiheit" sprechen, nicht mehr erkennen, ob sich der Grundrechtsträger tatsächlich auf 105 Vgl. Dr. Eckhart Pick (SPD), Sten.Ber., S. 8348 „... angeschlagenes Image in der Bevölkerung ein wenig zu verbessern." 106 Vgl. FAZ v. 19. 12. 1994, S. 1; v. 7. 12. 1995, S. 1, 7; FR v. 12. 12. 1995, S. 4; FAZ v. 16. 12. 1993, S. 1; v. 17. 2. 1993, S. 5. Vgl. R. Schmidt, Verfahrensökonomie und Gewissensfreiheit bei der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes, ZParl 1998, S. 263 ff. io? Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU), Sten.Ber., S. 8292. los Unter D., S. 35 ff.

Β. Der begriffliche Rahmen

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sein „Gewissen" berufen hat. 109 Das Gewissen als Argument des Bürgers gegen den Staat muß deshalb im Rahmen der (potentiellen) Anwendungsfälle des Grundrechts der Gewissensfreiheit und seiner einfachgesetzlichen Konkretisierungen dargestellt werden. 110

Systematisch darzustellen ist dagegen, wo und mit welcher abstrakten Zielsetzung der Staat als Akteur, 111 gesetzgebende und gesetzesanwendende staatliche Stellen den Begriff des Gewissens in das Recht aufnehmen. Die Untersuchung soll dabei das Recht als Summe abstrakter und konkreter rechtlicher Regelungen umfassen. Dazu zählen die im Grundgesetz positivierten Äußerungen des Verfassungsgesetzgebers ebenso wie unterverfassungsrechtliche allgemeine Rechtssätze; daneben aber auch „freie Bezüge" 112 auf den Gewissensbegriff im Prozeß der Rechtsanwendung, die keine unmittelbare Anknüpfung im Wortlaut abstrakt-genereller Rechtsnormen finden (Rechtsprechung ist Setzung individueller Rechtsnormen 113). Zum geltenden „Recht" sollen nicht nur solche Rechtsnormen zählen, die gerichtsförmiger Anwendung, Sanktionierung oder zwangsweiser staatlicher Durchsetzung zugänglich sind; berücksichtigt werden vielmehr auch die zumindest als „Kulturwert" für den Staat unverzichtbaren 114 unvollkommenen Rechtsnormen („leges imperfectae", „soft law"), die keine Durchsetzungs-, sondern nur eine Anwendungschance haben. 115 Gesetzliche Regelungen der Länder enthalten häufig genaue Parallelen zu denen des Bundes; sie sollen nur bei beachtlichen Abweichungen erwähnt werden. Gelegentliche historische und rechtvergleichende Seitenblicke auf deutschsprachige

109 Das ist zweifelhaft insbesondere bei Inanspruchnahmen des Grundrechts durch Muslime oder Angehörige anderer nichtchristlicher Glaubensgemeinschaften. no Teil 2, B., S. 166 ff. m Diese Perspektivenwahl beruht auf den genannten pragmatischen Gründen; sie soll und muß nicht einen substanzhaft oder organisch gedachten, vorgegebenen Staatswillen zum materiellen Ausgangspunkt der Untersuchung machen. 112 Vgl. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 183. Vgl. ebd., S. 47 ff. 113 Vgl. etwa F. Müller, Juristische Methodik, 4. Aufl. 1990, S. 26 f. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 15. 114 Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, S. 94, 17 f. Vgl. dazu Sendler, Skeptisches zur Wahrheit im Verfassungsstaat, NJW 1998, S. 2260 ff. 115 Die 'Erzwingbarkeit' ist zwar nach allgemeiner Auffassung notwendiges Merkmal einer Rechtsordnung, nicht aber jeder einzelnen Rechtsnorm. Die Zugehörigkeit imperfekter Normen zur Rechtsordnung ergibt sich aus dem formalen Kodifizierungs- oder Ableitungszusammenhang zur insgesamt als zwangsbewehrt charakterisierbaren Ordnung. Vgl. Th. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 17 ff. (26 ff.) m.w.N.; Weinberger, Moral und Vernunft. Beiträge zu Ethik, Gerechtigkeitstheorie und Normenlogik, 1992, S. 94 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 168; Merten, Handlungsgrundrechte als Verhaltensgarantien - zugleich ein Beitrag zur Funktion der Grundrechte, VerwArch 73 (1982), S. 103 (107) m.w.N. Speziell zu den an der Spitze der Normenhierarchie stehenden Verfassungsrechtsnormen vgl. Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 1985, S. 7.

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schweizerische und österreichische Rechtssätze sollen nur die Funktion von Bezugnahmen auf das Gewissen im heutigen Recht der Bundesrepublik erhellen. Gegenstand der Darstellung sind rechtliche Regelungen, die den Begriff „Gewissen" oder eine seiner Ableitungen enthalten. Zu diesen rechnet auch die adverbiale bzw. adjektivische Form „gewissenhaft", 116 selbst wenn sie in der Alltagssprache heute eigenständige Bedeutungsgehalte gewonnen hat. Noch zu Beginn des Jahrhunderts hieß „gewissenhaft" handeln in erster Linie „sein Gewissen betätigen", „nach freiem Gewissen handeln" usf.; „Gewissenhaftigkeit" bildete den Kontrastbegriff zu „Gewissenlosigkeit".117 Schon zu diesem Zeitpunkt hatte der Begriff jedoch eine gewisse Bedeutungsverengung erfahren: Insbesondere im Zusammenhang der an Gewicht gewinnenden Bewertung beruflichen oder geschäftlichen Handelns ist der Maßstab dieser Bewertung zunehmend weder ein religiös begründeter noch ein ethisch reflektierter; ihr Gegenstand ist nicht die handelnde Person als solche, sondern der einzelne in vorgeprägten sozialen Rollen („gewissenhafter" Kaufmann, Arzt, Handwerker usf.). 118 Maßstab und Bezugspunkt solcher Bewertung ist nicht unmittelbar das Gewissen als grundlegende Anlage oder Fähigkeit des einzelnen Menschen, sondern ein sachlich, technisch oder durch Konventionen des Alltagslebens vorgegebener Kanon von Verhaltensregeln. Dementsprechend erläutern aktuelle Wörterbücher „gewissenhaft" zum Teil nur als „sorgfältig, genau, zuverlässig". 119 Zum Teil werden aber auch Beziehungen hergestellt zum - personenbezogenen - Begriff der „Verantwortung". 120 Darüber hinaus kann freilich der einzelne auch Normen eines (Berufs-) Ethos121 als moralisch verpflichtend und insofern als ,Gewissenssache4 betrachten. Für ein Einbeziehen der „Gewissenhaftigkeit" in die Untersuchung spricht zudem, daß auch der Gewissensbegriff im allgemeinen Sprachgebrauch sehr weite und unspezifische Bedeutungsgehalte annehmen kann. Nur bei einer Berücksichtigung beider Begriffe kann man auch möglichen Bedeutungsunterschieden in den verschiedenen Fassungen des § 219 StGB 122 nachgehen. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird schließlich zum Teil der Begriff der „Gewissenhaftigkeit" ausdrücklich von der „bloßen Sorgfalt 44 abgegrenzt,123 so daß die folgende Betrachtung ihn nicht übergehen kann.

U6 Vgl. ο. Α., bei Anm. 38,62 f., 94. 117

Wunderlich, Art. „gewissenhaft44, in: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bnd. IV 1/3,1911, Sp. 6289 ff.; ders. y Art. „Gewissenhaftigkeit", ebd., Sp. 6296 ff. us Ebd., Sp. 6290 f. 119 Brockhaus Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bnd. III, 1981, S. 211. Vgl. auch das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bnd. II, 1967, S. 1585. 120 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bnd. III, 2. Aufl. 1993, S. 1333; Duden, Bnd. X, Das Bedeutungswörterbuch, 6. Aufl. 1970, S. 291. 121 Vgl. Kluxen, Ethik des Ethos, 1974, insbes. S. 22 f. 122 Vgl. ο. A. bei Anm. 13 ff., 63. Vgl. BVerfGE 88,203 (268,283, 308). 123 Franz Zimmermann, Das Gewissen im Recht, besonders in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Verbotsirrtum, Diss., Münster 1954, S. 28, zit. nach Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff in Gesetzgebung und Rechtsprechung seit 1945, 1972, S. 52 f. m.w.N. Vgl. Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension des Gewissens und der Unverletzlichkeit der Gewissensfreiheit des Richters, 1979, S. 13 ff.

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Gleiches gilt - trotz möglicher Bedeutungsverschiebungen oder -Verengungen auf amts- oder berufsspezifische Verhaltensanforderungen - für den Gebrauch des Gewissensbegriffs in feststehenden formelhaften Wendungen; die verbreitetste von ihnen ist die Formel „nach bestem Wissen und Gewissen", 124 die zunächst literarische Verwendung fand, um dann seit Beginn des 18. Jahrhunderts vor allem als Bestandteil von Amts- und Berufseiden zu dienen. 125 Bedeutungsunterschiede im rechtlichen Gebrauch sind anhand einzelner Rechtsnormen zu entwickeln. Zweifeln kann man allerdings, ob es solche Bedeutungsunterschiede überhaupt geben kann. Stimmen in der Literatur meinen, der Gewissensbegriff müsse - als sachgeprägter Begriff - für die gesamte Rechtsordnung einheitlich bestimmt werden. 126 Demgegenüber wird überwiegend angenommen, es könne keinen einheitlichen Rechtsbegriff des Gewissens für die gesamte Rechtsordnung geben, Rechtsbegriffe seien abhängig von ihrem jeweiligen praktischen Bezug. 127 Danach ist etwa „das Gewissen des Art. 38 nicht dasselbe wie das des Art. 4, nämlich nicht die absolut unabhängige innere Stimme, sondern das gebundene ,Amtsgewissen*, das an das Amtsethos, an die Pflicht, das Amt des Parlamentsmitglieds ,nach bestem Wissen und Gewissen4 oder »gewissenhaft4 wahrzunehmen, gebunden ist." 1 2 8 Doch fragt sich dann, ob der Gewissensbegriff, soweit er auf eine außerrechtlich vorgegebene Wirklichkeit verweist, vollkommen 129 unterschiedliche Realitäten erfaßt, wie diese sich unterscheiden und welche Gemeinsamkeiten sie vielleicht aufweisen. Meint das »Amtsgewissen' eine vollkommen andere vorgegebene Realität 124 Vgl. ο. A. bei Anm. 96. !25 Wunderlich, Art. „Gewissen", in: J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bnd. IV 1 / 3, 1911, Sp. 6219 ff. (6256). Vgl. Heyen, Über Gewissen und Vertrauen des Abgeordneten, Der Staat 25 (1986), S. 35 ff. (45 ff.); Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 15 mit FN 16. 126

Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung. Die verfassungsrechtlichen Garantien religiöser Freiheit unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, 1997, S. 11 ff. Von einer Identität der Gewissensbegriffe in Art. 4 I GG und Art. 38 I 2 GG gehen ζ. B. auch aus: Pieroth, in Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1997, Art. 38, Rdn. 26; H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 30, Achterberg, Die Abstimmungsbefugnis des Abgeordneten bei Betroffenheit in eigener Sache, AöR 109 (1984), S. 505 ff. (511 ff.). Vgl. auch Brinkmann, Grundrecht und Gewissen im Grundgesetz, 1965, insbes. S. 356 ff., 376 f. 127

Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 28 (1970), S. 146 ff. (146 f.); Kästner, Individuelle Gewissensbindung und normative Ordnung, ZevKR 37 (1992), S. 127 ff. (135). Vgl. schon W Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. Grundfragen des Rechts, 1963, S. 61 ff. 128 Henke, BK, Art. 21, Rdn. 80. Vgl. zum „Amtsgewissen" zuerst Heyen, Zur immanenten Grenze der Gewissensfreiheit beim Mandatsverzicht, DÖV 1985, S. 772 ff. (774); Bethge, Gewissensfreiheit, HStR VI, 1989, § 137, Rdn. 9; Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 124. Vgl. auch Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 18 („Abgeordneten-Gewissen").

™ E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28 (1970), S. 33 ff. (66, 85); Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 25.

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als das »Bürgergewissen'? Der direkte Blick auf den (konkreten oder abstrakten) Gegenstand des Gewissensbegriffs verbietet sich dem Juristen jedoch erstens - aus pragmatischen Gründen - wegen dessen „labyrinthischer Vieldeutigkeit" 130 und zweitens - aus rechtlichen Gründen - wegen fast unausweichlicher Konflikte mit dem Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates.131 Die meisten jüngeren Arbeiten zum Grundrecht der Gewissensfreiheit bemühen sich daher um eine Konkretisierung des Gewissensbegriffs aufgrund von Erkenntnissen empirischer Humanwissenschaften. 132 Die Attraktivität dieses Vorgehens liegt vor allem in der Erwartung von Objektivität und weltanschaulicher Neutralität naturwissenschaftlicher Methoden. Diese Erwartung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen» daß dem Substantiv „Gewissen" keine vorgegebene „anthropologische Substanz", keine »»fixierbare anthropologische Instanz" korrespondiert. 133 Jede empirische Beschreibung und Erklärung von Gewissensphänomenen ist immer schon durch die sprachliche (alltagssprachliche und geisteswissenschaftliche) Umgrenzung und Vorprägung ihres Untersuchungsgegenstandes mitbestimmt. Das eng mit dem „Über-Ich" verbundene „Gewissen" Freuds 134 etwa ist nicht nur eine andere Deutung von Fakten, sondern bezieht sich auch auf andere Fakten, andere psychische Vorgänge als das („humanistische") „Gewissen" E. Fromms 135 oder das („ethische") „Gewissen" C. G. Jungs 136 . Eine sich als Naturwissenschaft verstehende Psychologie betrachtet aufgrund dieser Abhängigkei130

Stoker, Das Gewissen. Erscheinungsformen und Theorien, 1925, S. 3. BVerfGE 12,45 (54 f.) zu Art. 4 GG: „Bei der Auslegung der Bestimmungen bedarf es deshalb keiner Auseinandersetzung mit theologischen und philosophischen Lehren über Begriff, Wesen, Ursprung des Gewissens; sie überschritte die Kompetenz des Richters und wäre auch rechtlich unergiebig, weil über viele der hier auftretenden Probleme in den zuständigen Disziplinen tiefgehende Meinungsverschiedenheiten bestehen." Zu diesem Versuch „neutraler Grundrechtsinterpretation" vgl. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 206 mit FN 320. 132 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 1989, S. 139. Vgl. u. a. Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978. 131

1 33 Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (1991), 1995, S. 289, 410. Vgl. Blühdorn, Art. „Gewissen I", in: Theologische Realenzyklopädie, Bnd. XIII, 1984, S. 192 ff. (195 ff.). 134 Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders., Gesammelte Werke (1942 ff.), 4. Aufl. 1967, Bnd. XIV, S. 419 ff. (482 f., 490, 501 ff.); ders. Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), ebd., Bnd. XV, S. 65 ff. Vgl. dazu Kittsteiner, Die Entstehung, S. 389 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, 1983, S. 53 ff.; Klier, Gewissensfreiheit, S. 35 ff.; Andreae, Gewissensbildung und Gewissensurteil in psychoanalytischer Sicht, in: Βöckle/Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S. 244 ff. (244 f., 248 ff.). 155 Fromm, Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie (1954), in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. v. R. Funk, Bnd. II, 1980, S. 1 ff. (91 ff.); ders., Philosophische Anthropologie und Psychoanalyse. Freuds Modell vom Menschen, in: Rocek/ Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, 1972, S. 84 ff. (90 ff.). 1 36 C. G. Jung, Das Gewissen in psychologischer Sicht, in: Das Gewissen, hrsg. v. C. G. Jung - Institut Zürich, 1958, S. 185 ff.

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ten das Gewissen zum Teil gar nicht mehr als legitimen Forschungsgegenstand. 137 Auf der anderen Seite bleibt auch der von manchen Geisteswissenschaftlern beschrittene Ausweg, den Gewissensbegriff wegen seiner Vieldeutigkeit schlicht für nicht „vernünftig verwendbar" zu erklären, 138 dem Juristen verschlossen: durch die Verwendung des Begriffs im positiven Recht ist er zu seiner Konkretisierung gezwungen. Der Jurist bleibt also dazu aufgerufen, den Rechtsbcgnff des Gewissens zu konkretisieren, ohne verbindliche Auskunft darüber zu geben, was das Gewissen ist. Das Bundesverfassungsgericht versucht bei der Anwendung des Art. 4 GG diesem Dilemma dadurch zu entkommen, daß es einen „allgemeinen Sprachgebrauch" zur rechtlichen Definition erhebt: 139 Unter „Gewissen" ist danach „ein (wie auch immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind." 1 4 0 In einem zweiten Schritt definiert das Gericht die Gewissensentscheidung als „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse* orientierte Entscheidung [ . . . ] , die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte." 141 Schon der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts wurde in der Literatur heftig kritisiert: den einen, konkreten und subsumtionsfähigen allgemeinen Sprachgebrauch gebe es in bezug auf den Gewissensbegriff nicht und könne es nicht geben. 142 Dieser Kritik ist jedoch entgegenzuhalten, daß ein allgemeiner Sprachgebrauch im Sinne eines allgemeinsten, kleinsten gemeinsamen Nenners praktisch für jeden Begriff erhoben werden kann. Insofern ist der Rückgriff auf den allge137 Petrilowitsch, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Das Gewissen als Problem, 1966, S. VII ff. m.w.N. Das spiegelt sich auch in der Behandlung des Gewissens in modernen enzyklopädischen Werken zur Psychologie wider, die den Gewissensbegriff häufig gar nicht gesondert behandeln oder nur kurz auf das Freudsche „Über-Ich" verweisen. 138

Kamiah, Philosophische Anthropologie. Sprachliche Grundlegung und Ethik, 1973, S. 142, 140 („säkularisiertes Relikt unserer überlieferten mythisch-religiösen Sprache"). Für den theologischen Gebrauch schon Rothe, Theologische Ethik, Bnd. II, 2. Aufl. 1869, S. 21 ff. Vgl. Honecker, Testimonium conscientiae. Was ist norma proxima des sittlichen Urteils?, in: Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 83 ff. (83); Zum Fehlen des Begriffs bei Karl Barth vgl. Honecker, Einführung in die Theologische Ethik. Grundlagen und Grundbegriffe, 1990, S. 126. !39 Aus der zur Begründung angeführten Entstehungsgeschichte (JöR, N.F., 1, S. 73 ff.) ergibt sich das nicht. 140 BVerfGE 12,45(54). hi BVerfGE 12, 45 (55). Vgl. BVerfGE 23, 191 (205); 45, 54 (55); 48, 127 (173 f.); 78, 391 (395). Vgl. BVerwG seit BVerwGE 23, 98 (98). 142 Vgl. etwa Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 67 m.w.N.; E. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 33; Freihalter, Gewissensfreiheit - Aspekte eines Grundrechts, 1973, S. 19.

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meinen Sprachgebrauch auch gar kein besonderer methodischer Kunstgriff, sondern nur die - nach herkömmlicher Methodik - jede Gesetzesauslegung einleitende und (grundsätzlich) begrenzende Wortlautinterpretation. 143 Problematisch ist am Vorgehen des Bundesverfassungsgericht nur, daß es das Wortlautargument überstrapaziert, ihm zu weitgehende Definitionselemente entnimmt. Das Gericht benennt bezeichnenderweise keine Quelle und keine Methode zur Erhebung des allgemeinen Sprachgebrauchs. 144 Es mag mit seiner Begriffseingrenzung ein heute unter Juristen für die Auslegung des Art. 4 GG „generell konsensfähiges Elementarverständnis" 145 des Gewissens zum Ausdruck gebracht haben; mit dem allgemeinen Sprachgebrauch ist dieses allerdings nicht identisch. Denn jedenfalls die Merkmale einer „unbedingten" Verpflichtung und einer drohenden „ernsten Gewissensnot" lassen sich einem allgemeinen Sprachgebrauch nicht entnehmen. Alltagssprachliche Wendungen wie etwa „ein gutes/schlechtes Gewissen haben" oder „sich ein Gewissen aus etwas machen" 146 stehen nicht notwendig in Zusammenhang mit „ernster Gewissensnot". „Gewissen" wird in diesen Wendungen auch nicht bloß metaphorisch gebraucht; vielmehr trägt das Wort selbst nach Auskunft zeitgenössischer Wörterbücher einen entsprechend weiten Bedeutungsgehalt: „Gewissen" ist danach das „Bewußtsein des Menschen von Gut und Böse im eigenen Verhalten, das Vermögen, sich moralisch selbst zu beurteilen" 147 , oder konkret das „Bewußtsein der Verpflichtung". 148 Die Wortverbindung „Gewissensentscheidung" bezeichnet danach - ebenso unspezifisch - eine „Entscheidung, die jemand allein nach seinem Gewissen getrof143 Larenz, Methodenlehre des Rechts, 3. Aufl. 1975, S. 307, 309 (vgl. Neuauflage Canaris 1995, S. 141). Die Wortlautinterpretation liefert den sprachlich möglichen Rahmen. Vgl. im Ergebnis nicht anders F. Müller, Juristische Methodik, S. 182 ff. m E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 67 mit FN 110. 145 Loschelder, Art. „Gewissen III", StL, Bnd. II, 1986, Sp. 1056 ff. (1056). 146 Vgl. etwa Mackensen - Deutsches Wörterbuch, 10. Aufl. 1982, Stichwort „Gewissen"; Wunderlich, Art. „Gewissen", Sp. 6280, 6270 ff., 6246 mit vielen weiteren Beispielen. Vgl. Stoker, Das Gewissen, S. 17 f. 147 Brockhaus Wahrig, sen".

Deutsches Wörterbuch, Bnd. III, 1981, S. 211, Stichwort „Gewis-

148 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bnd. III, 2. Aufl. 1993, S. 1333, Stichwort „Gewissen": „Bewußtsein von Gut und Böse des eigenen Tuns; Bewußtsein der Verpflichtung einer bestimmten Instanz gegenüber". Vgl. Mackensen (Anm. 146): „die innere Stimme, Fähigkeit des Menschen, gut und böse zu beurteilen". Vgl. auch bereits das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bnd. II, 1967, S. 1585, Stichwort „Gewissen": „sittliches Bewußtsein, innere Stimme, Fähigkeit des Menschen, Rechenschaft vor sich selbst abzulegen"; vgl. auch Trübners Deutsches Wörterbuch. Wörterbuch der deutschen Akademie, 1939/1943, S. 173 f. Ein so ermittelter „allgemeiner Sprachgebrauch" ist notwendigerweise kein allgemein geteilter, sondern ein aus einer Vielzahl besonderer Bedeutungen in besonderen Kontexten herausdestillierter Bedeutungskern, für den eine allgemeinste (weiteste, umfassendste) Definition steht. Vgl. auch Köbler/Pohl, Deutsch-Deutsches Rechtswörterbuch, 1991, S. 218 u. Köbler, Juristisches Wörterbuch, 1. Aufl., 1979 u. 7. Aufl. 1995: „Gewissen sind die Überzeugungen des Einzelnen vom sittlich gesollten Verhalten."

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fen h a t " . 1 4 9 Auch das Bundesverfassungsgericht selbst verwendet den Begriff in anderem Zusammenhang in dieser weiten Bedeutung, wenn es von „achtenswerten Gewissensentscheidungen" spricht, die der zu Art. 4 GG entwickelten Definition aber gerade nicht genügen. 1 5 0 So ist es auch keine „Tautologie", den Begriff der „Gewissensentscheidung" mit dem der „Gewissensnot" zu definieren, 1 5 1 sondern eine begriffliche Eingrenzung, die lediglich ihre Gründe nicht offenlegt. Soviel läßt sich mit einem M i n i m u m an inhaltlicher Festlegung sagen: Der Gewissensbegriff bezeichnet das reflexiv auf das eigene Verhalten gerichtete Bewußtsein von Gut und B ö s e . 1 5 2 Dabei können „Gewissen" und „Bewußtsein" (die ihre gemeinsame etymologische Wurzel i m griechischen „syneidesis" und lateinischen „conscientia" haben) 1 5 3 unterschiedlich abstrakt sein: Sie können zeitlich mehr oder weniger konkrete einzelne Gewissens- oder Bewußtseinsinhalte (Urteile/Zustände oder längerfristige Überzeugungen /Dispositionen) zum Gegenstand haben oder, meistens, das allgemeine Vermögen (oder die allgemeine Anlage) eines (des) Menschen zu solchen Bewußtseinsinhalten. 1 54 Das Gewissen zeichnet sich aus durch das reflexive, auf das eigene Verhalten 1 5 5 gerichtete Werten nach den, wie auch immer zu konkretisierenden, Kategorien von ,Gut' und »Böse4. Diese (wenn 149 Duden. Das große Wörterbuch (Anm. 146); vgl. Brockhaus Wahrig (Anm. 146): „Entscheidung, die man nur allein nach dem eigenen Gewissen treffen und vor seinem Gewissen verantworten muß". 150 BVerfGE 39, 1 (48) zum Schwangerschaftsabbruch; vgl. ο. A. bei Anm. 58.

151 So aber Isensee, Gewissen im Recht. Gilt das allgemeine Gesetz nur nach Maßgabe des individuellen Gewissens?, in: Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 41 ff. (51). 152 Vgl. Härle, Art. „Gewissen", EvStL, Bnd. I, 3. Aufl. 1987, Sp. 1144 ff. (1148) („Modus des Selbstbewußtseins"). Vgl. Reiner, Art. „Gewissen", in: Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bnd. III, 1974, Sp. 574 ff. (589); Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe hrsg. v. Weischedel, Bnd. VIII, Neuausgabe 1977, S. 574. 153 H. Chadwick, Art. „Gewissen", in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bnd. X, 1978, Sp. 1026 ff. Vgl. Ch. Maurer, Art. „συειδησις", in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bnd. VII, 1964, S. 897 ff. (910 ff); Zucker, Syneidesis-Conscientia, 1928. 154 Vgl. Härle, Art. „Gewissen", Sp. 1148; Reiner, Art. „Gewissen", Sp. 591, 575 f. Zur entsprechenden zunehmenden Verselbständigung und Abstraktion des Gewissens im Gewissensbegriff vgl. Wunderlich, Art. „Gewissen", Sp. 6219, 6226; in der Theologie des 18. Jh. vgl. Kittsteiner, Die Entstehung, S. 86, 88, 98 f. Zur parallelen Unterscheidung von „conscientia" und „synteresis" in der Scholastik vgl. Störmer-Caysa, Einleitung, in: dies., Über das Gewissen. Texte zur Begründung der neuzeitlichen Subjektivität, 1995, S. 7 ff. (insbes. S. 12 f., 19 ff.). Zu den entsprechenden Bedeutungsebenen von „Bewußtsein" vgl. Neuhäusler, Art. „Bewußtsein", in: ders., Grundbegriffe der philosophischen Sprache, 1967, S. 37 f. 155 Dazu rechnet jedenfalls in einer weiten Bedeutung des Gewissensbegriffs sowohl das vergangene als auch das zukünftige Verhalten. „Gewissen" ist vorausgehendes (conscientia antecedens) und nachfolgendes (conscientia subsequens) Gewissen. Vgl. die Auseinandersetzung damit bei Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, u. a. S. 1, 24, 49, 87 ff. „Reflexiv" ist das vorausgehende Gewissen in bezug auf zukunftsgerichtete Verhaltensrnpi/ve. Zur Differenz von prospektiven und retrospektiven Urteilen in Recht und Ethik vgl. Weinberger, Moral und Vernunft. Beiträge zu Ethik, Gerechtigkeitstheorie und Normenlogik, 1992, S. 87 ff.

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auch nur individuell vollziehbare oder erfahrbare) 156 moralische Normbezogenheit ist wesentlicher sachlicher Aspekt der innerseelischen Realität des Gewissens. 1 5 7

C. Funktionen des Gewissensbegriffs im Recht Die dargestellte abstrakte Kernbedeutung - so lautet die i m folgenden zu überprüfende These - trägt der Gewissensbegriff bei allen Verwendungen im Recht einheitlich. Die Bezugnahme auf das Gewissen enthält immer einen Bezug auf außerrechtliche Normativität, nicht-rechtliche Verhaltenspflichten (,Gewissenspflichten 4 ); sie ist ein ausschnitthaft positivierter Aspekt des Verhältnisses von Recht und Moral und macht dieses Verhältnis explizit. Weitere Konkretisierungen ergeben sich, wenn man den Blick darauf lenkt, mit welcher Intention der Staat den Gewissensbegriff im Recht jeweils verwendet, welche Funktion die Bezugnahme auf das Gewissen im Recht jeweils hat. Typisierte Funktionen erschließen sich vor dem Hintergrund der parallelen handlungsleitenden Normativ- oder Verpflichtungsstruktur von Moral und Recht, ,Gewissenspflichten 4 und an den einzelnen gerichteten Rechtspflichten. Man kann das Recht begreifen als ein System verhaltenslenkender Normen. 158 Hier braucht nicht zu interessieren, inwieweit man von einem geschlossenen „System" ausgehen kann 159 und inwieweit Rechtsnormen andere als (unmittelbar) verhaltenslenkende, selbständige Funktionen haben können. Jedenfalls läßt sich die Struktur von verhaltenslenkenden Rechtsnormen in bezug auf ihre Wirkungen gegenüber Rechtsunterworfenen nach dem binären Systemcode von Ver-/Gebot und Erlaubnis (Freistellung)160 beschreiben; nach Verhaltensmöglichkeiten beschränkenden »Sollsätzen4 und Verhaltensmöglichkeiten erweiternden »Darfsätzen', 161 „Imperativen" und „Permissiven".162 Das Verhalten des Rechtsunterworfenen ist im Ergebnis rechtlich normiert (festgelegt) oder freigestellt (durch explizite Freistellung oder unmittelbar durch die Begrenztheit staatlicher Imperative). 163 156

Zu daraus resultierenden Schwierigkeiten vgl. u. Teil 2, B.I.3.a)bb), S. 184 f. Für Art. 4 GG F. Müller, Normbereiche von Einzelgrundrechten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1968, S. 20 f.; ders., Juristische Methodik, S. 43. Vgl. - trotz Betonung der empirischen Faßbarkeit des Gewissens - auch Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 12. Aufl., 1996, Rdn. 574; 13. Aufl., 1997, Rdn. 522 ff.; Klier, Gewissensfreiheit^. 143 f., 145 ff., 160 ff. (162). •58 Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 4. 157

159 Vgl. zu dieser Frage etwa Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 154 ff., 429 ff.; v.d. Pfordten, Deskription, Evaluation, Präskription: Trialismus und Trifunktionalismus als sprachliche Grundlagen von Ethik und Recht, 1993, S. 409 ff. m.w.N. 160 „Freistellung" bezeichnet den Fall, daß ein Verhalten weder geboten noch verboten ist. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 182 ff. Weinberger, Rechtslogik, 2. Aufl. 1989, S. 52, 55 f. 162 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 1977, Bnd. IV, S. 245. Vgl. Lampe, Juristische Semantik, 1970, S. 51 ff., 61 ff. 16

3 Vgl. Lampe, Juristische Semantik, S. 61 ff. m.w.N.

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Die Struktur moralischen (das soll mangels weiterer objektiver Bestimmbarkeit zunächst einfach heißen: nicht-rechtlichen)164 Sollens kann man nach demselben binären Code begreifen. 165 Die staatliche Rechtsetzung (einschließlich der Rechtsprechung) interessiert sich allerdings nur für (ge- oder verbietende) moralische Normen (Imperative), die als »Gewissenspflicht' auftreten. Ob ein freistellendes oder freisprechendes (permissives) ,gutes Gewissen' als Gewissensargument anzuerkennen ist oder nicht, mag eine Fragestellung der Ethik sein; 166 für das Recht spielt diese Frage keine Rolle. Rechtliche und moralische Verhaltenspflichten können sich im konkreten Fall ambivalent zueinander verhalten. Sie können: - parallel verlaufen, den gleichen Gehalt hinsichtlich eines Verhaltens haben (ein Verhalten ist rechtlich wie gewissensmäßig ge- oder verboten) oder - entgegengesetzt verlaufen (ein Verhalten ist rechtlich geboten, aber gewissensmäßig verboten - oder umgekehrt 1 6 7 ). Im ersten Fall hat die Bezugnahme auf das „Gewissen" im Recht die Funktion, über den engeren Rahmen des Rechts - die Möglichkeiten zur definitiven und zwangsweise durchsetzbaren Verhaltenssteuerung - hinauszuverweisen (s. u. D.I.), im zweiten Fall hat sie die Funktion, einen Normkonflikt zu regeln (s. u. D.H.). Die Verweisung (D.I.) dient der Unterstützung staatlicher Normierungstätigkeit; der Staat nimmt das Gewissen gleichsam in Dienst, indem er appelliert oder Erwartungen ausdrückt. Der Verweis auf das Gewissen beinhaltet immer eine Soll-Aussage des Rechts, eine rechtliche Verpflichtung, nach dem „Gewissen" zu handeln.168

164 In sprachanalytischer Perspektive auf die Ethik kann man verschiedene Ansätze zur Qualifikation eines menschlichen Urteils als „moralisch" ausmachen (vgl. G. Scholz, Art. „Moral", in: Braun / Radermacher (Hrsg.) Wissenschaftstheoretisches Lexikon, 1978, Sp. 385 ff. (386)): universalisierbare Urteile; nicht rein hypothetische (an der Erreichung eines beliebigen Zwecks orientierte) Urteile; Vorrang beanspruchende Urteile; den Menschen als Menschen betreffende Urteile; gemeinwohlorientierte oder altruistische Urteile; allgemeine Zustimmung beanspruchende Urteile. 165 Vgl. Weinberger, Moral und Vernunft. Beiträge zu Ethik, Gerechtigkeitstheorie und Normenlogik, 1992, S. 412 ff; Kittsteiner, Die Entstehung, S. 289, 410. Vgl. die Darstellung bei W. Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonfirmismus, 1963, S. 68 ff.

κ* Vgl. Reiner, Die Funktionen des Gewissens (1971), in: Blühdorn (Hrsg.), Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 285 ff. (293 f., 316); dens., Art. „Gewissen", in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bnd. III, 1974, Sp. 574 ff. (576 f., 583 f., 589); Rüdiger, Der Beitrag der Psychologie zur Theorie des Gewissens und der Gewissensbildung, in: Blühdorn (Hrsg.), a. a. O., S. 461 ff. (475); Blühdorn, Art. „Gewissen", in: G. Müller u. a. (Hrsg.), Theologische Realenzyklopädie, Bnd. XIII, 1984, S. 192 ff. (202 f.). 167 Die Umkehrung macht keinen Unterschied, da sie nur davon abhängt, ob ein Verhalten positiv (als aktives Handeln) oder negativ (als Unterlassen) umschrieben ist. Vgl. ζ. B. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 15. 168 Oder, in der Retrospektive, als Wertungsmaßstab: nach dem Gewissen gehandelt haben zu müssen. 3 Filmer

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Mit der Konfliktregelung (D.n.) dagegen berücksichtigt und anerkennt der Staat außerrechtliche Normativität auch in ihrer potentiellen Gegenläufigkeit; er anerkennt das „Gewissen" als Grenze staatlicher Normierungstätigkeit. Inwieweit dies für den einzelnen eine rechtliche Freistellung seiner Verhaltensmöglichkeiten bedeutet, bedarf genauerer Betrachtung. Anhand dieser ambivalenten Funktionen von Bezugnahmen sollen die tatsächlichen Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht im folgenden dargestellt werden, ohne daß damit eine vollständige Auslegung der anzusprechenden Rechtssätze verbunden sein kann. Genauerer Betrachtung und weiterer Differenzierung bedarf die Verweisfunktion (D.I.). Zum Verweis auf das Gewissen greifen rechtsetzende staatliche Stellen, wo Verhaltenssteuerung durch Anwendung von Zwang (Vollstreckung oder Sanktionierung) oder - implizite oder explizite - Androhung von Zwang an Grenzen stößt. Diese Grenzen können entweder schon darauf beruhen, daß der Staat so vage oder komplexe Normierungsziele verfolgt, daß sich exakte Verhaltensregeln, die rechtsförmig anwendbar und durchsetzbar wären, gar nicht formulieren lassen. Sie können aber auch darauf beruhen, daß exakte Regeln zwar formuliert sind, deren tatsächliche Befolgung aber - aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen - schwer oder gar nicht zu kontrollieren ist. Der Verweis auf das Gewissen soll also Defizite4, Begrenztheiten der Setzbarkeit oder Durchsetzbarkeit von Recht kompensieren. Im Fall begrenzter Kontrollierbarkeit geht es dem Staat lediglich um die Befolgung eindeutig vorgegebener oder vorausgesetzter Verhaltensnormen. Die Realisierungschance dieser Verhaltensnormen soll erhöht werden durch (mehr oder weniger intensive) Verinnerlichung. Der Verweis auf das Gewissen hat eine Verstärkungsfunktion (D.I. 1.). Im Fall begrenzter Formulierbarkeit von Regeln sollen Rechtsnormen in ihrem Regelungsumfang erweitert oder ergänzt werden; der Verweis auf das Gewissen ist hier auch Verweis auf die Kompetenz von Individuen zu eigenverantwortlichem Werturteil, eigenverantwortlicher Entscheidung und Konkretisierung von Normen. Der Verweis auf das Gewissen hat eine Ergänzungsfunktion (D.I.2.). Das bedeutet: Der Staat kann, darf oder will innerhalb der Rechtsordnung Prinzipien nicht zu definitiven Regeln konkretisieren, auf der jeweiligen Ebene des Rechts Wertungen nicht vollständig selbst vornehmen und muß daher Befugnisse zur Vornahme von Wertungen »delegieren* bzw. Spielräume dazu offenlassen: Der Verfassunggeber für den Gesetzgeber, der Gesetzgeber für den Gesetzesanwender, das staatliche Organ für den Bürger. Die so entstehenden Spielräume von Verhaltensmöglichkeiten sollen aber nicht immer beliebig ausgefüllt werden, sondern unter Umständen gebunden an mehr oder minder explizite und mehr oder minder vage „Prinzipien", „Grundsätze" oder „Werte".

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht I. Verweisfunktion Häufig treffen sich im Verweis auf das Gewissen auch Verstärkungs- und Ergänzungsfunktion, überschneiden sich und lassen sich - in dem Maße, in dem die Verhaltenserwartungen des Staates nicht eindeutig sind - nicht immer eindeutig abgrenzen. Ihre idealtypische Unterscheidung bildet aber dennoch ein sinnvolles Gerüst für das Verständnis der Verweise auf das Gewissen.

1. Verstärkungsfunktion „Verstärkung" einer rechtlichen Verhaltensregel meint hier (primär) die Erhöhung der Befolgungschance durch Einwirkung auf den einzelnen Rechtsunterworfenen, die im wesentlichen nicht in der Anwendung oder Androhung von äußerem Zwang besteht. Solche Einwirkung ist im säkularen und nicht-identitären Staat 169 von vornherein heikel. Rechtsgehorsam ist grundsätzlich nur Gehorsam im äußeren Verhalten; Verhaltenssteuerung durch den Staat zielt grundsätzlich nicht auf das Innere, die höchstpersönlichen Überzeugungen des Menschen. Rechtspflicht ist nicht Gewissenspflicht. Der Staat beansprucht keine überpositive Verbindlichkeit, keine absolute (praktische) Wahrheit für das von ihm gesetzte Recht. Er sorgt nicht für die Moral und schon gar nicht für das Seelenheil des einzelnen. Dennoch betrachtet man es weithin als unumgänglich und legitim, daß der Staat - nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck - in besonderen Fällen (dort wo es um die Sicherung von Rechtsnormen geht, denen eine fundamentale Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen zugesprochen wird und/oder die eine besondere Gefahr der Mißachtung in sich tragen) das äußere Verhalten durch eine gewisse Verinnerlichung von Rechtsnormen zu beeinflussen sucht. Am deutlichsten wird das am staatlichen Verlangen zur Ableistung von Eiden (oder eidesgleichen Bekräftigungen). Der Eid hat auch in einem säkularisierten Verständnis die Funktion, den einzelnen in die „persönliche Verantwortung" für die Erfüllung seiner Rechtspflichten zu nehmen, 170 sein Verhalten „der Person zurechenbar zu machen"; 171 die Bereitschaft zur Pflichterfüllung soll, wenn man so will, eine auch „moralische Qualität" erhalten. 172 Vgl. u. Teil 2, A.I.l.c) u. d), S. 97 ff. 170 BVerfGE 79, 69 (77). Daß „der Versprechende mit seiner Person für das versprochene Verhalten einsteht". Das verlangt ,»nicht die vollkommene Identifizierung" mit den Wertungen der Verfassung. πι Podlech, Gewissensfreiheit und Beamteneid - BayVerfGHE 17,94, JuS 1968, S. 120 ff. (123). Das Verhalten verliert seine persönlichkeitsindifferente Qualität, wenn es durch das *

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Den Versuch einer Einwirkung auf den einzelnen im Sinne einer verstärkenden Verinnerlichung (Personalisierung, Moralisierung) von Rechtspflichten unternimmt der Staat unter expliziter Bezugnahme auf das „Gewissen" nicht nur in staatlichen Eiden, sondern auch in verschiedenen anderen Formen: Die einfachste Form ist die des einfachen, einseitigen Appells. Die Rechtsordnung gibt der besonderen Bedeutung einer Rechtspflicht und der besonderen staatlichen Erwartung ihrer Erfüllung im Gesetzestext Ausdruck. Sie unterstreicht die eigene Erwartung und appelliert an das Verantwortungsbewußtsein des einzelnen. Daneben existieren eine Reihe von, zum Teil sehr betagten, Rechtsinstituten, die den einzelnen Rechtsunterworfenen als Person miteinbeziehen, indem sie ihn zu einer verbalen Handlung verpflichten. 173 Diese verbale Handlung besteht im Versprechen eines bestimmten Verhaltens für die Zukunft oder im Beteuern eines bestimmten Verhaltens für die Vergangenheit. Sie ist an eine bestimmte Form gebunden: meist an das eigenhändige Unterzeichnen der schriftlich gefaßten Erklärung, der unter Umständen eine rechtliche Belehrung vorausgeht (so etwa § 1 des Verpflichtungsgesetzes 174 für Personen, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, ohne Amtsträger (§ 11 I Nr. 2 StGB) zu sein), oder an die Form einer - unter Umständen vor einem festgelegten, öffentlichen Forum abzulegenden - feierlichen Versicherung, eines Gelöbnisses oder eben eines Eides. 175 Das Versprechen kann durch eine symbolische Handlung wie den Handschlag, der Eid etwa durch das Handheben unterstrichen werden. Schließlich kann man vielleicht solche Maßnahmen des Staates als eigenständige Handlungsform einordnen, die den Adressaten von Rechtspflichten in (Beratungs-) Gespräche einzubinden versuchen. Als Beispiel mag die bereits angesprochene Schwangerschaftsberatung (§ 219 StGB) dienen. 176 Versprechen nach außen getretene Anerkennung erfahren hat und der Versprechende sich zumindest ein Stückweit mit der Norm „identifiziert" hat. Vgl. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 118 ff. (120) m.w.N.; Friesenhahn (dem die Schrift Podlechs gewidmet ist), Der politische Eid (1928), 1979, S. 119, auch S. Xf.,4, 24, 105 ff. Der personale Charakter solcher Versprechen kommt auch darin zum Ausdruck, daß sie die körperliche Präsenz des Versprechenden verlangen (vgl. ausdrücklich § 478 (807 II 2) ZPO: Sie sind „in Person" zu leisten). 172 Redeker, Der Anwaltseid - unzulässig und überflüssig, DVB1. 1987, S. 200 ff. (200) („wohl außer Streit"). 1 73 Die Pflicht zur Vornahme einer solchen Handlung ist freilich in der Regel sanktioniert; nicht zwangsbewehrt ist allerdings die mit der Vornahme erhoffte Wirkung auf die innere Bindung. 1 74 Gesetz über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen v. 2. 3. 1974 (BGBl. I, S. 469, 547). Vgl. etwa § 83 VwVfG. 175 Zur Differenzierung vgl. etwa Friesenhahn, Der politische Eid, S. 4, 7 f., 9 f.; ders., Über den Anwaltseid im Rahmen der neueren Entwicklung des politischen Eides, in: FS K. Carstens, Bnd. II, 1984, S. 569 ff. (571); Redeker, Der Anwaltseid, S. 201. Kirchschläger, Das Gelöbnis des Bundespräsidenten und dessen religiöse Beteuerung, in: FS Schambeck, 1994, S. 29 ff. (zum österreichischen Recht).

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Gerade der Eid ist als Rechtsinstitut seit der Zeit der Aufklärung umstritten und immer wieder Gegenstand von Reformdiskussionen. 177 Das liegt einmal daran, daß dem Eid, dem Gebrauch der Worte „ich schwöre", noch heute auch Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur einen „an sich" (objektiv) religiösen oder transzendenten Gehalt zusprechen. 178 So kann der Eid als unzeitgemäßes Relikt eines mythisch-religiösen Weltbildes betrachtet werden. 179 Doch auch wenn man den Eid unter dem Grundgesetz 180 als säkularisiertes „Versprechen ohne religiösen Bezug" betrachtet, das mit dem überkommenen Eid „nur noch den Namen gemein" hat, das „nicht mehr in Ansehung der Verantwortung des Schwörenden vor Gott, sondern allein im Hinblick auf die Verantwortung vor der im Staat vereinigten Volksgesamtheit und die ihr gegenüber bestehenden Pflichten" zu leisten ist, 1 8 1 erfährt das Rechtsinstitut meist distanziert-skeptische Betrachtung. Der Grund dafür liegt darin, daß es sich objektivierbarer Einschätzung und speziell einer juristischen Beurteilung entzieht, ob beim Eidleistenden eine innere Bindung als Verantwortung vor sich selbst und vor der sozialen Gemeinschaft besteht 182 und ob das natürliche Mißtrauen der Gemeinschaft gegenüber dem Eidleistenden verringert, Vertrauen geschaffen werden kann. 183 Diese Skepsis läßt sich übertragen auf alle Versuche einer Verinnerlichung von Rechts176 Vgl. ο. Α., S. 1 ff. Redeker, Der Anwaltseid, S. 203, schlägt etwa anstelle des Rechtsanwaltseids ein „Gespräch mit dem Kammerpräsidenten" vor. 177 Vgl. aus jüngerer Zeit Jasper, Treue und Eid, MDR 1983, S. 282 ff. (insbes. S. 283); Dahs, Der Eid - noch ein zeitgemäßes Instrument zur Wahrheitsermittlung im Strafprozeß?, in: FS Rebmann, 1989, S. 161 ff. (insbes. S. 161 ff.); umfassend bereits Hegler, Die Eidesreform, 1930, je m.w.N. Nachweise auch bei Erw. Stein, Eideszwang und Glaubensfreiheit. Zum Eidesproblem in der Rechts- und Religionsgeschichte, in: Gewissen und Freiheit 22 (1984), S. 5 ff. (6 ff.); Friesenhahn, Der politische Eid, S. 6 ff. Vgl. Vormbaum, Eid, Meineid und Falschaussage. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 1990. Kritisch speziell zum Eid des Rechtsanwalts Friesenhahn, Über den Anwaltseid im Rahmen der neueren Entwicklung des politischen Eides, in: FS K. Carstens, 1984, S. 569 ff. (575 ff.); Redeker, Der Anwaltseid (Anm. 172).

178 Erw. Stein, Eideszwang, S. 9 f., 12; Bethke, Eid, Gewissen, Treuepflicht, 1965, S. 58 ff.; Möller, Der Eid vor Gericht, RuP 1970, S. 14 ff. (19 f.); Bahlmann, Der Eideszwang als verfassungsrechtliches Problem, in: FS Arndt, 1969, S. 37 ff. (49). Vgl. Friesenhahn, Der politische Eid, S. 5, 8 m.w.N. Das impliziert nicht notwendig magische Vorstellungen einer bedingten Selbst-Verfluchung oder Selbst-Verpfändung. Vgl. vom theologischen Standpunkt Honecker, Art. „Eid" I, EvStL Bnd. I, 3. Aufl. 1987, Sp. 664 ff. m.w.N. 179 Vgl. etwa Podlech, Gewissensfreiheit und Beamteneid, S. 121 ff.; dens. Das Grundrecht, S. 118 ff. Einen deutlichen Widerspruch zu den Prinzipien des modernen Staates sehen auch Friesenhahn, Der politische Eid, S. 6; Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 308 ff. (313). 180 Ebenso bereits zur Weimarer Reichs Verfassung Friesenhahn, Der politische Eid, S. 9 ff.

181 BVerfGE 33, 23 (27 f.) mit Verweis auf Friesenhahn. 182 Friesenhahn, Der politische Eid, S. 105 ff. 183 Vgl. Friesenhahn, Der politische Eid, S. Xlf., 3, 23 f.; dens., Über den Anwaltseid, S. 585; Ε. E. Hirsch, Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides, in: FS Heinitz, 1972, S. 139 ff. (139, 143).

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

pflichten. Man muß sich erst damit abfinden, daß ζ. B. der Eid kaum noch als „bürgerliches Erpressungsmitter 184 funktionieren kann und überhaupt Wirkungen dieser Art - das kategorische Verbot manipulatorischer und indoktrinärer Beeinflussung vorausgesetzt 185 - für den Staat kaum gezielt herstellbar sind. Er ist weitgehend auf nicht absicherbare Erwartungen beschränkt; darauf, das Vorhandensein bestimmter (moralischer) Überzeugungen beim einzelnen vorauszusetzen oder doch jedenfalls die Bereitschaft, durch eigenen Willensentschluß Selbst-Bindungen einzugehen.186 Das kann man auch positiv bewerten: „Der Mensch wird in der Würde seiner sittlichen Eigenverantwortung ernst genommen, wenn und solange man darauf vertraut (vertrauen darf), ihn durch Gelübde in einem Bereich binden zu können, der keiner Zwangsvollstreckung zugänglich ist." 1 8 7 Das würde freilich in letzter Konsequenz verlangen, daß das Abgeben eines Versprechens dem Versprechenden immer freistehen müßte, 188 allenfalls durch Soll-Vorschriften 189 und organisatorische Maßnahmen 190 gefördert werden könnte. Die „Bindung im Gewissen", die speziell der Eid traditionell bewirken sollte, 191 kann man als Zweck des säkularisierten Eides in Zweifel ziehen. 192 Das macht jedoch nur Sinn, wenn man das Gewissen weiter als spezifisch religiöse Kategorie versteht; ist aber das Verständnis des Gewissens ebenso säkularisiert, 193 kann man 184 Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), IV. Stück, 1. Teil, 1. Abschn., in: Werkausgabe, hrsg. v. Weischedel, Bnd. VIII, 1977, S. 828 („auf bloßen Aberglauben, nicht auf Gewissenhaftigkeit gegründetes Zwangsmittel"). ι « Vgl. u. Teil 2, B.I.2.c)bb)bbb), S. 213 ff. 186 Das ist schon dem Sinn eines „Versprechens" (vgl. BVerfGE 79, 69 (77)) immanent. Vgl. Podlech, Gewissensfreiheit und Beamteneid, S. 122; Redeker, Der Anwaltseid, S. 203; Kirchschläger, Das Gelöbnis, S. 30. 187 Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegelrichterlicher Erfahrung, 1975, S. 43 f., der auch in einer säkularisierten Welt die Chance sieht, durch »formen von besonderer Eindringlichkeit" nachdrücklich auf den „Ernst" von Rechtspflichten hinzuweisen und diese „bewußt zu machen". Vgl. Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 11. 188 Vgl. etwa schon die eindringlichen Forderungen bei Friesenhahn, Der politische Eid, S. 7 f., 24. Das förmliche Versprechen dürfte auch nicht absolute Voraussetzung zur Aufnahme einer Berufs- oder Amtstätigkeit sein. Die Freiwilligkeit ist freilich dort unangebracht, wo das Versprechen / die Beteuerung zu Sanktionsverschärfungen führen kann (Zeugeneid, eidesstattliche Versicherung. Zu deren möglicher Reform vgl. Dahs, Der Eid (Anm. 177)). 189 Knoche, Der Eideszwang und das Gewissen, RuP 1970, S. 21 ff. (24). 190 Denen kommt ohnehin besondere Bedeutung in dem Maße zu, in dem man die erwünschten Wirkungen von der Feierlichkeit und Öffentlichkeit des Versprechens abhängig sieht. Vgl. Friesenhahn, Über den Anwaltseid, S. 570; Heimann-Trosien, Zur Beibehaltung und Fassung des Eides, JZ 1973, S. 609 ff. (612 f.), der zu Recht darauf hinweist, daß das Gewicht des Eides auch durch seine zahlenmäßige Beschränkung erhöht werden kann. Vgl. Möller, Der Eid, S. 20; Knoche, Der Eideszwang, S. 24. Die Freiwilligkeit einer Selbst-Bindung und der personale wie sozial-relationale Charakter des Versprechens wird in der Geste des Handschlags besonders plastisch. 191 Vgl. Erw. Stein, Eideszwang, S. 6, 10 ff. m.w.N.; Bahlmann, Der Eideszwang, S. 51. 192 Vgl. bei Friesenhahn, Der politische Eid, S. 10 m.w.N. BayVGHE 17, 94 (97 f.). 193 Vgl. BVerfGE 12, 45 (54 f.); o. B., S. 29 ff.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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unproblematisch auch die Funktion jedes Versprechens (sowie aller Versuche einer Verinnerlichung von Rechtspflichten) darin sehen, eine „Gewissensbindung", eine „gewissensmäßige Verstärkung" von Rechtspflichten hervorzurufen. 194 Alle Verweise auf das Gewissen bleiben allerdings - wie das Institut des Eides - der „Aporie" verhaftet, daß man mit theoretischen und praktischen Argumenten gleicherweise ihre soziale Funktion wie ihre Wertlosigkeit demonstrieren kann. 195

a) Das Gewissen des Auskunftspflichtigen Nach § 807 Π ZPO 1 9 6 hat der Zwangs Vollstreckungsschuldner, der ein Vermögensverzeichnis vorzulegen hat, „zu Protokoll an Eides statt zu versichern, daß er die von ihm verlangten Angaben nach bestem Wissen und Gewissen richtig und vollständig gemacht habe". In dieser oder ähnlicher Form ist die eidesstattliche Versicherung von erheblicher prozeßrechtlicher wie materiellrechtlicher Bedeutung; für die Glaubhaftmachung von Tatsachen in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (ζ. B. §§ 936, 920 II, 294 I ZPO) und Aufgebotsverfahren (§§ 952 ΙΠ, 985 f. ZPO; § 5 StVG), wie für das Erbrecht (§§ 2028, 2057, 2356 f. BGB) oder allgemein die privatrechtliche Rechnungslegung (§§ 259 f. BGB). 1 9 7 Der Gesetzgeber setzt sie ein bei Auskunftspflichten, die besonderes Gewicht haben oder (und) besonderes Mißtrauen hinsichtlich ihrer Erfüllung nahelegen, wenn und solange echte Beweismittel nicht greifbar sind. In diesen Fällen ist auch eine objektive Überprüfung der Aussagen meist schwierig. Die eidesstattliche Versicherung ist ein Instrument zur Stützung von Pflichten des Bürgers zu wahrheitsgemäßer und vollständiger Auskunfterteilung. Diese Funktion hat sie gemein mit dem - ebenfalls „assertorischen" 198 - Eid des gerichtlichen Zeugen, 199 wenn auch dieser in der Eidesnorm nur eine Aussage „nach bestem Wissen" verlangt (§ 66c StPO, § 392, S. 3 ZPO). Eid und eidesstattliche Versicherung begnügen sich allerdings nicht mit 194 Friesenhahn, Der politische Eid, S. IX, XI, 24, 105 ff., 112; ders., Über den Anwaltseid, S. 571, 572, 583, 585; E. E. Hirsch, Über die Gesellschaftsbezogenheit, S. 139,143. Vgl. Podlech, Gewissensfreiheit und Beamteneid, S. 122; Heimann-Trosien, Zur Beibehaltung, S. 610, 613. Dabei ist zu betonen, daß ein Versprechen grundsätzlich keine zusätzlichen Pflichten (oder Rechte) begründen, sondern nur bestehende, anderweitig begründete Rechtspflichten verstärken kann. Vgl. BVerfGE 63, 266 (295 f. m.w.N.); Friesenhahn, Über den Anwaltseid, S. 569, 572, 579 f., 583 f. 195

Vgl. zum Eid Friesenhahn, Der politische Eid, S. XII. 196 Ebenso § 98 I 1 InsolvenzO. 197 Die sog. Eidesnorm variiert je nach Sachgebiet und kann regelmäßig vom Richter auch dem Einzelfall angepaßt werden; vgl. ζ. B. § 261 II BGB.

i9« Unter „assertorischen44 Eiden versteht man gemeinhin solche, „durch die Gewißheit über eine Tatsache verschafft werden soll44, unter „promissorischen44 solche, durch die „die Erfüllung eines Versprechens gesichert werden44 soll. Friesenhahn, Der politische Eid, S. 18. Vgl. bereits die preuß. Allgemeine Gerichtsordnung von 1795, Erster Theil, Zehnter Titel, §246.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

einer „Verstärkung" von Rechtspflichten im hier behandelten Sinne, sondern begründen oder verschärfen darüber hinaus strafrechtliche Sanktionen für unwahre Aussagen (§§ 153 ff. StGB). Doch die strafrechtlichen Sanktionen greifen oft nicht; die Dunkelziffer nicht aufgedeckter Straftaten ist, Schätzungen zufolge, bei den Aussagedelikten besonders hoch. 200 Das kann man nun als Argument für die Notwendigkeit wie für die Nutzlosigkeit von Eid und eidesstattlicher Versicherung nehmen. Sicher scheint jedenfalls, daß beide Institute ihre - seit langem angefochtene Beibehaltung nicht nur der Sanktionsmöglichkeit, sondern auch ihrer appellativen, verinnerlichenden Funktion verdanken. Die strafrechtliche Sanktionierung von (ζ. B. gerichtlichen) Falschaussagen könnte jedenfalls, wie verschiedene Reformvorschläge zeigen, auch ganz von förmlichen Versicherungen abgelöst werden. Für deren, in der praxisorientierten juristischen Literatur heute wenig beachtete, appellative Funktion stehen (neben etwaigen religiösen Eidesformeln und entsprechenden Gehalten des Eidesbegriffs selbst) unter anderem die Formulierungen „nach bestem Wissen und Gewissen" und „nach bestem Wissen". Sie haben für den Inhalt und die strafrechtliche Bewertung der beeideten Aussagen keine praktische Bedeutung; 201 ihre Hauptfunktion ist vielmehr die einer „Ermahnung", ihr Zweck ist es, dem Aussagenden „vor Augen zu führen, welche Verantwortung" er bei der Erfüllung seiner Auskunftspflicht trägt. 202 Wie die strafrechtliche Sanktionierung dienen sie damit letztlich, im Ergebnis, der Gewinnung (objektiv) wahrer, genauer, vollständiger Aussagen. Wie jede Strafrechtsnorm 203 sind auch die Appelle aber unmittelbar auf das Verhalten des Rechtsunterworfenen gerichtet, haben eine verhaltenslenkende Funktion. Sie fordern von ihm bei seinen Äußerungen und bei der Gewinnung des ihnen zugrundeliegenden Vorstellungsbildes - modal Wahrhaftigkeit 204 und Sorgfalt (oder „Gewissenhaftigkeit" 205), das heißt eine Anstrengung, eine Aktivierung der ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Darstellungsfähigkeiten. 206 Sorgfaltspflichten dieser Art geht es um eine Überprü199 Der Zeuge nimmt - wenn auch nicht freiwillig - eine öffentliche Funktion im staatlichen Gerichtsverfahren wahr. 200 Dahs, Der Eid, S. 167 m.w.N.

201 BGHSt 7, 146 (147 f.); RGSt 65, 22 (28) (U.v. 24. 11. 1930); Lenckner, in: Schönke/ Schröder, StGB, v. § 153 ff., Rdn. 8. Vgl. Wilms, in: LK, StGB, vor § 153 ff., Rdn. 9. 202 RGSt 65, 22 (27) (U.v. 24. 11. 1930). Daneben kann man die Funktion für den Aussagenden in einem „Vorbehalt" sehen, daß er nur im Rahmen seiner begrenzten (!) Fähigkeiten aussage. So RGSt 65, 22 (27); Arth. Kaufmann, Die strafrechtlichen Aussagetheorien auf dem Prüfstand der philosophischen Wahrheitstheorien, in: FS Baumann, 1992, S. 119 ff. (128 f.). Vgl. Willms, vor §§ 153 ff., Rdn. 9. Kritisch Lenckner, vor §§ 153 ff., Rdn. 8. 203 im Falle der Aussagedelikte unabhängig davon, ob man einzelne Elemente des Verhaltens dem objektiven oder subjektiven Tatbestand zurechnet. 204 Vgl. Arth. Kaufmann, Die strafrechtlichen Aussagetheorien, S. 119, 129. 205 Vgl. o. B., S. 26 f. Das heißt nicht, daß sich die Bedeutung von „Gewissenhaftigkeit" darin erschöpfen muß. 206 Vgl. Willms, vor §§ 153 ff., Rdn. 9; Lenckner, vor §§ 153 ff., Rdn. 9 ff. Vgl. auch BGHSt 1, 5 (8); BGHZ 105, 205 (209 ff.).

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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fung, die Selbst-Prüfung und damit um eine gewisse Reflexivität des Verhaltens. 207 Die rechtliche Pflicht zu Wahrhaftigkeit soll dem Bewußtsein des einzelnen dabei nicht, gleichsam ,νοη außen4, implementiert werden; der Appell hofft vielmehr darauf, eine ihr entsprechende jedenfalls prinzipielle (moralische) Pflicht ins Bewußtsein rufen zu können, auf einem bestehenden grundsätzlichen Konsens aufbauen zu können; er rechnet damit, daß Wahrhaftigkeit, als Grundvoraussetzung menschlicher Kommunikation, für den einzelnen als (moralischer) Wert bereits existent ist. Daß der Appell, Auskünfte „nach bestem Wissen und Gewissen" zu geben, auch in neuen und neugefaßten Rechtsvorschriften präsent ist, zeigt ein Blick auf das Steuerrecht (wo das staatliche Mißtrauen - nicht ohne Grund - vielleicht besonders groß ist). Die Formel findet sich hier nicht nur als Bestandteil des »Offenbarungseides4 (§ 284 Π AO, § 807 Π ZPO entsprechend), sondern auch als allgemeiner gesetzlicher Appell: „Auskünfte sind wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu erteilen" (§ 93 ΙΠ 1 A O 2 0 8 ) . Dies ist im Rahmen einer Steuererklärung schriftlich zu versichern, eigenhändig zu unterschreiben (§ 150 Π, ΠΙ AO). Entsprechende Versicherungen verlangen eine Reihe von Vorschriften für spezielle Auskünfte. 209 Der appellative Gehalt der Formel „nach besten Wissen und Gewissen" geht durch die Verwendung des Gewissensbegriffs ein Stückweit über den einer Verpflichtung auf das „beste Wissen" hinaus. Das Reichsgericht hat dies in einer Entscheidung von 1930 gerade für das Steuerrecht herausgestellt: Anders als beim Zeugen stehe hier nicht der „Vorbehalt" zugunsten des Aussagenden (nur 207 Das wird besonders deutlich bei Eid und eidesstattlicher Versicherung in ihrer heute gebräuchlichen Form als Nach-Eid (ZPO und StPO stellten ursprünglich eine Eidesleistung vor oder nach der Aussage zur Wahl): Sie ermöglichen und verlangen ein Überdenken der Äußerung; schon durch ihre äußere (die Aussage wiederholende) Gestalt unterstützen sie die von der Sorgfaltspflicht geforderte Reflexivität des Verhaltens. Bei einer verhaltensbezogenen Sichtweise wird die gängige Differenzierung von „assertorischem" (Wahrheit einer Tatsache) und „promissorischem" (Versprechen eines Verhaltens) Eid durchaus fragwürdig. Der „assertorische" Eid unterscheidet sich dann nur dadurch, daß er die Beteuerung eines in der Vergangenheit liegenden (Aussage-) Verhaltens ist. Vgl. die parallelen Formulierungen in § 61 StPO 1877. Vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zur Civilprozeßordnung, 1880, S. 319, 313 f. Eine solche verhaltensbezogene Sicht ist grundsätzlich unabhängig vom Streit zwischen subjektiver und objektiver Aussagetheorie: Die objektive Aussagetheorie fordert, nicht nur einen Widerspruch zwischen „Wort und Wissen" zu vermeiden, sondern - durch weitergehende Aufklärungsbemühungen - auch einen Widerspruch zwischen „Wort und Wahrheit" (vgl. Arth. Kaufmann, Die strafrechtlichen Aussagetheorien, S. 120.). 208 § 93 ni 2 AO konkretisiert die Sorgfaltspflicht dahin, wenn nötig, Geschäftspapiere und andere Urkunden einzusehen und Aufzeichnungen daraus zu entnehmen.

209 (§ 2 Nr. 2 STADV i.d.F.v. 24. 3. 1988, § 3 II ZMDV i.d.F.v. 13. 5. 1993 für die Teilnahme an der automatischen Datenübermittlung; § 291 Bewertungsgesetz i.d.F.v. 9. 11. 1992; § 36 c I Einkommensteuergesetz i.d.F.v. 21. 12. 1993 usf.) Vgl. Anlage 1 zur UErgGDV, BGBl. 1964 III, 7601 -1-1, S. 20 f.; Anlage 3 zu § 13 I Schaumw/BranntwV, BGBl. 1971 I, S. 949.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

nach subjektivem Wissen aussagen zu können) im Vordergrund, sondern die auf „sein Wissen und seine Überzeugung" gerichtete „Ermahnung". 210 Das liege daran, daß vom Steuerpflichtigen nicht nur Auskunft über Tatsachen verlangt werde, er habe vielmehr auch „gewisse Schätzungen nach seinem Ermessen" und „Bewertungen" vorzunehmen; insofern lehne sich die Reichsabgabenordnung den prozeßrechtlichen Vorschriften über den Sachverständigeneid an, dessen Formulierungen in gleicher Weise über die des Zeugeneides hinausgingen (§ 79 I I StPO, §410 12 ZPO). 211 Eine solche bewußte Differenzierung zwischen den Eidesformeln läßt sich anhand der Geschichte dieser Vorschriften durchaus aufweisen. Bei Erlaß der Zivilprozeßordnung sah man zwar für eine „verschiedene Eidesnorm für Schätzungen und andere Gutachten ( . . . ) kein Bedürfnis"; 212 man übernahm aber die im preußischen Recht offenbar mit Absicht getroffene Unterscheidung. Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793/1795 übernahm die Formel „nach bestem Wissen und Gewissen" aus älteren Amtseiden 213 nunmehr für Sachverständige (Erster Theil, Zehnter Titel, §§ 152, 202: „nach ihrer besten Einsicht und Überzeugung", „nach ihrem besten Wissen und Gewissen, auch reifer Ueberlegung"). Die vom Zeugeneid abweichenden Formulierungen wurden durch eine königliche Verordnung von 1844, die erstmals den Zeugen ermahnte, „nach seinem besten Wissen die reine Wahrheit" zu sagen, noch verdeutlicht. 214 Der weitergehende Appell 2 1 5 korrespondiert weitergehenden - unvermeidbaren und unkontrollierbaren - tatsächlichen Verhaltensspielräumen des Sachverständigen, die durch eine Verinnerlichung von Rechtspflichten aufgefangen werden sollen.

Zur Verwendung der Versicherungsformel in privaten Verträgen vgl. ζ. B. BGH, WM 1988, S. 1566 ff. (1567); BGH, ZfSch 1993, S. 54 f.; BGH, JZ 1980, S. 523 (523). 210 U.v. 24. 11. 1930, RGSt 65, 22 (28 f., 27). 211 Vgl. u. b) ee), S. 52 ff.; RGSt 65,22 (28). Ursprünglich § 375 ZPO. 212 Man hielt die Eidesnorm für Sachverständige schlicht für „auch kurz und verständlich". Begründung zu § 362 des Entwurfs einer Civilprozeßordnung, Dt. Reichstag, II. Legislaturperiode, II. Session 1874, Hahn, Die gesamten Materialien, S. 319. Zur in der Folgezeit uneinheitlichen Rechtsprechung des Reichsgerichts zu der Frage, ob der Zeugeneid den Sachverständigeneid (oder umgekehrt) entbehrlich mache, vgl. RGSt 3, 100 (102 f.); RGSt 55, 183 (183 f.); RGZ 6, 1 (3); RGZ 9, 375 (378 f.). 213 Vgl. o. B., S. 27 m.w.N. in Anm. 125. Vgl. auch Friesenhahn, Der politische Eid, S. 65 (Eid der jülichschen Landstände). Nach Kap. I § 7 der Brandenburgischen Kriminalordnung von 1717 hatte der Gerichtshalter zu schwören: „daß ich diesem Amt nach meinem besten wissen und gewissen ( . . . ) warten wolle". Vgl. Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 15 mit FN 15. 214 § 1 der Verordnung wegen Abänderung der Eidesformeln ... v. 28. 6. 1844, GesetzSammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1844, S. 249 f. §§ 2 und 3 für Sachverständige: „ihrer Kenntnis und Erfahrung gemäß, nach sorgfältiger Prüfung, unpartheiisch und gewissenhaft"/„nach ihrem besten Wissen und Gewissen...". 215 Vgl. die bis heute weitergehende Eidesnorm des § 410 I 2 ZPO auch gegenüber dem Eid des Dolmetschers nach § 189 I GVG.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Freilich sind Absicht und Wirkung jedes Verweises auf das „Gewissen" zu Zeiten der preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung mit heutigen Verweisen schwer vergleichbar. Das zeigt das Gesetz allzu deutlich, wenn es etwa den Richter ausdrücklich verpflichtet, Zeugen und Sachverständige vor der Vereidigung nochmals daran zu erinnern, „ihr Gewissen zu bewahren". 216 Bereits vor der Vernehmung hatten diese eine schriftliche „Vorhaltung"217 zu lesen, die ihnen unter anderem die Folgen eines Meineides in drastischen Worten nahebringen sollte, die unaufhörlichen Züchtigungen eines „strafenden Gewissens": „Das Bewußtsein, ein solches Verbrechen begangen zu haben, störet alles zeitliche Glück; die Vorwürfe des Gewissens sind schrecklich und verfolgen den Frevler lebenslang, wenn er auch der Ahndung der Obrigkeit entgeht". Der Sachverständige soll wie der Zeuge jede „Verletzung seines Gewissens" und „jede Unterdrückung der Stimme des Gewissens verhüten".218

Daneben mag ein Verweis auf das Gewissen heute - sofern er überhaupt als solcher wahrgenommen wird - vergleichsweise harmlos und etwas hilflos wirken. Mit welcher Bedeutung und in welcher Gewichtung er das Gewissen als ein verletzliches, strafendes oder sprechendes in Erscheinung treten läßt, soll hier dahinstehen; im Grundsatz nehmen jedenfalls auch säkularisierte Gewissensbegriffe und säkularisierte Versicherungsformeln Bezug auf solche ,Gewissensfunktionen' 219.

b) Das Gewissen des Trägers öffentlicher

Aufgaben

Der Staat muß seine Aufgaben durch seine Organe, d. h. praktisch, durch das Handeln der Organwalter, sowie zum Teil auch durch die besondere Inanspruchnahme von Bürgern erfüllen. Das menschliche Handeln, auf das er angewiesen ist, läßt sich aber nicht allein gewährleisten durch die durch äußere Rechtsmacht erreichbare Reglementierung des äußeren Verhaltens. Seine darüber hinausgehenden Erwartungen bringt der Staat unter anderem in Verweisen auf das Gewissen zum Ausdruck; auch durch die Formel „nach bestem Wissen und Gewissen", die speziell als Bestandteil von Amts- und Berufseiden, aber auch generell im Rahmen sozialer Verantwortung das Gewissen zur Sprache bringt. 220 Mit dem Rekurs auf das „Gewissen" wird „Verantwortung und Verantwortlichkeit letztinstanzlich reklamiert", 221 wo nur generalklauselartige rechtliche Regelungen Handlungsspielräume offenlassen. 216 Erster Theil, Zehnter Titel, § 204. 217 Anhang zu §§ 188, 368 AGO. 218 Anhang zu § 368 AGO. Dem gewissenhaften Zeugen wird dagegen der Lohn eines ,»ruhigen Gemüthes" in Aussicht gestellt. Das Gewissen tritt hier, jedenfalls in erster Linie, neben Gott im Jenseits und der weltlichen Obrigkeit im Diesseits als Sanktionsinstanz auf. 219 Vgl. Reiner, Die Funktionen, S. 314 ff. 220 Höver, Einleitung - Normativität und Gewissen, in: ders. / Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 11 ff. (21). Die „argumentative Leistungskraft" liegt in der „praktischen und moralischen Zurechnung von Handlungen" (Ebd., S. 22). 221 Ebd., S. 21. Das Argument des „Gewissens" ist danach allerdings nur noch eine „Leerstelle", die für die „ungeklärte Präsenz des Subjekts" steht (ebd., S. 24).

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

aa) Verfassungsorgane Trotz der verfassungsrechtlichen Festlegung ihrer Aufgaben sind die faktischen Handlungsspielräume von Verfassungsorganen bzw. ihren Mitgliedern zwangsläufig besonders groß und Möglichkeiten zur rechtsförmigen Durchsetzung von Amtspflichten - auch bei Bestehen eines Verfassungsgerichts - begrenzt. Diesem Umstand verdanken auf „gewissensmäßige Verstärkung" 222 zielende Versprechen in Form von „politischen Eiden" - die trotz Anforderung und Ausgestaltung durch das Recht von der Rechtspraxis zum Teil gar nicht als Eide im Rechtssinne wahrgenommen werden ihre Bedeutung. Einen Abgeordneteneid kennt das Bundesrecht zwar nicht mehr; aber andere Träger verfassungsrechtlicher Funktionen (im materiellen Sinne) sind zur Ableistung von Eiden bei ihrem Amtsantritt verpflichtet. Der Bundespräsident schwört nach Art. 56 GG: „daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde." Dem entsprach Art. 42 der Weimarer Reichsverfassung weitgehend. Das insgesamt schlichter gehaltene225 Gelöbnis des österreichischen Bundespräsidenten spricht dagegen (insofern ohne Bedeutungsunterschied) statt von „gewissenhafter" Pflichterfüllung von einer solchen „nach bestem Wissen und Gewissen" (Art. 62 BVG). 2 2 6 In der Bundesrepublik schreibt das Grundgesetz (Art. 64 II) den Eid des Präsidenten auch für die Mitglieder der Bundesregierung vor. 2 2 7 Der Bundesgesetzgeber hat die Eidesformel immer wieder für Träger weiterer (materiell) verfassungsrechtlicher Aufgaben übernommen: für die Parlamentarischen Staatssekretäre, den Wehrbeauftragten des Bundestages, den Bundesbeauftragten für den Datenschutz,230 den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des DDIl-Staatssicherheitsdienstes231. 222 22

Friesenhahn, Über den Anwaltseid, S. 572. 3 Vgl. etwa Tilch, Deutsches Rechts-Lexikon, Bnd. I, 2. Aufl. 1992, S. 1069 ff.

224 Vgl. Friesenhahn, Der politische Eid, S. 64 ff. In Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern sehen die Geschäftsordnungen der Landtage förmliche Versprechen für Abgeordnete vor. Vgl. Demmler, Der Abgeordnete, S. 125 f.; Heyen, Über Gewissen, S. 35 ff. (44 f.). 225

Dazu Kirchschläger, Das Gelöbnis (Anm. 175). Für die Mitglieder der Bundesregierung vgl. Art. 72 BVG. 227 Zum Problem der Übertragung vgl. Schiaich, Der Status des Bundespräsidenten, HStR, Bnd. II, 1987, § 48, Rdn. 8 m.w.N. 22 » § 3 ParlStG vom 6. 4. 1967. 229 § 14 IV d e s Gesetzes über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages idF. v. 16. 6. 1982. 226

230 § 17BDSGv. 27. 1. 1977. 2

31 §35111 1 StUG v. 20. 12. 1991.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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bb) Richter

Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (§111) sah 1951 für die Richter des Bundesverfassungsgerichts bereits eine eidliche Bekräftigung der gewissenhaften Erfüllung ihrer richterlichen Pflichten vor, als der Gesetzgeber einen Eid für die übrigen Richter noch gar nicht normiert hatte. Entsprechende Eide auf „unparteiische und gewissenhafte" („en tout conscience") Amtswahrnehmung hatten auch bereits Richter der Europäischen Gemeinschaften zu leisten. 232 Einen allgemeinen Richtereid führte erst das Richtergesetz von 1961 (§ 38 I DRiG) ein: „Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe". Zuvor schrieb das Gerichtsverfassungsgesetz (§ 51 Π) nur für Schöffen einen besonderen Eid vor (die Pflichten eines Schöffen „getreulich zu erfüllen" und die „Stimme nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben").233 Verweise auf das „Gewissen" fanden sich darüber hinaus im geschriebenen Recht nur vereinzelt. So waren Richter etwa laut Art. 121 der Verfassung von Rheinland-Pfalz von 1947 in deutlicher Parallele zu Art. 21 WRV (Abgeordnetenstatus) 234 - „unabhängig, allein der Verfassung, dem Gesetz und ihrem Gewissen unterworfen." Eine entsprechende Formulierung enthielt der Herrenchiemseer Entwurf zum Grundgesetz (Art. 132). Das Grundgesetz verzichtete aber in seiner Bestimmung über die Unabhängigkeit des Richters (Art. 97 I) auf einen Verweis auf das Gewissen, um damit nicht die Bindung an das Gesetz aufzuweichen. 235 Das Thema »Richter und Gewissen' war nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zu Zeiten der »Renaissance des Naturrechts', bis in die 60er Jahre, nicht zuletzt auch bei den Überlegungen zur Gestaltung des langgeplanten Richtergesetzes236 von großer Bedeutung.237 Dabei ging es auch um die Gewissensfreiheit des Richters

232 Art. 2 der Satzung des EuGHKS (BGBl. 1952 II, S. 482). Ebenso heute Art. 2, 9 der EuGH-Satzung. 233 Heute entspricht der Eid der ehrenamtlichen Richter (§ 45 III DRiG) dem der Berufsrichter nach § 38 I DRiG. 234 Zu Art. 38 I 2 GG vgl. u. 2.a), S. 67 ff. 235 JöR N.F. 1, S. 716 f. Vgl. Holtkotten, BK, Art. 97, Anm. I m.w.N. 236 Bemühungen des Deutschen Richtertags seit 1911. Vgl. DRiZ 1911, S. 581. Vgl. Bundesjustizministerium, Referenten-Denkschrift zur Vorbereitung eines Richtergesetzes, 1954. 237 Vgl. etwa K. Peters, Das Gewissen des Richters und das Gesetz, in: Gegenwartsprobleme des Rechts, 1950, S. 23 ff.; F. Zimmermann, Das Gewissen, S. 26 ff.; Rotberg, Zu einem Richtergesetz, 1950, S. 12 ff. Vgl. auch Darmstädter, Richterliche Unabhängigkeit und Rechtsgewissen, DRiZ 1951, S. 169 ff.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

gegenüber einem von ihm gewissensmäßig abgelehnten Gesetz (ohne daß diese Frage praktisch relevant geworden wäre 238 ); diese Freiheit wurde jedoch nur als sekundäre Folge und notwendiges Korrelat der „Gewissensgebundenheit" gehandelt, einer Bindung nicht an moralische Maßstäbe des Individuums oder einer (Glaubens-)Gemeinschaft, sondern an ein objektiv vorgegebenes, erkennbares überpositives Recht. 239 Dem lagen offensichtlich die Erfahrungen der nächsten Vergangenheit zugrunde, die zum einen die Frage des „gesetzlichen Unrechts" aufdrängten, zum anderen aber wohl auch ganz allgemein zu Verunsicherung und Distanz im Hinblick auf staatliche Machtausübung führten: Es ging nicht nur um die Frage einer Bindung an das Unrechte Gesetz, sondern auch um Bindungen für die „enorme Freiheit und Machtfülle", die dem Richter aufgrund von Unbestimmtheit und Lückenhaftigkeit des geschriebenen Gesetzes in der alltäglichen Praxis der Gesetzesanwendung verbleibt. 240 Der Bindung an „das Gewissen" oder „das sittliche Gewissen", das seinerseits naturrechtlich gebunden verstanden wurde, traute man Schutz vor richterlicher Willkür zu. 2 4 1 Um diese Bindungen zu unterstreichen, forderte man auch für den zu schaffenden Eid der Berufsrichter eine Verpflichtung, „nach bestem Gewissen" (vgl. § 58 IBBG) und nicht „bloß gewissenhaft'" zu urteilen. 242 Eine solche Verpflichtung auf das Gewissen verstand man bewußt „wörtlich und buchstäblich". 243 Nach der hier versuchten Systematik hatten solche Verweise auf das Gewissen eine Ergänzungsfunktion, den Zweck zusätzlicher Bindung durch ungeschriebene Normen für den sachlich und persönlich weitgehend unabhängigen (Art. 97 I GG) Richter. Die hier angesprochene Grundfrage ist freilich unabhängig vom zeitgeschichtlichen Kontext. Aufgrund der bleibenden Überwindung radikal rechtspositivistischer Positionen, die glaubten, richterliche Entscheidungen ausschließlich aus dem angewendeten Gesetz begründen und legitimieren zu können, bleibt vor allem die Frage der Legitimation richterlicher Machtausübung, der Legitimation des unver238 Vgl. Bundesjustizministerium, Referenten-Denkschrift, S. 32 mit FN 151; SchmidtRäntsch/Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 5. Aufl. 1995, § 25, Rdn. 22. Vgl. u. II., S. 90 f. Praktische Relevanz hat die Frage lediglich wiederholt für ehrenamtliche Richter bekommen. Vgl. zuletzt OVG Greifswald, Beschl. v. 13. 11. 1997, NVwZ-RR 1998, S. 784 f. 239 Holtkotten, BK, Art. 97, Anm. I; JöR N.F. 1, S. 716 f.; Freihalter, Gewissensfreiheit Aspekte eines Grundrechts, 1973, S. 213. Zu entsprechenden Interpretationen des Gesetzesbegriffs in Art. 97 I GG vgl. Holtkotten, BK, Art. 97, Anm. II 2; Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 55 m.w.N. 240 F. Zimmermann, Das Gewissen, S. 29; Rotberg, Zu einem Richtergesetz, S. 12 ff. Vgl. auch noch Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 49 ff. (55); Pötter, Richterrecht und richterliches Gewissen, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Beiträge zum Richterrecht, 1968, S. 37 ff. (41,46 ff.) ohne klare Trennung zur grundrechtlichen Gewissensfreiheit. 241

F. Zimmermann, Das Gewissen, S. 29. 242 Ebd., S. 28 mit FN 1. 243 Pötter, Richterrecht, S. 48. Vgl. Seewald-Renner, Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 11, 13.

Der Gewissensbegriff, S. 55; Ε. E.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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meidlichen voluntativen und damit „subjektiven Faktors" richterlicher Entscheidungen. 244 Zur Beantwortung dieser Frage greift man auch heute noch auf den Richtereid und den Wortlaut des richterlichen Versprechens zurück. Der der Durchsetzung *nicht zugängliche „überschießende Wortlaut" von Verpflichtungen auf die „Gerechtigkeit", das „Wohl der Allgemeinheit" oder eine Amtsführung „nach bestem Gewissen" „appelliert an das Gewissen des Amtsträgers", fordert die „Anstrengung seines Gewissens".245 Dieser Verweis auf das Gewissen bekommt jedoch einen erheblich veränderten, reduzierten Inhalt. Er verbürgt nicht mehr die Erkenntnis einer objektiv vorgegebenen praktischen Wahrheit, sondern verpflichtet den Rechtsanwender nur noch auf die „regulative Idee" der „Richtigkeit" einer Entscheidung und damit auf die Aufgabe, sich um diese Richtigkeit nach bestem Wissen und Gewissen zu mühen. 246 Der Verweis auf das Gewissen appelliert an das Ethos des Amtes, an die autonome Erfüllung von durch die Rechtsordnung vorgegebenen Berufspflichten. Die durch die „begrenzte Direktivkraft" des anzuwendenden Gesetzes sachlich nicht hinlänglich zu gewährleistende Bindung der Amtsführung wird personalen Bindungen überantwortet. 247 Der Verweis auf das Gewissen dient der Verinnerlichung und damit der Verstärkung der Amts- und Berufspflichten (die die Rechtsordnung im Falle des Richters allerdings nur sehr rudimentär und unbestimmt vorgibt) 248 : vor allem der Pflicht zur Unparteilichkeit im Urteil (zur „inneren Unabhängigkeit")249 und der Pflicht zur Bindung an das Gesetz 250 . Letztere bildet bei einer hermeneutischen Sicht der Gesetzesauslegung das „Ethos des Interpreten", das durch ein rechtsstaatliches Vorverständnis, den Willen zur Rechtsidee und die Identifikation mit den Grundwerten der Rechtsordnung geprägt ist. 2 5 1 Da diese Maßstäbe allerdings ihrerseits in concreto offen sind, zielt der Verweis auf das Gewissen weniger auf konkrete Ergebnisse richterlichen Urteilens als auf die Art und Weise des Urteilens: der Urteilsfindung und der Urteilsbegründung. Der an das Wort des Gesetzgebers gebundene Interpret muß in der Betätigung

244

Isensee, Vom Ethos des Interpreten. Das subjektive Element der Normauslegung und seine Einbindung in den Verfassungsstaat, in: FS G. Winkler, 1997, S. 367 ff. (388 f., 393). Zum voluntativen Moment vgl. ζ. B. auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 350 ff. 245 Isensee, Vom Ethos, S. 390 f. Ebd., S. 387, 369 f. ™ Ebd., S. 389, 396. 248 Daher besteht hier eine große Nähe zur Ergänzungsfunktion. Vgl. Isensee, Vom Ethos, S. 390: Die Grenze zwischen „auch-rechtlichen" und „nur-ethischen Pflichten" ist im Einzelfall schwer zu bestimmen. 249 Ebd., S. 395 f. Vgl. Gerner/Decker/Kauffmann, Deutsches Richtergesetz, 1963, § 38, Rdn. 2; § 25, Rdn. 6. 250 Isensee, Vom Ethos, S. 391, 393 f. Vgl. Heusinger, Rechtsfindung, S. 42 f. 251 Isensee, Vom Ethos, S. 391, 393 ff., 396.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

„technischen" und „sittlichen Wissens ( . . . ) mit sich zu Rate" gehen. 252 Die von ihm zu erfüllenden Berufspflichten stellen sich als eine besondere Form von Sorgfaltspflichten dar. Die Verpflichtung auf das „beste Wissen und Gewissen" ist eine Verpflichtung auf „Gewissenhaftigkeit". 253 Das Gewissen ist nur im Sinne einer „Gewissensprüfung" 254 oder eines „Vergewisserungsakts" 255 gefordert: Der Rechtsanwender hat sich mit dem gesamten Prozeßstoff aufmerksam auseinanderzusetzen, Recht und Sachverhalt zu durchdringen, das ,Für und Wider4 unter „Anspannung aller inneren Kräfte" genau abzuwägen, seine Entscheidung rational zu reflektieren und rational zu rechtfertigen. 256 In der Forderung nach Gewissenhaftigkeit hat das Gewissen eine rationalisierte und nur noch ,prozedurale' Funktion.

cc) Beamte 257 Der Beamte ist in seiner Tätigkeit für den Staat zwar in größerem Maße sachlich und persönlich abhängig, vor allem weisungsgebunden, doch grundsätzlich stellen sich die mit der begrenzten Direktivkraft des anzuwendenden Gesetzes verbundenen Fragen auch für ihn. 2 5 8 Sie erübrigen sich auch nicht durch die eingehendere gesetzliche Regelung seiner Amtspflichten in Form von Leitprinzipien 259 und Einzeltatbeständen260; denn letztere greifen notwendig nur punktuell und erstere Verpflichtungen auf unparteiische, gerechte und gemeinwohlorientierte Amtsführung - sind notwendig unbestimmt. Daher haben die Gesetzgeber des Bundes und der Länder, auch der neuen Bundesländer, 261 zusätzlich appellative Generalklauseln wie etwa die Pflicht, „sein Amt uneigennützig nach bestem Gewissen zu verwalten" (§ 54, S. 2 BBG) 2 6 2 , normiert und die Beamten verpflichtet, in förmlichen Versprechen (Eiden oder Gelöbnissen263) zu bekräftigen, Verfassung und Gesetze 252 Ebd., S. 391. 253 Heusinger, Rechtsfindung, S. 126 ff. (137 f.). Vgl. ebd., S. 117, 42 f. 254 Ebd., S. 123. 255 Ebd., S. 137 ff. mit Verweis auf Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 393. 256 Heusinger, Rechtsfindung, S. 126 ff., 137 ff. Zur Begründungspflicht vgl. ebd., S. 115. Zur Rationalisierung vgl. ebd., S. 116 ff. (120 ff.). Vgl. Isensee, Vom Ethos, S. 384, 387, 396 (Plausibilität und Akzeptanz). 257 Gemeint sind hier die Beamten im staatsrechtlichen oder dienstrechtlichen Sinne. 258 Vgl. Isensee, Vom Ethos, S. 389 f.; Sommermann, Brauchen wir eine Ethik des öffentlichen Dienstes?, VerwArch 1998, S. 290 ff. Anders Saarn, Der Eid des Beamten, 1974, S. 169 ff. (173), 182 ff. m.w.N., der auch aufgrund dessen den Beamteneid für überholt hält. 259 Z. B. § 52 BBG, § 35 BRRG. 260 z. B. §§ 55 ff. BBG, §§ 39 ff. BRRG. 261 §§ 58, 61 LBG Mecklenburg-Vorpommern; §§ 19, 22 LBG Brandenburg; §§ 54, 58 LBG Sachsen-Anhalt; §§ 57, 60 LBG Thüringen. Ein begrifflicher Bezug auf das Gewissen fehlt nur in § 59 LBG Sachsen. 262 Vgl. § 36, S. 2 BRRG.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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w a h r e n 2 6 4 und die Amtspflichten gewissenhaft erfüllen zu wollen. Ein Versprechen der Amtsführung „nach bestem Wissen und K ö n n e n " 2 6 5 wird i m gleichen Sinn verstanden; 2 6 6 die - eigentlich historisch ältere 2 6 7 - Formulierung geht unmittelbar zurück auf Art. 78 der preußischen Verfassung von 1 9 2 0 2 6 8 . Der Beamteneid dient, wie der Richtereid, der Verstärkung 2 6 9 von durch die Rechtsordnung festgeschrieb e n e n 2 7 0 Amtspflichten, der „Bindung des Gewissens" 2 7 1 durch Verinnerlichung der rechtlichen Normen oder doch jedenfalls einer „inneren B i n d u n g " 2 7 2 im Sinne einer „Schärfung des Gewissens" 2 7 3 . Die vom Staat einseitig angemahnte Amtsführung „nach bestem Gewissen" (z. B. § 54, S. 2 B B G ) 2 7 4 versteht die kommentierende Literatur noch deutlicher als Aufforderung zu „zwecksichernder, modaler" Gewissenhaftigkeit, 275 zu der für

263 Z. B. § 58 BBG. Die Landesbeamtengesetze von Hessen und Bremen sehen nur ein Gelöbnis vor. Vgl. Friesenhahn, Über den Anwaltseid, S. 584. Zur Geschichte vgl. Friesenhahn, Der politische Eid, S. 83 ff. 264 Zur Differenz von „wahren", „beobachten" und „verteidigen" vgl. ebd., S. X 84 f., 91; 1 dens. y Über den Anwaltseid, S. 569. 265 Heute in Nordrhein-Westfalen (Art. 80 LVerf, § 61 LBG); Baden-Württemberg (§ 65 LBG) und Sachsen (Art. 92 II LVerf, § 70 LBG). 266 Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Bnd. I, Teil C, § 57 LBG NW, Rdn. 7. 267 Die Formel ist die wörtliche Übersetzung des kanzleisprachlichen „scire et posse". Heyen, Über Gewissen, S. 35 ff. (46 f. m.w.N.). Vgl. ebd., S. 46 ff. zu ähnlichen Paarformeln. 268 Vgl. dagegen Art. 108 der preußischen Verfassungsurkunde von 1850. 269 Brandt, Das Beamtenrecht. Die Rechtsverhältnisse der preußischen Staats- und Kommunalbeamten, 2. Aufl., 1926, S. 65. 270 Heute hält man ganz überwiegend die Amtspflichten für abschließend normiert und betrachtet die beamtenrechtlichen Generalklauseln nicht mehr als Begründung ungeschriebener Amtspflichten. Vgl. aber noch Mühl, in Fürst (Hrsg.), GKÖD, Bnd. I 2, § 52 BBG, Rdn. 8, § 54 BBG, Rdn. 1. Der praktische Unterschied ist aufgrund der Unbestimmtheit vieler Amtspflichten gering. 271 Mühl, GKÖD, § 58 BBG, Rdn. 2. Diese Orientierung auf das Gewissen wird explizit in einem schweizerischen Beamtengelöbnis (Art. 113 II der Verfassung des Kantons Bern v. 4. 6. 1893) mit der Eidesformel: „Ich gelobe auf meine Ehre und mein Gewissen...". 272 Vgl. Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II. Besonderes Organisations- und Dienstrecht, 5. Aufl. 1987, § 114, Rdn. 7. 273 Battis, Bundesbeamtengesetz, 2. Aufl., 1997, § 58, Rdn. 5; Schütz/Maiwald, Beamtenrecht (Anm. 266) zu § 57 LBG NW, Rdn. 10; Helfritz, Der Dienstherr des Staatsbeamten. Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1953, ZBR 1954, S. 97 (99). Vgl. Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 49; Bahlmann, Der Eideszwang, S. 38: „sich Rechenschaft ablegen". 274 So auch § 57, S. 2 LBG NW. 275 Battis, Bundesbeamtengesetz, § 54, Rdn. 4, 1. Zur früheren Praxis der Disziplinargerichte, die Gewissenhaftigkeit als eigenständige sanktionsfähige Verhaltenspflicht für das Gesamtverhalten des Beamten heranzuziehen vgl. Mühl, GKÖD, § 54 BBG, Rdn. 9; Lindgen, Handbuch des Disziplinarrechts für Beamte und Richter 4 Filmer

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

die Rechtsanwendung spezifischen reflexiven Verinnerlichung: Der Beamte hat „sich selbst zu prüfen, ob er alles getan hat, um die Pflicht zur unparteiischen, gerechten, uneigennützigen und damit gemeinwohlorientierten Amtsführung im zu entscheidenden Einzelfall zu verwirklichen". 276 Er darf nicht rein schematisch, nach dem Buchstaben des anzuwendenden Gesetzes vorgehen. 277 Gefordert wird von ihm nicht nur das Bewußtsein der Verantwortlichkeit für die Rechtmäßigkeit seines Tuns, sondern auch die durch sorgfältige Prüfung zu erreichende „Überzeugung", daß seine Entscheidung „nach den Umständen des Falles und im Hinblick auf ihre Folgen die bestmögliche ist". 2 7 8 Solche Folgenabschätzung weist allerdings, jedenfalls im Rahmen eigener Entscheidungsspielräume des Beamten, über die Handlungsmaßstäbe des Rechts hinaus. Jedenfalls in diesem Rahmen reklamiert der Staat mit dem Appell an das Gewissen auch eine „ethische Verantwortlichkeit" 2 7 9 des einzelnen, die „sittliche Verantwortung ( . . . ) gegenüber sich selbst und der Allgemeinheit" 280 . r

Daß die Bezugnahmen auf das Gewissen in den Eidesformeln und beamtenrechtlichen Generalklauseln nicht nur als Verstärkung der Pflicht zum Gehorsam gegenüber Gesetz und Weisung verstanden werden, zeigen auch Beiträge zu gesetzgebungspolitischen Debatten. Exemplarisch sei eine Debatte um die rechtliche Stellung des Polizeibeamten genannt, der alltäglich in besonderem Maße auf die eigenständige Konkretisierung von generalklauselförmigen Eingriffsermächtigungen verwiesen ist. Dort, wo der Staat zu schwerwiegenden Eingriffen in Grundrechte des Bürgers gezwungen ist, muß er die strenge Beachtung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgebots sicherstellen. Gerade bei aufgrund ihrer Dringlichkeit oft ad hoc vorzunehmenden Eingriffen der Polizei ist dies jedoch nur in der konkreten Eingriffssituation durch einzelne Beamte zu leisten und nicht durch detaillierte abstraktgenerelle Regelungen des Gesetzgebers.

Das Festhalten an der gesetzgeberischen Bescheidung mit generalklauselförmigen Grundsatzregelungen wird nun - etwa im Fall des sog. polizeilichen Todesschusses - unter anderem auch damit gerechtfertigt, daß der Staat auf „die Integrität und die Erkenntnismöglichkeiten" sowie auf den „Gerechtigkeitswillen" - kurz: auf die „Gewissensbindung" des einzelnen Rechtsanwenders vertrauen kann und muß. 281 Auch die Bezugnahme auf das Gewissen ζ. B. in den Diensteiden erin Bund und Ländern, Bnd. 1, 1966, S. 587 ff. Vgl. auch Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht 11,5 114, Rdn. 15. 276 Battis, Bundesbeamtengesetz, § 54, Rdn. 4. Vgl. Ole, Beamtenrecht, 1970, § 36 BRRG, Rdn. 2. Uneigennützigkeit und Unparteilichkeit kann man als negative Formulierungen und Konkretisierung der Orientierung am Gemeinwohl begreifen. Vgl. Battis, Bundesbeamtengesetz, § 52, Rdn. 2 f. 277 Mühl, GKÖD, § 54 BBG, Rdn. 9. Zur Frage eines 'Dienst nach Vorschrift' vgl. Isensee, Vom Ethos, S. 390 m.w.N. 278 Wiedow, in: Plog/Wiedow/Beck/Lemhöfer, Kommentar zum Bundesbeamtengesetz mit Beamtenversorgungsgesetz, § 54 BBG, Rdn. 4. 279 Grabendorff/Arend, Landesbeamtengesetz Rheinland-Pfalz, Bnd. I, § 64, Anm. lc. 280 Weiß/ Νiedermaier/Summer/Zängl, Bayerisches Beamtengesetz. Handkommentar, Art. 64, Anm. 5.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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scheint vor diesem Hintergrund nicht einfach als Verpflichtung zu „besonderer Sorgfalt", sondern darüber hinaus als „Bindung an das je eigene forum internum". 2 8 2 Das inhaltlich offene Verhältnismäßigkeitsgebot gewinnt konkrete Gestalt nur durch seine „gewissenhafte" oder „gewissensgebundene" Beachtung:283 durch ein „problemorientiertes Rechtsbewußtsein" des Rechtsanwenders und seine Suche nach „intelligenteren und schonenderen Mitteln" staatlichen Handelns.284

dd) Andere Amtsträger und besonders Verpflichtete 285 Das Ziel einer Verstärkung von Rechtspflichten zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben verfolgt der Gesetzgeber auch, wenn er förmliche Versprechen der gewissenhaften Pflichterfüllung für andere Amtsträger vorschreibt, die nicht Beamte im staatsrechtlichen Sinne sind. Freilich sind hier Amtspflichten und Amtsethos in einigen Fällen schwerer greifbar; in anderen Fällen haben sie aber auch speziellere Ausprägungen gewonnen. Häufig obliegt dem Amtsträger weniger die eigenständige Anwendung des staatlichen Rechts (gegenüber Dritten) als nur dessen Beachtung. Die Form und der weitere Inhalt der gesetzlich geforderten Versprechen nehmen deutlich Rücksicht auf die Art der Tätigkeit und ihre Bedeutung für die Allgemeinheit. Ein dem Beamteneid entsprechendes (aber meist nur schriftlich abzulegendes) Gelöbnis für alle Angestellten des öffentlichen Dienstes enthält § 6 BAT. 2 8 6 Spezielle Gelöbnisse gewissenhafter Pflichterfüllung werden Soldaten, Angehörigen des Bundesgrenzschutzes und Ersatzdienstleistenden abverlangt. 287 Die Form des Eides ist dagegen - unabhängig vom dienstrechtlichen Beamtenstatus - für die Wahrnehmung bestimmter Funktionen vorgesehen, die in besonderer Weise auf das Vertrauen in die Sachlichkeit und Unparteilichkeit der Tätigkeit angewiesen sind (oder jedenfalls in historischer Perspektive waren): beispielsweise für Tätigkeiten, die auf die Prüfung oder den Betrieb von Meßgeräten gerichtet sind. 288 Die 281 Lisken, Polizeibefugnis zum Töten?, DRiZ 1989, S. 401 ff. (403). 282 Ebd., S. 403 f. Die von Lisken ebenfalls angeführte grundrechtliche Gewissensfreiheit erscheint daneben nur noch als Ausgleich dafür, daß der Gesetzgeber den einzelnen Beamten nicht von Verantwortung entlastet. Vgl. dens., Gefährdungen der Gewissensfreiheit, in: FS M. Hirsch, 1981, S. 529 ff. (544 f., 547). 283 Lisken, Polizeibefugnis, S. 403 f. 284 Ebd., S. 404. Vgl. ebd., S. 402: Das Handlungsmotiv darf nicht der Wille zum 'kurzen Prozeß' sein. 285 Gemeint sind hier die Beamten im haftungsrechtlichen (vgl. § 839 BGB) und strafrechtlichen (vgl. § 359 StGB a.F.) Sinne, die ihnen in § 11 I Nr. 4 StGB heute weitgehend gleichgestellten besonders für den öffentlichen Dienst Verpflichteten und andere Träger öffentlicher Ämter. Die im einzelnen schwierigen Abgrenzungen können hier dahinstehen. 286 Vgl. BVerfGE 39, 334, LS 7. 287 § H SG; § 54 BGSG; § 27 ErsDiG. Vgl. weiterhin etwa § 21 II KonsG für Honorarkonsuln usf. 4*

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Eidesnorm lautet hier, in Anlehnung an die beamtenrechtlichen Leitprinzipien (§ 35 I BRRG), auf eine „gewissenhafte und unparteiische" 289 Pflichterfüllung. Dem entspricht etwa der Eid des Notars. 290 Nicht in Form eines Eides, sondern in Form einer - einseitigen - förmlichen Verpflichtung 291 wird der ehrenamtlich für die Verwaltung Tätige zu „gewissenhaftem und unparteiischem" Handeln angehalten (§ 83 Π VwVfG). Besondere äußere Formen wie die Verpflichtung „durch Handschlag" hat der Gesetzgeber vor allem etabliert für Funktionsträger in Kollegialorganen: Prüfungs- und Bewertungsgremien, Wahlausschüssen und berufsständischen Gerichten. 292 Einer förmlichen Verpflichtung auf gewissenhafte Pflichterfüllung kann sogar unterliegen, wer an der Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung beteiligt ist, ohne selbst Amtsträger zu sein. 293 Das kann verschiedenste Tätigkeiten betreffen. 294

ee) Träger öffentlicher Aufgaben im weitesten Sinne Der Staat erfüllt öffentliche Aufgaben nicht nur durch Amtsträger und Beauftragte, sondern auch, indem er mit den Mitteln des öffentlichen Rechts bestimmte private Berufsbilder und Tätigkeitsbereiche schafft und prägt. Das gilt insbesondere für das öffentliche Interesse an der Sicherung unabhängigen Sachverstands von Personen, die als Sachverständige oder in beratenden Berufen (sporadisch oder beruflich, freiberuflich oder gewerblich) tätig sind. Deren Tätigkeit dient jedenfalls indirekt auch der Verwirklichung von Gemeinwohlinteressen. 295 Die notwendige 288 § 67 II EichO (vgl. § 22 EichG, BGBl. 1969 I, S. 759), § 5 I WägeV, BGBl. 1970 I, S. 799, § 101 PrüfstellenV, BGBl. 1970 I, S. 795. 289 § 67 π EichO. Vgl. für Sachverständige nach § 27 BrennO: „nach den gesetzlichen Bestimmungen unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen ausüben, keine Sonderinteressen verfolgen,...". 290 § 13 I BNotO. Die Eidesnorm ist wie die des Beamteneids zudem auf die Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung gerichtet. Vgl. § 67 und § 7 III BNotO (keine Eidesform für Notarassessoren). 291 § 1 des Gesetzes über die förmliche Verpflichtung nichtbeamteter Personen v. 2. 3. 1974, BGBl. I, S. 469, 547. (§ 1 III: „Über die Verpflichtung wird eine Niederschrift aufgenommen, die der Verpflichtete mit unterzeichnet"). 292 § 5 v u Wirtschaftsprüferordnung, § 3 WiPrPrO, § 52 I Wertpapierbereinigungsgesetz, § 64 IV Bewertungsgesetz, § 2 IV Steuerberatungsgesetz, § 10 der DV zum Gesetz über ( . . . ) jugendgefährdende Schriften, § 6 I Richterwahlgesetz, §§2 III, 16 IV Handwerkskammerwahlordnung, § 140 II BRAO. 293 Vgl. § 1 I Verpflichtungsgesetz, § 11 I Nr. 4 StGB. 294 Vgl. ζ. B. § 29 c V LuftVG (Durchführung von Sicherheitsmaßnahmen im Luftverkehr). Eine Art förmlicher Verpflichtung kennt das BGB (§ 1789) für die Bestellung des Vormunds, dessen Stellung einem öffentlichen Amt zumindest angenähert ist. Auch Private nutzen die dargestellten Formen, um Bindungen an Rechtsnormen in privat übertragenen 'Ämtern' zu stärken. Vgl. BGH, U. v. 14. 10. 1993, III ZR 157/91 (z.T. in NJW 1994, S. 184 ff.; Gelöbnis für Mitglieder eines Stiftungskuratoriums, den Stifterwillen zu erfüllen). Vgl. BGHZ 108, 21 (22) (Testamentsvollstrecker).

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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persönliche und sachliche Unabhängigkeit führt aber, verbunden mit der Komplexität und Wertungsabhängigkeit vieler Tätigkeiten, zu Handlungsfreiräumen und -Unsicherheiten, die praktisch schwer kontrollierbar und schwer regulierbar sind. Das besondere öffentliche Vertrauen, das solchen Tätigkeiten gleichwohl (und gerade deshalb) entgegengebracht wird und entgegengebracht werden muß, ist nicht zuletzt auf öffentlich-rechtliche Bestellungen und Zulassungen zurückzuführen. Diese beruhen meist sowohl auf einer staatlichen Prüfung der fachlichen Eignung als auch auf der Prüfung persönlicher Voraussetzungen. Die weitere Tätigkeit nach der Bestellung oder Zulassung versucht der Staat auch zu beeinflussen, indem er allgemeine Berufspflichten normiert, die ihrerseits nur begrenzt mit Zwangsmitteln durchsetzbar und darauf angewiesen sind, daß der einzelne Adressat sie für sich akzeptiert und (in der einen oder anderen Form) verinnerlicht. Ebenfalls begrenzte staatliche Beiträge zu einer solchen eigenverantwortlichen Übernahme eines Berufsethos liegen wiederum in appellativen Rechtsnormen und rechtlich geforderten promissorischen Eiden, die großenteils auf das Gewissen des einzelnen verweisen. Exemplarisch dafür können Eide von Sachverständigen stehen. Deren Urform ist der Eid des Sachverständigen im Gerichtsprozeß, 296 der das Versprechen verlangt, Gutachten „unparteiisch nach bestem Wissen und Gewissen" zu erstatten. Die Vereidigung im Prozeß (für einen konkreten staatlichen Auftrag) erfolgt wie die des Zeugen, kann aber bei generell vereidigten Sachverständigen durch die Berufung auf den bereits geleisteten Eid ersetzt werden. 297 Das geschieht bei schriftlichen Gutachten meist durch die abschließende Wiederholung der Eidesnorm. Generelle Vereidigungen für eine Tätigkeit als Sachverständiger sind Teil des Verfahrens einer öffentlichen Bestellung - so für die gewerblich tätigen Sachverständigen nach § 36 GewO 2 9 8 oder für die freiberuflich tätigen Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer. 299 Auch bei letzteren wird die praktische appellative Wirksam-

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Der Charakter der Tätigkeiten als Erfüllung öffentlicher Aufgaben ist unabhängig von der umstrittenen (Grund-) Rechtsfigur der dem öffentlichen Dienst angenäherten „staatlich gebundenen Berufe". Vgl. BVerfGE 7, 377 (398); 16, 6 (21); 47, 285 (319) usf.; Scholz, M / D / H / S , Art. 12, Rdn. 220 ff.; Bethge, Der verfassungsrechtliche Standort der „staatlich gebundenen" Berufe, 1968, insbes. S. 9 ff., 109 ff. Außerhalb der Grundrechtsdiskussion findet der Begriff der „öffentlichen Aufgabe" weiter legitime Anwendungen (vgl. ebd., S. 122 ff.). 2 96 § 4101 2 ZPO; § 79 II StPO. Vgl. o. a), S. 42 f. 2

97 § 410 II ZPO; § 79 III StPO. 98 Nach der erweiterten Neufassung von 1994 (BGBl. I, S. 3475) lautet § 36 I 2: „Sie sind darauf zu vereidigen, daß sie ihre Sachverständigenaufgaben unabhängig, weisungsfrei, persönlich, gewissenhaft und unparteiisch erfüllen..." Vgl. für spezielle Sachverständigentätigkeiten o. dd), S. 51 f. mit Anm. 288. Vgl. § 34 b V 3 GewO für öffentlich bestellte Versteigerer. Andere Normen beschränken sich auf die Festschreibung dieser Berufspflichten im Gesetz. Vgl. z. B. § 20 BauPrüfAnO. 2

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99 § 17 I WPO V. 24. 7. 1961 (i.d.F. v. 5. 11. 1975): „Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die Pflichten eines Wirtschaftsprüfers verantwortungsbewußt und sorgfältig erfüllen, insbesondere Verschwiegenheit bewahren und Prüfungsberichte und Gutachten gewissenhaft und unparteiisch erstatten werde, so wahr mir Gott helfe".

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keit der Eidesnorm dadurch erhöht, daß für sie das Auftreten als Sachverständiger gesetzlich an die „Berufung auf ihren Berufseid" 300 geknüpft ist. Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Verschwiegenheit und Gewissenhaftigkeit bilden die zentralen Aspekte des Berufsethos. 301 Sie werden vom Gesetzgeber neben der Eidesnorm als allgemeine Berufspflichten 302 und im Zusammenhang konkreter Tätigkeiten 303 erneut vorgeschrieben. Die „Gewissenhaftigkeit" bekommt (ähnlich wie bei den Beamteneiden) von der kommentierenden Literatur die Funktion eines Oberbegriffs zugewiesen oder wird als modale, zwecksichernde Pflicht verstanden, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten im Sinne der Berufspflichten optimal einzusetzen.304 Zum Teil wird auch aus der Pflicht zu „gewissenhaftem" Vorgehen und der eidlichen Bestärkung dieser Verpflichtung ein „höchstpersönlicher" Charakter der Tätigkeit und die Pflicht zum persönlichen Erstatten von Gutachten gefolgert. 305 In berufsständischen Satzungen der Wirtschaftsprüferkammern, die man gleichsam als Selbst-Interpretation der gesetzlichen Berufspflichten begreifen kann, wird der ethische Anspruch der Berufsausübung und der Rechtsbefolgung am greifbarsten; sie definieren die geforderte Gewissenhaftigkeit: „Der Wirtschaftsprüfer muß bei Erfüllung seiner Aufgaben Gesetze und fachliche Regeln beachten sowie nach seinem Gewissen handeln. Er hat sich hierbei von dem Grundsatz der getreuen und sorgfältigen Rechenschaftslegung leiten zu lassen." 306 Das 300 §§ 2 III Nr. 1; 129 III Nr. 1 WPO. 301 Die genannten Eigenschaften werden hier nicht nur als Qualitäten des äußeren Verhaltens verstanden. Das zeigt sich etwa am Verständnis der „Unabhängigkeit" als auch „inneren Unabhängigkeit" im Sinne einer inneren „Haltung". Vgl. Hörde, Die Unabhängigkeit des aktienrechtlichen Abschlußprüfers, 1978, S. 63 m.w.N.

302 Z. B. § 43 WPO. 303 Abschlußprüfungen: § 323 I 1 HGB (§ 168 AktG a.F.; Art. 25 II EGHGB); § 62 I 1 GenG. Vgl. § 31 II ParteienG. 304 Bleutge, in: Landmann / Rohmer, Gewerbeordnung und ergänzende Vorschriften, Bnd. I, 14. Aufl. 1989, § 36 GewO, Rdn. 37 ff. 305 Ebd., Rdn. 38, 33 ff. 306 „Richtlinien für die Berufsausübung der Wirtschaftsprüfer und vereidigten Buchprüfer" v. 12. 3. 1987 auf der Grundlage des § 57 I 3 WPO (zitiert nach P. Glanegger u. a., Heidelberger Kommentar zum Handelsgesetzbuch, 1996, S. 769 f.). Zur Rechtsqualität vgl. Hönle, Die Unabhängigkeit, S. 62 m.w.N. Auch für Personen, die in Wirtschaftsunternehmen aufgrund ihrer leitenden Funktion besondere Gestaltungsfreiräume haben, schreibt der Gesetzgeber „Eigenverantwortlichkeit" und „Gewissenhaftigkeit" als - allerdings haftungsrechtlich sanktionierte - Verhaltensmaßstäbe fest (§ 93 I 1 AktG für die Vorstandsmitglieder: „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters". Vgl. §§ 92 II 3; 3091; 317 II AktG; §§ 34; 991 GenG; §§ 34, S. 4 Nr. 3; 53 d VAG; neuerdings auch § 6a VermögensG für vorläufige Einweisungen eines Geschäftsleiters in Unternehmen). Neben der im Vergleich zu der des „ordentlichen Kaufmanns" erhöhten Sorgfaltspflicht kann man darin (schwer sanktionierbare) erweiterte Sorgfaltspflichten sehen: Der „ordentliche und gewissenhafte Geschäftsleiter" hat danach als Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft nicht nur die erwerbswirtschaftlichen Interessen seiner Gesellschaft zu berücksichtigen, sondern auch „die Interessen der Aktionäre und Gläubiger sowie das Wohl der Arbeitnehmer und der Allgemeinheit" (H eferme hl, in: Geßler/Hefer-

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Gewissen steht hier wohl kaum für eigenständige oder gar individuelle Verhaltensmaßstäbe neben Rechtsvorschriften und den Regeln der Kunst, sondern eher für die persönliche und gewissensmäßige Adaption dieser Normen im Sinne eines Berufsethos. Adressaten des Gesetzes bringen jedenfalls in ihrer Interpretation des Gesetzesbegriffs „gewissenhaft" das - durchaus emphatisch wirkende - Moment des darin enthaltenen Gewissensbegriffs wesentlich deutlicher zum Ausdruck als die an verfahrensmäßiger Umsetzung interessierte Rechtsdogmatik. Förmliche Versprechen gewissenhafter Pflichterfüllung schreibt der Gesetzgeber weiter für eine Reihe beratender (freier) Berufe vor, beispielsweise den Eid der Rechtsanwälte307 und die „Versicherung" der Steuerberater 308. Das voluntative Moment subjektiver Empfehlungen spielt bei der Ausübung dieser Berufe eine größere Rolle als etwa bei einer Gutachtertätigkeit. Nicht nur beratend, sondern in weiten Teilen auch eigenverantwortlich eingreifend müssen Angehörige der Heilberufe tätig werden. Rechtliche Berufspflichten und Berufsethos zielen auf die Sicherung unabhängigen Sachverstands und darüber hinaus auf besondere Fürsorge für besonders wertvolle Güter. Der ausgeprägten Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsverantwortung vor allem der Ärzte entspricht es, daß Regelungen von Berufspflichten neben zunehmenden Detailregelungen (deren „gewissenhafte" Befolgung auch gesetzlich gefordert und Bestandteil des ärztlichen „Gelöbnisses" ist) 3 0 9 auch allgemeine Verweise auf ethische Maßstäbe enthalten. Diese könnte man nach der hier verfolgten Differenzierung teilweise bereits der Ergänzungsfunktion des Gewissensbegriffs zurechnen, 310 wenn etwa die 1997 vom Deutschen Ärztetag beschlossene311 Muster-Berufsordnung die allgemeinen ärztlichen Berufspflichten definiert: 312 mehl /Eckardt/ Kropff, Aktiengesetz, Bnd. II, 1974, § 93, Rdn. 10, 12; § 76, Rdn. 18 f.). Zu speziellen Auskunfts- und Rechenschaftspflichten („gewissenhaft und getreu"; §§ 90 IV; 131 II; 312 II AktG) vgl. o. a), S. 39 ff. 307 § 26 I BRAO. Vgl. § 27 I RechtsanwaltsG; § 25 PatAnwO. Kritisch dazu Friesenhahn, Über den Anwaltseid (Anm. 177). 308 § 41 II StBerG. Vgl. die allgemeinen Berufspflichten in §§ 57; 86 StBerG, die denen der Wirtschaftsprüfer entsprechen. 309 Das „Gelöbnis" ist nicht vom einzelnen Angehörigen der Heilberufe persönlich abzulegen, sondern lediglich den Berufsordnungen präambelartig vorangestellt. Vgl. BayVerfGHE 32, 106 ff. zu einer Berufsordnung auf der Grundlage von Art. 17 des Gesetzes über die Berufsvertretungen und über die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker v. 1978. 310 Vgl. u. Teil 2. c), S. 79 ff. 311 Soweit hier gesetzliche Vorgaben umgesetzt und ausgelegt werden, handelt es sich wiederum um Interpretationen von Gesetzesadressaten. Vgl. o. bei Anm. 306. Vgl. auch Rösner, Selbstverständnis des medizinischen Gutachters in neuen Strukturen, MEDSACH 1999, S. 5 ff. (5 f.). 312 § 2 der (Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte - MBO-Ä 1997, NJW 1997, S. 3076 ff. Wesentliche Unterschiede zu den Vorgängerregelungen bestehen insofern nicht.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht „I Der Arzt übt seinen Beruf nach seinem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Er darf keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit seiner Aufgabe nicht vereinbar sind oder deren Befolgung er nicht verantworten kann. II Der Arzt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihm ( . . . ) entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. III Zur gewissenhaften Berufsausübung gehören auch die Grundsätze korrekter ärztlicher Berufsausübung in Kapitel C. IV Der Arzt darf hinsichtlich seiner ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen. V Der Arzt ist verpflichtet, sich über die für die Berufsausübung geltenden Vorschriften unterrichtet zu halten ..."

c) Das Gewissen der Schwangeren in der Schwangerschaftsberatung Die Verwendung des Gewissensbegriffs in der Diskussion um die gesetzliche Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs wurde bereits dargestellt. 313 Die Verweisfunktion, die der Begriff für den Gesetzgeber in § 219 I StGB übernimmt, unterlag in den beiden Fassungen der Vorschrift einem deutlichen Wandel. Die vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärte Fassung von 1992 314 lautete: „Die Beratung dient dem Lebensschutz durch Rat und Hilfe für die Schwangere unter Anerkennung des hohen Wertes des vorgeburtlichen Lebens und der Eigenverantwortung der Frau. Die Beratung soll dazu beitragen, die im Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Not- und Konfliktlage zu bewältigen. Sie soll die Schwangere in die Lage versetzen, eine verantwortungsbewußte eigene Gewissensentscheidung zu treffen. Aufgabe der Beratung ist die umfassende medizinische, soziale und juristische Information ( . . . )". In der heute geltenden Fassung von 1995 315 heißt es dagegen: „Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann ( . . . )".

Zum Gemeinwohlbezug ärztlicher Tätigkeit vgl. etwa § 1 Bundesärzteordnung; BVerfGE 52, 130(170). 313 S.o.A.,S. 11 ff. 314 BGBl. I, S. 1398 ff. 315 BGBl. I, S. 1050.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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In der ersten Fassung trat der appellative Verweis auf die moralischen Maßstäbe des individuellen Gewissens deutlich an die Stelle des (für den Anfangszeitraum der Schwangerschaft) aufgehobenen rechtlichen Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen. Sie war Ausdruck einer Einsicht, nach der Setzung und Durchsetzung eines solchen Verbots an unüberwindlichen Hindernissen scheitern: an der tatsächlichen Vielfalt der Situationen und Konflikte, die einer eindeutigen und rationalen Wertung und abstrakt-generellen Regelung durch die Rechtsordnung im Wege steht; 316 daran, daß sich der Schwangerschaftskonflikt in „Tiefen der Persönlichkeit" abspielt und entscheidet, die durch Strafdrohungen nicht erreichbar sind; 317 und schließlich auch an den mangelnden Möglichkeiten des Staates zu effektiver (und zugleich rechtlich unbedenklicher) Verhaltenskontrolle. 318 Die Zurücknahme rechtlicher Verhaltensregelung konnte als grundrechtlich durch die Gewissensfreiheit gefordert erscheinen oder als Gewährung eines (grundrechtsähnlichen) „Rechts auf Gewissensentscheidung",319 „autonome Gewissensentscheidung"320 oder jedenfalls als Eröffnung eines rechtsfreien Raumes, in dem die Schwangere ohne Inpflichtnahme, aber auch ohne rechtfertigende Entlastung durch die Rechtsordnung - auf eine (moralisch) allein vor dem eigenen Gewissen zu verantwortende Entscheidung verwiesen wird. 3 2 1 Die Bezugnahme auf das Gewissen hatte damit nach der hier verfolgten Systematik entweder eine Konfliktregelungs- oder eine Ergänzungsfunktion; sie sollte jedenfalls dazu beitragen, den Rückzug des Rechts zu legitimieren und diesen Rückzug, soweit das Vertrauen auf das Gewissen reicht, aufzufangen. 316 Vgl. bereits BVerfGE 39, 1 (48); abweichende Meinung der Richter Mahrenholz und Sommer, BVerfGE 88, 203 (338 ff.); Arth. Kaufmann, Rechtsfreier Raum, S. 327 ff. (330 f., 336 f.). 317 BVerfGE 39, 1 (15 f.); Eser, Rechtsgutachten im Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (1992), 1994, S. 25, 67 ff. 318 Vgl. zu den Intentionen der Neuregelung von 1992 BVerfGE 88, 203 (243 ff., 265 f.). Eser, Rechtsgutachten, auch zu den Schwierigkeiten einer konkreten Indikationsfeststellung durch Dritte. Vgl. Liebl, Ermittlungsverfahren, Strafverfolgungs- und Sanktionspraxis beim Schwangerschaftsabbruch, 1990. 319 Vgl. die Äußerungen in der Bundestagsdebatte von 1992, ο. Α., S. 14 ff. 320 Frommel, Strategie gegen die Demontage der Reform der §§ 218 ff. StGB in der Bundesrepublik, ZRP 1990, S. 351 ff. (352); dies., Frauen müssen nicht gebären. Der Schatten des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, DuR 1991, S. 367 ff. (372, 374). Dazu u., Teil 2, B.I.3.a)aa), S. 230 f. m.w.N. 321 Arth. Kaufmann, Rechtsfreier Raum, S. 341, 329 f., 332, 338 mit Verweis vor allem auf Stratenwerth (Zurückverweisung auf die Instanz des eigenen Gewissens) und Gallas (Achtung von „nach gewissenhafter Prüfung" getroffenen „Entscheidungen"); ders., Bemerkungen zur Reform des § 218 StGB aus rechtsphilosophischer Sicht, in: J. Baumann (Hrsg.), Das Abtreibungsverbot des § 218, 1971, S. 46 ff. (53 ff.). Wimmer, Schutz des werdenden Lebens im kommenden Strafrecht, in: Der katholische Gedanke (Vierteljahresschrift des katholischen Akademiker-Verbandes) 1970/4, S. 1 ff. (6); Eser, Rechtsgutachten, S. 24, 34 f., 50 ff.; ders., Schwangerschaftsabbruch zwischen Grundwertorientierung und Strafrecht, ZRP 1991, S. 291 ff. (297 f.) ders., Das neue Schwangerschaftsabbruchstrafrecht auf dem Prüfstand, NJW 1992, S. 2913 ff. (2920 ff.).

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

In der Neufassung von 1995 bekommt der Bezug auf das Gewissen dagegen die Funktion, das trotz der Sanktionslosigkeit fortbestehende „prinzipielle" rechtliche Verbot 322 des Schwangerschaftsabbruchs zu verstärken. Die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, klarzustellen, daß es nicht um eine grundrechtlich geschützte Gewissensentscheidung, sondern nur um eine „gewissenhaft zustandegekommene und in diesem Sinne achtenswerte Entscheidung" gehen könne, 323 hat der Gesetzgeber - wie andere Forderungen des Gerichts - dadurch aufs genaueste erfüllt, daß er die vorläufigen Anordnungen des Gerichts (§ 35 BVerfGG) zur Schwangerschaftsberatung 324 fast wörtlich übernommen hat. Als „gewissenhafte" bleibt die Entscheidung nur modal auf das Gewissen bezogen; das individuelle Gewissen ist aber nicht mehr die „Instanz", die den Entscheidungsmaßstab liefert. Der wird vielmehr durch die Rechtsordnung, das heißt letztlich durch die Grundrechte Dritter (Art. 2 Π 1; 1 I GG) in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, vorgegeben. Das Beratungsgespräch wird „zielorientiert" auch zur Verhaltensbeeinflussung eingesetzt. Ziel des Beratungskonzepts ist es, durch Überlassen der Letztverantwortung „die Verantwortung von Frauen gegenüber dem ungeborenen Leben zu stärken", 325 das „Verantwortungsbewußtsein der Frau zu stärken". 326 Frauen sollen ihre Verantwortung „unmittelbarer und stärker empfinden und daher eher Anlaß zu ihrer gewissenhaften Ausübung haben können". 327 Das Beratungsgespräch dient dazu, „normative Orientierung" 328 zu vermitteln für eine „verantwortungsvolle, und von rechtlichen Maßstäben gesteuerte Entscheidung",329 den Standpunkt der Rechtsordnung und die eigene Verantwortung (die „Grundlage einer gewissenhaften Entscheidung" ist) „bewußt" zu machen. 330 Dabei ist es dem Bundesverfassungsgericht, dessen Urteil starken Kompromißcharakter trägt, 331 wohl selbst klar, daß es ein schwer auflösbares Spannungsverhältnis begründet, wenn es einerseits Entscheidungsverantwortung überlassen und andererseits Entscheidungsmaßstäbe 322 BVerfGE 88, 203 (278). Vgl. ebd., S. 279, 280: „grundsätzliches Verbot". 323 Ebd., S. 308. 324 Ebd., S. 209 f. Die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts liefern daher unabhängig vom Umfang ihrer rechtlichen Bindungswirkung (vgl. § 31 BVerfGG) - entscheidende Anhaltspunkte für die Intentionen des Gesetzgebers. 325 BVerfGE 88, 203 (268). 326 Ebd., S. 270, 278. 327 Ebd., S. 268. 328 Ebd., S. 267 f., 275. 329 Ebd., S. 277. Vgl. ebd., S. 284: „Bewertungsmaßstäbe vermitteln". 330 Ebd., S. 283. 331 Kausch, Legalität und Moralität im jüngsten Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, ARSP 81 (1995), S. 496 ff. (496, 507). Als bewußter Kompromiß oder „Mittelweg" wurde auch bereits das Gesetz von 1992 verstanden. Vgl. Eser, Rechtsgutachten, S. 40 ff., ders., Schwangerschaftsabbruch, S. 297 („notlagenorientiertes Diskursmodell").

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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weiterhin einseitig vorgeben will, wenn es die Beratung „ergebnisoffen", aber „zielorientiert" gestaltet wissen w i l l . 3 3 2 Der vom Gericht gefundene Kompromiß 3 3 3 versteht die Beratung zweifellos als staatlichen Beitrag zur Gewissensbildung, 334 der nicht nur der Information dient und die Entscheidung der einzelnen Schwangeren nicht „unbeteiligt anheimstellt", 335 der sich aber auf der anderen Seite auch deutlich abgrenzt von allen Versuchen von „Manipulation" und „Indoktrination" und nicht „belehren", „bevormunden" oder „Schuldgefühle erzeugen" w i l l . 3 3 6 Intendiert ist keine einseitige Beeinflussung der Schwangeren, keine „direktive Einflußnahme auf ihr Gewissen", 337 sondern eher ein „Appell an das Gewissen", 338 der die „Fähigkeit, eine gewissenhafte Entscheidung zu treffen" 339 , voraussetzt und nicht erst in der Beratungssituation Rechtsbewußtsein schaffen will, sondern die „Chance" sucht, „vorhandene" normative Orientierungen und Prägungen der einzelnen anzusprechen 340 (und insgesamt „im Volke lebendige Wertvorstellungen" zu stärken und zu unterstützen 341). Der - modale - Verweis auf das Gewissen tritt also in der Neufassung des § 2191 StGB nicht an die Stelle einer rechtlichen Verhaltensregelung, sondern eher an die Stelle staatlicher Zwangsmittel zu ihrer Durchsetzung. 342 Das Beratungskonzept bleibt mit Blick auf den Sanktionsverzicht eine Liberalisierung im Vergleich zu der zuvor geltenden Indikationenregelung, es erfährt aber eine Verschärfung durch 332 BVerfGE 88, 203 (282 f., 306). 333 Die Chancen seiner Umsetzung in der Beratungspraxis werden durch die notwendigen inneren Widersprüche erheblich infrage gestellt. Vgl. Kausch, Legalität, S. 508 ff. m.w.N. Als Versuch einer Umsetzung vgl. etwa H. Dickel/H. Kemler (Hrsg.), Leben empfangen und Leben planen. Über den verantwortlichen Umgang mit dem Leben als einer Gabe Gottes. Stellungnahme der Theologischen Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 1996, S. 53 f., 68, 83 ff., 92 ff., 101 ff. Dem Grunde nach waren diese Widersprüche und Schwierigkeiten dem Beratungskonzept von Anfang an immanent. Zu Versuchen ihrer Lösung durch Ermöglichung einer „bewußten Gewissensentscheidung" durch „differenzierte Wertverdeutlichung" in der Beratung vgl. Eser, Rechtsgutachten, S. 85 ff., ders., Das neue Schwangerschaftsabbruchstrafrecht, S. 2920 ff. Gegen die Möglichkeit von Kompromißlösungen Tröndle, Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, NJW 1995, S. 3009 ff. (3010 f.). 334 Vgl. teilweise weitergehend die Beiträge in der Bundestagsdebatte von 1992, Plenarprotokoll 12/99, Sten.Ber., S. 8223 ff. (8397, 8415, 8416, 8428, 8446). 335 BVerfGE 88, 203 (282 f., 307 f.). 336 Ebd., S. 282 f. Vgl. § 5 I Schwangerschaftskonfliktgesetz von 1995, BGBl. I, S. 1050. 337 So aber Kausch, Legalität, S. 499. 338 Kausch, Legalität, S. 498, 501, 506. Vgl. BVerfGE 88, 203 (268, 267); Eser, Rechtsgutachten, S. 50 ff. 339 BVerfGE 88, 203 (285). 340 Ebd., S. 282. Vgl. o., S. 37 f. 341 Ebd., S. 253. Vgl. schon zur Fassung von 1992 Eser, Rechtsgutachten, S. 25 (integrations-präventive Funktion des Rechts). Vgl. Kriele, Die neuen Abtreibungsregelungen vor dem Grundgesetz, DVB1. 1992, S. 1457 ff. (1457). 342 Vgl. Kausch, Legalität, S. 501, 506.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

das „prinzipielle" und in staatlichen Verfahren nicht auszuräumende Rechtswidrigkeitsurteil der Rechtsordnung 3 4 3 sowie durch die Versuche staatlicher Einflußnahme auf das Gewissen. 3 4 4 „Verantwortlich und gewissenhaft" (§ 219 I 1 StGB) ist die vom Gesetzgeber nunmehr angemahnte Entscheidung der Schwangeren jedenfalls nicht schon aufgrund eines sorgfältigen Zustandekommens, sondern erst durch einen reflexiven, norm- oder wertorientierten Prozeß der Entscheidungsfindung; die prozedurale Forderung nach „Gewissenhaftigkeit" läßt sich nicht ohne Bedeutungsverlust durch eine Forderung nach „Sorgfalt" (o.ä.) ersetzen. 345

d) Das Gewissen des Straftäters der gerichtlichen

in

Feststellung von Unrechtsbewußtsein

Die Anwendung des Rechts, insbesondere die Anwendung strafrechtlicher Sanktionsnormen, ist nicht davon abhängig, daß der einzelne die zugrundeliegenden Verhaltensnormen gewissensmäßig rezipiert oder akzeptiert hat; dem entspricht auch die durchgängige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. 346 Dennoch for343 Vgl. die abweichende Meinung der Richter Mahrenholz und Sommer, BVerfGE 88, 203 (352 ff.). 344 Was durchaus auch den Schluß erlaubt, das Gericht erstrebe und erreiche eine „Verschärfung des Gewissenskonflikts". W. Hennis, Die Zumutungen eines Urteils. Kann der Bundestag dem Verfassungsgericht in der Abtreibungsfrage so einfach folgen?, Die Zeit v. 17. 9. 1993 (Nr. 38), S. 9 f. (10); Kausch, Legalität, S. 501, 503 ff.

345 Zu „Gewissenhaftigkeit" als Ziel der Beratungsregelung von 1992 (!) vgl. Eser, Rechtsgutachten, S. 52. Vgl. W. Hennis, Die Zumutungen, S. 10. Nach dem Prinzip der Trennung von Legalität und Moralität darf eine Rechtsnorm grundsätzlich keinen 'inneren Gehorsam' fordern, nur das äußere Verhalten lenken: Der Staat darf nicht mit den Mitteln rechtlichen Zwangs direkt auf die individuelle Überzeugungsbildung einwirken und die Anwendung von Zwangsmitteln nicht vom Vorhandensein bestimmter Motive, Überzeugungen oder Gesinnungen abhängig machen (vgl. Kausch, Legalität, S. 502). Das ist heute Allgemeingut vor allem für das Strafrecht. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, daß der Staat dort, wo Rechtsnormen mit ihren typischen Mitteln - durch äußeren Zwang auf das äußere Verhalten zu wirken - ihr Ziel nicht erreichen können und auch nicht mehr erreichen sollen, nicht durch einen Appell an das Gewissen des einzelnen handeln darf. Er darf einen solchen Appell auch in rechtlich ausgestalteten Verfahren aussprechen, solange er die Letztentscheidungskompetenz jedem einzelnen überläßt und dessen Eigenverantwortlichkeit auch in Verfahren und Stil achtet. Der Staat darf nicht nur für seine materiellen Hilfsangebote, sondern auch für die Achtung seiner normativen Grundentscheidungen - in sachlicher und nüchterner Form - werben (vgl. Kühl, Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidung von Legalität und Moralität sowie von Rechtspflichten und Tugendpflichten für das Strafrecht ein Problemaufriß, in: Jung / Müller-Dietz/ Neumann (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 139 ff. (147)). In solch punktueller (nicht umfassender und konzeptionell geschlossener) Werbung liegt noch kein Verstoß gegen Rechtsstaatlichkeit und Gewissensfreiheit (vgl. aber Kausch, Legalität, S. 502, 505, 516). Ihre grundrechtliche Problematik wird erst durch den indirekt strafrechtlich sanktionierten - Zwang zur Teilnahme an der Schwangerschaftsberatung begründet (vgl. Kausch, Legalität, S. 505). Ein Eingriff in das Grundrecht der Gewissensfreiheit als subjektives Recht wird aber nach der hier vorgenommenen Interpretation in aller Regel nicht vorliegen (vgl. u., Teil 2, B.I.3.a)aa), S. 230 ff.).

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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dert das Gericht - in freier (nicht gesetzestextlich vorgegebener) Bezugnahme auf das Gewissen - vom Rechtsunterworfenen an einer zentralen Stelle der Strafrechtsdogmatik „Gewissensanspannung". Diese Forderung war in den 50er und 60er Jahren fester Bestandteil der BGH-Rechtsprechung zum Verbotsirrtum; 3 4 7 seitdem erscheint sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur noch sporadisch, 3 4 8 ist aber nicht aufgegeben und weiterhin von Belang für die Praxis der übrigen Instant i « 349 zen. Die Bedeutung der „Gewissensanspannung", auf die der B G H erstmals in einer richtungweisenden Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom März 1 9 5 2 3 5 0 zurückgreift, erschließt sich nur aus dem Gesamtzusammenhang dieser Entscheidung. Der Bundesgerichtshof verlangt hier - entgegen der Rechtsprechung des Reichsgerichts als Konsequenz des Schuldprinzips für jede strafrechtliche Sanktion die Feststellung von Unrechtsbewußtsein des Täters, d. h. von dessen Kenntnis der Rechtswidrigkeit seines Tuns.351 Diese Kenntnis begreift der BGH jedoch nicht als Teil des Handlungsvorsatzes, sondern als Unrechtsbewußtsein, das ein „selbständiges Schuldelement"352 darstellt. Mit letzterem hat sich das Gericht - wie seit 1975 in § 17 StGB auch der Gesetzgeber - 3 5 3 gegen die sog. Vorsatztheorie und für die sog. Schuldtheorie entschieden.354 Deren wesentlichster Unterschied liegt darin, daß ein Täter bei fehlendem Unrechtsbewußtsein (Verbotsirrtum) nicht nur wegen fahrlässiger Tatbegehung belangt wird; war sein Irrtum vermeidbar (verschuldet)355, wird er vielmehr als Vorsatztäter bestraft (mit fakultativer Strafmilderung; § 17, S. 2 StGB). Das Kennen-können des Unrechts wird dem Kennen im Rahmen der Schuld grundsätzlich gleichgestellt. Für die strafgerichtliche Praxis ergibt sich daraus die Schwierigkeit, bei der Verhängung von Sanktionen i m nachhinein feststellen zu müssen, ob die Verhaltensappelle der Rechtsnorm den Beschuldigten erreicht haben oder hätten erreichen können; welche Normkenntnisse ein Beschuldigter hätte erlangen können. Die retro346 Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, 1969, S. 41, 43 ff. Zur Frage der Rechtsgeltung vgl. u. Teil 2, A.I.l.b), S. 93 ff. 347 BGH, U.v. 28. 11. 1952, NJW 1953, S. 513 f. (514); BGHSt 3, 357 (357, 365 f.); 4, 80 (86); 4, 236 (243); 9, 164 (172 f.); 15, 332 (340); 19, 295 (299); 20, 342 (372); 21, 18 (20 f.). Vgl. Schulte/Träger, Gewissen im Strafprozeß - eine Rechtsprechungsübersicht, in: FS 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 251 ff. (255). 348 BGHSt 35, 347 (350); BGH, U.v. 17.4. 1984, Strafvert. 1984, S. 461 f. Vgl. (zu § 823 II BGB) BGH, U.v. 10. 7. 1984, VI ZR 222/82, unvollst, in JZ 1984, S. 1047. 349 Vgl. etwa OLG Oldenburg, Beschl. v. 30. 9. 1991, NJW 1992, S. 2438. 350 u.v. 18. 3. 1952, BGHSt 2, 194 (201 f., 206, 209). 351 Ebd., S. 196 ff. 352 Ebd., S. 205, 208. 353 So die ganz herrschende Auffassung. Vgl. BVerfGE 41, 121 (122); H.-W. Schünemann, Verbotsirrtum und faktische Verbotskenntnis, NJW 1980, S. 735 ff. (738) m.w.N. 354 BGHSt 2, 194 (204 ff.). 355 Zur Äquivalenz beider Maßstäbe Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, § 17, Rdn. 13.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

spektive Anwendung (Durchsetzung auf Sanktionsebene) des Rechts hängt also von der Feststellung - hypothetischer - innerer Tatsachen ab. Diese Feststellung bleibt in der Lösung des BGH keine rein empirische: 356 Sie geht aus von der Voraussetzung des Menschen als „auf freie sittliche Selbstbestimmung angelegtes" Wesen, das einer umfassenden „Pflicht" unterliegt, Unrecht zu vermeiden. Zur Erfüllung dieser Pflicht 357 hat der Mensch „bei allem, was er zu tun im Begriff steht, sich bewußt zu machen, ob es mit den Sätzen des rechtlichen Sollens in Einklang steht. Zweifel hat er durch Nachdenken oder Erkundigung zu beseitigen. Hierzu bedarf es der Anspannung des Gewissens, ihr Maß richtet sich nach den Umständen des Falles und nach dem Lebens- und Berufskreis des Einzelnen. Wenn er trotz der ihm danach zuzumutenden Anspannung des Gewissens die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns nicht zu gewinnen vermochte, war der Irrtum unüberwindlich, die Tat für ihn nicht vermeidbar." In einem Beschluß vom Dezember 195 2 3 5 8 bemüht sich der BGH, seine Kriterien zu präzisieren: „Gewissensanspannung" fordere vom Rechtsunterworfenen nicht nur „Anspannung seines Gewissens im engeren Sinne" - die versage etwa in vielen Fällen bloßer Ordnungswidrigkeiten „Gewissensanspannung" meine vielmehr umfassend, daß „der Täter verpflichtet sei, alle seine geistigen Erkenntniskräfte und alle seine sittlichen Wertvorstellungen einzusetzen, wenn es gilt, sich über die Rechtmäßigkeit oder die Rechtswidrigkeit eines bestimmten Verhaltens ein Urteil zu bilden". Der Begriff der „Gewissensanspannung" ist in der Literatur überwiegend auf Kritik gestoßen.359 Welzel 360 gab bereits im Jahre 1952 zu bedenken, die Verwendung des Gewissensbegriffs sei zwar nicht unrichtig, wohl aber „mißverständlich und oft zu eng"; zu eng vor allem wegen der großen Zahl von staatlichen Verboten, die nicht auf „allgemeinen sittlichen Anschauungen", sondern auf reinen Zweckmäßigkeitserwägungen beruhen. Diesem Bedenken hat sich der BGH in verschiedenen Urteilen geöffnet, indem er die Besonderheit bloßer Ordnungswidrigkeiten betonte, 361 bei nicht auf allgemeinen sozialethischen Wertungen beruhenden Verboten auf den Gewissensbegriff verzichtete, 362 die Formel des Großen Senats nur in Anführungszeichen zitierte 363 oder die Forderung nach Gewissensanspannung neben die zusätzlich geforderte Einholung von Erkundigungen stellte 364 . Diese 356 BGHSt 2, 194 (201 f., 206, 209). 357 Kritisch zur Konstruktion als rechtliche „Pflicht" Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 195 ff.; H.-W. Schünemann, Verbotsirrtum, S. 741. 358 BGHSt 4 (1,5). 359 Mattil, Gewissensanspannung, ZStW 74 (1962), S. 201 ff.; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 224 ff.; ders., in: SK-StGB, § 17, Rdn. 32 ff. 360 Anmerkung (zu BGHSt 2, 194 ff.), JZ 1952, S. 340 ff. (341 f.). 361 BGHSt 21, 18 (20 f.). Vgl. bereits BGHSt 2, 194 (203); 19, 295 (299). 362 Etwa BGHSt 4, 347 (352 f.). 363 BGHSt 20, 342 (372).

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Entscheidungen sprechen dafür, daß der BGH, mit Teilen der Literatur, 365 die Verwendung des Gewissensbegriffs eigentlich auf die Fälle der Gewissensanspannung „im engeren Sinne" gemünzt wissen will, auf den Bereich des - gesetzgeberischer Disposition weitgehend entzogenen - „Kernstrafrechts", das sich dem Rechtsunterworfenen ohne Zuhilfenahme besonderer Informationsquellen durch eigenständige Leistungen erschließt. Die Begrifflichkeit ist jedoch insofern uneinheitlich und löst berechtigte K r i t i k 3 6 6 an ihrer Formelhaftigkeit aus. Auch für den Bereich des „Kernstrafrechts" ist das Argument der Gewissensanspannung aber nicht unumstritten. So wird eingewandt, Gewissensanspannung könne kein rechtlich gefordertes Verhalten sein, da man das Gewissen nicht „anspannen" könne; wie das „Wertgefühl" wirke das Gewissen „originär und intuitiv": „Das Innewerden des Gewissensanrufes ist ein rein rezeptiver Akt. Er ist der Herrschaft unseres Willens ganz und gar entzogen". 367 Darüber hinaus wird eingewandt, das „Gewissen " könne - jedenfalls für sich allein - niemals taugliche Erkenntnisquelle für ein Wissen über das positive Recht sein: Das Gewissenserlebnis der „materiellen Wertwidrigkeit eines Verhaltens könne den Schluß auf eine entsprechende Wertung der positiven Rechtsordnung nicht erübrigen. 368 Das Gewissenserlebnis kann danach nur ein möglicher und zudem nicht beherrschbarer Anlaß zu dem eigentlichen Vorgang der Rechtserkenntnis sein. 369 Dieser Kritik liegt allerdings ein sehr enger, auf affektive Momente beschränkter Gewissensbegriff zugrunde, der von allen intellektuellen (und jedenfalls in Ansätzen voluntativ beeinflußbaren) (Norm-)Erkenntniskräften abstrahiert. 370 Vor allem unterstellt diese Kritik, daß es dem Bundesgerichtshof um die empirisch belegbare und im Gerichtsverfahren feststellbare (Möglichkeit der) Aktivierung dieser Gewissensfunktionen gehe (dazu sogleich). Den Einwänden, die auf die Unzulänglichkeit der Forderung nach Gewissensanspannung abstellen, stehen solche Einwände zur Seite, die die Forderung nach Gewissensanspannung als zu weitgreifend ablehnen: Man könne vom einzelnen Rechtsunterworfenen keine eigenen Wertungsakte verlangen, Unrechtsbewußtsein erschöpfe sich vielmehr in der Kenntnis von Wertungsakten des Gesetzgebers, sei eine Tatsachenkenntnis, die richterlichem Beweis zugänglich ist. 3 7 1 Der „heuristi364 BGHSt 35, 347 (350). Anders allerdings etwa BGHSt 15, 332 (340). 365 Vgl. Tröndle, Strafgesetzbuch, 48. Aufl. 1997 § 17, Rdn. 8; Otto, Der Verbotsirrtum, Jura 1990, S. 645 ff. (649); Zaczyk, Der verschuldete Verbotsirrtum - BayObLG, NJW 1989, 1744, JuS 1990, S. 889 ff. (893). Vgl. OLG Oldenburg, Beschl. v. 30. 9. 1991, NJW 1992, S.2438. 366 Cramer, Λ 17, Rdn. 15. 367 Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 226 f. Vgl. ebd., S. 42. 368 Ebd., S. 225 f., 227. 369 Ebd., S. 227. 370 Zur Vieldeutigkeit des Gewissensbegriffs in dieser Hinsicht vgl. u. Teil 2, B.I.2., S. 174 ff.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

sehe Behelf ,Gewissensanspannung'" diene nur dazu, diesen Beweis abzuschneiden. 372 Solche Kritik trifft freilich nicht nur die Verwendung des Gewissensbegriffs, sondern die gesamte Konzeption des BGH zur Behandlung des Verbotsirrtums; sie steht letztlich auf dem Boden der Vorsatztheorie und wendet sich grundsätzlich gegen die Erstreckung des Schuldvorwurfs auf den vermeidbaren Verbotsirrtum ('Hätte-wissen-können'). Innerhalb der Konzeption der Schuldtheorie ist eine Beschränkung auf die empirische Feststellung von Tatsachenkenntnissen des Beschuldigten nicht möglich. Diese Konzeption muß den Schuldvorwurf in den Vermeidbarkeitsfällen - dem strafrechtlichen Fahrlässigkeitsdelikt entsprechend - 3 7 3 entweder auf die Verletzung einer individuellen Sorgfaltspflicht 374 (einer Pflicht zu „innerer Sorgfalt" 375 oder „innerer Anstrengung" 376 ) beziehen oder auf das Ungenutztlassen einer individuellen Erkenntnisfähigkeit. 377 Das fordert vom Richter zwar, die (äußeren und inneren) tatsächlichen Voraussetzungen von Informations- und Erkenntnismöglichkeiten so weit als möglich aufzuklären und zugrundezulegen; 378 die Feststellung enthält aber notwendig immer auch ein normatives Moment: In der Voraussetzung von Sorgfaltspflichten ist das offensichtlich. Aber auch die Feststellung von über ein tatsächlich realisiertes Verhalten oder einen tatsächlich erreichten Kenntnisstand hinausreichenden (Erkenntnis-)Fähigkeiten muß letztlich immer mit Hypothesen und Fiktionen arbeiten; die Feststellung des ,Hätte-anders-können' muß letztlich immer auf ein ,Hätte-anders-müssen' zurückgreifen; es bleibt immer ein psychologisch nicht aufklärbarer „Rest"; 3 7 9 es ist immer ein „Mindestmaß an »Können' bei jedem einzelnen Täter normativ vorauszusetzen". 380 Auch die Kritiker der „Gewissensanspannung" müssen sich für die Praxis mit der objektivierten Feststellung begnügen, daß die gegebenen Umstände und die gegebenen Kenntnisse „einem verantwortungsbewußten Menschen ein hinreichender Grund gewesen wären, die 371 372 373 374

Mattil, Gewissensanspannung, S. 206, 233. Vgl. Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 42. Mattil, Gewissensanspannung, S. 208, 217. Vgl. BGHSt 4, 236 (243); Otto, Der Verbotsirrtum, S. 649. Ebd.

375

Zu den parallelen Fragen bei der fahrlässigen Unkenntnis von Tatsachen („Erkenntnisfahrlässigkeit") vgl. Struensee, Der subjektive Tatbestand des fahrlässigen Delikts, JZ 1987, S. 53 ff. (62); BGH, NJW 1984, S. 1958 f. m.w.N. 37 6 Walter/Kubink, § 3 JGG - § 17 StGB - gleiche Tatbestandsstruktur?, G A 1995, S. 51 ff. (56). 377

Rudolphi,, § 17, Rdn. 24; ders., Unrechtsbewußtsein, S. 193 ff. ™ Vgl. BGHSt 2, 194 (201); 3, 357 (366); 15, 332 (340). 379 Timpe, Normatives und Psychisches im Begriff der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, GA 1984, S. 51 ff. (57, 67). Vgl. Walter/Kubink, § 3 JGG, S. 56 ff. 3

3 «o So auch Rudolphi, Das virtuelle Unrechtsbewußtsein als Strafbarkeitsvoraussetzung im Widerstreit zwischen Schuld und Prävention, in: Bonner/de Boor (Hrsg.), Unrechtsbewußtsein. Aus der Sicht des Täters. Aus der Sicht des Richters, 1982, S. 1 ff. (19) in bezug auf den objektivierten Anlaß, sich über die Rechtmäßigkeit Gedanken zu machen. Vgl. Timpe, Normatives, S. 58.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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rechtliche Qualität seines Verhaltens zu k l ä r e n " . 3 8 1 Rechtskenntnis wird nicht nur als innerpsychische Tatsache festgestellt, sondern dem einzelnen „als eigene Aufgabe zugerechnet." 3 8 2 Der Mensch ist nicht nur passiver Empfänger staatlicher Verhaltensappelle, sondern gilt als kompetent und der rechtlichen , Z u m u t u n g ' 3 8 3 gewachsen, eigenständig Unrechtskenntnisse zu entwickeln oder sich zu verschaffen. Dieses normative Moment des Schuldvorwurfs gilt es in der Begründung strafgerichtlicher Urteile zu rechtfertigen und plausibel zu machen. Dazu kann der Verweis auf die individuelle ,Gewissens-Begabung 4 des Menschen - jedenfalls im Bereich des Kernstrafrechts - ebenso beitragen wie der Hinweis auf den „verantwortungsbewußten Menschen". Und diesem Zweck scheint letztlich auch der Rekurs auf das „Gewissen" in der Rechtsprechung zum Verbotsirrtum zu dienen - ohne daß das „Gewissens"-Argument dazu notwendig oder hinreichend wäre. Es steht dann für das vom erwachsenen 3 8 4 und generell einsichtsfähigen 385 Rechtsgenossen als „selbstverständlich" 3 8 6 Erwartete und setzt so in der Tat der gerichtlichen Feststellung konkreter Tatsachen eine Grenze. Es geht also auch nicht um eine tatsächliche Feststellung von Gewissenserlebnissen des Beschuldigten (als Anlaß oder Mittel zur Rechtserkenntnis); von Anfang an ist davor gewarnt worden, dem BGH zu unterschieben, daß er in seiner Formel zum Verbotsirrtum „mit dem Gewissen ein seelisches Faktum und nicht ein normatives Vorwurfselement gemeint habe". 387 Ebensowenig geht es um ein unreflektiertes inhaltliches Ineinssetzen von „sozialethischen" oder moralischen und rechtlichen Normen. Zwar hat das naturrechtlich geprägte Denken der 50'er Jahre gerade darin die Berechtigung der Forderung nach „Gewissensanspannung" gesehen;388 doch der Bundesgerichtshof hat immer klargestellt, daß sich das Unrechtsbewußtsein nicht in der Kenntnis der „sittlichen Verwerflichkeit" erschöpft 389 und daß er den vorwerfbaren Verbotsirrtum nicht als vorwerfbare „rechtsethische Fehlbewertung"390 eines Verhaltens betrachtet, sondern allenfalls in Fällen vollzogener oder sich aufdrängender ein-

381 Rudolphi,, § 17, Rdn. 31, 2a; ders., Das virtuelle Unrechtsbewußtsein, S. 19. Vgl. im Ergebnis auch Mattil, Gewissensanspannung, S. 242 f. 382 Timpe, Normatives, S. 53, 61 ff. (66). 383 Vgl. BGHSt 2, 194 (201, 206). 384 vgl. Walter/Kubink, § 3 JGG (Anm. 376). 385 Vgl. Rudolphi„ § 17, Rdn. 27 ff. zur Abgrenzung zwischen § 17 StGB und §§ 20 f. StGB. 386 Vgl. BGHSt 19, 295 (299); Timpe, Normatives, S. 53. Auch Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, S. 223. 387 Welzel, Anmerkung, S. 342. 388 Vgl. F. Zimmermann, Das Gewissen im Recht, besonders in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Verbotsirrtum, 1954, S. 44 ff.; ders., Unteilbares oder tatbestandsbezogenes Unrechtsbewußtsein?, NJW 1954, S. 908 f.; Küchenhoff, Staat und Gewissen, in: Geiger/Küchenhoff/Monzel, Staat und Gewissen, 1959, S. 45 ff. (55 ff., 69); Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. Grundfragen des Rechts, 1963, S. 80 ff. 389 BGHSt 2, 194 (202). Vgl. dagegen F. Zimmermann, Unteilbares oder tatbestandsbezogenes Unrechtsbewußtsein?, S. 908 („dem Unrecht entsprechende rechtsethische Norm"). 390 So aber F. Zimmermann, ebd. 5 Filmer

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

deutiger ethischer Wertungen den Schluß auf die /tec/itewidrigkeit als möglich voraussetzt und als rechtlich geboten setzt. Freilich stellt auch diese funktionale Bezugnahme eine Beziehung zwischen außerrechtlichen und rechtlichen Nonninhalten her. Eine direkte inhaltliche Umsetzung von nicht allein auf das positive Recht zurückführbaren Norminhalten findet jedoch nur in einer ganz speziellen Gruppe von Fällen statt, in den Fällen des sog. „gesetzlichen Unrechts" der NS-Zeit und der DDR. Für diese Fallgruppe, für die Frage der Erkennbarkeit „überpositiven Unrechts" („überpositive Schuld") hatte allerdings Welzel bereits 1949 den Gedanken der „Gewissensanspannung" geprägt. 391 Und in Fällen dieser Art hat der Bundesgerichtshof in der Folge der Entscheidung des Großen Senats von 1952 den Gedanken der „Gewissensanspannung" zuerst etabliert. 392 Bei der strafrechtlichen Beurteilung von DDR-Unrecht in den sog. Mauerschützenprozessen haben die Instanzgerichte393 das Argument der „Gewissensanspannung" betont - die in der Sache weitgehend bestätigenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofs 394 enthalten aber Rekurse auf das „Gewissen" nur am Rande.

Als Verweis auf eine vom Beschuldigten praktisch zu erwartende „eigene Leistung" bei der (Er-)Kenntnis des positiven Rechts findet das Argument der Gewissensanspannung auch in der aktuellen strafrechtlichen Literatur Zustimmung: „klingt zwar etwas altertümlich, trifft aber die Sache im Kern." 3 9 5 Unter diesem pragmatischen Aspekt ist die ,»Metapher von der Gewissensanspannung, der kaum ein empirischer Gehalt zuzuordnen ist, funktional gelungen". 396 Der Verweis auf das Gewissen kann innerhalb der Konzeption des Bundesgerichtshofs die Funktion 391 Vom irrenden Gewissen. Eine rechtsphilosophische Studie, Recht und Staat, Nr. 145, S. 5, 26: Alle „materialen ethischen Werte" unterliegen dem menschlichen Irrtum, doch ist der „Gewissensirrtum" nur soweit schuldausschließend, „als er trotz der vom Täter zu erwartenden und zu erbringenden Gewissensanspannung unvermeidlich war. Unentschuldbar ist der Irrtum vor allem bei Gewissenlosigkeit, d. h. bei blinder Ausführung erkennbar verwerflicher Anforderung." 392 BGH, U.v. 28. 11. 1952, NJW 1953, S. 513 f. (514); U.v. 19. 12. 1952, BGHSt 3, 357 (357, 365 f.): Ein Verbotsirrtum ist um so eher vermeidbar, je deutlicher er verbunden ist mit einer Verletzung der „Menschenwürde" - oder allgemeiner - „des der staatlichen Willkür entzogenen Rechtsbereichs". 393 Vor allem LG Berlin, U.v. 20. 1. 1992, JZ 1992, S. 691 ff. (691 mit LS 3, 695) („eklatanter Widerspruch zu den allgemein anerkannten Grundsätzen von Recht und Gerechtigkeit"). Auch LG Berlin, U.v. 5. 2. 1992, NStZ 1992, S. 492 ff. (494 f.) („eklatante Mißachtung des höchsten aller Rechtsgüter"); KG, Beschl. v. 19. 7. 1991, NJW 1991, S. 2656. Kritisch zum „undifferenzierten" Gebrauch der „Gewissensanspannung" F. Herzog, Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Todesschützen an der innerdeutschen Grenze, NJ 1993, S. 1 ff. (3); Arnold/Kühl, Probleme der Strafbarkeit von „Mauerschützen", JuS 1992, S. 991 ff. (996). Vgl. zum Ganzen Alexy, Mauerschützen. Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit, 1993, insbes. S. 36 ff. 394 Vgl. BGHSt 39, 1 (33 f.) („Gewissen des Angeklagten geweckt"); BGHSt 39, 168 (179) („für den Anruf seines Gewissens empfänglich"). Das mag allerdings auch daran liegen, daß der BGH Spezialvorschriften zum Verbotsirrtum (§ 258 I StGB-DDR; § 5 I WStGB) anzuwenden hatte, die mit dem Kriterium des „offensichtlichen" Unrechts bereits einen spezielleren objektiven Maßstab vorgeben (vgl. Arnold/Kühl, Probleme, S. 996). 395 Zaczyk, Der verschuldete Verbotsirrtum, S. 893. 396 Walter/Kubink, § 3 JGG, S. 56, 58 f.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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erfüllen, die retrospektive, sanktionierende Anwendung bestimmter (fundamentaler) verhaltenslenkender Rechtsnormen argumentativ zu rechtfertigen und so ihre Wirksamkeit zu verstärken.

2. Ergänzungsfunktion Einige Verweise auf das Gewissen verfolgen nicht das Ziel, die Wirksamkeit vorgegebener rechtlicher Verhaltensregeln zu erhöhen; sie verweisen vielmehr in erster Linie auf eine Kompetenz des einzelnen zur eigenverantwortlichen Vornahme von Wertungen, wo der Staat aussagekräftige und wirksame Rechtsregeln entweder - aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen - nicht mehr setzen kann oder aus rechtspolitischen Erwägungen nicht mehr setzen will. 3 9 7

a) Das Gewissen des Abgeordneten Eine solche normative Ergänzungsfunktion kommt vor allem dem Verweis auf das Gewissen des Bundestagsabgeordneten in Art. 38 I 2 GG zu. Nach dieser Vorschrift sind die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Ähnliche Vorschriften enthalten heute (bis auf die hessische398) alle Länderverfassungen und das Gesetz über die Abgeordneten des Europäischen Parlaments von 1979 (§ 2). Die Vorschriften gehen unmittelbar auf Art. 21 WRV zurück („... nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden").399 Der hat seine Vorläufer in konstitutionalistischen Verfassungen des 19. Jahrhunderts, die allerdings meist von der „inneren Überzeugung" des Abgeordneten sprechen. 400 In diesen Vorschriften sieht man heute die Zentralnorm für die Bestimmung von Status und Stellung des Abgeordneten, das ,freie Mandat4, und den repräsentativen Charakter der Demokratie. Konkret bekommt der Abgeordnete Entscheidungsfreiheit in dem Sinne eingeräumt, daß Aufträge und Weisungen in bezug auf seine Abgeordnetentätigkeit rechtlich nicht binden, entsprechende Verträge etwa nichtig sind und weder Wähler noch Partei für die laufende Legislaturperiode 397 Vgl. etwa K. Peters, Die ethischen Grundlagen des Strafprozesses, in: FS Würtenberger, 1977, S. 77 ff. (81). 398 Vgl. Art. 77 VerfHess. In der Verfassung Berlins von 1950 war Art. 25 IV ursprünglich nicht enthalten. 399 Diese Formulierung haben beibehalten die Verfassungen von Hamburg (1952, Art. 7); Schleswig-Holstein (1949, Art. 9 I); Bremen (1947, Art. 83, S. 3); Saarland (1947, Art. 68 III) und Rheinland-Pfalz (1947, Art. 79). 400 Z. B. Art. 83 der preußischen Verfassungsurkunde von 1850; §§ 48, 69 der Verfassung Badens von 1818. Vgl. Badura, BK, Art. 38, Rdn. 20 ff. Entsprechend lautet noch heute Art. 30 II der nordrhein-westfälischen Verfassung von 1950.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

das Mandat, die Rechtsstellung als Abgeordneter, entziehen können (kein rec a l l ) . 4 0 1 Die Frage, welche Funktion dabei der Bezugnahme auf das Gewissen zukommt, haben Literatur und Rechtsprechung 402 wiederholt behandelt, ohne auch nur annähernd Einigkeit zu erreichen. Uneinigkeit herrscht - wie in der eingangs 4 0 3 dargestellten Bundestagsdebatte - schon darüber, ob die Bezugnahme eine spezielle Form von Gewissens/re//ie/r oder eine Gcmssensbindung des Abgeordneten begründen soll. Einzelne Interpretationen verstehen Art. 38 I 2 GG als „lex specialis" 4 0 4 zur grundrechtlichen Gewissensfreiheit nach Art. 4 1 GG, als ein dem Grundrecht „korrespondierendes" 405 Recht, oder sie sehen die Intention der Vorschrift, der des Art. 4 I GG entsprechend, i m „Schutz des Gewissens" 4 0 6 , im „Schutz vor Gewissenszwang" 4 0 7 . Einem grundrechtsähnlichen 408 Verständnis der Norm steht jedoch entgegen, daß sie ein öffentliches A m t 4 0 9 ausgestaltet und nicht auf die Wahrung von Individualrechtsgütern z i e l t . 4 1 0 I m Rahmen einer konstitutionalistischen Verfassung mag man dem Abgeordneten - als Repräsentanten des Volkes gegenüber der vom Monarchen verkörperten Staatsgewalt - noch eine Art „potenzierte Bür401 Vgl. u. a. Badura, BK, Art. 38, Rdn. 31 ff; densDie Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, §§ 15, Rdn. 9 ff., 35 ff. Der Abgeordnete unterliegt nur den politischen Sanktionen, nicht wiedergewählt zu werden, sich nicht erneut als Kandidat seiner Partei zur Wahl stellen zu können und von der parlamentarischen Arbeit der Fraktion ausgeschlossen zu werden. 402 StGH Bremen, E. v. 13. 5. 1953, DVB1. 1953, S. 437 ff. (Entscheidung über eine rechtliche Zweifelsfrage im Vorlageverfahren nach Art. 140 der Landesverfassung). 403 Vgl. ο. Α., S. 19 ff. 404 Klier, Gewissensfreiheit, S. 187 ff., der auch im Rahmen des Art. 38 GG von „Schutzbereich44 und „Schranke44 spricht (vgl. FN 219). 405 Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 56. 406 BVerwGE 27, 303 (305); Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971, S. 104. Vgl. VGH Kassel, U.v. 5. 1. 1998, DVB1. 1998 S. 783 ff. (784 f.). Vgl. R. Schmidt, Verfahrensökonomie und Gewissensfreiheit (Anm. 106). 407 ρ Krause, Freies Mandat und Kontrolle der Abgeordnetentätigkeit, DÖV 1974, S. 325 ff. (331). 408 Vgl. etwa auch die abweichende Meinung des Richters Hirsch zu BVerfGE 48, 127; ebd., S. 185 ff. (195 f.); Lisken, Gefährdungen der Gewissensfreiheit, S. 549 ff. 409 So die ganz überwiegende Meinung. Das BVerfG spricht vom „öffentlichen Amt44 (BVerfGE 40, 296 (296)) oder meist vom besonderen „verfassungsrechtlichen Status44 des Abgeordneten (BVerfGE 2, 143 (146); 4, 144 (148 f.)). Vgl. H. H. Klein, Status des Abgeordneten, in: HStR, Bnd. II, 1987, § 41, Rdn. 1; Henke, Recht und Staat, 1988, S. 377, 387 ff.; dens., BK, Art. 21, Rdn. 78 ff. m.w.N.; Köttgen, Abgeordnete und Minister als Statusinhaber, in: GS W. Jellinek, 1955, S. 195 ff. (205 ff.); v. Münch, in: ders./Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bnd. II, 3. Aufl. 1995, Art. 38, Rdn. 57a; H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 19 f.; Pieroth, Art. 38, Rdn. 25. Kritisch gegenüber zu weitgehenden Konsequenzen daraus Badura, Die Stellung, Rdn. 59; ders., BK, Art. 38, Rdn. 50 m.w.N. 410 Badura, Die Stellung, Rdn. 11; Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 1077 f.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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gerfreiheit" 411 zuschreiben können; in der parlamentarischen Demokratie aber erfüllt der Parlamentarier öffentliche Aufgaben im Zentrum der staatlichen Willensbildung. Wenn daher von einigen Autoren betont wird, bei der Gewissensunterworfenheit des Art. 38 I 2 GG liege der Ton auf dem „nur", 412 die „Gewissensfreiheit des Abgeordneten" bilde den Kern seines verfassungsrechtlichen Status 4 1 3 dann kann das nur als statusbezogene Eröffnung von Handlungsspielräumen im Dienste der Funktionen des Amtes verstanden werden. (Eine - grundrechtsähnliche - über die Art. 46 ff. GG hinausgehende Freistellung des Abgeordneten im Rahmen der für alle geltenden Rechtsordnung wird auch nirgends angenommen.) Die Bezugnahme auf das Gewissen als Gewissensfreiheit unterstreicht oder erweitert so lediglich die Unabhängigkeit des von Aufträgen und Weisungen freien Mandats und teilt dessen Funktionen. Die Unabhängigkeit des einzelnen Abgeordneten dient dann etwa der Unabhängigkeit der Legislative im gewaltentrennenden System. 414 Die „Gewissensfreiheit gegenüber der Fraktion" dient der parlamentarischen Willensbildung, indem sie „demokratischen Minderheitenschutz" ermöglicht und dem Dissens einzelner Fraktionsmitglieder auch in der öffentlichen Auseinandersetzung höheres moralisches Gewicht verleiht. 415 Versteht man die Gewissensfreiheit des Abgeordneten pauschal als „volle Unabhängigkeit von allen Gruppen und jedem fremden Willen", 4 1 6 bleibt der Kreis der durch diese Rechtsposition Verpflichteten offen. Einen solchen Weg schlägt jetzt explizit Art. 56 I der Verfassung Brandenburgs von 1992 ein: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. Niemand darf einen Abgeordneten zwingen, gegen sein Gewissen oder seine Überzeugung zu handeln". Darin sieht man so etwas wie eine - wenn auch wohl nicht sanktionierte - Erweiterung des strafrechtlichen Nötigungsverbots: jedermann soll es verfassungsrechtlich untersagt sein, auch nur den Versuch einer Ausübung von Zwang zu unternehmen, wobei es bereits als Zwang gelten soll, die Gewährung von Vorteilen (etwa Parteispenden) von einer bestimmten Mandatsausübung abhängig zu machen. 417 Daß es dieser Auslegung 411

Köttgen, Abgeordnete, S. 212 f. (mit Verweis auf Smend, Bürger und Bourgeois, S. 17). 412 Badura, BK, Art. 38, Rdn. 50; v. Münch, Art. 38, Rdn. 63; H.-P Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 30. 413 Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 80. Vgl. Pieroth, Art. 38, Rdn. 26. 414 Vgl. G. Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, 1979, S. 255. 4 15 H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 19, 30; ders., Das parlamentarische System, in: Benda /Maihofer/ Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 13, Rdn. 43. Vgl. Achterberg, Vertrauensfrage und Auflösungsanordnung. Kritische Bemerkungen zum „Wahlurteil" des Bundesverfassungsgerichts, DVB1. 1983, S. 477 ff. (485). 41

6 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 21, Anm. 2. So auch v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1966, Art. 38, Anm. IVa. 417 K. Finkelnburg, Die Verantwortlichkeit des Abgeordneten, in: H. Simon/D. Franke/ M. Sachs (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, 1994, § 12, Rdn. 6.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

aber eigentlich nicht um die Freiheit von Zwang geht, sondern um die Integrität der Amtswahrnehmung, liegt auf der Hand. Speziell gegen außerparlamentarische Bindungen des Abgeordneten in Form von an ihn gerichteten politischen Erwartungen wendet sich die Gewissensfreiheit auch in einer Interpretation des Art. 38 I 2 GG, die den Zweck der Bezugnahme auf das Gewissen in der Lösung politischer „Loyalitätskonflikte" sieht. 418 Loyalitätskonflikte entstehen durch manchmal divergierende Erwartungen von Wählern, Parteibasis und Fraktion. Die Willensbildung (Mehrheitsbildung) innerhalb des Parlaments fordert, daß der einzelne Parlamentarier flexibel, kompromißfähig bleiben, sich von außerparlamentarischen Bindungen freimachen kann. Dies soll gerade dadurch ermöglicht werden, daß der Abgeordnete sich auf „nicht kontrollierbare Gewissensregungen" berufen, die wahren Motive seines (Abstimmungs-) Verhaltens durch den „nebulösen" Gewissensbegriff „gleichsam »vernebeln4 kann". Die verfassungsrechtliche Untermauerung einer argumentativen Bezugnahme auf das Gewissen im politischen Prozeß dient letztlich der „Lockerung des Begründungszwangs" gegenüber außerparlamentarischen Gruppen. 419 Dieses Grundanliegen hat die dargestellte Interpretation des Art. 38 I 2 GG mit anderen gemein, die den Zweck der ausschließlichen Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten in einer Freistellung von Begriindungszwängen und politischen Rechenschaftspflichten sehen, 420 den Abgeordneten davor schützen wollen, seine Motivationen offenlegen zu müssen421 und zum Teil schon die namentliche Abstimmung im Bundestag unter diesem Gesichtspunkt problematisieren. 422 Solchen Auslegungsansätzen ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Abgeordnete zwar keinen rechtlich sanktionierten Rechenschaftspflichten unterliegt, 423 durch das von Art. 38 I 2 GG ausgestaltete freie Mandat aber nicht von der politischen Verantwortlichkeit und von der Pflicht zur öffentlichen Rechtfertigung seines Handelns enthoben wird. 4 2 4 Eine »Privatisierung 4 seiner Amts Wahrnehmung stünde zu der Funktion des Amtes im Zentrum der demokratischen Bildung des Staatswillens in diametralem Gegensatz. Auch Formulierungen wie die der bayerischen Verfassung (Art. 13 12: „nur ihrem Gewissen verantwortlich 44) dürfen daher nicht im 418

Trachternach, Die Freiheit des Abgeordneten und die Ratlosigkeit der Juristen, DVB1. 1975, S. 85 ff. (86 f.). Vgl. die Äußerung in der Bundestagsdebatte vom 25. 6. 1992 o. S. 15, Anm. 38. «i» Trachternach, Die Freiheit, S. 87. «20 Vgl. U.K. Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 192 ff. Vgl. in Opposition zum „klassisch-repräsentativen Parlamentarismus" - Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie. Eine Betrachtung zu Art. 21 und 38 des Bonner Grundgesetzes, DVB1. 1951, S. 1 ff. (2). 42

1 Dreher, Zum Fraktionszwang der Bundestagsabgeordneten, NJW 1950, S. 661 ff. (663). «22 Vgl. K. Finkelnburg, Die Verantwortlichkeit, Rdn. 6. 4 23 Pieroth, Art. 38, Rdn. 26; H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 30. 4 24 H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 40; ders., Das parlamentarische System, Rdn. 44.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Sinne einer solchen Privatisierung verstanden werden. Das „Gewissen" ist auch hier kein Topos, um den Anspruch vernünftiger Begründung abzuwehren 425 - ja, man kann das Spezifikum des freien Mandats und der ausschließlichen Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten gerade darin sehen, daß ihm Entlastungsargumente (Verweise auf äußere Bindungen) genommen werden und damit seine persönliche (politische und moralische) Letztverantwortung herausgehoben wird. 4 2 6 Das bedeutet faktisch eine Verstärkung von Begründungspflichten. Lehnt man eine solche, letztlich moralische, auf ein „Amtsethos" 427 abzielende Inpflichtnahme als unzulässige („peinliche" 428 ) Überhöhung oder moralische Überfrachtung des Abgeordnetenmandats („Katechismussentenz"429) ab, 4 3 0 muß allerdings die normtextliche Bezugnahme auf das Gewissen dunkel bleiben, als zumindest tautologisch und überflüssig erscheinen; ihr Aussagewert erschöpft sich dann darin, (deklaratorischer) Gegenbegriff zur Weisungsfreiheit zu sein. 431 Eine solche Nivellierung des Gewissensbegriffs in Art. 38 I 2 GG findet ein Argument in der Entstehungsgeschichte des der Vorschrift vorausgehenden Art. 21 der Weimarer Reichsverfassung. Der erhielt seine Fassung nämlich in der Nationalversammlung durch einen Antrag des USPD-Abgeordneten Dr. Cohn, der damit das Ziel verfolgte, die Sprache des Verfassungsentwurfs „kerniger" und „volkstümlicher" zu gestalten.432 Daß jedoch die Bezugnahme auf das Gewissen - nach dem 425 Heyen, Über Gewissen, S. 52. Vgl. Klier, Gewissensfreiheit, S. 187 ff., dens., Mehr geheime Abstimmungen in den Parlamenten, ZRP 1976, S. 232; Demmler, Der Abgeordnete, S. 69 f., 130. 426 Demmler, Der Abgeordnete, S. 127, 133; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984, S. 58,60; H. H. Klein, Status, Rdn. 5; Kotigen, Das anvertraute öffentliche Amt, in: FS Smend, Bnd. II, 1962, S. 119 ff. (138 f.). Vgl. bereits Anschütz, Art. 21, Anm. 2. 427 Heyen, Über Gewissen, S. 49 ff., 53. 4

28 Vgl. H. Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, VVDStRL 33 (1974), S. 69 ff. (93). 429 V Münch, Art. 38, Rdn. 71. Vgl. Morstein Marx, Rechtswirklichkeit und freies Mandat, AöR 50 (1926), S. 430 ff. (435 f., 439); Steffani, Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation, in: ders. (Hrsg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, 2. Aufl., 1973, S. 17 ff. (35). 430 Zur Gefahr einer Diskreditierung des Parlaments bei Mißbrauch des Gewissens-Arguments vgl. Wefelmeier, Repräsentation und Abgeordnetenmandat, 1991, S. 166 f.; Thaysen, Repräsentativ-Erhebung: Richten sich die Bundestagsabgeordneten nach ihrem Gewissen? ZParl 5 (1974), S. 3 ff., wonach 1973 nur etwa 1 / 3 der Befragten davon ausgingen, Bundestagsabgeordnete richteten sich nach „der Stimme ihres Gewissens". Vgl. bereits die Debatte im Parlamentarischen Rat, JöR N.F. 1, S. 353 ff. Für eine Ersetzung der Gewissensformel durch den Begriff der „Überzeugung" Badura, BK, Art. 38, Rdn. 50, 78; v. Münch, Art. 38, Rdn. 71; Wefelmeier, Repräsentation, a.a.O., S. 167. 431 Wefelmeier, Repräsentation, S. 166 f.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bnd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 4, Rdn. 35. 432 Vgl. Badura, Die Stellung, Rdn. 11. Eingehende Darstellung bei Heyen, Über Gewissen, S. 42 ff. m.w.N.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Vorstellungsbild der übrigen Mitglieder der Nationalversammlung wie nach einem objektivierten Willen des Verfassunggebers - nicht lediglich stilistische Bedeutung haben kann, sondern einen eigenständigen Aspekt des Amtes bezeichnet, ergibt sich bereits aus dem weiteren historischen Kontext der Norm. So beschreibt bereits die Stein'sche Preußische Städteordnung von 1808 das Amt des Stadtverordneten: „Das Gesetz und ihre Wahl sind ihre Vollmacht, ihre Überzeugung und ihre Ansicht vom gemeinen Besten der Stadt ihre Instruktion, ihr Gewissen aber die Behörde, der sie deshalb Rechenschaft zu leisten haben." 433 Schweizer Kantonsverfassungen enthalten ähnliche Formulierungen für den unmittelbar am staatlichen Willensbildungs- und Rechtsetzungsprozeß beteiligten Staatsbürger: „Richtschnur der Landsgemeinde soll nur das Recht und die Wohlfahrt des Vaterlandes, nicht aber Willkür oder die Gewalt des Stärkeren sein. Über die Abgabe seiner Stimme ist das Volk und der Einzelne nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich" 434 oder: »Jedermann hat bei allen Vorlagen und Wahlen so zu stimmen, wie er es in seinem Gewissen verantworten kann." 435 Die appellative Verpflichtung auf das Gewissen tritt hier deutlich hervor. Noch deutlichere Vorgänger hat die Gewissensformel des Art. 21 WRV mit der Verpflichtung auf das Gemeinwohl und der Bezugnahme auf das Gewissen in den Abgeordneteneiden des Konstitutionalismus. 436 In ihnen hatte die Verpflichtung noch die Form eines amtsbezogenen Versprechens; in Art. 21 WRV hat die Gewissensformel demgegenüber nur den Charakter eines einseitigen Appells. 437 Den appellativen Charakter hebt etwa die badische Landesverfassung von 1946 hervor, wenn sie den Text der Weimarer Verfassung variiert: , Jeder Abgeordnete folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen." (Art. 21, S. 3). Diese Fassung favorisierte zeitweise (auf einen Antrag des Abgeordneten Dr. Süsterhenn, CDU) auch der Parlamentarische Rat, kehrte aber später zu der „klassischen Formulierung" des Art. 21 WRV zurück - ohne darin eine Änderung in der Sache zu erblicken. 438 1 986 hat der Bundestag selbst die Formulierung der badischen Ver433 Vgl. Hennis , Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: FS Smend (1962), hrsg. v. K. Hesse, S. Reicke, U. Scheuner, 1962, S. 51 ff. (63). 434 Art. 50 der (bis 1968 geltenden) Verfassung des Kantons Uri. Vgl. Hennis , Amtsgedanke, S. 53. 43 5 Art. 22 III der Verfassung des Kantons Unterwaiden o.d.W. v. 19. 5. 1968. Vgl. Art. 56 I Verf. St. Gallen v. 16. 11. 1890: „Die Mitglieder des Grossen Rates Stimmen einzig nach Eid und eigener Überzeugung." Art. 47 Verf. Wallis 8. 3. 1907 (Grosser Rat): „Die Abgeordneten sollen zum allgemeinen Besten nach ihrer Überzeugung Stimmen. Sie dürfen durch keine Verhaltungsbefehle gebunden werden." 436

Vgl. z. B. § 82 der Verfassung Sachsens von 1831. Vgl. Heyen, Über Gewissen, S. 45 f., 51; Demmler, Der Abgeordnete, S. 124 f.; Steffani, Zur Problematik, S. 46 mit FN 55; dens., Ein Verfassungseid für Abgeordnete in Bund und Ländern? ZParl 7 (1976), S. 85 ff. (95 ff., 100); Hennis, Amtsgedanke, S. 63. 437

Vgl. schon Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtsstellung der Abgeordneten; ihre Pflichten und Rechte, HdbDStR, Bnd. I, 1930, S. 413 ff. (421). Heyen, Über Gewissen, S. 51; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 80; Köttgen, Abgeordnete, S. 212, 219; Badura, Die Stellung, Rdn. 11.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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fassung wiederbelebt, indem er sie zur Konkretisierung des Art. 38 I 2 GG in seiner Geschäftsordnung an die Spitze der Regelungen über die „Rechte und Pflichten der Mitglieder des Bundestages" stellte. 4 3 9 Diese Ergänzung der Geschäftsordnung kann als Erfolg der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform betrachtet werden. 440 Deren Vorsitzende, die Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher, hat sich besonders in ihrer Schrift „Der Politiker und sein Gewissen"441 für eine Stärkung der Stellung des Abgeordneten eingesetzt. Sie versteht den Art. 38 I 2 GG als an den einzelnen Parlamentarier gerichtetes Verfassungsgebot oder als Verfassungsauftrag (der eine Erweiterung der Mitwirkungsrechte verlange). 442 Vor diesem Hintergrund schlägt sie vor, die Abgeordneten sollten in Zukunft die Beachtung ihrer Verfassungspflichten mit dem Wortlaut des Art. 38 I 2 GG (dessen Wurzeln entsprechend443) beeiden.444 Aber auch schon § 13 I GO BT stellt eine ,Selbst-Interpretation' der Adressaten des Art. 38 I 2 GG dar, die den Verpflichtungsaspekt der Gewissensformel betont. Das, was die Gewissensformel zusätzlich zur Instruktionsfreiheit enthält, ist jedenfalls immer ein Moment der Verpflichtung, den Pflichtaspekt des freien Mandats, des rechtlich freigestellten Amtes. Unklar ist damit freilich noch, welchen Inhalt diese Verpflichtung hat. Nur vereinzelt finden sich Versuche, unmittelbar aus der „Gewissensunterworfenheit" des Abgeordneten konkrete Verhaltensgebote abzuleiten: etwa ein Verbot, die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG gegen die eigene wahre Überzeugung aus (wahl-)taktischen Gründen zu verneinen; 4 4 5 das Verbot eines Mandats Verzichts, der auf der Motivation beruht, ein Rotationsprinzip für Abgeordnete zu etablieren; 446 oder ganz allgemein das Gebot, amtsbezogene Akte, vor allem Abstimmungsakte, in personam vorzunehmen. 4 4 7 Erwogen wird auch, der Gewissensformel des Art. 38 GG ein Befangenheitsregelungen entsprechendes Mitwirkungsverbot zu entnehmen. 4 4 8 Solch konkrete 438 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 11, 390. Vgl. JöR N.F. 1, S. 355; Demmler, Der Abgeordnete, S. 126; Hamm-Brücher, Abgeordneter und Fraktion, in: Schneider /Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 22, Rdn. 20. 439 § 13 I GO BTi.d.F. v. 18. 12. 1986, BGBl. 1987 I, S. 147. ^o Vgl. Wefelmeier, Repräsentation, S. 136 f. 441 Der Politiker und sein Gewissen. Eine Streitschrift für mehr Freiheit, 1983. Hamm-Brücher, Abgeordneter, Rdn. 1, 6, 74 f., 81. 443

Vgl. o. bei Anm. 436. Hamm-Brücher, Der Politiker, S. 81 zudem mit den weiteren Vorschlägen, den Wortlaut des Art. 38 GG im Plenarsaal 'anzubringen' und den Fraktionsgeschäftsordnungen voranzustellen. 444

445

Achterberg, Vertrauensfrage, S. 484 f. Heyen, Zur immanenten Grenze der Gewissensfreiheit beim Mandatsverzicht, DÖV 1985, S. 772 ff. (773,774). 447 H Schneider, Anmerkung zu StGH Bremen, DVB1. 1953, S. 437 ff., ebd., S. 440 f. Die badische Verfassung von 1919 (§ 40, S. 2) regelt das - anstelle der Gewissensformel - noch explizit. 446

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Schlußfolgerungen lassen sich aber kaum noch als Auslegung gerade der Gewissensformel des Art. 38 I 2 GG ausweisen (soweit sie überhaupt als Rechtsgebote begründbar sind, haben sie andere Anknüpfungspunkte im Verfassungstext). Die Gewissensformel kann weder konkrete Amtspflichten begründen, noch kann sie die Funktion haben, anderweitig begründete Amtspflichten (etwa Gewissensformeln im Beamtenrecht) entsprechend zu verstärken. 449 Zwar normiert die Rechtsordnung - im Bund vor allem das Abgeordnetengesetz, die auf seiner Grundlage erlassenen Verhaltensregeln 450 und die Geschäftsordnung des Bundestages durchaus auch Amtspflichten für Abgeordnete; aber diese haben sehr rudimentären und formalen Charakter; 451 sie legen nur fragmentarisch einen gewissen äußeren Rahmen der Amtswahrnehmung fest, durch Offenlegungs- und Anzeigepflichten, Geheimhaltungspflichten, Teilnahmepflichten usf. Materiell ist speziell die Gesetzgebungstätigkeit an die Verfassung (die Verfassungsänderung an Art. 79 ΠΙ GG) gebunden; aber diese ist in der Regel wiederum nur Grenze eines Gestaltungsspielraums, kein konkreter positiver Auftrag und Maßstab des Handelns - Gesetzgebung ist nicht in erster Linie Verfassungsanwendung. Die Rechtsordnung determiniert das Handeln des Abgeordneten sachbezogen ebensowenig wie personenbezogen, und eine solche Determination ist ihr auch gar nicht möglich, weil der Abgeordnete als Recht-Schaffender selbst an einer Systemgrenze der Rechtsordnung steht. 452 Anders als das Handeln anderer Amtsträger ist das des Abgeordneten primär „nicht zweckerfüllend, sondern zwecksetzend",453 sein Status aus Sicht der Rechtsordnung nicht von Gehorsam, sondern von „normativer Entstrickung" geprägt. 454 Der Verweis auf das Gewissen ist daher nicht Verstärkung von Rechtspflichten, sondern Korrelat gerade der rechtlichen Ungebundenheit. Es geht ihm nicht um die Wirkungen von Rechtspflichten, sondern um eine „aus Rechtsgründen angemahnte Moral" 4 5 5 Auf dieser Grundlage kann man erneut die Frage der Konkretisierbarkeit stellen, der Konkretisierbarkeit des moralischen Appells. Von einem naturrechtlichen Standpunkt aus muß diese Frage eine positive Antwort bekommen: Der staatliche Gesetzgeber ist in seinem personalen Substrat immer an das göttliche Gesetz oder an „das sittliche Gewissen" gebunden; wie das Naturrecht vermittelt durch das Gewissen des Monarchen Richtschnur der Gesetz448 Achterberg, Die Abstimmungsbefugnis des Abgeordneten bei Betroffenheit in eigener Sache, AöR 109 (1984), S. 505 ff. (510 ff., 515). 449 Vgl. o. l.b)cc), S. 48 ff. 450 Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestag, Anlage 1 der GO BT. Vgl. § 44a AbgG (im einzelnen Wefelmeier, Repräsentation, S. 197 f. m.w.N.). 4

51 Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtsstellung, S. 424 ff. 52 Vgl. Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtsstellung, S. 424 ff. m.w.N.

4

453 4 4

5

455

Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 80. Röttgen, Abgeordnete, S. 212 f. Heyen, Über Gewissen, S. 51.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

75

gebung war, 4 5 6 so ist es dies auch für die demokratische Gesetzgebung durch das Volk oder den Abgeordneten. 457 Weitgehendes Vertrauen in die Konkretisierbarkeit der Gewissensunterworfenheit (Art. 3812 GG) spricht auch noch aus der Auslegung als Bindung an einen „Maßstab allgemein anerkannter sittlicher Grundsätze", 458 die dann im einzelnen aber nicht benannt werden. Die allgemeinste und heute fast allgemein anerkannte Paraphrasierung der Gewissensformel des Art. 38 I 2 GG ist deren Ersetzung durch die Pflicht des Parlamentariers zur Gemeinwohlorientierung. 459 An dem damit erzielten Gewinn kann man freilich zweifeln. Aber jedenfalls - negativ - als Ausschluß willkürlichen oder eigennützigen Handelns läßt sich die Pflicht zum Gemeinnutz (im forum internum des Abgeordneten wie im öffentlichen Diskurs) doch oft konkretisieren 460 und auch darüber hinaus, um offensichtlich Gemeinwohlwidriges auszuscheiden. 461 Der Gemeinwohlbegriff bringt positiv auch den Amtscharakter der Stellung des Abgeordneten zum Ausdruck und die Erwartung, der Abgeordnete werde grundsätzlich Interessen aller Staatsbürger als legitim anerkennen. 462 Letztlich besteht jedoch Einigkeit, daß die Pflicht zur Gemeinwohlorientierung keine sachliche Verpflichtung auf „vorgegebene Anforderungen des Gemeinwohls" bedeutet,463 son456 Vgl. Polley, Bibel und Staatsverfassung im 19. Jahrhundert - Eine Fallstudie, in: Ekkert/Hattenhauer (Hrsg.), Bibel und Recht, 1994, S. 369 ff. (372 f.). Vgl. StGH Bremen, E. v. 13. 5. 1953, DVB1. 1953, S. 437 ff. (438 f.). Zur „Gewissensfreiheit des Monarchen" vgl. Mock, Gewissen, S. 73 ff.; Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, 1962, S. 2. 457 Vgl. Zimmermann, Das Gewissen, S. 30 ff.; Pötter, Richterrecht, S. 49 m.w.N.; StGH Bremen, E. v. 13. 5. 1953, DVB1. 1953, S. 437 ff. (438 f.) (vgl. Art. 1 der Verfassung Bremens: „Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung sind an die Gebote der Sittlichkeit und Menschlichkeit gebunden.") 458 Maunz, M / D / H / S , Art. 38, Rdn. 17; Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S. 548 ff. (560 f.) Vgl. ζ. B. auch E. Paul, Gewissen und Recht, 1970, S. 24. 459 Vgl. Art. 38 I 2, 1. HS.: „Vertreter des ganzen Volkes". Die zitierten schweizerischen Verfassungen (vgl. o. bei Anm. 434 f.) sowie Regelungen für Mitglieder kommunaler »Parlamente* enthalten den Bezug auf das Gemeinwohl explizit (vgl. o. bei Anm. 433). Vgl. § 30 der Gemeindeordnung von Rheinland-Pfalz: I. „Die Ratsmitglieder üben ihr Amt unentgeltlich nach freier, nur durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl bestimmter Gewissensüberzeugung aus; sie sind an Weisungen oder Aufträge ihrer Wähler nicht gebunden." II. „Der Bürgermeister verpflichtet die Ratsmitglieder vor dem Amtsantritt in öffentlicher Sitzung namens der Gemeinde durch Handschlag auf die gewissenhafte Erfüllung ihrer Pflichten. ..." Vgl. § 43 I GO NW („Überzeugung"). Vgl. Heyen, Über Gewissen, S. 45. Vgl. jetzt auch Art. 53 III der Verfassung Thüringens von 1993. Vgl. H. H. Klein, Status, Rdn. 1; Demmler, Der Abgeordnete, S. 124, 127 ff.; Hennis, Amtsgedanke, S. 63; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S. 58 ff. 460 Heyen, Über Gewissen, S. 42, 45. Vgl. die Vorschriften zur Abgeordnetenanklage wegen eigennützigen Amtsmißbrauchs in einigen Landesverfassungen (Niedersachsen, Art. 13; Saarland, Art. 87; Bremen, Art. 85; Hamburg, Art. 13 II; Baden-Württemberg, Art. 42; Bayern, Art. 61 III; Brandenburg, Art. 61. 461 Wefelmeier, Repräsentation, S. 127 ff. Vgl. Heyen, Über Gewissen, S. 59. 462 Vgl. v. Münch, Art 38, Rdn. 57a („im Auge behalten").

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

dem ihrerseits einen vom einzelnen Abgeordneten in eigener Verantwortung zu konkretisierenden Verhaltensmaßstab liefert. 464 Durch diese „Subjektivierung" 465 wird die Orientierung am »Gemeinwohl' - ähnlich wie die des Richters an der »Gerechtigkeit' 466 - reduziert zur »»regulativen Idee". 467 Die Richtigkeit eines konkreten Verhaltensentschlusses beruht nicht auf dem Nachvollzug objektiver Vorgaben, sondern erweist sich als individuell zu erfüllende Aufgabe. Wo die Gemeinwohlverpflichtung weiter konkretisiert wird, geschieht das daher konsequenterweise meist nicht im Hinblick auf weitere „Zielvorgaben", 468 sie findet vielmehr ihren Niederschlag in Anforderungen an die Art und Weise der Gewinnung und nachträglichen Rechtfertigung von Verhaltensentschlüssen:469 in erster Linie wiederum - wie bei anderen Amtsträgern - in der Forderung nach Gewissenhaftigkeit oder Handeln „nach bestem Wissen und Gewissen" (vgl. ausdrücklich Art. 37, S. 2 der Verfassung Württemberg-Hohenzollerns von 1947: „Gewissenhafte Erwägung ist maßgebend für ihre Abstimmung und für jede Äußerung, die sie in Ausübung ihres Berufes machen."). 470 Für den Abgeordneten heißt das, daß er sein Tun reflexiv vorzubereiten und diskursiv zu begründen hat - natürlich nicht in autonomer Vereinzelung, sondern eingebunden in den arbeitsteiligen Prozeß der parlamentarischen Arbeit und den gesellschaftlichen Dialog. 471 Die zentralen „Elemente des vernünftigen Dialogs: Un463 Badura, Die Stellung, Rdn. 11. Vgl. dens. y BK, Art. 38, Rdn. 50; H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 18; Demmler, Der Abgeordnete, S. 129 ff.; Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, FS Gebhard Müller, 1970, S. 379 ff. (392). Isensee, Staat und Verfassung, HStR Bnd. I, 1987, § 13, Rdn. 106. 464

Vgl. vor allem Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff. m.w.N., der der „Leerformelthese" entgegentritt, indem er den Gemeinwohlbegriff als - über Recht und Rechtswissenschaft hinausweisenden „gemeinsamen Argumentationsrahmen" entfaltet (S. 258, 271 f., 276 ff., 283 f. Zum freien Mandat ebd. S. 262). «65 Demmler, Der Abgeordnete, S. 129 ff. 466 Vgl. o. l.b)bb), S. 45 ff. Vgl. Häberle, Die Gemeinwohlproblematik, S. 258. 467 Heyen, Über Gewissen, S. 52 f.; Wefelmeier, Repräsentation, S. 127 ff. 468 Vgl. Demmler, Der Abgeordnete, S. 51. 469 Vgl. o. l.b)bb), S. 47 f. 470 Vgl. zuletzt zu Gewissenhaftigkeit und Gerechtigkeitsauftrag K. Vogel, Wortbruch im Verfassungsrecht, JZ 1997, S. 161 ff. (166 f.). Tatarin-Tarnheyden, Die Rechtsstellung, S. 426 f.; Anschütz, Art. 21, Anm. 2; Köttgen, Abgeordnete, S. 138; Demmler, Der Abgeordnete, S. 129; Maihofer, Abschließende Äußerungen, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1983, S. 1381 ff. (1414 f.); Henke, BK, Art. 21, Rdn. 80, 85; v. Münch, in: ders./Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bnd. I, 4. Aufl. 1992, Art. 4, Rdn. 24; Hamm-Brücher, Abgeordneter, Rdn. 75, 81. 471 Wefelmeier, Repräsentation, S. 136. Zu Recht wird daher meist betont, auch die (freiwillige) Übung von Fraktionsdisziplin werde der Forderung des Art. 38 I 2 GG gerecht. StGH Bremen, E.v. 13. 5. 1953, DVB1. 1953, S. 437 ff. (439); H.-P. Schneider, AK, Art. 38, Rdn. 30; Demmler, Der Abgeordnete, S. 131 f. Vgl. schon Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, HdbDStR, Bnd. I 1930, S. 285 ff. (293). Der von der Gewissensformel intendierte Verpflichtungsaspekt greift nicht nur für besondere „Gewis-

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Voreingenommenheit, Zwanglosigkeit und Täuschungsfreiheit" 472 setzen Maßstäbe für die Entscheidungsfindung wie für die Entscheidungsbegründung. Auch der Abgeordnete, der sich freiwillig fremdem Sachverstand oder fremdem Urteil anschließt, trägt aber persönliche Letztverantwortung für sein Handeln. 473 Er hat sich bestimmen zu lassen von dem Ideal einer „reflektierten normativen Orientierung", eines „rational verantworteten Handelns", 474 das auf einem „sorgfältigen" oder „gewissenhaften" Prozeß der Folgenabwägung beruht. 475 Reflexiv ist dieser Prozeß im Sinne notwendiger Selbstvergewisserung oder Selbstprüfung. 476 In modifizierter, prozeduralisierter, Form spiegeln diese Konkretisierungen des Art. 38 I 2 GG weiterhin das Anliegen des naturrechtlichen Ansatzes, eine Verantwortung des staatlichen Gesetzgebers zu begründen. In dieser Form lassen sie den Verweis auf das Gewissen nicht als ein Stück überflüssiger Rhetorik erscheinen, sondern als Begründung von greifbaren und legitimen Argumentationszwängen, 477 die dort einsetzen, wo die Rechtsordnung den Recht-Schaffenden nicht mehr bindet. b) Das Gewissen anderer Amtsträger Auch innerhalb des Systems der Rechtsordnung unterstellt das Recht (Gesetzgeber oder Gesetzesanwender) in einigen Fällen ein Verhalten anstelle einer rechtlichen Durchnormierung dem appellativen Verweis auf das Gewissen, ohne daß der Grund dafür in der Möglichkeit konfligierender Gewissensüberzeugungen des Rechtsunterworfenen läge. Das Recht ist auch hier gerade auf die eigenverantwortliche Vornahme von Wertungen durch einzelne Personen angewiesen. So hat der Bundesgesetzgeber bei verschiedenen Bundesanstalten oder Sondervermögen Verwaltungsräte eingerichtet, die in erster Linie nicht gesetzesvollziehende, sondern beratende oder gestalterische Aufgaben haben. Die Mitglieder dieser Kollegialorgane sind (zum Teil neben Vertretern von Bundestag und Bundesrat) sensentscheidungen" oder von der Fraktion für die Abstimmung „freigegebene" Gewissensfragen. Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S. 53 m.w.N.; Wefelmeier, Repräsentation, S. 166 f. H. H. Klein, Status, Rdn. 3; Vgl. die Nachweise bei Demmler, Der Abgeordnete, S. 123. 472

Heyen, Über Gewissen, S. 51. Vgl. etwa H. H. Klein, Status, Rdn. 5; Demmler, Der Abgeordnete, S. 127, 133; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S. 58. 473

474

Heyen, Über Gewissen, S. 51 f. 5 K. Vogel, Wortbruch, S. 166; Henke, BK, Art. 21, Rdn. 85; Wefelmeier, Repräsentation, S. 167; Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 16 ff. Vgl. auch Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. 665 ff. (vgl. ebd., S. 228 f., 810 ff.); Heyen, Über Gewissen, S. 39,49,51 f. 47 6 Maihof er, Abschließende Äußerungen, S. 1414 f.; Kerber, Gewissensentscheidung in Politik und Gesellschaft, in: J. Fuchs (Hrsg.), Das Gewissen, 1979, S. 67 ff. (67 ff., 77). 47

477

Vgl. Heyen, Über Gewissen, S. 51, 53, 42.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Vertreter von speziellen gesellschaftlichen Interessengruppen. Zur Erfüllung der Funktion ihres Amtes sind sie aber in ihrer Tätigkeit sowohl diesen Gruppen gegenüber als auch innerhalb der Verwaltungshierarchie rechtlich unabhängig. Die Erwartung unabhängiger, aber gemeinwohlorientierter Amtswahrnehmung bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, indem er diese rechtliche Stellung in Anlehnung an die verfassungsrechtlichen Ausgestaltungen des Abgeordnetenmandats normiert: Die Mitglieder des Verwaltungsrats sind „an keinerlei Aufträge oder Weisungen gebunden und haben ihr Amt nach bestem Wissen und Gewissen zu versehen." 4 7 8 Der ergänzende Verweis auf das individuelle Gewissen wirkt gegenüber den Verwaltungsratsmitgliedern als Appell und darüber hinaus als legitimierendes Moment für deren rechtliche Unabhängigkeit. Das amtliche Handeln des Richters ist weitgehend durch das Gesetz determiniert, wenn auch bei dessen Auslegung untrennbar mit eigenständigen normativen Wertungen verbunden. 479 Andere Elemente richterlicher Rechtsanwendung entziehen sich generell der gesetzlichen Steuerung und damit auch der Kontrolle durch Gerichte höherer Instanzen. Dazu zählt vor allem die Beweiswürdigung, das heißt die Bewertung der Glaubhaftigkeit von Beweismitteln im konkreten Rechtsfall. In Urteilsbegründungen der Revisionsgerichte ist die Feststellung, der Tatrichter habe die Β e weis Würdigung „ohne Bindung an Beweisregeln" vorzunehmen, aber oft verbunden mit dem Verweis: „nur seinem Gewissen unterworfen". 480 Dieser Verweis wendet sich zwar nicht unmittelbar als Appell an den handelnden Richter, sondern als rechtfertigendes Argument an die Parteien des entschiedenen Gerichtsverfahrens, erscheint aber auch hier als verpflichtendes Korrelat der rechtlichen Ungebundenheit. Gleiches gilt etwa für die Begründung eines Revisionsurteils, das die Rüge, die Beratungszeit des Tatgerichts vor Urteilsverkündung sei zu kurz bemessen gewesen, zurückweist: Auf welchem Wege, durch welche Überlegungen der Richter sich seine Überzeugung verschafft habe, sei der revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen: „Maßgebend ist vielmehr die Gewissensprüfung des Richters. Sie ist von Rechts wegen hinzunehmen."481

478

§ 6 II des Gesetzes über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung i.d.F. v. 2. 8. 1994. Ebenso (bis 1993) § 63 IV GüKG v. 17. 10. 1952 für die Bundesanstalt für den Güterfernverkehr. Vgl. (bis 1989) § 5 III PostVwG und (bis 1993) § 10 IV BBahnG für die Verwaltungsräte von Bundespost und Bundesbahn. 479 Zu - trotz des Gewichts eigenständiger Wertungen - verstärkenden Bezugnahmen auf das Gewissen des Richters vgl. o. l.b)bb), S. 45 ff. 4 «o Ζ. B. BGH, U.v. 14. 1. 1993, NJW 1993, S. 935 ff. (937); BGHSt 29, 18 (19 f.); BGH, U.v. 3. 7. 1991, 5 StR 209/91 (vgl. BGHSt 38, 18). Vgl. BGHSt 35, 164 (170). 4 «i BGHSt 37, 141 (144).

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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c) Das „ ärztliche Gewissen " Vergleichbare Verweise auf das Gewissen finden sich nicht nur für staatliche Amtsträger; sie finden sich auch für Berufsgruppen, an deren Tätigkeit der Staat weil staatlich geschützte Rechtsgüter von besonderem Gewicht tangiert sind - ein besonderes Interesse hat, vor allem für Ärzte. Der Gesetzgeber verweist auf das „ärztliche Gewissen", wo Ärzte spezielle öffentliche Aufgaben erfüllen sollen und zu diesem Zweck besondere Unabhängigkeit eingeräumt bekommen haben. Nach dem Arbeitssicherheitsgesetz arbeiten etwa Betriebsärzte bei der Anwendung ihrer Fachkunde innerhalb des Betriebs „weisungsfrei" und „nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen". 482 Nach dem SGB V sind die Ärzte im Medizinischen Dienst der Krankenversicherung zur Sicherung ihrer unabhängigen Sachkunde „bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen." 483 Die Rechtsprechung verweist - ohne gesetzestextliche Vorgabe - in solchen Sachzusammenhängen auf das „ärztliche Gewissen", in denen der handelnde Arzt in besonderen Grenz- oder Konfliktsituationen steht. Der Bundesgerichtshof hat im sog. Fall „Dr. Wittig" 4 8 4 einen Arzt vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen und der Unterlassenen Hilfeleistung freigesprochen, der seine 76jährige Patientin auf ihren ausdrücklich geäußerten Wunsch hin nicht mehr behandelte, nachdem sie sich mit Medikamenten vergiftet und dadurch zusätzlich irreversibel geschädigt hatte. In den Schlußpassagen des Urteils heißt es: „Wenn der Angeklagte in dieser Grenzsituation den Konflikt zwischen der Verpflichtung zum Lebensschutz und der Achtung des Selbstbestimmungsrechts der nach seiner Vorstellung bereits schwer und irreversibel geschädigten Patientin dadurch zu lösen suchte, daß er nicht den bequemeren Weg der Einweisung in eine Intensivstation wählte, sondern in Respekt vor der Persönlichkeit der Sterbenden bis zum endgültigen Eintritt des Todes bei ihr ausharrte, so kann seine ärztliche Gewissensentscheidung nicht von Rechts wegen als unvertretbar angesehen werden"; sie ist vielmehr als eine „von der Rechtsordnung hingenommene ärztliche Gewissensentscheidung" zu werten. Die Entscheidung wird wegen ihres Ergebnisses und ihrer Begründung von einigen Autoren heftig kritisiert - unter anderem gerade auch wegen der Bezugnahme auf das Gewissen, deren Funktion hier tatsächlich zunächst unklar ist. Manche Interpreten verstehen das Urteil so, daß es eine Rettungspflicht des Arztes habe bejahen wollen, deren Nichtbefolgung in der Situation eines „Gewissenskonflikts" aber aus Zumutbarkeitserwägungen entschuldigt habe 4 8 5 482 § 8 I ASiG i.d.F. V. 12. 12. 1973. 483 § 275 V SGB V i.d.F. v. 13. 6. 1994. 484 BGH, U. v. 4. 7. 1984, BGHSt 32, 367 ff. Ebenso OLG München, U. v. 31. 7. 1987, JZ 1988, S. 201 ff. (205).

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Dagegen interpretieren andere den BGH dahin, er habe das Verhalten des Arztes aufgrund der in der konkreten Situation vorliegenden Pflichtenkollision als gerechtfertigt bewertet (sprechen aber insofern ebenfalls von einem „Gewissenskonflikt") 486 Eine dritte Interpretationslinie kommt der Intention des BGH wohl am nächsten, wenn sie - wie für verschiedene Fälle der indirekten, passiven oder sogar aktiven Sterbehilfe - ebenfalls die Möglichkeit einer Rechtfertigung nach den Grundsätzen der Güterabwägung annimmt und vor allem betont, das Strafrecht müsse „Raum für Ausnahmen lassen" und die Grenze ärztlicher Behandlungspflichten nicht an eine „dogmatisch starre Abgrenzung" der abzuwägenden Güter binden, sondern dem Arzt einen „Beurteilungsspielraum" zugestehen 4 8 7 Für den Arzt gibt es in entscheidenden Momenten seiner Tätigkeit „keine Vertretung" und in dieser „unvertretbaren Einsamkeit" muß er sich dessen bewußt sein, daß „er - gestützt auf sein fachliches Können - allein auf sein Gewissen gestellt ist, das er allerdings an den Maßstäben der Rechtsordnung und der Standesethik ausrichten muß". 488 Für den Gesetzgeber ist es unmöglich, einen generellen angemessenen Ausgleich zwischen den im konkreten Fall gegenläufigen Rechtswerten zu schaffen; er muß „dem ärztlichen Gewissen Spielraum lassen". 489 Der Bundesgerichtshof betont in seiner Entscheidung, daß zwar die „allgemeine Frage" nach der Zulässigkeit aktiver und passiver Sterbehilfe „grundsätzlich" zu verneinen sei, behandelt die dennoch anzuerkennenden Ausnahmen aber ausdrücklich als „Grenze ärztlicher Behandlungspflicht" 490 und verneint eine Pflichtverletzung des Arztes. 491 485 / Baumann, Nichthinderung einer Selbsttötung, JZ 1987, S. 131 f. (131). Vgl. R. Schmitt, Der Arzt und sein lebensmüder Patient, JZ 1984, S. 866 ff. (868 mit FN 22). Vgl. Gropp, Suizidbeteiligung und Sterbehilfe in der Rechtsprechung, NStZ 1985, S. 97 ff.; Brändel, Über das Recht, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu bestimmen, ZRP 1985, S. 85 ff. (86). 486 Herzberg, Straffreie Beteiligung am Suizid und gerechtfertigte Tötung auf Verlangen, JZ 1988, S. 182 ff. (184 f.). Vgl. dens., Zum strafrechtlichen Schutz des Selbstmordgefährdeten, JZ 1986, S. 1021 ff. (1024). 487 Kutzer, Strafrechtliche Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten und zur Zulässigkeit der Sterbehilfe, M DR 1985, S. 710 ff. (713 ff.). Vgl. dens., Wir brauchen keine neuen Gesetze zur Sterbehilfe. ZRP - Rechtsgespräch mit dem Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Klaus Kutzer, ZRP 1997, S. 117 ff. (119). 488 Kutzer, Strafrechtliche Überlegungen, S. 715 (mit Verweis auf BVerwGE 27, 303 (305)). „Geboten sind mitmenschliche Zuwendung und Hilfe beim Sterben; das Streben nach rechtlicher Absicherung gegenüber allen nur denkbaren Eventualitäten durch inhumane Ausschöpfung der Medizintechnik widerspricht dem ärztlichen Auftrag." (Ebd., S. 715). Das soll keine „Vernunfthoheit" des Arztes begründen; im Vordergrund steht immer der (mutmaßliche) Wille des Patienten, der allerdings in manchen Grenzsituationen schwer erhebbar ist (Kutzer, a. a. O., S. 715). Vgl. BGH, U. v. 13. 9. 1994, NJW 1995, S. 204 ff. (mit Verweis auch auf die „Richtlinien für die Sterbehilfe" der Bundesärztekammer). 489

Kutzer, Wir brauchen keinen neuen Gesetze, S. 119. Vgl. dens., Strafrechtliche Überlegungen, S. 715. 4 *> BGHSt 32, 367 (380). Ebd., S. 377.

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Auch wenn mit Blick auf den Arzt Erwägungen der Zumutbarkeit der Hilfeleistung in die Begründung mit einfließen, 492 wird damit deutlich, daß der Grund für die hier konzedierte Ausnahme nicht die Rücksichtnahme auf einen individuellen ,Gewissenskonflikt' 493 des Arztes ist, sondern die objektive Besonderheit der Situation, in die er gestellt ist: Nicht ein Konflikt zwischen rechtlichen und moralischen (Gewissens-)Pflichten ist hier zu lösen, sondern die Gesetze (Rechtspflichten) selbst konfligieren in solchen Grenzsituationen miteinander (ebenso wie objektivierte rechtsethische Grundsätze einer ärztlichen Standesethik). Die Bezugnahme auf das Gewissen dient damit jedenfalls nicht in dem hier bezeichneten Sinne einer,Konfliktregelung' 4 9 4 Sie ist in der gerichtlichen Verhaltensbewertung vielmehr ergänzendes rechtfertigendes Argument für die notwendige Anerkennung einer Ausnahme von einer allgemeinen Verhaltenspflicht und vor allem appellatives Korrelat oder Gegengewicht dieser Freistellung. Das ärztliche Gewissen fordert nicht Zugeständnisse der Rechtsordnung, sondern wird von der Rechtsordnung gefordert. Das Gesetz kann dem Arzt in gewissen Ausnahmesituationen sein Verhalten (prospektiv) nicht definitiv vorgeben, er muß die richtige Entscheidung aus konfligierenden Rechtspflichten - um deren Optimierung willen - jeweils selbst finden; das Gericht behält zwar die Möglichkeit, die Einhaltung rechtlich eindeutiger Grenzen zu überwachen, darüber hinaus kann es aber in solchen Ausnahmesituationen dem Arzt seine Entscheidung - so wie er sie getroffen hat - (retrospektiv) nicht vorwerfen. Unabhängig davon, ob man das als Anerkennung einer Art ,rechtsfreien Raumes' 495 betrachtet oder als rechtssystemimmanente Lösung durch rechtliche Kollisionsregeln (etwa das Notstandsrecht des § 34 StGB): Die verhaltenslenkende („Ordnungs-") Funktion des Gesetzes ist in diesen Fällen jedenfalls beschränkt, 496 und der appellative Verweis auf das Gewissen fungiert als Ersatz gesetzlicher Verhaltenssteuerung. Der Bundesgerichtshof fordert selbstverständlich die Orientierung an Rechtsordnung und Standesethik;497 deren (,ver492 Ebd., S. 381. 493 Zur Vieldeutigkeit des Begriffs vgl. u. Teil 2, B.I.3. a) bb), S. 235 ff. 494 Vgl. u. II., S. 82 ff. 495 So etwa Arth. Kaufmann, Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 1990, S. 23 f.: Das strafgerichtlichen Schuldsprüchen immanente „stellvertretende Gewissensurteil des Richters" ist in Fällen dieser Art nicht möglich. W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996, S. 346 ff. (357). Vgl. HJ. Becker, Arzt und Recht. Bericht und Betrachtungen über die Helgoländer Richtertage 1980, Ri A 1980, S. 149 ff.; W. Wachsmuth, Die chirurgische Indikation. Rechtsnorm und Realität, in: FS Bockelmann, 1979, S. 473 ff. (475, 480). Kritisch etwa Eser, Die Rolle des Rechts im Verhältnis von Arzt und Patient, in: Katholische Akademie in Bayern (Hrsg.), Ärztliches Handeln zwischen Paragraphen und Vertrauen, 1984, S. 111 ff. Zur Figur des rechtsfreien Raumes in Fällen „höchstpersönlicher Daseins- und Gewissensnot" vgl. allgemein insbes. Arth. Kaufmann, Rechtsfreier Raum, S. 332, 338; Küper, Grundund Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, insbes. S. 18 ff. m.w.N. 496 Küper, Grund- und Grenzfragen (Anm. 495), S. 20 m.w.N. 497 BGHSt 32, 367 (377 f.). 6 Filmer

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

stärkende 4 ) Verinnerlichung steht hier jedoch nicht im Vordergrund, sondern die als individueller Wertungsakt und in persönlicher Verantwortung zu treffende Entscheidung. 4 9 8 Entsprechende Verweise auf das Gewissen des Arztes und seine Pflicht zu „gewissenhafter Güterabwägung" enthalten Gerichtsentscheidungen zur Organtransplantation,499 zur ärztlichen Schweigepflicht 500 oder auch zur Aussagepflicht des Arztes vor Gericht. 501 In der Literatur wird das „ärztliche Gewissen" auch für weitere Konfliktsituationen thematisiert (etwa die Indikationsfeststellung beim Schwangerschaftsabbruch oder ärztliche Aufklärungspflichten) und, vor allem von Ärzten, auch argumentativ eingesetzt zur »Verteidigung4 bestehender Handlungsspielräume - gegenüber einer ausgreifenden „Leitsatzjustiz" der Gerichte wie gegenüber möglichem gesetzgeberischem Tätigwerden.502 Das ärztliche Gewissen wandelt sich damit zum gesetzgebungspolitischen Argument gegen eine Begründung von Rechtspflichten.

II. Konfliktregelungsfunktion Die Vorstellungen des Individuums vom richtigen Verhalten müssen nicht mit denen der Rechtsgemeinschaft übereinstimmen. Sie können, jedenfalls wo sie sich zur (moralischen) Überzeugung verdichtet haben, in einen echten Konflikt mit verhaltenslenkenden Rechtsnormen geraten. Der einzelne Rechtsunterworfene beruft sich gegenüber dem Staat fast ausschließlich in Fällen einer solchen Kollision von Rechtspflicht und Gewissenspflicht auf sein Gewissen. Ihm geht es dann meist darum, eine individuelle Freistellung von einer allgemeinen rechtlichen Verhaltenspflicht (nicht die Feststellung von deren Nichtigkeit) zu erwirken oder das Absehen von staatlichen Vollstreckungs- oder Sanktionsmaßnahmen im konkreten Fall.

498 Nach einer heute kaum noch vertretenen Auffassung setzt die strafrechtliche Rechtfertigung bei Pflichtenkollisionen eine „gewissenhafte Prüfung" der Notstandslage durch den Handelnden voraus. Vgl. Küper, Grund- und Grenzfragen, S. 27 ff. 499 LG Bonn, U. v. 25. 2. 1970, JZ 1971, S. 56 f. („Rechtsvakuum"). »o BGH, U. v. 8. 10. 1968, MDR 1969, S. 40. Vgl. RGSt 38,62 ff. (64 f.). 501 LSG München, U. v. 6. 4. 1962, NJW 1962, S. 1789. Entsprechend argumentiert zuletzt der BGH (Beschl. v. 20. 7. 1990, ZevKR 36 (1991), S. 418 ff.; vgl. unvollst. BGHSt 37,138 ff.) im Fall eines Geistlichen: Im „Vertrauen auf dessen Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit" (S. 421) überläßt es der BGH hier der „Gewissensentscheidung" (S. 418, 420) des Geistlichen, ob ihm ein Umstand tatsächlich „in seiner Eigenschaft als Seelsorger" ( § 53 I Nr. 1 StPO) bekanntgeworden ist und ihm damit die Möglichkeit der Zeugnisverweigerung zusteht (auch hier geht es nicht um einen .Gewissenskonflikt' des Pfarrers, sondern um einen Gewissensverweis jenseits der - durch Rechte Dritter begründeten - Grenzen der Beweiserhebungsrechte des Gerichts.). 502 w. Wachsmuth, Die chirurgische Indikation, S. 480; ders., Die Zwiespältigkeit des Selbstbestimmungsrechts, DMW 1982, S. 1527 f. R. Wille, Fehlentwicklungen im Arztrecht der Kontrazeption und des Schwangerschaftsabbruchs, ArztR 1982, S. 11 ff. Barnickel, Das ärztliche Ermessen bei der Aufklärungspflicht, DMW 1976, S. 1468 f.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Wo der Bürger in dieser Weise das „Gewissen" dem Recht entgegenhält, geschieht dies oftmals in offenbarer Bezugnahme auf die soeben beschriebenen Verweisfunktionen des Gewissensbegriffs im Recht (die rechtsdogmatische Relevanz sei hier dahingestellt): etwa wenn ein Arzt in der Bundeswehr sich unter Berufung auf sein „ärztliches Gewissen" gegen seine Pflicht zum Befehlsgehorsam wendet, 503 ein Zahnarzt das „ärztliche Gewissen" gegen die kassenärztliche Pflicht zur Verwendung von Materialien anführt, die er für schädlich hält (Amalgam) 504 oder wenn ein Sachverständiger, der den Verkehrswert eines Grundstücks beurteilen soll, die Berücksichtigung bestimmter Wertfaktoren unterläßt, weil er diese „nicht mit seinem Gewissen vereinbaren" kann 505 . Das fachliche Urteil wird hier zum ethischen und als solches dem Recht entgegenhalten. Besondere Brisanz erlangt das so gegen die Rechtsordnung gekehrte Gewissensargument, wenn es von Beamten oder Richtern gebraucht wird. In gerichtlich entschiedenen Fällen von Beamten geht es in erster Linie um die Verweigerung gerade der auf „gewissensmäßige Bindung" zielenden Eidespflicht. 506 Damit sind bis heute rechtliche Zweifelsfragen verbunden. 507 Anderen gesetzlichen Eidespflichten hat der Gesetzgeber (zum Teil aufgrund verfassungsgerichtlicher Vorgaben) Freistellungsklauseln zur Seite gestellt, die dem Eidespflichtigen an Stelle des Eides die Möglichkeit alternativer Bekräftigungen oder Gelöbnisse eröffnen: „Gibt ein ehrenamtlicher Richter an, daß er aus Glaubensoder Gewissensgründen keinen Eid leisten wolle, so spricht er die Worte: .. ..". 5 0 8 Entsprechende Freistellungen existieren für Zeugen und Dolmetscher. 509 Hier wird der Gewissensbegriff zum Tatbestandsmerkmal gesetzlicher Freistellungsnormen (bedarf allerdings aufgrund deren weiter Fassung („gibt an") nicht der gerichtlichen Konkretisierung). Der Gesetzgeber nimmt das Gewissensargument auf, reagiert mit einer Ausnahmeregelung auf einen - typischen - Konflikt von Rechtspflicht und Gewissenspflicht. Gewissenskonflikte von Berufsrichtern spiegeln sich in der gerichtlichen Praxis nur vereinzelt 510 und nur hinsichtlich der Bindung an Urteile höherer Gerichte. 511 503 BVerwG, U. v. 27. 11. 1985, ZfSH/SGB 1986, S. 41 f. 504 BSG, U. v. 8. 9. 1993, 14 a RKa 7/92 (Sachverhalt unvollst, in MDR 1994, S. 928). Zum „ärztlichen Gewissenskonflikt44 von Fachärzten, die sich nicht zur Teilnahme am allgemeinen ärztlichen Notfalldienst in der Lage sehen, vgl. BVerwGE 27, 303 (305); 41, 261 ff.; OVG Lüneburg, OVGE 31, 444 ff. 505 BGH, U. v. 18. 4. 1991, NVwZ 1992, S. 812 ff. (813). Vgl. o. I.l.b)dd), Anm. 292. 506 Vgl. o. I.l.b)cc), S. 48 ff. 507 Vgl. u. Teil 2 B.I.3.a)bb), S. 242 f. 508 § 45 IV DRiG. Eine entsprechende Regelung für Berufsrichter hielt der Gesetzgeber für unvereinbar mit derrichterlichen Aufgabe, Zeugeneide abzunehmen. 509 § 484 I 1 ZPO; § 66 d I 1 StPO; § 189 I 1 GVG. Die BRAO (§ 26 IV) enthält dagegen noch eine Ausnahmeklausel, die - in Anlehnung an die traditionelle Privilegierung bestimmter Religionsgemeinschaften - nur ein kollidierendes „Gesetz44 einer „Religionsgesellschaft44 berücksichtigt. *

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Theoretisch hat man im Zusammenhang des Erlasses des Deutschen Richtergesetzes und der allgemeinen Diskussion um Gewissensunterworfenheit und Gewissensfreiheit des Richters 512 vor allem den möglichen Konflikt von Gesetz und richterlichem Gewissen beachtet. Ein Entwurf der Landesjustizministerkonferenz von 1952 enthielt eine besondere Vorschrift zum „Gewissenskonflikt" des Richters. 513 Danach sollte einem Richter, der schriftlich erklärt, „daß er sich in seinem Gewissen verpflichtet fühle, von einer ihm übertragenen Aufgabe zurückzutreten", eine andere Aufgabe zugewiesen oder gar der durch ein Ruhegehalt abgesicherte Ruhestand ermöglicht werden. In der Literatur wurde auch die gesetzliche Einführung eines besonderen Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht für den Fall diskutiert, daß der Richter „in seinem Gewissen" das geschriebene Recht des Staates für „Unrecht" hält - zum Teil wollte man diese Funktion dagegen dem Normenkontrollverfahren nach Art. 100 I GG zuweisen.514 Beiden Ansätzen wurde aber bereits entgegengehalten, eine Gewissensentscheidung sei „einzelfallabhängig" und „nicht vertretbar", eine objektive Überprüfung als gewissenswidrig empfundener Gesetze dem nicht angemessen.515 Der Verhinderung von „Gewissenszwang" des ehrenamtlichen Richters diente etwa eine Freistellungsklausel im hessischen „Gesetz über die staatsbürgerliche Pflicht zur Mitarbeit bei der Durchführung des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" vom 18. 4. 1947 (§ 1, Nr. 2: „ . . . ein Gewissenszwang darf nicht ausgeübt werden"). 516 Gewissenskonflikte von zur Amtswahrnehmung verpflichteten ehrenamtlichen Richtern waren in der Praxis bereits zuvor aufgetreten und sind bis heute von praktischer Bedeutung für die Gerichtsbarkeit, betreffen aber in der Sache nicht nur Konflikte mit den anzuwendenden Gesetzen, 517 sondern auch Konflikte mit der richterlichen Tätigkeit an sich 518 oder le-

510 Vgl. o. I.l.b)bb), Anm. 238. 5Π FG Düsseldorf, U. v. 15. 3. 1972, EFG 1972, S. 450, zit. nach Burhoff, Weigerung der Mitwirkung eines Richters am Verfahren aus Gewissensgründen? Finanz-Rundschau 1972, S. 513 ff.: Ein Finanzrichter wendet sich gegen die Bindung an ein aufhebendes Urteil des Bundesfinanzhofs, das ihn verpflichtet, einen steuerlichen Strafzuschlag den Erben eines schuldhaft Handelnden aufzuerlegen. Dies betrachtet er als „objektives Unrecht" und „rechtswidrige Sippenhaft44. LG Frankfurt a. M., U. v. 28. 9. 1987, M DR 1988, S. 150 (dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 1989, S. 264). Zu richterlichen Gewissenskonflikten im 17. und 18. Jh. vgl. w.N. bei Bundesjustiz/ninisterium, Referenten-Denkschrift, S. 32 mit FN 151. 512 Vgl. o. I.l.b)bb), S. 45 f. 513 Vgl. Bundesjustizministerium, Referenten-Denkschrift, S. 32. Vgl. den Gesetzesvorschlag des Deutschen Richterbundes, DRiZ 1958, S. 238. 514 Rotberg, Zu einem Richtergesetz, S. 15 ff. Vgl. Bundesjustizministerium, ReferentenDenkschrift, S. 32. 515 K. Peters, Das Gewissen, S. 36 f., der statt dessen eine Selbstablehnung entsprechend den Befangenheitsvorschriften vorschlägt. Vgl. Pötter, Richterrecht, S. 49; Heusinger, Rechtsfindung, S. 50. 516 vgl. v g h Kassel, U. v. 17. 12. 1947, NJW 1947/48, S. 319 f.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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diglich mit Person und Amtswahrnehmung anderer Mitglieder desselben Spruchkörpers. 519 Bei der Entscheidung über solche Pflichtverweigerungen rekurrieren die Gerichte - wie im letztgenannten Fall - ihrerseits wieder auf das Gewissensargument, wenn sie feststellen, das Gerichtsverfassungsgesetz sehe eine Befreiung aus Gewissensgründen nicht vor, und sodann der Schöffin ihre aufgrund des Schöffeneides „nach bestem Wissen und Gewissen" zu erfüllende Amtspflicht entgegenhalten: „Die dem Schöffen hiernach obliegende Gewissensentscheidung ist mithin in Beratung und Abstimmung im Rahmen der Urteilsfindung ( . . . ) zu treffen." Die Schöffin habe gerade für den Fall der vorgebrachten „ausländerfeindlichen Grundeinstellung" des Vorsitzenden verfassungsrechtlichen Grundwerten „durch Sitz und Stimme Geltung zu verschaffen und etwaigen anderen Tendenzen gegenzusteuern."520 In dieser Forderung erscheint die Rechtsordnung als nicht nur indifferent gegenüber dem individuellen Gewissen, sondern als positiv interessiert an dessen normativer Leistung'. In der Literatur wird hingegen die unter Bezugnahme auf das Gewissen vorgenommene staatliche Inpflichtnahme des Bürgers als Argument für die Gewährung auch von Gewissensfreiheit herangezogen und so - in beide Richtungen - ein enger Konnex von „Anerkennung und Erwartung richterlicher Gewissensbindung" hergestellt.521

Die heute bekannteste und praktisch bedeutsamste Gewissensklausel hat der Parlamentarische Rat in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes aufgenommen. In

517 So im Fall des VGH Kassel, wo der Kläger, ein Rechtsanwalt, geltend machte, das anzuwendende Gesetz verstoße gegen grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien, „gegen seine Auffassung von Gerechtigkeit und damit gegen sein Gewissen". Vgl. VGH Stuttgart (Württ.Bad.), U. v. 14. 1. 1984, AöR 74 (1948), S. 260 ff., wo der Kläger ebenfalls das anzuwendende Befreiungsgesetz hinsichtlich verfahrensrechtlicher Vorschriften für „verfassungs- und naturrechtswidrig" (S. 265) hielt (dazu Grewe, Anmerkung, ebd., S. 267 ff.). Bay. OLG, U. v. 24. 10. 1927, GA 73, S. 130 (Schöffe verweigert Schuldspruch wegen gesetzlicher Mindeststrafe, die Familienvater für 20 Pfennig ins Zuchthaus bringe). Vgl. OLG Frankfurt a. M., Beschl. v. 3. 6. 1992, NJW 1992, S. 3183 (Kläger trägt vor, die Kriminalisierung des Drogenkonsums nicht mit seinem Gewissen vereinbaren zu können, aber auch die Verurteilung von 'Straftätern aus wirtschaftlicher Not'.) 518 KG, Beschl. v. 21. 7. 1965, JR 1966, S. 188; OLG Stuttgart, NJW 1963, S. 776; LG Itzehoe, Beschl. v. 19. 2. 1979, zit. nach Lisken, Gefährdungen, S. 547. Zu Fällen aus den Vereinigten Staaten vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 112. 519 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23. 10. 1995, NJW 1996, S. 606 ff. (angenommene „ausländerfeindliche Grundeinstellung" des Vorsitzenden des Schöffengerichts). Dazu Lisken, Zur Gewissensfreiheit des Schöffen, NJW 1997, S. 34 ff. 520 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23. 10. 1995, NJW 1996, S. 606 ff. (607) (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. KG, Beschl. v. 21. 7. 1965, zit. nach Nüse, Aus der Rechtsprechung des Kammergerichts in Strafsachen seit 1945, DRiZ 1968, S. 85 ff. (87 f.). Vgl. zuletzt, ebenfalls mit Bezug auf den Eid ehrenamtlicher Richter, OVG Greifswald, Beschl. v. 13. 11. 1997, NVwZ-RR 1998, S. 784 f. („Gewissensbelastungen").

521 Lisken, Gefährdungen, S. 548. Vgl. ebd., S. 544, 546 f.; dens., Gewissensfreiheit oder Richterfreiheit?, DRiZ 1979, S. 213 f. (214); dens., Zur Gewissensfreiheit, S. 35; dens., Polizeibefugnis, S. 403. Vgl. auch K. Peters, Die ethischen Grundlagen, S. 81 ff.; dens., Das Gewissen, S. 26 ff., 37 f., 42 und das weite Verständnis richterlicher „Gewissensfreiheit" bei Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 117 ff.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

Weiterentwicklung von Privilegien, die traditionell ausgewählten religiösen Minderheiten gewährt wurden, darf nach Art. 4 III GG niemand „gegen sein Gewissen" zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Der 1968 eingefügte Art. 12 a GG spricht, wie die einfachgesetzlichen Ausführungsvorschriften, 522 von „Gewissensgründen" und der „Freiheit der Gewissensentscheidung". Diese Formulierungen enthalten deutlich ein Verständnis des „Gewissens" als Vermögen zu individueller normativer Verhaltensbewertung (im Falle einer Konfliktregelungsnorm abweichender Verhaltensbewertung). Art. 4 I GG erklärt unter anderem die „Freiheit des Glaubens" und des „Gewissens" für „unverletzlich". Manche Länderverfassungen 523 enthalten wie Verfassungen in der Schweiz und Österreich 524 weiterhin wörtlich die in der deutschen Verfassungsgeschichte tradierte 525 Doppelformel der „Glaubens- und Gewissensfreiheit", die die gemeinsame religiöse Herkunft 526 der heute als eigenständig527 begriffenen Grundrechte noch deutlicher macht. Ob und inwieweit diese Grundrechtsvorschriften als allgemeine Freistellungsklauseln im Konflikt von Rechtspflicht und Gewissenspflicht begriffen werden können, sei hier dahingestellt. 528 Eine solche Konfliktregelungsfunktion haben eindeutig viele einfachgesetzliche Freistellungsklauseln, 529 die im Wortlaut keinen expliziten Bezug auf das „Gewissen" oder religiöse Motive tragen: Art. 2 I des 5. StrRG von 1974 lautet „Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken" und wird allgemein ebenso als einfachgesetzliche Konkretisierung grundrechtlicher Gewissensfreiheit verstanden530 wie etwa eine Vorschrift des österreichischen Universitätsorganisationsgesetzes531 von 1974, nach der kein Universitätsangehöriger „gegen sein Gewissen ( . . . ) zur Mitwirkung bei wissenschaftlichen Arbeiten verhalten" werden darf. Gleiches gilt ζ. B. für eine Vorschrift, die (mit Blick auf die Zeugen Jehovas) die Begründung freier Arbeitsverhältnisse anstelle des staatlichen Zivildienstes ermöglicht 532 , eine Vorschrift, die eine „Willenserklärung" gegen die Teilnahme am staatlichen Religionsunterricht erlaubt 533, oder für einen Gesetzesentwurf, der verbietet, einen Polizeibeam-

522 §§ 1; 2 II 3; 141 KDVG; §§ 15 a 11; 43 I Nr. 10; 79 Nr. 6 ZDG. 523 Art. 107 I der Verfassung Bayerns von 1946. 524 z. B. Art. 49 I der schweizerischen Bundesverfassung von 1874; Art. 14 I des österreichischen StGG. 525 z. B. Art. 135 WRV; § 1441 der Paulskirchenverfassung; 11 II § 2 ALR. 526 Vgl. u. Teil 2, A.II.l., S. 107 ff. 527 Vgl. u. Teil 2, A.I., S. 90 mit Anm. 1. 528 Vgl. u. Teil 2, S. 90 ff. 529 Gemeint sind spezielle Gewissensklauseln, nicht generalklauselartige Ausnahmeregelungen, die unter anderem eine Berücksichtigung von Gewissensüberzeugungen ermöglichen. Vgl. dazu auch u., Teil 2, A.II.2.c)bb)bbb), S. 143 ff. 530 S.o.A.,S. 17 mit Anm. 51 f. 531 § 24 VIII UOG, der präzisiert: „Aus seiner Weigerung darf ihm kein Nachteil erwachsen. Vgl. zu beiden Vorschriften Mock, Gewissen, S. 143. 532 § 15 a ZDG.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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ten „zur Abgabe eines das Leben gefährdenden Schusses" zu verpflichten, „wenn er rechtzeitig seine Weigerung erklärt hat" 534 .

Explizit erscheint der Gewissensbegriff schließlich wiederum in Rechtsvorschriften, in denen er zwar auch das Gewissen im Konflikt mit staatlichen Gesetzen anerkennt - allerdings im Konflikt mit Gesetzen einer fremden Rechtsordnung und insofern ohne echte Konfliktregelungsfunktion. Nach dem Bundesvertriebenengesetz 535 wird als Sowjetzonenflüchtling anerkannt, wer geflüchtet ist, um sich einer von ihm nicht zu vertretenden und durch die politischen Verhältnisse bedingten „Zwangslage" zu entziehen. Eine solche „Zwangslage" kann neben einer „unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben oder die persönliche Freiheit" auch in einem „schweren Gewissenskonflikt" bestehen. Das Bundesentschädigungsgesetz536 sieht Entschädigungsleistungen auch für denjenigen vor, der unter der nationalsozialistischen Herrschaft verfolgt wurde, „weil er auf Grund eigener Gewissensentscheidung sich unter Gefährdung seiner Person aktiv gegen die Mißachtung der Menschenwürde ( . . . ) eingesetzt hat". In beiden Gesetzen nimmt der Gesetzgeber nicht eigene verhaltenslenkende Normen zugunsten konkurrierender Gewissensüberzeugungen zurück, sondern knüpft privilegierende Rechtsfolgen an Gewissenskonflikte mit den Verhaltensbefehlen eines konkurrierenden 537 oder historisch überwundenen Staatswesens. Auch in diesen beiden Verwendungen hat sich das Verständnis des Gewissensbegriffs - im Vergleich zu den Verwendungen mit Verweisfunktion 538 - nicht grundsätzlich gewandelt: Eine „Gewissensentscheidung" nach dem Bundesentschädigungsgesetz wird überwiegend als auf „sorgfältiger und gewissenhafter Abwägung" beruhende „sittliche Überzeugung" verstanden. 539 Die Voraussetzungen für die Anerkennung als Sowjetzonenflüchtling nach dem Bundesvertriebenengesetz

533

§ 11 III Schulpflichtgesetz NW; § 34 Schulordnungsgesetz NW. Zur Diskussion um gewissensbedingte Ausnahmen von der Pflicht zur Teilnahme am brandenburgischen LER-Unterricht vgl. FAZ v. 22. 2. 1996, S. 4. 534 So § 60 II des „Alternativentwurfs einheitlicher Polizeigesetze", hrsg. v. E. Denninger u. a., 1979, S. 32 f. 535 § 3 I Bundesvertriebenen- und -flüchtlingsgesetz i.d.F. v. 2. 6. 1993. Ebenso § 1 III 2 Notaufnahmegesetz (bis 1990). 556 § 1 II Nr. 1 BEG i.d.F. v. 19. 12. 1985. Vgl. noch heute die Präambel des BEG: Widerstand „aus Überzeugung oder um des Glaubens oder des Gewissens willen". Vgl. die auf die NS-Herrschaft („Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen") bezogene Begriffsverwendung in der Präambel der bayerischen Verfassung von 1946. Vgl. Küchenhoff, Staat, S. 54: „Eigenartiger Fall eines Gewissenskonfliktes zwischen dem Staat und dem Staatsbürger im räumlich zerrissenen Staat". 558 S. o. I., S. 35 ff. 539 Vgl. Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 57 f. m.w.N. der älteren Kommentarliteratur.

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1. Teil: Der Gewissensbegriff im Recht

werden restriktiver interpretiert; auch hier bleibt jedoch die Bedeutung des Gewissensbegriffs unangetastet („eigene Erkenntnis des Erlaubten und Verbotenen", „Überzeugung" 540 ), und auch der Begriff des „schweren Gewissenskonflikts" erfährt die für die gerichtliche Anwendung erforderlichen Eingrenzungen nicht in bezug auf die innerseelische Realität des Gewissens - etwa im Sinne eines besonders intensiven innerseelischen Konflikts. Statt dessen knüpft die Auslegung des Tatbestandsmerkmals an die gesetzlich geforderte „Zwangslage" an und mißt die „Schwere" des Konflikts am Gewicht der bei gewissensgemäßem Verhalten in der DDR drohenden Sanktionen und anderen Konsequenzen.541 Maßstab sind damit gleichsam auf einer sekundären Ebene liegende quantifizierbare Merkmale 542 . Der normative Charakter des Gewissensbegriffs bleibt dabei erhalten. Festzuhalten bleibt zunächst, daß dieses normative Moment alle rechtlichen Verwendungen des Gewissensbegriffs durch Gesetzgeber und Gerichte prägt. Inhaltlich ist zwar der Bezug auf das Gewissen in wechselndem Maße auf vorgegebene normative Maßstäbe orientiert, vor allem auf verschiedene Formen eines Amtsoder Berufsethos. Das können begriffliche Verselbständigungen wie „ärztliches Gewissen", „Amtsgewissen" oder ,Abgeordnetengewissen" 543 verdeutlichen. Sie bergen jedoch auch eine gewisse Gefahr, das allen Begriffsverwendungen gemeinsame, letztlich moralisch-ethische Moment individueller Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten zu verdecken. 544 Die Verwendung des Gewissensbegriffs enthält immer ein Moment von Zuweisung oder Anerkennung individueller Kompetenz zu normativem Urteil in bezug auf das eigene Verhalten. Selbst in ihrer »Verstärkungsfunktion 45 4 5 lassen sich „Gewissen" oder „Gewissenhaftigkeit" nie ohne Bedeutungsverlust durch „Sorgfalt" oder ähnliche Begriffe ersetzen; sie können aber auf der anderen Seite auch nicht mehr inhaltlich durch eine naturrechtlich vorgegebene Moralordnung objektiviert werden, sondern eher in Richtung auf modale Anforderungen an ein Verfahren richtigen Entscheidens. 540 Zschacke, Der Gewissenskonflikt als Grund für die Flucht aus der SBZ, NJW 1959, S. 970 f. (971). 541 Das BVerwG stellt insoweit vor allem auf wirtschaftliche Konsequenzen, eine wirtschaftliche Existenzgefährdung ab (U. v. 29. 5. 1958, NJW 1958, S. 1793; U. v. 9. 7. 1969, Buchholz 4.12., Nr. 52 zu § 3 BVFG m.w.N.), die Literatur auch auf „nicht katalogisierbare" andere Nachteile wie besondere „psychische Gründe" oder eine drohende „gesellschaftliche Isolierung" (Zschacke, Der Gewissenskonflikt, S. 971 m.w.N.). 542 Vgl. u. Teil 2, B.I.3.a)cc), S. 248 ff. zu Art. 41 GG. 543 Vgl. o. B), S. 27 f. m.w.N. 544 Etwa wenn das ,Anusgewissen" des Abgeordneten als „politische Überzeugung" definiert und einer „echten Gewissensentscheidung" oder allgemein „ethisch-moralischen Vorstellungen" gegenübergestellt wird (Demmler, Der Abgeordnete, S. 122 ff. Vgl. Ε. E. Hirsch, Zur juristischen Dimension, S. 18; Magiern, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 38, Rdn. 47). Das Kriterium einer „hohen sittlichen Schwelle" {Demmler, a. a. O., S. 122) schafft eine künstliche Grenze zwischen „Politik"und „Gewissen" des Parlamentariers, die von Art. 38 I 2 GG gerade nicht intendiert ist. Ist die - auch von Demmler betonte - Forderung nach Gemeinwohlorientierung keine „ethisch-moralische"? 545 s.o. I.1.,S. 35 ff.

D. Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht

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Differierend ist nicht der Bedeutungskern des Gewissensbegriffs, sondern die Funktion seiner Verwendung als über das positive Recht hinausweisender Grenzbegriff: Mit „entgegengesetzter Zielrichtung" verweist er entweder an Stelle rechtlicher Bindungen auf moralische Verantwortlichkeit oder nimmt umgekehrt rechtliche Bindungen wegen der moralischen Verantwortlichkeit des Individuums zurück. 5 4 6 Die Ambivalenz von staatlich gewährter Gewissensfreiheit und (appellativ) angemahnter Gewissensbindung spiegelt die ambivalente Rolle des Gewissens für das staatliche Recht. Offen bleiben damit allerdings noch die bislang zurückgestellten Fragen, ob sich das hier zugrundegelegte (aufgrund seiner Formalität und Offenheit) einheitliche 5 4 7 Begriffsverständnis auch für das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 I GG aufrechterhalten läßt und ob sich auch die grundrechtliche Gewissensfreiheit dem hier vorgestellten Modell von den Funktionen des Gewissensbegriffs im positiven Recht einfügen läßt, ohne die Rechtsordnung zu sprengen.

546 Vgl. Eser, Rechtsgutachten, S. 50 ff. Die entgegengesetzte Funktion erzwingt keine tiefgreifende Verschiedenheit der Bedeutung des Gewissensbegriffs (vgl. dagegen die Konsequenz bei Geiger, Gewissen, S. 62). 547 Vgl. o. B., S. 27 f., 31 f.; C., S. 32.

2. Teil

Das G r u n d r e c h t der Gewissensfreiheit

A. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht? Bevor gefragt wird, inwieweit es möglich ist, den hier vorgeschlagenen einheitlichen Rechtsbegriff des Gewissens auch bei der Auslegung des Art. 4 I GG zugrunde zu legen (B.), soll zunächst die grundlegendere Frage behandelt werden, inwieweit verfassungsrechtliche Konzepte der Gewissensfreiheit überhaupt den Charakter eines Grundrechts im üblichen Sinne tragen und tragen können. Nominell wird die Gewissensfreiheit in der Rechtswissenschaft heute zwar ganz überwiegend als von der Religionsfreiheit verselbständigtes „eigenständiges Grundrecht" geführt; 1 in die allgemeine Dogmatik der Freiheitsgrundrechte läßt sich dieses Recht aber offenbar in vielerlei Hinsicht nicht einpassen. Die sich darin zeigenden Besonderheiten eines Grundrechts der Gewissensfreiheit sollen im folgenden dargestellt werden. Als Rahmen dient dieser Darstellung der von E.-W. Böckenförde entworfene, bewußt typisierende Katalog von Grundrechstheorien. 2 Sie beschreiben als „systematisch orientierte Auffassungen über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte" die hermeneutische Basis der allgemeinen Grundrechtsdogmatik. 3

1 Herdegen, Gewissensfreiheit, in: Listi/Pirson (Hrsg.) Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bnd. 1,2. Aufl. 1994, S. 481 ff. (481); ders., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 1989, S. 231 f.; Bethge, Gewissensfreiheit, in: HStR, Bnd. VI, § 137 Rdn. 4; Starck, Art. 4, Rdn. 35; Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung der Gewissensfreiheit (1970), in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 65 ff. (65). Anders wohl v. Campenhausen, Religionsfreiheit, in: HStR, Bnd. VI, § 136, Rdn. 36,41 ff. (57 ff.). Offenlassend Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, Journal für Rechtspolitik 3 (1995), S. 237 ff. (251, 255) m.w.N. 2 Zu Kritik und Modifikationen sowie zum Verhältnis zu neueren Katalogisierungen von „Grundrechts/unto/orten" vgl. Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, 1994, § 95 III 3, 4 (S. 1689 ff.) m.w.N. 3 E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation (NJW 1974, S. 1529 ff.), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115 ff. (116). Vgl. dens., Die Methoden der Verfassungsinterpretation - Bestandsaufnahme und Kritik (NJW 1976, S. 2089 ff.), ebd., S. 53 ff. (79): „normative Leitidee für die Interpretation". Kritisch Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 29 ff., 508 ff.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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I. Gewissensfreiheit als objektive Wertentscheidung der Verfassung („Werttheorie der Grundrechte" und „institutionelle Grundrechtstheorie") Der „Werttheorie der Grundrechte" und der „institutionellen Grundrechtstheorie"4 ist gemeinsam, daß beide den Grundrechtsnormen neben subjektiv-rechtlichen Gehalten („individuellen Rechten") auch davon abstrahierte objektiv-rechtliche Gehalte („objektive Prinzipien", „Wertentscheidungen" usf.) entnehmen.5 Gemeinsam ist ihnen auch, daß sie dadurch die Rechtsauslegung in größerem Maße für „geisteswissenschaftliche", von der herkömmlichen juristischen Methode emanzipierte Interpretationsansätze öffnen. 6 Die auf ihrer Basis entwickelten grundrechtsdogmatischen Konsequenzen entbehren daher weitenteils fester Konturen und sind so konzipiert, daß sie zum Teil nicht vom Bürger, sondern nur vom Bundesverfassungsgericht in rechtsförmigen Verfahren aktiviert werden können.7 Aufgrund dessen läßt sich auch das heikle Grundrecht der Gewissensfreiheit auf dieser Ebene ohne außergewöhnliche Schwierigkeiten handhaben.

1. Gewissensfreiheit als metajuristisches Prinzip Der Topos „Gewissensfreiheit" gewinnt aber in der Rechtswissenschaft noch zusätzlich dadurch an Unschärfe, daß er nicht nur als Abstraktion oder objektive Funktion des im Grundgesetz positivierten Individualgrundrechts aufgefaßt wird, 8 sondern darüber hinaus auch als „metajuristisches Postulat"9 oder „metajuristisches Prinzip" 10 ohne klare positivrechtliche Anknüpfung. Gewissensfreiheit ist danach das Prinzip, das unter Negation staatlicher Allmacht das Individuum zum alleinigen Träger aller sittlicher Werte macht und seine Souveränität gegenüber der Gemeinschaft fordert. 11 Solche Versuche, „das Gewissen als Sinngestalt und Struk* E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 129 ff., 124 ff. 5 BVerfGE 50, 290 (337); 27,195 (201). Zu anderen begrifflichen Umschreibungen dessen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und zur Kritik daran: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 32 f., 477 ff., E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik (Der Staat 29 (1990), S. 1 ff.), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 ff. (insbes. 167 f.). Zur Objektivierung und inhaltlichen Ausrichtung grundrechtlicher Freiheiten durch die „Werttheorie" wie durch die „institutionelle Grundrechtstheorie": E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 130; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 511 ff., 477 ff. 6

E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 130 f. E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 175 ff. 8 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 176 ff. 9 Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, 1962, S. 1. 7

10

Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, 1983, S. 71 ff. h Scholler, a. a. O. (Anm. 9.).

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

turprinzip im Verfassungsrecht" 12 zu erfassen, greifen unmittelbar auf die äußerst breiten und inhomogenen Diskurse um Gewissen und Gewissensfreiheit in der Geschichte von Theologie und (Staats-)Philosophie zurück. Sie bewegen sich daher eher auf der hier bewußt ausgeklammerten13 Ebene rechtsphilosophischer Thematisierungen des Gewissens und können auf dieser abstrakten Ebene eine Vielzahl von staatstheoretischen, aber auch staatsrechtlichen Fragen mit dem Prinzip Gewissensfreiheit verbinden. Vorweggenommen sei hier nur, daß auch dabei, wie in der Dualität von Konkurrenz- und Verweisungsfunktion der Gewissens-Rechtssätze14, die Ambivalenz des Gewissens für Staat und Recht deutlich zutage tritt: das moralisch selbstbestimmte Handeln des einzelnen ist Ermöglichung und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats zugleich.

a) Demokratie So läßt sich etwa Demokratie als Herrschaftsform und Prinzip der Legitimation staatlicher Herrschaft unter anderem auf die Idee des Gesellschaftsvertrags und die ihr zugrundeliegende Vorstellung souveräner Individuen zurückführen. 15 Historisch konkret lassen sich Zusammenhänge aufzeigen zwischen der Idee der Volkssouveränität und der Entwicklung von theologischer Gewissensfreiheit und allgemeinem Priestertum im Protestantismus.16 Das Gewissen und seine Freiheit liegen der Demokratie also „sowohl historisch als auch dem Sinne nach zugrunde", da die Demokratie zumindest tendenziell - auch in sittlicher Hinsicht - auf Akzeptanz, Zustimmung und Mitwirkung ihrer Bürger angewiesen ist. 17 So kann das individuelle Gewissen für die demokratische Rechtsordnung des Grundgesetzes als „existentielle Grundkonstituante gelten.18 Gleichwohl stößt aber eine auf der Idee der Volkssouveränität aufbauende staatliche Herrschaft in praxi (d. h. unter Anwendung des Mehrheitsprinzips) wie jede andere auf den »Souveränitätsanspruch* dissentierender Individuen und gerät so ihrerseits in Widerspruch zum Prinzip der Gewissensfreiheit, durch das sie so nicht nur gestützt, sondern auch in Frage gestellt wird. Auch in der Demokratie bleibt es bei der konkurrierenden Potenz des Gewissens19 und der Frage nach dem staatlichen Umgang mit ihr. Demokratie als 12

So der Untertitel von Scholler, ebd. 13 Vgl. o.Teil 1, B., S. 32 ff. 14 Teil 1, D., S. 35 ff. 15 Zippelius, BK, Art. 4 (Drittbearbeitung 1989), Rdn. 13 ff. Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 78 f. Vgl. ζ. B. das Wiederaufgreifen dieses Ansatzes bei Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, 1992, S. 329 ff., 104 ff. 16 Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 10. Vgl. ebd. S. 3 ff., 23, 31 f. 17 Mock, Das Gewissen als Grundlage der Entscheidung, in: ders., R. Jakob (Hrsg.), Auslegung-Einsicht-Entscheidung, Bnd. II, 1983, S. 69 ff. (75 f.). 18

Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, DÖV 1984, S. 61 ff. (66 f.).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Organisationsform einer Gesellschaft und staatliche Herrschaftsform kann das potentielle Spannungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft nicht aufheben, sondern nur durch ihre Verfahrensweisen entschärfen. 20 Daneben wird der Berücksichtigung abweichender Gewissenspositionen häufig gerade in der Demokratie ein zusätzliches herrschaftslegitimierendes Moment zugesprochen.21

b) Rechtsgeltung Ähnliche Ambivalenz können Gewissen und Gewissensfreiheit im Rahmen der Frage nach der Geltung staatlichen Rechts gewinnen. Gerade auch unter Anknüpfung an das Demokratieprinzip versteht man diese Frage auch als Frage nach Rechtfertigung oder Legitimität des Rechts. „Demokratie" fordert demnach nicht nur eine Beteiligung des Bürgers durch demokratische Verfahren bei der Staatsleitung und Rechtsetzung, sondern stellt zudem Anforderungen an Rechtsinhalte: „Nach demokratischem Verständnis liegt die wesentliche Rechtfertigung des Rechts außer in seiner Ordnungsfunktion auch in seiner Akzeptanz, d. h. in seiner Eignung, vor dem Gewissen aller oder wenigstens der Mehrheit der Rechtsgenossen standzuhalten."22 Unabhängig vom Anknüpfungspunkt der Demokratie kommen der Sache nach alle diejenigen rechtsphilosophischen Geltungstheorien nicht ganz am Gewissen vorbei, die die Frage der Geltung des Rechts nicht auf soziologisch beschreibbare, „empirische" oder „faktische" Durchsetzungschancen des Rechts beschränken, sondern daneben ein Moment der „Anerkennung" des Rechts enthalten.23

19

Vgl. Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 80 f. („Spannungsverhältnis"). In ihrer individualistischen Variante entwickelt sich die Idee der Demokratie als „unmittelbare Demokratie" von der staatlichen Herrschaftsform selbst zur potentiellen Gefahr für die Staatlichkeit des Gemeinwesens. 20

21 Grundlegend zur Legitimationswirkung von Grundrechten als Wert-, Güter- oder Kultursystem (unabhängig von ihrer unmittelbaren Rechtsgeltung) für eine positive Staats- und Rechtsordnung: Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 119 ff. (262 ff., insbes. S. 265 f.). Zur Gewissensfreiheit: Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 181 ff., 185 ff.; Isensee, Gewissen im Recht. Gilt das allgemeine Gesetz nur nach Maßgabe des individuellen Gewissens?, in: Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 41 ff. (58 f.); Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 149. Vgl. Kluxen, Über die Moralität staatlicher Normsetzung, in: Essener Gespräche 11 (1977), S. 57 ff. (66 f.). Vgl. aber zu den Grenzen der Legitimationswirkung die kritischen Anmerkungen bei Herdegen, a. a. O., S. 15 ff., 23. 22 Zippelius, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1989, S. 36. Vgl. ebd., S. 35 f. Vgl. dens., BK, Art. 4, Rdn. 13 ff. 23 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 1990, S. 1; H.-L. Schreiber, Das Gewissen im Recht. Gilt das allgemeine Gesetz nur nach Maßgabe des individuellen Gewissens?, in: Höver/Honnefelder, S. 29 ff. (31 ff.); Scholler, Das Gewissen als Gestalt, S. 81 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Vor einem naturrechtlichen Hintergrund liegt es nahe, das Gewissen als „Urquelle des Rechts" 24 und damit auch „letzte Quelle des positiven Rechts"25 zu verstehen. Nicht immer klar ist allerdings, ob „Gewissen" dabei ein moralisches Vermögen o. ä. des konkreten Individuums meint oder vielmehr in generalisierender Beschreibung Bezug nimmt auf das Abstraktum Gewissen als allgemein-menschliche Instanz.26 Das Recht korrespondiert dann nicht individueller Anerkennung („moralische Geltung" 27 ), sondern entweder im Staatsvolk herrschenden moralischen Anschauungen („sozialethische Geltung" 28 ) oder einer naturrechtlich vorgegebenen Moral. Eine naturrechtlich vorgegebene Moral bedarf aber zu ihrer Umsetzung wiederum des individuellen Gewissens als „Rezeptionsorgans"; 29 begriffliche Generalisierungen eines sozialethisch verstandenen „Volksgewissens"30 als Chiffre für herrschende Moralauffassungen in einer Gesellschaft sind in ihrer Entstehung und praktischen Umsetzung ins Handeln ebenso zurückzuführen auf das moralische Urteil, das „Gewissen des einzelnen Gesellschaftsgliedes". „Die Gesellschaft urteilt nur in ihren Gliedern und durch sie." 31 Erklärt man gar die „autonomen Befehle" des „Gewissens oder Rechtsgefühls" zur einzig möglichen Grundlage von Normativität, eines „Sollens" in Abgrenzung zum bloßen zwangsbedingten Müssen,32 so wäre konsequenterweise tatsächlich die Geltung und die Normativität des Rechts von individueller Akzeptanz abhängig zu machen. Das individuelle Gewissen würde zur Bedingung der Normativität des Rechts (das heißt nicht unbedingt seiner Durchsetzung). Doch auch diejenigen normativen Geltungslehren, die diesen extremen Schritt einer „moralischen" Geltungslehre nicht tun, müssen irgend eine Verbindung herstellen zwischen dem Recht des Gemeinwesens und dem durch das Recht ver24 Hamel, Die Gewissensfreiheit im Grundgesetz, AöR 89 (1964), S. 322 ff. (333). 25 Schambeck, Ethik und Staat, 1986, S. 188 f. Vgl. Adolf Meckl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens Reine Rechtslehre und Moralordnung (1961), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. v. D. Mayer-Maly, H. Schambeck, W.-D. Grussmann, Bnd. I, 1, 1993, S. 629 ff. (655),. der den Begriff „Gewissen" hier nicht verwendet. Vgl. auch die Darstellung der Lehre del Vecchios u. a. bei Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 81 ff. 26 Vgl. o. Teil 1, B., S. 31 f. zu den verschiedenen Gewissenbegriffen. 27 Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 26 f. 28 Ebd., S. 28 ff. 29 Ausdrücklich aufgegriffen etwa bei Welzel, Gesetz und Gewissen, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, Bnd. I, 1960, S. 383 ff. (397). 30 Zur Kritik an solchen begrifflichen Generalisierungen des Gewissens vgl. o. Teil 1 B., S. 31 f. 3 ' E. Spranger, Lebensformen (1914), 8. Aufl. 1950, S. 306, 328. Vgl. Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 29. Nur so läßt sich auch erklären, daß z. B. bei W. Geiger (Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. Grundfragen des Rechts 1963, S. 60) die grundsätzliche Gewissens/re/Äe/V des Bürgers als Voraussetzung der Normqualität des Rechts erscheint. 3 2 R. Laun, Recht und Sittlichkeit (1924), 3. Aufl. 1935, S. 5 ff. (10, 12); 42.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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pflichteten Individuum. Für sie ist das individuelle Bewußtsein der Pflicht jedoch nicht Bedingung, sondern Ziel des Rechts. Die Normativität des Rechts ist nicht abhängig von Faktoren außerhalb seiner selbst, sondern sie ist ein Anspruch, den das Recht an sich selbst stellt. Rechtsnormen haben damit aber auch gegenüber ihren Adressaten den „Anspruch, von jedermanns Gewissen akzeptiert zu werden." 33 Weil das Recht inhaltlich das Ziel der Verwirklichung von Gerechtigkeit oder des „personalen Prinzips" verfolgt, kann es den Anspruch der inhaltlichen Verbindlichkeit erheben; weil es der Verwirklichung des objektiven Prinzips Gewissensfreiheit dient, kann es beanspruchen, im Gewissen anerkannt zu werden. Das Recht zielt auf Anerkennung im sittlichen Willen, im Gewissen des Individuums.34 Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, daß sowohl der Gedanke der heteronomen Begründung von Rechtspflichten als auch der Gedanke selbstgesetzgebender Autonomie des Individuums in letzter Konsequenz durchgeführt zur Auflösung der „normativen Gesetzlichkeit", der verpflichtenden Kraft des Rechts führen. 35 Das Gewissen ist insofern zwar nicht Bedingung, aber doch zentraler Bezugspunkt und dauernde Gefahr für das Recht zugleich. Dieser Ambivalenz entgeht man nur dann, wenn man sich mit einer rein „heteronomen Geltung staatlichen Rechts begnügt, die nur auf „äußeren Gehorsam", nicht auf „innere Zustimmung" des Bürgers zielt und insofern auch vollkommen vom Inhalt der Rechtsnormen abstrahiert. Bei einer solchen scharfen Trennung von Legalität und Moralität kann man davon ausgehen, das staatliche Gesetz nehme das Gewissen in keiner Weise in die Pflicht; 36 der Staat verzichte generell darauf, Rechtsgehorsam als Gewissensgebot verbindlich zu machen.37 Von grundlegender Bedeutung für den Rechtsstaat ist danach nicht das Gewissen, sondern nur die Gewissensfreiheit, die als negatorisches Abwehrrecht gegen den Staat einen „Bereich privater Selbstbestimmung" gewährleistet. Das Gewissen selbst „liegt außerhalb des verfassungsstaatlichen Systems".38 33 Arthur Kaufmann, Das Gewissen, S. 22. Vgl. dens., Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 27 f.: „Geltung" eines rechtlichen Gebots setzt nicht die tatsächliche Anerkennung im Gewissen des einzelnen voraus, sondern „daß ihm um seines material-ethischen Wertes willen bei Anspannung des Gewissens die Anerkennung nicht versagt werden kann." Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 83 m.w.N. Vgl. Kluxen, Über die Moralität, S. 67 ff., 72; Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 392 f., 399; dens., An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966, S. 29 ff.: Durch diesen inhaltlichen Anspruch behält jede konkrete Rechtsordnung Entwurfscharakter. Vgl. W. Henke, Recht und Staat, Grundlagen der Jurisprudenz, 1988, S. 417 f. 34 Arthur Kaufmann, Das Gewissen, S. 21 f., 19, 3. Vgl. dens., Recht und Sittlichkeit, S. 10, 18 f. (26 ff.: Normativ verstandene „Geltung" von Ethik und Recht ist jeweils letztlich nur im Gewissen des Menschen begründet.) 35 Ders., Das Gewissen, S. 3.; ders., Recht und Sittlichkeit, S. 20 f., 28, 33. 36 Isensee, Gewissen im Recht, S. 42 f. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, VVDStRL 28 (1970), S. 33 ff., S. 81: Der Staat greift nicht auf das Gewissen zu, sondern respektiert es. 37 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, 1989, S. 177.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Eine solch scharfe Trennung läßt sich aber nur in der rechtswissenschaftlichen Theorie aufrechterhalten. Die Rechtspraxis greift, wie gezeigt,39 immer wieder ausdrücklich auf die moralische Verpflichtung durch das Gewissen zurück. Vor allem aber ruht staatliche Rechtssetzungstätigkeit, gerade wenn sie elementare Ziele verfolgt, auf der impliziten Erwartung (zumindest einem zweckrationalen „Kalkül"), vom Bürger als inhaltlich verbindlich („gesollt") akzeptiert zu werden. So hat das Bundesverfassungsgericht etwa in seiner Entscheidung zum Schutz des ungeborenen Lebens die bewußtseinsbildende und Wertvorstellungen prägende Kraft des Strafrechts betont. 40 Die Trennung von Rechtsbefehl und Innensphäre des Einzelnen läßt sich nicht strikt durchhalten; Recht zielt jedenfalls in Teilen auch auf eine normative Verankerung in den „Tiefenschichten der Persönlichkeit." 41 Auch staatliche Bildungstätigkeit zielt auf - säkulare und pluralistische - „Gewissensbildung", die Entwicklung moralischer Grundhaltungen und Kompetenzen. 42 Der Staat knüpft an das individuelle Gewissen an, das ihn und die Rechtsgeltung mit seinem Freiheitsanspruch potentiell bedroht. 43 Die Ambivalenz des Gewissens für den Staat führt staatliches Handeln in einen theoretisch, auf abstrakter Ebene, nicht aufzulösenden Zwiespalt: Gerade in bezug auf das Gewissen ist erkannt worden, daß der „moderne Staat" von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann; 44 gerade in bezug auf das Gewissen als das »normative 38

Isensee, Gewissen im Recht, S. 43. Vgl. zuletzt Roellecke, Normakzeptanz und Rechtsbewußtsein, JZ 1997, S. 577 ff. (577 f., 581, 583), für den Normakzeptanz und Rechtsbewußtsein als „tatsächliche Voraussetzungen" außerhalb des „autonomen" Rechts stehen, vom Recht weder beeinflußt noch auch nur wahrgenommen werden können; einer Destabilisierung des Rechts ist dann nur durch seine konsequente Durchsetzung entgegenzuwirken. 39 S.O.Teil 1. 40 BVerfGE 39,1 (57 f.); 88, 203 (257 f., 261, 270 ff.) u. LS 8 u. 10, wo an die Stelle von Strafrechtsnormen die auf eine Stärkung des Verantwortungsbewußtseins zielende „beratende Einflußnahme" nach § 219 StGB tritt (S. 270). 41 So auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 1, 180 f., der das wohl nur deshalb nicht als Bindung im „Gewissen" betrachtet (vgl. ebd., S. 177), weil er den engen Gewissensbegriff seiner Auslegung von Art. 4 I GG (Gefahr des Verlustes „psychischer Substanz") zugrunde legt. Kritisch zur Inanspruchnahme von Tiefenschichten der Persönlichkeit durch den Staat dagegen ebd. S. 250. Vgl. E.-W. Böckenförde. Das Grundrecht, S. 81 und 69. 42 Besonders betont bei Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, in: FS C. H. Ule, 1987, S. 321 ff. (335). Vgl. die Empfehlung der ständigen Konferenz der Kultusminister vom 3. 10. 1968 zur Sexualerziehung in der Schule, Auszüge bei BVerfGE 47, 46 (49). Vgl. u. Β. 1.2. c) bb) bbb) a), S. 213 ff. 43 Inwieweit man Forderungen nach Beachtung oder gar Dispensierung von abweichenden Gewissenspositionen als Bedrohung für die „Geltung" des Rechts betrachtet, hängt auch davon ab, inwieweit das jeweilige „Geltungs"-Konzept gerade auf der faktischen Durchsetzung von Rechtsnormen (und nicht deren normativem, ethischem Anspruch) beruht. Die Unterschiede sind insofern jedoch nicht allzu weitreichend, da die Pflicht des Bürgers zur praktischen Rechtsbefolgung meist unabhängig vom „Geltungs"-Konzept begründet wird (vgl. etwa Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, S. 30 f.: Die Moral kann einen Rechtsverstoß gar nicht erlauben, weil dies zur - auch sittlich nicht vertretbaren - Auflösung der Rechtsordnung führen würde.).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Grundvermögen 4 des Individuums gilt aber auch, daß der Staat dauernd aufgerufen ist, an der Wahrung dieser Voraussetzungen mitzuarbeiten. 45

c) Säkularität Nicht ambivalent, sondern eindeutig nur als Grenze des Staates wirkt sich das Prinzip Gewissensfreiheit als ,metajuristisches Prinzip' heute schließlich im säkularen Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates aus. Seine Grundlage ist es nur in historischer Perspektive: Die Forderung nach Gewissensfreiheit und ihre Umsetzung waren ein wesentliches Movens im Prozeß der Entstehung des modernen Verfassungsstaates als Vorgang der Säkularisation, schrittweiser konfessioneller, dann allgemein glaubensmäßiger und schließlich weltanschaulicher Neutralisierung des Staates.46 „Gewissensfreiheit" stand dabei ausdrücklich zwar ursprünglich nur für die Gewährung eines sachlich eng begrenzten Freiraumes. Der Westfälische Friede spricht insofern nur von einer Duldung konfessionsverschiedener Hausandachten, und die spätestens seit dem ALR zur festen Formel verbundene „Glaubens- und Gewissensfreiheit" in den Verfassungen des Konstitutionalismus zielte ebenfalls nur darauf, sehr begrenzte Freiräume dem staatlichen Zugriff zu entziehen.47 Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewinnt aber die - zum Teil grundsätzlich kirchen- und religionskritische Züge annehmende - Forderung nach Gewissensfreiheit eine institutionelle Dimension: In der Paulskirchenversammlung stützt die Berufung auf „Gewissensfreiheit" Forderungen nach einer strikten Trennung von Staat und Kirche; 48 in der Weimarer Nationalversammlung stützt sie sowohl kirchenfreundliche Forderungen nach einer organisatorischen Trennung von 44 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 80 f. 45 Vgl. etwa Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, u. a. S. 147 f. zum staatlichen „Bildungsauftrag" und „Kulturauftrag". Vgl. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 146. Isensee, Gewissen im Recht, S. 59 zur (ζ. B. in der schulischen Erziehung zu fördernden) „metarechtlichen Verfassungserwartung" einer Annäherung des Hegeischen »formellen4 und »materiellen4 Gewissens in der Lebenspraxis. 46 Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 ff. (insbes. S. 100 ff.); C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), 1963, S. 89 ff.; Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 238, 242, 26 ff. 47 Freilich tragen die Gewährleistungen des Westfälischen Friedens noch nicht den Charakter individueller Anspruchsnormen, sondern eher objektiv-rechtlichen Charakter als Vereinbarung zwischen den Konfessionsparteien. Gleichwohl kann man in der „libera conscientia" des Westfälischen Friedens den Grundstein der modernen „Gewissensfreiheit 44 sehen. Schiaich, Art. „Westfälischer Friede44, in: EvStL, Bnd. 2, 3. Aufl. 1987, Sp. 3970 (3972). Vgl. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 1958, S. 51 ff. Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 115 ff.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 74 f. Zu konstitutionellen Verfassungen vgl. z. B. Mock, a. a. O., S. 123 ff. 48 Scholler (Hrsg.), Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, 2. Aufl. 1982, S. 154 f., 164, 260; Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S. 479 ff. 7 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Staat und Kirche als auch weitergehende Trennungsthesen in bezug auf die institutionelle Ausgestaltung des Bildungswesens (ζ. B. Abschaffung des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen).49 Ganz deutlich steht aber auch hinter diesen institutionellen Forderungen noch ein Verständnis von Gewissensfreiheit als (negativer) Religionsfreiheit gegenüber einem religiös gebundenen Staat. Wie sich zuvor die durch die Reformation konfessionell differenzierten Gewissen gegen einen konfessionsverschiedenen Konfessionsstaat wenden konnten, so können sich die durch die Aufklärung zum Teil selbst »säkularisierten4 Gewissen noch bis ins 20. Jahrhundert gegen einen konfessionell toleranten, aber religiös gebundenen (oder sich jedenfalls als religiös gebunden darstellenden) „christlichen Staat" 50 wenden. Zweifelhaft wird die Zielrichtung von Gewissensfreiheit aber in einem Staatswesen, das sich selbst vollständig säkularisiert hat, die Trennung von Staat und Kirche institutionell umgesetzt und verfassungsrechtlich festgeschrieben hat (Art. 137 I WRV) und sich auch in seiner fördernden Haltung gegenüber Kirchen und anderen Religionsgesellschaften selbst als religiös-weltanschaulich neutral versteht, dem eigenen Tun keinen eigenen religiösen Sinn zuschreibt. 51 Das Grundgesetz sichert das, neben der Inkorporation der religionsrechtlichen Vorschriften der Weimarer Reichs Verfassung (Art. 140 GG), durch grundrechtliche Verbürgungen von Religionsfreiheit als unmittelbar geltendes Recht zusätzlich ab (Art. 41, Π, 3 ΙΠ, 33 ΙΠ, 1 ΠΙ GG). Gewissensfreiheit als historische Forderung nach institutioneller Religionsfreiheit hat damit ihr Ziel erreicht. Als ,metajuristisches Prinzip 4 mag sie weiter für die Erreichung und Sicherung dieses Status quo stehen, den Staat dauerhaft darauf festzulegen, sich selbst nicht als metaphysische Größe zu verstehen 52; ihren Forderungscharakter hat sie aber diesbezüglich verloren. 53 49

Vgl. die Darstellung bei Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 29 ff. 50 Zur Idee des „christlichen Staates" in der Zeit der Restauration vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates, S. 108 f. Vgl. auch etwa Art. 14 der Preußischen Verfassungsurkunde von 1850, der - „unbeschadet der ( . . . ) Religionsfreiheit" - die „christliche Religion" zur Grundlage von Staatstätigkeiten erklärt. Dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 78 m.w.N. 51 Vgl. Teil 2 A.I.l.d), S. 99 ff. 52 Kluxen, Über die Moralität, S. 66. 53 Teilweise zieht man aus der Säkularisierung der Gewissensfreiheit die Konsequenz, sie könne gar nicht mehr als Grundlage des Prinzips religiös-weltanschaulicher Neutralität herangezogen werden (Freihalter, Gewissensfreiheit. Aspekte eines Grundrechts, 1973, S. 202 ff. (209 f.); ähnlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl. 1991, Rdn. 382 f.). Das säkulare Verständnis von Gewissen und Gewissensfreiheit erscheint hier nur noch als Ausdruck und Beleg der ihm selbst vorausliegenden religiösen Neutralität des Staates. Das greift indes zu kurz. Gerade wenn man Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit als die im Vergleich zur Religionsfreiheit „allgemeineren" Verbürgungen betrachtet (vgl. Hesse, a. a. Ο., Rdn. 383), wird deutlich, daß Gewissensfreiheit auch dem religiös identitären Staat entgegensteht. Dazu sogleich.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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d) Neutralität Wo Staat und Gewissen gleichermaßen säkular verstanden werden, steht das Prinzip Gewissensfreiheit aber weiterhin für ein allgemeines nicht-identitäres Selbstverständnis des Staates. Das Prinzip Gewissensfreiheit begründet eine Absage an jegliche „von Staats wegen maßgebliche Deutung des Wahren und Richtigen" - auch außerhalb des Bereichs einer Religion. 54 Gewissensfreiheit ist ein wesentlicher objektiv-rechtlicher Anknüpfungspunkt für das Prinzip der Neutralität und das Prinzip der Nicht-Identifikation des Staates.55 In erster Linie meint das die Pflicht des Staates zur Nicht-Identifikation mit weltanschaulichen, religiösen, philosophischen, künstlerischen und sonstigen ideologisch geschlossenen Gesamtkonzepten, die Pflicht, eigene totalitäre Identifikationen zu unterlassen und Totalansprüchen partikulärer Gruppen entgegenzutreten. 56 Darin stehen Gewissensfreiheit und Staatsverständnis weiter in engstem Zusammenhang.57 Darüber hinaus begibt sich der Staat damit allgemein des Anspruchs, Verkörperung oder Mittler oberster Werte zu sein. 58 Versteht man Gewissensfreiheit normativ als Freiheit des sittlichen Urteilens und Handelns, so meint das vor allem: Der Staat begibt sich des Anspruchs, Verkörperung oder Mittler oberster moralischer Werte im Sinne eines ethischen Gesamtkonzeptes zu sein. 59 Wie sein Menschenbild und seine Wertordnung fragmentarische Züge und vor allem keine feststehende Wertrangordnung haben,60 so ist auch der Bereich des Rechts fragmentarisch, in dem sein Geltungsanspruch auf eine Verankerung im (säkular verstandenen) Gewissen zielt. 61 54 Hesse, Grundzüge, Rdn. 383. 55 Schiaich, Neutralität, S. 236 ff. (insbes. S. 238); ders. Zur weltanschaulichen und konfessionellen Neutralität des Staates, in: Essener Gespräche 4 (1970), S. 9 ff. (19, 35). Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 204, im folgenden jedoch einschränkend und im wesentlichen an die Kommunikationsgrundrechte anknüpfend (ebd. S. 214; vgl. S. 311). E.W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 55. Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28 (1970), S. 3 ff. (20 ff.). Vgl. auch Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 92 f., 160 ff., 762 f. 56 57 58 59 60

Schiaich, Neutralität, S. 238; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 208 f. Ebd. Vgl. auch Herdegen, a. a. O., S. 176. Herdegen, a. a. O., S. 176. Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 209 f.

Schiaich, Neutralität, S. 264; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 208. Vgl. o. b), S. 94 ff. und Teil 1, D.I.l.d), S. 60 ff. Solch fragmentarischer Charakter wird rechtsdogmatisch auch dem System des Strafrechts zugesprochen. Vgl. Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, S. 29 f., 18. Gemeint sind Normen, die vor allem dem Schutz von elementaren Individualrechtsgütern (Leben, Gesundheit, elementaren Freiheiten) dienen und nicht auf freier staatlicher Zwecksetzung beruhen, sondern auf grundrechtlich begründeten staatlichen Schutzpflichten. ( . . . ) Insofern sind dem Staat auch eigene Zwecke vorgegeben. Er ist zum (aktiven) Schutz dieser Rechtsgüter verpflichtet, wie er sie bei Verfolgung 7*

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Ähnlich wie Neutralität des staatlichen Handelns in Fragen der Religion, Kultur usf. nicht mit Neutralisierung des Staates im Sinne ausgrenzender Indifferenz gleichzusetzen ist, 62 so ist auch das nicht-identitäre Selbstverständnis des Staates und die Begrenzung seines normativen Anspruchs gegenüber dem Bürger nicht gleichzusetzen mit ethischer Indifferenz des Rechts. Vielmehr bilden beide - das im Prinzip der Nicht-Identifikation zum Ausdruck kommende beschränkte Selbstverständnis des Staates63 als auch sein als Auftrag verstandener normativer Anspruch 64 - die Basis staatlicher Loyalitätsansprüche.

2. Gewissensfreiheit als Auftrag an den Gesetzgeber Die rechtswissenschaftliche Literatur entnimmt einem objektiven Prinzip Gewissensfreiheit, das dogmatisch in Art. 4 I GG verankert wird, auch verschiedene konkrete Forderungen an die Inhalte des Rechts und das Handeln der Staatsorgane. „Gewissensfreiheit" (nicht „Gewissen") wird zum Rechtsbegriff. Sie ist eine objektive Wertentscheidung der Verfassung, die für alle Bereiche des Rechts gilt und „Richtlinien für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung" gibt. 65 Für den Gesetzgeber wird dies meist in recht allgemeiner Form dahin verstanden, daß er verpflichtet ist, Konflikte zwischen Gesetz und Gewissen zu vermeiden oder zu mindern. 66 Die Erfüllung dieser Pflicht kann er zunächst durch einfache Beschränkung seiner Rechtsetzungstätigkeit verfolgen. Die in diesem Zusammenhang vielfach geforderte Beschränkung des Rechts auf ein „ethisches Minimum" hat vordergründig verschiedene Zielrichtungen: Damit kann bei einem normativen Rechtsverständnis eine inhaltliche Beschränkung der Rechtsnormen auf „elementare sittliche Fordesonstiger, frei gesetzter Zwecke (passiv) absolut zu achten hat. In diesem Bereich sind Selbstverständnis und Anspruch des Staates gegenüber dem Bürger nicht ethisch neutral, sondern auf Verankerung im Gewissen gerichtet. In den übrigen Bereichen ist der normative Anerkennungsanspruch des Rechts ein nur abgeleiteter; abgeleitet vor allem aus der Erfüllung lebenswichtiger Aufgaben durch den Staat im ethisch nicht neutralen Bereich, der praktisch nie klar abzugrenzen ist. 62 Schiaich, Neutralität, S. 234 f., 238, 240 ff., 262 ff. 63 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 55 f., 84; Schiaich, Neutralität, S. 236; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 240. 64 Vgl. o. b), S. 93 ff. 65 Vgl. BVerfGE 49, 89 (141 f.); 21, 362 (371 f.) für alle Grundrechte. Zur Gewissensfreiheit fast gleichlautend BVerfGE 23, 127 (134). 66 So schon etwa Hildegard Krüger, Grenzen der Zumutbarkeit aus Gewissensgründen im Arbeitsrecht, RdA 1954, 365 (372). Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 17; Vgl. Herzog, Die Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, DVB1. 1969, S. 718 (722).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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rungen" gemeint sein, auf für „Durchschnittsmenschen" erfüllbare „Durchschnittsforderungen" in Abgrenzung zu einem anspruchsvollen „hohen Ethos". 67 Dem ethischen Anspruch des Rechts korreliert dann seine ethische Beschränkung, um Rechtsnormen „gewissensfähig" 68 zu machen. Gemeint sein kann aber auch das dem Neutralitätsprinzip entnommene Verbot „direkt weltanschauungsbezogener Normen." 69 Die Beschränkung auf ein „ethisches Minimum" kann schließlich auch konkreter den vollständigen Ausschluß gesetzlicher Regelungen für bestimmte Handlungen oder Lebensbereiche meinen.70 Im Ergebnis geht es immer darum, daß der Gesetzgeber dem Bürger durch Zurückhaltung bei der Verfolgung seiner gesetzgeberischen Ziele rechtlich freigestellte Verhaltensmöglichkeiten erhält. Differenzierungen kann er durch enge Tatbestandsfassungen vornehmen oder durch die Formulierung von Ausnahmeklauseln, mit oder ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das Gewissen.71 Fraglich erscheint zwar, inwieweit der Gesetzgeber bereits vor Erlaß einer Norm Konflikte mit individuellen Gewissenspositionen prognostizieren und berücksichtigen kann; 72 auch im voraus kann er aber jedenfalls das allgemeine Neutralitätsprinzip beachten73 und Zurückhaltung bei in der gesellschaftlichen Diskussion ethisch kontroversen Fragen üben. Praktikabel ist in jedem Fall auch eine nachträgliche Differenzierung gesetzlicher Regelungen nach Erfahrungen mit ihrer Anwendung. Eine positive Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung rechtlicher Alternativen im Sinne von alternativen Belastungen, „lästigen Alternativen" 74 , kann genauge67 Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit, S. 18, 29. Vgl. dens., Das Gewissen, S. 21 f.: Normen, die ein „allgemein Menschliches44 zum Ausdruck bringen. Vgl. ζ. B. auch Haverkate, Verfassungslehre, S. 201. Zu naturrechtlich begründeter Kritik am Verständnis des Rechts als „ethisches Minimum44 vgl. Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 83 m.w.N. 68 H.-L. Schreiber, Gewissen im Recht, S. 38 f. 69 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 21, 23. Vgl. Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 399. 70 Insbesondere von Strafrechtlern ist dazu das rechtstheoretische Modell eines,rechtsfreien Raumes 4 entwickelt worden. Danach dürfen ethisch nicht eindeutig zu bewertende Handlungen oder Konfliktfelder auch vom Staat nicht bewertet werden, so daß hier „die Rechtsordnung mangels eines rational einsichtigen, allgemeinverbindlichen Entscheidungsmaßstabes auf eine Normierung verzichten und es der freien Gewissensentscheidung des einzelnen überlassen muß, was zu tun sei.44 Arthur Kaufmann, Rechtsfreier Raum und eigenverantwortliche Entscheidung, in: FS Mäurach, 1972, S. 327 ff. (329 f., 332, 338, 341). Vgl. Wimmer, Schutz des werdenden Lebens im kommenden Strafrecht, S. 4: „Verweisung in den rechtsfreien Gewissensraum". Vgl. BGHSt 32, 367 (380 f.) (Sterbehilfe); vgl. o. Teil 1, D.I.2.c), S. 79 ff. Kritisch Roxin, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe in Abgrenzung von Strafausschließungsgründen, JuS 1988, S. 425 (429 f.); Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 294 f. m.w.N. 71 Vgl. o.Teil 1, D.H., S. 83 ff. 72 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 282, 285 f. 73 So auch Herdegen, ebd., S. 240.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

nommen jedenfalls nicht dem Art. 4 1 GG allein entnommen werden 75: Beeinträchtigungen der Gewissensfreiheit kann der Gesetzgeber schon durch ein bloßes »Weniger 4 an gesetzlicher Regelung verhindern. Eine Pflicht zur Schaffung lästiger Alternativen (die ihrerseits wieder dem Prinzip Gewissensfreiheit gegenläufig sein können) ergibt sich allenfalls aus der konkurrierenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die Gleichbehandlung, insbesondere die Gleichbelastung der Bürger (Art. 3 I GG) 7 6 oder anderen konkurrierenden Verfassungsaufträgen. Nur vereinzelt wird die Pflicht zur Alternativbelastung tatsächlich auf Art. 4 I GG gegründet, etwa mit dem Argument, der Verweigerer einer gesetzlichen Pflicht müsse durch Bereitstellung alternativer Handlungspflichten vor gesellschaftlicher Ächtung geschützt werden. 77 So hat auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Zeugeneid nach § 66c StPO a.F. dem Art. 4 I GG lediglich eine Befreiung von der Eidespflicht im Einzelfall entnommen, den Gesetzgeber aber dennoch verpflichtet, unverzüglich eine dem Art. 4 I GG entsprechende Regelung zu erlassen, um eine gleichheitswidrige Begünstigung derjenigen auszuschließen, die durch Art. 4 I GG von der Eidespflicht befreit werden. 78 Ansonsten stehen positive Handlungspflichten des Gesetzgebers dort zur Diskussion, wo dem Art. 4 I eine konkrete Pflicht zur Änderung der bestehenden Rechtslage entnommen wird, zum Beispiel in bezug auf das Verbot kirchlicher Trauungen ohne vorangegangene staatliche Eheschließung79 oder, sehr weit greifend, in bezug auf das Einkommenssteuerrecht, das den einzelnen an der Finanzierung von staatlichen Rüstungsausgaben teilnehmen läßt. 80 Am deutlichsten wird die „positive, inhaltsbestimmende Funktion44 des Prinzips Gewissensfreiheit, wo man es - meist in Verbindung mit dem Neutralitätsprinzip - zum „Gestaltungsprinzip 4481 und zur Grundlage eher institutioneller Forderungen macht, etwa nach Bereitstellung „neutraler öffentlicher Schulen4482 oder eines „säkularen Eherechts 4483. 74 Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 35 ff. 75 Vgl. Bopp, Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 1974, S. 167 f. ™ Bethge, Gewissensfreiheit, in: HStR, Bnd. VI, § 137, Rdn. 35; Ekk. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, 1971, S. 66 ff. Vgl. u. A.II.2) c) bb) bbb), S. 135 ff. 77 A. Arndt, Das Gewissen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung („Umwelt und Recht"), NJW 1966, S. 2204 (2206) zum zivilen Ersatzdienst nach Art. 12a II GG; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 200. 78 BVerfGE 33, 23 (34). Vgl. BVerfGE 47, 144 ff.; 79, 69 ff. 79 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 25. Vgl. Scholler, Die Freiheit, S. 175 f. Vgl. Morlok, Art. 4, in: H. Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 1996, Rdn. 102.

eo So U. K. Preuß, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Ersatzzahlung für die Verweigerung der Erfüllung der Kriegsfinanzierungspflicht (Rechtsgutachten), 1984, S. 68 f., zit. nach W. Bock, in: ders./H. Diefenbacher/H.-R. Reuter (Hrsg.), Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht, 1992, S. 129 ff. (156) (anders ders., AK, Art. 41, II, Rdn. 46).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Im Bereich solcher institutionellen Einstandspflichten kann das Prinzip Gewissensfreiheit dann auch zur Begründung konkreter Leistungspflichten des Gesetzgebers herangezogen werden und dort nicht Forderungen nach Alternativ Belastungen, sondern Alternativ Begünstigungen des Bürgers stützen, etwa die Forderung nach Bereitstellung eines alternativen Unterrichtsangebots (ζ. B. Alternativen zum Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder zum Sexualkundeunterricht). 84 Den Zurückhaltungspflichten des Gesetzgebers könnte in subjektiv-rechtlicher Hinsicht ein Abwehrrecht des Bürgers korrespondieren, den Handlungspflichten ein Leistungsrecht. 85 Schon auf objektiv-rechtlicher Ebene stellt sich jedoch die grundlegendere Frage, inwieweit solche Pflichten des Gesetzgebers überhaupt als Rechtspflichten aufgefaßt werden können. Wer das Prinzip Gewissensfreiheit als Optimierungsgebot 86 versteht, als Gebot, der „Freiheit, nach selbst verantworteten Maßstäben zu handeln, optimal Raum" zu lassen, der kann im Ergebnis eine Pflicht des Gesetzgebers zur Untätigkeit oder Alternativenschaffung nur dort anerkennen, wo dies „tragbar" ist, d. h. im Wege der „Rechtsgüterabwägung" mit anderen „Gemeinschaftsaufgaben" oder rechtlich geschützten Interessen in „Konkordanz" zu bringen ist. 87 Wohl zum einen wegen der damit gerade im Falle der Gewissensfreiheit verbundenen Schwierigkeiten, 88 zum anderen wegen genereller Bedenken gegen Tendenzen, Gesetzgebung vollständig als Verfassungskonkretisierung und damit rechtlich determiniert zu begreifen, 89 wird dagegen die Umsetzung des Prinzips Gewissensfreiheit zum Teil ausdrücklich als „gesetzgebungspolitische Frage" 90 betrachtet oder als Frage staatlicher „Kulanz" 91 . Dann bestimmt der Ge-

81 Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, Der Staat 32 (1993), S. 569 ff. (578). 82 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 21 f.; Nishihara, Gewissensfreiheit, S. 578. BVerfGE 75, 40 (62 f., 66 f.) begründet allerdings auch die staatliche Pflicht zur Förderung von Privatschulen u. a. mit dem Bekenntnis des GG zu »»Religions- und Gewissensfreiheit". 83 Schiaich, Neutralität, S. 213, 203 f. Zum Bezug zur Gewissensfreiheit ebd. S. 238. 84 Nishihara, Gewissensfreiheit, S. 577. 85 86 87 17. 88 89 90

Dazu unten, II.2. u. 3., S. 110 ff., 146 ff. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff. (75 ff.). So Bäumlin, Das Grundrecht, S. 21 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 148, Dazu unten, B.II., S. 264 ff. Vgl. etwa E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 189 f., 193 ff. Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 171, 174.

91 Vgl. Isensee, Gewissen im Recht, S. 58. Bei vielen Autoren bleibt der Rechtscharakter gesetzgeberischer Pflichten völlig unklar: Das Grundrecht „legt" eine Eröffnung von Alternativen „nahe", Kästner, Individuelle Gewissensbindung und normative Ordnung, ZevKR 37 (1992), S. 127 ff. (146 f.); Der „moderne Gesetzgeber" wird dafür „Sorge tragen", Tenckhoff, Strafrecht und abweichende Gewissensentscheidung, in: FS A. Rauscher, 1993, S. 437 ff. (446 f.); Der Staat „versteht sich" zu einem „System von Toleranzen und Entpflichtungen" ..., wo dies „angebracht" ist, E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 60 f. Ausdrücklich offenlassend Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 287; Herzog, Die Freiheit des Gewissens, S. 722.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

setzgeber allein den Umfang, in dem das Prinzip Gewissensfreiheit realisiert wird; das Bundesverfassungsgericht kann - entgegen seiner Entscheidung zur Eidespflicht 92 - Gesetze nicht wegen eines Verstoßes gegen dieses (objektive) Prinzip für verfassungswidrig und (abstrakt-generell) nichtig erklären, die Verpflichtung des Gesetzgebers auf ein Rechtsprinzip „Gewissensfreiheit" ist dann jedenfalls nicht justitiabel. 93

3. Gewissensfreiheit als Richtlinie für die Gesetzesanwender Zu den dogmatischen Konkretisierungen der objektiven Geltungsdimension der Grundrechte rechnet man gemeinhin auch die - vom Gesetzgeber oder Gesetzesanwender zu erfüllenden - grundrechtlichen Schutzpflichten und die bei der Auslegung und Anwendung des Privatrechts zum Tragen kommende („mittelbare") Drittwirkung der Grundrechte. 94 Unter Schutzpflichten versteht man dabei meist positive Handlungspflichten des Staates zum Schutz grundrechtlich geschützter Rechtsgüter des Bürgers vor Beeinträchtigungen durch andere Private. 95 Solche Schutzpflichten sind, soweit ersichtlich, dem Grundrecht der Gewissensfreiheit noch nicht entnommen worden. Schutzpflichten des Gesetzgebers würden auch den angesprochenen96 Schwierigkeiten einer Antizipierung individueller Gewissenskonflikte unterliegen; Schutzpflichten von Verwaltungsorganen (wie etwa der Schutz von Leben und Gesundheit durch die Polizei) sind in bezug auf die Gewissensfreiheit kaum denkbar, da dem Bürger eine tatsächliche Einwirkung auf das Gewissen des Mitbürgers kaum möglich ist: Das Gewissen kann nur durch Zwang zu einem bestimmten eigenen Verhalten beeinträchtigt werden, grundsätzlich nicht aber durch Anwendung (und Duldung) von unmittelbarer körperlicher Gewalt (vis absoluta). Die Anwendung von den Handlungswillen beugender Gewalt (vis compulsiva) könnte zwar vielleicht die Gewissensfreiheit beeinträchtigen, aus Sicht des Staates stünde hier jedoch jedenfalls der Schutz der Willensfreiheit, des Selbstbestimmungsrechts des Bürgers (Art. 2 I GG) als unmittelbarer und leichter nachweisbar betroffenes Rechtsgut im Vordergrund. 92 BVerfGE 33, 23 ff. (oben bei Anm. 78) 93 Frowein, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 138 f. Auch eine etwaige Gewährung von Dispensen läßt die objektive Verfassungsmäßigkeit gewissenswidriger Normen unberührt. Dazu etwa Bethge, Gewissensfreiheit, in HStR, Bnd. VI, § 137, Rdn. 32; Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, in: Der Staat 26 (1987), S. 371 (377 f.). Vgl. ohne ausdrücklichen Bezug zur Gewissensfreiheit E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 194: Die objektiv-rechtlichen Gehalte des Grundrechts behalten „Orientierungswirkung für den Gesetzgeber [ . . . ] ohne gerichtliche Einforderbarkeit". 94

E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 168 ff. 95 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff.; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR, Bnd. V, § 111, Rdn. 97, 116 ff. 96 S.o.2.,S. 101.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Ein Bürger kann das Gewissen des anderen daher praktisch nur dort beeinträchtigen, wo er ihn rechtlich zu einem Verhalten zwingen kann. Im Bereich der Rechtsbeziehungen unter Privaten kommt der Staat aber seinen „Schutzpflichten" (wenn man den Begriff weit versteht) 97 in aller erster Linie durch Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes nach, und das heißt durch die Anwendung der Grundrechte im Rahmen der sog. mittelbaren Drittwirkung. Hier hat allerdings auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit schon seit Bestehen der Bundesrepublik praktische Bedeutung und wissenschaftliche Beachtung erlangt. 98 Praktische Relevanz gewinnt es vor allem im Arbeitsrecht, 99 wo das Direktionsrecht des Arbeitgebers diesem weitgehenden rechtlichen Einfluß auf das Verhalten des Arbeitnehmers einräumt (§ 315 I BGB: „nach billigem Ermessen"). Der Auslegung dieses „billigen Ermessens" durch staatliche Gerichte sind auch durch Art. 4 1 GG Maßstäbe gesetzt. Gewissensansprüche des Bürgers wirken sich hier gegenüber dem Staat primär in prozessualer Hinsicht aus: sie eröffnen Rechtsbehelfe und vermitteln so auch grundrechtlich abgesicherte Justizgewährungsansprüche, konkurrieren aber nicht mit in Rechtsnormen gefaßten eigenen Ziel- und Zwecksetzungen des Staates. Der Staat ist nur Schlichter fremder Interessenkonflikte, nicht selbst Partei eines solchen Interessenkonflikts. Bei der Wahrnehmung dieser Schlichtungsaufgabe hat er allerdings die (objektive) wertsetzende Bedeutung der Grundrechte zu beachten, auch die der Gewissensfreiheit nach Art. 4 I GG. (Die Verletzung dieser Pflicht ist dann auch Verletzung einer subjektiven Grundrechtsposition, die zum Beispiel mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar ist. 1 0 0 ) Zweifelhaft ist nun, ob eine solche Bindung staatlicher Organe an die Gewissensfreiheit auch dort besteht, wo der Staat eigene Zwecke oder Interessen verfolgt, wo er nicht nur aufgrund privater Initiative als Schlichter privater Interessenkonflikte auftritt. 101 Für den Gesetzgeber wird dies, wie gezeigt, unterschiedlich

97 Vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 173; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 488. 98 Vgl.S. 165 mit FN 467. 99 Vgl. etwa Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990. 100

Zur Subjektivierung der aus den Grundrechten abgeleiteten Verfassungsprinzipien schon BVerfGE 7, 198 (206 f.). Vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 177 ff. Anders etwa Η. H. Klein, Öffentliche und private Freiheit, in: Der Staat 10 (1971), S. 145 ff. (172). M1 Gemeint ist die öffentlich-rechtliche Verfolgung spezifisch staatlicher Zielsetzungen, die zumindest nicht unmittelbar auf einen Dienst an Privatrechtsgütern zurückzuführen ist. Nimmt der Staat selbst am Privatrechtsverkehr teil, stellt sich das allgemeine Problem der Fiskalgeltung der Grundrechte. Vgl. Rüfher, Grundrechtsadressaten, in: HStR, Bnd. V, § 117, Rdn. 12; 39 ff. (Denkbar wäre etwa eine Bindung an Art. 4 I GG hinsichtlich der Auswahl von Vertragspartnern.)

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

beantwortet. 102 Für die gesetzesanwendenden Staatsorgane wird eine Bindung an die Gewissensfreiheit jedenfalls insofern angenommen, als das jeweilige staatliche Handeln inhaltlich nicht durch Gesetze determiniert („gesetzesakzessorisch") ist (Gewissensfreiheit als „Wohlwollensgebot"). 103 Umstritten und vielfach unklar ist dagegen, ob Rechtsprechung und Verwaltung durch eigenständige Anwendung des Art. 4 I GG die Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze modifizieren können, d. h. praktisch vor allem, ob sie den Bürger von der Befolgung gesetzlicher Pflichten dispensieren und u. U. „lästige Verhaltensalternativen" schaffen können (Gewissensfreiheit als „System von Toleranzen und partiellen Entpflichtungen"). 104 Beide, die Pflicht zum Wohlwollen und die Pflicht zur Dispensierung, werden jedoch nur relevant im Einzelfall und werden sinnvollerweise nur als Konsequenz subjektivrechtlicher Grundrechtspositionen des Bürgers diskutiert. Die dargestellten objektivierenden Auslegungen, die man der „Werttheorie" oder „institutionellen Theorie" der Grundrechte zurechnen könnte, liefern Ansätze zur Konkretisierung des offenen Wortlauts von Art. 4 I GG, lassen aber, insbesondere was ihre Justitiabilität angeht, auch Fragen offen. 105

II. Gewissensfreiheit als staatsgerichtetes subjektives Recht des Bürgers Auf dieser Ebene stellt sich die Ausgangsfrage nun noch schärfer: Läßt sich die Freiheit des Gewissens, die in Art. 4 I GG für „unverletzlich" erklärt wird, als staatsgerichtetes subjektives Grundrecht des Bürgers dogmatisch umsetzen? Muß der Staat das Versprechen, das man dem Art. 4 1 GG entnehmen kann, u. U. auch unter Relativierung eigener Regelungsziele einlösen? Die Frage ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil nicht nur das Bundesverfassungsgericht im subjektivrechtlich verbürgten Individualschutz weiterhin den „eigentlichen Kern", den „ursprünglichen und bleibenden Sinn der Grundrechte" erblickt. 106

102 s. o. 2., S. 100 ff. 103 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 277 ff. (291 ff.). 104

So etwa E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 60 f. unter Verweis auf A. Arndt, der allerdings vorsichtiger formuliert; Podlech, Das Grundrecht, S. 35 ff.; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 198 ff. 105 Dazu, inwieweit auch nicht justitiable Grundrechtsnormen der »objektiven Dimension4 des Grundrechts zugerechnet werden können, vgl. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Der Staat 29 (1990), S. 49 ff. (51 f., 56). 106 BVerfGE 50, 290 (337).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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1. Gewissensfreiheit als „Ur-Grundrecht" Das Grundrecht der Gewissensfreiheit wurde - vor und nach Inkrafttreten des Art. 4 1 GG - vielfach sogar als „Ur"- oder „Wurzel"-Grundrecht gehandelt. Solche Bezeichnungen meinen aber Verschiedenes: Bei G. Jellinek meinen sie einen historischen Primat der „Gewissensfreiheit" bzw. „Religionsfreiheit" als erstes Individualgrundrecht; 107 eine These, die sich für die Entwicklung in Deutschland seit dem Westfälischen Frieden wohl leichter belegen läßt 1 0 8 als für die Entwicklung in Nordamerika und Frankreich. 109 Auf breite Zustimmung stößt jedenfalls die These, die Gewissensfreiheit sei bis heute „Ur-Grundrecht" im Sinne eines ihr zukommenden systematischen Primats. uo Auch das meint aber wiederum recht verschiedene Dinge: Gemeint sein kann erstens der durch das Prinzip Gewissensfreiheit und das Neutralitätsprinzip zum Ausdruck kommende Verzicht auf staatliche Absolutheitsanspniche - der Primat liegt dann eher in der fundamentalen, aber ,metajuristischen* Bedeutung für das Staatsverständnis.111 Zweitens kann die Zuweisung eines systematischen Primats auch auf den breiten, potentiell jedes menschliche Verhalten erfassenden Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit zielen, der in dieser Abstraktheit die Schutzbereiche vieler anderer Grundrechte partiell überlagert. 112 Schließlich kann drittens der Eindruck der Fundamentalität der Gewissensfreiheit, ihrer „herausragenden Stellung" und „außergewöhnlichen Bedeutung", auch auf ihrem unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde (Art. 11 GG) als oberstem Konstitutionsprinzip oder höchstem Rechtswert des grundrechtlichen Wertesystems beruhen. 113 107 G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl., 1919 (S. 46 ff. Vgl. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 37; M. Heckel, Parität (1963), in: ders., Gesammelte Schriften, Bnd. I, 1989, S. 106 ff. (173). io» Vgl. o. 1.1.d), S. 99 ff. Vgl. Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 4. 109 Vgl. insofern die scharfe Kritik an G. Jellinek bei Gerhard Ritter, Wesen und Wandlungen der Freiheitsidee im politischen Denken der Neuzeit, in: ders., Vom sittlichen Problem der Macht, 1948, S. 105 ff. (112). Vgl. die Darstellung der Diskussion um die These Jellineks bei Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 27 ff. no C. Schmitt, Verfassungslehre, 1. Aufl. 1928, S. 157 ff.; Scholler, Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, DÖV 1969, S. 526 ff. (527). Vgl. dens., Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, S. 32; dens., Die Freiheit, S. 207 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 144 f.; Steiner, Der Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 I, II GG), JuS 1982, S. 157 ff. (157). m Herdegen, Gewissensfreiheit, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, S. 484. Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 176 f. u 2 Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 144 f.; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 58 ff. 113

Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 1 f.; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 131. Außerhalb der rechtswissenschaftlichen Literatur vgl. z. B. L. Honnefelder, Praktische Vernunft und Gewissen, in: A. Hertz u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bnd. III, Neuausgabe 1993, S. 19 ff. (21, 32, 37 f.) Vgl. auch die Formulierung der Präambel der bayerischen Verfassung.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Dieser Bezug wird zum Teil primär darin gesehen, daß die Gewissensfreiheit als Grundrecht (nur) einen Kernbereich der Persönlichkeit schütze (etwa gegen manipulatorische Beeinflussungen) - Menschenwürdegarantie und Gewissensfreiheit, deren Schutzbereiche positiv schwer bestimmbar sind, scheinen sich dann vor allem in der praktischen Beschränkung ihrer Schutzrichtung auf fundamentale Menschenrechtsverletzungen zu entsprechen. 114 Überwiegend betont man jedoch auch eine spezifische inhaltliche und enge Verbindung der beiden Grundrechtsgewährleistungen: „Das Grundgesetz sieht die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde als höchsten Rechtswert an. So hat es folgerecht in Art. 4 Abs. 1 die Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht, als »unverletzlich4 anerkannt." 115 Gewissensfreiheit erscheint dann als unmittelbare Konkretisierung der Menschenwürde. Jene aber auch ihrerseits durch die Gewissensfreiheit ein Stückweit positiv konkretisiert; ein Aspekt der Würde des Menschen wird seine sittliche Autonomie. 116 Achtung von Menschenwürde und von Gewissensfreiheit bedeuten Achtung des einzelnen als Subjekt. 117 Vereinzelt, aber nicht nur aufgrund eines theologisch beeinflußten Gewissensverständnisses, wird der Gewissensfreiheit sogar innerhalb dieses wechselseitigen Fundierungsverhältnisses ein Primat zugesprochen: Das Gewissen-Haben des Menschen, seine sittliche Autonomie, erscheint dann als „Grund der menschlichen Würde" 118 , oder das von Gott gegebene Gewissen erscheint in seiner Korrelation von Freiheit und Verantwortlichkeit als Grundlage jeglichen Anspruchs des einzelnen auf staatliche Anerkennung von Freiheitsrechten und Grundrechtsschutz. 119

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Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 179 f. Vgl. die parallelen Schutzrichtungen von Art. 1 I und 4 I GG („Wahrung von Identität und Integrität") bei Pieroth/ Schlink, Grundrechte - Staatsrecht II, 12. Aufl. 1996, Rdn. 408, 595 ff. Vgl. schon W. Grewe, Anmerkung zum Urteil des Württ.-Bad. VGH v. 14. 1. 1948, in: AöR 74 (1948), S. 267 ff. (271). H5 BVerfGE 12, 45 (53 f.). Vgl. BVerfGE 32, 98 (108), 33, 23 (28 f.); 52, 223 (247); 55, 366 (375) und die Darstellung bei E. W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28 (1970), S. 33 ff., Mortole, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 70 ff. Vgl. Steiner, Der Grundrechtsschutz, S. 158. 116 Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 56. Vgl. dens., BK, Art. 1, Rdn. 6 f.; E. Paul, Gewissen und Recht, 1970, S. 7 f. mit Bezug auf H.C. Nipperdey; dens., Die Funktion des Gewissens im Recht, in: H. Kallenbach/W. Schemel (Hrsg.), Funktion des Gewissens im Recht, 1970, S. 23 ff. (25 f.). Vgl. Lisken, Gefährdungen der Gewissensfreiheit, in: FS M. Hirsch, 1981, S. 529 ff. (532). 117 Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 131. us Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 384, 391 f. 119 Vgl. Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, JZ 1981, S. 457 ff. (457 f.) mit Bezug auf einen Antrag des Abgeordneten Dr. Seebohm im Parlamentarischen Rat (Verhandlungen des Hauptausschusses, 42. Sitzung v. 18. 1. 1949, S. 529 ff.) und ebd., S. 461 ff.; W. Dantine, Die Funktion des Gewissens im Recht, in: Kallenbach/ Schemel, Funktion, S. 46 ff. (59 ff.).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Mit der theoretischen Fundamentalität der Gewissensfreiheit ist aber noch wenig über ihre Praktikabilität innerhalb des Rechtssystems gesagt. Dabei ist auch im Auge zu behalten, daß die Annahme eines historischen oder systematischen Primats der Gewissensfreiheit ursprünglich immer auf einem religiösen Verständnis der Gewissensfreiheit als Teil der Religionsfreiheit ruhte und auf ihrer Bedeutung für die Entstehung des modernen Staates im Zuge der schrittweisen Verwirklichung seiner religiösen Neutralität. 120 Die Forderung nach Gewissensfreiheit war ursprünglich eine religiös motivierte Forderung gegen einen sich auch durch sie schrittweise säkularisierenden Staat. Die Forderung nach Gewissensfreiheit hat aber - philosophisch - auch den Begriff des Gewissens und damit sich selbst säkularisiert. Das hat zwar kaum Auswirkungen auf die Praktikabilität der Gewissensfreiheit innerhalb des Systems der Grundrechte; eine Abgrenzung gegenüber den übrigen Grundrechten des Art. 4 I GG kann trotz partieller Überschneidungen ebenso gelingen wie gegenüber dem Art. 2 I GG. 1 2 1 Die Säkularisierung des Grundrechts der Gewissensfreiheit 122 hat aber erhebliche Auswirkungen für seinen rechtstatsächlichen Stellenwert innerhalb der rechtlich verfaßten Staatsordnung: Die Anzahl der Bürger, die sich tatsächlich auf das Grundrecht berufen können, wächst, und vor allem bekommen die individuellen moralischen Grundlagen und Begründungen für Berufungen auf das Gewissen eine größere Spannbreite. Auch löst sich die Gewissensfreiheit nicht nur dogmatisch ein Stückweit von ihrem durch Art. 4 GG vermittelten Bezug zu den staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes, sondern die Kirchen verlieren zudem tatsächlich einen Teil ihres Einflusses auf die Wahrnehmung des Grundrechts. Allerdings darf dieser Einfluß ohnehin nicht überschätzt werden, jedenfalls solange keine wesentlichen Divergenzen zwischen der staatlichen Rechtsordnung und der (lehramtlich oder mehrheitlich vertretenen) Ethik der Volkskirchen bestehen. Auch in der Vergangenheit haben sich, ob in den sog. ,Gesundbeter'-Fällen, 1 2 3 den Fällen der Verweigerung einer Eidesableistung124 oder des sog. »Rüstungssteuerboykotts' 125 usf., aus religiösen Motiven fast nur Angehörige von religiösen Randgruppen innerhalb und außerhalb der Volkskirchen auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen. Im übrigen nehmen religiös motiviert zunehmend Angehörige nicht-christlicher Glaubensgemeinschaften das Grundrecht in Anspruch. 126 »20 Vgl. O. 1.1.c), S. 97 ff. Zur Säkularisierung der Gewissensfreiheit vgl. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: FS K. Doehring, 1989, S. 479 ff. (482 f., 493). 121

Und zwar ohne, daß die Gewissensfreiheit vom systematischen Basisgrundrecht zum konturenlosen „Supergrundrecht" verkäme. Vgl. Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 136. • 2 2 Vgl. dazu u. a. Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung der Gewissensfreiheit (1970), in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 65 ff.; Isensee, Gewissen im Recht, S. 50 f. ι 2 3 BVerfGE 32, 98. 124 BVerfGE 33, 23 ff.; 79,69 ff. 125 BVerfG, Kammerbeschluß v. 26. 8. 1992, NJW 1993, S. 455 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Daß areligiöse Berufungen auf die Gewissensfreiheit - abgesehen vom Bereich des Wehr- und Ersatzdienstes und den vor allem von der Arbeitsgerichtsbarkeit entschiedenen ,Drittwirkungsfällen' - bislang geringe praktische Bedeutung hatten, zeigt sich schon daran, daß etwa das Bundesverfassungsgericht in seinen Senatsentscheidungen127 bis heute immer die beiden sich überschneidenden Schutzbereiche von „Glaubens- und Gewissensfreiheit" gemeinsam anwenden konnte. Nicht nur die Erfahrungen mit den tatsächlichen Entwicklungen bei der Kriegsdienstverweigerung lassen jedoch die Säkularisierung der Gewissensfreiheit zu einem weiteren Grund für Zweifel daran werden, ob das Versprechen des Art. 4 I GG grundrechtsdogmatisch handhabbar, vor allem begrenzbar ist und sich praktisch in eine staatliche Rechtsordnung einfügen läßt.

2. Gewissensfreiheit als Abwehrrecht zur Sicherung einer individuellen Freiheitssphäre („liberale Grundrechtstheorie") a) Grundrechte als Abwehrrechte Grundrechte als subjektive Rechte sind in ihrer „klassischen Funktion" wie auch ihrer aktuellen „Hauptfunktion" 128 dazu bestimmt, „die Freiheitssphäre der einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat". 129 Sie schützen so „wichtige Bereiche der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit, die nach der geschichtlichen Erfahrung der Bedrohung durch die Staatsmacht besonders ausgesetzt sind." 1 3 0 Durch ihre Abwehr- und Ausgrenzungsfunktion bewirken sie, daß in diesen „Sphären" oder „Bereichen" bürgerlicher Freiheit die Handlungsbefugnisse des Staates „prinzipiell begrenzt" sind. 131 Die Grundrechte wirken gegenüber dem Staat als negative Kompetenznormen 132 und vermitteln dem Bürger Ansprüche auf staatliches Unterlassen 133; sie begründen durch dieses Konzept negativer Freihei126 Etwa BVerwGE 94, 82 ff. - Befreiung einer islamischen Schülerin vom koedukativ erteilten Sportunterricht. 127 Anders etwa BVerfG, Kammerbeschluß v. 26. 8. 1992, NJW 1993, S. 455 f. 128 Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: HStR, Bnd. V, § 109, Rdn. 41; 27; Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr-Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, S. 457 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rdn. 57 ff. Kritisch zur Bezeichnung „klassisch" Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, in: Chr. Grabenwarter u. a. (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 9 ff. (11) m.w.N. 129 BVerfGE 7, 198 (204). Vgl. BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (204 f.). 130 E.-W. Böckenförde,

Grundrechtstheorie, S. 119.

131 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 126; E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 119. 132 Stern, Idee und Elemente, Rdn. 41; E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 120. 133 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 171 ff., 200, 274 f.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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ten 1 3 4 einen „status negativus" des Bürgers 135 bzw. des Individuums als einer autark und vor-staatlich gedachten Größe. 136 Die im Normtext der Grundrechte des Grundgesetzes positivierten Bereiche werden als „Schutzbereiche", „Normbereiche", „Geltungsbereiche" usf. bezeichnet. 1 3 7 Die von ihnen beschriebenen Gegenstände (Lebensbereiche) bilden das „Schutzgut" des jeweiligen Grundrechts. 138 Die Schutzbereiche können staatlicher Handlungskompetenz jedoch nicht vollkommen entzogen sein: 139 Der Schutzbereich unterliegt Schranken, die allerdings, um ihn nicht zu nivellieren, ihrerseits an verfassungsrechtliche Grenzen, die sog. Schranken-Schranken, gebunden sind. Dieses, im Detail mit vielfachen methodischen Unsicherheiten belastete „Zwaraber-Modell" der Freiheitsrechte 140 hat aber auch relativ gesicherte rechtsdogmatische Wirkungen: Staatliches Handeln, das in den Schutzbereich eines Grundrechts eingreift, muß sich nach dem Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes auf gesetzliche Vorschriften zurückführen lassen - auch und erst recht, wenn die geschriebene Grundrechtsnorm keinen ausdrücklichen Gesetzes vorbehält enthält. 141 Da die Grundrechte unmittelbar geltendes Recht sind (Art. 1 ΙΠ GG) und am Vorrang der Verfassung teilnehmen, muß sich weiterhin auch das gesetzgeberische Handeln des Staates am Maßstab des im Schutzbereich betroffenen Grundrechts messen 134 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 194 ff. 135 So G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 86 f., 104 ff., 46 ff. Vgl. Stern, Idee und Elemente, Rdn. 41; Isensee, Gewissen im Recht, S. 43. Kritisch zur Übertragung dieser Statustheorie auf abwehrrechtliches Denken Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 233 ff., 243 ff. 136 E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 119, 123. 137 Stern, Idee und Elemente, Rdn. 77; Friedrich Müller, Juristische Methodik, 4. Aufl. 1990, S. 38 ff. Höfling, Grundrechtstatbestand - Grundrechtsschranken - Grundrechtsschrankenschranken, Jura 1994, S. 169 ff. (170). 138 Vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 41 ; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 253 f., 273 f. Zur allgemeineren Kategorie des „Rechtsgutes" vgl. ebd. S. 127 m.w.N. 139 Zum dadurch begründeten „prima facie"-Charakter des durch den Grundrechtstatbestand allein vermittelten Schutzes vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 87 ff., 273 ff., 456 f.; Höfling, Grundrechtstatbestand, S. 170. Parallel dazu wird auch „potentieller" Grundrechtsschutz von „aktuellem" unterschieden. Vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 40. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 294 ff. Grundsätzliche Kritik am „Eingriffs- und Schrankendenken" dieses grundrechtsdogmatischen Modells etwa bei Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 134 ff. 140 Stern, Idee und Elemente, Rdn. 80 mit Verweis auf Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 59. 141 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rdn. 62. Vgl. Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, §§ 95 f., S. 635 ff. (638), 645 ff., 1173. Ebenso - aufgrund teilweise abweichender grundrechtstheoretischer Basis - Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grundrechte, 1975, S. 113 ff. (116 f.). Zu anderen verfassungsrechtlichen Grundlagen des Prinzips vom Vorbehalt des Gesetzes und dessen Ausweitungen vgl. ebd., S. 14 f., 32 ff., 104 f.; Pietzcker, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, JuS 1979, S. 710 ff.; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 70, 152, 169, 179.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

(„rechtfertigen" 142 ) lassen. An den Gesetzgeber richten sich auch in erster Linie die sog. Schranken-Schranken. Seine Regelungsmacht unterliegt den in Art. 19 I, Π positivierten Grundsätzen, vor allem der Wesensgehaltgarantie, daneben - und mit praktisch weitreichenderer Bedeutung - nach herrschender Auffassung aber auch dem den Grundrechten selbst entnommenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 143 Als einer Nivellierung entgegenwirkende Schranken-Schranke könnte man auch das grundrechtliche Verbot werten, das es dem Staat untersagt, das individuelle „Gebrauchmachen" von den grundrechtlichen Gewährleistungen, die Motive und Ziele des individuellen Handelns im grundrechtlich geschützten Bereich zu differenzieren und - als mehr oder weniger wertvoll oder gar als richtig oder falsch selbst zu bewerten. 144 Sanktion für die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers ist die Nichtigkeit grundrechtswidriger Gesetze.145

b) Besonderheiten der Gewissensfreiheit Das vorstehend skizzierte Modell der Grundrechte als freiheitssichernde Abwehrrechte wird zumeist auch dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zugrundegelegt: Es schützt danach ein dem Staat prinzipiell vorausliegendes „Reservat individueller Freiheit" 146 oder einen staatlich gewährleisteten „Bereich privater Selbstbestimmung". 147 Im Falle der Gewissensfreiheit wird dieses Modell aber mehr oder weniger erheblichen grundrechtsdogmatischen Modifikationen unterworfen. Das dürfte entscheidend darin begründet liegen, daß es der Gewissensfreiheit bei unbefangener Betrachtung des Wortlauts von Art. 4 I GG schon an der Ausgangsbasis eines liberal-rechtsstaatlichen Abwehrrechts zu mangeln scheint, an einem objektivierbaren „Bereich", einer für alle Bürger jedenfalls im Kern gleich zu bestimmenden „Sphäre" grundrechtlich privilegierter Freiheit. 148 Dieser Eindruck von ,Bereichslosigkeit' des Grundrechts beruht seinerseits zunächst darauf, daß 142 Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, S. 467; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 7,45. 143 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 65, 1 (44). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff. Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rdn. 269 ff. (273) und Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr, S. 460 ff. sprechen von einer Entwicklung zum „Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes". Ebenso Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, S. 762 ff. (764, 787). Dort auch zu den unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Verankerungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Grundlegende Kritik zum Abwägungsaspekt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, insbes. S. 192 ff.

1 44 E.-W. Böckenförde, 145

Grundrechtstheorie, S. 120 m.w.N.

Dazu Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997, Rdn. 343 ff. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 58. 1 47 Isensee, Gewissen im Recht, S. 43. 148 Vgl. u. Teil 2 B.I., S. 167 ff.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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man faktisch und - wegen des Grundsatzes religiös-weltanschaulicher Neutralität - auch rechtlich nicht in der Lage ist, „Gewissen" oder „Gewissensurteil" auf bestimmte Äußerungsformen der menschlichen Existenz (etwa Gefühl oder Intellekt usf.) festzulegen. 149 Das Menschenbild des Grundgesetzes ist offen, der Gewissensbegriff begriff notwendig weit und „undifferenziert" 150 zu fassen.

als Rechts-

Weitgehend unabhängig von den möglichen Vorstellungen darüber, was „Gewissen" ist, wie sich „Gewissen" äußert, ist jedenfalls der einzelne Bürger, ist sein individueller Horizont und sein individueller moralischer Maßstab ausschlaggebend dafür, was im konkreten Fall zur Gewissenssache wird. Das Gewissen des Bürgers kann in seiner moralischen „Souveränität" 151 ohne sachliche Beschränkung praktisch alle Dinge des Lebens zur eigenen Sache erklären; eine Beschränkung auf bestimmte ,3ereiche" der gesamtgesellschaftlichen Lebenswirklichkeit ist nicht möglich. 152 Es geht beim Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht um bestimmte materielle Güter wie ζ. B. Leben und Gesundheit und auch nicht um abgesteckte Bereiche menschlichen Handelns wie ζ. B. das Ausüben eines Berufes oder die Teilnahme an einer Versammlung, sondern um das Handeln (Verhalten) des einzelnen Menschen schlechthin; und zwar deswegen, weil „Gewissen" die sachlich unbeschränkte Möglichkeit des Menschen zur Beurteilung seines eigenen Verhaltens meint. 153 Die ,Bereichslosigkeit' der Gewissensfreiheit bekommt ihre besondere Schärfe im Vergleich zur Meinungsfreiheit dadurch, daß die Schutzwirkung des Grundrechts nach fast allgemeiner Auffassung nicht im rein geistigen Bereich (im sog. „forum internum" des einzelnen oder auf der Ebene geistiger Vermittlung und Auseinandersetzung zwischen Bürgern) verbleibt, sondern, dem Handlungsbezug des Gewissens entsprechend, das gesamte gewissensbestimmte Verhalten (das sog. „forum externum") erfaßt. 154

149 Dazu oben Teil 1 B., S. 24 ff. Vgl. BVerfGE 12,45 (54 f.). 150 Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 127; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 9. 151 Vgl. die Nachweise bei Scholler, Die Freiheit, S. 194. Vgl. Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, AöR 114 (1989), S. 7 ff. (8 f.). Podlech, Das Grundrecht, S. 30, spricht insofern von einer beanspruchten „Kompetenz-Kompetenz" des Gewissens. Die Vorstellung konkurrierender „Souveränitäts"ansprüche von Staat und Individuum (Franke, a. a. O., Anm. 1 ; Scholler, Das Gewissen als Gestalt, S. 1, 4 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 75 ff.) führt aber insofern in die Irre, als das Gewissen Urteilskompetenz nur für die eigene Person beansprucht und der Staat des Grundgesetzes, beschränkt in seiner „Souveränität" ζ. B. auch durch andere Grundrechte, keine lückenlose Kompetenz zur Beurteilung des gesamten individuellen Verhaltens beansprucht. 152 Etwa Podlech, Das Grundrecht, S. 30 f.; ders., Gewissensfreiheit und Beamteneid, JuS 1968, S. 120 ff. (122); Morlok, Selbstverständnis, S. 78 f. mit Anm. 78; Isensee, Gewissen im Recht, S. 46 ff.; Schreiber, Gewissen im Recht, S. 31; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 45. 153 Vgl. o.Teil 1 B., S. 24 ff.

8 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Hier liegt auch der wesentliche Unterschied im Vergleich zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG, dem es ebenfalls um den Schutz der Subjektqualität des Menschen geht: 155 Seine „Würde" verbietet es, den Menschen in bestimmter Weise (ausschließlich als Objekt) zu behandeln;156 das Grundrecht zielt auf Lebenssituationen, in denen der Mensch grundsätzlich Objekt staatlichen Handelns (nicht nur Gegenstand rechtlicher Regelungen) ist; der Bürger befindet sich grundsätzlich im Zustand der „Passivität" des Duldens, in dem ihm aber eine gewisse Achtung als Subjekt garantiert wird. „Gewissen" dagegen zielt von vornherein auf aktive Lebensäußerungen, nicht das Behandelt-Werden, sondern das eigene Handeln und die eigene Bewertung dieses Handelns. Durch das Hinzutreten des - der liberalen Grundrechtstheorie entsprechenden und für die Gewissensfreiheit heute allgemein vorausgesetzten - Verbots der inhaltlichen Bewertung von Gewissensentscheidungen durch den Staat 157 und durch das Hinzutreten des Fehlens eines ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts in Art. 4 I GG ist so die Gefahr eines »bereichslosen4 und zugleich schrankenlosen Handlungsrechtes begründet. Das droht nicht nur zum „Supergrundrecht" zu werden, das die Systematik der grundgesetzlichen Grundrechtsgewährleistungen sprengt 158 und nicht mehr von der Art. 2 I GG entnommenen allgemeinen Handlungsfreiheit unterscheidbar ist 1 5 9 ; es droht vielmehr sogar die Auflösung der Ordnungskraft der Verfassung 160 oder der Rechtsordnung insgesamt zu bewirken. 161 154 Vgl. die Darstellungen bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 232 ff., 235 ff.; 267 f., 285; Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff in Gesetzgebung und Rechtsprechung seit 1945, 1972, S. 22 ff.; Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 381 f.; Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 51 f.; Isensee, Gewissen im Recht, S. 44; Herzog, M / D / H / S, Art. 4, Rdn. 129 ff. Anders nur Faber, Innere Geistesfreiheit und suggestive Beeinflussung, 1968, S. 32 ff.; Frowein, Diskussionsbeitrag, S. 139. Nicht eindeutig Eiselstein, Das „forum externum" der Gewissensfreiheit - ein Weg in die Sackgasse» DÖV 1984, S. 794 ff. (798); Zippelius, BK, Art. 4, Drittbearbeitung 1989, Rdn. 44 ff. Vgl. dens. Zweitbearbeitung 1966, Rdn. 42 ff.; dens. Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 90 f. Vgl. Doehring, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1984, S. 301 f. 155 Vgl. o. l.,S. 107 ff.

156 So etwa BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 50, 166 (175); 72, 105 (116) (st. Rspr.). Auch schon BVerwGE 1, 159 (161). Grundlegend Dürig, M / D / H / S , Art. 1, Rdn. 28 (so schon Erstbearbeitung 1958). Dazu Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR, Bnd. I, 1987, § 20, Rdn. 37 f., 43. 157 Zu bis in die 60er Jahre vertretenen abweichenden Positionen vgl. Podlech, Der Gewissensbegriff im Rechtsstaat. Eine Auseinandersetzung mit Hamel und Witte, AöR 88 (1963), S. 185 ff. Vereinzelt dagegen Hohn, Die Freiheit des Gewissens, 1989, S. 255 ff., der das schützenswerte, an einer objektiven Wertordnung ausgerichtete „echte Gewissen" vom „subjektiven" unterscheiden will. Zur heute allgemeinen Auffassung vgl. Podlech, Das Grundrecht, S. 20 ff.; Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 380; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 8; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 134 ff.; Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, AöR 90 (1965), S. 257 ff. (259 ff.). So auch BVerfGE 12, 45 (56) u. st. Rspr. 158 Vgl. Herzog, M / D / H /S, Art. 4, Rdn. 136.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Da der moderne Staat den ,3ereich" der in Art. 4 1 GG verheißenen Gewissensfreiheit inhaltlich nicht einzugrenzen vermag, nimmt die Staatsrechtslehre die Herausforderung, die diese Verheißung darstellt, meist in der Form an, daß sie ihren grundrechtsdogmatischen Rahmen modifiziert.

c) Grundrechtsdogmatische

Modifikationen

aa) Modifikationen des grundrechtlichen Schutzgutes Nach dem Gesagten verwundert es wenig, daß grundrechtsdogmatische bzw. -methodische Modifikationen verbreitet bereits auf der Ebene der Schutzgutbestimmung begegnen. Was die in Art. 4 I GG für unverletzlich erklärte „Freiheit des Gewissens" gegenständlich bezeichnet und damit schützt, ist zwar in concreto alles andere als leicht zu bestimmen; man kann aber jedenfalls sagen, daß es, dem Wortlaut des Grundrechtstatbestands entsprechend, analog zu den übrigen Freiheitsgrundrechten das Gewissen des Bürgers sein müßte; 162 so wie die „Freiheit des religiösen [ . . . ] Bekenntnisses" (Art. 4 I GG) das religiöse Bekenntnis und die „Pressefreiheit" (Art. 5 I GG) die Presse schützen und auch die gegenständlich ebenfalls höchst unbestimmte „Würde des Menschen" (Art. 1 I GG) jedenfalls unstreitig dem Schutz der Menschenwürde dient. Dies umso mehr, als gerade der Begriff der „Freiheit" generell eine emotive Bedeutungskomponente trägt, die das als „frei" Bezeichnete neben der bloßen Deskription im allgemeinen mit einer positiven Bewertung belegt 1 6 3 und schon dadurch als schützenswert erscheinen läßt. Die „Freiheit des Gewissens" nach Art. 4 1 GG nimmt man dagegen nicht immer beim Wort. Man kann - wie die grundlegend von Luhmann im Jahre 1965 vorgenommene funktionale Analyse des Grundrechtstatbestands - zu dem Ergebnis gelangen, „daß die Gewissensfreiheit gar nicht dem Gewissen dient", sondern andere Funktionen hat: 1 6 4 Sie dient der psychischen Stabilität des einzelnen Menschen, seiner Identität und Integrität, indem sie ihm die Orientierung am Gewissen nicht 159 Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, NVwZ 1991, S. 1033 ff. (1035); Isensee, Gewissen im Recht, S. 42. 160 Isensee, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche 30 (1996), S. 20 f. (21). 161 Vgl. u. B.I.2.c)bb)aaa),S.211. 162 A. Arndt, Das Gewissen, S. 2205; W. Geiger, Gewissen, Ideologie, S. 65; Starck, Art. 4, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bnd. I, 3. Aufl. 1985, Rdn. 35 f.; So schon v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1953, Art. 4, Anm. 2; Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 124 ff.; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 131 ff. 163 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 195 m.w.N. 164 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 259. Überpointiert wird die Gewissensfreiheit zur „ärgsten Feindin44 des Gewissens, ders., Grundrechte als Institution, 1965, S. 77. Mit Bezug auf Luhmann: Podlech, Diskussionsbeitrag, in VVDStRL 28 (1970), S. 132 ff. 8*

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

ermöglicht, sondern erspart, ihm Entlastung von gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen bietet und ihn davor bewahrt, daß „sein Gewissen sich gegen ihn selbst wendet und seine Persönlichkeit zerstört". 165 Die Funktion der Gewissensfreiheit ist es demzufolge aber in erster Linie, die Integrität und Stabilität der staatlich verfaßten Sozialordnung gegenüber abweichendem Verhalten einzelner, der Enttäuschung von Rollenerwartungen durch einzelne zu schützen.166 An die Stelle des Schutzes des Gewissens tritt der Schutz des personalen Systems und des sozialen Systems vor dem Gewissen. Die Grundrechtsdogmatik kennt zwar keine strenge Wortlautbindung, und das Fehlen eines „semantischen Gehalts" von Grundrechten kann sogar dem Unternehmen entgegenstehen, sich einem Grundrechtstatbestand überhaupt über eine Explikation der in ihm vorkommenden Begriffe zu nähern; an die Stelle des „semantischen Gehaltes" tritt dann der funktional zu bestimmende „pragmatische Gehalt" eines Grundrechts - etwa bei Art. 3 I GG. 1 6 7 Die Technik der funktionalen Analyse birgt jedoch auch Schwierigkeiten und Gefahren für die Rechtsanwendung, denn funktionale Analyse ist immer systemrelativ. 168 Dadurch besteht die Gefahr, daß die Auswahl der Bezugssysteme nicht ausreichend an den Anforderungen des rechtsdogmatischen »Systems* orientiert wird. Diese Gefahr ist bei „funktionell-rechtlichen" Ansätzen im Bereich des Staatsorgan! sationsrechts 169 geringer, weil das zwecksetzende System, das System der einander zuzuordnenden und voneinander abzugrenzenden Staatsorgane, vorgegeben und zudem selbst rechtlich definiert ist; daher ist es methodisch unbedenklicher, etwa bei der Bestimmung der Kompetenzen eines Verfassungsorgans nach dessen Funktion im grundgesetzlich definierten System aller Verfassungsorgane zu fragen. Fragt man dagegen nach der Funktion eines einzelnen Grundrechts oder eines grundrechtlich geschützten Gegenstandes, so besteht schon die Gefahr, den Träger des Grundrechts und die individualschützende Zielrichtung (Funktion) der Freiheitsrechte des Grundgesetzes aus den Augen zu verlieren. Die Freiheitsrechte dienen in der Demokratie dem Schutz von Individuen und Minderheiten gegenüber der von der Mehrheit der Bürger getragenen staatlichen Ordnung, sie schützen gerade den Interessen der Sozialordnung potentiell entgegenlaufende Interessen und

«65 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 275 f. Vgl. ebd., S. 264, 266, 271, 273, 280 f., 284. »66 Ebd. S. 270 ff., 278 f. Als Beispiel nennt Luhmann die Funktion von Art. 4 III GG, den Staat vor dem unzuverlässigen Soldaten zu schützen. Zustimmend Podlech, Das Grundrecht, S. 34 f. 167 Schlink, Abwägung, S. 197; Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, S. 77 ff. 168

Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 279 mit Anm. 38. Darstellung und Kritik etwa bei Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdn. 470 ff., 483 ff. m.w.N. 169

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erscheinen daher dem Funktionieren und der Stabilität sozialer Systeme potentiell entgegengesetzt.170 Ihre im Interesse der Funktionsfähigkeit sozialer Systeme, insbesondere des Staates, vorzunehmende Relativierung (die „Koordination persönlicher und sozialer Systeminteressen" 171) erfolgt erst durch die vom Grundrechtstatbestand zu trennenden Grundrechtsschranken, die sich am Maßstab des Grundrechtstatbestands rechtfertigen lassen müssen. Diese Zielrichtung und Funktionsweise der Grundrechte, das „Spiel von Grund und Gegengrund", 172 wird aber unterlaufen, wenn man „die Funktion der Gewissensfreiheit in der Gesellschaft zum Ausgangspunkt der Auslegung" des Grundrechtstatbestands macht und diese Funktion darin erblickt, daß das Grundrecht dem einzelnen seine „Loyalität zur rechtlich geordneten Gesellschaft" ermöglicht und der Gesellschaft Störungen durch den einzelnen erspart. 173 Die funktionelle Interpretation eines Grundrechts kann so zum Austausch des Schutzsubjektes führen. 174 Vor allem birgt die funktionale Interpretation die Gefahr, die von der Verfassung intendierten Schutzobjekte und damit die Zielrichtung des konkreten Grundrechts auszutauschen oder zumindest zu modifizieren, indem sie vorhandene semantische Gehalte eines Grundrechtstatbestandes durch die Wahl eines (wortlautfremden) Bezugssystems der Grundrechtsfunktion verdrängt. Die funktionale Interpretation ersetzt die Schutzgutbestimmung, die gemeinhin das Gewissen als Schutzgut der Gewissensfreiheit ausweist,175 durch eine Funktionsanalyse. Das ist unbedenklich, solange die so ermittelte „Funktion" des Grundrechts auf das ursprüngliche (semantisch vorgeprägte) Schutzobjekt bezogen bleibt. So bestimmt etwa Podlech die Funktion der Gewissensfreiheit ganz abstrakt dahingehend, „dem einzelnen bei rechtlich vermittelten Gewissenskonflikten [ . . . ] Ver170 Zum allgemeinen Gegensatz zwischen 5)\ytemorientierter Deutung der subjektiven Rechte durch Luhmann und „persomj/funktionaler" Deutung etwa durch Schelsky vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 171 f. 171 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 279. 172 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 289. 173 Podlech, Das Grundrecht, S. 34 f.; ders., Diskussionsbeitrag, S. 133. Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 270 ff.; daran anknüpfend auch Hermann Weber, Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen?, NJW 1968, S. 1610 f. 174 Vgl, die Kritik bei Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 144 f., 157; Franke, Gewissensfreiheit, S. 15 f. W Marx, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: Rechtstheorie 6 (1975), S. 161 ff. (169); Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, S. 252 ff.; H.-R. Reuter, Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht, in: ders., Rechtsethik in theologischer Perspektive, 1996, S. 301 ff.; Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts. Zur Überwindung des Dezisionismus im demokratischen Rechtsstaat, 1986, S. 59 ff., 119 f. Kritisch insoweit auch Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 483. 175 S.o.S. 115.

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haltensalternativen bereitzustellen" (was man auch als bloße technische Modalität einer Gewährleistung von Gewissensschutz betrachten kann); auch in der funktionellen Umformulierung des Grundrechtstatbestands bleibt hier das Gewissen im Merkmal des „Gewissenskonflikts" der entscheidende Bezugspunkt.176 Die für den Rechtsanwender entscheidende Frage, wann ein solcher Gewissenskonflikt vorliegt, beantwortet Podlech nur noch mit Blick auf das Konzept der Verhaltensalternativen: Der Bürger befindet sich im Gewissenskonflikt, wenn er sich in einer „Zwangslage" befindet, d. h. wenn er seinerseits nicht über rechtmäßige und gewissensneutrale Verhaltensalternativen verfügt. 177 Das impliziert einen weiten normativen Gewissensbegriff: Das Gewissen konkretisiert sich in dem Bewußtsein, zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet (gezwungen) zu sein. Die Schwierigkeit des von Podlech vorgeschlagenen Lösungsansatzes liegt somit nicht in einem Austausch des Schutzobjekts der Gewissensfreiheit, sondern darin, daß er das Grundrecht als Leistungsrecht (auf Bereitstellen von Alternativen) formuliert 178 , und darin, daß er dieses Leistungsrecht einer tatbestandlichen Begrenzung unterwirft, die einer wertungsbedürftigen Konkretisierung anhand staatlicher Interessen im Einzelfall bedarf und daher wohl eher auf der grundrechtlichen Schrankenebene anzusiedeln wäre: Der Staat muß rechtmäßige Verhaltensalternativen nicht bereitstellen, wenn diese „nicht vorhanden" oder für ihn „nicht tragbar" sind. 179 Die Gefahr eines Austauschs der Schutzobjekte besteht aber dort, wo das normative Moment des Gewissens durch Funktionalisierung in neuen übergeordneten Bezugssystemen verdrängt wird. Für Luhmann 180 ist Ausgangspunkt seiner Grundrechtsinterpretation die Erkenntnis, daß „Gewissen" als Rechtsbegriff nicht mehr über Gewissensinhalte, nicht mehr durch Rückführung auf ein überindividuell feststellbares Sittengesetz oder überpositives Recht konkretisiert werden kann. Für das Recht hat „Gewissen" damit seine traditionellen normativen Bezugssysteme scheinbar völlig verloren und erscheint als Leerstelle, die ganz neu auszufüllen ist. Diese Aufgabe weist Luhmann den empirischen Wissenschaften zu, der Soziologie und der Psychologie.181 Gewissen wird zu einem Aspekt des empirischen Men176 Podlech, Das Grundrecht, S. 154 f. Vgl. ebd. S. 33 f., 41, wo der Bezug zum Gewissen im Merkmal des „gewissenswidrigen Verhaltens" erhalten bleibt, wenn auch das individuelle Gewissen nicht mehr notwendig, „alleiniges Rechtsgut" des grundrechtlichen Schutzes sein muß. Zum Konzept der Verhaltensalternativen vgl. bereits Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 273, 283 f. ι 7 7 Ebd., S. 37 f. ™ Dazu unten 3., S. 146 ff.

™ Podlech, Das Grundrecht, S. 38. Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 219 f., 216, 198 ff. Vgl. BVerfGE 33, 23 (32) (Zeugeneid), wo die Tragbarkeit eines Verzichts auf die Eidesformel mit dem Fehlen verfassungsimmanenter Schranken begründet wird: ändere mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen oder Grundrechte Dritter werden hierdurch nicht verletzt." «so Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 259 ff., 284. Vgl. grundlegend Podlech, Der Gewissensbegriff im Rechtsstaat, AöR 88 (1963), S. 185 ff.

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sehen, im systemtheoretischen Denken zu einer Funktion in einer Struktur der Selbsterhaltung und Stabilisierung des Persönlichkeitssystems.182 Die die Persönlichkeit destabilisierenden, den Menschen von sich und seinem Verhalten distanzierenden Aspekte des Gewissensphänomens183 erwähnt Luhmann zwar; 184 in seiner „Funktions"bestimmung blendet er sie jedoch aus. Gewissen dient - wie in der Folge dessen das Grundrecht der Gewissensfreiheit - der Identität des Menschen. 185 In der an Luhmann anknüpfenden rechtswissenschaftlichen Diskussion zu Art. 4 I GG avanciert der Begriff der „Identität" zum Schlüsselbegriff und scheint - in recht unterschiedlichen Konkretisierungen - das eigentliche Schutzgut der Grundrechtsnorm zu beschreiben. 186 Der der psychoanalytischen Psychologie entstammende187 Begriff „Identität" meint bei Luhmann Identität des Menschen als empirisches historisches Wesen mit sich selbst; „normativ" ist das Gewissen nur noch in seiner „zeitüberwindenden Funktion", durch die es den Menschen mit seiner Vergangenheit und seiner Zukunft identifiziert. 188 Das ist der vorschnelle Schluß aus der Erkenntnis, daß das Gewissen in der modernen Welt nicht mehr zur „sozialen Generalisierung", der Feststellung intersubjektiver Verbindlichkeiten geeignet ist. Aus dem Untergang eines „Recht und Gewissen übergreifenden Wahrheitskosmos", der vordem Gewissen als con-scientia erscheinen ließ, schließt Luhmann in gleicher Wiese vorschnell, Gewissen sei „überhaupt kein Wissen mehr, sondern eine Art Eruption der Eigentlichkeit des Selbst". 189 Nur konsequent ist es daher für ihn, die ethischen Kategorien von Gut und Böse ausdrücklich aus seinem Gewissensbegriff zu eliminieren. 190 Hier liegt aber auch die entscheidende Verkürzung: die Abstraktion von der ,ichüberwindenden Innenperspektive4 des Grundrechtsträgers, der sich selbst moisi Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 258, 276 mit Anm. 33, 277 f.; ders. Die Funktion der Gewissensfreiheit im öffentlichen Recht, in: H. Kallenbach / W. Schemel (Hrsg.), Funktion des Gewissens im Recht, 1970, S. 9 ff. (12, 14 f., 22); ders., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, in: F. Böckle/E.-W. Böckenförde 182 (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S. 223 ff. (223, 236 f.). Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 264, 285 f. 183 Vgl. etwa Weischedel, Skeptische Ethik, 1980, § 66, S. 175 f.: Gewissen als „fraglich machendes Prinzip im Menschen". ι 8 4 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 269 f., 284. 185 Ebd., S. 264. 186 Vgl. Häberle, Die Menschenwürde, Rdn. 46 ff. mit dem Versuch, den Begriff der „Identität" zum Zentrum der Auslegung von Art. 1 I GG zu machen. 187 Zu verweisen ist hier u. a. auf Ε . H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, dt. 1973. Vgl. dazu Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 68 f. Vgl. Häberle, Die Menschenwürde, Rdn. 48, zu soziologischen Identitätskonzepten. 188 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 267 f., 286. 189 Ebd., S. 260 f. 190 Ebd., S. 258, 268. Damit werden ζ. B. auch Fragen der Ästhetik zu möglichen Gewissensfragen. Vgl. dens., Das Phänomen, S. 272 ff. Dagegen etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rdn. 522.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

raiisch zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet weiß - und nicht nur deshalb, weil er schon immer so gehandelt hat. Daß Gewissensäußerungen nicht mehr überindividuell oder gar autoritativ festgestellt oder inhaltlich überprüft werden können, steht ihrer Normativität nicht zwangsläufig entgegen.191 Zweifelhaft ist nebenbei auch schon die polarisierende Abgrenzung zu einem historischen objektiven „Recht und Gewissen übergreifenden Wahrheitskosmos". Spätestens seit den Einflüssen Thomas von Aquins steht das Gewissen, gerade im Horizont des Verhältnisses von Recht (Gesetz) und Gewissen, nicht nur für die Verinnerlichung eines objektiven Sittengesetzes, sondern auch für dessen individuelle Konkretisierung im Einzelfall und daraus resultierende Konflikte. 192 In bezug auf den religiös-weltanschaulich neutralen Staat wirkt sich der Verlust eines übergreifenden Wahrheitskosmos nur beschränkt aus. Dem staatlichen Richter etwa ist ein Rekurs auf die traditionellen naturrechtlichen Referenzsysteme des Gewissens nur in dem Sinne verboten, daß er den Inhalt von Gewissensentscheidungen nicht an überindividuellen naturrechtlichen Normen messen darf, und in dem Sinne, daß er solche naturrechtlichen Selbstinterpretationen des Grundrechtsträgers nicht als einzig tatbestandliche im Sinne des Art. 4 I GG betrachten darf. Das schließt aber nicht aus, daß das staatliche Recht naturrechtlichen Selbstinterpretationen des Grundrechtsträgers als solche zur Kenntnis nehmen und als ein mögliches (oder typisches) Gewissensverständnis anerkennen kann.

Luhmann vollzieht die Subjektivierung, Individualisierung und Säkularisierung von Moral und Ethik nicht nach, sondern stützt sich auf einen empirisch definierten Identitätsbegriff, der verspricht, „Gewissen" im Sinne des Art. 4 I GG „in gewissem Umfang objektiv nachprüfbar" zu erhalten. 193 Mit der Abstraktion von der moralischen oder ethischen Dimension, vom Imperativischen, präskriptiven Charakter des Gewissensphänomens, verliert der Gewissensbegriff aber seine spezifische Unterscheidungskraft. Das wird am deutlichsten, wo Luhmann selbst Beispiele für als Forderung erfahrene private ,Idiosynkrasien" gibt, die nach seinem Verständnis „gewissensfähig" werden können: „Dem einen ist es unmöglich, Katzen anzufassen, dem anderen, Liegestühlen zu vertrauen. Ein Dritter bringt es nicht über sich, sich im Straßenverkehr überholen zu lassen, bei den Steuern zu betrügen, eine Unwahrheit in der gesellschaftlichen Konversation passieren zu lassen usw." 1 9 4 Versteht man „Gewissen" und „Identität" in dieser Weise unspezifisch und ethisch neutral als verhaltensdeterminierende psychische Funktionszusammenhänge, so ist der Bezug zum semantischen Gehalt des Art. 4 I GG ebenso verlorengegangen wie der zum alltagssprachlichen Gewissensbegriff. 195

191 Vgl. die Beiträge von G. Höver/L. Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 11 ff., 99 ff., 101 ff., 113 ff., 123 ff. 192 Vgl. etwa die komprimierte Darstellung bei Störmer-Caysa, Über das Gewissen. Texte zur Begründung der neuzeitlichen Subjektivität, 1995, S. 7 ff. 193

Luhmann, Die Gewissensfreiheit (Anm. ), S. 284. M Luhmann, Die Funktion, S. 10.

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Auch für Luhmann liegt hier jedoch noch nicht das für die Auslegung des Art. 4 1 GG entscheidende Ergebnis empirischer Analyse. Ob und in welcher Intensität konkrete vom Grundrechtsträger als „Gewissensentscheidung" bezeichnete Äußerungen menschlichen Denkens und Erlebens verhaltensdeterminierend und identitätsstiftend sind, läßt sich nämlich positiv offenbar auch mit empirischen Methoden nicht erheben. Luhmann richtet seine Hoffnung auf gewisse objektive Nachprüfbarkeit, nicht auf die psychischen Grundlagen von Verhaltensimpulsen, sondern auf die Folgen von deren Mißachtung: „Fordert das Gewissen ein Verhalten, so steht dahinter die Sanktion des IdentitätsVerlustes: des Todes, der Schizophrenie, des radikalen Bruchs mit der eigenen Vergangenheit." 196 Ob eine solche - in der forensischen Situation immer prognostische oder hypothetische - Feststellung von Folgen gewissenswidrigen Verhaltens praktikabel ist, scheint aber besonders hinsichtlich möglicher psychopathologischer Folgen äußerst zweifelhaft. 197 Abgesehen von Zweifeln an der Praktikabilität birgt ein psychologisch-empirischer Ansatz immer auch die Gefahr, daß vom Drohen psychopathologischer Folgen gewissenswidrigen Verhaltens Rückschlüsse auf die Inhalte von Gewissensentscheidungen erfolgen und die Feststellung eines Gewissenskonflikts selbst als pathologischer Befund erscheint. 198 Der Blick des Psychologen, insbesondere der des psychologischen Laien, wandelt sich leicht zum Blick des Psychiaters. 199 Vor allem aber führt gerade die Verlagerung des Schwerpunktes auf die Prüfung psychischer Folgen zu einer den semantischen Gehalt des Art. 4 I GG mißachtenden Modifikation der Zielrichtung oder des Schutzgutes der Grundrechtsnorm. Erscheint nur die Vermeidung psychischer Krankheit oder Beeinträchtigung als objektivierbar und verfahrensmäßig umsetzbar, so liegt der Schluß nahe, darin auch den Zweck der Grundrechtsnorm zu sehen. Durch die Funktionalisierung der Norm wird so zum eigentlichen Schutzgut des Grundrechts die ,»Identität" des Menschen im Sinne seiner „psychischen Unversehrtheit" oder der Integrität seiner „seelischen Substanz".200 195 Würde man diesen unspezifischen Gewissensbegriff bei der Grundrechtsauslegung zugrundelegen, müßte etwa der Fall von BVerwGE 56, 227 ff., in dem eine Kriminalbeamtin das Tragen einer Schußwaffe unter Berufung auf ihr Gewissen ablehnt, genauso behandelt werden, wenn sie sich auf Aversionen oder Ängste gegenüber Schußwaffen beriefe. Der Fall von BVerwGE 94, 82 ff. - koedukativer Sportunterricht für islamische Schülerinnen - müßte genauso behandelt werden, wenn die zwingende Ablehnung des Sportunterrichts auf der Angst vor,hänselnden4 Mitschülern beruhte. 196 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 284. 197 Insofern auch verneinend Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 225 ff. (234). Vgl. zu Art. 4 III GG Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung, S. 323; VG Wiesbaden, DVB1. 1974, S. 165 f. (166). Vgl. u. B.I.2.b)bb), S. 184 f. 198 Franke, Gewissensfreiheit, S. 15 f.; Tiedemann, Der Gewissensbegriff, S. 63 ff. Vgl. für ein philosophisches Gewissensverständnis Helmut Kuhn, Art. Gewissen, Staatslexikon, Bnd. II, 7. Aufl. 1986, Sp. 1050 ff. (1051). 199 Eckertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 323 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Das verstellt den Blick auf den (semantisch zentralen) normativen Aspekt des Gewissens, auch wenn die Befürworter eines solchen Konzepts selbst darauf hinweisen, daß es sich forensisch tatsächlich kaum umsetzen läßt. 201 Hält man dennoch an einer solchen Objektivierung und Vergegenständlichung des Gewissens als entscheidendem Kriterium des Grundrechtstatbestands fest, verliert die Grundrechtsnorm praktisch ihre Anwendbarkeit. Das Kriterium der „Beeinträchtigung" oder „Zerstörung der Persönlichkeit" erhielt durch die funktionale Grundrechtsinterpretation seine theoretische Basis; Verwendung fand es jedoch bereits zuvor in der Rechtsprechung. Zu einer vergleichbaren Psychologisierung des Schutzguts führte das aber nur in ganz bestimmten Fällen: bei der Behandlung der Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG) durch die Verwaltungsgerichte. Das Bundesverwaltungsgericht zollte zwar abstrakt auch einem normativen Gewissensverständnis (Gewissen als Ausdruck menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit) seinen Tribut; eine Voraussetzung einer Gewissensentscheidung sei, daß der Grundrechtsträger „in seiner ganzen Persönlichkeit ernsthaft, ehrenhaft und sittlich bezogen" sei; 2 0 2 religiöse, ethische, gefühlsmäßige usf. Haltungen könnten zwar „Anstoß", „Auslöser" oder »Anregung" sein für eine Gewissensentscheidung. 203 Allein „wesentliches" 204 Kriterium der Tatbestandsbegrenzung sei aber die Frage, ob im konkreten Fall die Verbindlichkeit der Entscheidung die Intensität eines „inneren Zwangs" oder „Gewissenszwangs" erlange, ein Zuwiderhandeln „die sittliche Persönlichkeit schädigen oder zerbrechen würde". 205 Der Kriegsdienstverweigerer soll vor einem „schädlichen inneren Zwiespalt" bewahrt werden, 206 vor einem - so die spätere Rechtsprechung - „schweren seelischen Schaden". 207 Dies ist zur ständigen Rechtsprechung des Gerichts geworden. 208 Die empirisch kaum faßbare Beschreibung des Menschen als „sittliche Persönlichkeit" ist von der Praxis so umgesetzt worden, als gehe es um die Vermeidung empirisch konkreter Persönlichkeitsstörungen. Insofern ist letztlich die Inten200

So etwa auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 250 (,Primärfunktion"), 290, 136 ff., 262, 310; ders., Gewissensfreiheit, S. 486,481 f., 490,492. Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, GA 133 (1986), S. 97 ff. (101). 201 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 147; dens., Gewissensfreiheit, S. 488. 2 2 BVerwGE 23, 98 (100). 2 03 BVerwGE 23, 98 (98); 7, 242 (246). 2 04 BVerwGE 7, 242 (247); 23,98 (99). 2 05 BVerwGE 7, 242 (247 f.); 9, 97 (97 f.); 23, 98 (99); 23, 96 (97). Vgl. BVerwG, U.v. 23. 3. 1973, Buchholz 448.0, § 25 WpflG, Nr. 49: „Gewissensqual". Vgl. auch BVerfGE 23, 127(134). 2 06 Ebd. 2 07 BVerwGE 41, 53 (55). 208 Vgl. die Darstellungen bei Tiedemann, Der Gewissensbegriff, S. 64 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 108 ff.; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 243 ff.

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tion der Rechtsprechung, seelische Erkrankungen zu vermeiden. Versteht man allerdings schon den „inneren Zwang" zu einem bestimmten Verhalten selbst als Zwangsneurose und nimmt man dies als Voraussetzung für die Anerkennung als Gewissensentscheidung, kann man mit Tiedemann 209 sagen, daß hier eine seelische Erkrankung zur Voraussetzung des Grundrechtsschutzes und damit zum verfassungsrechtlich geschützten Rechts gut erhoben wird. 2 1 0 Wohl nicht zuletzt wegen der Unpraktikabilität dieses Konzepts 211 hat sich die Praxis der Wehrverwaltung und ihr folgend der Verwaltungsgerichte seit Mitte der 80er Jahre grundlegend geändert. Seit 1984 ist die Gewissensprüfung in der Form einer Befragung durch eine Kommission für den Regelfall gesetzlich abgeschafft. 212 Gewissensgründe sind nur noch schriftlich glaubhaft zu machen und praktisch wohl in erster Linie - durch Inkaufnahme der zeitlichen Verlängerung des Zivildienstes im Vergleich zum Wehrdienst. 213 Das entscheidende Argument gegen das Konzept der „schweren seelischen Schäden" bleibt aber ein juristisch-normatives: Dieses Konzept abstrahiert unter Außerachtlassung des semantischen Gehalts von Art. 4 ΠΙ (und I) GG vom normativen Element des Gewissens (dem Bewußtsein der Verpflichtung nach den Kategorien von Gut und Böse) und unterschiebt dem Grundrecht stattdessen durch Heranziehung eines semantisch und thematisch tatbestandsfremden Begrenzungskriteriums das Schutzgut der psychischen Unversehrtheit oder psychischen Gesundheit, das in Art. 2 I I 1 GG geschützt wird. 2 1 4 Bezeichnenderweise hat die Rechtsprechung - soweit ersichtlich - außerhalb der Anwendung des Art. 4 ΠΙ GG auch nie den Versuch unternommen, das Tatbestandsmerkmal „Gewissen" unter Heranziehung empirisch-psychologischer Folgeabschätzungen (die bei anderen Rechtsfragen durchaus gängig sind 215 ) zu konkretisieren. Bei Anwendung des Art. 4 I GG erwähnt das Bundesverwaltungsge209 Der Gewissenbegriff, S. 65. 210 Vgl. Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung, S. 323, 64; Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 50; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 17; M. Klein, Beweis und Gewissen, 1972, S. 72; Krölls, Kriegsdienstverweigerung. Das unbequeme Grundrecht, 2. Aufl. 1983, S. 122; Franke, Gewissensfreiheit, S. 15; schon Geißler, Das Recht der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. III des Grundgesetzes, 1960, S. 64. 211 Vgl. o. S. 122. 212 Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz v. 28. 2. 1983 (BGBl. 1983 I, 203). Zur vorangegangenen Praxis vgl. etwa Starck, Art. 4, Rdn. 105 ff.; Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung, S. 287 ff. 213 Zur - in Anbetracht von Art. 12a II 2 GG freilich umstrittenen - Zulässigkeit dieses Konzepts BVerfGE 69, 1 (28 ff.). Zur Unzulässigkeit einer freien Wahl zwischen Wehr- und Ersatzdienst BVerfGE 48, 127 (159 ff.). Vgl. BVerwG, NVwZ 1984,447 (448). Vgl. die Darstellung bei Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 198 ff. 214 Dazu unten Teil 2 B.I.2.cc), S. 185 ff. 215 Etwa bei der Feststellung der medizinischen Indikation des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a II StGB („Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes").

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

rieht häufig nicht einmal das Kriterium der Persönlichkeitsbeeinträchtigung oder -Zerstörung. 216 Das Bundesverfassungsgericht kennt zwar - wiederum meist im Rahmen des Art. 4 ΠΙ GG - das Kriterium der Gefahr einer Zerstörung der „Substanz der Persönlichkeit", versucht aber nicht, es empirisch zu konkretisieren. 217 Ebensowenig versucht es, das in seiner Rechtsprechung zentrale Kriterium der „Gewissensnot"218 als empirisch beschreibbaren „inneren Zwang" zu fassen, sondern weist zu Recht darauf hin, daß ein „unüberwindlicher psychischer Zwang" vielmehr im Rahmen der Prüfung einer Schuldunfähigkeit nach § 51 StGB a.F. zu berücksichtigen wäre. 219 Auch die Literatur setzt, soweit sie das Grundrecht der Gewissensfreiheit auf die „psychische Unversehrtheit" orientiert, offenbar kein großes Vertrauen in die empirische Begrenzbarkeit des Schutzbereichs; 220 stellt aber zum Teil auch geringere tatbestandliche Anforderungen insofern, als ein psychopathologischer Verhaltenszwang oder psychopathologische Zustände infolge gewissenswidrigen Verhaltens ausdrücklich nicht verlangt werden, Beeinträchtigungen der psychischen Integrität von geringerer Intensität ausreichen sollen. 221 Auch bei einer solchen graduellen Abstufung bleibt aber die Zielrichtung des Grundrechts die psychische Integrität; Art. 4 I GG schützt danach die psychische Unversehrtheit, wie Art. 2 Π 1 GG die physische („körperliche") Unversehrtheit des Menschen schützt. 222 216 Etwa BVerwGE 56, 227 ff.; 94, 82 ff. 217 BVerfGE 23, 127(134). 218 Seit BVerfGE 12, 45 (55). 219 BVerfGE 23, 127 (133). Vgl. das bei Krölls, Kriegsdienstverweigerung, S. 257 und Ekkertz, Die Kriegsdienstverweigerung, S. 67 mitgeteilte Urteil des VG Ansbach v. 16. 9. 1980: Das VG erkannte den Kläger nicht als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen nach Art. 4 III an, sondern stellte eine „Fixierung im seelischen Bereich" fest, die auf der „seelischen und körperlichen Labilität" des Klägers beruhe, und verwies ihn auf eine erneute Überprüfung seiner Wehrdienstfähigkeit nach § 29 II WPflG. Zur Gefahr falscher Pathologisierungen bei laienhafter Anwendung solcher psychologischer Maßstäbe vgl. Eckertz, ebd., S. 323 f. 220 Herdegen etwa hält es trotz der tatbestandlichen Eingrenzung des „Gewissens" zum Schutz der Normativität des Rechts für notwendig, dem Schutzbereich das (einfache) Gesetzesrecht als absolute Schranke gegenüberzustellen (Gewissensfreiheit und Normativität, S. 277 ff. Vgl. dazu u. bbb)/?), S. 131 ff. Vgl. auch ebd. S. 306 ff. zu Frage des prozessualen Beweises. 221 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 488; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 147. Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 114, 111. Morlok, Art. 4 (Anm. 79). Nach der „Intensität" oder „Schärfe" eines Gewissenskonfliktes differenziert insofern auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 245 f. Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 109 f. 222 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290, 262; ders., Gewissensfreiheit, S. 496. Vgl. schon Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 30, 34. Vgl. auch Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1036.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Physis und Psyche werden dabei zwar zunächst thematisch klar getrennt; das Merkmal der „Unversehrtheit" aber wird so auf den Art. 4 I GG übertragen 223 obwohl der Normtext, grammatikalisch eindeutig, nicht das „Gewissen" (und das „Bekenntnis" usf.) für „unverletzlich" erklärt, sondern die „Freiheit" des Gewis224

sens. Die Konsequenz dessen wird besonders deutlich, wenn an anderer Stelle die Trennung von Psyche und Physis in bezug auf Art. 2 Π GG aufgegeben und auch der Zweck dieses Grundrechts unter anderem im „Schutz psychischer Integrität" gesehen wird: 2 2 5 Art. 1 I GG und Art. 2 I I GG sollen - quasi als Auffangtatbestände - „gewissensgesteuerte Motivationen" schützen, die aufgrund ihres Inhalts nicht mehr als „Gewissensentscheidung im verfassungsrechtlichen Sinne" des Art. 4 I GG anerkannt werden. 226 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit wird so zum Spezialfall des umfassenden Integritätsschutzes aus Art. 2 II 1 GG. 2 2 7 Ob es in Art. 4 I GG um die Unversehrtheit (Integrität) oder um eine anders zu konkretisierende Freiheit des Menschen geht, ist aber sicher nicht allein vom semantischen Gehalt der Norm her zu beantworten. 228

bb) Modifikationen der Grundrechtswirkungen aaa) Beschränkung der Grundrechtswirkungen gegenüber der Gesetzgebung Grundrechtsdogmatische Modifikationen aufgrund der Besonderheiten des Grundrechts der Gewissensfreiheit betreffen nicht nur die Frage, was Art. 4 I GG schützt, sondern auch die Frage, wie und wogegen er schützt, welche grundrechtsdogmatischen Wirkungen ihm zuzusprechen sind.

223 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 481: „Unverletzlichkeit des Gewissens"; ebenso ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 310. Ebenso BVerfGE 48, 127 (163) in einem Querverweis auf Art. 4 I GG. Vgl. BVerfGE 69, 1 (22). 224 Vgl. Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 55. 225 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 264. Daß Art. 2 II 1 GG grundsätzlich auch die psychische Unversehrtheit schützt, ist heute allgemeine Auffassung. Vgl. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S. 44 f. m.w.N.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 224 f. Vgl. auch BVerfGE 45, 187 (227 ff.) zu Art. 1 I GG; BVerfGE 52, 214 (220 f.); 56, 54 (74 f.); abw. Meinung Hirsch, Niebier, Steinberger, BVerfGE 52, 171 ff. (174 f.). 226 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 255 ff. 227 Parallelisierungen von Art. 2 II 2 GG und Art. 4 I GG als Schutz „psychischer Unversehrtheit" auch bei Scholler, Die Freiheit, S. 147 ff. (allerdings nur in bezug auf „psychische Eingriffe" durch Hypnose u.ä.). 228

Vgl. u. B.I.2., S. 174 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Nach Art. 1 ΙΠ GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Vollkommene Einigkeit besteht jedoch darüber, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit - da moralische Verhaltensimperative sachlich kaum begrenzbar und Gewissensphänomene empirisch schwer objektivierbar sind - als individualschützendes Recht gegenüber Gesetzgeber und Gesetz nicht in gleicher Weise wirken kann wie die übrigen Grundrechte. Durch allgemeine Gesetze hervorgerufene Gewissenskonflikte sind für den Gesetzgeber meist nicht prognostizierbar. 229 Daher ist dies eine Selbstverständlichkeit: Die Gültigkeit eines staatlichen allgemeinen Gesetzes kann nicht abhängig sein vom individuellen Gewissenszuspruch oder -Widerspruch einzelner Bürger. 230 Daraus ergibt sich aber notwendig nur soviel, daß ein Gesetz, das im Einzelfall das Grundrecht verletzt, nicht deswegen nichtig oder als solches mit der Verfassung unvereinbar ist. Auch die vom Bundesverfassungsgericht praktizierten dogmatischen Konstruktionen der Teil-Nichtigkeit oder Teil-Unvereinbarkeit ohne Normtextreduzierung lassen sich in einem solchen Fall kaum fruchtbar machen, da sie grundsätzlich verlangen, daß eine abstrakt beschreibbare Gruppe von verfassungswidrigen Anwendungsfällen eines Gesetzes festgestellt werden kann 231 - was die Individualität des Gewissens und die Situationsgebundenheit von Gewissensentscheidungen wiederum nicht zulassen.232 Dem Gesetzgeber sind individuelle Grundrechtsverletzungen nicht zuzurechnen; das Gesetz bleibt von ihnen unberührt. (Anders zu beurteilen sind nur Verstöße gegen die objektiv-rechtlichen Gehalte der Grundrechtsnorm, 233 die auch an den Gesetzgeber gerichtet und vom Standpunkt aller Bürger oder eines durchschnittlichen Bürgers anzuwenden sind. 234 ) Für die Gerichte wird daraus überwiegend 235 die Konsequenz gezogen, daß bei individuellen Verletzungen der Gewissensfreiheit keine Vorlagepflicht (d. h. auch keine Vorlagemöglichkeit) nach Art. 100 I GG besteht (kein Vorwurf an den Gesetzgeber) und die Gerichte selbst, soweit das Gesetz für eine verfassungskon229 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 226, 229, 282, 285 f. 230 Isensee, Gewissen im Recht, S. 56. Vgl. Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 399 f.; BVerfGE 67, 26 (37). 231 Vgl. BVerfGE 67, 290 (291); 67, 299 (299 f., 329); J. Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 99 ff.; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdn. 351. Stern, BK, Art. 93, Rdn. 305 m.w.N. 232 Vgl. o. b), S. 112 ff. 233 S.o. A.I.,S.91 ff. 234 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 204 ff., 239 ff., 285 ff. 235 BVerfGE 33, 23 (32 ff.). Vgl. BVerfGE 79, 69 (71, 74 ff.). VG Freiburg, ZBR 1974, S. 360 ff. (362); E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61 mit Anm. 84. Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 32; 28 f., 40; Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 377 f.; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 147 f.; Starck, Art. 4, Rdn. 46, 50; Podlech, Das Grundrecht, S. 37; Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 54 f. Vgl. die kritische Darstellung bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 225 ff., 286.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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forme Auslegung keinen Spielraum läßt, 236 durch Nicht-Anwendung oder modifizierte Anwendung des Gesetzes im Einzelfall Grundrechtsschutz gewährleisten. Die Dispensierung im Einzelfall setzt die Abwägung der konkreten Umstände des Falles voraus. Eine solche Abwägungs- und Dispenslösung praktiziert etwa auch der amerikanische Supreme Court im Rahmen der ,free exercise clause4 für religiös motivierte Gewissensentscheidungen.237 Konsequenterweise darf man - was meist etwas undeutlich bleibt - eine solche Freistellungsmöglichkeit nicht den korrigierend tätigen Gerichten vorbehalten, sondern muß sie auch der Verwaltung einräumen. Das verschärft die kompetenzrechtliche Problematik dieses Ansatzes. Diese grundrechtsdogmatischen Modifikationen sind die sachnotwendigen Konsequenzen aus der Individualität des Gewissens: Grundrechtsschutz im Sinne abwehrrechtlichen Individualschutzes können nur die rechtsanwendenden staatlichen Stellen gewähren. Eine echte sachliche Begrenzung der,bereichslosen 4 Gewissensfreiheit wäre damit aber noch nicht gewonnen, wenn die Anwendung des Gesetzes zur uneingeschränkten Disposition einzelner Gerichte und Behörden stünde. Vielmehr würden damit unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips (Art. 20 Π GG) und des rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzips (Art. 20 II, ΠΙ GG) zusätzliche verfassungsrechtliche Schwierigkeiten im Verhältnis der Staatsorgane untereinander begründet. 238 Eine klare Begrenzung der Dispenskompetenz rechtsanwendender Stellen scheint zusätzlich dadurch erschwert, daß die Unsicherheiten, die generell mit Einzelfallabwägungen verbunden sind, 239 bei der Abwägung von Gewissenspositionen noch gesteigert werden: ein absolut und unbedingt verpflichtendes inneres Gebot sei keiner abstufenden Gewichtung zugänglich. 240 236 Auf diesen Weg verweist BVerfG (Vorprüfungsausschuß), Beschl. v. 26. 1. 1978, NJW 1978, S. 1150 f. Vgl. die in BVerfGE 79,69 (71 ) wiedergegebene Entscheidung des VG München. 237 Vgl. die Darstellung bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 97 ff. (99, 104 f., 106 ff., 112), 227, 286. Einen Ausnahmefall, in dem ein Gesetz wegen Verstoßes gegen den individualschützenden Gehalt der Gewissensfreiheit (teil-)nichtig sein kann, behandelt Podlech, Gewissensfreiheit und Beamteneid, S. 124 f.: Gesetze, die für Beamte oder Prozeßbeteiligte eine Eidespflicht begründen, sehen zwar Dispensmöglichkeiten vor, beschränken diese aber auf Angehörige von (bestimmten) Religionsgesellschaften oder auf eine weitere Ausgestaltung durch andere Rechtsvorschriften. Versteht man diese Regelungen als abschließend, könnte man sie, soweit sie eine Dispensierung abstrakt-generell ausschließen, für nichtig halten. Dagegen für eine verfassungskonforme Auslegung in diesen Fällen BVerfG (Vorprüfungsausschuß), NJW 1978, S. 1150 f., mit kritischer Anmerkung P. Friedrich ebd. 238 Diese Aspekte betonen etwa Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 145 f., 147 f.; Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1036 f. 239 Vgl. Schlink, Abwägung, insbes. S. 134 ff. 240

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 282 f., 294, 221; Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1036; Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 82 ff.: Das Gewissen vertrage

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Zudem scheinen die rechtsstaatlich bedenklichen Unsicherheiten im Vergleich zu anderen Grundrechten durch das Beweisproblem erhöht: da »innere Tatsachen* ausschlaggebend sind, drohe ein inflationärer Grundrechtsgebrauch und ein institutionalisierter Mißbrauch. 241 Im Staat-Bürger-Verhältnis bleibt es bei der Grundfrage, ob und unter welchen Umständen (nach welchen materiellen Kriterien) ein rechtsanwendendes Staatsorgan individuelle Freistellungen vornehmen kann, ob und unter welchen Umständen die Allgemeinheit des Gesetzes und die Gleichheit der Staatsbürger 242 - letztlich die Normativität 243 oder die Geltungskraft des gesetzten Rechts - eine Nicht-Anwendung oder Nicht-Durchsetzung des Gesetzes zulassen. bbb) Ausschluß der Grundrechtswirkungen gegenüber der Gesetzgebung Eine eindeutige Antwort auf all diese Fragen bieten Lösungsansätze, die den Rechtsanwendungsbefehl des staatlich gesetzten Rechts als absolute Grenze der Gewissensfreiheit betrachten und damit für den Fall des Konflikts von Gesetz und Gewissen einen „uneingeschränkten Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG)" 2 4 4 annehmen. Konstruktiv bieten sich dafür zwei verschiedene dogmatische Wege an: a) Immanente Tatbestandsbegrenzung Der erste Weg ist der einer a priorischen Begrenzung des grundrechtlichen Tatbestands, der wohl 2 4 5 einem von Isensee vorgeschlagenen Konzept von „Staatsstrukturen als immanenten Grenzen der Gewissensfreiheit" zugrundeliegt: „Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gilt im Rahmen der Grundstrukturen des modernen Staates als gewaltmonopolistische, machtbewehrte Entscheidungs- und Machteinheit. Zu ihren Fundamenten gehört der Rechtsgehorsam, den der Bürger dem verfassungsmäßigen Gesetz und dem gesetzmäßigen Einzelakt der Verwaltung keine Relativierung zugunsten des Gemeinwohls, da es als autonome Instanz der Person jede heteronome Schranke als Eingriff in seine Substanz erscheinen lasse. Vgl. auch Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 386. 241 Isensee, Gewissen im Recht, S. 47, 52 f. ders., Diskussionsbeitrag, in Essener Gespräche 30 (1996), S. 21. Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 32, 36 ff. 242 Isensee, Gewissen im Recht, S. 54. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 216 ff., 225 ff. 243 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, u. a. S. 291. 244 Ebd., S. 290. 245 Isensee, Gewissen im Recht, S. 59: Der Text beansprucht nicht, eine grundrechtsdogmatisch „konsistente Gesamtlösung44 zu bieten. Einer ähnlichen Linie folgt Kästner, Individuelle Gewissensbindung, der sich aber grundrechtsdogmatisch kaum festlegt.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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und der Gerichtsbarkeit schuldet. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit setzt den Rechtsgehorsam voraus. Es stellt ihn nicht in Frage." Um das Grundrecht nicht zum „anarchischen Sprengsatz" werden zu lassen, müsse der demokratische Rechtsstaat auf der „Durchsetzung des für alle geltenden Gesetzes gegenüber jedermann beharren". 246 Isensee räumt zwar abstrakt ein, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht vor jedwedem Normbefehl zurücktreten müsse; 247 er versucht aber nicht, diesen Fall eines Vorranges der Gewissensposition zu konkretisieren, sondern bezeichnet nur weitere Grundrechtsschranken und hält es in dieser „unsicheren rechtlichen Grenzzone" für den Grundrechtsträger für ratsam, „den Rechtsstandpunkt nicht zu überreizen und sich, wo er sie findet, mit Kulanz zu begnügen." 248 Damit wird deutlich, daß die Gewissensfreiheit eine rechtliche Grenze für Geltung und Durchsetzung des Gesetzes nicht begründen kann; anders als bei anderen Grundrechten, 249 löst die Beeinträchtigung eines grundrechtlichen Schutzgutes keine Rechtspflicht zur Rechtfertigung des staatlichen Handelns aus, da die Gewissensfreiheit als Grundrecht bereits „von ihrem Tatbestand her begrenzt" 250 ist. Daß dem von der Grundrechtsnorm intendierten eigentlichen Schutzgut der Norm durch das Setzen solcher „Grenzen" durchaus Beeinträchtigungen zugemutet werden, versteckt Isensee dabei nicht. Die Tatbestandsbegrenzung führt zu klaren und eindeutigen Lösungen im Einzelfall, schließt die eingangs angesprochenen dogmatischen Schwierigkeiten von vornherein aus und ermöglicht es so - das ist der große Vorteil dieses Konzepts das Schutzgut ohne Funktionalisierung des Grundrechts oder des „Gewissens" eng am semantischen Gehalt der Grundrechtsnorm zu orientieren: Die Gewissensfreiheit „schützt das Gewissen des Individuums vor dem Eingriff der Staatsgewalt".251 Sie ist ein Abwehrrecht des klassischen Typus, das einen „Bereich privater Selbstbestimmung" gegen „Fremdbestimmung durch den Staat" abschirmt. 252 „Integrität" und „Identität" des Menschen bleiben bezogen auf die „sittliche Persönlichkeit", 253 die nicht empirisch konkretisiert wird. Das Grundrecht zielt danach nicht auf die faktische Individualität des Grundrechtsträgers, sondern auf seine „Subjektivitätdas heißt auf den „subjektiven Gewissensbefehl" und seine „Umsetzung durch tätiges Handeln." 254 246

Isensee, Gewissen im Recht,, S. 54. 247 Ebd. 24« Ebd., S. 58. 24 9 Vgl. etwa Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 7,45. 250 Ders., Gewissen im Recht, S. 47. 251 Isensee, Gewissen im Recht, S. 43. Vgl. bereits S. 41 f. 252 Ebd., S. 43,49. Vgl. S. 56. 253 Ebd., S. 43, 51. Hervorhebung nicht im Original. 254 Ebd., S. 43 f. Dieser Linie folgt auch Kästner, Individuelle Gewissensbindung (Anm. 91). Das Gewissen als Schutzgut der Gewissensfreiheit versteht er eindeutig normativ: Die „Grundfunktionen" des Gewissens sind nicht Wahrung von .Identität' oder »Integrität4 9 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Das Gewissen behält seine Subjektivität und seine Normativität. Es kommt so zu seinem (eigenen) »Recht4; zur Berücksichtigung im staatlichen Recht aber nur in sehr eingeschränktem Maße. Die von Isensee gezeichnete Linie des Umgangs mit dem Grundrecht entspricht im wesentlichen den sog. „engen Tatbestandstheorien",255 die schon aus dem Rechtscharakter der Grundrechte ihre prinzipielle Begrenztheit ableiten und die „Grenzbestimmung" so nicht als von außen herangetragenen Annex, sondern als Teil der „Inhaltsbestimmung" von Grundrechten betrachten, als Entfaltung geschriebener oder ungeschriebener „Normgehalte" des „Normbereichs". 256 Die Gewissensfreiheit schützt die sittliche Selbstbestimmung - aber nicht gegenüber dem für alle geltenden Gesetz und seiner gleichmäßigen Durchsetzung. Dogmatisch fragwürdig wird dieses Konzept allerdings dadurch, daß es das Gesetz - als regelmäßig einen Gesetzesvorbehalt ausfüllende Grundrechtsschranke zur „immanenten Grenze" des Grundrechts modifiziert. Damit wird vor allem die Anwendung der - einen materiellen Grundrechtsschutz gegenüber dem Gesetz erst ermöglichenden - Schranken-Schranken 257 (vor allem des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) ausgeschlossen. Der durch Art. 1 ΙΠ GG gewährleistete Grundrechtsschutz gegenüber Gesetzen besteht dann in keiner Weise. Wenn jedes Gesetz (gemeint ist wohl jedes Gesetz im materiellen Sinne) als absolute Grundrechtsbegrenzung wirkt, kann ein ,3ereich privater Selbstbestimmung" innerhalb des Rechts keine reale Existenz gewinnen. Schließlich verliert eine auf „Kulanz" reduzierte Grundrechtsposition überhaupt ihren Rechtscharakter. (diese Begriffe kommen nicht vor) des Menschen, sondern die „(vorausschauende) Verhaltens-Weisung" und die „(rückschauende) Verhaltens-Kontrolle" am Maßstab persönlicher Gebote (S. 134). Gewissen ist auf Verwirklichung angelegt. In »Parallele zum religiösen Selbstbestimmungsrecht" (S. 138) meint Freiheit des Gewissens im Verfassungsrecht die Freiheit der Gcmssensbe tätig ung (S. 132). Dieser Schutzgutbestimmung korrespondiert auch insofern ähnlich dem Ansatz Isensees - eine sehr weitgehende „Einbettung der Gewissensfreiheit in die rechtsstaatliche Ordnung" (S. 146). Art. 4 I GG relativiert den prinzipiellen Geltungsanspruch des Rechts (S. 146) ebensowenig wie die Verbindlichkeit einzelner Rechtsentscheidungen (S. 145). Das Gewissen findet Berücksichtigung nur innerhalb des geltenden Rechts"; die Rechtsordnung ist ihm „dem Grunde nach vorgeordnet" (S. 146). Die grundrechtsdogmatische Konsequenz einer Tatbestandsbegrenzung will Kästner aber dann letztlich wohl doch nicht ziehen; am Ende bleibt für ihn bei der Schrankenkonkretisierung doch noch Raum für eine „Dezision des Richters", die „bei der erforderlichen Güterzuordnung" die Gewissensfreiheit „hinreichend zu berücksichtigen" hat (S. 147 f.). Ähnlich Welzel, Gesetz und Gewissen, der - ohne unmittelbaren grundrechtsdogmatischen Bezug auf Art. 4 I (S. 385, vgl. aber S. 399) - einen prinzipiellen Vorrang von Geltung und Anwendung des Gesetzes annimmt (S. 397 ff.) und das Gewissen so als „Kern der sittlichen Persönlichkeit" begreifen kann, der für Autonomie und Würde des Menschen steht und ihm seine subjektive „Einsicht in den Wertgehalt des sittlich Gebotenen" ermöglicht (S. 384, 391, 394 f.). 255 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 280 ff.; Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, S. 525 ff., 17 ff. Vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 105, 171 ff. 256 Fr. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1969, S. 32,41. 257 Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, S. 783,785 ff.; ders., Idee und Elemente, Rdn. 86.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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ß) Kategorische Tatbestandsbeschränkung (Gewissensfreiheit als „Wohlwollensgebot") Einen zweiten konstruktiven Weg zu einem „uneingeschränkten Vorrang des Gesetzes" beschreitet Herdegen in seiner grundlegenden Schrift „Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts", 258 die hier eingehender zu würdigen ist. Herdegen konkretisiert das Grundrecht der Gewissensfreiheit schon auf der Ebene des Schutzbereichs auf zweierlei Weise: Zum einen setzt er auf eine empirische Konkretisierung der „psychischen Integrität" als dem eigentlichen Schutzgut; 259 zum anderen grenzt er den Schutzbereich normativ dahingehend ein, daß sich eine Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 1 GG auf Faktoren beziehen muß, „die nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung noch dem Einzelnen zurechenbar sind und nicht ganz in die Verantwortung staatlicher Organe fallen", so daß etwa die Verweigerung der Zahlung von Beiträgen oder Steuern wegen ihrer Verwendung durch staatliche Organe zu moralisch abgelehnten Zwecken (Rüstung; Schwangerschaftsabbrüche usf.) von vornherein nicht in den Schutzbereich fällt. 2 6 0 Herdegens entscheidender Ansatz, dem Grundrecht handhabbare Konturen zu verleihen, liegt aber auf der Ebene der Grundrechtsschranken; und zwar in der Annahme eines „Vorbehalts der allgemeinen Gesetze" 261 für die Freiheit der Gewissensbetätigung.262 Den begründet Herdegen dogmatisch einerseits - wegen der engen Verbindung von Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit - mit einem dem Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV entnommenen „allgemeinen Rechtsgedanken" 2 6 3 , andererseits - wegen der „Gleichwertigkeit" des Integritätsschutzes nach Art. 2 I I 1 GG - mit einer „parallelen Wertung" zum Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Π 3 GG. 2 6 4 Die eigentliche grundrechtsdogmatische Modifikation liegt aber erst darin, daß das allgemeine 265 Gesetz (auch Herdegen meint dabei wohl jedes Gesetz im materiellen Sinne) als kategorische oder absolute Grundrechtsschranke verstanden wird. Eine Relativierung der Schrankengesetze durch die sog. Schran-

258 (Anm. 1), S. 290. 259 S. o. aa), bei Anm. 192 ff. 260 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 311. Vgl. ebd. S. 255 ff. Vgl. dens., Gewissensfreiheit, S. 488 f., 492,498; dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 116 ff. 261 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 495. 262 Schrankenlos ist danach weiterhin der Schutz des sog. forum internum, des Bildens und Innehabens von Gewissensüberzeugungen. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 270 ff., 285. Praktische Anwendungsfälle für das Grundrecht sind insofern allerdings selten. Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 258. Dagegen Doehring, Staatsrecht, S. 301 f. 263 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 312, 287 ff., 230. 264 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 496; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290. Vgl. ebd., S. 262. 265 Als „allgemein" ist ein Gesetz zu qualifizieren, das „nicht gegen eine bestimmte Gewissensposition gerichtet, religiös und weltanschaulich neutral ist (Gewissensfreiheit, S. 495). Vgl. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288: Ein Gesetz, das verhältnismäßig ist und dem „Schutz bestimmter Rechts- und Lebensgüter" dient. *

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

ken-Schranken findet nicht s t a t t 2 6 6 ; die vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Art. 5 Π GG und Art. 137 Π Ι 1 W R V etablierte „Wechselwirkungslehre" soll hier ausdrücklich keine Anwendung finden. 2 6 7 Das Grundrecht reduziert sich so zum an Rechtsprechung und Verwaltung adressierten „Wohlwollensgebot". 2 6 8 Das bedeutet, daß das Grundrecht seine Wirkung nur auf einer „sekundären Eben e " , 2 6 9 bei der „Gesetzesanwendung" entfaltet. 2 7 0 Zwar rechtfertigt sich auch das von Herdegen abgelehnte Abwägungs- und Dispensmodell damit, die Grundrechtswirkungen auf die ,Anwendung" des Gesetzes zu beschränken; damit ist jedoch gemeint, daß die Nicht-Anwendung des Gesetzes im Einzelfall seine abstrakte „Geltung" für andere Fälle unberührt l ä ß t . 2 7 1 Herdegen differenziert dagegen nicht zwischen (abstrakter) „Geltung" und (konkreter) „Anwendung", sondern zwischen „Inhalt" und ,Anwendung" des Gesetzes i m Einzelfall. 2 7 2 Der Inhalt des Gesetzes fordert ausnahmslose Umsetzung und läßt eine „Durchbrechung" des Gesetzesbefehls im Einzelfall gerade nicht z u . 2 7 3 Das Grundrecht hat keine Auswirkungen auf 266 Die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen und der Wesensgehalt des Grundrechts (Art. 19 II GG) werden allein durch Rechtsprechung und Verwaltung gewahrt; vgl. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 294. 267 Ebd., S. 290. 26« Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290 f., 291 ff., 301 f., 312; ders., Gewissensfreiheit, S. 497 f. Ähnlich Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1037. 269 Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 289 f., ders., Gewissensfreiheit, S. 519. 270 Ders., Gewissensfreiheit, S. 497. 271 Deutlich etwa bei E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61 mit FN 84. Differenzierungen zwischen „Geltung" und „Anwendung" des Rechts begegnen häufiger in Zusammenhängen, in denen die Wirksamkeit einer Klasse von Rechtssätzen grundsätzlichen Zweifeln unterliegt. So wird etwa bei einer Kollision von deutschem Recht und unmittelbar geltendem (Art. 189 II EGV) europäischem Recht zum Teil ein bloßer Anwendungsvorrang des EGRechts angenommen, der lediglich die Anwendbarkeit des nationalen Rechts hemmt, soweit die Kollision inhaltlich reicht, im übrigen aber die innerstaatliche Geltung des nationalen Rechts unberührt läßt (vgl. BK-Tomuschat, Art. 24, Zweitbearbeitung 1981, Rdn. 75 ff., 81; ohne diese Differenzierung BVerfGE 73, 339 (374 f.)). Das Bundesverfassungsgericht hat im sog. „Solange Γ-Beschluß die Wirksamkeit der nationalen Rechtsordnung dadurch zu erweitern gesucht, daß es eine EG-Verordnung als unmittelbar geltendes EG-Recht qualifizierte, seine Anwendung aber als verfassungsgerichtlich nach Art. 93 I Nr. 4a GG kontrollierbare Ausübung deutscher Staatsgewalt (BVerwGE 37, 271 (283 ff.)). Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat im sog. Honecker-Beschluß seine Zuständigkeit zur Überprüfung einer strafprozessualen Entscheidung damit begründet, es gehe nicht um die Qualität und Geltung der Normen der StPO, sondern um die „Kontrolle eines Akts der Normanwendung" durch Gerichte des Landes (NJW 1993, S. 513 (514)). Vgl. auch BVerfGE 31, 58 (78 u. 80) zur Geltung und Anwendung einer Kollisionsnorm des deutschen Internationalen Privatrechts (Art. 13 I EGBGB). 272 Vgl. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 226 f. 273 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 291 f.; ders., Gewissensfreiheit, S. 493.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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die Anwendung des Gesetzes, soweit der Regelungsgehalt des Gesetzes inhaltlich reicht, es hat nur Auswirkungen „bei" der Anwendung des Gesetzes; „gewissensschonende Gesetzesanwendung" heißt Berücksichtigung des Gewissens nur „im Rahmen gesetzlich begründeter Flexibilität". 274 Der Inhalt des „Wohlwollensgebots" aus Art. 4 I GG ist primär negativ dahin definiert, daß die uneingeschränkte Geltung und Anwendung des Gesetzes nicht relativiert werden darf. Positiv bedeutet das eine „Rücksichtnahme" auf das Gewissen „insbesondere" im Rahmen von „Gestaltungsspielräumen" der gesetzesanwendenden Organe: im Rahmen gesetzlich eingeräumten Ermessens, im Rahmen der strafrechtlichen Strafzumessung, allgemein im Rahmen der „Durchsetzung" der Gesetze durch Sanktions- oder Vollstreckungsmaßnahmen, aber auch bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. 275 Soweit ihre „Gestaltungsspielräume" reichen haben Gerichte und Behörden allerdings auch eine „Wechselbeziehung" zwischen Grundrecht und Grundrechtsschranke herzustellen und in Form einer „Zumutbarkeitspriifung" nach der „Stärke des Gewissensdrucks ( . . . ) abzuwägen". 2 7 6 Die Gründe der Beschränkung von Grundrechtswirkungen auf Rechtsprechung und Verwaltung erschließen sich nur von der tieferliegenden Ausgangsbasis der Argumentation Herdegens, die im wesentlichen aus drei Elementen besteht. Das erste Begründungselement bildet der Befund der „starken Unsicherheit", die mit der Kasuistik des herrschenden Abwägungs- und Dispensmodells verbunden sei. 277 Materielle Kriterien für eine Abwägung seien nicht vorhanden, die zum Teil praktizierten Differenzierungen nach aktivem Handeln und Unterlassen des Grundrechtsträgers oder nach der zahlenmäßigen Inanspruchnahme des Grundrechts in einer je aktuellen gesellschaftlichen Situation seien nicht tragfähig oder jedenfalls nicht zureichend. 278 Die Schwierigkeiten einer verfassungsrechtlichen Abwägung seien im Vergleich zu anderen Grundrechten zudem dadurch erhöht, daß das Gewissen als in die Abwägung einzustellende Position selbst keiner abstufenden Gewichtung zugänglich sei: die grundrechtlich geschützte Gewissensentscheidung setze ein „absolut, unbedingt verpflichtendes inneres Gebot" voraus und stelle so schon für sich einen „kaum mehr steigerungsfähigen inneren Befund" dar. 279 274 Ebd. Vgl. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 226 f. 275 Ebd., S. 289 ff., 312; Gewissensfreiheit, S. 492 f., 497 f. Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1037. 276 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290, 292; ders., Gewissensfreiheit, S. 498. 277 Ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 287. Vgl. ebd., S. 283. Die Argumentationrichtetsich insoweit allerdings zunächst gegen das vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Konzept der „verfassungsimmanenten Schranken" mit seinen zusätzlichen Unsicherheiten der »Schrankengewinnung4. Ebd., S. 278 f. 278 Ebd., S. 278 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Dieses Argument hat jedoch für Herdegen keine tragende Bedeutung, da die mangelnde Abstufbarkeit eines von zwei kollidierenden Rechtsgütern eine Abwägung nicht ausschließt. 2 8 0 So ist etwa das Grundrecht auf Leben (Art. 2 I I 1, 1. Alt.) für sich nicht abstufbar, aber - wie etwa die Diskussion um den sog. »polizeilichen Todesschuß* zeigt - dennoch abwägender Einschränkung i m Einzelfall zugänglich. 2 8 1 Das Argument der mangelnden Abstufbarkeit verliert i m Zusammenhang der Gewissensfreiheit zudem dadurch an Überzeugungskraft, daß Herdegen mit dem „absoluten Gebot" allein auf den normativen Inhalt von Gewissensurteilen abstellt (das „kognitive" Element), das von ihm ansonsten in den Vordergrund gestellte „affektive" Element dagegen übergeht. I m Rahmen der Gesetzesanwendung durch Gerichte und Behörden hält Herdegen selbst eine abstufende Gewichtung nach der „Stärke" des affektiven „Gewissensdrucks" für m ö g l i c h . 2 8 2

279 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 282 f., 294,221. Entscheidendes Gewicht erlangt dieses Argument bei Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1036 f. Vgl. Konzen/ Rupp, Gewissenskonflikte, S. 82 ff. Vgl. schon Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 33. 280 Vgl. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 283. 281 Vgl. zum parallelen Problem des Art. 1 I GG Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 96 f. mit FN 69 m.w.N. Vgl. ebd., S. 141, 143 ff. 282 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 498. Vgl. ebd., S. 504; dens., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290, 292, 245, 148, 153; dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102, 109, 116. So versteht auch BVerfGE 23, 127 (134 f.) das „Wohlwollensgebot" gegenüber Gewissenstätern. Ebenso Bäumlin, Das Grundrecht, S. 22 f.; Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 154; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, 1994, S. 264. Zur „abgestuften Verbindlichkeit" von Gewissensurteilen und verschiedenen „Graden der Intensität" von Gewissensphänomenen in philosophischer Perspektive vgl. Honnefelder, Vernunft und Gewissen, in: Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 113 ff. (119, 121); Weischedel, Skeptische Ethik, § 60 (Punkt 11). Für die Wahrung des grundrechtlichen Wesensgehalts (Art. 19 II GG) hält Herdegen Abstufungen nach der Intensität des Motivationsdrucks oder möglichen seelischen Folgen für „wenig sinnvoll", einer abstufenden Gewichtung nach Zumutbarkeitskriterien für zugänglich aber „die Nachteile ( . . . ) , welche die Rechtsordnung an einen gewissensgeleiteten Rechtsverstoß knüpft" (Gewissensfreiheit und Normativität, S. 294). Dieser Ansatz läßt sich aber jedenfalls nicht auf die Grundrechtsanwendung im Vorfeld des Wesensgehalts übertragen, da es bei der gestaltenden Betätigung von behördlichem Ermessen oder bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen ja gerade noch in Frage steht, ob der Staat bei der Konkretisierung seines Rechts im Einzelfall dem Bürger einen Gewissenskonflikt (und u. U. einen Rechtsverstoß) erspart. Auch die Zumutbarkeitsprüfung durch Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das ,Ob' und ,Wie' von Sanktions- und Vollstreckungsmaßnahmen legt die dem Bürger zuzumutenden „rechtlichen Nachteile" erst selbst fest und kann sie daher nicht als Abwägungsmaterial voraussetzen. Eine differenzierte Gewichtung des Grundrechts (des grundrechtlichen Schutzguts) muß an einen Faktor in der Person des Grundrechtsträgers anknüpfen.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

Das zweite Begründungselement in der Argumentation Herdegens Grundsatz der „Rechtsanwendungsgleichheit."283

135

ist der

Gemeint ist damit nicht der Inhalt der den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgeboten unterliegenden gesetzlichen Vorschriften, sondern ihre Anwendung gegenüber den Bürgern; nicht die gesetzliche Gleichheit der Bürger, sondern die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Die erleidet Herdegen zufolge durch die NichtAnwendung abstrakt-genereller Regelungen im Einzelfall eine empfindliche Einbuße. 284 In der Tat wird auch von den Befürwortern eines Dispensmodells die Freistellung von gesetzlichen Pflichten überwiegend als verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung von Bürgern und damit als Einbuße an staatsbürgerlicher Gleichheit anerkannt. Schwierig und uneinheitlich ist allerdings die normative Verankerung des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit. Häufig wird daher einfach ein nicht näher konkretisiertes „Prinzip staatsbürgerlicher Pflichtengleichheit" 285 oder unspezifisch „der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz" 286 genannt. Die verfassungsrechtliche Positivierung des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 I GG kommt zwar unter Umständen als Maßstabsnorm in Betracht; versteht man Art. 3 I GG aber „formal" als „Willkürverbot" 287 so ist jede Ungleichbehandlung unter Anknüpfung an eine Gewissensentscheidung bereits an diesem Maßstab gerechtfertigt; darüber hinaus sind Ungleichbehandlungen im Schutzbereich des Art. 4 I GG durch die verfassungsrechtliche Wertentscheidung zugunsten der Gewissensfreiheit als eines speziellen Freiheitsrechts von vornherein durch ein verfassungsrechtlich vorgegebenes Differenzierungskriterium gerechtfertigt. 288 Auch wenn man den Maßstab des Art. 3 I GG - mit jüngeren Tendenzen in der Rechtsprechung 289 - höher anlegt und einen „zureichenden Grund" für die ungleiche Dispensierung aus Gewissensgründen verlangt, 290 läßt sich das wertende Urteil

283 Gewissensfreiheit und Normativität, S. 229, 285, 292. 284 Ebd., S. 216, 224 f.; ders., Gewissensfreiheit, S. 495. 285 Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 35. Vgl. BVerfGE 48, 127 (127 f., 166, 168 f.); 69, 1 (24, 34 f.). Vgl. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61 f.; Η. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 479 ff. (499). 286 Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 139; Luhmann, Die Funktion, S. 19. 287 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 219. 288 Ebd., S. 218 ff. (m.w.N.) - 223, 292; ders., Gewissensfreiheit, S. 495. Undeutlich insoweit ders., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102. Vgl. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 499; A. Arndt, Das Gewissen, S. 2205; dens., Beweislast für die Kriegsdienstverweigerung?, JZ 1960, S. 274; U. F. H. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle Bedeutung, DuR 11 (1983), S. 363 ff. (374); U. K. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 50. 289 Vgl. etwa BVerfGE 55, 72 (88); 82,60 (86). 290 Podlech, Das Grundrecht, S. 36 f.

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

136

über das Zureichen eines Differenzierungsgrundes nur unter Rückgriff auf die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 4 I GG treffen. Eine i m Ergebnis durch Art. 4 I GG geschützte Rechtsposition ist immer auch ein „zureichender Grund" im Rahmen des Art. 3 I G G . 2 9 1 Daran vermag auch die gegenständliche Weite des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit 292 nichts Grundsätzliches zu ändern. Die Tatsache, daß der Schutzbereich der Gewissensfreiheit auf das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers verweist, 2 9 3 unterscheidet das Grundrecht nicht von ζ. B. den übrigen Grundrechten der Art. 4 und 5 GG. Eine Beschränkung der Gewissensbetätigungsfreiheit (etwa die auf ein bloßes Wohlwollensgebot) läßt sich also auf diesem Wege nicht begründen. Erforderlich wäre dafür eine weitere Aufwertung des Gleichheitsarguments, für die drei verschiedene Wege denkbar sind: Denkbar ist erstens, den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz mit materiellen Inhalten, Wertungen für bestimmte Lebensbereiche aufzuladen. Diesen Weg ist etwa das Bundesverfassungsgericht gegangen, als es die Ausgestaltung des zivilen Ersatzdienstes einem Art. 3 I GG entnommenen Grundsatz der „Wehrgerechtigkeit" unterstellte, der so als Gegengewicht zur in Art. 4 III GG begründeten Ungleichbehandlung wirkte. 294 Auch Versuche, Art. 3 I GG als Grundsatz staatsbürgerlicher „Lastengleichheit" zu konkretisieren, 295 sind hierher zu rechnen. Solche Wertungen sind jedoch dem Art. 3 I GG nicht zu entnehmen. Zudem laufen sie leer, wo die dem Bürger abverlangten „Lasten" nicht mehr materiell oder sonst überindividuell quantifizierbar sind - wie etwa im Fall des Zeugeneids.296 Vor allem aber steht dieser Weg genausogut gegenteiligen materiellen Wertungen offen, die etwa betonen, das Grundgesetz wolle „nicht nur die arithmetische Gleichheit vor dem Gesetz sichern, sondern die materielle Gerechtigkeit fördern". 297 291

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 220 f., der umgekehrt betont, daß sich dort, wo der freiheitsrechtliche Schutz (in Gestalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips) endet, „salvatorische Sonderregelungen" und „Vergünstigungen" für gewissensgesteuertes Verhalten nicht mehr rechtfertigen lassen. 292 Darauf stellt ab: Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 495; ders., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102. 293 Darauf abstellend Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 217 f. Vgl. schon Isensee, Wer definiert, S. 36 f., der (u. a. wegen einer unzulässigen Prämierung von Gewandtheit und Geschicklichkeit der Grundrechtsträger) generell ein entscheidendes Abstellen auf Selbstverständnisse für mit der bürgerlichen Gleichheit und der Idee der Allgemeinheit des Gesetzes unvereinbar hält. Auch Bedenken, die daraus rühren, daß auch die Gewichtung der Gewissensfreiheit vom individuellen Selbstverständnis oder individuellen Überzeugungen abhängt {Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 218; ders., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102), ist aber entgegenzuhalten, daß eine Berücksichtigung von Selbstverständnissen letztendlich immer nur in einem verfassungsrechtlich objektiv abgesteckten Rahmen erfolgt. 294 BVerfGE 48, 127 (127 ff. LS 2 u. 7, 166, 168); 69, 1 (24, 34 f.). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102. 29

5 Etwa Starck, Art. 4, Rdn. 23.

296

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 219 f. ? Lisken, Zur Gewissensfreiheit des Schöffen, NJW 1997, S. 34 f. (34). Vgl. dens., Gefährdungen der Gewissensfreiheit, S. 535 f., 551. 29

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

137

Denkbar ist zweitens der Weg einer Aufwertung des Gleichheitsarguments durch eine „überpositive Sicht", 298 die auch Herdegen einnimmt, wenn er auf „in der Rechtsgemeinschaft herrschende Wertvorstellungen" zurückgreift, die „über die in der Verfassung selbst zum Ausdruck kommende Wertordnung" hinausgreifen, oder wenn er darauf abstellt, daß die Akzeptanz von Rechtspflichten vom „Reziprozitätsdenken" der Bürger als „massenpsychologischem Befund" abhängt.299 Denkbar ist schließlich drittens der ebenfalls von Herdegen angedeutete Weg, das Gleichheitsargument von der unterverfassungsrechtlichen Ebene aus aufzuwerten, nämlich damit, daß die Gleichheit der Bürger bei gesetzlich begründeten Leistungsmodalitäten „schon dem gesetzgeberischen Anliegen immanent" sei. 300

In jedem Fall aber können Anerkennung und Aufwertungen des Gebots der Rechtsanwendungsgleichheit nicht mehr herbeiführen als ein „Spannungsverhältnis" 3 0 1 zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatsbürgerlicher Gleichheit. Letztere kann als kollidierendes Rechtsgut von Verfassungsrang verstanden werden. 302 Freiheit und Gleichheit kollidieren im Falle der Gewissensfreiheit nur bei der Rechtsanwendung, da ein Grundrechtsschutz bei der Rechtssetzung (im Gesetz) nicht zu leisten ist (mangelnde Prognostizierbarkeit von Gewissenskonflikten), sondern erst in der Situation des Bürgers vor dem Gesetz. Löst man diese Kollisionslage zugunsten einer ausnahmslosen Gesetzesanwendung auf, so läßt sich diese Präferenz jedenfalls nicht allein mit dem Gleichheitsargument begründen. Das sieht auch Herdegen und konzediert, der Grundsatz der Rechtsanwendungsgleichheit gehe „im Vorrang des Gesetzes auf 4 , es handele sich „letztlich um allgemeine Fragen der Gesetzesgebundenheit von Verwaltung und Justiz". 303 Damit wird aber das dritte Begründungselement in der Argumentation Herdegens zum allein ausschlaggebenden: entscheidend ist letztlich, parlamentarischen Gesetzgebungsakten ihre „Normativität" zu sichern; 304 die „Rechtssicherheit verbürgende Funktion" von Normen, die „Verläßlichkeit des Normtextes" für den Bürger zu gewährleisten. 305 Notwendig dafür sei ein „uneingeschränkt" oder „strikt" geltender „Vorrang des Gesetzes"306, die ,Allgemeingültigkeit" des Gesetzes 307 sowie eine „vorbehaltlose Bindung der normvollziehenden Organe" an das Gesetz.308 Rechtssicherheit für den Bürger, Bindung von Verwaltung und Recht298

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 216. Ebd., S. 222 f.; letzteres allerdings für den Fall, daß eine Ungleichbehandlung nicht auf ein spezielles Grundrecht zurückzuführen ist. 300 Ebd., S. 221. Darin kommt bereits der letztlich für ihn ausschlaggebende „Vorrang des Gesetzes" zum Ausdruck. Dazu sogleich. 299

301 So auch Herdegen, ebd., S. 217. 302 η. Η. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 499 f. 303 Gewissensfreiheit und Normativität, S. 216. 304 305 306 307

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 287, 291. Ebd., S. 291, 229 f. Ebd., S. 225,230, 285, 287, 290. Ebd. S. 225. Vgl. ebd., S. 290.

138

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

sprechung an das Gesetz und der davon abgeleitete Vorrang des Gesetzes finden danach ihre positivrechtliche Verankerung in Art. 20 ΠΙ GG. 3 0 9 Zweifelhaft erscheint das aber für den „uneingeschränkten Vorrang" des (einfachen) Gesetzes. Die darin enthaltene Wertung läßt sich insbesondere nicht allein der Bindung normvollziehender Organe an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG) entnehmen, denn bindendes Gesetz in diesem Sinne ist auch das Verfassungsgesetz einschließlich des Art. 4 I GG. 3 1 0 Die unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit der Grundrechte für Verwaltung und Rechtsprechung wird zudem in Art. 1 ΠΙ GG konkretisiert. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 311 ist daher nicht geeignet, den Konflikt zwischen dem Inhalt des (einfachen) Gesetzesrechts sowie den Prinzipien der Rechtssicherheit und staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit auf der einen Seite und den (ihrerseits grundsätzlich Vorrang beanspruchenden) Grundrechten auf der anderen Seite aufzulösen - dieser Konflikt ist ihm vielmehr immanent. Wenn Herdegen diesen Konflikt generell zugunsten des Vorrangs des Gesetzes löst, so gibt diese Wertung auch im Ergebnis Anlaß zu Zweifeln. Schützt man die Gewissensbetätigungsfreiheit nur „im Rahmen" oder „nach Maßgabe" des Gesetzes", so daß sie zur „Disposition" des parlamentarischen Gesetzgebers steht, 312 so nimmt das Grundrecht insoweit nicht am Vorrang der Verfassung teil und ist der Gesetzgeber inhaltlich - entgegen Art. 1 ΠΙ GG - nicht an das Grundrecht gebunden. Der Gesetzgeber regelt dann für den Einzelfall abschließend einen Konflikt, 313 den er inhaltlich, hinsichtlich der konkret betroffenen Interessen und Rechtspositionen, gar nicht prognostizieren kann. 314 Aus der Perspektive des Bürgers wirkt ein genereller Vorrang des Gesetzes im Ergebnis fast genauso wie eine immanente Tatbestandsbegrenzung. Der gegenüber hat die Heranziehung des Art. 136 I WRV durch Herdegen zwar den nicht zu unterschätzenden Vorteil der Klarstellung, daß das Gesetz eine ,νοη außen4 an das Grundrecht herangetragene „Schranke" darstellt; 315 ebenso wie die sog.,engen Tatbestandstheorien4 läßt diese Lösung aber eine ausgleichende Gewichtung der in concreto betroffenen Positionen nach dem grundrechtlichen ,Spiel von Grund und Gegengrund4 nicht zu. 3 1 6

308 Ebd., S. 230. 309 Ebd., S. 290,230. 310 Kunig, v. Münch/Kunig, Art. 1, Rdn. 50; Schnapp, v. Münch/Kunig, Art. 20, Rdn. 35 ff. 3π Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 287. 312 Gewissensfreiheit und Normativität, S. 285, 287 f. Die Bereitstellung von Handlungsalternativen durch den Gesetzgeber erscheint dann als bloße „Dezision44 {ders., Gewissensfreiheit, S. 497). 313 Gewissensfreiheit und Normativität, S. 228. 314 So auch ebd., S. 226, 229, 285 f. 315 Ders., Gewissensfreiheit, S. 494. 316 Vgl. ο. a), S. 128 ff. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 280 ff., 286 ff.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Herdegen schränkt zwar den generellen Vorrang des Gesetzes insofern ein, als er das dem Rechtsgedanken des Art. 136 I W R V entnommene Schrankengesetz in Anlehnung an Art. 137 Ι Π W R V und Art. 5 I I GG - als ein „allgemeines", also „nicht gegen eine bestimmte Gewissensposition gerichtetes" qualifiziert; 3 1 7 diese Qualifikation wird aber wohl schon wegen der Individualität von Gewissensüberzeugungen i m abwehrrechtlichen Kontext des Grundrechts nur geringe Relevanz erlangen k ö n n e n . 3 1 8 Der Ausschluß einer Wechselwirkung zwischen Grundrechtstatbestand und -schranke und der Ausschluß des Verhältnismäßigkeitsprinzips machen deutlich, daß es nicht um einen Vorbehalt allgemeiner Gesetze in dem von der Rechtsprechung zu Art. 5 I I GG und Art. 137 Π Ι W R V entwickelten Sinne geht, sondern i m Ergebnis um eine tatbestandsimmanente Grundrechtsbegrenzung durch die allgemeinen Gesetze (die allgemeine Rechtsordnung), in dem u. a. von Bettermann und Rüfner entwickelten S i n n e . 3 1 9 Wenn Herdegen für die Gewissensfreiheit jegliche Schranken-Schranke ausschließt, geht das allerdings über die meisten Rezeptionen der Lehre von den immanenten Tatbestandsbegrenzungen noch hinaus, da diese überwiegend auf die eine oder andere Art doch die Möglichkeit des Grundrechtsvorrangs i m Einzelfall einräumen. 3 2 0 Die Beschränkung der Grundrechtswirkung auf die den Gerichten und Behörden belassenen Normanwendungsspielräume und die in dieser Beschränkung enthaltene Wertung lassen sich vielleicht auch auf eine problematische Verallgemeinerung von Wertungen aus dem Bereich des Strafrechts zurückführen: Die Rechtsfigur eines „Wohlwollensgebots" findet sich erstmals in einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur strafrechtlichen Verurteilung eines Zeugen Jehovas wegen der Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes:321 Das Verhalten sei zwar subjektiv-rechtlich nicht durch die Grundrechtstatbestände der Art. 4 I oder III GG erfaßt, 322 in seiner objektiv-rechtlichen Dimension wirkte das Grundrecht der Gewis317

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288; ders., Gewissensfreiheit, S. 495. Zu den Schwierigkeiten, den objektiv-rechtlichen Bezug der Gewissensfreiheit zum Neutralitätsprinzip zu konkretisieren, vgl. o. 1.1.c) und d), S. 97 ff. 318

319

Bettermann, Die allgemeinen Gesetze als Schranken der Pressefreiheit, JZ 1964, S. 601 ff. (603 f.); ders., Grenzen der Grundrechte, 1968, S. 26 ff. (vor allem mit der „Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz" argumentierend). Rüfner, Überschneidungen und gegenseitige Ergänzungen der Grundrechte, Der Staat 7 (1968), S. 41 ff. (54 ff.); ders., Grundrechtskonflikte, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bnd. II, 1976, S. 453 ff. (456 ff.). Vgl. zur Auseinandersetzung darum und den zahlreichen Varianten Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, S. 530 ff. m.w.N. auch zu dem in der frühen Rechtsprechung des BVerwG vertretenen „allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalt". 320 Etwa Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: HStR, Bnd. V, §110, Rdn. 69 ff. (insbes. 73); Doehring, Staatsrecht, versteht den jedem Grundrecht immanenten „allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalt zwar einerseits so, daß das Gleichgewicht zwischen verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten durch „die positive Rechtsordnung selbst ( . . . ) mit den Mitteln der Legalität" herzustellen sei (S. 278); sieht diesen Vorbehalt aber ζ. B. im Fall der Religionsfreiheit durch eine Rcchtsgüterabwägung zwischen Allgemein- und Einzelinteressen konkretisiert (S. 301, 302 f.). Zur Bedeutung von Abwägungen in Häberles bereits 1962 entworfenem eigenen Konzept der Grundrechtsbegrenzung durch „allgemeine Gesetze" s. ders., Die Wesensgehaltgarantie, S. 31 ff. 32

1 BVerfGE 23, 127(134).

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

sensfreiheit aber dennoch als „wertentscheidende Grundsatznorm", die bei Staatstätigkeit jeder Art Wertmaßstäbe setzende Kraft entfalte und im Strafrecht bei der Strafzumessung als „allgemeines »Wohlwollensgebot' gegenüber Gewissenstätern" wirke. 323 Das Urteil kann nur verstanden werden als eine Reaktion auf gegenläufige Tendenzen der Strafgerichte in den Jahren zuvor, die Strafen von Zeugen Jehovas verschärft oder nicht zur Bewährung ausgesetzt hatten, weil die Täter „uneinsichtig" oder „hartnäckig" seien und weiterhin die Verweigerung staatsbürgerlicher Pflichten erwarten ließen.324 Die dagegen gesetzte Rechtsfigur des allgemeinen Wohlwollensgebots ist - soweit ersichtlich - in der Rechtsprechung der Obergerichte nur in dieser dogmatischen Herleitung („wertentscheidende Grundsatznorm") und nur für die Zumessung von Kriminalstrafen und Disziplinarmaßnahmen im Bereich des Wehrund Ersatzdienstes übernommen worden. 325 Das Bundesverfassungsgericht selbst hat diese Rechtsfigur in anderen Entscheidungen zu strafrechtlichen Sanktionen nicht mehr aufgegriffen, sondern Art. 4 I GG bereits auf der Ebene der Auslegung von verhaltensleitenden Normen herangezogen.326 Im Regelfall bringt die Beschränkung der Grundrechtswirkungen auf ein Wohlwollensgebot für den Bereich des Strafrechts eine zutreffende Wertung zum Ausdruck: In diesem Bereich kann das Grundrecht der Gewissensfreiheit in aller Regel gesetzliche Verhaltensregeln nicht modifizieren oder gar dispensieren.327 Das liegt aber daran, daß strafrechtlich sanktio-

322 Wegen der „Sperrwirkung" des Art. 4 III GG für den Bereich des Wehr- und Ersatzdienstes (vgl. dagegen die Kritik bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 107; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 297; Arndt, Anmerkung zu BVerfG, Beschl. v. 5. 3. 1968 - BVerfGE 23, 127 ff. - , NJW 1968, S. 979 f. (979). 323 BVerfGE 23, 127 (134). Entgegen diesem Beschluß des 1. Senats machte der 2. Senat in einem 2 Tage später ergangenen Beschluß den Versuch, das Problem der Ersatzdienstverweigerung ohne Rekurs auf Art. 4 I GG über das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 III GG) in den Griff zu bekommen. Vgl. dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 103 ff.; dens., Gewissensfreiheit, S. 519 f. 324 Vgl. etwa OLG Bremen, NJW 1963, S. 1934 und die in OLG Köln, NJW 1965, S. 1448 ff. und OLG Köln, NJW 1970, S. 67 f. aufgehobenen vorinstanzlichen Urteile. Vgl. auch noch OLG Saarbrücken, NJW 1969, S. 1783 und NJW 1970, S. 67. 325 OLG Köln, NJW 1970, S. 67 f. (68); Bay ObLG, StV 1981, S. 74 f. (74) (mit Bezug auf Art. 4 III GG!); OLG Hamm, StV 1981, S. 75 f. (75) (auch in der Anmerkung zu diesem Urteil von Crummenerl, ebd., S. 76 f.); OLG Stuttgart, Beschl. v. 25. 5. 1992, NJW 1992, S. 3251; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22. 11.1995, MDR 1996, S. 409 f. (jeweils Ersatzdienstverweigerungen durch Zeugen Jehovas); BVerwGE 93, 323 (340) (gewissensgeleitete Meinungsäußerung von Soldaten - ,Darmstädter Signal'). Zuvor hatte eine Kammer des BVerfG eine Verfassungsbeschwerde in dieser Sache für offensichtlich begründet gehalten, war aber auf den auf das Wohlwollensgebot zielenden Parteivortrag des Beschwerdeführers nicht eingegangen. Beschl. v. 10. 7. 1992, 2 BvR 1857/91. Vgl. den parallelen Beschl. v. 10. 7. 1992, 2 BvR 1802/91 (NJW 1992, S. 2750 f.). Zuletzt BVerwG, U. v. 31. 7. 1996, NJW 1997, S. 536 ff. (539 f.) (vorsorgliche Erklärung des Ungehorsams bei sog. ,out-of-area'-Einsätzen). Auch hier hielt das Gericht die Schutzbereiche der Art. 4 I u. III GG für nicht betroffen, berücksichtigte den von ihm angenommenen „Gewissensdruck" aber dennoch im Rahmen des objektiv-rechtlichen Wohlwollensgebots. 326 In BVerfGE 32, 98 (108 ff.) (Gesundbeter) wirkt Art. 4 I GG wohl als eine Art Schuldausschließungsgrund. Vgl. Νestler-Tremel, Zivildienstverweigerung aus Gewissensgründen, Strafverteidiger 1985, S. 343 ff., S. 347 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 301 m.w.N. (vgl. ebd., S. 293). Vgl. BVerfGE 33, 23 (34) (Zeugeneid).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

141

nierte Verhaltensregeln „der Aufrechterhaltung grundlegender staatlicher Funktionen und dem Schutz elementarer Individualinteressen" dienen und daher „jedenfalls auf Rechtswidrigkeitsebene regelmäßig die Berufung auf die Gewissensfreiheit versagt".328 Nur dadurch verlagert sich die Berücksichtigung von Gewissensentscheidungen von der „primären Ebene" der Verhaltensregelung auf die „sekundäre Ebene" der Normanwendungsspielräume bei der Strafzumessung. 329 Vor diesem Hintergrund scheint es aber problematisch, das Grundrecht ganz, das heißt auch in seinem Gehalt als subjektives Abwehrrecht und für alle Bereiche des Rechts,330 auf dieser „sekundären Ebene" aufgehen zu lassen. Die gesetzliche Pflicht zur Teilnahme am koedukativen Schulsport ζ. B . 3 3 1 hätte dann das gleiche Gewicht wie die Pflicht zur Ableistung des Ersatzdienstes oder die Pflicht zur Hilfeleistung nach § 323c StGB. Der Gewissensrôfer würde zum Grundtypus des Grundrechtsträgers und bestimmend für die Gewichtung des Grundrechts. 332,333 Näherer Betrachtung wert ist schließlich noch die nach dem Modell des Wohlwollensgebots für Rechtsprechung und Verwaltung verbleibende Wohlwollenspflicht selbst. Zu klären sind insbesondere die Fragen, inwieweit diese sich als Rechtspüicht konkretisieren läßt - und damit auch die korrespondierende subjektive Position des Bürgers Rechtscharakter trägt - und inwieweit solche Rechtspositionen justitiabel sein können. Als Ableitung von Art 4 1 GG ist das Wohlwollensgebot seiner Form nach zweifellos ein rechtliches G e b o t . 3 3 4 Zweifel am Rechtscharakter der Wohlwollenspflicht können aber mit Blick auf den Inhalt dieser Pflicht entstehen. Der Begriff des „Wohlwollens" ist eigentlich kein Rechtsbegriff. In seiner alltagssprachlichen und philosophischen Bedeutung bezeichnet er eine auf den „Freundschaftsbe327 Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 399 f.; Rudolphi, Die Bedeutung eines Gewissensentscheides für das Strafrecht, in: FS Welzel, 1974, S. 605 ff. (620 f.). H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 500 f. 328 So auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102 m.w.N. (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. dens., Gewissensfreiheit, S. 500 mit Hinweis auf die meist grundrechtliche Absicherung entgegenstehender Individualinteressen. 329 Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 101, 102 f.; dens., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 289. 33 0 Ebd., S. 292. 33

1 Vgl. BVerwGE 94, 82 ff.

332

Natürlich muß die Grundrechts!nterpretation vom Konfliktfall zwischen Gesetz und Gewissen ausgehen {Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 147; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 20. Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 5, 221, für den das Grundrecht bestimmt ist; das zwingt jedoch nicht dazu, den strafrechtlichen Konflikt zum Modell zu nehmen. 333 Vielleicht läßt sich die häufig anzutreffende Verallgemeinerung strafrechtlicher Blickweisen auch damit erklären, daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit im Bereich des Strafrechts seine stärkste dogmatische Durchdringung erfahren hat. Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 299 f.; Morlok, Selbstverständnis, S. 4 mit FN 7; Nestler-Tremel, Zivildienstverweigerung, S. 348 mit FN 88. 334

lanz".

Es ist allein damit schon mehr als - per definitionem - nicht rechtlich begründete „Ku-

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

reich", auf „zwischenmenschliche Verhältnisse" beschränkte „sittliche Haltung" (oder gar ein Gefühl der Zuneigung) - etwa in Gegensatz zum auf den öffentlichen Bereich zielenden Gerechtigkeitsbegriff. 335 Verstünde man nun als Inhalt des Wohlwollensgebots lediglich eine Pflicht zur Gewährung von Wohlwollen, so wäre dies jedenfalls einer tatsächlichen gerichtsförmigen Umsetzung von vornherein entzogen. Eine Parallele fände ein solches Verständnis etwa im Bereich des öffentlichen Dienstrechts, wo die Rechtsprechung der dienstrechtlichen Fürsorgepflicht (§ 48 BRRG, § 79 BBG) eine Pflicht des Dienstherrn entnimmt, sich bei Ermessensentscheidungen gegenüber Beamten und Soldaten von „sachlichen Erwägungen" sowie von „Gerechtigkeit und Wohlwollen" leiten zu lassen, ohne daß das letztgenannte Begriffspaar dabei konkretisiert würde oder praktische Folgerungen aus ihm gezogen würden. 336 Schon eine solche gefestigte Verwendung des Begriffs durch die Gerichte kann freilich aufgrund des normativ-appellhaften semantischen Gehalts eine gewisse Steuerungsfunktion gegenüber den ermessensausübenden Behörden entfalten. Indes ist der Inhalt des „Wohlwollensgebots" in BVerfGE 23, 127 (134) und in der Rezeption Herdegens damit wohl jedenfalls nicht erschöpft. Das Wohlwollensgebot verpflichtet nicht nur zu „Wohlwollen". Daß das Grundrecht der Gewissensfreiheit „im Sinne eines Wohlwollensgebotes wirkt" 3 3 7 , meint vielmehr, daß innerhalb der Normanwendungsspielräume dem konfliktbedrohten Gewissen in Abwägung mit gegenläufigen Belangen nach Möglichkeit Rechnung getragen werden, nach Möglichkeit „Rücksicht" auf es genommen werden soll. 3 3 8 Die Gewissensfreiheit wirkt als „Optimierungsgebot" im Sinne des von Alexy entwickelten Regel-Prinzipien-Modells. 339 Art. 4 I GG wirkt so als rechtliche Maßstabsnorm und rechtliche Grenze für die Gerichten und Behörden zustehenden Gestaltungsspielräume. Soweit diese Gestaltungsspielräume auf der „sekundären" (Sanktions-) Ebene der Rechtsanwendung liegen, vor allem bei der Zumessung von Strafen, haben die Gerichte das Wohlwollensgebot gegenüber Gewissenstätern auch ein 335 Vgl. Schöpf, Art. Wohlwollen, in: O. Höffe, Lexikon der Ethik, 4. Aufl. 1992, Sp. 314 f.; Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bnd. XIV/2, 1960, Sp. 1202 f. In vergleichbarer Gegenüberstellung setzt etwa der BGH in einer Zivilrechtssache die Angewiesenheit auf „Wohlwollen" einer „rechtlichen" Bindung des Vertragspartners begrifflich entgegen (BGHZ 117, 135 ff. (139). 336 BVerwGE 53, 280 (286 f.); BVerwG, II C 59/73, DVB1. 1978, S. 607 f. (608); BVerwG, 2 A 2/94, Buchholz 232, § 42 BBG, Nr. 21; BVerwG, Beschl. v. 26. 4. 1990, 1 WB 32/90; Beschl. v. 23. 1. 1991, 1 WB 157/88. In Amtshaftungsfällen: BGHZ 15, 185 (187); 29, 310 (313 f.). Ausdrücklich als rechtlich nicht faßbare innere Haltung findet der Begriff des „allgemeinen Wohlwollens" Verwendung bei der Auslegung der strafrechtlichen Bestechungstatbestände: Die sind nicht erfüllt, wenn keine bestimmte Diensthandlung eines Amtsträgers ,erkauft 4 wurde, sondern lediglich sein „allgemeines Wohlwollen". BGHSt 15, 217 (217, LS 2); BGH, 1 StR 792/93, StV 1994, S. 243 f. 337 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 291. Vgl. ebd., S. 290, 312. 338 Ebd., S. 290, 292 f. Vgl. dens., Gewissensfreiheit, S. 497. 339 Ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 269.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Stückweit konkretisiert. 3 4 0 Eine rechtliche Kontrolle dessen in weiteren gerichtlichen Instanzen ist aber aufgrund der Eigenart von Strafzumessungsentscheidungen nur sehr begrenzt m ö g l i c h . 3 4 1 Justitiabel sind insofern praktisch nur die Fragen, ob ausweislich der Urteilsgründe Art. 4 1 GG als obligatorische Strafzumessungserwägung überhaupt in die Entscheidungsfindung eingestellt worden ist und ob seine grundsätzlich privilegierende (strafmildernde)

Wirkung beachtet wurde.

Erhebliche zusätzliche Schwierigkeiten bereitet die Frage, ob das Gewissensmotiv des Täters immer strafmildernd zu Buche schlagen muß oder auch strafschärfend i m Vergleich zur „regulären Eigennutzkriminalität" wirken k a n n . 3 4 2 Rechts340

Für ersatzdienstverweigernde Zeugen Jehovas etwa dahin, daß der generalpräventive Strafzweck zugunsten des Gedankens der Rechtsbewährung zurücktritt, eine Strafe im unteren Rahmen des gesetzlichen Strafrahmens angezeigt ist und eine Aussetzung zur Bewährung nicht wegen der „Uneinsichtigkeit" des Täters in der Sache verwehrt werden darf. Konkret entscheidet danach immer eine Abwägung zwischen der Stärke des Gewissensdrucks und der Bedeutung der Tat für die Rechtsordnung. OLG Köln, NJW 1970, S. 67 f. (68); BayObLG, StV 1981, S. 74 f. (74). Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 299 ff. (301). 341

Die Verantwortung für die Bemessung einer Strafe trägt in erster Linie der Tatrichter. Die Revision prüft grundsätzlich nur „offensichtlich grobe Fehlgriffe" (BGHSt 17, 35 (37)). Da die Zumessungsentscheidung selbst keine einfache ja/nein-Entscheidung ist und eine Vielzahl von für und gegen den Angeklagten sprechenden Umständen zu berücksichtigen hat, ist die konkrete Wirkung und Gewichtung des Wohlwollensgebots aus Art. 4 I GG schwer zu identifizieren. Allgemein sind für die Berücksichtigung von speziellen Grundrechten (neben Art. 2 II 2 GG) auf der Strafzumessungsebene keine handhabbaren Maßstäbe entwickelt worden; allenfalls die Gleichheitsrechte spielen eine gewisse Rolle. Vgl. Bruns, Das Recht der Strafzumessung, 2. Aufl. 1985, S. 8, 199 ff. Bruns selbst (ebd., S. 216 ff.) handelt in seiner praxisorientierten Darstellung die Frage des „Gewissenstäters" unter dem Obergesichtspunkt des „Überzeugungstäters" ab und nimmt auf Art. 4 GG nicht einmal ausdrücklich Bezug. Eine gewisse »Ergebniskontrolle4 kann u. U. durch den außerordentlichen Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde erreicht werden. 342 Im letztgenannten Sinne und das „Wohlwollensgebot" so einschränkend Isensee, Gewissen im Recht, S. 58. Vgl. A. Arndt, Das Gewissen, S. 2205 mit dem Versuch, zwischen einem (privilegierten) Gewissenstäter und einem Überzeugungstäter zu unterscheiden. Vgl. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 60 mit FN 83 m.w.N.; Tenckhoff, Strafrecht und abweichende Gewissensentscheidung, S. 442 m.w.N. Vgl. Bruns, Das Recht, S. 217 f. mit der in der Praxis verbreiteten Unterscheidung zwischen „sittlichen oder religiösen" und „politischen" Motiven. Der Ansatz zur Lösung dieser Frage dürfte in folgendem liegen: Versteht man das Gewissen normativ, als Fähigkeit zur moralischen Beurteilung des eigenen Verhaltens, so liegt der Grund für die grundrechtliche Privilegierung in der Anerkennung und Respektierung dieser Fähigkeit, der daraus resultierenden psychischen und sozialen Bindungen sowie vielleicht auch in der Prämierung der zur Überzeugungsbildung geleisteten ,Gewissensarbeit4 (nicht des Inhalts der Überzeugung!). Diese - vor allem „inneren" - Tatbestände sind unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des Art. 4 I GG stets privilegierend zu berücksichtigen. Das schließt jedoch nicht aus, daß dieselben Tatsachen unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt der Strafzumessung strafschärfend wirken können - etwa unter dem Gesichtspunkt einer individuellen Gefährlichkeitsprognose in bezug auf zukünftige andere Rechtsgutverletzungen aus Gewissensgründen. Diese gegenläufigen rechtlichen Gesichtspunkte sind bei der Strafbemessung (abstrakt) gleichwertig zu berücksichtigen (hier kann es keinen Vorrang des

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

anwendungsspielräume auf der „primären" Ebene der Konkretisierung von rechtlichen Verhaltenspflichten des Bürgers sind justitieller Kontrolle zugänglicher. Ermessensspielräume der Verwaltung sind durch die Grundrechte und das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt, Verletzungen dieser Grenzen als Ermessensüberschreitung oder als Ermessensmißbrauch gerichtlich zu überprüfen. 3 4 3 Ermessensspielräume, etwa zur Dispensierung des Bürgers aufgrund von Härteklauseln, 3 4 4 sind auch durch Art. 4 I GG als ermessensbeschränkende Norm begrenzt. 3 4 5 Die dem Wohlwollensgebot unterstehende Konkretisierung unbestimmter Rechtsbeg r i f f e 3 4 6 ist wie sonst auch in der Regel voll gerichtlich überprüfbar. Die gerichtliche Einzelfallkontrolle gewinnt wegen der Individualität von Gewissenskonflikten vor allem dort an Bedeutung, wo Normanwendungsspielräume durch ermessensleitende oder normauslegende Verwaltungsvorschriften abstrakt-generell vorgeprägt sind.

Art. 4 I GG entnommenen Verfassungsgesichtspunkts geben). Welcher der Gesichtspunkte sich im Ergebnis stärker durchsetzt (oder ob sich beide gegenseitig »neutralisieren'), ist eine Frage des Einzelfalls. Vgl. Bruns, Das Recht, S. 217 m.w.N. Bei einem Täter, der in einer für ihn wahrscheinlich einmaligen Lebenssituation handelte, wird ζ. B. immer die Privilegierung durch Art. 4 I GG stärker ins Gewicht fallen; bei einem Täter, der ζ. B. die Rechtsordnung insgesamt (und auch in Zukunft) ablehnt und aktiv bekämpft, wird sie dies nicht können. Ob die jeweilige Gewissensüberzeugung als „politische" oder „religiöse" oder „sittliche" zu klassifizieren ist (soweit dies überhaupt eindeutig möglich ist), spielt dabei eine zweitrangige Rolle. Gegen das Verbot der inhaltlichen Bewertung von Gewissensüberzeugungen verstieße es dagegen, wenn man eine Strafmilderung davon abhängig machte, ob die einer Tat zugrundeliegende Überzeugung mit dem Sittengesetz vereinbar ist. Vgl. aber BGHSt 2,194 (208 f.); 8, 162 (162 ff.); 8, 254 (261). Vgl. auch Bruns, a. a. O., S. 217. 343 Das Ermessen zur Ausweisung eines Ausländers etwa ist u. a. durch Art. 6 I GG begrenzt. BVerfGE 51, 386 (396 ff.); BVerwGE 42, 133 (134 f.). Vgl. BVerwGE 47, 280 (283). 344

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290; dens., Gewissensfreiheit, S. 497 f. 345 Eine von den Verwaltungsgerichten ebenfalls unter dem Topos des „Wohlwollensgebotes" praktizierte Entsprechung findet das im Ausländerrecht: Die Entscheidung über die Einbürgerung von Ausländern steht nach § 8 I RuStAG im Ermessen der Behörde. Das Ermessen ist jedoch durch Art. 34, S. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention und verschiedene völkerrechtliche „Niederlassungsabkommen" beschränkt, die als innerstaatliches Recht gelten und in denen sich die Bundesrepublik verpflichtet hat, Einbürgerungen „soweit wie möglich" zu erleichtern. Einbürgerungsanträge sind danach „wohlwollend" zu prüfen (so das Niederlassungsabkommen mit Griechenland vom 18. 3. 1960). Die Gerichte verstehen diese „Wohlwollensgebote" allgemein als Unterstreichung des Gebots, alle wesentlichen Umstände des Falls umfassend zu würdigen und abzuwägen, sowie als Gebot, den persönlichen Interessen des Antragstellers,besondere Beachtung zu schenken, zu prüfen, ob ein Abweichen von der sonst geübten Verwaltungspraxis möglich ist, und im Zweifel dem Antrag stattzugeben (letzteres wäre auf Grundrechte wohl nicht übertragbar). BVerwGE 49, 44 (47); 56, 254 (263 f., 267 ff.); 56, 273 (279 ff.); 66, 268 (274 f.); BVerwG, 1 C 30/76, DVB1. 1979, S. 585 ff. (588 ff.); BVerwG, 1 C 30/81, DVB1. 1985, S. 242 ff. (243); BVerwG, 1 Β 61/93, DVB1. 1994, S. 526 f. (527). 346

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290; dens., Gewissensfreiheit, S. 497 f. Dazu sogleich.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Festzuhalten ist damit, daß Art. 4 I GG in seinem Anwendungsbereich als subjektive Grundrechtsverbürgung auch in Form eines Wohlwollensgebots zu gewisser Wirksamkeit gebracht werden kann. Abschließend sei auf zwei Aspekte hingewiesen, die geeignet sind, die Differenz zwischen dem Dispensmodell und dem Wohlwollensmodell der Gewissensfreiheit zu relativieren. Die vom Wohlwollensmodell intendierte Beschränkung der Grundrechtswirkungen auf gesetzlich eingeräumte NormanwendungsSpielräume und die „sekundäre" Ebene der Vollstreckung und Sanktionierung läßt sich nämlich nicht ganz konsequent durchhalten. In einzelnen Fällen oder Fallgruppen kann auch das Art. 41 GG entnommene Wohlwollensgebot dazu führen, daß eine bestehende rechtliche Verhaltenspflicht gegenüber einem Grundrechtsträger nicht (mehr) durchgesetzt werden kann. 347 Das bedeutet aber nichts anderes als die nach dem Dispensmodell mögliche Nicht-Anwendung einer geltenden Norm. Als Beispiel soll noch einmal die Ersatzdienstverweigerung durch Zeugen Jehovas dienen. 348 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit verhindert hier nicht nur eine mehrfache (theoretisch unbegrenzte) strafrechtliche Ahndung der fortdauernden Verweigerungshaltung, sondern muß - nachdem die Verweigerung einmal strafrechtlich sanktioniert worden ist (!) auch die weitere Vollstreckung der fortbestehenden Dienstpflicht durch Zwangsmaßnahmen verhindern und macht schließlich so auch jede weitere Geltendmachung der Dienstpflicht durch die Zivildienstbehörde obsolet, obwohl das Gesetz der Behörde diesbezüglich keine Gestaltungsspielräume einräumt. Das kommt im Ergebnis einer „Durchbrechung" des Rechtsanwendungsbefehls, einer Nicht-Anwendung des Gesetzes gleich. Vor allem aber ist die Differenz der beiden Modelle dadurch relativiert, daß das Wohlwollensmodell auch die „Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe" als Normanwendungsspielraum für Gerichte und Behörden anerkennt.349 Gesetzliche Handlungspflichten des Bürgers sind häufig mit unbestimmt gehaltenen Härteklauseln oder Dispensregelungen versehen. So können etwa Schüler nach § 11 I der Allgemeinen Schulordnung NW in nicht näher bezeichneten „besonderen Ausnahmefällen" von der Pflicht zur Unterrichtsteilnahme für einzelne Unterrichtsfächer auf Antrag befreit werden. 350 Häufig strebt der Gesetzgeber mit der Unbestimmtheit solcher Klauseln gezielt eine Flexibilisierung der Verwaltung an; etwa in der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung, die in ihrer Neufassung die Ablehnung eines Ehrenamtes aus nicht mehr näher bezeichnetem „wichtigem Grund" ermöglicht (§ 29) und die Enumeration dieser Gründe in § 21 I 2 GO a.F. bewußt nicht übernommen hat. 351 347 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 293 f., 289. 348 Ebd., S. 293. 349

Ebd., S. 290; ders., Gewissensfreiheit, S. 497 f. So auch Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1037. 350 Vgl. den Fall von BVerwGE 94, 82 ff., wo islamische Schülerinnen Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht begehrten. Vgl. u. B.I.3.a)bb), S. 238, S. 245. Vgl. etwa auch § 119 AFG, der eine Modifizierung der Sperrzeiten für die Beziehung von Arbeitslosengeld aus „wichtigem Grund" oder bei „besonderer Härte" erlaubt. Diese Härteklauseln greifen auch in Fällen, in denen das Arbeitsverhältnis aus Glaubens- oder Gewissensgründen aufgelöst wurde (dazu Morlok, Art. 4, Rdn. 106, 129). 351 Rehn/Cronauge/v. Lennep, Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl. 1995, Anmerkung zu § 29. 10 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Zumindest in den Fällen der zuletzt genannten Zumutbarkeitsklauseln wird auch bei einer Dispensierung aus Gewissensgründen die Norm nicht nur in ihrem Wortlaut gewahrt, sondern darüber hinaus das „gesetzgeberische Anliegen" nicht unzulässig relativiert. 352 Der Gesetzgeber selbst hat hier seinen Regelungswillen relativiert.

Auch diese Annäherungen der Modelle können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Wohlwollensmodell den Inhalt parlamentarischer Gesetzgebungsakte einer Bindung an das Grundrecht der Gewissensfreiheit weitgehend entzieht. Darin liegt nicht nur eine grundrechtsdogmatische Modifikation im Vergleich zur abwehrrechtlichen Konkretisierung anderer Freiheitsgrundrechte; der von diesem Modell vorausgesetzte „uneingeschränkte Vorrang des Gesetzes" stellt auch eine erhebliche Relativierung des Vorrangs der Verfassung und der durch die „Leitnorm" 3 5 3 des Art. 1 ΠΙ GG für alle Grundrechte bezweckten lückenlosen Bindung aller Staatstätigkeit an die Grundrechte dar.

3. Gewissensfreiheit als Leistungsrecht („sozialstaatliche Grundrechtstheorie") Die besonderen Schwierigkeiten 354 einer abwehrrechtlichen Erfassung der Gewissensfreiheit sind wohl ausschlaggebend gewesen für eine Reihe von Ansätzen, Gewissensfreiheit durch Anleihen bei anderen grundrechtstheoretischen Konzepten als subjektive Grundrechtsgewährleistung handhabbar zu machen. An erster Stelle ist hier das Verständnis der Gewissensfreiheit als Leistungsrecht zu nennen. Ein Leistungsrecht unterscheidet sich von einem Abwehrrecht dadurch, daß es nicht auf ein Unterlassen, sondern auf ein positives Tun des Staates gerichtet ist. 3 5 5 Dabei können normative staatliche Handlungen (die auf die Ausgestaltung der staatlichen Rechtsordnung zielen) von faktischen (sonstigen) staatlichen Handlungen unterschieden werden. 356 Im allgemeinen geht es unter dem Gesichtspunkt der „sozialstaatlichen Grundrechtstheorie" um faktische Handlungen des Staates, die Erbringung materieller oder materialisierbarer Leistungen zur Gewährleistung der tatsächlichen Voraussetzungen bürgerlicher Frei heits Wahrnehmung („realer Freiheit")· 357 352 Letzteres setzt Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 292, 294, 312 voraus. Vgl. ebd., S. 220 f. 353 BVerfGE 31, 58 (72 f.). Vgl. Dürig, M / D / H / S , Art. 1, Rdn. 100, 104, 106; Kunig, v. Münch/Kunig, Art. 1, Rdn. 50 m.w.N.

354 Vgl. o. 11.2.b), S. 112 ff. 355 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 179 ff. 356 Ebd. 3 57 E.-W. Böckenförde,

Grundrechtstheorie, S. 136 ff.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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Darum geht es beim Grundrecht der Gewissensfreiheit allenfalls am Rande: Die Gewissensfreiheit vermittelt dem Bürger keine Ansprüche auf faktische Schutzmaßnahmen des Staates gegenüber anderen Privaten, da eine Beeinträchtigung des grundrechtlichen Schutzgutes durch faktisches (nicht-rechtliches) Verhalten Privater kaum denkbar ist. 3 5 8 Wenn das Bundesverfassungsgericht der „Religions- und Gewissensfreiheit" (neben Art. 2 GG, Art. 6 II 1 GG und Art. 7 I V GG!) eine staatliche Pflicht zur Förderung und zum Schutz von Privatschulen entnimmt, 359 scheint zweifelhaft, ob dies einen konkretisierbaren individuellen Leistungsanspruch vermitteln soll oder nur als Aspekt objektiv-rechtlicher Strukturbestimmungen der Verfassung gemeint ist. 3 6 0 Ein Anspruch auf faktisches Handeln des Staates kann schließlich zwar mit dem Inhalt bestehen, daß eine staatliche Stelle ein vorheriges tatsächliches Handeln wieder rückgängig zu machen hat - etwa die Ausstattung eines Gerichtssaals mit einem Kreuz, wenn sich ein Prozeßbeteiligter auf seine Glaubens- und Gewissensfreiheit beruft; 361 solche (Folgen-) Beseitigungsansprüche sind jedoch nur sekundäre Konsequenzen, „Hilfsrechte", die den auf staatliches Unterlassen ausgerichteten abwehrrechtlichen Charakter des Grundrechts unberührt lassen. 362 Die leistungsrechtlichen Interpretationen der Gewissensfreiheit zielen demgegenüber auf normatives Handeln, normative Leistungen des Staates,363 und zwar auf die Bereitstellung rechtlicher Verhaltensalternativen im Falle von Gewissenskonflikten. Einen solchen Anspruch nahm im Jahre 1990 der,Runde Tisch* in seinen Entwurf für eine neue Verfassung der DDR auf 3 6 4 (Art. 11): „I. Die Freiheit des Gewissens ist gewährleistet. II. Widerstreitet das Gewissen staatsbürgerlichen oder bürgerlichen Pflichten, so muß der Bürger, wenn er diese Pflichten nicht erfüllen will, andere Leistungen anbieten und der Staat andere, gleichbelastende Pflichten eröffnen."

Die plakativ formulierte Kritik an dieser Fassung des Grundrechts, das Gewissen werde hier zum „Sozialhilfeempfänger des Staates" gemacht,365 sieht darüber hin358 s.o. I.3.,S. 105 f. 359 BVerfGE 75, 40 (62 f., 66 f.). 360 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 411 ff. 361 Vgl. BVerfGE 35, 366 (373 ff.). Dazu u. B.I.2.c)aa), S. 195. Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1037. Entsprechendes gilt nach der,herrschenden Interpretation* des sog. Kruzifix-Beschlusses (BVerfGE 93, 1 für die Entfernung von Kreuzen aus Klassenzimmern an staatlichen Schulen). Vgl. Stern, Staatsrecht, Bnd. III /1, 1988, S. 671; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 76. 363 Die können nur bei einem weiten Begriffsverständnis als staatliche „Leistungen" eingeordnet werden. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 180, 402 f. 364 DUR 1990, S. 216 ff. Vgl. für die Diskussion um eine Revision des Grundgesetzes nach 1990 den Vorschlag einer entsprechenden Erweiterung von Art. 4 III bei Guggenberger/ Ρreuß/UIlmann (Hrsg.), Eine Verfassung für Deutschland, 1991, S. 99 ff. (Entwurf des „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder"). 1*

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

weg, daß viele grundrechtliche Schutzgüter auf (normative!) staatliche »Hilfsleistungen4 angewiesen sind. In der Sache ist diese Kritik jedoch insoweit begründet, als sie auf eine wirkliche Schwäche der genannten Verfassungsnormen hinweist: Sie vermitteln den falschen Eindruck, den Konflikt zwischen Staat und Bürger im Konflikt von Gesetz und Gewissen aufheben zu können. 366 Dieser Eindruck beruht aber nur in zweiter Linie auf der leistungsrechtlichen Formulierung; in erster Linie beruht er auf der Unvollständigkeit der Regelungen, die - genau wie Art. 4 I GG und inhaltlich entsprechende Regelungen anderer Bundesländer - keine Schranke der grundrechtlichen Gewährleistung enthalten. Da Grundrechtstatbestände, auch leistungsrechtliche, als Optimierungsgebote ihr Maß nicht in sich selbst tragen, führt eine unbegrenzte Gewährleistung zu sozial nicht tragbaren Ergebnissen. Sie stellt jede Rechtspflicht zur Disposition des Bürgers, 367 jede an sich bestehende und potentiell auch jede aufgrund des Grundrechts gewährte Alternative rpflichtung, so daß der Staat in einen „progressus in infinitum 44 gezwungen werden könnte. 368 Als Beispiel mag der Bereich der Wehrpflicht dienen: Der Verfassungsgeber »leistet4 als alternative Rechtsverpflichtung die Möglichkeit zum zivilen Ersatzdienst (Art. 12a GG); der Gesetzgeber reagiert auf Verweigerungen des Ersatzdienstes, indem er die Möglichkeit eröffnet, sich im Falle von Gewissensgründen durch freiwillige Übernahme eines zweieinhalbjährigen Arbeitsverhältnisses im Pflegebereich von der Ersatzdienstpflicht zu befreien (§ 15a ZDG); 3 6 9 die damit vor allem angesprochenen Zeugen Jehovas können sich aber u. U. an der Übernahme eines solchen Arbeitsverhältnisses - wie die sog. ,Gesundbeter-Fälle t370 zeigen - wiederum aus Gewissensgründen gehindert sehen. Die Verfassung des Landes Brandenburg von 1992 ist in ihrem Art. 13 IV daher in mehrfacher Hinsicht zurückhaltender: Wenn der Bürger staatsbürgerliche Pflichten aus Gewissensgründen nicht erfüllen „kann", dann „soll das Land44 rechtliche Alternativen eröffnen, allerdings nur „im Rahmen des Möglichen"? 11 Diese For365 Ladeur, Verfassungsgebung als Katharsis, in: Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.); Die Verfassungsgebung im Jahr der deutschen Einheit, 1991, S. 376 ff. (381 f.). Schief - im Sinne von sozialstaatlichen Teilhaberechten - auch Huba, Theorie der Verfassungskritik. Am Beispiel der Verfassungsdiskussion anläßlich der Wiedervereinigung, 1996, S. 172 ff. (175): „Der Staat schafft durch sein Angebot an Alternativen die sozialen (?) Voraussetzungen tatsächlicher (?) Gewissensfreiheit." 366 Ebd., Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 483 mit FN 5. 367 Der Verfassungsentwurf verstärkt den Eindruck einer grenzenlosen Grundrechtsgewährleistung zusätzlich dadurch, daß er das voluntative Moment des Gewissens („wenn er diese Pflichten nicht erfüllen will") betont. 368 Isensee, Gewissen im Recht, S. 58. Vgl. zu grundrechtlichen Leistungsansprüchen im allgemeinen E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, S. 174. 369 Vgl. dazu etwa Nestler-Tremel, Zivildienstverweigerung, S. 345 ff. 370 Etwa BVerfGE 32, 98 ff.; OLG Hamm, NJW 1968, S. 212 f. 371 Diese Pflicht besteht nach Satz 2 der Vorschrift nicht für die Verweigerung von Abgaben. Zur Interpretation von Art. 13 IV 1 als bloße „Sollvorschrift" Sachs, Die Grundrechte der brandenburgischen Landesverfassung, in: H. Simon/D. Franke /Sachs (Hrsg.), Handbuch

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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mulierungen lassen wieder Zweifel aufkommen, ob hier ein grundrechtlicher Individualanspruch normiert werden soll oder lediglich eine - allerdings an die gesamte Landesstaatsgewalt adressierte - Staatsaufgabe. 372 Mit dem Vorbehalt des Möglichen entspricht Art. 13 IV der brandenburgischen Verfassung im wesentlichen den leistungsrechtlichen Interpretationen von Art. 4 I GG, die wohl für die beiden hier vorgestellten Verfassungsneuregelungen Pate gestanden haben. Ansätze dieser Interpretationen von Art. 4 I GG finden sich bereits bei Luhmann (1965). 373 Sie wurden dann von Podlech (1969) dogmatisch entfaltet 374 und von Freihalter (1973) explizit unter dem Gesichtspunkt des „Leistungsrechts" weiterentwickelt. 375 Allen leistungsrechtlichen Interpretationen von Art. 4 I GG ist gemeinsam, daß sie zur Tatbestandsvoraussetzung eines Leistungsanspruchs machen, daß alternative Verhaltenspflichten für die Rechtsgemeinschaft „tragbar" oder „zumutbar" sind. 376 Der Vorwurf, den Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen zu kaschieren, trifft sie daher nur in sehr abgeschwächter Weise, nur insofern, als sie die notwendige wertende Abwägung zwischen den Belangen des einzelnen und des Gemeinwesens in den Grundrechtstatbestand integrieren. 377 Da die leistungsrechtliche Interpretation für die entscheidende Abwägung keine neuen Kriterien benennen kann, 378 stellt sich damit aber auch die Frage nach dem eigenständigen Wert dieses Interpretationsansatzes. der Verfassung des Landes Brandenburg, 1994, § 5, Rdn. 33. Sachs weist auch darauf hin, daß Art. 13 IV 1 die allgemeine Gewährung von Gewissensfreiheit in Art. 13 I dahingehend konkretisiert, daß die Nicht-Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten „offenbar als grundsätzlich von der Gewissensfreiheit umfaßt" anzusehen ist. Das ergibt sich auch schon aus der - die Entwicklungen in Rechtsprechung und Literatur zu Art. 4 GG rezipierenden - weiteren Fassung des Art. 13 I selbst: „Die Freiheit des Gewissens, des Glaubens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich; ihre ungestörte Ausübung wird gewährleistet." (Art. 4 GG schützt dagegen seinem Wortlaut nach das über das Bekenntnis hinausgehende In-die-Tat-Setzen von Überzeugungen nur in der „ungestörten Religionsausübung" - Art. 4 II GG.) 372 Der 2. Hauptteil der Verfassung (Art. 5 ff.) ist überschrieben: „Grundrechte und Staatsziele". Zu den Schwierigkeiten einer Abgrenzung in bezug auf die einzelne Verfassungsnorm vgl. Sachs, Grundrechte, Rdn. 1 ff., 5, 12; Starck, Die Verfassungen der neuen deutschen Länder, 1994, S. 55 ff.; umfassend Peter Chr. Fischer, Staatszielbestimmungen in den Verfassungen der neuen Bundesländer (Diss.), 1994. 373

Gewissensfreiheit, S. 273. Das Grundrecht, S. 35 ff. 37 5 Gewissensfreiheit, S. 198 ff., 216, 219 f. 3 ™ Podlech, Das Grundrecht, S. 35, 37 f.; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 201, 219 f. Vgl. auch die Rezeptionen des Alternativenmodells bei Bäumlin, Das Grundrecht, S. 21 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 148, 17. 374

377

Podlech, Das Grundrecht, S. 35, scheint allerdings gerade darin den Vorteil einer leistungsrechtlichen Umformulierung des Grundrechts zu sehen. Sie vermeide einen Widerspruch zur fehlenden Schrankenklausel in Art. 4 GG. Zu diesem Aspekt des Art. 13 IV der brandenburgischen Verfassung vgl. Sachs, Grundrechte, Rdn. 33.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

In Relation auf eine zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende Rechtslage fordert die Befreiung des Bürgers von einer gewissenswidrigen rechtlichen Verhaltenspflicht zwar ein positives Tätigwerden des Staates (des Gesetzgebers oder des Gesetzesanwenders); dabei macht der Staat jedoch - den „Hilfsrechten" der Folgenbeseitigung insofern vergleichbar - nur vorangegangene Normierungstätigkeit rückgängig; und zwar unabhängig davon, ob er dies durch die generelle Aufhebung bestehender Verhaltenspflichten tut, durch die Ergänzung von bloßen Dispensklauseln (mit oder ohne ausdrückliche Bezugnahme auf das „Gewissen"), durch alternative Verhaltenspflichten oder durch Dispensierung im Einzelfall. Geht es um die Normierung neuer Verhaltenspflichten des Bürgers, besteht ebenso keine verfassungsrechtliche Pflicht des Gesetzgebers, eine Verletzung der Gewissensfreiheit gerade durch die Einfügung von rechtlichen Verhaltensalternativen zu vermeiden. 379 Aiternativbelastungen des Bürgers fordert nicht Art. 4 GG (gleichgültig wie man das von ihm geschützte Rechtsgut im einzelnen definiert), sondern Art. 3 I GG. 3 8 0 Aiternativbegünstigungen, etwa ein Ersatzangebot für den aus Gewissensgründen abgelehnten Religionsunterricht, fordert ebenso nicht Art. 4 GG, sondern allenfalls Art. 7 IV GG, Art. 12 GG oder ein anderes sachlich einschlägiges Grundrecht mit leistungsrechtlichem Inhalt. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit fordert eigentlich nur ein Nicht-Tun des Staates, Vermeidung oder Abschwächung des Konflikts zwischen dem Gewissen und dem staatlicher Verfügung unterliegenden Recht. 381 Die Formulierung der Gewissensfreiheit als Leistungsrecht hat somit zwar den Vorteil, daß sie den Appell zur Zurückhaltung an den Gesetzgeber 382 verstärkt und 378 Deutlich auch bei Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 219 f. 379 Zu einer vergleichbaren Fragestellung vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 435 f.: Der Zeitpunkt staatlicher Normsetzungstätigkeit ist nicht ausschlaggebend für die Frage, ob sich ein grundrechtlicher Anspruch primär auf gesetzgeberisches Tun oder Unterlassen richtet. 380 Vgl. ο. 1.2., S. 101 ff. m.w.N. 381 In letzter Konsequenz zeigt sich dies in dem rechtlich wohl umfassendsten Begehren, das der Bürger auf den Schutzbereich der Gewissensfreiheit stützen kann: Die Entlassung (§§ 18, 26 RuStAG) aus der Staatsangehörigkeit in die Staatenlosigkeit, da sein Gewissen ihm verbiete, sich jeglicher staatlicher Gewalt zu unterwerfen. Auch hier geht es bloß darum, den vom Staat begründeten umfassendsten rechtlichen Status der Person aufzuheben (rückgängig zu machen). Vgl. dazu und zu den hier eingreifenden Schranken des Art. 4 I GG OVG Münster, Beschl. v. 13. 9. 1982, ZevKR 1983, S. 93 ff. (95 f.) (= NJW 1983, S. 2599 f.). Vgl. auch Η. v. Mangoldt, Die deutsche Staatsangehörigkeit als Voraussetzung und Gegenstand der Grundrechte, in: HStR, Bnd. V, § 119, Rdn. 122, der allerdings Art. 4 I GG schon für tatbestandlich nicht einschlägig hält, weil der gerade kein Leistungsrecht, sondern nur einen status negativus begründe. Insofern widersprüchlich zur Frage, ob der Schutzbereich von Art. 4 I GG betroffen ist, Deibel, Deutsche Staatsangehörigkeit und Grundrechte, DÖV 1984, S. 322 ff. (324, 326 f.). 382 S. ο. I.2., S. 100 ff.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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eine Möglichkeit zu seiner praktischen Umsetzung konkretisiert; dafür hat sie aber den Nachteil, bei der Gesetzesanwendung notwendige Abwägungen nicht so klar nach Grundrechtsgewährleistung und Grundrechtsschranke gliedern und transparent machen zu können. Im wesentlichen kann die Formulierung als Leistungsrecht dem Grundrecht seinen abwehrrechtlichen Charakter nicht nehmen und ihm kein wirklich neues Profil verleihen.

4. Gewissensfreiheit als staatsbürgerliches „Amt" und demokratisches Teilhaberecht („demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie") Der Bezug zwischen Demokratie auf der einen Seite und Gewissensfreiheit als „metajuristischem Prinzip" oder objektiv-rechtlichem Verfassungsgrundsatz auf der anderen Seite wird seit längerem thematisiert und ist weithin anerkannt: 383 Demokratie als Organisationsform der Freien und Gleichen bedarf der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, der normativen Autonomie und Kompetenz der Gesellschaft sowie - jedenfalls in den Grundzügen - der Akzeptanz des staatlichen Rechts durch die Gesellschaft - in letzter Konsequenz durch den Bürger und sein Gewissen.384 Gewissensfreiheit, verstanden als liberales Abwehrrecht der Bürger, gewährleistet so wie andere Grundrechte (!) eine „Vorbedingung personaler Existenz, nicht nur im privaten Winkel, sondern auch im staatlich-politischen Bereich" und ist so mitbestimmend für verfassungsrechtliche Strukturen. 385 Die Frage ist aber, ob umgekehrt das Demokratieprinzip des Grundgesetzes mitbestimmend sein kann für die Auslegung und Anwendung des Grundrechts der Gewissensfreiheit als eines subjektiven Rechts des Bürgers im konkreten Konfliktfall zwischen Gesetz und Gewissen.386 Einen insofern rechtlich relevanten Bezug kann man in mehrfacher Hinsicht annehmen: Erstens bedürfen Demokratie und Mehrheitsprinzip zu ihrer Legitimation der Toleranz gegenüber Minderheiten; 387 zweitens sichert sich die Demokratie die Mitarbeit und Mitverantwortung einer Mehrheit von Staatsbürgern, indem sie Ge-

383 Vgl. o. 1.1.a), S. 92 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 71 ff. Kritisch dazu Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit, Der Staat 25 (1986), S. 251 ff. (259 ff.). Kritisch zu diesen Bezügen insgesamt Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 163, 185 ff., 248 ff., 260 ff. Vgl. auch Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 147. 384 Vgl. von den Nachweisen oben (1.1.a) und b), S. 92 ff.) Ryjfel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, S. 326, 329, 331, 334 f. Vgl. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit, S. 257 ff. 385 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 8. 386 Vgl. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit, S. 261. 387 Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 49 f.; ders., Staatsrecht, 15. Aufl. 1995, § 31 II, S. 259 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

wissensfreiheit und damit Verantwortungsbewußtsein und Verantwortungsbereitschaft der Bürger anerkennt; 388 drittens kann der „Gewissensdiskurs" als Teil des in den demokratischen Willensbildungsprozeß hineinreichenden „moralischen Diskurses" begriffen werden, der aber diesen politischen Diskurs - und damit auch die politischen Teilnahmerechte - insofern ergänzt, als er auf „Fehlentwicklungen und moralische Defizite im Recht" sowie nicht verarbeitete Spannungen im politischen System aufmerksam macht. 389 Diese Funktionen des Grundrechts (seine „aktivbürgerliche Komponente") werden freilich oft als eine unter mehreren ausdrücklich relativiert; 390 ihren praktischen Niederschlag finden sie innerhalb des abwehrrechtlichen Dispensmodells vor allem auf der Schrankenebene, wo sie bei Abwägungen zugunsten der Gewissensfreiheit ins Gewicht fallen, deren „Stellenwert" mitbestimmen. 391 Nichtsdestotrotz kann man die Zielrichtung des Grundrechts weiterhin darin sehen, dem Bürger zu ermöglichen, „seine Eingliederung in die Wirkungseinheit des Staates partiell zu verweigern", sich „durch Passivität auszuschließen". 392 Diese Sicht der Gewissensfreiheit als Rückzugsrecht des Bürgers wird erst dann ausgeschlossen, wenn man die traditionellen abwehrrechtlichen Bezüge, die vorstaatlichen Fundierungszusammenhänge der Gewissensfreiheit, vollständig löst und Gewissensfreiheit - nach dem Muster des Jellinek'schen status activus 393 ganz in den Dienst des politischen Gemeinwesens stellt. In diesem Sinne hat Ekkertz versucht, das spezielle Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG; ausdrücklich nicht Art. 4 I GG!), gestützt auf den besonderen Willen des historischen Verfassungsgesetzgebers, als vom Grundgesetz übertragenes staatsbürgerliches „Amt" neuzubestimmen, das dem einzelnen Verweigerer die Möglichkeit verschafft, sein Denken und Handeln, v. a. vor dem Forum eines staatlichen Prüfungsverfahrens, als exemplarisches darzustellen und für seine Position argumentativ zu werben. 394 In einer Generalisierung und Radikalisierung dieses Ansatzes versucht Tiedemann eine grundlegende Neukonzeption der nach seiner Auffassung durch die Sä388 Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 50 ff; Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 16 f.; Rudolphi, Die Bedeutung, S. 609; Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung, S. 123 ff. (126), 115 ff. 389 Franke, Gewissensfreiheit, S. 17 f., 44 f. Vgl. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 389. 390 Franke, Gewissensfreiheit, S. 13 f., 16, 18. 391 Rudolphi, Die Bedeutung, S. 615; Franke, Gewissensfreiheit, S. 13 f. 392 Ekk. Stein, Staatsrecht, 10. Aufl. 1986, § 21 IV, S. 202; ders., Gewissensfreiheit, S. 59. So auch A. Arndt, Das Gewissen, S. 2205, E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61. 393 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 260. 394 Die Kriegsdienstverweigerung, S. 279 f. ders., Die säkularisierte Gewissensfreiheit, S. 267 f. Das Eintreten für die Gewissensüberzeugung ist hier aber nicht Voraussetzung für den Grundrechtsschutz, sondern eine Art Verfassungserwartung (vgl. Die Kriegsdienstverweigerung, S. 115 ff.).

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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kularisierung von Staat und Recht obsolet gewordenen ursprünglichen „conscientia libera". 395 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) wird insgesamt zu einem „Institut", das die Infragestellung des Mehrheitswillens in der Demokratie „sichern und fördern" will; die Wahrnehmung des Grundrechts wird zur Ausübung eines von der Verfassung anvertrauten „öffentlichen Amtes". 396 Diese Neukonzeption weicht jedoch in zwei entscheidenden Punkten von Eckertz ' Ansatz zu Art. 4 ΠΙ GG ab: Zum einen nimmt Tiedemann das „öffentliche Amt" im juristischen Sinne wörtlich und statuiert so eine Verpflichtung des Dissidenten zur Wahrnehmung seiner grundrechtlichen Kompetenzen; Grundrechtsschutz in Form eines Dispenses vom Recht gewordenen Mehrheitswillen verdient nur, wer „unter Anwendung aller rechtsstaatlichen und demokratischen Mittel" aktiv eine Veränderung der Mehrheiten im Sinne seiner Gewissensüberzeugung anstrebt. 397 Zum anderen versteht Tiedemann den Gewissensdiskurs als einen „herrschaftsfreien Diskurs" 398 - und nimmt auch diesen Topos der diskurs- und konsenstheoretisch orientierten neueren Strömungen in der Moralphilosophie 399 beim Wort; der „herrschaftsfreie Diskurs" bleibt so nicht „regulative Idee" 4 0 0 für die staatliche Praxis, sondern wird zum Rechtsinstitut erklärt: Der Dispens von rechtlichen Verhaltenspflichten ist nicht, wie bei Eckertz, - mögliches - Ergebnis eines verfahrensrechtlich institutionalisierten Diskurses, sondern Voraussetzung des Diskurses: „Der Dispens, der nach Art. 4 I GG zu gewähren ist, schafft die Bedingungen zur Durchführung eines herrschaftsfreien Diskurses"; Art. 4 I GG vermittelt einen rechtlichen „Anspruch auf Herstellung einer herrschaftsfreien Diskurssituation." 401 Ein staatliches Prüfungsverfahren zur Feststellung von Gewissensgründen etwa erscheint selbst schon als „ein Akt sublimer Zensur", denn „zum herrschaftsfreien Diskurs gehört auch die herrschaftsfreie Bestimmung des Ortes und der Gelegenheit, wo er stattfinden soll." 4 0 2 395 Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 387, 396; ders., Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, 1991, Kap. 1, Rdn. 92. Vgl. bereits dens., Der Gewissensbegriff, S. 67. 396 Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 391; ders., Steuerverweigerung, Kap. 1, Rdn. 92. Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, Diss., Konstanz 1989, S. 111, 46 f. Ohne die im folgenden dargestellten rechtsdogmatischen Konsequenzen auch Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, S. 333, 334 f. 397 Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 391, 393. Vgl. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, 1987, S. 112 f. Dagegen Franke, Gewissensfreiheit, S. 18; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 9. 398 Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 392 f. 399 Vgl. Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, 1990, S. 15 ff., 270 ff., 306 ff. m.w.N. 400

Vgl. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 314 f.,

115. 401

ginal).

Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 392 f. (Hervorhebung nicht im Ori-

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Einwände gegen ein solches grundrechtliches Konzept liegen auf der Hand. Wer die Abwesenheit individueller rechtlicher Verpflichtung zur Voraussetzung eines „herrschaftsfreien Diskurses" erklärt und diesen nicht nur im Stadium des demokratischen Willensbildungs- und Rechtssetzungsprozesses, sondern gleichermaßen im darauf folgenden Stadium der Rechtsanwendung gewährleistet wissen will, der negiert letztlich auch jegliche ,Herrschaft des Rechts4, die - auch von Vertretern der Diskursethik betonte - 4 0 3 notwendige diskurslimitierende und diskursentscheidende (nicht diskursbeendende) Funktion des Rechts. Die passive Rolle des Bürgers als Rechtsunterworfener wird durch seine aktive Rolle als freies Subjekt staatlicher Handlungsprozesse praktisch neutralisiert. Tiedemann bezieht eine recht einsame Position, die ausnahmsweise dem - häufig mißbrauchten - »Anarchie-Argument 4 wirkliche Angriffsfläche bietet. 404 Das liegt vor allem daran, daß offenbar bei politisch ausgetragenen ethischen Dissensen innerhalb der Gesellschaft allein die aktive Diskursbeteiligung den Grundrechtsschutz auslösen s o l l 4 0 5 Damit würde die Gewissensfreiheit tatsächlich zum „Supergrundrecht der Meinungsbetätigungsfreiheit", das eine grundsätzliche Aufgabe der Loyalitätsansprüche des Rechts bedeutete;406 der Bürger könnte sich selbst dispensieren bzw. Dispens durch politische Aktivität,erkaufen 4 , 407 er bekäme freie Verfügungsmacht über das Maß seiner rechtlichen Bindung. Mit solcher Verfügungsmacht ausgestattet erscheint der Bürger im status conscientiae konsequenterweise als staatliche Instanz, die nicht nur dem Bereich der die persönliche Freiheit sichernden Grundrechte, sondern auch dem Bereich der Staatsorganisation zuzuordnen ist. 4 0 8 Die organschaftliche Rolle des Bürgers erscheint als „Facette im Spektrum der Gewaltenteilung44; sie ist „vergleichbar mit der von unabhängigen, mit besonderen Privilegien ausgestatteten Kontrollorganen44; die Stellung des Bürgers wird vergleichbar mit „den staatlichen Rechnungs-

402 Ebd. 403 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 1992, S. 565 ff. (insbes. 567 f.); Zur Unterscheidung von Rechtssetzung („Normbegründung") und Rechtsanwendung („Normanwendung) vgl. ebd. u. a. S. 563 f., 597 ff. 404 Zu Recht daher insoweit die Kritik bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 186. Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 378, 390 geht dagegen davon aus, Art. 4 I bedeute eine bewußte Inkaufnahme des Risikos der Anarchie. Zum .Anarchie-Argument* vgl. u. B.I.2.c)bb)aaa), S. 211 f. 405 Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 389. Vgl. ebd., S. 386, 372. Vgl. dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 185 mit FN 34. 406 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 164, 186. Ein grundlegendes Mißverständnis der Verfassung offenbart insofern Min, Gewissensfreiheit, S. 106, 111 mit der Annahme eines allgemeinen „Vorrangs der Legitimität vor bloßer Legalität". 407 Bezeichnenderweise spricht Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 393 vom durch öffentliches Engagement gerechtfertigten „Privileg des Pflichtendispenses". 408 So Tiedemann, Steuerverweigerung, Kap. 1, Rdn. 97.

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höfen, den Verfassungsgerichten und überhaupt den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten". 409 Zwar ist in der Demokratie des Grundgesetzes eine strikte Trennung zwischen »organschaftlichem 4 und grundrechtlich geschütztem Handeln des Bürgers überwunden; 410 vor allem den politischen Teilhaberrechten und den speziellen Kommunikationsgrundrechten (in erster Linie Art. 5 I GG und Art. 8 I GG) sowie der auf sie gegründeten kritischen Öffentlichkeit muß man eine Kontroll- und Korrekturfunktion gegenüber allem staatlichen Handeln zusprechen; 411 diese Rechte können den einzelnen Bürger aber nicht in die Lage versetzen, (auch insoweit einem Verfassungsgericht vergleichbar !) Ergebnisse des demokratischen Willensbildungs- und Rechtssetzungsprozesses eigenständig außer Kraft zu setzen - und sei es auch nur für die eigene Person. Ähnlich wie in der sozialen Funktionalisierung des Grundrechts durch Luhmann wird bei einem ausschließlich demokratietheoretisch ausgerichteten Interpretationsansatz das eigentliche Subjekt der grundrechtlichen Gewährleistung ausgetauscht. 412 Das Grundrecht steht im Dienst der Gesellschaft, nur daß dieser Dienst nicht, wie bei Luhmann, in einer Stabilisierung des sozialen Systems durch Absorption des unruhestiftenden Gewissens besteht, sondern in einer heilsamen, die Identität des Gemeinwesens sichernden Unruhestiftung durch die Gewissen von Minderheiten. Dadurch wird der Konflikt zwischen Gesetz und Gewissen, auf den das Grundrecht zielt, 4 1 3 nicht mehr als solcher ernstgenommen. Das gewissensbestimmte Handeln von Minderheiten wird weitgehend unterschiedslos als förderutigsv/ürdig bewertet. 414 Das verkennt aber zumindest die ursprünglichen und fortbestehenden Bezüge und tatbestandlichen Überschneidungen zwischen Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit sowie die fortdauernde Bedeutung beider für den Schutz von (vor allem religiösen) Minderheiten, auch solchen mit extremen Weltbildern, die im praktischen Lebensvollzug toleriert werden können, aber nicht im Dienst des Gemeinwesens aktiviert werden sollen. 415 Die einzige tatbestandliche Eingrenzung der Förderung von Gewissenswiderspruch, die das ausschließlich demokratietheoretisch orientierte Grundrechtsmo409 Ebd. 410

Grundsätzlich kritisch dazu Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 190 ff., 248. 4" Vgl. BVerfGE 7, 198 (208 f.); 12, 113 (125) usf.; Ridder, Meinungsfreiheit, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bnd. II 1954, S. 243 ff. (249 ff.); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 290 ff. 412

S. o. A.II.2.c)aa), S. 117 ff. Zur Kritik an diesem generellen Zug der „demokratischfunktionalen Grundrechtstheorie" vgl. E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie, S. 134 f. m.w.N. 4 13 Vgl. A.I.2., S. 100. 414 Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 391. 415 Bopp, Der Gewissenstäter, S. 232; Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit, S. 266 f. Vgl. ebd., S. 252 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 164.

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dell vornimmt, ist die Eingrenzung des Grundrechtsschutzes auf solche Gewissensüberzeugungen, die Ausdruck einer universalistischen und rationalistischen Moral sind. 416 Diese Eingrenzung reicht aber einerseits nicht aus, um der aktiven Gewissensbetätigung radikaler Minderheiten, die eine echte Gefahr für die normative Ordnung des Gemeinwesens darstellen, wirksam die notwendigen rechtlichen Grenzen zu setzen;417 andererseits geht sie insofern zu weit, als sie Toleranz gegenüber Minderheiten ohne universalistischen und politischen Anspruch aus dem grundrechtlichen Schutzbereich ausgrenzt. 418 Der Grundrechtsträger als Person gerät bei einer solchen demokratietheoretischen „Vergesellschaftung" des Grundrechts völlig aus dem Blickfeld. 419 Ihr geht es nicht mehr um Selbstverantwortung und normative Selbstbestimmung des eigenen Handelns, sondern allein um gesellschaftliche Mitverantwortung und Mitbestimmung. Die Verabsolutierung der „politischen Dimension" 420 des Grundrechts beläßt dem Handeln des Menschen nicht seine eigenständige und individuelle Bedeutung als existentielle Form menschlichen Daseins, sondern reduziert Gewissen und Gewissensbetätigung auf ihren kommunikativen Aspekt: „Gewissen ist, sofern es sich sprachlich oder im Moment der Verweigerung äußert" - und nur insofern genießt es grundrechtlichen Schutz - „etwas prinzipiell Öffentliches". 421 Das Grundrecht zielt nicht auf das Handeln des einzelnen, sondern auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung und Wirkung des Handelns, es schützt vor allem „Aktionsformen symbolischer A r t " . 4 2 2 416 Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 395, 390; Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 112 ff. Das liberal-abwehrrechtliche Konzept mit seinem Verbot einer inhaltlichen Bewertung von Gewissensentscheidungen lehnt Rühl (ebd. S. 252) ausdrücklich als „formalistischen Gewissensbegriff 4 ab. 417 Tiedemann, Steuerverweigerung, Kap. 1, Rdn. 66 f., 73, 92; ders., Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 391 anerkennt als („grundrechtsimmanente") Schranke nur verfassungsrechtliche Rechte Dritter. 418 Daß rational und diskursiv vermittelte moralische Universalitätsansprüche Ausdruck einer ethisch „höheren historischen Entwicklungsstufe" sind (Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 114), mag eine zutreffende Wertung sein, darf aber nicht als Wertentscheidung der Verfassung allgemein vorausgesetzt werden (vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 158 ff. (163 f.), 247 ff.). Das ,Menschenbild' der Verfassung muß soweit offen sein, daß es den Menschen als selbstbezogenes (selbstverantwortliches) und gruppenbezogenes (gruppenverantwortliches) Wesen ebenso gelten läßt wie in seinen gesamtgesellschaftlichen und heute auch globalen Beziehungen und Verantwortlichkeiten und dem einzelnen selbst die Bestimmung des Rangverhältnisses zwischen diesen Verantwortlichkeitsebenen überläßt. 419 Für Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 392 ist der Individualschutz zwar auch eine „Seite derselben Medaille"; für das praktische Grundrechtsverständnis ist aber allein der „gesellschaftliche Blickwinkel" ausschlaggebend. 4

20 Min, Gewissensfreiheit, S. 109 ff.

421 422

Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 112. Ebd., S. 417,415.

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Darin gibt sich ein zentrales Anliegen und zugleich der zeitgeschichtliche Hintergrund der demokratietheoretischen Funktionalisierung der Gewissensfreiheit zu erkennen. Angestoßen wohl durch die Verschärfung der rüstungspolitischen Debatte in den ,80er Jahren 4 , 423 bezieht sie die Aktionsformen des zivilen Ungehorsams generell in den Schutzbereich des Art. 4 I GG ein 4 2 4 oder mißt ihnen darüber hinausgehend explikativen Modellcharakter für das Grundrecht zu. 4 2 5 Etwa die häufig betonte Ersatzfunktion des Art. 4 I für Defizite der politischen Willensbildung nach dem Mehrheitsprinzip 426 ist eine genaue Nachbildung der Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams in dem für die aktuelle Diskussion grundlegenden Konzept von „civil disobedience" bei Rawls 427 . Vereinzelt findet sich sogar der Versuch, analog zu der oft undifferenzierten Verbindung von „Gewissens -" und „Widerstands-" Argumenten in der politischen Diskussion, das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus einer gemeinsamen Funktion und wechselseitigen Beeinflussung mit dem Widerstandsrecht des Art. 20IV GG zu konkretisieren. 428 Solche Parallelisierungen finden jedoch nur eine sehr schmale Basis. Sie tragen allenfalls soweit, als sowohl in Art. 20 IV GG als auch in Art. 4 GG ein Moment davon steckt, daß der Staat zum einen die Möglichkeit eigenen Versagens einräumt 4 2 9 zum anderen gewissensgeleitetes Handeln in gewisser Weise anerkennt (und dabei voraussetzt, daß der Entschluß zum „Widerstand" eine Gewissensfrage ist. 4 3 0 )

423 Enders, Bürgerrecht auf Ungehorsam? Der Staat 25 (1986), S. 351 ff. (351). Vgl. etwa Min, Gewissensfreiheit, S. 1 f., 106 f. 424 Ebd., S. 109 ff.; Franke, Gewissensfreiheit, S. 45. 425 Vgl. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 415: Geschützt wird „auch und gerade44 appellhaftes Handeln im politischen Streit. 426 Vgl. Franke, Gewissensfreiheit, S. 17 f., 44 f. 427 Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), 1979, S. 420 ff., 409 ff., 392 ff. 428 Min, Gewissensfreiheit, S. 103 f. 429 Die Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG (vor allem auch des Art. 4 III GG) mit den Diskussionen im Parlamentarischen Rat um „Massenschlaf4 und „Massenverschleiß44 des Gewissens (vgl. Pari. Rat, Sitzung des Hauptausschusses v. 18. 1. 1949, S. 545 f.; Doemingl Füsslein/ Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR N.F., Bnd. 1, 1951, S. 77 f. zeigen deutlich, daß Glaubens- und Gewissensfreiheit in ihrer heutigen Gestalt als verfassungsrechtlich festgeschriebene historische Antwort auf das NS-Regime zu verstehen sind. Schon von daher sollte man darauf abhebende historische Argumente bei der Auslegung der Norm (vgl. etwa Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 386, 390) ernstnehmen und „inflationäre 44 konkrete Berufungen auf das Grundrecht nicht einfach als „Vergangenheitsbewältigungssyndrom44 (Isensee, Gewissen im Recht, S. 52) abtun. 430 Vgl. Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 29 ff. (33 f.). Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 81 spricht ,als Gegensatz zur „juristischen Ratio44, vom „politischen Gewissen44. Vgl. Dolzer, Der Widerstandsfall, in: HStR, Bnd. VII, § 171, Rdn. 17, 26; ausschließlich zum zivilen Ungehorsam Franke, Gewissensfreiheit, S. 41.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Die ethische Beurteilung als Gewissensfrage hilft jedoch nicht darüber hinweg, daß die beiden Normen in ihrer Funktion innerhalb des Rechtssystems ganz unvergleichbar sind. Unterstellt, daß Art. 20 IV GG innerhalb des rechtsstaatlichen Systems überhaupt einen praktischen Anwendungsbereich besitzt, 431 steht fest, daß Zielrichtung der Norm in erster Linie der Schutz der staatsrechtlichen Grundstrukturen der Bundesrepublik ist. 4 3 2 Es handelt sich um eine Staatsschutznorm, die auf einen Ausnahmezustand für das staatlich verfaßte Gemeinwesen zielt. 433 Wer vom Widerstands-Grundrecht Gebrauch machen will, hat nach Art. 20 IV GG das von ihm angegriffene staatliche Handeln allein am Maßstab der Verfassung zu beurteilen. Auf seine individuelle Betroffenheit und subjektive Motivation - d. h. vor allem: auf seine moralischen Überzeugungen - kommt es rechtlich ebensowenig an wie auf die konkreten Widerstandshandlungen. 434 Dem Grundrecht der Gewissensfreiheit geht es demgegenüber primär um eine Ausnahmesituation für das Individuum, nicht um die Sicherung der normativen Identität des staatlichen Gemeinwesens, sondern um den Schutz der normativen Identität des einzelnen Menschen (seiner idealiter eigenverantwortlich gestalteten »moralischen Konstitution4). Vom Grundrecht der Gewissensfreiheit soll der einzelne nicht im Sinne eines staatlich geförderten zielgerichteten Handlungsentschlusses ,Gebrauch' machen, sondern er soll,Zuflucht' zu ihm nehmen können, wenn er einen praktisch unauflösbaren Widerspruch ihn betreffender staatlicher Verhaltensnormierungen zu seinen eigenen moralischen Grundüberzeugungen erfährt. Dies unterscheidet das Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht nur vom sog. „großen Widerstand" des Art. 20IV GG, sondern im wesentlichen auch vom „kleinen Widerstand" nach den Konzepten des zivilen Ungehorsams, 435 der sich deshalb ebenfalls nicht als Paradigma der Grundrechtsinterpretation eignet, wiewohl sich eine trennscharfe Grenze zwischen Gewissensfreiheit und Widerstand auch 431 Vgl. Isensee, Widerstandsrecht, S. 8 f., 78 ff., 97 ff.; Arthur Kaufmann, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Widerstandsrecht, 1972, S. IXff. (X). (Dort ein Querschnitt aus den (älteren) theologischen und philosophischen Auffassungen zum Widerstandsrecht.) Vgl. Dolzer, Widerstandsfall, Rdn. 4 m.w.N. 432 Dolzer, Widerstandsfall, Rdn. 14, 16 f.; Isensee, Widerstandsrecht, S. 13 ff., 52. Das läßt sich nicht zuletzt aus der normgeschichtlichen Einbettung in die „Notstandsgesetzgebung" ablesen. 433 Vgl. ebd., S. 86 ff. Das gilt unabhängig davon, ob man, wie Isensee, den Eintritt des staatlichen Ausnahmezustands zur Tatbestandsvoraussetzung macht oder auch Rechtswirkungen für Handlungen im Vorfeld eines Umsturzes annimmt (vgl. Arthur Kaufmann, Widerstandsrecht, S. XIII f.). 434

Isensee, Widerstandsrecht, S. 57 f.; 61 ff. Zu dieser Differenzierung vgl. R. Dreier, Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, in: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1983, S. 54 ff.; Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 33 f. Zur Diskussion um den zivilen Ungehorsam in den 80er Jahren vgl. gegenüber dem genannten Sammelband von Peter Glotz den von Streithofen ebenfalls 1983 herausgegebenen Sammelband „Frieden im Lande". 435

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verfassungsrechtlich nicht ziehen läßt. 436 Der „kleine Widerstand" richtet sich nicht gegen eine konkrete Staatsordnung als ganze, sondern gegen einzelne staatliche Maßnahmen, die als ungerecht oder illegitim betrachtet werden; der zivile Ungehorsam wird gemeinhin verstanden als „öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politische gesetzwidrige Handlung" einer Minderheit, die an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit appellieren will. 4 3 7 Solche „kalkulierten Regelverletzungen" haben unter Umständen auch nur „symbolischen Charakter", konstitutiv ist allein der Appell an die Mehrheit und die handelnden staatlichen Organe, eine rechtskräftig getroffene Entscheidung zu revidieren. 438 Wie bei Art. 20 IV GG geht es also eigentlich um das Handeln der Staatsorgane und um den „öffentlich-politischen Zustand des Gemeinwesenszu dessen Sachwalter der einzelne sich macht. 439 Vor allem aber ist der Maßstab, an dem das staatliche Handeln gemessen wird, kein individueller: Ungehorsamsakte können zwar vom individuellen Gewissen motiviert sein, ihr Ziel ist es aber, das Gemeinwesen in Übereinstimmung mit den diesem selbst vorausliegenden Ordnungsgrundlagen zu bringen. 440 (Diese Ordnungsgrundlagen müssen zwar nicht, wie bei Art. 20 IV GG, in der Verfassung positiviert sein, werden aber doch regelmäßig in einer Verfassung wie dem Grundgesetz eine positivrechtliche Anknüpfung finden, ζ. B. das Recht auf Leben und Gesundheit (Art. 2 II GG) in der rüstungs- und umweltpolitischen Diskussion. 441 ) Der zivile Ungehorsam ist am (politischen) Erfolg orientiert, nicht an der ihn ermöglichenden Handlung. Er entspringt meist keinem moralischen Handlungsimperativ, der ein bestimmtes Tun vorschreibt, sondern lebt eher aus der Motivation, „etwas tun " zu müssen.442 Umfaßt werden sowohl Akte des „unmittelbaren" zivi436

Dazu sogleich. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 401. Zum engl. Originaltext („conscientious yet political") vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 193. Vgl. Laker, Ziviler Ungehorsam, 1986, S. 121 ff.; R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat? (1983) in: ders., Recht-Staat-Vernunft, 1991, S. 39 ff. (52 ff.). 437

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Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 33 f. Vgl. dens., Faktizität, S. 599; dens. Die neue Unübersichtlichkeit, 1985, S. 79 ff. 439 Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 34 f.: Appelle an das Gemeinwesen im Namen des Gemeinwesens. 440 Ebd.; Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 402, 406: gemeinsame öffentliche Gerechtigkeitsvorstellung, die der politischen Ordnung zugrundeliegt; Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 33 f.: „gemeinsame Legitimationsgrundlage der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung". Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 194. 441

Vgl. kritisch Kriele, Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands (1983), in: ders., Recht. Vernunft. Wirklichkeit, 1990, S. 409 ff. (insbes. S. 411 ff.) 442 Das schließt freilich nicht aus, daß dem Bürger im Einzelfall die Vornahme (meist Teilnahme an) einer solchen Aktion als einziges mögliches Mittel zur Erreichung eines Erfolges erscheint, zu dessen Herbeiführung er sich unbedingt moralisch verpflichtet fühlt, und daß so auch Akte des zivilen Ungehorsams in den Schutzbereich des Art. 4 I GG fallen können. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 197.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

len Ungehorsams (die Verletzung eines Gesetzes ist hier Protest gegen dieses Gesetz selbst) als auch Akte des „mittelbaren" zivilen Ungehorsams, der gegen andere staatliche Maßnahmen protestiert und die Rechtsverletzung so oft als austauschbares Mittel zum Zweck erscheinen läßt. 443 Welchen Bedeutungswandel die Gewissensfreiheit in der Lesart des zivilen Ungehorsams erfährt, wird deutlich, wenn man das Grundrecht mit Alexy 4 4 4 als Optimierungsgebot (Prinzip) beschreibt. Beschränkt man die „Infragestellung des Mehrheitswillens", die zu „fördern" nach Tiedemann Aufgabe des Art. 4 1 GG ist, 4 4 5 auf rein verbale Kommunikationsakte, so mag man dies auch als Optimierungsgebot verstanden vielleicht noch dem Ziel einer Optimierung der Diskurskultur zurechnen können. Rückt man ins Zentrum der grundrechtlich geschützten (Kommunikations-) Akte aber die symbolhaften Rechtsverletzungen des zivilen Ungehorsams (ζ. B. Sitzblockaden o.ä.), so kann man einer Rechtsordnung und einer Verfassungsrechtsnorm die Intention einer rechtlich gesteuerten Optimierung dessen wohl kaum unterstellen. 446 Das würde auch den Konzepten des zivilen Ungehorsams selbst nicht gerecht, da diese den staatsbürgerlich kalkulierten Rechtsbruch selbst als systemimmanenten Ausnahmefall und „Grenzfall" demokratischer Kultur betrachten. 447 Der zivile Ungehorsam will in besonderen Situationen ein kleines Stück vom Ausnahmefall in die staatliche Friedensordnung integrieren, ohne ihn zum Normalfall oder gar Idealfall erklären zu wollen. Allein ihrem Ausnahmecharakter verdanken die Aktionen des zivilen Ungehorsams auch ihre besondere appellative Wirkung. Ob es den »Aktivisten4 dabei gerade auf die provozierende Rechtswidrigkeit ihres Tuns ankommt - so der wohl überwiegende Teil der Theoretiker des zivilen Ungehorsams - , 4 4 8 ob sie diese nur in Kauf nehmen oder ob es 443 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 197; Kriele, Rechtfertigungsmodelle, S. 433 f. Zur Unterscheidung von mittelbarem und unmittelbarem zivilen Ungehorsam R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat?, S. 53 f.; Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 401 m.w.N. 444 Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. Zur Konkretisierung in bezug auf die Gewissensfreiheit vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 267 ff. 445 Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 391; ders., Steuerverweigerung, Kap. 1, Rdn. 92. 446

Ebensowenig kann es dem Grundrecht um eine Optimierung der - rechtlich nicht greifbaren - ethischen Qualität staatlichen Handelns zu tun sein. Habermas, Faktizität, S. 599. Besonders deutlich im Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der SPD („Irseer Entwurf 4) von 1986: „Wer sich aus Gewissensgründen zur Verletzung von Gesetzen entschließt, muß bereit sein, die gesetzlichen Folgen seines Tuns zu tragen. In dieser Bereitschaft, die unseren Respekt hat, erweist sich die Glaubwürdigkeit des zivilen Ungehorsams.44; (mit diesem Hinweis) Franke, Gewissensfreiheit, S. 42 f. So auch die EKD-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe 44, hrsg. v. Kirchenamt im Auftrag des Rates der EKD, 1985, S. 21 f. Dazu erneut Wolf gang Huber, Gerechtigkeit und Recht, 1996, S. 400 ff. (412 ff.). Vgl. Herdegen, 448

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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ihnen sogar um das bewußte öffentliche Aufsichnehmen von Sanktionen ankommt, hat keine ausschlaggebende Bedeutung. Die paradigmatische Verknüpfung von Gewissensfreiheit und zivilem Ungehorsam verkennt in jedem Fall, daß Art. 41 GG nicht die Förderung staatsbürgerlicher Aktivität und Konfliktbereitschaft im Sinn hat, keine ,Konfliktförderungsnorm 4 ist, sondern eine ,Konfliktvermeidungs-' und ,Konfliktlösungsnorm 4: Der Gesetzgeber soll durch Zurückhaltung Konflikte zwischen Gesetz und Gewissen möglichst weitgehend vermeiden; die Rechtsanwender sollen gleichwohl entstandene Konflikte möglichst (soweit es gegenläufige Belange des Rechtssystems erlauben) durch Dispensierung auflösen oder durch gewissensschonende Anwendung des Gesetzes abschwächen.449 Die Optimierung liegt dabei in einer Optimierung normativer Selbstbestimmung durch Konfliktminimierung. 450 Art. 4 I GG will durch einen bestehenden Konfliktfall konkretisiertes Verhalten möglichst rechtlich ermöglichen, nicht neue Konflikte, gezielte Rechtsverletzungen ermöglichen oder gar als politische Handlungsform generell fördern. Die Wirkungsweise des Grundrechts muß primär eine negativ-ausgrenzende bleiben. Ausschlaggebend dafür ist weniger der Umstand, daß der persönliche Schutzbereich nicht auf Staatsbürger beschränkt ist 4 5 1 - das ist er bei der auch vom Bundesverfassungsgericht »staatsbürgerlich4 interpretierten Meinungsfreiheit des Art. 5 I 1 GG ebensowenig - , als vor allem der fortbestehende enge ZusamGewissensfreiheit und Normativität, S. 195. Vgl. BVerfGE 73, 206 (248, 252) - Sitzblockaden; zum gesamten Fragenkreis Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 160 ff.; Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 402 f. m.w.N. auch zu abweichenden Auffassungen. Die Rechtsprechung und die rechtswissenschaftliche Literatur in Deutschland machen die Bereitschaft zum Tragen rechtlicher Folgen auch notwendig, da sie eine Legalisierung von Aktionen des zivilen Ungehorsams nicht nur für Art. 4 I GG, sondern auch für die Grundrechte der Art. 5 I 1 GG und Art. 8 I GG fast einhellig ablehnen. Abweichend für eng begrenzte Fälle R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat?, S. 59 ff. Relativierend ders., Rechtsgehorsam und Widerstandsrecht, in: FS R. Wassermann 1985, S. 299 ff. Vgl. Laker, Ziviler Ungehorsam, S. 304 ff. 449 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 269, der gegenüber dem Gesetz nur das in der gewissensschonenden Anwendung bestehende Wohlwollensgebot als Optimierungsgebot begreift. 450 Besonders hinzuweisen ist darauf, daß es sich insofern nicht um eine voraussetzungslose Optimierung normativer Selbstbestimmung handelt (die dem Geltungsanspruch der Rechtsordnung insgesamt entgegenliefe), sondern um die Optimierung normativer Selbstbestimmung im Falle eines tatbestandlich vorausgesetzten Konflikts zwischen Gesetz und unbedingt verpflichtendem moralischem Gebot. Dem Eingreifen von Art. 4 I GG als staatlichem Optimierungsgebot im konkreten (Konflikt-) Fall gehen also die einander korrespondierenden Konfliktvermeidungspflichten von Staat und Bürger voraus: Nur wenn ein Konflikt mit dem Gesetz für den Bürger nicht durch Änderung oder Umorganisation seines Verhaltens vermeidbar ist, greift das Optimierungsgebot der Gewissensfreiheit überhaupt ein. (Die Erhaltung der Gesundheit ζ. B. oder die Ermöglichung religiöser Entfaltung sind demgegenüber voraussetzungslose Optimierungsgebote, da sie von vornherein begrenzte, rechtlich umfaßte und objektivierbare Interessen zum Gegenstand haben.) 4 51 Η. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 497 f. Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 192 mit FN 20, S. 196.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

menhang zur Religionsfreiheit. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit kann vielleicht die mit den philosophischen und alltagssprachlichen Wandlungen des Gewissensbegriffs, aber auch mit Entwicklungen in der Theologie einhergegangene Säkularisierung und Subjektivierung der Moral rezipieren; es verschließt sich aber einer generellen und vollständigen Politisierung und staatlichen Indienstnahme. Ebensowenig wie zum Modellfall der Gewissensfreiheit eignet sich der zivile Ungehorsam aber auch zum Gegenmodell der Gewissensfreiheit. Daraus, daß der zivile Ungehorsam auf den „öffentlich-politischen Zustand des Gemeinwesens" zielt, ergeben sich keine Umkehrschlüsse für die Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit: Die Forderung nach Gewissensfreiheit zielt nicht notwendig nur auf das persönliche „Seelenheil" und ist nicht notwendig ohne „gesellschaftliche Ansprüche". 452 Das Grundrecht hat nicht den politischen Erfolg und nicht die gemeinschaftliche öffentliche Aktion im Blick, sondern das individuelle Handeln und seine Motive. Das heißt aber nicht, daß diese Motive und Ziele des Handelns niemals „politische" sein dürfen, 453 wie es auch nicht heißt, daß kommunikatives,454 gemeinschaftliches 455 oder öffentliches Handeln von vornherein dem Schutzbereich entzogen ist. Gerade das im christlichen Sinne religiös bestimmte Gewissen, das sicher im Zentrum der Intentionen des historischen Verfassungsgebers stand, erhebt auch Anspruch auf gesellschaftliche Mitverantwortung, läßt sich nicht in eine beziehungslose Privatheit und Selbstbezogenheit verbannen. 456 Daraus erklärt und 452

Vgl. dagegen die Gegenüberstellung bei Preuß, Politische Verantwortung, S. 34 f. So ist aber wohl H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 497 f., 501 zu verstehen. Sein Verweis auf BVerfGE 25, 44 (63) - Verstoß gegen KPD-Verbot - trägt nicht, da diese Entscheidung lediglich eine für das dort einschlägige Grundrecht der Weltanschauungsfreiheit tatbestandlich notwendige Abgrenzung zu „tagespolitischen" Auffassungen vornimmt. Vgl. Isensee, Gewissen im Recht, S. 55 ff. Vgl. LAG Kiel, U. v. 6. 1. 1983, NJW 1983, S. 1222 ff. (1223) („Das Gewissen und die Gewissensnot eines Menschen haben mit Politik nichts zu tun"). Dagegen BAG, U. v. 20. 12. 1984, E 47, 363 (376 f.). Wie hier auch v. Münch, Art. 4, in: ders., Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 4. Aufl. 1992, Rdn. 29, 26; Sachs, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, DVB1. 1995, S. 873 ff. (887) - „Bürgergewissen"; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 27; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 35. Vgl. o. Teil 1, D.H., S. 88 f. zur künstlichen Gegenüberstellung von Politik und Gewissen in bezug auf den Abgeordneten. 4 4 * BVerwGE 93, 323 (329 f., 333, 340); BVerwGE, U.v. 31.7. 1996, 2 WD 21 /96, NJW 1997, S. 536 ff. (539 f.) Vgl. Goerlich, Soldatische Pflichten, provokative Meinungsäußerungen und die Vereinigungsfreiheit der Soldaten, Jura 1993, S. 471 ff. (477). Insoweit auch H. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 494, 480, 482. Vgl. u. B.I.2.c)bb)bbb)/?), S. 217 ff. 4 « Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 158; Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 47 f. Insoweit auch H.H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 495. Vgl. u. B.I.2.c)bb)bbb)6), S. 221 f. 453

456 Vgl. etwa Kirchenamt der EKD (Hrsg.), „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, u. a. S. 22, 27; dass., (Hrsg.), Gewissensentscheidung und Rechtsordnung, 1997, S. 18

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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rechtfertigt sich auch das von den christlichen Kirchen beanspruchte politische „Wächteramt", 4 5 7 der vom Staat weitgehend (auch in Art. 4 GG) anerkannte und gewollte Anspruch - so ein übertragener Sprachgebrauch -: „Gewissen des Staates" zu s e i n . 4 5 8 Ein Verweigerungsverhalten, daß auch politische Ambitionen hat (etwa die sog. Rüstungs-Steuerverweigerung), oder ein Kommunikationsakt zu Fragen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung (etwa Äußerungen von Soldaten zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr) fallen nicht wegen ihrer „politischen" Qualität aus dem Schutzbereich des Grundrechts heraus. 4 5 9 Eine Antithese von Gewissen und Politik kann für Art. 4 I GG ebensowenig überzeugen wie die Versuche der Rechtsprechung, Gewissensgründe i m Sinne des Art. 4 Π Ι GG von bloß „situationsbedingter", „politischer" Kriegsdienstverweigerung zu unterscheiden. 460 Allerdings wird vor allem bei einem erfolgsorientierten aktiven rechtswidrigen Tun mit politischem Anspruch dem Grundrechtsträger in der Regel der Nachweis schwer fallen, daß er gerade zu diesem konkreten Tun (etwa zu einer konkreten Sitzblockade) moralisch unbedingt verpflichtet ist, also zumutbare rechtmäßige Handlungsformen nicht zur Verfügung stehen. Auch bei „politischen" Fragen zeigt sich in diesem Verständnis der „Unbedingtheit" nur der praktisch (nicht dogmatisch) weitergehende Schutz von Unterlassungen (Verweigerungen gesetzlicher Handlungspflichten) des Grundrechtsträgers: Wo der Staat als Mittel zur Verfolgung seiner Ziele ein Handeln des Bürgers gesetzlich vorschreibt, konkretisiert er dieses Handeln und die Möglichkeit von Konflikten und trägt - durch die potentielle Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 4 I GG - daher auch selbst ein relativ höheres Risiko der NichtDurchsetzbarkeit des Rechts; eine Unterlassung ist immer alternativlos und damit „unbedingt". Wo dagegen dem Bürger zur Verfolgung seiner Ziele mehrere Mittel zur Verfügung stehen und er diesen Handlungsspielraum trotz bestehender rechtmäßiger Handlungsmöglichkeiten in rechtswidriger Weise konkretisiert, kann er sich nicht auf die Kollisionsnorm der Gewissensfreiheit berufen und trägt das Risiko rechtlicher Sanktionen.461 (These 29); die Beiträge in Nickel/Sievering (Hrsg.), Gewissensentscheidung und demokratisches Handeln, 1984, insbes. S. 24 ff., 45 ff.; Pförtner, Politik und Gewissen - Gewissen und Politik, 1976. Zum Verhältnis von Gewissensentscheidung und politischer Entscheidung auch Honecker, Einführung in die Theologische Ethik, 1990, S. 142 f. Vgl. ebenso Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, 1993 S. 13 ff. („1. Der öffentliche Anspruch des Gewissens"); E.-W. Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche (1957), in: ders., Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, 1988, S. 21 ff. (31 ff.). 457 Schiaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: Handbuch des Staatskirchenrechts, Bnd. II, 2. Aufl. 1996, § 44, S. 131 ff. (157 f., 179 f., 171, 152); E.-W. Böckenförde, Staat-Gesellschaft-Kirche (1982), in: ders., Religionsfreiheit, 1990, S. 113 ff. (173 ff.) je m.w.N. Diese „Wächter"-Funktion beschränkt sich nicht auf eine Art Widerstandsrecht gegenüber einem totalitären Staat. Die „bildliche Rede vom Wächteramt" steht in der Philosophie der Stoa für das Gewissen des einzelnen Menschen. Kähler, Das Gewissen (1878), 1967, Erste Hälfte, S. 40. 458 Vgl. etwa Dellsperger/Fuchs/Gilg/Hafner/Stähelin, Kirche - Gewissen des Staates?, 1991 (dort v. a. S. 202 ff.). Freilich muß der ehrgeizige Anspruch, jemandes „Gewissen" zu sein, immer getragen sein von der Bereitschaft, selbst Gewissen zu haben (vgl. Isensee, Gewissen im Recht, S. 55 m.w.N.). 459

Vgl. auch Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 407 f., 415, 417; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 197; Morlok, Selbstverständnis, S. 446. ^ BVerfGE 12,45 (55 ff.) 11*

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Bei rein symbolischen aktiven Handlungen, deren tatsächlich angestrebter Erfolg nur in der ÖffentlichkeitsWirkung besteht, stehen dem Bürger in der Regel rechtmäßige Handlungsmittel offen; solche Handlungen sind dann nicht im Sinne des Art. 4 I GG moralisch „unbedingt" geboten. Zielt eine Aktion dagegen darauf, staatliche Realakte nicht nur anzuprangern, sondern tatsächlich zu verhindern (etwa das Anliefern und Aufstellen einer Atomrakete), so ist das in aller Regel nicht durch das bloße Bereiten von Hindernissen (Sitzblockade) möglich, sondern nur durch (weiterreichende) Gewalt, und fällt so wegen der tatbestandsimmanenten Grenze des Gewaltverbots nicht in den Schutzbereich von Art. 41 GG. 4 6 2 Hier zeigt sich der Unterschied etwa zu den Fällen einer Gewährung von Kirchenasyl,463 in denen der Grundrechtsträger durch aktives Tun u. a. staatliche Realakte (Abschiebungen) tatsächlich verhindern kann, ohne Gewalt anzuwenden. Stehen ihm hier praktisch nur rechtswidrige Handlungsmittel zur Verfügung, kann ein solches aktives Tun im Einzelfall als moralisch „unbedingt" verpflichtend zu werten sein und in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit fallen (und zwar auch hier trotz eventueller weiterreichender „politischer" Elemente der Motivation.)

Das Demokratieprinzip weist nach allem eine Reihe staatstheoretischer und objektiv-rechtlicher Verbindungen zur Gewissensfreiheit auf; Fundament und zentraler Orientierungspunkt für das Verständnis und eine konsistente dogmatische Umsetzung der Gewissensfreiheit als subjektive Grundrechtsgewährleistung kann es aber nicht sein. Die Schwierigkeiten einer grundrechtsdogmatischen Erfassung der Gewissensfreiheit sind damit zutagegetreten. Die Gewissensfreiheit besitzt in abstracto höchsten Rang als objektiv-rechtliches Prinzip und institutionelle Grundentscheidung der Verfassung; deren konkrete Umsetzungen sind aber großenteils nicht justitiabel. Viele subjektiv-abwehrrechtliche Konzeptionen der Gewissensfreiheit können schon auf die Frage nach dem eigentlichen Schutzgut des Grundrechts keine befriedigende Antwort geben oder greifen zu erheblichen Modifikationen des allgemeinen grundrechtsdogmatischen Rahmens. Leistungsrechtliche und demokratiefunktionale Interpretationsansätze bieten keine tragfähigen neuen Lösungsansätze für diese Schwierigkeiten. Die Gerichte sind dementsprechend unter der Geltung des Grundgesetzes durchgängig sehr zurückhaltend bei der praktischen Anwendung der Gewissensfreiheit vor allem in den Fällen nicht religös geprägter Berufungen auf das Gewissen. Die relativ weitreichendsten praktischen Konsequenzen hat das Grundrecht auf dem Gebiet des privaten Arbeitsrechts erlangt.

461 Das müssen nicht strafrechtliche Sanktionen sein. Wertet man ζ. B. Sitzblockaden nicht als „Gewalt" im Sinne von § 240 StGB (BVerfGE 92, 1 (12 ff.) m.w.N.), bleibt als Sanktion für den straßenverkehrsrechtlichen Gesetzesvorstoß etwa die Heranziehung für die Kosten des Polizeieinsatzes. 462 Dazu unten B.I.3.b), S. 253 ff. 463

Vgl. u. B.I.3.a)bb), S. 241. Vgl. auch Siegmund, Verfahrensrechtliche Aspekte des Kirchenasyls: Ziviler Ungehorsam, Art. 4 GG und die Ombudsfunktion der Kirche, 1997.

Α. Gewissensfreiheit als eigenständiges Grundrecht?

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In der rechts wissenschaftlichen Literatur seit 1949 lassen sich wechselnde Strömungen ausmachen. Für den Bereich des Privatrechts wird der Gewissensfreiheit als „sittlicher Handlungsfreiheit" schon in der ersten Zeit nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ein breites Anwendungsfeld zugewiesen: als Zumutbarkeitsgrenze bei der Erfüllung vertraglicher Rechtspflichten. 464 Im Bereich des Staatsrechts ist die Literatur dagegen zunächst um eine Eingrenzung des Grundrechtstatbestands bemüht, um eine Eingrenzung auf das sog. »forum internum' oder auf religiös geprägte oder inhaltlich sittlich richtige Gewissensentscheidungen.465 Diese Tendenz kehrt sich erst Ende der 60er Jahre um vor allem wohl mit der Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer von 1969. 466 Die u. a. auf Luhmann (1965) und Podlech (1968) zurückgreifenden Referate von Bäumlin und Böckenförde leiten ein in der Folge ganz überwiegendes säkulares und inhaltlich-sittlich neutrales Grundrechtsverständnis ein. Grund für die Ermöglichung (und neue Grenze) tatbestandlicher Ausweitungen der Gewissensfreiheit ist die Orientierung des Grundrechts auf die „Identität" des Grundrechtsträgers, die „Konstituierung und Dekonstituierung" seiner „Persönlichkeit". 4 6 7 Einen Höhepunkt finden die tatbestandlichen Ausweitungen der Gewissensfreiheit mit den dargestellten demokratiefunktionalen Interpretationen im zeitgeschichtlichen Umfeld der politischen Rüstungsdebatte der 80er Jahre. 468 Wohl nicht zuletzt als Reaktion darauf scheint sich diese Tendenz seit Ende der 80er Jahre wiederum umzukehren und die staatsrechtliche Literatur (Herdegen (1986, 1989) 469 , Bethge (1989), 470 Rupp (1991), 471 Kästner (1992), 472 Isensee (1993), 473 Muckel (1997) 474 ) primär um eine grundrechtsdogmatische Eingrenzung der Gewissensfreiheit bemüht. Soweit sie dabei - wie die meisten umfangreicheren Darstellungen seit den 70er Jahren - 4 7 5 ein empirisch-psychologisches Gewissensverständnis zugrundelegt, 464

Vgl. ebd. Zur unterschiedlichen Entwicklung im Bereich des privaten und des öffentlichen Rechts bereits Scholler, Die Freiheit, S. 126 f. 465 Vgl. die Darstellung bei Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 379 ff. Ausführliche inhaltliche Auseinandersetzung bei Podlech, Der Gewissensbegriff, S. 185 ff. 466 Vgl. zu dieser Entwicklung auch Η. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 479 f. w Bäumlin, Das Grundrecht, S. 18. Vgl. ο. Α.Π.4., S. 151 ff. 469 Gewissensfreiheit und Strafrecht (Anm. 200); Gewissensfreiheit und Normativität (Anm. 1). 4 ?o Gewissensfreiheit (Anm. 1). 471

Verfassungsprobleme (Anm. 159). Individuelle Gewissensbindung (Anm. 91). Vgl. dens., Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit? Über das Verhältnis der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zum Geltungsanspruch des allgemeinen Rechts, JZ 1998, S. 974 ff. 473 Gewissen im Recht (Anm. 21). 472

474

Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 154 ff., 253 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

mag sie ihrem pragmatischen Ziel, die Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung zu schützen, zwar auch auf diesem Wege genügen können; sie läuft aber Gefahr, darüber wesentliche Aspekte des Gewissensbegriffs und des Gewissensphänomens zu vernachlässigen oder gar praktisch auszuschalten. Das ist die zentrale Frage: Schließt es die Normativität des Rechts aus, den normativen Aspekt des Gewissensphänomens in Art. 4 I GG zu rezipieren? Wird der Legitimitätsanspruch der Rechtsordnung gegenüber dem moralischen Gewissensbefehl durch die grundrechtliche Anerkennung eines „echten Konkurrenzverhältnisses" entwertet? 476 Muß sich das positive Recht, um seine eigene Normativität zu sichern, „immunisieren" 477 gegen jeden (konkurrierenden) normativen Anspruch von außerhalb des Rechts?

B. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht Im folgenden soll kein grundlegend neues grundrechtsdogmatisches Konzept zur Gewissensfreiheit angestrebt werden. Ziel soll es vielmehr sein zu zeigen, daß der Gewissensbegriff als Rechtsbegriff, wie in allen übrigen positivrechtlichen Verwendungszusammenhängen,478 auch in Art. 4 I GG in seiner normativen Dimension ernstgenommen werden kann und sollte. Den dogmatischen Rahmen dafür wie für die notwendigen Grenzen liefert das liberale abwehrrechtliche Grundrechtsmodell. 479 Es ist auch in der Lage, verfahrensrechtliche prozeduale Funktionen der Gewissensfreiheit zur Entfaltung zu bringen; indem es dem grundlegend dialogischen Charakter und Anspruch des Rechts praktische Gestalt gibt, kann das Grundrecht der Gewissensfreiheit die Verpflichtungskraft des positiven Rechts nicht nur in Frage stellen, sondern auch bestärken. Wenn sich die praktischen Auswirkungen des Grundrechts damit heute weitenteils auf die Rechtsanwendungsverfahren selbst beschränken, so mag das die (bereits gegenüber vielen Interpretationen der Gewissensfreiheit geäußerten) Einwände provozieren, ein weit gefaßter Schutzbereich der Gewissensfreiheit führe zu nicht einzuhaltenden Versprechungen an den Bürger, 480 zu falschem Pathos,481 zu 475 47

Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 139. 6 So Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 313.

477

Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 279. Vgl. o. Teil 1,D., S. 35 ff. 479 Vgl. ο. A.II.2., S. 110 ff. 4 «o Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 31. 478

481

Kästner, Individuelle Gewissensbindung und normative Ordnung, ZevKR 37 (1992), S. 127 ff. (131, 136). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, GA 133 (1986),

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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einer nicht zu überbrückenden Kluft zwischen abstrakter Bedeutung, theoretischer Hochschätzung der Gewissensfreiheit und deren praktischer Geringschätzung und Folgenlosigkeit. 482 Jedoch sollte das aktuelle Gewicht prozeduraler Grundrechtswirkungen nicht unterschätzt werden und daneben vielleicht auch nicht die Möglichkeit einer Veränderung der aktuellen politischen und rechtlichen Verhältnisse der Bundesrepublik, die aufgrund ihres heutigen freiheitlichen Charakters dem Gewissen der meisten wenig echte Reibungspunkte bieten und so auch die Gefahr bergen, die Bedeutung - auch konkurrierender - außerrechtlicher Normativität zu übersehen. 483

I. Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit 1. Definitionskompetenz und Selbstverständnisse Die allgemeine grundrechtsdogmatische Frage nach der Definitionskompetenz für Grundrechtsbegriffe und der Berücksichtigung von Selbstverständnissen der Grundrechtsträger 484 stellt sich auch für die Gewissensfreiheit. Auch hier ist das Dilemma unvermeidlich, daß der Staat einerseits rechtsförmig nur schützen kann, was er auch rechtlich definieren kann 4 8 5 andererseits aber jede Definition von Grundrechtsbegriffen, die nicht allein dem Bürger anheimgestellt ist, notwendig bereits Ein- und Begrenzung von tatsächlicher Freiheit durch den Staat bedeutet. 486 Der Staat ist bereits in der Definitionsfrage zugleich Hüter der Grundrechte und Gefahr für sie. S. 97 ff. (97 f.); dens., Art. „Gewissensfreiheit", in: Listi/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, Bnd. I, 2. Aufl. 1994, S. 481 ff. (484). 482 Vgl. etwa W. Marx, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Rechtstheorie 6 (1975), S. 161 ff. (161). Vgl. etwa Bäumlin, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28 (1970), S. 3 ff. (26 f.); Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, in: FS Ule, 1987, S. 321 ff. (334). 484 Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 202 ff.; ders., Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 183 ff.; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte (Anm. 3); ders., Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche 20 (1986), S. 186 f.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: HStRV, § 115, Rdn. 117 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987; Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 386 ff. Eine Berücksichtigung von „Selbstverständnissen" findet sich erstmals im sog. „Lumpensammler"-Beschluß des BVerfG, E 24, 236 ff. (247 f.) für die (kollektive) „Religionsausübung" nach Art. 4 II GG. 4 «5 A. Arndt, Die Kunst im Recht, NJW 1966, S. 28; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, S. 35. 4 86 Vgl. C. Schmitt, Freiheitsrechte und institutionelle Garantien in der Reichs Verfassung, in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 1958, S. 140 ff. (167). E.-W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation (1974), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 115 ff. (120). Darauf Bezug nehmend zur Gewissensfreiheit

168

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Auch im Falle der Gewissensfreiheit verweisen einzelne Stimmen, die dieser Gefahr begegnen wollen - vor allem ein Sondervotum des Bundesverfassungsrichters M. Hirsch zu Art. 4 ΠΙ GG - auf das „Selbstverständnis" des Grundrechtsträgers, seine entsprechende „Definitionsmacht", die „das Maß der Gewissensfreiheit bestimmt". 487 Andere betonen dagegen auch für die Gewissensfreiheit eine ausschließliche Definitionskompetenz des Staates.488 Bei genauerer Betrachtung stehen sich hier jedoch keine scharfen Fronten gegenüber. Festzuhalten ist für alle Grundrechte, daß die Diskussion um „Definitionskompetenzen" für den Bürger bzw. „Definitionsverbote" für den Staat und um subjektivierende bzw. objektivierende Auslegung 489 rechtsdogmatisch oft ganz verschiedene Gegenstände hat: Nach heute wohl allgemeiner Auffassung unterliegt die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten einem Verbot staatlicher Bewertung. Der Staat darf den Grundrechtsschutz innerhalb des durch allgemeine Begriffe definierten Raumes nicht davon abhängig machen, daß er einzelne Erscheinungsformen der Grundrechtsausübung als mehr oder weniger „wertvoll" einstuft; er darf nicht nach „echter" oder „richtiger" „Kunst", „Religion" oder „Meinung" usf. differenzieren. Hier geht es nicht um ein „Definitionsverbot", sondern um ein „Differenzierungsverbot" für den Staat; 490 für den Bürger nicht um Kompetenzen zur Definition von Rechtsbegriffen, sondern um die Freiheit zum Denken, Reden und sonstigen Handeln. Ebenso eindeutig wie hier allein das subjektive Selbstverständnis des Bürgers regiert, stehen die (rechtsdogmatisch und sozial) von außen an die Grundrechtsausübung heranzutragenden Schranken grundrechtlicher Freiheit allein unter dem objektivierenden Definitions- und Entscheidungsregiment des Staa-

etwa: Bethge, Gewissensfreiheit, in: HStR VI, § 137, Rdn. 7 f.; Lisken, Gefährdungen der Gewissensfreiheit, in: FS M. Hirsch, 1981, S. 529 ff. (530). 487 Sondervotum M. Hirsch, BVerfGE 48, 185 ff. (188 f.). Vgl. Lisken, Gefährdungen, S. 530 f. Nicht eindeutig Franke, Gewissensfreiheit und Demokratie, AöR 114 (1989), S. 7 ff. (20 f.); Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 30. 488

Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 8; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, 1989, S. 208, 306 f.; Isensee, Gewissen im Recht, in: Höver /Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 41 ff. (48 f.); ders., Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 23 ff., 19; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 140. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, in: FS K. Doehring, 1989, S. 479 ff. (492). 489 Vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, u. a. S. 7 ff., 17, 36 m.w.N. 49 0 Ebd., S. 17 f.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen, Rdn. 118 f.; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 8; Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 492. Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 393 ff., 440 f. 491 Morlok, Selbstverständnis, S. 423 ff., 442. Daß es auf Schrankenebene noch auf die u.U. selbstverständnisabhängige - Intensität der Betroffenheit ankommt, ist keine echte Ausnahme davon (so Morlok, ebd., S. 442): hier wird lediglich das Schutzgut im Rahmen einer

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Fraglich scheint nur die Rolle des Grundrechtsträgers bei der Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs, der dem Bürger zur (prima facie) freien Ausübung oder Betätigung offensteht. (Von der Grundrechtsausübung selbst ist das natürlich nicht scharf zu trennen, denn allein die Entscheidung darüber, was „Kunst", „Wissenschaft" usf. im Grundrechtssinne ist, enthält eine gewisse Wertung darüber, wie „Kunst", „Wissenschaft" usf. aus Sicht der Rechtsordnung sein soll.) Hier stellt sich die Frage, ob die staatlichen Rechtsanwender eigenständig die Grundrechtsbegriffe definieren und so verallgemeinern können oder ob sie dabei das bürgerliche Selbstverständnis zur Bedeutung dieser Begriffe zu berücksichtigen oder gar als verbindlich zu akzeptieren haben. Mit der Beantwortung dieser Frage ist viel, aber noch nicht alles entschieden, da konkrete Rechtsfolgen noch unter dem Vorbehalt der - manchmal unterschätzten 492 - Grundrechtsschranken stehen, der Grundrechtstatbestand allein kein definitives, sondern nur ein prima facie Recht verleiht. 493 Schon deswegen geht es bei der Frage der Definitionskompetenz allenfalls um eine begrenzte „Kompetenz" und nicht um „Kompetenz-Kompetenz",494 die den Bürger zum alleinigen Richter in eigener Sache erheben würde. 495 Aber auch abgesehen von den Grundrechtsschranken ist oft bereits auf der Ebene des Schutzbereichs unklar, was mit einer Berücksichtigung von Selbstverständnissen genau gemeint ist. Das liegt vor allem daran, daß schon die Frage nach „Definitionskompetenzen" in doppelter Weise eine Radikalisierung des sachlichen Problems darstellt (der Begriff„Definitionskompetenz" ist wohl Antwort und Reaktion auf den, ebenso mißverständlichen, Begriff des „Definitionsverbots"; dazu sogleich): Zum einen geht es nicht um (staatsorganschaftliche) „Kompetenzen"; auch der untechnischere Begriff der „Definitionsmac/ii" ist nicht frei von der falschen Assoziation eigenmächtiger Rechtsanwendung durch den Bürger. Abwägung zur Geltung gebracht, deren Vornahme und Entscheidung ausschließlich in der „Kompetenz" staatlicher Rechtsanwender liegt. 492 Vgl. etwa Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, S. 30 f., der im folgenden daher davon ausgeht, daß die Maßgeblichkeit von Selbstverständnissen bereits über Rechtsfolgen entscheidet (vgl. etwa ebd. S. 36). 49 3 Zur Terminologie Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 71 ff. (87 ff., 90 ff.). Ähnlich Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR, Bnd. V, 1992, § 111, Rdn. 40: „aktuelle" und „potentielle" Reichweite des Grundrechtsschutzes. Die Definition von Grundrechtsbegriffen betrifft nur die potentielle Reichweite. Daß der Staat „letztlich" immer selbst über „Inhalt und Grenzen" eines Grundrechts bestimmt (so etwa auch Podlech, Leben nach der Ordnung des Staates oder dem eigenen Gewissen, in Nickel / Sievering (Hrsg.), Gewissensentscheidung und demokratisches Handeln, 1984, S. 10 ff. (15)), also den Inhalt des Grundrechts abschließend konkretisiert, bedeutet daher nicht notwendig, daß er in alleiniger »Kompetenz* die Tatbestandsbegriffe definiert. Aufgrund mangelnder Differenzierung mißverständlich daher auch der Verweis bei Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 140. 494 Schiaich, Neutralität, S. 205. Vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 10. 49 5 So aber Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte, S. 19.

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

170

Zum anderen geht es - jedenfalls ursprünglich - gar nicht um die „Definition" von Rechtsbegriffen,

die abstrakte Beschreibung und Festlegung von Begriffsinhal-

ten, sondern um die - vom Recht zunächst völlig unabhängige - Beschreibung und Selbstinterpretation des eigenen Verhaltens,

auf die der Richter häufig angewiesen

ist, um den von ihm rechtlich zu beurteilenden Sachverhalt überhaupt sachadäquat erfassen zu können. Es besteht für den Richter insofern nicht nur eine Rechtspflicht, sondern schon eine Sachnotwendigkeit zur Berücksichtigung von Selbstin496

terpretationen. Das wird auch im sog. „Lumpensammler"-Beschluß497, dem Grundfall der Selbstverständnisberücksichtigung, deutlich: Nachdem das Bundesverfassungsgericht zunächst den Tatbestand des Art. 4 II GG in personeller Hinsicht definiert und subsumiert498 und in sachlicher Hinsicht als Sonderfall der ,Glaubensbetätigungsfreiheit 4 definiert hat 499 , folgt die Anwendung dieser - formalen - Definition auf den konkreten Fall 500 : „Die von der Beschwerdeführerin aus religiös-karitativen Motiven veranstalteten Sammlungen [ . . . ] gehören zu der durch Art. 4 II GG geschützten Religionsausübung". Erst hier kommen die Motive des Grundrechtsträgers für sein Tun, also seine Selbstinterpretation, sein Selbstverständnis ins Spiel. Das Gericht kann aber - wie in vielen Fällen - das von ihm zu beurteilende Geschehen gar nicht vollständig erfassen, ohne das subjektive Wollen und Meinen des Grundrechtsträgers zu beachten. Das gilt auch für Sachverhalte, in denen jemand (aus künstlerischen Motiven) ein Auto auf ein Hausdach stellt oder (aus Gewissensgründen) einen Eid verweigert. Was in der „Lumpensammler"-Entscheidung folgt, kann zunächst als bloße Erläuterung dessen verstanden werden: ,3ei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf [kann?] das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben." Erst dann folgen Ausführungen, die das Ergebnis nicht mehr tragen, aber zur Annahme einer darüber hinausgehenden generellen grundrechtlichen Rechtspflicht zur Selbstverständnisberücksichtigung bei der abstrakten Definition der „Religionsausübung" iSv. Art. 4 II GG verleiten können („würde der Staat die Kirchen [ . . . ] in ihrem eigenen Bereich verletzen, wenn er bei der Auslegung der [ . . . ] Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde"). Ein sachlicher Rückgriff auf Selbstverständnisse bei der Rechtsanwendung ist also häufig unverzichtbar; verzichtbar aber häufig - wie im ,JLumpensammler"-Fall - die (explizite) Inbezugsetzung des Selbstverständnisses zur „Auslegung" („Definition") des rechtlichen Tatbestands.501 Die sachliche Notwendigkeit zur (impliziten) Selbstverständnisberücksichtigung besteht bei allen Grundrechtsbegriffen, deren Gegenstand zumindest auch ein subjektives Wollen und Meinen des Grundrechtsträgers ist, am deutlichsten, wie im 496

Vgl. zur Gewissensfreiheit Morlok, Kommentierung Art. 4 GG, in: H. Dreier (Hrsg.), 1997, Rdn. 32, 38: Gestalt, Inhalt und damit auch gegenständliche Erstreckung einer Gewissensentscheidung können nicht objektiv bestimmt werden, sondern nur aus dem „Sinnhorizont", dem „Relevanzschema" desjenigen, der sich auf sein Gewissen beruft. 497 BVerfGE 24, 236 ff. 498

Ebd., S. 246 f., unter b). Ebd., S. 245 f., unter a). 500 Ebd., S. 247 f., unter c). Hervorhebungen nicht im Original,

499

soi Vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 14.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

171

vorliegenden Fall, bei der Glaubens-Betätigung oder bei der Gewissens-Betätigung. Diese Grundrechtstatbestände knüpfen nicht an ein objektiv beschreibbares äußeres Verhalten an; Kontur erhält das grundrechtlich geschützte Verhalten allein durch den Bezug auf einen »inneren Tatbestand4, eine spezifische Motivation. Selbstverständnisberücksichtigung in diesem Sinne ist nicht mit „Definitionskompetenz" zu beschreiben. Die Frage nach dem Maß der Berücksichtigung von Selbstverständnissen, nach objektivierender oder subjektivierender Grundrechtsauslegung stellt sich nie als absolute Alternative. Auch die Befürworter einer objektivierenden Auslegung anerkennen das bürgerliche Selbstverständnis als notwendige „Orientierungshilfe" und sprechen ihm so nicht jedwede Relevanz ab; der Staat kann seine Rechtsbegriffe nicht autark, losgelöst von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, bilden. 502 Auf der anderen Seite will - jedenfalls bei den Individualgrundrechten 503 - niemand das Eingreifen der Grundrechtstatbestände in das vollkommene Belieben der Grundrechtsträger stellen; vorausgesetzt wird zumindest immer eine gewisse Mitteilbarkeit und Plausibilität der Berufung auf ein Grundrecht am Maßstab des allgemeinen, außerrechtlichen Sprachgebrauchs und Verständnishorizonts. 504 Dieser Verständnishorizont bildet eine Staat und Bürger umgreifende sachliche Grenze für „Definitionskompetenzen". Der Dialog über einen gemeinsamen Verständnishorizont, der in der Regel angestoßen wird, indem der Bürger darlegt, warum er ein bestimmtes Grundrecht für einschlägig hält, ist zudem immer Teil eines rechtlich geordneten staatlichen Verfahrens, das auf Rechtserkenntnis gerichtet ist. Die Anerkennung eines konkreten Begriffsverständnisses als Inhalt des Rechts ist immer Sache des staatlichen Rechtsanwenders - selbst wenn sie in einer bloßen Sanktion 502 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 306 f.; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 59 f., 44 f.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen, Rdn. 119: dem Staat kommt kein „Monopol" bei der Grundrechtsauslegung zu, sondern nur der „Interpretationsprimat"; Höfling, Grundrechtsinterpretation, S. 88 ff. (amtlicher Konkretisierungsprimat). 503 Zum Selbstverständnis der Kirchen im Rahmen des Art. 137 III WRV vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 13 mit FN 7 m.w.N. 504 Der Richter Hirsch weist in dem zitierten Sondervotum dem Kriegsdienstverweigerer die alleinige „Definitionsmacht" nur darüber zu, „was eine ,absolute* oder »relative4 [Gewissens-] Entscheidung ist". Er wendet sich damit ersichtlich gegen die gesetzliche (§ 25 WPflG a.F.; vgl. heute § 1 KDVNG) und verfassungsgerichtliche (BVerfGE 12, 45 (56 ff.); 23, 191 (205) usf.), im vorliegenden Fall auch von der Senatsmehrheit geteilte (BVerfGE 48, 127 (164)) Interpretation des Art. 4 III GG, die als „Gewissensgründe" im Sinne von Art. 4 I I I / 12 II GG nur solche anerkennt, die ein „grundsätzliches und ausnahmsloses" Verbot der Waffenanwendung zum Inhalt haben. Gegen diese einengende Interpretation des Gewissensbegriffs (und ihre Umsetzung im Verfahren der Gewissensprüfung) wendet sich Hirsch; die vom Bundesverfassungsgericht geprägte allgemeine Definition des Gewissensbegriffs in Art. 4 (BVerfGE 12, 45 (54 f.)) setzt aber auch er als objektiv vorgegeben voraus und stellt sie nicht zur Disposition des Grundrechtsträgers. Das Sondervotum hätte auch ohne Rekurs auf die „Definitionsmacht" auskommen können und gegen die Senatsmehrheit besser das staatliche Differenzierungsverbot hinsichtlich der konkreten Inhalte von Gewissensentscheidungen angeführt. Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 82 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

des geäußerten Selbstverständnisses läge. Außerdem wäre selbst ein solcher uneingeschränkter Verweis auf das Selbstverständnis jederzeit revozierbar, da der staatliche Rechtsanwender die Letztentscheidungskompetenz über eine Grundrechtsauslegung niemals aus der Hand geben darf. Ein wesentlicher Unterschied zwischen objektivierender und subjektivierender Grundrechtsauslegung betrifft die Rolle und das Gewicht des Einzelfalles bei der Rechtsanwendung. Die objektivierende Auslegung betont in allgemein vordefinierten Grundrechtsbegriffen die Allgemeinheit des Rechts (seine Geschlossenheit als System) und die durch sie vermittelte rechtliche Gleichheit der Bürger. Wenn sie auf Selbstverständnisse rekurriert, dann - aufgrund dieses Anliegens - eher auf solche, die eine gewisse Homogenität und Kontinuität in ihrer außerrechtlichen Existenz versprechen, etwa das Selbstverständnis der Kirchen zur Frage ihrer eigenen Angelegenheiten nach Art. 137 ΙΠ WRV. 5 0 5 Die subjektivierende Grundrechtsauslegung ist dagegen eher bemüht, die je angemessene individuelle Freiheit im Einzelfall zu gewähren. Die Ziele und Wirkungen einer Berücksichtigung von Selbstverständnissen lassen sich in drei Dimensionen darstellen: 1. Materiell-rechtlich ermöglicht die Berücksichtigung von Selbstverständnissen im Einzelfall konkrete Erweiterungen des Grundrechtstatbestandes im Vergleich zu bis dahin (höchst-)richterlich vorgeprägten Interpretationen des Grundrechtswortlauts. 506 Der einzelne Rechtsanwender subsumiert nicht unter interpretatorische Begriffsdefinitionen, sondern unmittelbar unter den Wortlaut der Grundrechtsnormen. 2. Dadurch erhält die Berücksichtigung von Selbstverständnissen auch einen erheblichen kompetenzrechtlichen Wirkungsaspekt: Sie stärkt die Rolle der sog. Fachgerichte gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit. 507 3. Die damit bewirkte und gewollte ständige Weiterbildung und Anpassung der verfassungsrechtlichen Begriffe 508 hat schließlich auch ihre verfassungsrechtsmethodische und verfassungstheoretische Dimension. Sie kann als Teil eines sachlich und personal offenen Prozesses der Verfassungsinterpretation 509 begriffen werden.

505 Vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 21 f., 38 ff. 506 Die Anerkennung des Selbstverständnisses als methodisches Argument wird dabei von vielen Autoren durchaus selektiv vorgenommen - je nachdem, welches spezielle Grundrecht in Rede steht. Morlok, Selbstverständnis, S. 399 m.w.N. 507 Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpretation, JZ 1975, S. 297 ff. (299 ff.). Vgl. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 41. 508 Schiaich, Diskussionsbeitrag (Anm. 484), S. 184. 509 Häberle, Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 121 ff.; ders., Die offene Gesellschaft.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives F r e i h e i t s r e c h t 1 7 3

Ziel einer Berücksichtigung von Selbstverständnissen ist so letztlich immer die Optimierung von realer Freiheit (im Sinne von Selbstbestimmung) auch für neue gesellschaftliche Entwicklungen. Dieses Ziel ist aber nicht unmittelbar an das methodische Konzept der Selbstverständnisberücksichtigung gebunden, sondern wird häufig auch im Rahmen einer objektivierenden Grundrechtsauslegung verfolgt. Auch eine objektivierende Auslegung kann zu weiten Grundrechtstatbeständen führen und so Raum lassen für die praktische Realisierung von Selbstverständnissen durch selbstbestimmte Grundrechtsbetätigung oder zumindest für die Äußerung konkreter Selbstverständnisse im Prozeß der Grundrechtsanwendung. Das kann sie dadurch, daß sie sich auf „formale" 510 Definitionen der Grundrechtsbegriffe beschränkt, auf Definitionen, die hinsichtlich der Begriffsinhalte - und damit auch hinsichtlich des Inhalts der geschützten Freiheitsbetätigungen - „neutral", 511 „undifferenziert" 512 oder „offen" 5 1 3 sind. Ausschlaggebend für das Maß des praktischen Unterschieds zwischen subjektivierender und objektivierender Auslegung ist damit, wie „formal", „neutral" o. ä. ein Grundrechtsbegriff definiert wird. In dem Maße, in dem eine Definition formalisiert wird, wird eine gesonderte und explizite Berücksichtigung von Selbstverständnissen bei der Bestimmung des Grundrechtstatbestands überflüssig. 514 Die Frage, ob von einem weiten oder einem engen Grundrechtstatbestand auszugehen ist, 5 1 5 wie formal ein Grundrechtsbegriff zu definieren ist, läßt sich aber nur nach Auslegung des je einzelnen Grundrechts sagen. Für das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist - wie im folgenden zu zeigen sein wird - ein weiter Tatbestand sach- und rechtssystemangemessen. Der hohe Grad von Formalität des hier zugrundegelegten Gewissensbegriffs erübrigt weitgehend eine definitorische Berücksichtigung von Selbstverständnissen; die Frage nach „Definitionskompetenzen" verliert weitgehend ihre Relevanz; eine fortlaufende Anpassung und Weiterentwicklung des formalen Gewissensbegriffs - im Rahmen der Frage: ,Was ist Gewissen?4 - erscheint kaum sinnvoll. Selbstverständnisse finden der Sache nach Gehör und Berücksichtigung in dem „Rechtsgespräch", 516 das durch die weite Auslegung 510 Zur Gewissensfreiheit: Müller-Volbehr, Das Grundrecht der Religionsfreiheit und seine Schranken, DÖV 1995, S. 301 ff. (303 f.) mit FN 21 \ders., Religionsfreiheit und Tierschutz, JuS 1997, S. 223 ff. (223 f.) („formelle Definitionskompetenz"); Morlok, Selbstverständnis, S. 412, 398 m.w.N.; ders., Art. 4, Rdn. 58. 5Π BVerfGE 19, 1 (8); 24, 236 (247 f.); Schiaich, Neutralität, S. 205 f. mit FN 320; Morlok, Selbstverständnis, S. 412 m.w.N. 512 Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 9; Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 127. 513 Morlok, Selbstverständnis, S. 398 m.w.N.

514 Die durch die allgemeinen (allgemein geltenden) Begriffe vermittelte rechtliche Gleichheit der Bürger wird nicht notwendig im gleichen Maße eine formale, sondern nur je nach Bestimmung der Grundrechtsschranken formalisiert. 515 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 280 ff. 516 Vgl. Schiaich, Diskussionsbeitrag (Anm. 484), S. 184; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 44.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

von Art. 4 I GG eröffnet wird, nicht in einem Rechtsgespräch über den Gewissensbegriff und die Auslegung von Art. 4 I GG. 5 1 7 Die Grundrechtsnorm bildet den Rahmen, nicht den Gegenstand eines Rechtsgesprächs.

2. Das „Schutzgut" der Gewissensfreiheit Das Schutzgut eines Grundrechts ist das (der Gegenstand), was der Schutzbereich oder Tatbestand518 des Grundrechts bezeichnet; die Handlungen, Eigenschaften oder Zustände, die er - vorbehaltlich zulässiger Schranken - staatlichen Eingriffen entzieht. 519 Jedes Grundrecht muß seinen Schutz auf ein „Seinselement", einen identifizierbaren „Wirklichkeitsausschnitt" beziehen.520 So ist es nichts Außergewöhnliches, daß auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit „verweist [ . . . ] auf eine im sozialen Leben vorgegebene Wirklichkeit". 521 Die Schwierigkeit liegt allein darin, daß im Falle der Gewissensfreiheit nicht klar ist, welche Wirklichkeit, welcher Gegenstand dies ist. Dies ergibt sich weder unmittelbar aus dem Begriff „Gewissen" noch aus der - trotz und wegen ihrer formalen Weite und Unbestimmtheit heute allgemein anerkannten - Definition des Bundesverfassungsgerichts: 522 Unter „Gewissen" ist danach „ein (wie auch immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind". Mit dieser um weltanschauliche Neutralität bemühten Definition hat das Gericht tatsächlich ein unter deutschen Juristen heute „generell konsensfähiges Elementarverständnis" 523 zum Ausdruck gebracht, wenn es auch dem 517 Selbstverständnisse finden, wenn man so will, nicht auf der Definitionsebene der Rechtsanwendung Berücksichtigung, sondern erst auf der Subsumtionsebene (und bei der sich anschließenden Konkretisierung des definitiven Grundrechtsinhalts durch die Schrankenbestimmung). Der Grundrechtsträger bestimmt nicht den formalen begrifflichen Rahmen des Grundrechtstatbestands, sondern dessen Inhalt im konkreten Fall. Nur in diesem Sinne kann man mit Morlok (Art. 4, Rdn. 32) sagen, das Grundrecht werde „inhaltlich [!] von seinem Berechtigten her definiert". 518

Die Differenzierung von Schutzbereich und Tatbestand bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 273 ff. wirkt sich für den vorliegenden Zusammenhang nicht aus. 519 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 40; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 274. Vgl. BVerfGE 50, 290 (354): „Das Schutzgut bestimmt den Inhalt des Grundrechts." Dazu Stern, Staatsrecht, Bnd. III /1, 1988, S. 565 f., 622 ff. 520 Ekk. Stein, Gewissensfreiheit in der Demokratie, 1971, S. 23 f.; Freihalter, Gewissensfreiheit, 1973, S.75. 521 Das hebt hervor E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, VVDStRL 28(1970), S. 33 ff. (66). « 2 BVerfGE 12,45(54).

*23 Loschelder, Art. Gewissen (III), in: StL, Bnd. II, 1986, Sp. 1056 (1056).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

175

Anspruch, den „allgemeinen Sprachgebrauch" wiederzugeben, nicht gerecht wird. 5 2 4 Beides gilt auch für die sich anschließende - wiederum etwas einengende 5 2 5 - Definition der „Gewissensentscheidung" im Sinne des Art. 4 GG als „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut" und „Böse" orientierte Entscheidung [ . . . ] , die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte". 526 Diese Definitionen sind im erforderlichen und in hinreichendem Maße formal, offen. Sie entsprechen im Ergebnis auch der hier gefundenen Lösung; der genaueren Einordnung und Erläuterung bedürftig sind allerdings vor allem die Merkmale der „Unbedingtheit" und der „Gewissensnot". Die Definition des Bundesverfassungsgerichts überzeugt vor allem deswegen, weil sie die nach den meisten historischen wie zeitgenössischen Begriffsverständnissen vorausgesetzten527 drei Aspekte des beschriebenen Phänomens enthält: einen affektiven („Gewissensnot", „innerlich erfährt"), einen volitiven („Entscheidung") und einen normativ 528kognitiven („unmittelbar evidente Gebote", „verpflichtend"). Aus dieser Vielschichtigkeit erwächst aber auch die Unsicherheit über das eigentliche Schutzgut, die Schutzrichtung des Art. 4 I GG: Schützt er den einzelnen vor drohender „Gewissensnot" oder schützt er die Ausrichtung seines Handelns an für ihn als verpflichtend erkannten Geboten?529 Das Handeln nach dem Gewissen wird nach heute ganz überwiegender Auffassung 530 vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit erfaßt; fraglich ist aber, ob es auch ihr eigentliches Schutzgut ausmacht.

524 „Gewissen" ist im heutigen allgemeinen (und auch inhaltlich allgemeinsten) Sprachgebrauch nicht auf ein punktuelles ,Gewissenserlebnis ' beschränkt, sondern bezeichnet noch allgemeiner das „Bewußtsein des Menschen von Gut und Böse im eigenen Verhalten, das Vermögen, sich moralisch selbst zu beurteilen." Vgl. dazu oben Teil 1, S. 29 f. m.w.N. Vgl. auch Bleckmann, Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, Teil 2, § 5, Rdn. 26; Mock Gewissen und Gewissensfreiheit, 1983, S. 147. Zu den unterschiedlichen Abstraktionsniveaus der Begriffe „Bewußtsein" und „Gewissen" vgl. o. Teil 1, B., S. 31 f. 525 Isensee, Gewissen im Recht, S. 51 sieht dagegen in der Definition der „Gewissensentscheidung" durch das Kriterium der „Gewissensnot" eine Tautologie. Vgl. Bopp, Der Gewissenstäter und das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 1974, S. 47 mit FN 3. 526 BVerfGE 12,45(55). 527 Zur Differenzierung von affektiver und kognitiver Komponente vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 144 ff.; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 38. 52« Zur „Normativität" von Gewissensentscheidungen vgl. u. B.I.2.c)bb), S. 199 ff. 529 Der Aspekt der „Entscheidung" bedarf hier keiner besonderen Berücksichtigung. Er ist bereits im geläufigen Verständnis der „Handlung" (Betätigung eines Willens) enthalten und ist deswegen rechtlich nicht in der Lage, ein besonderes Schutzgut zu charakterisieren, das über das Schutzgut des Auffangtatbestandes der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG (in der Auslegung des BVerfG das im Herrenchiemseer Entwurf ausdrücklich formulierte Recht, zu tun und zu lassen, was man will), hinausginge. 530 Vgl. o. A.II.2.b), S. 113 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

I m ersten Falle wird der Schutzgutbestimmung ein empirisches (affektives), im zweiten Falle ein normatives (kognitives) Gewissensverständnis zugrundegelegt. I m ersten Falle hat das Grundrecht die Verletzlichkeit des Menschen i m Blick, i m zweiten Falle seine Selbstverantwortlichkeit und sein Entwurfsvermögen. 5 3 1 Die in dieser Alternative enthaltene Differenz erschließt sich vollständig erst vor dem Hintergrund der Unterscheidung zweier Typen von abwehrrechtlichen Schutzgütern: subjektiven und objektivierten.

a) Subjektive und objektivierte

Schutzgüter

Subjektive Schutzgüter sind nach einer verbreiteten Unterscheidung 5 3 2 solche der Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers in einzelnen Sachgebieten. Sie wer531 Zum letzeren vgl. bei Gröschner, Freiheit und Ordnung in der Republik des Grundgesetzes, JZ 1996, S. 637 (639) m.w.N. 532 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 41. Ebenso schon Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 373. Die Unterscheidung geht wohl zurück auf F. Giese, Die Grundrechte, 1905, S. 61, 90 f. Vgl. Baumgartner, Art. Grundrechte, in: StL, Bnd. II, 5. Aufl. 1927, Sp. 938 ff. (940) („Freiheitsrechte" und „Schutzrechte") sowie die Darstellung bei Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993, S. 130 ff. Parallele Unterscheidungen finden sich etwa bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174 ff., 311 f., 333 f., 435; J. Ipsen, Gesetzliche Einwirkungen auf grundrechtlich geschützte Rechtsgüter, JZ 1997, S. 473 ff. (474, 475, 477): „Handlungsmöglichkeiten" und „Lebensgüter" als Hauptkategorien von Rechtsgütern; Stern, Staatsrecht, Bnd. III /1, S. 624 ff. Hellermann, a. a. O., S. 131 ff. (135 f.) m.w.N. Vgl. auch Merten, Handlungsgrundrechte als Verhaltensgarantien - zugleich ein Beitrag zur Funktion der Grundrechte, VerwArch 73 (1982), S. 103 ff. Auch Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 37 ff. differenziert Grundrechte, die als Schutzgegenstand die Befugnis zu einem Handeln beinhalten, von solchen, die sich lediglich als Unterlassungsansprüche gegen den Staat formulieren lassen. Schwabe verfolgt weitergehend die Frage nach der von einer konkreten Rechtsordnung abstrahierten „Rechtsnatur subjektiver Rechte" und meint, das Moment der Befugnis, des Dürfens sei nicht deren konstitutiver Bestandteil, sondern nur Funktion der an den Staat gerichteten Unterlassungsimperative (ebd., S. 44, 46, 53). Die Gegenposition ist am deutlichsten formuliert bei W. Geiger (Art. Grundrechte, in: StL Bnd. III, 6. Aufl. 1959, Sp. 1122 ff. (1124 f.)): Die an den Staat gerichtete Verbotsnorm stellt „im Gesamt der Rechtsordnung eine Sekundärnorm gegenüber der Primärnorm dar, daß der Mensch ein (natürliches) Recht auf Betätigung seiner Freiheit hat. Der Mensch ist Träger eines ursprünglichen und unveräußerlichen Rechts mit dem positiven Inhalt, seine Persönlichkeit in der seiner Anlage als sittlich gebundenem, Verantwortung tragendem Sozialwesen angemessenen Weise zu entfalten, und zwar durch Gebrauchmachen von seiner ihm zu diesem Zweck verliehenen natürlichen Handlungsfähigkeit (sich zu entscheiden, seinen Glauben zu bekennen, sich zu äußern [...]). Diese Rechte zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit [ . . . ] sind die ursprünglichen, naturrechtlich begründeten Menschenrechte [ . . . ] , um derentwillen die Grundrechte gewährt sind." Dazu zählt Geiger auch die „Gewissens- und Bekenntnisfreiheit" (ebd., Sp. 1123). Diese verschiedenen Auffassungen über die rechtstheoretische bzw. -philosophische Grundlegung der Grundrechte können zweifellos auch die Auslegung einzelner Grundrechtsbestimmungen beeinflussen; einer Festlegung bedarf es hier jedoch nicht, da es zunächst nur um die von beiden Autoren vorgenommene Unterscheidung von „Schutzgegen-

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

177

den gewährleistet durch „Freiheitsrechte im engeren Sinne", weil sie die Freiheit zu einem bestimmten Handeln (oder Unterlassen) beinhalten - etwa eine Religion auszuüben oder einen Beruf zu wählen. 533 Der logischen Struktur nach geht es hier um Abwehrrechte, die auf die „Nichthinderung von Handlungen" des Grundrechtsträgers gerichtet sind. 534 Dem gegenüber stehen objektivierte Schutzgüter, die nicht aus Handlungen des Grundrechtsträgers bestehen, sondern aus „physischen oder ideellen Substanzen die als solche geschützt werden - etwa die körperliche Unversehrtheit oder die Wohnung. 535 Als „ideelle Substanzen" dürften hierher vor allem die durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützten Rechtsgüter zu rechnen sein 536 , die persönliche Ehre zum Beispiel. Man könnte hier von ,Abwehrrechten im engeren Sinne' sprechen. Sie wahren die Integrität des Grundrechtsträgers. 537 Der logischen Struktur nach sind dies Abwehrrechte, die auf die Nichtbeeinträchtigung von Eigenschaften, Situationen und (natürlichen) Zuständen gerichtet sind. 538 Sie schützen nicht ein ,Tun', sondern ein »Sein4.539 Die beiden Formen von Grundrechten unterscheiden sich auch in dogmatischen Strukturen. Das einem subjektiven Schutzgut korrespondierende »Freiheitsrecht im engeren Sinne4 sieht den Menschen in einer eher aktiven Rolle, es gewährt eine Freiheit zu etwas, die schon bedroht wird durch Eingriffe in Form von rechtlichen Verhaltensbefehlen. 540 Subjektive Schutzgüter sind daher disponibel, verzichtbar, 541 auch durch einen negativen Tatbestand, ein „negatives Freiheitsrecht" geschützt, 542 und das Eingreifen des rechtlichen Schutzes ist abhängig von einer gewissen Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln (Grundrechtsmündigkeit).

ständen" (Schwabe, a. a. O., S. 53) der Grundrechte des Grundgesetzes geht. Vgl. zu der Diskussion Stern, Staatsrecht, Bnd. III /1, S. 563 ff., 622 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 206 ff. 533 Zur „Selbstbestimmung" als Gegenstand rechtlicher Freiheit vgl. Morlok, ständnis, S. 380 ff.; ausführlich Stern, Staatsrecht, Bnd. III/1, S. 641 ff. 534 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 174 ff.

Selbstver-

535

Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 41. 536 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 311 mit FN 11, S. 333 f. 537 „Integrität" kann nur aufweisen, was als „vollständig gedacht werden kann" (7. Ipsen, Gesetzliche Einwirkungen, S. 478 r. Sp.), also etwa die körperliche Unversehrtheit, nicht aber Handlungsmöglichkeiten. 558 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 176 f., 435. Die von Alexy (ebd., S. 177 ff.) weiterhin unterschiedenen „Rechte auf Nichtbeseitigung von rechtlichen Positionen" sind von den beiden genannten Typen nicht eindeutig abgrenzbar (ebd., S. 178 f. Vgl. Stern, Staatsrecht, Bnd. III /1, S. 644.) und in bezug auf die Gewissensfreiheit nicht von Interesse. 5 39 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 311 f., 333 f. 540 Jedenfalls wenn man Handlungs-Freiheit als rechtliches Vermögen versteht, nicht als tatsächliches Handlungsvermögen oder Möglichkeit zu tatsächlich sanktionsfreiem Handeln. 541

Anders J. Ipsen, Gesetzliche Einwirkungen, S. 476 r. Sp.

542

Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 35, 38 f., 130 f.

12 Filmer

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

178

Darüber hinaus setzt ein Handlungsrecht 543 immer das Bestehen von Verhaltensa/«544

ternativen voraus. Dem gegenüber erscheint der Mensch in Anbetracht der ihm zuzuordnenden objektivierten Schutzgüter primär in einer passiven Rolle, verletzlich, in seiner Zuständlichkeit durch seine Umwelt bedroht. ,freiheitsrecht" ist das korrespondierende Abwehrrecht nur im Sinne einer Freiheit von, 545 und zwar von spezifischen staatlichen Eingriffen, die sich letztlich erst in Realakten oder sonstigen tatsächlichen Beeinträchtigungen 546 verwirklichen. „Negative Freiheiten" gibt es hier daher grundsätzlich nicht; objektivierte Schutzgüter sind in der Regel nicht verzichtbar; der rechtliche Schutz erstreckt sich unterschiedslos auch auf nicht zu (rechtlich) verantwortlichem Handeln Fähige (etwa Kleinkinder). 547 Die Schutzgüter der Grundrechte des Grundgesetzes lassen sich allerdings nicht alle eindeutig nur einer der beiden dargestellten Klassen von Schutzgütern zuordnen; das Schutzgut eines Grundrechts kann sowohl subjektiven als auch objektiven Charakter haben: 548 Die Eigentumsgarantie etwa schützt sowohl den freien Gebrauch von Sachen (Handeln) als auch die Integrität der Sachsubstanz.549 Auch eine scheinbar eindeutige Zuordnung wie die der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Π 1 GG) zum objektivierten Integritätsschutz verliert ihre Selbstverständlichkeit in dem Maße, in dem man die eigentliche Schutzrichtung des Grundrechts darin sieht, die Selbstbestimmung über die eigene körperliche Integrität zu si543 im folgenden wird an den traditionellen Bezeichnungen „Handlungsrecht44 und „Handlungsfreiheit 44 festgehalten; sachlich genau müßte man mit Stern, Staatsrecht, Bnd. III/1. S. 628 ff. von (Handeln und Unterlassen umfassendem) „Verhaltensrecht44 und „Verhaltensfreiheit 44 sprechen. 544 Stern, Staatsrecht, Bnd. III /1, S. 628 f., 634, 641 ff. Das meint nicht notwendig „Beliebigkeit des Verhaltenkönnens44 (vgl. ebd. S. 629 mit FN 29). 545 Schwabe, Probleme, S. 38: Ein solches Recht „läßt sich adäquat nur als Freiheit von etwas, nicht aber als Recht zu etwas definieren 44. 546 Etwa schädlichen Emissionen, beleidigenden Äußerungen usf. 547 Die hier vorgenommene Unterscheidung von Handlungs- und Integritätsrechten ist deutlich zu trennen von der heute meist in den Vordergrund gestellten - an Jellineks status activus anknüpfenden - Unterscheidung zwischen Mitwirkungsrechten und Rechten zum Schutz der Privatsphäre. Letztere differenziert nach sozialen Bezügen und Funktionen von Grundrechten und trennt Sphären von Individuum und Gemeinschaft; in die Privatsphäre fallen auch bestimmte Handlungsrechte wie etwa die Berufsfreiheit. Die hier vorgenommene Unterscheidung differenziert dagegen nach objektiv gegebenen Zuständen und der Möglichkeit zur Veränderung von Zuständen durch den Menschen, also nach einem anthropologischen Kriterium. 548 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 41. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 333 f. zum Persönlichkeitsrecht. Vgl. auch etwa Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 204: unterschiedliche Akzentuierung von Freiheit als „Entfaltung44 oder „Schutz44. Vgl. B.I.2.c)aa), S. 194. 549 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 41. Zur Integrität der Rechtsinhaberschaft (vgl. Isensee ebd.) als eines rechtlichen Zustands s. o. Anm. 61. Ein natürlicher Zustand ist nur im Falle des Sacheigentums geschützt.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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ehern. 550 Dieses Beispiel zeigt auch, daß die Objektivierung von Schutzgütern und damit die Differenzierung von Autonomie und Integrität überhaupt vor allem dort mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist, wo der Mensch selbst unmittelbarer Gegenstand des Grundrechtsschutzes ist, nicht ein gegenständlicher Bereich außerhalb seiner selbst oder ein spezieller Handlungszusammenhang. Am klarsten zeigt das das Grundrecht der Menschenwürde (Art. 1 I GG). Auch bei der Bestimmung seines Schutzbereichs stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Betrachtungsweisen gegenüber; eine eher objektivierende Betrachtung: Schutz der Integrität einer (ähnlich der persönlichen Ehre ideellen) Kern-Substanz des Menschen;551 und eine eher subjektivierende Betrachtung: Menschenwürdeschutz als Schutz selbstbestimmten Verhaltens aufgrund der individuellen Leistung der Identitätsbildung. 552 In der Unterscheidung von subjektiven und objektivierten Schutzgütern geht es also (zumindest dort, wo der Mensch selbst unmittelbar Gegenstand des Grundrechtsschutzes ist) nicht um zwei verschiedene Klassen von Ausschnitten der Wirklichkeit, sondern um zwei verschiedene, rechtlich zu definierende Schutzrichtungen; letztlich um zwei verschiedene Perspektiven auf den Menschen, die zum Ausgangspunkt der Grundrechtsinterpretation werden. Für jedes einzelne Grundrecht stellt sich daher die Frage, wieweit es dem abstrakten Schutzgut 553 der Autonomie - und/oder der Integrität des Menschen dient.

b) Subjektive und objektivierte

Gewissensverständnisse

Auch für das Grundrecht der Gewissensfreiheit fragt sich, an welchem der beiden Pole der Grundrechtsinterpretation es auszurichten ist, inwieweit es der „Entfaltung" oder der „Erhaltung" von Persönlichkeitsaspekten dient, 554 ob eher der 550 Sehr weitgehend in dieser Richtung etwa Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 223 f., in bezug auf Heileingriffe (Art. 2 II 1 GG beinhaltet in keinem Fall ein Recht auf gezielte Selbstschädigung). 551 H. L Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: ders., F.L. Neumann / Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bnd. II, 1954, S. 1 ff. (1,5, 15, 27): „ideelle Substanz", „statisches Dasein". Maßstab ist hier ζ. B. eine wertgebunden objektiv (aber nicht naturwissenschaftlich) zu bestimmende „Natur des Menschen" (ebd., S. 1). 552 Vgl. etwa Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965, S. 53 ff. Einheitliches Rechtsgut der durch „Freiheit und Würde" geschützten Sphäre ist hier „die sich in ihrer Selbstdarstellung individuell konstituierende Persönlichkeit" (S. 77 ff., 82 f.). Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 69 ff, 282 ff; Podlech, AK, Art. 1, Rdn. 20; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rdn. 354 f. Zu dieser „dynamischen" Auslegung des Art. 1 I GG vgl. Kunig, Art. 1, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bnd. 1,4. Aufl. 1992, Rdn. 13 m.w.N. Vgl. u. B.I.2.c)aa), S. 194 f. 553 Statt von „abstrakten Schutzgütern" könnte man hier auch von „Schutzzwecken" des Grundrechts sprechen. Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 35. 12'

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Freiheit der individuellen Gewissensbetätigung oder der Unverletztheit eines objektivierten Persönlichkeitskerns. 555 Beide Interpretationsansätze werden vertreten. aa) Explizite Zuordnungen der Gewissensfreiheit Diejenigen Autoren, 556 die die Grundrechte des Grundgesetzes nach subjektiven und objektivierten Schutzgütern klassifizieren, vermeiden allerdings meist eine explizite Einordnung der Gewissensfreiheit. Herzog rechnet sie den „Freiheitsrechten im engeren Sinne" zu, 5 5 7 Schwabe dagegen den Rechten auf Nicht-Verletzung der Person. 558 Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Zuordnung der Gewissensfreiheit findet sich nur bei Hellermann. 559 Er wendet sich explizit gegen ein handlungsrechtliches (d. h. subjektives) Verständnis der Gewissensfreiheit und der übrigen Grundrechte des Art. 4 I GG. Das basiert zunächst auf einem engen Verständnis der „Handlungsrechte", die nur solche Freiheitsrechte umfassen sollen, die individuelle Handlungen „als solche und umfassend" zum Schutzgut haben, d. h. Handlungen nicht „nur gegenüber spezifischen Eingriffen bzw. mittelbar, abgeleitet von einem anderen, ihrem eigentlichen Schutzgut" schützen.560 Von diesem Verständnis aus spricht Hellermann neben der Gewissensfreiheit auch der Glaubensfreiheit und der Bekenntnisfreiheit des Art. 41 GG den handlungsrechtlichen Charakter ab. Gegen die ganz überwiegend geteilte Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die Glaubensfreiheit umfasse die „(innere) Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben" 5 6 1 (Freiheit zu glauben als Handlungsfreiheit), setzt er das Glauben-Haben als Schutzgut: „Glaube" ist eine bestimmte „subjektive Gewißheit von einer überweltlichen Macht. [ . . . ] Einen solchen Glauben hat man oder hat man nicht, übt ihn aber nicht - als eine Handlung - aus". 562 554 Vgl. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 1958, S. 165. 555 Zu m. E. für beide Interpretationsansätze unergiebigen Anknüpfungen an den Wortlaut von Art. 4 I GG vgl. einerseits Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 55 („Freiheit"), andererseits Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 11 („unverletzlich"). Vgl. H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 486. Vgl. ο. A). Auf den Wortlaut („unverletzlich") stellt auch J. Ipsen (Gesetzliche Einwirkungen, S. 478 r. Sp., 479 r. Sp.) ab, wenn er den Art. 4 I GG insgesamt der Gruppe von integritätsschützenden Grundrechten zuschlägt, dieses Grundrecht aber bei der Verifikation seiner Klassenbildung völlig übergeht. 556 S. o. Anm. 532. 557 Allgemeine Staatslehre, S. 373. 558 Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 38. 559 Die sogenannte negative Seite, S. 141 f., 178 f., 250. 560 Ebd., S. 134, 249. Die dem entgegengesetzten „sonstigen" Freiheitsrechte oder ,/einen Abwehrrechte" werden nicht genauer konturiert, da es Hellermann eigentlich nur um die Untersuchung der negativen Seite von Handlungsrechten geht. 561 BVerfGE 24, 236 (245); 33, 23 (28); 41, 29 (49).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

181

Dem liegt eine Begrenzung des Handlungsbegriffes auf äußeres Verhalten zugrunde, die keinesfalls zwingend ist. Freiheit des Glaubens kann man ebensogut als eine bestimmte „Freiheit des Denkens" begreifen, also als einen geistigen Akt. 5 6 3 Auch das sog. „forum internum" kann als Forum bewußter Selbstbestimmung des Menschen begriffen werden und nicht als innerer Zustand; einen Glauben „hat" man nicht so wie man seine Gesundheit oder ein Recht „hat". Noch zweifelhafter ist die Position Hellermanns zur Bekenntnisfreiheit: 564 Tatbestandlich auf „kommunikatives Handeln" begrenzt, lasse diese sich noch als Handlungsrecht verstehen; eine Erweiterung auf jedes religiös-weltanschaulich motivierte Verhalten überstrapaziere aber den Bekenntnisbegriff. Um eine „begrenzte, aber sinnvolle Funktion" des Grundrechts zu erhalten, eine weitgehende Pivilegierung durch Dispensierung von der allgemeinen Rechtsordnung zu vermeiden, sei die Bekenntnisfreiheit als „reines Abwehrrecht" zu verstehen, „dessen Schutzwirkung sich nur insoweit auf das äußere Verhalten erstreckt, als es die Freiheit des Bekenntnisses spezifisch vor Verletzungen bewahren will." Verboten werden so „hoheitliche Eingriffe in die Freiheit äußeren Verhaltens, die sich spezifisch gegen ein darin zutage tretendes Bekenntnis richten".565 Dagegen bleibt festzuhalten, daß Hellermann selbst den Bekenntnisbegriff überstrapaziert, wenn er sich der Auffassung 566 anschließt, dieser umfasse grundsätzlich auch die Glaubensverwirklichung durch non-verbales Tun - das Bundesverfassungsgericht etwa stützt sich dazu vielmehr meist auf die Begriffe des „Glaubens" oder der „Religionsausübung".567 Der so überstrapazierte Tatbestand wird von Hellermann dann aus funktionellen, theologischen Gründen zurückgestutzt auf ein „reines Abwehrrecht", das nicht mehr ein Verhalten (das Bekennen) „als solches und umfassend" schützen soll, sondern nur noch gegen bestimmte Eingriffe in die Freiheit äußeren Verhaltens. Geschützt wird immer noch die „Freiheit des Bekenntnisses", aber nicht mehr als ein Handeln, sondern nur „spezifisch vor Verletzungen". 568 Das Bekenntnis als solches kann man aber nicht vor „Verletzungen" 562 Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 140 mit Verweis auf Preuß, AK, Art. 4 I, II, Rdn. 14. 563 Herzog, M / D / H /S, Art. 4, Rdn. 66. Vgl. Starck, Art. 4, Rdn. 3 f., 18 f. Die aktive Qualität des „Glaubens" wird besonders deutlich, wenn der Grundrechtsschutz auf „Glaubensentscheidungen" bezogen (v. Münch, Art. 4, Rdn. 20) und auf die ,3ildung" eines Glaubens erstreckt wird {Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 16; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 41 ff.).

564 Die sogenannte negative Seite, S. 142 f., 249 f. 565 Ebd. 566 Starck, Art. 4, Rdn. 21 \Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, in: Bettermann / Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte Bnd. IV/1, 1960, S. 37 ff. (61). Vgl. BVerfGE 41,29 (49). 567 BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 93, 1(15) (vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 142 mit FN 51). Ebenso Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 5 ff., 64; v. Münch, Art. 4, Rdn. 22; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 15; Kokott, in: Sachs, Art. 4, Rdn. 35. 568 Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 143. Vgl. Schlink, Freiheit durch Eingriffsabwehr - Rekonstruktion der klassischen Grundrechtsfunktion, EuGRZ 1984, S. 457 ff.

182

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

schützen. Geschützt wird so tatsächlich immer noch äußeres Verhalten - und nur äußeres Verhalten - des Grundrechtsträgers; die Eingriffe, vor denen er geschützt wird, sind zumindest im Regelfall nichts anderes als - wenn auch besonders qualifizierte - staatliche Verhaltensgebote; gewechselt hat nur die Perspektive: Der Blickpunkt liegt nicht mehr auf dem Grundrechtsträger als einem Handelnden, sondern als einem staatlichem Handeln Unterworfenen; qualifiziert wird nicht mehr das Grundrechtsspezifische am Verhalten des Grundrechtsträgers, sondern das am Eingriffsverhalten des Staates.569 Ob ein solcher teleologisch begründeter Perspektivenwechsel es rechtfertigt, die Bekenntnisfreiheit aus dem Kreis der Handlungsrechte auszuschließen und daran grundrechtsdogmatische Folgen wie die Verneinung einer »negativen Bekenntnisfreiheit 4 aus Art. 4 I GG zu knüpfen, 570 soll hier nicht weiter verfolgt werden. Hingewiesen sei darauf, daß auch hier eine Objektivierung des Schutzgutes bzw. des Schutzbereiches vorliegt: Glauben und Bekennen werden nicht mehr als selbstbestimmtes Tun des Grundrechtsträgers geschützt. Während in bezug auf „Glaube" und „Bekenntnis" dunkel bleibt, wie diese Schutzgegenstände als solche 571 vor „Verletzungen" geschützt werden könnten, gewinnt dies in bezug auf die Gewissensfreiheit plastischere Konturen. Und zwar dadurch, daß man „das Gewissen" nicht nur als ein inneres oder äußeres SichVerhalten verstehen kann, sondern auch als Gegenstand oder Zustand, als „seelisches Phänomen", „d. h. die Persönlichkeit als solche in ihrer Identität mit sich selbst". 572 „Das Gewissen" ist dann identisch mit der psychologisch definierten „Persönlichkeit", und in diesem Verständnis wird das vergegenständlichte Gewissen selbst (nicht die Freiheit des Gewissens) als „unverletzlich" geschützt. Erklärt man dies zum „eigentlichen Sinn" 5 7 3 des Grundrechts, so schützt es kein Handeln „als solches" und verliert damit seinen Charakter als Handlungsrecht, selbst wenn der „Bezug zum Verhalten schon im Begriff des Gewissens deutlich wird" und das Grundrecht tatsächlich in erster Linie gewissensbestimmtes Verhalten gegen hoheitliche Verhaltensgebote schützt. 574 Festzuhalten bleibt, daß die Objektivierung im Falle der Gewissensfreiheit eine weitergehende Qualität gewinnt: Das Schutzgut selbst wird vergegenständlicht; das Gewissen wird zur „Persönlichkeit"; was eine „Verletzung" ist, erschließt sich (464): „Art. 4 I GG sichert Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit nicht gegen jeden Eingriff, sondern gegen Verletzungen". 569 Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 143 mit FN 52. Die „spezifisch gegen ein [ . . . ] Bekenntnis" gerichteten Eingriffe sind wohl ähnlich zu qualifizieren, wie die (nicht) „allgemeinen Gesetze" des Art. 5 II GG nach der sog. Sonderrechtslehre. 570 Zusammenfassend ebd., S. 250. 571 D. h.: nicht mit Blick auf „verletzende" £wgn#ymodalitäten. 572 Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 141, 178, mit Verweis vor allem auf Luhmann und Böckenförde. 573 Ebd., S. 141. 574 So Hellermann selbst, ebd., S. 141, 178 f.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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nicht über die Zielrichtung des staatlichen Eingriffs - wie bei der Bekenntnisfreiheit - , sondern über Veränderungen der empirischen Persönlichkeit. Das Gewissen selbst kann verletzt werden wie ein Organ oder Glied des Körpers. Literarische Äußerungen, die die Gewissensfreiheit zum Hauptthema haben, lassen sich nur auf implizite Zuordnungen des Grundrechts zu den Handlungsrechten oder zu den Integritätsrechten untersuchen.

bb) Gewissensfreiheit als sittliche Handlungsfreiheit (normatives Gewissensverständnis) Dem Schutz eines subjektiven Schutzgutes verpflichtet ist das Grundrecht der Gewissensfreiheit in denjenigen Interpretationen, die in dem Grundrecht primär die Freiheit des einzelnen verbürgt sehen, „dem persönlichen Bewußtsein vom sittlich Guten und Bösen gemäß zu handeln". 5 7 5 Die Zielrichtung der Gewissensfreiheit ist es danach, „die selbst wahrgenommene Verantwortlichkeit des einzelnen für seine Handlungen" zu schützen. 5 7 6 Das Grundrecht schützt individuelle „ethische Überzeugungen", 5 7 7 d. h. Überzeugungen vom sittlich Gesollten und damit vom moralisch richtigen Handeln, 575 Seifert, Art. 4, in: ders./Hömig (Hrsg.), Grundgesetz, 4. Aufl. 1991, Rdn. 2. Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 124 f., 132, 135 f.; Starck, Art. 4, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bnd. I, 3. Aufl. 1985, Rdn. 35, 37; Jarass, Art. 4, in: ders. / Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl. 1997, Rdn. 41 f., 44; Model/Müller, Grundgesetz, 11. Aufl. 1996, Art. 4, Rdn. 3; Ryffel, Gewissen und rechtsstaatliche Demokratie, in: FS C.H. Ule, 1987, S. 321 ff. (330 ff., 333). Bleckmann, Die Grundrechte, Teil 2, § 5, Rdn. 26 ff.; Franke, Gewissensfreiheit, S. 13; Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 492 f., 496, 480, 486; Tenckhoff, Strafrecht und abweichende Gewissensentscheidung, in: FS Rauscher, 1993, S. 437 ff. (447). So auch schon v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1953, Art. 4, Anm. 2 (S. 55). Ein normativer Gewissensbegriff und ein handlungsorientiertes Grundrechts Verständnis spiegeln sich auch in den einschlägigen lexikalischen Werken, die „Gewissen" und „Gewissensfreiheit" in ihrer Mehrzahl aber erst seit den 60er Jahren überhaupt als eigenständige Rechtsbegriffe aufführen: Köbler, Juristisches Wörterbuch, 7. Aufl. 1995, S. 149; Creifelds/Kauffmann, Rechtswörterbuch, 13. Aufl. 1996, S. 544 f.; Tdch, Deutsches Rechts-Lexikon, Bnd. II, 2. Aufl. 1992, S. 255 ff. (257); Avenarius, Kleines Rechtswörterbuch, 1987, S. 170; Köst, Juristisches Wörterbuch, ab der 5. Aufl., 1967. Abweichend nur Reiferscheid/Bockel/Benseier, Stand 1980, Abt. IX, S. 88. 576 Morlok, in: Dreier, Art. 4, Rdn. 57. Vgl. ebd., Rdn. 29: Schutz vor „Bedrohungen für die moralische Autonomie und Sinnorientierung des einzelnen"; Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, C, Rdn. 60: Das Grundrecht schützt die „sittliche Entscheidung" und bedeutet so „die Achtung des persönlichen Gewissens und der darauf gegründeten Handlungen"; A. Arndt, Die Zeugen Jehovas als Prüfung unserer Gewissensfreiheit (1965), in: ders., Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 179 ff. (179). Vgl. auch Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 10 ff., 34 ff., der den normativen Aspekt der Verpflichtung zu einem bestimmten Handeln betont, die Gewissensbetätigung aber dennoch nicht vom Schutzbereich erfaßt sieht (vgl. ebd., Rdn. 44 ff.). 577 v. Münch, Art. 4, in: ders. / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bnd. I, Rdn. 25, 30 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

darin liegt der notwendige innere Bezug zwischen einem normativen Gewissensverständnis und dem grundrechtsdogmatischen Verständnis der Gewissensfreiheit als „ethisch fundierte und verfassungsrechtlich privilegierte Sonderform der Handlungsfreiheit." 578 Dem Grundrecht geht es um die „Möglichkeit freier Selbstbestimmung des einzelnen." 579 Legt man die in Philosophie und Theologie geprägte 580 zeitliche Differenzierung normativer Gewissensfunktionen in conscientia antecedens (dem Handeln vorangehendes, handlungsleitendes Gewissen) und conscientia subsequens (dem Handeln nachfolgendes, handlungsbewertendes Gewissen) zugrunde, so zielt der Grundrechtsschutz auf die conscientia antecedens und setzt zeitlich bereits im Vorfeld des Handelns an, bei den Handlungsmotiven. Als Handelnder erscheint der Grundrechtsträger selbst als Zurechnungspunkt und Subjekt der Veränderung von Situationen und Zuständen. Im Handeln realisiert sich sein normatives Selbst- und Welt Verständnis. Ein solches normatives Gewissens Verständnis muß sich vor allem abgrenzen gegen Tendenzen,581 Gewissensentscheidungen oder Phänomene deterministisch als „psychischen Zwang" zu verstehen: Eine Gewissensentscheidung ist keine zwanghafte Hinderung an rechtskonformem Verhalten; die Vorstellung einer „»psychischen Unmöglichkeit4 widerspricht ganz und gar dem Begriff des Gewissens". 582 Die Konkretisierung dieses auf den normativ-kognitiven Gewissensaspekt orientierten Schutzbereichs für die Anwendung im Einzelfall bringt erhebliche Schwierigkeiten mit sich. 578 Starck, Art. 4, Rdn. 37; Herzog, Art. 4, in: M / D / H / S , Bnd. I, Rdn. 132. Vgl. Scholler, Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, DÖV 1969, S. 526 ff. (529); Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff in Gesetzgebung und Rechtsprechung seit 1945, 1972, S. 274. Vereinzelt sieht man Gewissensfreiheit in Form der sittlichen Handlungsfreiheit nur in Art. 2 I GG gewährleistet: Blomeyer, Gewissensprivilegien im Vertragsrecht, JZ 1954, S. 309 ff. (309 f.). Vgl. BVerwGE 27, 303 (305). Als „Ausgangspunkt" der Konturierung des Schutzbereichs ist der Bezug zur Persönlichkeitsentfaltung auch anerkannt bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 114. 579 F. Klein, Art. 4, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Grundgesetz, 8. Aufl. 1995, Rdn. 6 f. Vgl. Avenarius, Art. Gewissensfreiheit, S. 170: „sittliche Autonomie"; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 147 f.; Isensee, Gewissen im Recht, S. 43, 49, 56: „Selbstbestimmung" bezogen auf die „Integrität der sittlichen Persönlichkeit" (Hervorhebung nicht im Original), vgl. o. Teil 2, A.II.2.c)bb)bbb)a), S. 128 ff. 580 Aus dem juristischen Schrifttum vgl. die intensive Auseinandersetzung mit dieser Differenzierung bei Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 87 ff., 156 ff., 273 f. 581 BVerwGE 9, 97 (97) („innerer Zwang"); BVerwGE 23, 98 (99); 23, 96 (97) („Gewissenszwang"). Vgl. o. A.II.2.c)aa), S. 115 ff. 582 So dezidiert Diederichsen, Gewissensnot als Schuldbefreiungsgrund, in: FS Michaelis, 1972, S. 36 ff. (44) mit FN 48: Der einzelne steht vor einer Wahl. Er „sieht seine Seele zum Schauplatz zweier miteinanderringender Motive gemacht". Vgl. Tiedemann, Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, DÖV 1984, S. 61 ff. (64 f.); Bäumlin, Das Grundrecht, S. 17.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives F r e i h e i t s r e c h t 1 8 5

Sie liegen vor allem darin, inhaltlich offene, neutrale und dennoch im konkreten Fall überprüfbare Kriterien für die besondere moralisch-verpflichtende Qualität von Gewissensentscheidungen als geistigen Vorgängen (inneren Tatsachen) zu finden. Diese Kriterien behalten in der praktischen Anwendung auf jeden Fall ein relativ hohes Maß an Unsicherheit. Sie können einerseits nicht ausschließen, daß sich die spezifische Verpflichtungskraft einer Gewissensposition in einzelnen Fällen nicht mitteilen läßt, in der Innenperspektive des Grundrechtsträgers verschlossen bleibt; andererseits begründen sie die Gefahr mißbräuchlicher Berufungen auf das Grundrecht, die Gewissensentscheidungen lediglich vorschützen. Diesen Schwierigkeiten kann nur durch Modifikationen des Beweisverfahrens sowie differenzierte Regelung der Darlegungs-, Argumentations- und Beweislast begegnet werden. 583

cc) Gewissensfreiheit als Schutz der psychischen Integrität (empirisches Gewissensverständnis) Nicht zuletzt aufgrund der allgemeinen Säkularisierung und Individualisierung von Moral und Ethik und aufgrund der damit verbundenen praktischen Ausweitung des Gewissensbegriffs, tritt in den Interpretationen der Gewissensfreiheit an die Stelle des subjektiven Schutzgutes zunehmend ein objektives, an die Stelle der „Freiheit" des Gewissens seine „Unverletzlichkeit" 584 . Zum Teil erscheint dabei „das Gewissen" selbst weiterhin als Schutzgegenstand: es wird mit (einem Teil) der empirisch objektivierbaren menschlichen Psyche identifiziert und als solches vor realen „Verletzungen" geschützt wie ein Organ oder Glied des Körpers. 585 Zum Teil wird eine solche Vergegenständlichung des „Gewissens" vermieden und die menschliche Psyche als solche zum Schutzgegenstand. Primärfunktion des Grundrechts ist in beiden Formulierungen der Sache nach der „Schutz" vor „Einbußen an seelischer Substanz", 586 der Schutz der „psychi583 Vgl. dazu ausführlich u. B.I.3.a)aa), S. 230 ff.; B.I.3.a)bb), S. 235 ff.; B.I.3.c)cc), S. 248 f. 584 s. bereits o. B.I.2.b)aa), S. 180 ff. zu Hellermann, Die sogenannte negative Seite, u. dort S. 135, 141, 178; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 63 f., unter ausdrücklicher Zurückweisung der Interpretation als „Handlungsfreiheit gemäß dem sittlichen Gewissen". Der Staat verzichtet darauf, das Gewissen zu „»kränken'" (ebd., S. 56, 84). Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 481. Scholler, Die Freiheit, S. 179 f.: »Anspruch auf Unterlassung der Verletzung des Gewissens"; freilich unter der zweifelhaften Bestimmung des Schutzgutes als „Geheimsphäre" / „Persongeheimnis" (ebd. S. 131 ff.). Auch bei dieser Objektivierung und Vergegenständlichung des Schutzgutes erscheint der Grundrechtseingriff als „Gewissensverletzung" (ebd.). Vgl. auch H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 486 mit Verweis auf BVerfGE 69, 1 (22). „Freiheit des Gewissens" kann man danach nur verstehen als Freiheit des Gewissens von Verletzungen durch den Staat. 585 Vgl. bereits zu Hellermann, Die sogenannte negative Seite. Dort S. 135, 141, 178. Vgl. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61 ('Schaden am Gewissen nehmen').

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

sehen" („seelischen") „Integrität" („Unversehrtheit") 587 der Persönlichkeit oder des Persönlichkeitster/w 588 in einer durch den Konflikt von staatlichem Gesetz und Gewissen verursachten „psychischen Zwangs-" oder „Notlage" 589 . Konturen soll der Schutzbereich vor allem durch die affektive Komponente des Gewissensphänomens erhalten. 590 In der eingangs591 zitierten Definition der Gewissensentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht wird also vor allem das Kriterium der drohenden „Gewissensnot" herausgehoben.592 Entscheidend ist nicht die normativ-handlungsleitende Funktion des Gewissens, sondern seine bewahrende und einheitstiftende Funktion innerhalb des (erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnis zugänglichen) Systems der menschlichen Psyche; 593 im Gewissen geht es um die Konstituierung und Dekonstituierung der Persönlichkeit, und so geht es auch dem Grundrecht um den Schutz der Persönlichkeit vor Dekonstituierung, 594 vor Identitätskrisen, 595 vor „schweren seelischen Schäden" 5 9 6 oder gar vor ihrer „Zerstörung". 597 Der Mensch wird nicht als frei Handelnder und einem normativen Anspruch Gehorchender geschützt, nicht in seinen Handlungsmöglichkeiten und -entwürfen, sondern in seinem bedrohten faktischen Dasein, seiner Zuständlichkeit. Es geht nicht um das, was er sein kann, will und soll, sondern um das, was er ist. Da dieses substanzhafte Sein des Menschen im Zusammenhang des staatlichen Rechts nicht mehr als ein transzendentes vorausge586 Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 101. Vgl. dens., Gewissensfreiheit, S. 482, 486. Vgl. auch BayOblG, StV 1985, 315 f. (316): „personaler Substanzverlust". 587 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 136 ff., 245 f., 250, 262, 289 f., 310. Zum Teil erscheint daneben als „Primärfunktion" der Gewissensfreiheit auch der Schutz „konsequenter Selbstdarstellung" (ebd. S. 250). Vgl. dens., Gewissensfreiheit, S. 482, 490, 492, 496. Vgl. Scholler, Die Freiheit, S. 147 f. (allerdings nur in bezug auf „psychische Eingriffe" durch Hypnose u. ä.). An die Stelle des Begriffs der „Integrität" der Persönlichkeit kann auch der der „Identität" der Person treten. 588 Kokott, Art. 4, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, S. 249 ff., Rdn. 47: „Der innere Kern der Persönlichkeit [ . . . ] soll staatlichem Einwirken entzogen sein". 589 Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 114; ders., Gewissensfreiheit, S. 492. 590 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 482, 488. Entscheidend dafür, ob der Schutzbereich betroffen ist, ist die „affektive Intensität" eines Verhaltensgebots. So Klier, Gewissensfreiheit und Psychologie, 1978, u. a. S. 268. 591 S. o., Teil 1 B., S. 29 f. 592 BVerwGE 7, 242 (248) etwa stellt ausdrücklich darauf ab. BVerwG, U. v. 23. 3. 1973, Buchholz 448.0, § 25 WPflG, Nr. 49 spricht von „Gewissensqual". Zum Kriterium des „schweren seelischen Schadens" vgl. auch BVerwGE 64, 196 (198). 593 Vgl. o. A.2.c)aa), S. 115 ff. zu N. Luhmann. 594 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 23; Rudolphi, Die Bedeutung eines Gewissensentscheides für das Strafrecht, in: FS Welzel, 1974, S. 605 ff. (615); Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 11; Kokott, Art. 4, Rdn. 47. 595 Vgl. o. Anm. 594. 596 BVerwGE 41, 53 (55). 597 BVerwGE 7, 242 (247 f.); 9,97 (97 f.); 23, 98 (99). Vgl. auch BVerfGE 23, 127 (134).

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setzt werden kann, 598 bleibt nur seine naturwissenschaftlich-empirische Objektivierung. Der Begriff des Gewissens betrifft so „psychische Vorgänge und Zustände, die sich beschreiben und analysieren lassen." 599 Der einzelne erscheint „Prozessen" unterworfen, „die sich einer willkürlichen Steuerung des Individuums entziehen". 600 Konsequent ist aus dieser anthropologischen Perspektive das Verständnis der (anerkennungsfähigen) Gewissensentscheidung als „empirischer Befund". 601 Die Ursachen und Bedingungen des Gefühls von Verpflichtung scheinen feststellbar und negative psychische Folgen von zuwiderlaufenden rechtlichen Handlungszwängen prognostizierbar. In letzterem liegt die endgültige Wendung des Grundrechts zum Abwehrrecht im engeren Sinne: Da man das normative Spezifikum der Gewissensmotivation empirisch nicht positiv definieren und erfassen kann, geht es nicht um den Schutz (die Privilegierung) von - u. U. affektiv zu verstehenden und erfahrungswissenschaftlich erklärbaren - Verhaltensimpulsen des Individuums, sondern um die Verhinderung negativer psychischer Folgen (Beeinträchtigungen, Substanzverlusten, Schäden) rechtmäßigen Verhaltens. Anders gesagt: Nach dem integritätsrechtlichen Ansatz zielt Art. 4 I GG auf die das Verhalten nachträglich bewertende conscientia subsequens.602 Grundrechtlich geschützt wird nicht das Gewissen als Handlungsmotiv, sondern geschützt wird die menschliche Psyche vor dem nachfolgenden »schlechten Gewissen4, der „Gewissensnot" als affektivem Phänomen. In der Situation der Anwendung von Art. 4 1 GG will der Grundrechtsträger aber entweder Dispens für ein zukünftiges gewissensgefordertes Verhalten erwirken oder - als ,Gewissenstäter4 - Milderung einer rechtlichen Sanktion, die für ein rechtswidriges gewissensgefordertes Verhalten verhängt werden soll. Der Grundrechtsträger will im Verhalten seinem Gewissen folgen oder ist ihm bereits gefolgt. Die Feststellung der zu verhindernden „Gewissensnot44 hat also notwendig immer 6 0 3 prognostischen oder hypothetischen Charakter. In beiden Fällen setzt eine 598 Vgl. BayOblG, StV 1985, S. 315 f. (316). Vorausgesetzt werden kann keine metaphysisch verstandene Seele, die mit Schuld belastet werden könnte. 599 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 12. Aufl. 1996, Rdn 574 mit im übrigen anderer Akzentsetzung; vgl. anders die 13. Aufl. 1997, Rdn. 522. 600 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 306. Vgl. ebd., S. 310: „der bewußten Disposition durch die individuelle Persönlichkeit entrückt". Die von einem »Freiheitsrecht im engeren Sinne' vorausgesetzten, auch psychologischen Verhaltens alternativen bestehen danach also nicht. In diese Richtung weist auch das Merkmal des „inneren Zwangs" in der Rechtsprechung des BVerwG. 601

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 306. 602 Vgl. o. bb), S. 183 ff. 603 Anderes gilt auch nicht für Fälle, in denen der Grundrechtsträger das rechtlich geforderte gewissenswidrige Tun bereits in der Vergangenheit vorgenommen hat. Die Grundrechtsanwendung hat auch dann noch prognostischen Charakter, weil es immer darauf ankommt, welche Folgen weiteres gewissenswidriges Tun haben wird bzw. gehabt hätte.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

solche Tatsachenprognose zum psychischen Zustand voraus, daß man den Grundrechtsträger als psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegend betrachtet. Gleichgültig, ob man die Verhinderung von „Gewissensnot" als Verhinderung psychopathologischer Zustände versteht oder als Verhinderung von weniger intensiven Beeinträchtigungen der psychischen Integrität 604 - das Grundrecht ist nicht ein Spezialfall der Handlungsfreiheit, sondern letztlich ein Spezialfall des umfassenden Schutzes körperlicher und psychischer Unversehrtheit nach Art. 2 Π 1 GG. 6 0 5 Welche praktischen Schwierigkeiten die Anwendung des so objektivierten Schutzbereichs mit sich bringt, wurde bereits angedeutet.606 In der Literatur geht das Vertrauen in die Umsetzbarkeit empirischer Erkenntnisse bei der Rechtsanwendung nur ganz vereinzelt so weit, daß von der empirischen Psychologie Feststellungen darüber erwartet werden, ob eine bestimmte Handlung tatsächlich noch einer Gewissensforderung entspricht oder nur als solche ausgegeben wird, nicht unmittelbar identitätsrelevant ist, 6 0 7 sowie Feststellungen darüber, ob derjenige, der sich auf sein Gewissen beruft, überhaupt in der Lage ist, Gewissensfunktionen zu aktualisieren und nicht auf der Stufe eines infantilen „heteronom-autoritären" Zwangsgewissens Stehengeblieben ist. 6 0 8 Wie ein „psychologischer Fachgutachter" 609 Feststellungen dieser Art im einzelnen treffen soll, wird nicht konkretisiert. 610 Aber auch die prognostische Feststellung von psychischen Folgen rechtmäßigen Verhaltens bzw. letztlich des staatlichen Verhaltenszwangs als Ursache und Eingriffsmaßnahme, ist praktisch äußerst schwierig. 611 Zu welchen Schwierigkeiten dieser Ansatz in der gerichtlichen Praxis führt, zeigt sehr plastisch eine Entscheidung des BayOblG zur Ersatzdienstverweigerung. 612 Der Verteidiger des

«m S. o. A.2.c) aa), S. 115 ff. 605 Was Herdegen (Gewissensfreiheit, S. 496; Gewissensfreiheit und Normativität, S. 290) auch dadurch deutlich werden läßt, daß er u. a. dem Art. 2 II 3 GG den Schrankenvorbehalt der Gewissensfreiheit entnimmt. Eine ähnliche ,Vergegenständlichung4 des Schutzguts zeigt sich etwa in der dogmatischen Einordnung des Art. 41 bei Eisenberg /Wolke, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Totalverweigerung, JuS 1993, S. 285 ff. (286), die vorschlagen, das von der Gewissensfreiheit geschützte Rechtsgut im Strafrecht über § 35 I 1 StGB („Leibes"-Gefahr) zur Geltung zu bringen. 606 S. o. A.2.c)aa), S. 115 ff. 607 Klier, Gewissensfreiheit, S. 174. 608 Ebd., S. 174, 88 f. Vgl. ebd., S. 237, 50 f. 609 Ebd., S. 88. 610 Mit der Unterscheidung von heteronomem und autonomem Gewissen gelangt hier zudem - unter dem Anspruch naturwissenschaftlicher Objektivität und Neutralität - eine Differenzierung in den juristischen Gewissensbegriff, die gerade auf der Rezeption normativ-philosophischer Gewissensbegriffe durch C. G. Jung und E. Fromm in den szientistischen Gewissensbegriff Freuds beruht. Vgl. dazu o. Teil 1, B., S. 28 f. 611 Vgl. etwa Lenckner, Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, vor §§ 32 ff., Rdn. 119. m.w.N. Vgl. o. Teil 2, A.2.c)aa), S. 121 ff.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Angeklagten hatte einen Beweisantrag des Inhalts gestellt, ein „psychologisches Gutachten des H. Prof. Dr. Dr. Horst Eberhard Richter" einzuholen, um zu beweisen, daß die Entscheidung seines dienstflüchtigen Mandanten gegen den zivilen Ersatzdienst eine „absolut verbindliche und der Persönlichkeitsstruktur entsprechende" sei und ein Zwang zum Ersatzdienst zu „schweren seelischen Schäden" und einem „Substanzverlust seiner Persönlichkeit" führen werde. Das Landgericht wies den Antrag mit der treffenden Begründung zurück, ein Sachverständigengutachten sei als Beweismittel ungeeignet: „Die zur Begutachtung gestellten Tatsachen liegen in der Zukunft und sind von einer Vielzahl von äußeren und inneren heute noch nicht absehbaren Einflüssen abhängig - wie ζ. B. auch der Gegenstand eines möglichen Zivildienstes. Prognosen im heutigen Zeitpunkt könnte nur ein Wahrsager abgeben." 613 Das BayOblG hob das Urteil des Landgerichts auf, da nach dem Beweisantrag relevante Feststellungen „durchaus möglich", jedenfalls nicht mit Sicherheit ausgeschlossen seien. Daß dem BayOblG dabei aber in Wahrheit keineswegs eine empirische fachpsychologische Folgenabschätzung vor Augen stand, zeigen die weiteren Ausführungen: Das Landgericht habe den Beweisantrag aus einem anderen Grunde zurückweisen können, es verfüge nämlich selbst über die erforderliche Sachkunde: „Die Feststellung der Motive, die als Grund für das Verhalten des Angeklagten angegeben werden, und ihre Wertung ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters". 614 Außerhalb des Bereichs von Kriegs- und Ersatzdienstverweigerung hat die Rechtsprechung - soweit ersichtlich - nie den Versuch einer empirischen Konkretisierung der Prognose „seelischer Schäden" unternommen; und auch für diesen Lebensbereich hat sie diese Versuche offenbar mittlerweile aufgegeben. 615 Das liegt wohl vor allem daran, daß sie mit dem Abstellen auf „seelische Schäden" die „psychische Unversehrtheit" im Sinne von „psychischer Gesundheit" verstanden hat. Die Definition der Kategorien von Gesundheit (Unversehrtheit) und Krankheit sind aber schon in bezug auf die körperliche Integrität mit Schwierigkeiten belastet; 6 1 6 erst recht ist es problematisch, naturwissenschaftliche und klinische Krankheitsbegriffe („als unerwünscht bewertete Abnormitäten") 6 1 7 auf die menschliche Psyche in eindeutiger Weise anzuwenden. 6 1 8 Relative Einigkeit ist zu 612 Beschl. v. 30. 1. 1985, Strafverteidiger 1985, S. 315 f. Vgl. Nestler-Tremel, verweigerung aus Gewissensgründen, Strafverteidiger 1985, S. 343 ff.

Zivildienst-

613 Zit. nach BayOblG, ebd., S. 316. Vgl. VG Wiesbaden, DVB1. 1974, S. 167 f. (168). 614 Ebd., S. 316. Hervorhebung nicht im Original. Im folgenden zeigt das Gericht, daß es für diese Wertungen selbst von einem metaphysischen Gewissensverständnis ausgeht. Auf die besondere Schwierigkeit der Auswahl eines Sachverständigen und des allseitigen Vertrauens in seine fachliche Kompetenz und wissenschaftliche Neutralität in bezug auf konkrete normative Gewissensinhalte sei hier nur hingewiesen. 615 S. o. A.2.c)aa), S. 115 ff. Konkrete gerichtliche Prüfungen eines pathologischen Zustands werden noch berichtet bei Bausenwein, Dienen oder Sitzen, 1984, S. 146 f.; NestlerTremel, Zivildienstverweigerung, S. 349 mit FN 103. 616 Hermes, Leben und Gesundheit, u. a. S. 222 ff.; Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S. 5 ff., 14 ff. 617 Seewald, Gesundheit, S. 28. Vgl. Hermes, Leben und Gesundheit, S. 225: Entscheidend ist der Vergleich mit einem „Normalzustand". 618 Vgl. Seewald, Gesundheit, S. 44 ff.

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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erzielen über als unerwünscht zu behandelnde „Abnormitäten" der „objektiven Substanz" 619 des menschlichen Körpers: Eingriffe in die materielle Substanz des Körpers (etwa auch das nicht mit pathologischen Folgen verbundene Abschneiden von Haaren 620 ) lassen sich durch das Überschreiten der räumlichen Grenze des Körpers objektiv feststellen; mittelbare körperlich-pathologische Folgen staatlichen Handelns, „Abnormitäten", lassen sich weitgehend objektivieren, weil die Naturwissenschaften (eigenständig) „Normen" über das richtige Funktionieren (den „Normalzustand") des Körpers entwickeln können. Aber wenn man räumliche Vorstellungen von Eingriffen in eine materielle „Substanz" (d. h. einen als vollständig, integer gedachten Bestand) 621 auf eine „psychische Substanz" überträgt, entfällt das Kriterium des Überschreitens einer räumlichen Grenze und entfällt die Alleinzuständigkeit und die Einigkeit der Naturwissenschaften in bezug auf ein richtiges Funktionieren. 622 Auch dann, wenn man „keine überspannten Anforderungen [ . . . ] in Richtung eines pathologischen Befundes" stellt, sondern Beeinträchtigungen geringerer Intensität genügen läßt, 623 ist das Konzept der „psychischen Unversehrtheit" kaum wissenschaftlich-empirisch zu objektivieren. Das Kriterium der Intensität des „affektiven Drucks" läßt sich für sich genommen nicht objektivieren, da die - allein empirisch erhebbaren - Erscheinungsformen und Ursachen eines solchen „affektiven Drucks" äußerst individuell und vielfältig sind. 624 Eine einheitliche Methode, die Intensität dieses „Drucks" zu messen, und ein Maßstab, das Ausmaß der Beeinträchtigung zu metrisieren, sind schwer denkbar. 625 Das einzige überindividuelle und abstrakte Kriterium, das eine gewisse Vergleichbarkeit in der Gewichtung gewährleisten könnte, wäre das - wie gesagt aber ebenfalls nicht praktikable - der psychischen Krankheit. Läßt man das Kriterium des „pathologischen Befundes" fallen, verliert man also jedes naturwissenschaftlich objektivierbare Maß. Das Dilemma zeigt sich deutlich an einem Vergleich mit der Auslegung des Merkmals der „Unversehrtheit" in Art. 2 I I 1 GG. Hier stützen sich Rechtspre619 BVerfGE 47, 239 (248); Dürig, M / D / H / S , Art. 2 Abs. II, Rdn. 30; Hermes, Leben und Gesundheit, S. 223. wo BVerfGE 47, 239 ff. 621

Vgl. J. Ipsen, Gesetzliche Einwirkungen, S. 478 r. Sp. 22 Eine Beschränkung des Grundrechtsschutzes auf solche Grundrechtsträger, die pathologisch auf staatlichen Verhaltenszwang reagieren, erscheint nicht nur aus pragmatischen, sondern vor allem aus rechtlich-normativen Gründen nicht möglich. Vgl. etwa Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 39. 6

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23 So Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 488. Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 147; dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 114, 111. 624 Zu einer relativierten Berücksichtigung affektiver Bindungen vgl. u. Teil 2 B., S. 251, 282 f. 625 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 488.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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chung und Literatur fast einmütig auf die Kriterien, die von der praktischen (klinischen) Medizin und Psychologie bereitgestellt werden, d. h. auf die Begriffe „Krankheit" und „Gesundheit", die als kontradiktorisches Begriffspaar verstanden werden, so daß „ein weiterer Zustand - zwischen Krankheit und Gesundheit nicht definierbar ist." 6 2 6 Nur in dieser Weise „medizinisch objektivierbare Störungen" oder Beeinträchtigungen fallen in den Schutzbereich des Art. 2 I I 1 GG. 6 2 7 Vereinzelt vorgeschlagene Erweiterungen des Schutzbereichs von der Unversehrtheit (Gesundheit) auf das „psychische" oder „soziale Wohlbefinden" 628 (bzw. negativ formuliert: von der Krankheit auf Beeinträchtigungen oder Belastungen geringerer Intensität) werden ganz überwiegend als zu vage und sachlich nicht begrenzbar zurückgewiesen. 629 (Das anschaulichste Beispiel für die Uferlosigkeit des so erweiterten Tatbestandes liefert das Bundesverwaltungsgericht, wenn es das durch bauliche ästhetische Verunstaltungen gefährdete „psychische Wohlbefinden" des Bürgers unter die „Unversehrtheit" des Art. 2 Π 1 GG subsumiert. 630) Umso weniger läßt sich im Rahmen der von Art. 4 I GG zu erfassenden Sachverhalte eine „psychische Unversehrtheit" unterhalb der Schwelle der von den klinischen Wissenschaften vorgeprägten Krankheitsbilder objektivierbar und wägbar machen. Auch unter Heranziehung eines psychologischen Fachgutachtens kann man kaum in empirisch-wissenschaftlich abgesicherter Weise feststellen, welches wie zu objektivierende Maß an Nervosität, Depressivität, Angst, Irritiertheit o. ä. man fordern soll, um einen ,Gewissensfair annehmen zu können, ob die erhobenen psychischen Phänomene gerade auf dem gewissenswidrigen rechtlichen Verhaltenszwang beruhen, 631 und erst recht nicht die zusätzlichen prognostischen Unsicherheiten 632 bewältigen, die entstehen, wenn es bei der Anwendung des Grundrechts um einen Dispens für zukünftiges Verhalten geht. 626 Seewald, Gesundheit, S. 29, 43 f. m.w.N. Ebenso Hermes, Leben und Gesundheit, S. 226 m.w.N. Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 GG im Immissionsschutzrecht, AöR 106 (1981), S. 205 ff. (209): „Negation pathologischer Zustände". 627 Hermes, Leben und Gesundheit, S. 226; Schulze-Fielitz, Kommentierung Art. 2 II, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bnd. I, 1996, S. 202 ff., Rdn. 20: „psychisch-seelische Pathologien". Nicht-pathologische Verletzungen sind nur hinsichtlich der körperlichen Integrität erfaßt. 628 Das „psychische Wohlbefinden" bezieht ein Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978, S. 28. In diese Richtung auch BVerwGE 77, 285 (289) (Verkehrslärm). Den weitesten Gesundheitsbegriff („körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden") verwendet die Satzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1946. Dazu E. Jung, Das Recht auf Gesundheit, 1982, S. 66 ff., 91. 629 BVerfGE 56, 54 (73 ff.) (Fluglärm; im Ergebnis offenlassend); Schmidt-Assmann, Anwendungsprobleme, S. 210; Hermes, Leben und Gesundheit, S. 225; Starck, Art. 2, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Rdn. 130; Schulze-Fielitz, Art. 2, Rdn. 21. 630 BVerwG, NVwZ 1991, S. 983 (984); BVerwG, NJW 1995, S. 2648 (2649). Dazu Schulze-Fielitz, Art. 2, Rdn. 21; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 1389 f. 631 Vgl. BVerwG, U. v. 23. 3. 1973, DVB1. 1974, S. 165 ff. (166). Schwer zu eliminieren sein dürften ζ. B. schon individuelle affektive Reaktionen auf die Prozeßsituation als solche. 632 Vgl. ο. A.I.2., S. 101 u. A.II.2.c)bb), S. 126.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Die mit solcher „Gewissenspsychologie"633 notwendig verbundenen Unsicherheiten begründen auch für das Konzept der „psychischen Unversehrtheit" die Gefahr von Grundrechtsmißbräuchen der Bürger in Form von ,strategischen4, unwahrhaftigen Berufungen auf das Gewissen (anschaulich etwa am Beispiel der Kriegsdienstverweigerung) 634 und die Gefahr von - wenn auch mit psychologischen Begriffen arbeitender - bloßer richterlicher Dezision. 635 Darüber hinaus besteht die Vermutung, daß in der praktischen Rechtsanwendung eine Psychologisierung des Gewissens meist doch auf eine (von psychologischen Laien vorgenommene) Pathologisierung hinausliefe. Das liegt vor allem an der geschilderten Maßstabslosigkeit psychischer Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle des pathologischen Befundes; anders gesagt daran, daß die psychologischen Begriffe - erst recht die dem psychologischen Laien vertrauten - meist der klinischen Psychologie entstammen und von vornherein von pathologischem (psychiatrischem) Erkenntnisinteresse geprägt sind 6 3 6 Bei einem Umgehen mit pathologischen Kategorien bewegt man sich aber im Bereich der durch Art. 2 II 1 GG geschützten psychischen Integrität. Beruht der Rückgriff auf solche psychologische Kategorien gerade darauf, daß man die normativen Elemente des Gewissensbegriffs für nicht objektivierbar und nicht anwendbar hält, so wird insgesamt zweifelhaft, wie eine Abgrenzung der Gewissensfreiheit gegenüber Art. 2 I I 1 GG noch gelingen soll. Festzuhalten bleibt jedenfalls zunächst: Normative und empirische Gewissensverständnisse führen beide zu erheblichen praktischen Schwierigkeiten bei der Konkretisierung von Art. 4 I GG. Die subjektive Konkretisierung der Gewissensfreiheit („sittliche Handlungsfreiheit") birgt mit ihrem normativen Gewissensverständnis das Risiko, daß die Konturen des Grundrechts gegenüber Art. 2 I GG und Art. 5 I GG verschwimmen (Gewissensfreiheit als allgemeines Handlungsrecht, 637 Selbstbestimmungsrecht oder allgemeine „Meinungsbetätigungsfreiheit" 638). Die empirisch-psychologisch objektivierte Konkretisierung („psychische Unversehrt-

633 Kritisch Starck, Art. 4, Rdn. 35 f. Skeptisch insofern auch v. Münch, Art. 4, Rdn. 32; Herzog, Art. 4, Rdn. 160; ders., Die Freiheit des Gewissens und der Gewissensverwirklichung, DVB1. 1969, S. 718 ff. In bezug auf die Prognose psychopathologischer Reaktionen auch Klier, Gewissensfreiheit, S. 225 ff. (234); Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 39; Eckertz, Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als Grenzproblem des Rechts, 1986, S. 323 f. Aus der Sicht der Praxis: VG Wiesbaden, DVB1. 1974, S. 167 f. (zu Art. 4 III GG). 6 34 Auch die integritätsrechtliche Interpretation des Art. 4 III GG durch die Verwaltungsgerichte konnte häufigen Mißbrauch des Grundrechts nicht verhindern: Ein gut beratener Kriegsdienstverweigerer kann etwa Kindheitserlebnisse und deren psychische Verarbeitung fast ebenso leicht vorspiegeln wie moralische Überzeugungen. 635 Vgl. Bopp, Der Gewissenstäter, S. 62 f. 636 Vgl. Eckertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 59 ff. 637 Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, NVwZ 1991, S. 1033 ff. (1035). 638 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 248.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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heit") birgt das Risiko eines Grenzverlustes gegenüber Art. 2 II 1 GG (Gewissensfreiheit als Schutz der psychischen Gesundheit).

c) Das Gewissen als beschränkt objektivierbares

Schutzgut der Gewissensfreiheit

aa) Handlungsrecht oder Integritätsrecht „Gewissen" bezeichnet ein individuelles Bewußtsein normativer Verpflichtung und damit ein psychisches Faktum. Psychologische Erkenntnisverfahren, Theorien und Modelle können erheblich zu seinem abstrakten Verständnis und auch zu seiner Erfassung im Einzelfall beitragen. Der Einsatz naturwissenschaftlicher Erkenntnisse darf aber vor allem nicht dazu führen, das Schutzgut und die Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit auf die Bewahrung eines in psychiatrischen Kategorien definierten Normal- oder Idealzustands der menschlichen Psyche zu reduzieren. Geschützt sind (auch) Gewissensinhalte (freilich keine bestimmten, keine bestimmte Moral); geschützt ist das Gewissen in seiner normativen verhaltensleitenden Qualität, und zwar auch dann, wenn es keinen überindividuellen als verbindlich erachteten (religiösen) Sittenkodex rezipiert. Vor allem spricht für eine klare Zuordnung, daß das Abstellen auf Beeinträchtigungen nach psychologischen Kriterien in der Praxis der Rechtsanwendung ohnehin die Tendenz gewinnen kann, ein Eingehen auf den normativen Aspekt des Gewissens als überflüssig erscheinen zu lassen. Gerade die soeben angesprochene Pathologisierung des Grundrechtsträgers macht es schwierig, die Gewissensinhalte als solche ernstzunehmen. Nicht zuletzt auch der Anspruch naturwissenschaftlicher Objektivität, der mit der Anwendung psychologischer Kriterien verbunden ist, kann es in der Praxis der Rechtsanwendung nahelegen, den schwerer erhebbaren normativen Aspekt des Gewissens ganz zu übergehen. Der Aspekt der „Gewissensnot" könnte so von sich aus die übrigen Aspekte des Gewissensphänomens verdrängen. Entsprechende Überlegungen gelten für alle Selbstbestimmungsrechte. Abwehrrechte schützen den Bürger immer auch vor Beeinträchtigungen seiner (psychischen) Integrität. Autonomie- und Integritätsinteressen lassen sich nicht vollständig voneinander trennen. Die Frage ist aber, welchen Stellenwert man ihnen jeweils bei der Auslegung eines Grundrechts beimißt. Vor allem die Rechtsprechung stellt in ihren abstrakten Auslegungen der Gewissensfreiheit häufig beide Interessen nebeneinander. Die grundlegende Gewissensdefinition des Bundesverfassungsgerichts fordert kumulativ ein verpflichtendes Gebot für den Grundrechtsträger und das Drohen von „Gewissensnot".639 In der 13 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Anwendung auf den einzelnen Fall tritt dann mal das Autonomieinteresse in den Vordergrund (als Schutzgut erscheint dann die „Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen, in denen sich die autonome sittliche Persönlichkeit unmittelbar ausspricht" 640 ), mal das Integritätsinteresse („daß die Substanz der Persönlichkeit nicht zerstört werden darf* 641 ). Das Integritätsinteresse rückt häufig dann in den Vordergrund, wenn sich die moralische Gewissensnorm nicht aus einer kodifizierten und damit überindividuell objektivierbaren Sittenlehre (etwa dem Koran) ableiten läßt. 642 Das Bundesverwaltungsgericht sah die Zielrichtung von Art. 4 ΠΙ GG oft im Schutz der „sittlichen Persönlichkeit" vor Zerstörung, hat im weiteren dann aber jeweils die „Persönlichkeit" in rein psychiatrischen Kategorien konkretisiert. 643 An Stelle dieser uneinheitlichen Handhabung und Ausrichtung des Grundrechts sollte eine klare Präferenz zwischen Autonomie- und Integritätsinteressen aufgestellt und dem Grundrecht entweder ein subjektives oder ein objektiviertes Schutzgut als Ausgangsbasis zugeordnet werden. Die Forderung nach einer möglichst eindeutigen Zuordnung läßt sich für alle Grundrechte des Grundgesetzes verallgemeinern. Gegen sie läßt sich nicht einwenden, daß sich insbesondere Art. 1 I GG und Art. 2 I GG dem entziehen. Im Fall der Menschenwürde (Art. 1 I GG) ist der Grund dafür der besondere „Grundlagencharakter von Art. 1 GG für die Einzelgrundrechte"; sowohl Autonomie- als auch Integritätsrechte des Grundgesetzes können als spezielle Ausprägungen und Aktualisierungen des „Basis-Postulats vom Schutz der Menschenwürde" betrachtet werden. 644 Daher muß auch das ,3asis-Postulat" selbst einen entsprechenden Doppelcharakter aufweisen. 645 Dem Art. 2 I GG kann man den besonderen Charakter eines allgemeinen Auffanggrundrechts zusprechen, das nicht nur die allgemeine Handlungsfreiheit umfaßt, sondern auch allgemein davor 639 S.o.Teil 1, B., S. 29. 640 BVerfGE 12, 45 (54). So auch BVerfGE 78, 391 (395) unter Verweis auf ein „unabdingbares religiöses Gebot". Vgl. BVerfGE 33, 23 (32) („geistig-sittliche Existenz als autonome Persönlichkeit"). 641 BVerfGE 23, 127 (134). So vor allem das BVerwG zu Art. 4 III GG. 642 Im Fall von BVerfGE 23, 127 ff. etwa gehörte der Beschwerdeführer der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas an. 643 Hervorhebung nicht im Original. 644 Vgl. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HStR, Bnd. I, 1987, § 20, Rdn. 56 ff. m.w.N.; Dürig, M / D / H / S , Art. l,Rdn. 10 ff. 645 Die einzelnen Grundrechte können in besonderen Anwendungsfällen durch den Rückbezug auf Art. 1 I GG ihren jeweiligen Charakter als Autonomie- oder Integritätsrecht verändern: So kann man unter Berufung auf Art. 1 I GG das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) zu einem Recht auf „freie Selbstbestimmung" über den Körper erweitern (ζ. B. abw. Meinung der Richter Hirsch, Niebier, Steinberger, BVerfGE 52, 171 ff. (171, 173 f.)); umgekehrt kann man den „Kern" oder „Menschenwürdegehalt" von Selbstbestimmungsrechten wie Art. 5 I GG unter Rückbezug auf Art. 1 I GG im Schutz menschlicher Integrität sehen (ζ. B. Podlech, AK, Art. 1, Rdn. 65, 62).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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schützt, „mit einem Nachteil belastet zu werden" (BVerfGE 9, 83 (88)), und so auch dem Schutz von Zuständen und Rechtspositionen dient. 646 Folgt man dem, so schließt der übergreifende Auffangcharakter des Art. 2 I GG eine eindeutige Zuordnung zu Handlungs- oder Integritätsrechten aus.

Für eine eindeutige Zuordnung der Grundrechte spricht zunächst, daß die Anwendung der Grundrechtstatbestände vorhersehbarer wird und eine Orientierung der Auslegung an den dogmatischen Strukturen eines der beiden Grundrechtstypen möglich wird. Vor allem aber spricht für eine eindeutige Zuordnung, daß eine Orientierung der Handlungsrechte („Freiheitsrechte im engeren Sinne") auf das Interesse des Grundrechtsträgers an psychischer Integrität geeignet ist, den spezifischen sachlichen Gehalt des jeweiligen Freiheitsrechts zugunsten eines allgemeinen Schutzes vor psychischer Beeinträchtigung aufzulösen. 647 Das kann sowohl zu Verengungen als auch zu schwer absehbaren Ausweitungen der Grundrechtstatbestände führen. Das „Betroffen-" oder „Belastet-Sein" überspielt dann die speziellen Anforderungen und Ziele handlungsrechtlichen Schutzes. Das anschaulichste Beispiel dafür liefert der grundrechtliche Schutz gegen die Ausstattung von staatlichen Schulräumen und Gerichtssälen mit Kreuzen. Bereits im Jahre 1973 hat das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde eines jüdischen Rechtsanwalts entschieden, daß sich im Einzelfall Grundrechtsträger durch für sie „unausweichlichen Zwang, entgegen eigenen religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen unter dem Kreuz einen Rechtsstreit führen [ . . . ] zu müssen, in ihrem Grundrecht aus Art. 4 I GG verletzt fühlen können". 648 Der Beschwerdeführer habe dargelegt, daß dies für ihn eine „unzumutbare innere Belastung" darstelle. 649 Daher liege eine Verletzung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit vor, auch wenn das bloße Vorhandensein eines Kreuzes weder eine Identifizierung „noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten" verlange. 650 Vgl. die Darstellung bei Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 76 ff. m.w.N.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 311 f.; Badura, Staatsrecht, C, Rdn. 31; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Auflage, 1991, Rdn. 428. Ausführlich Schmitt Glaeser, Schutz der Privatsphäre, in: HStR, Bnd. VI, 1989, § 129, Rdn. 17 ff. Gegen eine Ausdehnung des Grundrechtsschutzes auf jegliche faktische Belastung des Bürgers Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rdn. 379 f.; Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: HStR, Bnd. VI, 1989, § 152, Rdn. 75 ff. (unter Begrenzung des ,JEingriffs"-Kriteriums). 647 Umgekehrt wird der spezifische Gehalt der Integritätsrechte verfehlt, wenn man sie zu Handlungsrechten modifiziert; etwa Art. 2 II als Recht zum Handeln in bezug auf Körper und Gesundheit. Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 131 ff. (136); Heun, Der Hirntod als Kriterium des Todes des Menschen, JZ 1996, S. 213 ff. (219 mit FN 100). Vgl. die Darstellung bei Morlok, Selbstverständnis, S. 76 ff. we BVerfGE 35, 366 (375 f.). 649 Ebd., S. 376. Die manchmal als mißverständlich apostrophierte Formulierung kann auch als Kennzeichen des hier vertretenen integritätsrechtlichen Verständnisses der Religionsfreiheit betrachtet werden. 13

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

An letzterem setzt die Kritik an dem Beschluß an. Der Beschwerdeführer werde weder an einer durch Art. 4 I GG geschützten eigenen Handlung gehindert noch zur Teilnahme an entsprechenden fremden Handlungen gezwungen; Art. 4 I und Art. 2 I GG seien nicht „in Richtung auf ein (psychisches) Nicht-berührt-werden" zu erweitern. 651 Parallelen finden sich im Zusammenhang der sog. „Kruzifix"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Die Beschwerdeführer, die sich als „Anhänger der anthroposophischen Weltanschauung" verstanden, wandten sich gegen die „religiöse Beeinflussung", die „subtile Prägung im Sinne des christlichen Bekenntnisses", 652 die von Kreuzen in Schulräumen ausgehe.653 Dabei bleiben jedoch Zweifel, inwieweit dies die tatsächlichen Motive des Rechtsschutzbegehrens waren. Denn erstens hätte es zumindest der Erläuterung bedurft, wieso nach der individuellen Vorstellung der Beschwerdeführer ein - von den Anthroposophen gemeinhin in dieser Allgemeinheit nicht gesehener - Widerspruch besteht zwischen der „anthroposophischen Weltanschauung" und der »christlichen Weltanschauung4, die im Symbol des Kreuzes nur in allgemeinster Form zum Ausdruck kommen kann. Zweitens spricht dagegen, daß es in erster Linie um Glaubensinhalte ging, das Vorbringen der Beschwerdeführer, »»insbesondere durch die Darstellung eines »sterbenden männlichen Körpers4 44 werde auf ihre Kinder eingewirkt (vor den Verwaltungsgerichten hatten sie explizit das Drohen „seelischer Schäden" geltend gemacht.654); zwischenzeitlich hatten die Beschwerdeführer sich auch auf die Kompromißlösung eingelassen, ein kleineres Kreuz ohne Korpus im Klassenzimmer zu dulden.655

Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert die Glaubensfreiheit als Prüfungsmaßstab zunächst in der gewohnten handlungsrechtlichen Sicht; die Glaubensfreiheit verbiete u. a. den Zwang, an kultischen Handlungen teilnehmen zu müssen. Die entscheidende Wendung kommt dann mit der Aussage: „Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole .. . " . 6 5 6 Die Glaubensfreiheit verbietet es danach auch, den einzelnen in eine unausweichliche „Lage" zu bringen, in der er religiösen Symbolen „ausgesetzt" bzw. mit ihnen „ k o n f r o n t i e r t " 6 5 7 wird. Daß das Gericht insgesamt den Fall weniger unter dem Gesichtspunkt des (positiven oder negativen, inneren oder äußeren) Verhaltens als unter dem der Integrität betrachtet, zeigt sich am deutlichsten daran, daß es mit Kriterien wie dem Gewicht 650 BVerfGE 35, 366 (375). 651 E.-W. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen?, ZevKR 20 (1975), S. 119 ff. (139 f. m.w.N., 146 f.), der allerdings die Gewissensfreiheit für verletzt hält. Dazu sogleich. Vgl. die Entscheidungsanmerkung von Rüfner, NJW 1974, S. 491. 652 BVerfGE 93, 1 (2,6 f.). 653 Die Verfassungsbeschwerde stützt sich daneben auf eine Verletzung der staatlichen Pflicht zu religiös-weltanschaulicher Neutralität. 654 BayVGH, BayVBl. 1991, S. 751 ff. (753). 655 BVerfGE 93, 1 (2 f.) 656 Ebd., S. 15 f. 657 Ebd., S. 16, 18. Vgl. die Eilentscheidung BVerfGE 85, 94 (96). Vgl. dazu Isensee, Bildersturm durch Grundrechtsinterpretation, ZRP 1996, S. 10 ff. (12).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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der „psychischen Beeinträchtigung" und der Zumutbarkeit der „mentalen Belastung" arbeitet. 6 5 8 Die rechtswissenschaftliche Literatur verneint denn auch ganz überwiegend einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 4 1 GG; zum Teil wiederum unter Kritik daran, daß das Gericht Art. 4 1 GG hier nicht mehr als ein die Freiheit der Selbstbestimmung sicherndes Handlungsrecht (Verhaltensrecht) begreift; 6 5 9 zum Teil sogar unter ausdrücklicher Differenzierung zwischen Religionsfreiheit und Schutz der psychischen Integrität; 6 6 0 die Befürchtung seelischer Schäden hätte von den Beschwerdeführern danach allenfalls unter dem rechtlichen Maßstab der „grundrechtlich geschützten Unversehrtheit" 6 6 1 (Art. 2 I I 1 GG) substantiiert werden können. 6 6 2 Selbst Autoren, die dem Beschluß i m Ergebnis zustimmen, versuchen dies unter Achtung des handlungsrechtlichen Charakters der Religionsfreiheit zu rechtfertigen, indem sie an das Lernen unter einem religiösen Symbol anknüpfen und dies nach dem Selbstverständnis der einzelnen Lernenden - als „Religionshandlung" klassifizieren. 6 6 3 Ob man tatsächlich in dieser Weise das gemeinsame Tun der Gruppe aus der Sicht eines einzelnen und den Zwang zur Teilnahme daran so als Grundrechtseingriff qualifizieren k a n n , 6 6 4 bedarf hier ebensowenig einer abschlie658 So sogar die abweichende Meinung der Richter Seidl und Söllner und der Richterin Haas, BVerfGE 93, 1 (25 ff., 33). Vgl. zuvor im den Beschluß tragenden Teil, S. 20: „mentale Beeinflussung". Vgl. BVerfGE 35, 366 (376). Vgl. BayVGH, BayVBl. 1991, S. 751 ff. (751): Der als „unzumutbar empfundene Anblick" stelle eine „vergleichsweise geringfügige Belastung" dar. 659 Vgl. u. a. die fundierte Darstellung bei Jestaedt, Das Kreuz unter dem Grundgesetz, Journal für Rechtspolitik 3 (1995), S. 237 ff. (250 ff., 260), der die Qualität von Glaube und Bekenntnis als subjektive Schutzgüter betont. Ebenso Isensee, Bildersturm, S. 12, 14: Selbst wenn man dem Kreuz appellative Wirkung zuspricht, ist ein Appell an die Selbstbestimmung des Grundrechtsträgers als solcher noch keine Beschränkung derselben. In diese Richtung auch Badura, Das Kreuz im Schulzimmer, Archiv für kath. KirchenR 164 (1995), S. 17 ff. (21, 34 f., 38 ff.) („Glaubens- oder Gewissenszwang" als entscheidendes Kriterium); MiillerVolbehr, Positive und negative Religionsfreiheit - Zum Kruzifix-Beschluß des BVerfG, JZ 1995, S. 996 ff. (997 f.) Vgl. auch Hechel, Das Kreuz im öffentlichen Raum, DVB1. 1996, S. 453 ff. (474 ff.); Heckmann, Eingriff durch Symbole?, JZ 1996, S. 880 ff., S. 885 ff. m.w.N. S. 880 f., FN 5; Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 75, 83 ff., 184 ff., 251 m.w.N. 660 Heckmann, Eingriff durch Symbole?, S. 885 f., 888 f.

661 Renck, Anmerkung zum Beschl. des VG Regensburg v. 1. 3. 1991, BayVBl. 1991, S. 346 f. (346). 662 Dazu, daß das vorliegend kaum aussichtsreich scheint, vgl. Jestaedt, Das Kreuz, S. 255, der die von Renck überzeichnend ins Feld geführten „ekklesiogenen Psychosen" allerdings unter dem Gesichtspunkt der Gewissensfreiheit anspricht. 663 Goerlich, Krieg dem Kreuz in der Schule?, NVwZ 1995, S. 1184 ff. ( 1186). 664 Vgl. Jestaedt, Das Kreuz, S. 253. Der entscheidende Ansatzpunkt dürfte wohl der sein, ob es dem einzelnen im konkreten Fall ausnahmsweise gelingt, darzulegen und zu vermitteln, daß und warum er (1) konkret in seinem Glauben beeinflußt wird oder (2) das gemeinsame Tun für ihn eindeutigen Bekenntnischarakter oder gar den Charakter einer kultischen Handlung gewinnt. Vgl. Jestaedt, Das Kreuz, S. 252; Badura, Das Kreuz, S. 21, 34 f., 38 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

ßenden Entscheidung wie die Frage, ob der Kruzifix-Beschluß im Ergebnis auf das objektiv-rechtliche Verfassungsprinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates hätte gestützt werden können. 665 Der Beschluß zeigt jedenfalls, daß auch mangelnde Trennung von Religionsfreiheit und Schutz der psychischen Integrität eine weitgehende Entgrenzung des Art. 4 1 GG fördert. 666 Daß auch das Grundrecht der Gewissensfreiheit durch seine integritätsrechtliche Wendung nicht nur eine Eingrenzung, sondern auch eine tatbestandliche Erweiterung erfahren kann, zeigt Böckenförde, wenn er dem Bundesverfassungsgericht im Fall des Kreuzes im Gerichtssaal im Ergebnis beitritt, indem er eine Verletzung dieses Grundrechts annimmt: 667 Da ein „von einer bestimmten Gewissens Vorstellung geprägter normativer Gewissensbegriff* dem Grundgesetz nicht gerecht werde, könne das Gewissen nur als eine „vorgegebene Wirklichkeit" verstanden werden, deren identitätsstiftende „Funktion" durch „sozialwissenschaftliche Analyse" „erfahrungsmäßig kontrollierbar" sei. 668 (Die Möglichkeit eines nicht von einer bestimmten Gewissensvorstellung geprägten normativen Gewissensbegriffs wird nicht erwogen). Die Gewissensfreiheit schützt das Funktionieren des psychischen Systems, sie stützt vor der „Erscheinung der »gebrochenen Persönlichkeit* " 6 6 9 , und sie schützt u. a. auch vor rein empfindungsmäßigen Beeinträchtigungen. 670 Im zu beurteilenden Fall genügt Böckenförde die Feststellung, die grundlegende Einstellung, christlich geprägten Situationen auszuweichen, sei für den Beschwerdeführer identitätsbildend „('einer der sich darauf einläßt, kann ich nicht sein 4 )". 671 Eine empirische Absicherung findet das freilich nicht, und das Gewissenselement der unbedingten normativen Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten (etwa christlich geprägte Situationen zu meiden) ist ganz ausgeblendet.672 Auch bei der Anwendung der übrigen Handlungsrechte des Grundgesetzes könnte man theoretisch die Schutzbereichsbetroffenheit davon abhängig machen, 665

So im Ergebnis Morlok Art. 4, Rdn. 99; Renck, Zum rechtlichen Gehalt der KruzifixDebatte, ZRP 1996, S. 16 ff. (18 ff.). Anders Jestaedt, Das Kreuz, S. 249, 253; Meckel, Das Kreuz, S. 471 ff.; Müller-Volbehr, Positive und negative Religionsfreiheit, S. 998 ff. Vgl. schon E.-W. Böckenförde, Kreuze, S. 121 ff. 666 Vgl. Heckmann, Eingriff durch Symbole?, S. 885 ff. Vgl. auch Jestaedt, Das Kreuz, S. 253. 667 Das Ergebnis mag auch durch die besondere zeitgeschichtliche Komponente mitbestimmt sein. Vgl. Jestaedt, Das Kreuz, S. 256 mit FN 126. 668 E.-W. Böckenförde, Kreuze, S. 142 f. mit Verweis u. a. auf Luhmann. Vgl. dens., Das Grundrecht, insbes. S. 66 f. 669 E.-W. Böckenförde, Kreuze, S. 143. 670 Ebd., S. 147. 671 Ebd., S. 144. 672 Die Beschwerdeführer berufen sich nicht auf eine religiös oder anders begründete moralische Pflicht, sondern auf die „Zumutung" einer Konfrontation mit christlichen Symbolen (ebd., S. 144).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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welche psychischen Reaktionen der Eingriff (etwa die Untersagung eines Berufs) beim Grundrechtsträger hervorruft. Eine so weitgehende Psychologisierung der Grundrechte und Vermengung von Integritäts- und Autonomieinteressen wird aber regelmäßig nicht vorgenommen. Zwar kann u. U. bei der gebotenen ganzheitlichen Sicht eines Grundrechtsfalls die psychische Belastung des Grundrechtsträgers in Rechnung gestellt werden. 673 Das sollte jedoch nur auf der Ebene der Abwägung, bei der Beurteilung von Intensität und Verhältnismäßigkeit des Eingriffs geschehen - gegebenenfalls auch erst durch Berücksichtigung eines durch Art. 2 I I 1 GG vermittelten konkurrierenden Grundrechtsschutzes. Die Definition des Schutzbereichs (des Schutzgutes) der Handlungsrechte sollte aber dadurch nicht - weder im Sinne einer Begrenzung noch im Sinne einer Ausweitung - beeinflußt werden, da sonst die jeweilige spezifische Schutzrichtung modifiziert oder gar konterkariert würde. (Art. 121 GG dient zunächst der Sicherung der wirtschaftlich-materiellen Basis individuellen Lebens, Art. 5 I 1, 1. HS der geistigen Betätigung im und für das Gemeinwesen usf.)

bb) Handlungsbezug und Normativität des Gewissens Das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist ein Freiheitsrecht im engeren Sinne, das das vom Gewissen unbedingt geforderte Handeln (Verhalten) schützt. Das als „Gewissen" bezeichnete seelische Phänomen ist begriffsnotwendig immer auf die Beurteilung und Lenkung des eigenen Verhaltens gerichtet. Das könnte man auch als „normative Funktion" des Gewissens bezeichnen. Nur in der handlungsrechtlichen Sicht des Grundrechts kann diese verhaltensleitende „Funktion", kann der vom einzelnen als unbedingte Verhaltenspflicht erfahrene normative Aspekt des Gewissensphänomens angemessen erfaßt werden. Dieser normative Aspekt aber ist der für das Recht wesentliche und derjenige, der den Gewissensbegriff auch in Ait. 41 GG prägt. aaa) Gründe Die zum Teil schon angesprochenen674 Gründe dafür seien im folgenden noch einmal zusammengestellt und ergänzt. α) Art. 4 I GG schützt nach seinem Wortlaut die Freiheit des Gewissens und nicht seine Unverletzlichkeit. Der Begriff des Gewissens hat im Wortsinn Ausgangspunkt der Norminterpretation zu sein. 675 Er bezeichnet im allgemeinen 673 Das muß man zumindest für die Fälle annehmen, in denen der Kernbereich, der „Menschenwürdegehalt'4 eines Handlungsrechts betroffen ist. Vgl. o. aa), S. 193 f. m.w.N. 674 Vgl. insbes. o. A.II.2.c), S. 115 ff. 675 Vgl. Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 307, 309 ff.; Lorenz / Canaris, 1995, S. 141. Vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 4. Aufl. 1990, S. 182 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Sprachgebrauch in erster Linie das Vermögen des Menschen zu moralischer Selbstbeurteilung und seine moralischen Überzeugungen, nicht den Aspekt der „Gewissensnot". 676 In dieser Bedeutung ist der Begriff Teil der Alltagssprache, in dieser Bedeutung ist er geprägt worden durch Theologie und Philosophie, 677 rezipiert worden in der Literatur 678 , und diese Bedeutung dominiert auch bis heute die Begriffsverwendung in der Philosophie sowie in der nicht ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Psychologie. 679 Aussagekräftiger für die Verfassungsinterpretation ist aber die nun darzustellende juristische Begriffsverwendung, der allgemeine rechtliche Sprachgebrauch. ß) Das Grundrecht der Gewissensfreiheit steht trotz seiner Verselbständigung historisch 580 und systematisch 681 in engstem Zusammenhang mit der Freiheit von Glauben, Bekenntnis und Religionsausübung als subjektiven Schutzgütern. Während der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ihr säkularisiertes Pendant in Form der Weltanschauungsfreiheit 682 im Normtext des Art. 4 I GG zur Seite steht, hat der (verfassungsrechtlich geforderte) Prozeß der Säkularisierung im Falle der Gewissensfreiheit den Normtext nicht berührt und zu einer säkulären Verselbständigung durch Interpretation des Grundrechts geführt, die das religiös und das nicht-religiös fundierte Gewissen umfaßt. 683 Die zentrale Bedeutung des normativen Gewissensaspekts und der handlungsrechtliche Charakter des Grundrechts werden durch die Säkularisierung aber nicht 676 s. o. B.I.2.b)cc), S. 187 ff. m.w.N. 677 s. o. Teil 1, B., S. 24 ff. Überblick über zeitgenössische philosophische Beiträge bei Werner, Das Gewissen im Spiegel der philosophischen Literatur von 1945-1976, Philosophisches Jahrbuch 90 (1983), S. 16 ff., der dieses Ergebnis auch für sprachanalytisch orientierte Autoren der angelsächsischen Länder sowie insbesondere für die Philosophie der romanischen Länder bestätigt. 678 Vgl. etwa die Zusammenstellung bei Sill, Phänomen Gewissen, 1994, S. 3 ff. 679 s. o. Teil 1 B., S. 28 f. Vgl. Werner, Das Gewissen, insbes. S. 169. Überblicke über die Gewissensverständnisse der genannten Richtungen der Psychologie bei Petrilowitsch (Hrsg.), Das Gewissen als Problem, 1966; J. Blühdorn (Hrsg.), Das Gewissen in der Diskussion, 1976, v. a. S. 461 ff.; Sill, Phänomen Gewissen, S. 121 ff. Vgl. Ryffel, Gewissen, S. 323 f. 680 Vgl. o. A.I.l.c),S.97ff. 681 Dabei kann dahinstehen, ob bei der Verfassungsinterpretation auf das »klassische4 Auslegungsargument des systematischen Bedeutungszusammenhangs (dazu Larenz, Methodenlehre, 3. Aufl. ((Anm. 675), S. 16 f., 311 ff.) zurückgegriffen werden darf oder ob dies der Interpretation einfachgesetzlicher (vor allem zivilrechtlicher) Gesetzeskodifikationen vorzubehalten ist. Auch wenn dem GG als Ganzem kein System zu unterstellen ist, muß doch der unmittelbare Normkontext oft schon aus rein sprachlichen (allgemeinen hermeneutischen) Gründen herangezogen werden und kann im Regelfall auch als durch den historischen Verfassungsgeber redaktionell abgestimmt betrachtet werden. 682 Der Schutzbereich erfaßt die Weltanschauung nach allg. Meinung nicht nur in der Äußerungsform des „weltanschaulichen Bekenntnisses.44 Vgl. ζ. B. Morlok, Art. 4, Rdn. 11,31. 683 Zur Säkularisierung des Art. 4 GG vgl. ebd., Rdn. 11.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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notwendig beseitigt; es ist weiterhin eher in Anlehnung an Religions- und Weltanschauungsfreiheit als in Anlehnung an Art. 2 I I 1 GG auszulegen.684 Die „psychische Unversehrtheit" ist demgegenüber eine durch Interpretation gewonnene Erweiterung der in Art. 2 Π 1 GG grundrechtlich geschützten „körperlichen Unversehrtheit". 685 Einen deutlicheren normtextlichen Anhalt für die Betonung des normativen, handlungsleitenden Gewissensaspekts enthalten Art. 4 ΙΠ und seine Konkretisierung in Art. 12a GG, die ebenfalls zum engen historischen und systematischen Kontext des Art. 4 I GG gehören; Art. 12a II spricht von der „Freiheit der Gewissensentscheidung" und von „Gewissensgründen" als Motiv der Kriegsdienstverweigerung. 7) Ein noch näher liegender »systematischer4 Gesichtspunkt ergibt sich innerhalb der Auslegung von Art. 4 1 GG. Überall, wo dem Grundrecht über die Funktion als subjektives Abwehrrecht gegen staatliche Verhaltensgebote hinausgehende Funktionen und Anwendungsbereiche zugesprochen werden (objektive Grundrechts ge~ halte), meint „Gewissen" unstreitig den normativen Gewissensaspekt. Das Gewissen, das im Rahmen eines „metajuristischen Prinzips Gewissensfreiheit" zur Basis für die Demokratie, für die Akzeptanz des Rechts und die sachliche Beschränkung staatlichen Handelns erklärt wird, 6 8 6 kann nur das normativ-handlungsleitende Gewissen sein. Wenn Gewissensfreiheit als objektiv-rechtliches Verfassungsprinzip („Wertentscheidung") als Auftrag an den Gesetzgeber zu inhaltlicher Zurückhaltung oder zur Schaffung von Verhaltensalternativen wirkt, 6 8 7 dann steht auch dahinter die Idee der Selbstverantwortlichkeit der Bürger, nicht Rücksicht auf ihre Integritätsinteressen; dem Bundesverfassungsgericht zufolge dient etwa die gesetzliche Freistellung der Ärzte von einer arbeitsvertraglichen Pflicht zur Mitwirkung an (rechtmäßigen) Abtreibungen ausdrücklich der „Gewissensfreiheit" und damit der „Freiheit der ethischen Überzeugung". 688 684 Zum trotz der Säkularisierung fortbestehenden engen Zusammenhang des Grundrechts zur Religionsfreiheit vgl. Ryffel, Gewissen, S. 334. Vgl. zuletzt K. D. Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit, 1997, S. 32. 685 Schweizerische Kantonsverfassungen jüngeren Datums etwa differenzieren genau, wenn sie ζ. B. aufzählen: „Gewährleistet sind insbesondere: a. das Recht auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit b. Glaubens- und Gewissensfreiheit c. Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit [ . . . ]", § 6 II der Verfassung Basel-Landschaft v. 1984; vgl. aber auch bereits §§11,15 Verfassung Aargau, Art. 8 Verfassung Jura. Vgl. auch die Differenzierung in Art. 1041 2 GG. 686 S.o. A.I.1.,S.91 ff. 687 S. ο. A.I.2., S. 100 ff. 688 Art. 2 des 5. StrRG, 1974. BVerfGE 39, 1 (54). (BVerfGE 88, 203 (294) verweist nur auf Art. 12 I GG). Mit gleicher Zielrichtung bereits Bosch/Habscheid, Nochmals: Vertragspflicht und Gewissenskonflikt, JZ 1956, S. 297 ff. (300); Mayer-Maly, Das staatliche Arbeitsrecht und die Kirchen, Essener Gespräche 10 (1976), S. 127 ff. (149). Es wurde bereits darauf

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Wo das Grundrecht der Gewissensfreiheit als Abwehrrecht das sog. forum internum und den Prozeß der Gewissensbildung schützt, ist Schutzgut ebenso die Selbstbestimmung hinsichtlich eigener handlungsleitender Überzeugungen; auch und gerade dort, wo sich der Schutz gegen manipulatorische staatliche Eingriffe in die Psyche richtet, bildet sie den »eigentlichen*, über die Abwendung psychischer Beeinträchtigungen hinausgehenden Schutzzweck.689 δ) In einer an die Religionsfreiheit angelehnten Interpretation bleiben auch die historischen und aktuellen - menschenrechtlichen Bezüge des Grundrechts erhalten. Die Menschenrechte - zu deren ersten die Gewissensfreiheit in ihrer ursprünglichen religiösen Verbindung zählte - 6 9 0 finden ihre historische Wurzel und bis heute die Basis für ihren universalen Anspruch in der Idee von Freiheit und Gleichheit der Menschen. Der Grundimpetus der Freiheit ist dabei der der Autonomie (im Sinne von Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, nicht Willkür). 6 9 1 Deutlichen Niederschlag findet das etwa in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), an deren Spitze in Art. 1 die Aussage steht: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen/* Dieser Grundgedanke und die unmittelbare Verbindung von Gewissens- und Religionsfreiheit kommen auch in Text und Auslegung des Art. 9 I EMRK zum Ausdruck. 692 Die zur Anwendung der Konvention eingesetzten Organe haben der Gewissensfreiheit zwar bislang noch keine festen Konturen gegeben;693 fest steht aber, daß sie eine Säkularisierung dieses Rechts betreiben, indem sie (die EKMR) die Tatbestandsmerkmale „religion or belief* weit auslegen, so daß jede Überzeuhingewiesen, daß mit vertraglich begründeten Rechtspflichten konkurrierende Gewissenspflichten allgemein eher als solche anerkannt werden. 689 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 270 ff. m.w.N. Nur bei Scholler steht - durch dessen angreifbare Gesamtkonzeption der Gewissensfreiheit als Schutz der „Geheimsphäre** bedingt - auch hier die psychische Integrität als solche im Vordergrund, Die Freiheit, S. 131 ff., 140 ff. 690 S.o. A.II. l.,S. 107 ff. 691 Vgl. etwa die Beiträge in J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte, 1978; insbes. Ryffel, Zur Begründung der Menschenrechte, ebd., S. 55 ff. (65 ff., 84 ff.) und Schild, Systematische Überlegungen zur Fundierung und Konkretisierung der Menschenrechte, ebd., S. 37 ff. Vgl. auch J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981; Saladin, Verantwortung, S. 202 ff., 216 f.; Lorz, Modernes Grund- und Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, 1993, insbes. S. 330 ff. (zur Gewissensfreiheit S. 307 ff.). 692 „Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit...". Vgl. die Darstellung der Rechtsprechung (Berichte) der Europäischen Kommission für Menschenrechte bei Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990, S. 154 ff. und Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 126 ff. 693 Blum> Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 154; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 127 f. m.w.N.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

gung darunterfällt. 694 Als „Gewissensentscheidung" im Sinne des Art. 9 I kann sich daher ,jede ernsthafte und an grundlegenden Kategorien irgendwelcher Art orientierte Entscheidung" darstellen. 695 Die Ausrichtung auf „religious or other beliefs" und die Parallele zur „Gedankenfreiheit" führen konsequenterweise zu einem subjektiven Gewissensverständnis: „Thought denotes the exercise of human reason, while conscience suggests the application to characterization of behaviour. Both concepts, amorphous as they are, centre uppon subjective patterns." 696 Unklar scheint weithin, welche Formen der „manifestation" von „religion or belief 4 geschützt werden; ob nur das verbale Bekenntnis oder auch die über kultische Handlungen hinausgehende tätige Umsetzung von Überzeugungen in der Lebenspraxis. 697 Jedenfalls in Fällen traditioneller religiöser Überzeugungen scheint die Europäische Kommission für Menschenrechte von dem weiteren Tatbestandsverständnis auszugehen, etwa in Fällen der Ersatzdienstverweigerung 698 oder der Verweigerung von (Vieh-)Impfungen 699 ; aber auch in Fällen der Ablehnung der Wahlpflicht 7 0 0 oder in einem Fall, in dem ein Sozialarbeiter eine Jugendliche dem Zugriff von Polizei und Eltern entzog 701 . Auf die materielle, affektive Basis des Gewissensphänomens wird jedenfalls nicht zurückgegriffen. Auch in anderen völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen oder sonstigen internationalen Rechtsakten steht der Schutz der Gewissensfreiheit immer in en-

694 Partsch, Die Rechte und Freiheiten der europäischen Menschenrechtskonvention, 1966, 190 ff. (191); M. N. Shaw, Freedom of Thought, Conscience and Religion, in: Macdonald et. al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 445 ff. (448); P. van Dijk/G. J. H. van Hoof, Practice of the European Convention on Human Rights, 2. Aufl. 1990, S. 397 f. („any conviction"). Streitig ist - ähnlich wie im Rahmen des Art. 4 I GG - ob auch „politische " Überzeugungen geschützt sind; bejahend Partsch, a. a. O., verneinend J. A. Frowein, Art. 9 EMRK, in: ders./W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 1985, Rdn. 3. 695 Frowein/Peukert, EMRK, Art. 9, Rdn. 3. 696 Shaw, Freedom, S. 447. Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 157 ff. (159): „Schutz des innersten Kerns der menschlichen Selbstbestimmung". Vgl. F. G. Jacobs, The European Convention on Human Rights, 1975, S. 144. 697 Dafür Blum, Die Gedanken-, Gewissen- und Religionsfreiheit, S. 157 f. Vgl. Frowein/ Peukert, EMRK, Art. 9, Rdn. 10 ff. Ablehnend etwa Partsch, Die Rechte, S. 194 ff. 698 E 7705/76, DR 9, 196 (199); Β 2299/66, 12. 12. 1966, Grandrath ./. D., S. 30 f. Vgl. Frowein/Peukert, EMRK, Art. 9, Rdn. 3. 699 Vgl. van Dijk/van Hoof, Theory, S. 400 f. m.w.N.; Blum, Die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit, S. 156 f. mit FN 17. 700 EKMR, 22. 4. 1965, Β 1718/62, YB 8, S. 168 (172); EKMR 22. 3. 1972, Β 4982/71, YB 15, S. 468 ff. Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 158 f. 701 EKMR, 19. 12. 1974, Β 6753/74, DR 2, S. 118. Blum, Die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit, S. 154; van Dijk/van Hoof, Theory, S. 400 f., die über die genannten Fälle hinaus etwa auch ein aufgrund einer „political or philosophical conviction" ergangenes „Berufsverbot" von Art. 9 I EMRK erfaßt sehen.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

gem Zusammenhang zur Religionsfreiheit (Art. 18 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, Art. 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, Art. 12 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, Art. 8 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker, Abschn. V I I der KSZE-Schlußakte (1975)). Dieser Schutz zielt - freilich bei großen Unterschieden in der inhaltlichen Reichweite und Beschränkung des Rechts - auf religiös oder weltanschaulich begründete sittliche Wertvorstellungen und Überzeugungen („belief 4 ), die zu bekennen (und zu bestätigen) „in accordance with the dictates of his own conscience" 702 dem einzelnen zugebilligt wird. 7 0 3 Entsprechende Positivierungen und Auslegungen findet das Menschenrecht (mehr oder minder säkularisiert) in den meisten europäischen und nordamerikanischen Verfassungsordnungen, 704 auch im angelsächsischen Rechtskreis: Gewissensfreiheit kann dort etwa definiert werden als „the right to hold and profess what principles we choose, and to live in accordance with them." 705 Die Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court schützt Gewissensentscheidungen (die in der Verfassung nicht ausdrücklich privilegiert werden) in enger Anlehnung an die Religionsfreiheit (v. a. die sog. ,free exercise clause 4 ) 706 . Dabei wird zwar auch das Maß der affektiven Bindung zum Kriterium, 707 der normative Aspekt des Gewissens bleibt aber im Vordergrund, da es für das Eingreifen des grundrechtlichen Schutzes entscheidend darauf ankommt, ob der Bürger seine unbedingte innere Bindung durch für ihn grundlegende moralische Überzeugungen darlegen kann, 708 zu denen er sich mit derselben Intensität bekennt und die für ihn dieselbe Verpflichtungskraft haben wie traditionelle religiöse Glaubensüberzeu709

gungen. Freilich dürfen aus dem Gesagten nicht leichtfertig Schlüsse für die Interpretation von Art. 4 I GG gezogen werden, schon weil den genannten Rechten sehr unterschiedliche rechtliche Bindungskraft und praktische Realisierungschance zukommt und sie zum Teil in einem von dem des Grundgesetzes sehr verschiedenen grundrechtsdogmatischen Rahmen stehen, so daß ihre tatbestandliche Begrenzung 702 Abschn. VII der KSZE-Schlußakte 1975, International Legal Materials 14 (1975), S. 1292. 703 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 125 f., 130 m.w.N. 704 Vgl. die Darstellung ebd., S. 81 ff., 130 ff. 705 Vgl. F. G. Jacobs, The European Convention, S. 144 m.w.N. Zu den engen Grenzen dieses Rechts in Großbritannien vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 84 ff. 706 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 93 ff. 707 Ebd., S. 148, 102, 119 f.: Abgestellt wird auf solche „deeply held moral, ethical or religious beliefs", die bei der Befolgung zuwiderlaufender staatlicher Imperative „would give them no rest or peace" (Welsh v. United States, 398 U.S. 343). 708 vgl. ebd., S. 147 f., 118 ff. Zum Teil wird auch abgestellt auf die objektivierbare (von einer Gruppe) praktizierte Lebensordnung. Vgl. ebd., S. 103 (Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205). 709 Vgl. ebd., S. 131, 148.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

weniger dringlich erscheinen mag; andererseits sollte eine Abkehr von den menschenrechtlichen Gehalten der Gewissensfreiheit bei der Bestimmung ihres Schutzguts nicht vorgenommen werden, wenn auch der grundrechtsdogmatische Rahmen des Grundgesetzes die erforderlichen Begrenzungen der Freiheit eines normativ verstandenen Gewissens („conviction", „principles", „religious or other belief 4 , „moral sense") erlaubt. ε) Ein entscheidender ,systematisch'-teleologischer Gesichtspunkt unter dem Grundgesetz ist die die gesamte Rechtsordnung übergreifende »Systematik4 der Verwendung und rechtsethisch fundierte Bedeutung des Gewissensbegriffs: Die verfassungsgesetzliche, einfachgesetzliche oder freie Bezugnahme auf das Gewissen durch den Staat kann ihre Funktion, den Regelungsgehalt von Rechtsnormen zu ergänzen oder zu verstärken, 710 überhaupt nur erfüllen, wenn man „Gewissen" durch seinen normativen Aspekt definiert. Aber auch denjenigen einfachgesetzlichen Rechtssätzen, die staatliche Verhaltenspflichten bei Vorliegen von kollidierenden Gewissensgründen zurücknehmen, 711 liegt dasselbe Verständnis zugrunde; auch diese sog. Freistellungsklauseln werden gemeinhin nicht in den Dienst der psychischen Integrität gestellt. Der Rechtsstaat, der dort, wo das positive Recht an seine Grenzen stößt, das Gewissen als handlungsleitende normative Instanz zu seinen Zwecken ,in die Pflicht nimmt 4 , muß es auch im Falle der Kollision von Rechtsnorm und Gewissensnorm (nicht nur auf der Ebene des einfachen Gesetzes) als solches ernstnehmen. 712 In einer solchen Berücksichtigung unterverfassungsrechtlichen Rechts liegt aus mehreren Gründen keine unzulässige Auslegung der Verfassung nach Maßgabe des einfachen Rechts in dem von Leisner 713 beschriebenen Sinne („Verfassung nach Gesetz44, „Normstufenvertauschung"). Erstens ist der hier vorgeschlagene einheitliche Gewissensbegriff nicht nur durch einfach-gesetzliche, sondern entscheidend auch durch andere verfassungsrechtliche Normen geprägt (Art. 38 I 2; 56; 64 II; 12 a II; 4 III GG). 7 1 4 Zweitens ist der Gewissensbegriff inhaltlich abstrakt kaum objektivierbar; anders als Begriffe wie „Religion44, „Kunst44, „Forschung44 usf. 710 S.o.Teil 1, D.M., S. 35 ff. 711 S.o.Teil 1, D.II., S. 83 ff. 712 Vgl. Ryffel, Gewissen, S. 331 ff. (insbes. 333); Schambeck Ethik und Staat, 1986, S. 183 f. Im Ergebnis auch Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 274. 713 Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung. Betrachtungen zur möglichen selbständigen Begrifflichkeit im Verfassungsrecht, 1964, insbes. S. 6 f., 9 f.; ders., Die Gesetzmäßigkeit der Verfassung, JZ 1964, S. 201 ff. (203 ff.). Für den Gewissensbegriff wird hier nur die Übernahme kirchenrechtlicher Begrifflichkeit ausgeschlossen (ebd., S. 14 f.). Diese Gefahr nimmt gar nicht als solche wahr, wer ohnehin bei den Grundrechten auf einer „wechselseitigen Bezogenheit" von Grundrecht und Vorbehaltsgesetzgebung aufbaut (vgl. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 210 ff.; dens., Die Menschenwürde, Rdn. 83 speziell zur Konturierung des Menschenwürdebegriffs durch die einfache Rechtsordnung). 714 S. o. Teil 1, D.I.l.b)aa) und 2.a), S. 44 f. u. 68 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

wirkt er nur sehr begrenzt als Grenze oder Auftrag staatlicher Gesetzgebungstätigkeit, enthält als Bestandteil von Rechtssätzen kein verallgemeinerungsfähiges umsetzbares Programm und hat damit ohnehin keine verfassungsrechtliche Maßstabfunktion im typischen Sinne. Und drittens wird schließlich der Gewissensbegriff durch die Berücksichtigung des einfachen Rechts nicht eingeengt - wie andere Grundrechtsbegriffe durch die Berücksichtigung ihrer jeweiligen Schrankenge setze - , sondern erweitert und in seiner verfassungsrechtlichen Wirkkraft verstärkt. ζ) Ausschlaggebend ist letztlich nicht der Begriff des Gewissens bzw. eine systematische Auslegung der ihn enthaltenden Rechtsvorschriften, sondern das Verhältnis der von ihm bezeichneten Wirklichkeit zur Wirklichkeit des Rechts. Ein Staat, der für sein Recht über bloße Zwangswirkung hinausgehende Geltung oder Normativität beansprucht, 715 kann nicht an der Sache Gewissen, an der (Selbst-)Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun, vorbeigehen, und er sollte das Gewissen - in seiner Ambivalenz - auch dort als solches ernstnehmen, wo es sich gegen ihn wendet: „Entweder anerkennt man es als Schranke des Rechts, zugleich auch als eine seiner wichtigsten Grundlagen, oder man hält nichts darauf..." 7 1 6 Durch die Etablierung eines empirisch-naturalistischen Gewissensverständnisses, gelingt es dem Staat demgegenüber vielleicht, das System seiner Rechtsordnung gegen Infragestellung durch normative Ansprüche fremder Provenienz zu immunisieren; er läuft aber Gefahr, so einen weiteren Beitrag zur Austrocknung des „Nährbodens" 717 zu leisten, den ein allgemeines (Bürger und Amtsträger umgreifendes) Rechtsethos für das Recht bildet. Der Staat lebt - in seiner modernen freiheitlich rechtsstaatlichen Gestalt - nicht nur von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen 718 (d. h. Voraussetzungen, die er nicht selbst schaffen darf), sondern auch von Voraussetzungen, die er „durch die Formen des Rechts allein" auch gar nicht gewährleisten kann. 719 Was der Staat aber darf und kann, ist, in gewissen Formen daran mitarbeiten, daß bestimmte Voraussetzungen erhalten und geschaffen werden; nicht nur durch Bildung und Erziehung, sondern auch durch die Ausgestaltung seiner Verfahren der Rechtserzeugung (Rechtssetzung und Rechtsanwendung).720 715 S.o. A.I.1..S.91 ff. 716 Mayer-Maly, Anmerkung zum Urteil des BAG ν. 24. 5. 1989 (BAG, JZ 1990, S. 142 f. (142). 717 Heyen, Über Gewissen und Vertrauen des Abgeordneten, Der Staat 25 (1986), S. 35 ff. (50). 718 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 80. Zuerst ders., Die Entstehung des modernen Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 ff.

(112).

719 Heyen, Über Gewissen, S. 50. Vgl. H.-R. Reuter, Rechtsethik in theologischer Perspektive, 1996, S. 304: „Der Staat muß gewissensbestimmte Dialoge als eine Grundlage seiner selbst voraussetzen, von der er lebt, ohne über sie verfügen zu können44.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

Grundvoraussetzung des notwendigen Rechtsethos ist aber, daß Staat und einzelne Bürger sich in ihren normativen Ansprüchen wechselseitig anerkennen und respektieren. 721 Und das heißt für den Staat zuerst, daß er den einzelnen nicht nur als Objekt seiner Regelungsgewalt behandelt, sondern ihn als „freies" Subjekt seines eigenen Handelns sieht, 722 als in Beziehungen stehende „Person" 723 und als nach Gründen, nicht nur nach Ursachen handelndes Wesen.724 Trotz aller Einsicht in die Bedingungen und Ursachen menschlicher Überzeugungen und menschlichen Verhaltens aus der ,Außerperspektive 4 der empirischen Wissenschaften muß der Staat die ,Innenperspektive4 des Subjekts insoweit teilen: der einzelne ist selbst verantwortlich für sein Tun; er ist »Zurechnungsendpunkt4 jeder Verantwortlichkeit. Hier liegt die normative Funktion des Gewissens für den einzelnen und innerhalb der Rechtsordnung: Im Gewissen rechnet sich der einzelne selbst sein Tun als eigenes zu; das Gewissen ist „das Bewußtsein selbstzugeschriebener Verantwortlichkeit 44 . 725 Für den Staat ist, indem er diese Perspektive in der Anwendung des Art. 4 1 GG teilt, auch das Gewissen-Haben selbst nicht nur „vorgegebene Wirklichkeit 44 , 726 sondern seinerseits auch normative Zuschreibung. 727 (Wenn etwa Art. 1 EMRK sagt, alle Menschen seien „mit Vernunft und Gewissen begabt44, ist das selbstverständlich nicht als tatsächlicher Befund gemeint, sondern als bewußte Setzung, Zuschreibung und Anspruch.) 728 Darin bringt sich in besonderer Weise die Subjektqualität des Grundrechtsträgers zur Geltung: Art. 4 I GG macht nicht nur bestimmte, empirisch faßbare Äußerungsformen menschlichen Lebens zu seinem Regelungsgegenstand, sondern ein empirisch jedenfalls praktisch nicht vollständig 720 Vgl. etwa Saladin, Verantwortung, S. 147 ff. m.w.N. 721 Schambeck, Ethik, S. 183 f., 189. 722 Auch das BVerfG (E 12, 45 (54)) betont die hinter der Verbürgung von Gewissensfreiheit stehende Anerkennung „freier Selbstbestimmung des Einzelnen" als „gemeinschaftsbildenden Wert". 723 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, 1990, S. 18. 124 Honnefelder, Vernunft, S. 114 f.; ders., Praktische Vernunft und Gewissen, in: Hertz u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bnd, III, 1993, S. 19 ff. Vgl. Schockenhoff, „testimonium conscientiae". Was ist norma proxima des sittlichen Urteils?, in: Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 73 ff. (78 f.). 725 Lenk, Gewissen und Verantwortung als Zuschreibungen, Zeitschr. für philosophische Forschung 41 (1987), S. 571 ff. (580). Der affektive Aspekt des Gewissens beruht darauf, daß dieses Deutungsmodell durch Verinnerlichung zum Teil der Persönlichkeit wird (ebd.). 726 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 66. 727 Den Menschen vollständiger empirischer Erfassung zu entziehen, beruht insofern auf einer bewußten Wertung. Vgl. Starck, Menschenwürde als Verfassungsgarantie im modernen Staat, JZ 1981, S. 457 ff. (462). 728 Lenk, Gewissen, S. 583. Sehr betont in diesem Sinne etwa Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, der das „Gewissensprinzip" als „Stützpfeiler der Republik" betrachtet (S. 59 f.), was sich in seiner restriktiven Auslegung des Art. 4 I GG allerdings nicht niederschlägt (vgl. ebd., S. 420 f.; vgl. dagegen S. 665 f., 810 ff., 1086). Vgl. Ryffel, Gewissen, S. 326, 329, 331, 334 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

auflösbares Urteilsvermögen des Menschen. Das Gewissen-Haben ist nicht allein empirisch feststellbare Eigenschaft des Menschen, sondern, wie die Würde in Art. 11 GG, normative Zuschreibung. Indem ihm Gewissen zugeschrieben wird, erscheint der Mensch nicht nur als Gegenstand, Objekt einer rechtlichen Regelung und damit eines (rechtlichen) normativen Urteils, sondern unmittelbar als selbst (moralisch) normativ urteilendes Subjekt. 729 In vergleichbarer Weise wie auch in Art. 5 I GG erscheint der Mensch als Denkender, Urteilender, in der Rolle des „Richters" gegenüber der „Welt der Gegenstände". 730 Diese Subjektqualität des Menschen und seine »normative Kompetenz* setzt der Staat etwa voraus, wenn er strafrechtliche Sanktionen verhängt (auch wenn die Gerichte dies im Rahmen des § 17 StGB heute nicht mehr durchgängig als rechtlich geforderte „Gewissensanspannung" o.ä. bezeichnen 731 ); 732 sie sollte er auch noch in dem Grenzfall voraussetzen, daß der Bürger keinen Ausweg, keine Möglichkeit rechtskonformen Verhaltens für sich sieht und sich - als ultima ratio gegen das Recht auf sein Gewissen beruft. In diesem Grenzfall wird die Gewissensfreiheit nicht nur für die Grundrechtsinterpretation durch die Rechtswissenschaft, sondern für den einzelnen Bürger ganz praktisch zum „Prüfstein unserer gesamten Staatsauffassung". 733 Dabei soll nicht der falsche Eindruck erweckt werden, als sei die Orientierung des Grundrechts der Gewissensfreiheit auf die psychische Integrität grundsätzlich Ausdruck einer einseitig szientistischen und deterministischen Anthropologie. Sie ist vielmehr wohl meist Ausdruck eines pragmatischen Bemühens, der unbestrittenen Notwendigkeit von Grundrechtsbegrenzungen Rechnung zu tragen. Ihr auf Hypothesen und Prognosen angewiesenes734 Konzept fordert aber praktisch notwendig die Annahme eines naturgesetzlichen Kausalitäten, nicht beherrschbaren (affektiven) Prozessen unterworfenen Menschen. Die Begrenzung des Schutzbereichs durch das Abstellen auf eine Gefährdung der psychischen Integrität ist so nicht einfach eine Ergänzung eines weiteren Kriteriums des Schutzbereichs (eines weiteren Tatbestandsmerkmals), es beeinflußt vielmehr den Gewissensbegriff selbst, dem es entnommen wird („Gewissensnot"). Die damit verbundene Modifikation des Schutzguts kann in jedem Falle dazu beitragen, das Gewissen insgesamt mit seinem affektiven Aspekt zu identifizieren. Hier - und nicht in ihrer fragwürdigen Praktikabilität735 oder in dem durch sie bewirkten Grenzverlust gegenüber Art. 2 II G G 7 3 6 - liegt die eigentliche 729 Vgl. Arthur Kaufmann, Das Gewissen, S. 18: der Mensch als Subjekt und Objekt normativer Diskurse. Vgl. Häberle, Die Menschenwürde, Rdn. 52. 730 Vgl. Eckertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 97 ff., 108 ff. 73 1 S.O.Teil 1, D.I.l.d), S. 60 ff. 732

Vgl. etwa Arthur Kaufmann, Das Gewissen, S. 22 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 137 ff. (141). 733 Vgl. Herzog, Die Freiheit, S. 719; Schiaich, Neutralität, S. 2. 734 S. o. b)cc), S. 188 ff. 735 s. o. Teil 2, A.II.2.c)aa), S. 115 ff. u. Teil 2, B.I.2.b)cc), S. 188 ff. 736 Vgl. ebd.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Schwierigkeit einer psychologischen Vergegenständlichung des Gewissens. Denn wie eine rein tatsachenwissenschaftliche Perspektive geeignet ist, die Normativität des Rechts auszublenden oder gar aufzulösen, 737 so ist sie auch geeignet, die Normativität von Moral und Ethik 738 und die Normativität des Gewissens aufzulösen. 739

Ein empirisches Gewissensverständnis kann beitragen zu einem grundlegenden Mißverständnis des „normativen Wandels der Moderne" und Ausdruck dieses Mißverständnisses sein: daß eine ausschließliche Alternative besteht zwischen traditionellen (ζ. B. naturrechtlichen) Auffassungen eines normativ inhaltlich vorgegebenen Richtigen, „vorgegebener Normativität" auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer tendenziellen „Ausschaltung des Normativen" 740 schlechthin durch die szientistische, empirisch-analytische Beschränkung des Blicks auf den Menschen. 741 Vor eine solche Alternative zwischen Dogmatismus und Relativismus 742 gestellt, scheint dem durch das Rechtsgebot religiös-weltanschaulicher Neutralität gebundenen Juristen nur die Wahl des letzteren und damit eines „ausschließlich empirischen Gewissensverständnisses" möglich: 743 „Wenn es eine objektive Moralordnung gibt, die in die Lage versetzt, Gewissen zu beurteilen, ist nicht einzusehen, warum das Gewissen und nicht vielmehr die Moralordnung das Entscheidende sein soll (Luhmann). Wenn es keine solche Ordnung gibt," - und davon muß der Autor ausgehen - „ist nicht einzusehen, warum das Gewissen einen solchen Wert haben soll, daß es Respektierung seiner Entscheidungen von jedermann soll verlangen können". 744

737 Arthur Kaufmann, Das Gewissen, S. 18 ff.; ders., Recht und Sittlichkeit, 1964, S. 2 ff.; Ryffel, Zum ethischen Fundament der Rechtswissenschaften, in: ARSP, Beiheft 13, 1980, S. 138 ff. (138 mit FN 2, 149, 151). Vgl. dens., Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 146 ff. 738 Plastisch etwa der Tagungsbericht bei Chr. Geyer, Abgeschnurrt. Die Moral des Soziologen, FAZ v. 17. 7. 1996, S. N5; A. Pieper, Einführung in die Ethik, 3. Aufl. 1994, insbes. S. 136 ff. 739 Plastisch etwa Kuhn, Art. Gewissen I, StL, Bnd. II, 7. Aufl. 1986, Sp. 1050 ff. (1051); E. Fromm, Philosophische Anthropologie und Psychoanalyse, in: Rocek/Schatz (Hrsg.), Philosophische Anthropologie heute, 1972, S. 84 ff. (90 ff.) 740 Ryffel, Zum ethischen Fundament, S. 152. 741 Ryffel, Zur Begründung, S. 65 f., 92 ff.; ders., Zum ethischen Fundament, S. 151 f.; ders., Gewissen, S. 325 f. Vgl. Heyen, Geschichtsphilosophie oder Ethik? in: ders. (Hrsg.), Vom normativen Wandel des Politischen (FS Ryffel), 1989, S. 43 ff. (45 ff.). 742 Ryffel, Zum ethischen Fundament, S. 152. Vgl. die typisierende Gegenüberstellung von Dogmatismus und Skeptizismus bei Eckertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 52 ff., 72 ff., 82 ff. 743 Vgl. Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit, Der Staat 25 (1986), S. 251 ff. (252). Diese einseitige Alternative findet sich etwa bei E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, insbes. S. 66 f.; pointiert bei dents., Kreuze, S. 142 f. (vgl. o. aa), S. 195 ff.) mit Verweis auf Luhmann (vgl. o. A.II.2.c)aa), S. 116 ff.). Podlech, Das Grundrecht, S. 30 f. u. 31 f., 34. 744 Podlech, Das Grundrecht, S. 34. 14 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Seinen „Wert" kann das Gewissen danach nur aus einer vorgegebenen Moralordnung beziehen; als individueller ernsthafter Versuch einer inhaltlichen Konkretisierung von normativer Ordnung zählt es nicht. Die Alternative von Dogmatismus und Relativismus ist jedoch keine absolute; sie übergeht die Möglichkeit einer von Staat und Individuum in „geteilter Verantwortlichkeit" 745 zu leistenden „aufgegebenen Normativität". 746 Letztere kennt zwar keine transzendent oder naturrechtlich präformierten Imperative, sie anerkennt aber den „'normativen Charakter' des menschlichen Daseins" 747 sowie die Berechtigung und die „durchgehende Unvermeidlichkeit der normativen Fragestellung" in allen Bereichen von Recht, Staat und Politik. 748 Für die Rolle des einzelnen steht dabei die Instanz des Gewissens. Man muß aber „keine an sich existierende Wertordnung voraussetzen, um die nicht-empirischen Züge des Gewissensphänomens deuten" 749 - und das heißt auch, in den Zusammenhang des Rechts integrieren - zu können. Man muß auch keine vorgegebene objektive Wertordnung oder Moralordnung voraussetzen, um von einem weithin komplementären (auch aufeinander bezogenen, einander auch bedingenden und bedürfenden und auf ständige Vermittlung angelegten) Verhältnis von individueller und sozial (vor allem im Recht) verfestigter Normativität ausgehen zu können. Das Verhältnis der vom Gewissensbegriff bezeichneten Wirklichkeit zum Recht ist so als »Antinomie" 750 oder „Paradoxon" 751 nicht hinreichend beschrieben. Das Gewissen spielt eine ambivalente Rolle: es ermöglicht und gefährdet jede über eine bloße Zwangsordnung hinausgehende normative Ordnung. 745 Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 68 ff. Vgl. ebd., S. 148 f. 746

RyffeU w i e Anm. 265; auch zu Art. 4 I GG: Honnefelder, Praktische Vernunft und Gewissen, in: Hertz u. a. (Hrsg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bnd, III, 1993, S. 19 ff. (20 f.). Vgl. auch Arthur Kaufmann, Das Gewissen, S. 17 ff.; W. Henke, Recht und Staat, 1988, S. 411 ff., 417 f. 747 Ryffel, Zum ethischen Fundament, S. 141. 748 Ebd., S. 138 u. ff. 749 Lenk, Gewissen, S. 580. 750 H.-L Schreiber, Gewissen im Recht - Gilt das allgemeine Gesetz nur nach Maßgabe des individuellen Gewissens?, in Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 29 ff. (37 f.); Podlech, Das Grundrecht, S. 34. Vgl. allgemein zur Antinomie von Individuum und Gemeinschaft im Recht Morlok, Selbstverständnis, S. 10 ff. m.w.N. 751 Podlech, Das Grundrecht, S. 27: Das individuelle Gewissen kann keine gesell schaftserhaltende Ordnung garantieren; die Gesellschaft keine gewissensgemäße. Ebenso Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 130; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 146. Es mag zwar als ein „Dilemma" {Isensee, Gewissen im Recht, S. 41; H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 484) erscheinen, daß sich die Möglichkeit des Konflikts von Recht und Gewissen nicht theoretisch auflösen läßt (vgl. auch Podlech, Das Grundrecht, S. 27 mit FN 13); das Verhältnis von Recht und Gewissen läßt sich jedoch nicht auf den - in Art. 4 I GG erfaßten - Konfliktfall reduzieren.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Nur wenn man auch eine positive normative Funktion des Gewissens im Recht anerkennt, ist seine grundrechtliche Schutzwürdigkeit einsehbar. Die Person wird so als „sittlich-normative nicht auf einen drohenden psychischmateriellen Konflikt" reduziert; 752 das Gewissen behält seinen „Bezug auf eine in dialogischen Verständigungsprozessen zu bewährende Sittlichkeit" wie das Recht seinen ,3ezug auf diskursiv zu ermittelnde Gerechtigkeitsprinzipien". 753 Damit soll weder einer durchgängigen Moralisierung des Rechts noch einer Verrechtlichung der Moral das Wort geredet, sondern nur auf die gegenseitige Abhängigkeit und Aufeinanderbezogenheit von Recht und Moral sowie auf praktische Berührungspunkte zwischen ihren getrennten Bereichen hingewiesen werden. Diese Berührungspunkte liegen auch in den „Gewissens"-Rechtssätzen des positiven Rechts, die so auch als »Scharnier4 zwischen den Bereichen begriffen werden können und nicht nur als »Fremdkörper 4 im Recht erscheinen müssen. η) Die Betonung des normativen Gewissensaspekts muß sich vor allem gegenüber dem verbreiteten „Anarchie"-Argument rechtfertigen. Es besagt, daß der Staat seine Souveränität und seinen Bestand aufs Spiel setzt, wenn er dem einzelnen Bürger sachlich unbeschränkte Kompetenz (Souveränität 754, KompetenzKompetenz 755 ) zu normativem Urteil und - aufgrund der Schwierigkeit jeglicher objektiver Überprüfung von Gewissensentscheidungen - dem einzelnen damit letztlich eine „Selbstermächtigung 44756 zur Dispensierung zubilligt. 757 Dem sei zugestanden, daß die Dispensierung von gesetzlichen Pflichten aus Gewissensgründen dort tatsächlich zu einer Auflösung von Bindungskraft und Realisierungschancen des Rechts führt, wo das Bewußtsein, insbesondere das öffentliche Bewußtsein für die Besonderheit des Gewissensfalls verlorengeht und allgemein hinter der Berufung auf das Gewissen nicht mehr als ein bloßes LästigkeitsKalkül erwartet wird; die Entwicklung bei der Kriegsdienstverweigerung scheint zum Teil diese Richtung zu nehmen. 758 Dem kann jedoch im Rahmen der Anwen75 2

Bock, Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht - Rechtswissenschaftlicher Teil, in: ders., Diefenbacher/Reuter, Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht, 1992, S. 129 ff. (143). 753 //.-/?. Reuter, Rechtsethik, S. 302. Vgl. o. Teil 1, D.I.l.b), S. 44 ff. u. Teil 1, D.I.2.a), S. 67 ff. und S. 76 f. zur Prozeduralisierung der Gewissensbindung von Amtsträgern. 754 Vgl. etwa Scholler, Die Freiheit, S. 194 m.w.N. 755 Vgl. Podlech, Das Grundrecht, S. 30. 756 Isensee, Gewissen im Recht, S. 52. 757 Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 45; Welzel, Gesetz und Gewissen, in: v. Caemmerer u. a. (Hrsg.), FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bnd. I, 1960, S. 383 ff. (399 ff.). Vgl. Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 19 ff. m.w.N. auf die ältere Rechtsprechung und Literatur. Von einer „anarchischen Interpretation" des Art. 4 I sprechen etwa Podlech, Das Grundrecht, S. 29 ff.; Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung staatlichen Rechts, 1994, S. 260 ff. Vgl. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 483 f.; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 130. 14*

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. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

dung von Tatbestand und Schranken des Art. 4 I durch die staatlichen Rechtsanwender entgegengewirkt werden; zu einer faktischen „Selbstermächtigung" des Grundrechtsträgers darf sich das Grundrecht nicht entwickeln. Das „Anarchie"-Argument ist kritisch darauf zu überprüfen, 759 inwieweit es eine tatsächliche, reale Gefährdungslage beschreibt. Gegen eine solche spricht, daß die Berufung auf das Gewissen gegen das Gesetz heute weder in personeller noch in sachlicher Hinsicht ein „Massenphänomen" ist: 7 6 0 die Fälle der Gewissensfreiheit sind an sich zahlenmäßig begrenzt und darüber hinaus statistisch wohl auch außerhalb der typischen Gewissenskonflikte religiöser Minderheiten weitgehend auf begrenzte Lebensbereiche konzentriert (u. a. Verweigerungen staatlicher Dienste als Soldat, Zivildienstleistender, Zeuge, Schöffe usf.). Die tatsächliche Bedrohung für den Staat ist außerdem dadurch begrenzt, daß es dem Grundrechtsträger in den weitaus meisten Fällen nicht um ein aktives Handeln geht, sondern um ein bloßes Unterlassen, das staatliche Strukturen in der Regel weniger angreift und es vor allem dem Staat meist erlaubt, die verweigerten Handlungsbeiträge des einzelnen anderweitig zu ersetzen. 761 Die Warnung vor der Anarchie durch die Gewissen der Bürger gewinnt - etwa bei Hobbes - 7 6 2 Leben vor dem historischen Hintergrund des entstehenden modernen Staates, der sich allein gegen in unüberbrückbare Gegensätze verstrickte religiöse und moralische Rigorismen behaupten muß; 763 sie verliert aber an Überzeugungskraft in dem Maße, in dem diese Bedrohung für den Staat an Eindeutigkeit und Einseitigkeit (Ausschließlichkeit) verliert. Man kann die normative Ordnung des Staates heute auch einer doppelten und gegensätzlichen Bedrohung ausgesetzt 75 8 Roellecke, Normakzeptanz und Rechtsbewußtsein, Konsequenzen aus der Autonomie des Rechts, JZ 1997, S. 577 ff., S. 581. 7 59 Vgl. außer den im folgenden genannten Lisken, Gefährdungen, S. 533 ff., 539, 547; dens., Zur Gewissensfreiheit des Schöffen, NJW 1997, S. 34 f., 35; A. Arndt, Die Zeugen Jehovas, S. 180 f. Vgl. auch W. Marx, Das Grundrecht, S. 176. 760 Die Grundrechts!nterpretation ist an der verfassungspolitischen „Normallage" zu orientieren. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 80. Vgl. Herzog, Die Freiheit, S. 722. Klier, Gewissensfreiheit, S. 179 f. m.w.N.; Marcic, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 113 ff. (115). An der Einschätzung dieser „Normallage" haben auch die Erfahrungen der 80er Jahre mit den rüstungspolitischen Debatten nichts Grundlegendes geändert. Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 45; Nestler-Tremel, Zivildienstverweigerung, S. 352; Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 145 f. 7

i Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, AöR 90 (1965), S. 257 ff. (282 f.); Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 280 f.; Tenckhoff, Strafrecht, S. 452 mit FN 67. 7 *2 Leviathan. Erster und zweiter Teil (Übers, v. J. P. Mager), 1970, S. 269 (29. Kap.). Vgl. ebd., S. 61 (7. Kap.). 763 Für den Staat des 17. Jh. stellte sich die „Gewissensinstanz" - sofern er sie überhaupt berücksichtigte - so dar als „der unbewältigte Rest des Naturzustandes, der in den formvollendeten Staat hineinragte". C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938), 1982, S. 84 ff. Vgl. auch Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens (1991), 1995, S. 236 ff., 455 m.w.N.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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sehen: der der neuen „Fundamentalismen" auf der einen Seite und der einer „postmodernen Beliebigkeit (ich stehe hier, aber ich kann auch ganz anders)" auf der anderen Seite. 764 Dabei stand bislang die rechtswissenschaftliche Diskussion um die Anerkennung des Gewissensarguments und ihre praktischen Folgen auch unter dem Eindruck der Bedrohung durch einen ganz konkreten politischen Fundamentalismus, dem Eindruck des „tiefen weltanschaulichen Schismas unserer Zeit zwischen Liberalismus und Sozialismus", 765 das den Staat als ganzen, in seiner Identität (und von realer politischer Macht unterstützt) in Frage stellte. Auch insoweit sind Bedrohungsanalysen in einem geänderten weltpolitischen Kontext vielleicht zu überdenken. Wo der Staat in einzelnen Bereichen seines Handelns und einzelnen Funktionen in Frage gestellt, gestört oder effektiv bedroht wird, kann dies im Rahmen der Schranken der Gewissensfreiheit ausreichend Berücksichtigung finden. 766 bbb) Konsequenzen Bereits der normative Verhaltensbezug des Gewissens hat eine gewichtige praktische Konsequenz für das Grundrecht der Gewissensfreiheit: es schützt nur konkretes menschliches Verhalten. α) forum internum Zum Verhalten ist - wie bei der Religionsfreiheit - auch die innere, geistige Selbstbestimmung zu rechnen, 767 also das Bilden und das Innehaben (Bewahren) von moralischen Überzeugungen. Der Schutz des sog. forum internum gegen propagandistische oder suggestive Beeinflussung, Indoktrination oder gar psychisch wirkende Manipulation durch Drogen, Psychopharmaka, Hypnose o. ä. ist also

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Oelmüller, Durch Grenzerfahrungen herausgefordert, Herder Korrespondenz 1993, S. 134 ff. (138). Das „Gewissen-Haben" des einzelnen erscheint so wieder in seiner Ambivalenz für den Staat als unverzichtbar und gefährlich zugleich. Vgl. Ryffel, Zum ethischen Fundament, S. 138, 152. Beide, Relativismus wie Dogmatismus, können in letzter Konsequenz den Rechtsstaat zur Anarchie oder zu einem extremen Zwangsregime auflösen. Vgl. dens., Gewissen, S. 334. 76 5 E. Paul, Die Funktion des Gewissens im Recht, in: Kallenbach / Schemel (Hrsg.), Funktion des Gewissens im Recht, 1970, S. 23 ff. (44). 766 Einer bewußten Inkaufnahme des „Risikos der Anarchie" (so Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, Der Staat 26 (1987), S. 371 ff. (S. 390); ders., Das Recht der Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, 1991, Rdn. 88 f., 44 f.) bedarf es nur, wenn man von einer absoluten Schrankenlosigkeit des Grundrechts ausgeht.

767 Vgl. auch BVerwGE 64, 196 (199): Gewissensfreiheit als „verfassungsrechtliche Ausformung der Freiheit des Denkens."

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

zentraler Bestandteil des Schutzbereichs; 768 er ist der schrankenlos gewährleistete Kernbereich der Gewissensfreiheit. 769 Die Freiheit der Gewissensbildung, d. h. der individuellen und eigenverantwortlichen Entwicklung von Gewissensüberzeugungen, insbesondere durch Kinder und Jugendliche, wird zumeist auch zur (inneren) Gewissensfreiheit gerechnet 770 und hat - im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit - praktische Relevanz im Bereich des Schulwesens erlangt; etwa wenn das Bundesverfassungsgericht unter Berufung auch auf die Gewissensfreiheit eine Gewährleistungspflicht des Staates für die pluralistische Vielfalt des Schulwesens (und damit auch den Bestand von Privatschulen) annimmt 771 oder wenn (im Ergebnis allerdings erfolglos) die Gewissensfreiheit gegen die Bestimmungen des Reichskonkordats zur Bekenntnisschule, 7 7 2 gegen bestimmte Unterrichtsinhalte (Sexualkundeunterricht) 773 oder gegen die staatliche Schulpflicht als solche 774 angeführt wird. Die Gewissensbildung wird als ein selbstbestimmtes Verhalten geschützt; der Prozeß der Gewissensbildung kann jedoch unmöglich den selben Schutz genießen wie sein Resultat, eine verfestigte Gewissensüberzeugung und deren Umsetzung im Verhalten (Gewissensentscheidung). Während sich letztere der Mensch als eigene, höchstpersönliche, seine Subjektqualität und Identität mitbestimmende in einer singulären Entscheidungssituation selbst zurechnet, ist er im Prozeß der Gewissensbildung auch passiv, rezipierend, sich u. U. seiner selbst gar nicht bewußt. Gewissensbildung vollzieht sich in einem langwierigen oder lebenslänglichen Prozeß der Sozialisation, der Internalisierung von Werten und Normen im Kontakt mit der Umwelt und in ständiger Beeinflussung durch sie. 775 Auch von staatlichen Stellen geht solche Beeinflussung aus: von der Umwelterziehung durch das Sortieren von Müll im staatlichen Kindergarten über die schulische Erziehung (die ζ. B. im Fall der Sexualerziehung u. U. ausdrücklich dazu beitragen soll, „Wertempfinden und 768

Vgl. Scholler, Die Freiheit, S. 146 ff., 217 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 267 f., 270 f.; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 30, 15; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 40 ff.; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 131 ff., 97 ff. 7 69 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 285, 267, 270 ff., 312 (Beschränkung nur durch entgegenstehendes Verfassungsrecht). 770 Ζ. B. Morlok, Art. 4, Rdn. 63; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 64, 85. ™ BVerfGE 75,40 (62 f., 66 f.). 772 BVerfGE 6, 309 (339 f.). 773 Z. B. VG Hannover, Beschl. v. 25. 5. 1992-6 Β 2024/92, KirchE 30, 248 ff. (nur zur „Glaubensfreiheit"). ™ BVerfG, Beschl. v. 5. 9. 1986, JZ 1986, S. 1019; BVerfGE 34, 165 (186 f., 195) - Förderstufe (vgl. auch BVerfGE 41, 29 (47 ff.)); BayVGH, Beschl. v. 16. 3. 1992-7 CS 92.512, KirchE 30, S. 131 ff. (136 f.) m.w.N. auf ältere Entscheidungen; AG Bonn, NJW 1989, S. 1047. Zu ähnlichen Fällen aus den USA vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 227, 97 ff. m.w.N. 77 5 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 148 ff., 271 ff., 179 f.; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 125 ff; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 64 ff. Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 41.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Gewissen" zu entwickeln 776 ) bis zur Anti-Drogen-Kampagne im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Nicht zuletzt das staatlich gesetzte Recht hat erheblichen Anteil an der Verinnerlichung von Normen. Intention des Grundrechts kann es aber nicht sein, jeden dieser staatlichen Akte unter dem Aspekt der Gewissensfreiheit als Grundrechtseingriff rechtfertigungsbedürftig zu machen. 777 Eine sinnvolle Begrenzung des grundrechtlichen Schutzes fordert vielmehr, die Gewissensbildungsfreiheit nur als Schutz gegen bestimmte Formen manipulatorischer Einflußnahme zu verstehen, gegen Indoktrination von religiösen oder sonstigen weltanschaulichen Inhalten, die der Neutralitätspflicht des Staates widersprechen, 778 und gegen absolute Wahrheits- und Verbindlichkeitsansprüche staatlicher Einflußnahme 779 (ersteres verstößt in der Regel auch gegen die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht, letzteres auch gegen das objektiv-rechtliche Neutralitätsprinzip 780). Zurückhaltung hinsichtlich des Verbindlichkeitsanspruchs ist vor allem dort gefordert, wo der Staat, um Wertungen des Rechts »werbend* umzusetzen, vom Bürger die Teilnahme an einem Beratungsverfahren fordert, das ihm helfen soll, eine „eigenverantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen" (§2191 StGB). Darüber hinaus kann man der Gewissensfreiheit die Pflicht des Staates entnehmen, etwa im Bereich der Schule mit wachsendem Alter der Schüler für eine inhaltliche Pluralität der Einflüsse zu sorgen (ζ. B. keine einseitige »Friedenserziehung4 und keine einseitige »Verteidigungserziehung4 zu üben), 781 um eigenverantwortliches und bewußtes Treffen von Lebensführungsentscheidungen zu ermöglichen. Mit zunehmendem Alter kann die Gewissensbildungsfreiheit des Kindes in Konflikt geraten mit dem Recht der Eltern (Art. 6 Π 1 GG) 7 8 2 , auf die Gewissensformation einzuwirken; hier hat die Schule u. U. Raum zu schaffen für eine eigenständige Entfaltung und Betätigung des Gewissens (etwa wenn muslimische Eltern die Befreiung ihrer Töchter vom Sportunterricht gegen deren Willen beantragen) 783.

776 Empfehlung der Kultusministerkonferenz v. 3. 10. 1968, zit. nach BVerfGE 47, 46 (49). Vgl. allg. zu Gewissensbildung und staatlichem Bildungsauftrag Ryffel, Gewissen, S. 335. 777 Zu weit greifen daher Aussagen, die Gewissensbildung unterliege keinerlei staatlichem Zugriff (Η. Η Klein, Gewissensfreiheit, S. 494). 778 Vgl. EKMR 8. 9. 1993, D 17187/90, DR 75, S. 57, wo „moral and social education lessons" gebilligt werden, aber jede „form of indoctrination" ausgeschlossen wird. 779 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 371 f., 274 f. 780 Vgl. Bäumlin, Das Grundrecht, S. 30, 15, der Art. 2 und 5 GG heranzieht. 781 Vgl. zu dieser Problematik Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 274 f. 782 Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 489, Vgl. Nishihara, Gewissensfreiheit in der Schule, Der Staat 32 (1993), S. 569 ff. (572), im folgenden mit zu weitreichenden pauschalen Konsequenzen aus der Gewissensbildungsfreiheit (insbes. S. 574: „Einflußnahme der Schule auf die sittliche Entwicklung").

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Einen Sonderfall der Gewissensbildungsfreiheit hat Amelung 784 aufgezeigt: Die Praxis der Beschlagnahme und Verwertung der Tagebücher von Angeklagten i m Strafverfahren stellt sich nicht nur als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 I, 2 I GG) d a r , 7 8 5 sondern, wegen ihrer faktischen Wirkung auf das Tagebuchschreiben, unter Umständen auch als Eingriff in die Gewissensbildungsfreiheit: und zwar dann, wenn das Anfertigen von Tagebuchaufzeichnungen einer »Auseinandersetzung mit sich selbst* mit dem Ziel einer »Selbst-Vervollkommnung 4 d i e n t . 7 8 6 Das Tagebuch fungiert dann als vergegenständlichter „säkularisierter Beichtvater"; 7 8 7 das Niederschreiben der Gedanken wird zur „Projektion des forum internum auf das Papier... ohne soziale Folgen", die wie der „rein gedankliche Gewissensdialog" als Prozeß der Gewissensbildung grundrechtlich geschützt i s t . 7 8 8 Art. 4 I GG vermittelt d a h e r 7 8 9 einen besonderen Schutz gegen die Verwertung der gegenständlichen Produkte solcher Gewissensbildung. 7 9 0 Nicht überzeugen kann dagegen die Begründung desselben Ergebnisses mit dem Konzept der durch Art. 4 I GG geschützten „psychischen Integrität" 791 und einer an der psychischen „Konfliktsituation orientierten verfassungsrechtlichen Interpretation" 792. Konstitutiv für den Gewissensschutz ist danach der „affektiv aufgeladene Konflikt", in dem eine „Einbuße an seelischer Substanz" droht. 793 Typischerweise sei dies ein Konflikt zwischen Gewissensnorm und Rechtsnorm, im Fall der Tagebuchaufzeichnungen dagegen ein Konflikt zwischen inhaltsgleicher Gewissens- und Rechtsnorm auf der einen Seite (im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall: der vom Autor der Tagebuchaufzeichnungen für sich selbst als verbindlich anerkannten Norm, die sexuelle Selbstbestimmung und Integrität von Frauen zu achten) und (aggressiven sexuellen) Trieben auf der anderen Seite. Die abweichende Struktur

783 Zu solchen Fällen Wesel, Turnvater Jahn und der Bart des Propheten, NJW 1994, S. 1389 f. (1389). 78 4 Amelung, Der Grundrechtsschutz der Gewissenserforschung und die strafprozessuale Behandlung von Tagebüchern, NJW 1988, S. 1002 ff. 78 5 BVerfGE 80, 367 ff.; BGHSt 19, 325 ff. 78 6 Amelung, Der Grundrechtsschutz, S. 1004. Vgl. die Sachverhaltsschilderung in BVerfGE 80, 367 ff. (368 ff., 381 f.); BGHSt 19, 325 (326 ff.). 78 7 Morlok, Art. 4, Rdn. 36. Vgl. Amelung, Der Grundrechtsschutz, S. 1005 f. m.w.N. zum sozialgeschichtlichen Hintergrund des Tagebuchs, als „Palladium des ,innengeleiteten Menschen4", das vor allem unter calvinistischem Einfluß zum Ersatz für die kirchliche Kontrolle des Inneren in der Beichte avancierte. 78 8 Amelung, Der Grundrechtsschutz, S. 1004. 789 Auf diese Fernwirkungen auf die Verhaltensmöglichkeiten kommt es entscheidend an; Art. 4 I sichert, anders als das allgemeine Persönlichkeitsrecht, keine räumlich zu verstehende ,Intimsphäre4. 790 Ob ein Tagebuch solch gewissensspezifische Inhalte hat, muß freilich im Einzelfall zumindest durch eine „erste Sichtung44 des Inhalts festgestellt werden (vgl. BVerfGE 80, 367 (381)). 791 So Lorenz, Absoluter Schutz versus absolute Relativität. Die Verwertung von Tagebüchern zur Urteilsfindung im Strafprozeß, GA 1992, S. 254 ff. (273, 276). 792 Ebd., S. 275. 793

Ebd., S. 273, 276.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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dieses Konflikts rechtfertigte keine „Ausgrenzung" aus dem Schutzbereich des Art. 4 I GG; auch hier drohten „Gewissensnot" und „Gewissensqualen", „Schuldgefühle, die das Bewußtsein schwer belasten" und dazu führen könnten, daß der Betroffene „innerlich zerrieben wird". 794 Auf diesem Wege läßt sich jedoch der Schutz von Tagebuchaufzeichnungen nicht als Schutz des »forum internum' 795 ausweisen: Das ungestörte (im vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall therapeutisch angestoßene) Anfertigen solcher Aufzeichnungen dient der Selbstverdeutlichung der Konflikte und letztlich der Ermöglichung (moralisch und rechtlich) normgemäßen Verhaltens, aber doch nicht unmittelbar der Vermeidung von „Gewissensnot" und „Schuldgefühlen" - die werden durch das Tagebuchschreiben vielleicht erst ausgelöst oder verstärkt. Auch kann man nicht zur Voraussetzung des Grundrechtsschutzes machen, daß im Tagebuch die „affektive Komponente der Gewissensentscheidung in hinreichendem Maße verkörpert" ist; 796 das Tagebuchschreiben als Prozeß im ,forum internum' ohne soziale Folgen erscheint nicht weniger schutzwürdig, wenn es im Einzelfall gerade der Selbstdistanzierung, der Gewissensbildung durch rationale Reflexion dient. Irreführend ist es auch, das Anfertigen von Tagebuchaufzeichnungen als „Gewissensbetätigung" (im Sinne eines Verhaltens im »forum externum') unter die Gewissensfreiheit zu subsumieren,797 denn im Regelfall wird dieses äußere Verhalten keiner unbedingten Gewissensforderung entspringen. 798 Seine praktische Relevanz entfaltet das Grundrecht der Gewissensfreiheit in erster Linie dort, wo es die Umsetzung von einmal gebildeten Gewissensüberzeugungen im äußeren Verhalten erfaßt.

ß) Verbales Handeln Ganz überwiegend betrachtet man auch die verbale Äußerung von Gewissensüberzeugungen als ein vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit erfaßtes Verhalt e n . 7 9 9 Vereinzelte abweichende Positionen betonen den »Rückzugscharakter 4 des Grundrechts und wollen vermeiden, daß mit der i m Gegensatz zu Art. 5 I GG schrankenlos gewährleisteten Gewissensfreiheit als politischer „Propagandawaffe" 794 Ebd., S. 275. 795 Darauf stellt zu Recht auch Lorenz, Absoluter Schutz, S. 274 ab. Konfliktcharakter und affektive Prägung sind auch bei Herdegen (Gewissensfreiheit und Normativität, u. a. S. 270 ff.), auf den sich Lorenz weitgehend stützt, für den Schutz des »forum internum' nicht ausschlaggebend. 796 So aber Lorenz, Absoluter Schutz, S. 276. 797 So aber Amelung, Die zweite Tagebuchentscheidung des BVerfG, NJW 1990, S. 1753 ff. (1759) mit dem allerdings wichtigen Hinweis, daß der grundrechtliche Schutz, die Ermöglichung (moralisch) normgemäßen Verhaltens, Interessen des Individuums wie des Gemeinwesens gleichermaßen dient. 798 So auch Lorenz, Absoluter Schutz, S. 273 f. 799 Morlok, Art. 4, Rdn. 63; Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 128, 131. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 494 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 180, 267 f., 270 f. Vgl. BVerfGE 32, 106 (115). Zur Abgrenzung gegenüber Art. 5 I GG vgl. Κ D. Bayer, Das Grundrecht, S. 39 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

die Schranken des Art. 5 Π GG unterlaufen werden. 800 Zu dieser Befürchtung besteht jedoch nur dann Anlaß, wenn man die Gewissensfreiheit als schrankenloses Grundrecht behandelt.801 Außerdem kommen die Schranken des Art. 5 Π GG ohnehin meist nicht zum Tragen, da in den meisten Fällen ein religiöses oder weltanschauliches Bekenntnis im Sinne des Art. 4 I GG vorliegen wird. 8 0 2 Die Gewissensfreiheit sollte jedenfalls nicht dadurch zu einem allgemeinen Kommunikationsrecht erweitert werden, daß man jegliche Äußerung von Gewissensinhalten darunter faßt, etwa auch alle der Selbstvergewisserung dienenden Gespräche unter Gleichgesinnten;803 darzulegen ist vielmehr jeweils, daß auch das konkrete verbale Verhalten hic et nunc einer „unbedingten Verpflichtung" 804 entspringt. Das mag etwa bei öffentlichen, bekenntnishaften Stellungnahmen oder Werbungen für die Kriegsdienst- oder Ersatzdienstverweigerung gegeben sein; vorwiegend in solchen Fällen ist die Frage bislang praktisch geworden: ein Wehrpflichtiger verteilt außerhalb des Dienstes Broschüren zur Kriegsdienstverweigerung, 805 ein Offizier unterstützt eine Presseerklärung zum sog. „Soldatenurteil", 806 ein Soldat erklärt vorsorglich den Ungehorsam für den Fall eines Auslandseinsatzes,807 ein Reserveoffizier ruft öffentlich zur Kriegsdienstverweigerung auf, 808 ein Ersatzdienstpflichtiger veröffentlicht eine Broschüre zur Ersatzdienstverweigerung 809. Vom Schutzbereich der Gewissensfreiheit umfaßte Äußerungen müssen aber nicht notwendig ein Bekenntnis zu (wertenden) Gewissensüberzeugungen enthalten, sie können auch ganz auf die Aufdeckung und Veröffentlichung von - wirklichen oder vermeintlichen - Tatsachen gerichtet sein, wie ζ. B. im Fall des Beam-

800 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 65 und ders., Diskussionsbeitrag, ebd., S. 119 f. Vgl. auch BVerwGE 83,358 (360 ff.). soi Dazu u. B.II., S. 264 ff. 802 Vgl. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 495. 803 So wohl Morlok, Art. 4, Rdn. 63 mit dem Argument, daß die Bewahrung von Überzeugungen psychologisch betrachtet nur im Zusammenhang ihrer Äußerung möglich sei. 804 Dazu sogleich. Ähnlich wie hier Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 161 f. 805 BVerwG, Beschl. v. 25. 2. 1969, DÖV 1969, S. 349 f. 806 BVerwGE 93, 323 (329 f., 333, 340) (zum Urteil des LG Frankfurt .Soldaten sind Mörder4). 807 BVerwG, U. v. 31. 7. 1996, NJW 1997, S. 536 ff. (539 f.). 808 BVerwGE 83, 358 (360 ff.). 809 LG Nürnberg-Fürth, berichtet bei Nestler-Tremel, Zivildienstverweigerung, S. 352. Vgl. auch EKMR, 12. 10. 1978, Β 7050/75 ( „ A r r o w s m i t h 4 4 ; Aufforderung zur Desertion durch vor einer Kaserne verteilte Flugblätter); dazu Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 68 f. Außerhalb des Bereichs von Wehr- und Ersatzdienst hat die strafrechtliche Verurteilung des NPD-Vorsitzenden Deckert wegen der öffentlichen Leugnung des Holocausts für Aufsehen gesorgt. Das LG Mannheim berücksichtigte bei der Bestrafung nach § 130 StGB (Volksverhetzung) strafmildernd die „charakterstarke, verantwortungsbewußte Persönlichkeit mit klaren Grundsätzen44 und eine darauf beruhende „zu respektierende Gewissensentscheidung44 (NJW 1994, S. 2494 ff. (2499); aufgehoben durch BGH, NJW 1995, S. 340 ff.).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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ten, der meint, einer rechtswidrigen (Verwaltungs-) Praxis (sog. ,Umwegfinanzierung' der Parteien) nur durch Verstoß gegen seine Verschwiegenheitspflicht entgegenwirken zu können und sich dazu moralisch unbedingt verpflichtet fühlt. 8 1 0 Die Gewissensfreiheit beinhaltet also nach hier vertretener Auffassung kein eigenständiges Bekenntnisrecht (insofern greift das in Art. 4 I GG gesondert geschützte Recht des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses)811, auch verbales Handeln kann aber (u. U. konkurrierend) der allgemeinen Gewissensbetätigungsfreiheit unterfallen. 7) Handeln und Unterlassen In der ganz überwiegenden Zahl der tatsächlich vorkommenden Fälle ist das so geschützte Verhalten ein Unterlassen des Grundrechtsträgers, der ein staatlich gefordertes Tun verweigert. Um ein aktives Tun geht es fast nur 8 1 2 in Fällen kultischer Handlungen, wie des Schächtens von Tieren nach religiösen Vorschriften (deren Schwerpunkt wohl bei der konkurrierenden Religionsfreiheit liegt), 813 in den soeben genannten Fällen von Verbalhandlungen 814 sowie in bestimmten Fällen, die auf die Verhinderung konkreter staatlicher Maßnahmen zielen: eine Kirchengemeinde verhindert die Abschiebung eines Asylbewerbers, dem sie Kirchenasyl gewährt, 815 ein niederländischer Sozialarbeiter verhindert die Rückführung ei810 Vgl. Min, Gewissensfreiheit und Widerstandsrecht, 1989, S. 121 ff. Auch den Fall Dekkert (s. Anm. 809) könnte man vielleicht zu den überzeugungsmotivierten reinen Tatsachenbehauptungen rechnen. su Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 131. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 267 f., 270 f. faßt auch das „schlichte Bekenntnis" zu Gewissensüberzeugungen unter die Gewissensfreiheit, allerdings nicht unter dem Aspekt der Gewissensbetätigung, sondern als Teil des geschützten forum internum. 812 In Fällen gesinnungsgeleiteter Gewalttäter spielt das „Gewissen" als Argument praktisch keine Rolle. 813 Vgl. BVerwGE 99, 1 ff. (wo allerdings nicht auf „individuelle Glaubensüberzeugung, sondern auf „zwingende Vorschriften einer Religionsgemeinschaft" abgestellt wird). Übersicht über die zahlreichen bislang entschiedenen Fälle und verschiedenen Lösungswege bei Brandhuber, Die Problematik des Schächtens im Lichte der aktuellen Rechtsprechung, NVwZ 1994, S. 561 ff. 814 S. o. /?), S. 217 ff. 815 Zur Berufung u. a. auf die Gewissensfreiheit vgl. Kaltenborn, Kirchenasyl - Verfassungsrechtliche Aspekte der Renaissance eines Rechtsinstituts, DVB1. 1993, S. 25 ff. (27 f.); Robbers, Kirchliches Asylrecht ?, AöR 113 (1988), S. 30 ff. (44); v. Münch, „Kirchenasyl" ehrenwert, aber kein Recht, NJW 1995, S. 565 ff. (565 f.); D. Kraus, Kirchenasyl und staatliche Grundrechtsordnung, in: Guth/Rappenecker (Hrsg.), Kirchenasyl. Probleme - Konzepte - Erfahrungen, 1996, S. 58 ff. (69); Maaßen, „Kirchenasyl" und Rechtsstaat, Kirche und Recht 1997, S. 37 ff. (47 ff.). Vgl. die epd-Dokumentation (Evangelischer Pressedienst) 43 / 94 mit Stellungnahmen der evangelischen Landeskirchen: Berlin-Brandenburg, Brief Bischof Kruses v. 30. 3. 1987, S. 20 ff. (21); Hannover, Rundverfügung Κ des Landeskirchenamtes 1. 6. 1994, S. 25 ff. (26 f.); Hessen und Nassau, Stellungnahmen der Kirchenleitung und der Synode v. Juni/Juli 1994, S. 29; Oldenburg, Rundschreiben des Oberkirchenrats v.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

ner Jugendlichen zu ihren Eltern, 816 eine Gruppe von Blockierern verhindert zeitweise die Stationierung von Atomraketen. 817 In der zuletzt genannten Gruppe von Fällen geht es um (symbolische oder erfolgsorientierte) Gegenaktion zu staatlichen Maßnahmen. Ihre besondere rechtliche Qualität bekommt sie dadurch, daß die „Gewissenstäter" hier - ohne gerade darauf abzuzielen - regelmäßig gegen strafrechtlich sanktionierte Handlungsverbote verstoßen (in den Beispielen: gegen Strafvorschriften des Ausländergesetzes, gegen das Verbot der Kindesentziehung oder der Nötigung). Das liegt nicht nur daran, daß es generell mehr strafbewehrte staatliche Handlungsverbote als -geböte gibt, sondern auch daran, daß ein aktives Tun häufiger in die Rechtssphäre unbeteiligter Dritter oder der an der Umsetzung der staatlichen Maßnahme Beteiligten eingreift. Nicht zuletzt darin ist die häufig betonte »geringere Schutzwürdigkeit 4818 der aktiven Grundrechtswahrnehmung begründet. Weitere Gründe dafür sind, daß der Grundrechtsträger das rechtswidrige Tun leichter durch eigene Alternativhandlungen ersetzen kann 8 1 9 (vor allem in Fällen bloß symbolischer Handlungen), daß der Verhaltensdrang im Falle des aktiven Tuns in der Regel geringer ist als die Handlungshemmung im Falle des Unterlassens, 820 die (christlich geprägten) Moralsysteme unseres Kulturkreises ein aktives Tun grundsätzlich nicht mit derselben Unbedingtheit gebieten wie ein Unterlassen. 821 Schließlich kann man - aus der Sicht des Staates - für eine Differenzierung zwischen Handeln und Unterlassen darauf verweisen, daß der Staat durch ein bloßes Unterlassen des Grundrechtsträgers verwehrte Beiträge meist anderweitig ersetzen kann. 822 Diese wertenden Differenzierungen können jedoch nicht dazu führen, den Schutzbereich von vornherein auf ein Unterlassen des Grundrechtsträgers 25. 7. 1994, S. 36 ff. (38); Rheinland, Synodenbeschl. v. 13. 1. 1993, S. 40; Thüringen, Erklärung des Landeskirchenrats v. 8. 9. 1994, S. 43; die Erklärung des Rates der EKD v. 9./ 10. 9. 1994: ,3eistand ist nötig, nicht Widerstand". Thesen zum Kirchenasyl, ebd. S. 47 ff. (48); die Erklärung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Lehmann, ebd. S. 59 ff. und Kardinal Sterzinskys: „Der einzelne - die Gemeinde - die Kirche ? Wer trägt die Verantwortung beim Kirchenasyl?", epd-Dokumentation 31 / 96, S. 12 ff. 816 EKMR, 19. 12. 1974, Β 6753/74, DR 2, 118. Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit, S. 154; van Dijk/van Hoof Theory, S. 400 f. 817 Vgl. ο. Α.Π.4., S. 151 ff. auch zur Frage, inwieweit symbolisches Handeln geschützt sein kann. 818 Vgl. Preuß, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität, 1984, S. 121 ff.; H R. Reuter, Rechtsethik, S. 300. 819 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 282 f.; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 60 f., 68 mit Fußnoten; Morlok, Art. 4, Rdn. 64; Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 179; H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 300. 820 Tenckhoff, Strafrecht, S. 251; A. Arndt, Das Gewissen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung, NJW 1966, S. 2204 ff. (2205). 821 Vgl. Spaemann, Sittliche Normen und Rechtsordnung, Essener Gespräche 30 (1996), S. 5 ff. (12 ff., 17); A. Arndt, Die Zeugen Jehovas, S. 181; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 42. 822 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 282 f.; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 60 f., 68.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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zu begrenzen 823, und auch nicht in der Weise generalisiert werden, daß das Unterlassen schrankenlos, das aktive Tun dagegen durch Grundrechtsschranken beschränkt gewährleistet wird. 8 2 4 Die Unterscheidung von Handeln und Unterlassen hat nur typisierende Bedeutung im Rahmen grundrechtlicher Abwägung, 825 die allerdings bei Verstößen gegen strafbewehrte Handlungsverbote in aller Regel gegen die Gewissensfreiheit ausfallen wird. Bloße Unterlassungen, ζ. B. die Verweigerung lebensrettender Maßnahmen (Bluttransfusion, Operation) durch Angehörige, 8 2 6 die Weigerung, sich und die eigenen Kinder impfen oder röntgen zu lassen 827 , oder die Verweigerung einer das Leben der Schwangeren rettenden Abtreibung durch einen Arzt 8 2 8 können aber im Einzelfall Rechtsgüter Dritter durchaus auch viel intensiver beeinträchtigen als ein aktives Tun 8 2 9 . Auch letzteres kann somit in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit fallen. δ) Gemeinschaftliches Handeln Als weitgehend geklärt kann wohl betrachtet werden, daß ein gewissensgefordertes Verhalten nicht deswegen aus dem Schutzbereich herausfällt, weil es in Gemeinschaft mit anderen vorgenommen wird. Allerdings wird ganz überwiegend zu Recht 830 daran festgehalten, daß die Gewissensfreiheit als Individualgrundrecht 823 So aber wohl K. Peters, Anmerkung zum Beschl. des BVerfG v. 19. 10. 1971, JZ 1972, S. 85 f. (86); ders., Überzeugungstäter und Gewissenstäter, in: FS Hellmuth Mayer, 1966, S. 257 ff., der sich explizit allerdings nur auf Strafrechtsverstöße bezieht. Neuerdings auch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 157 ff. (160 f.). 824 So aber Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 59; A. Arndt, Das Gewissen, S. 2205; ders., Die Zeugen Jehovas, S. 180 f. 825 Tenckhoff, Strafrecht, S. 451; Morlok, Art. 4, Rdn. 64; Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 398 f. mit FN 63a. (kein „prinzipieller" Unterschied); Starck, Art. 4, Rdn. 38; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 16, 42; Preuß, AK, Art. 4 I, II, Rdn. 43. Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 280 f. mit Verweis auf das US-amerikanische Recht. Grundsätzlich gegen eine Differenzierung von Handeln und Unterlassen: Herzog, M / D / H/S, Art. 4, Rdn. 140 („gleichberechtigt nebeneinander"); ders., Die Freiheit, S. 720; H.-L. Schreiber, Gewissen im Recht, S. 30. 826 BVerfGE 32, 98 ff. - Gesundbeter; zuletzt OLG Celle, U. v. 21. 2. 1994, NJW 1995, S. 792 ff. Vgl. OLG Hamm, NJW 1968, S. 212 ff.; OLG Stuttgart, MDR 1964, S. 1024 ff.; OLG Bremen, NJW 1963, S. 1932; OLG Karlsruhe, JZ 1964, S. 761 ff. OLG Stuttgart, NJW 1963, 776. Vgl. die Darstellungen bei Listi, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971, S. 108 ff.; Schulte/Träger, Gewissen im Strafprozeß - eine Rechtsprechungsübersicht, in: FS 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 251 ff. (257 ff.). 827 BVerwGE 9, 78 ff.; BGHSt 4, 375 ff.; OVG Lüneburg, U. v. 18. 5. 1955, DVB1. 1955, S. 539 ff.; BayVerfGHE 8, 1 ff. Zur früher großen Verbreitung dieser Fälle in Großbritannien vgl. Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 398. Zur Verweigerung von Vieh-Impfungen vgl. van Dijk/van Hoof, Theory, S. 400 f. 828 Zu diesem wohl hypothetischen Fall vgl. Lisken, Gefährdungen, S. 540 f. m.w.N. 829 Anders wohl E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 65, ders. Diskussionsbeitrag, ebd., S. 110 f. ( 111 ); Podlech, Diskussionsbeitrag, S. 124 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

nicht die Gruppe „als solche" schützt, Gruppen oder gar juristische Personen als solche nicht Grundrechtsträger (Art. 19 ΙΠ GG) sind. 831 Gewissensbildung und -betätigung stehen zwar tatsächlich fast immer im sozialen Gruppenbezug; der grundrechtliche Schutz zielt jedoch nur auf den einzelnen als Adressat von gewissenswidrigen staatlichen Verhaltensnormen, der jeweils in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des Grundrechts erfüllen muß. Als widersprüchlich erscheint es allerdings, einerseits den Gemeinschaftsbezug des Gewissens zu betonen, andererseits aber allein die gemeinschaftliche Grundrechtswahrnehmung als Anlaß zu nehmen für „Skepsis" hinsichtlich des Vorliegens echter Gewissensentscheidungen.832 ε) Notwendigkeit des Verhaltensbezugs Als wesentlicher Ertrag einer verhaltensrechtlichen Ausrichtung der Gewissensfreiheit bleibt vor allem festzuhalten, daß ihr Schutzbereich nur eröffnet ist, wenn überhaupt ein tatsächliches eigenes (inneres oder äußeres) Verhalten des Grundrechtsträgers in Rede steht. 833 Mit dieser Voraussetzung gehen auch diejenigen Stellungnahmen zur Gewissensfreiheit, die grundsätzlich der hier vertretenen Linie folgen, meist nachlässig um. Dabei ist eine sorgfältige Prüfung dieser Voraussetzung im konkreten Fall von besonderer Bedeutung, weil das Vorliegen eines eigenen Verhaltens zu den wenigen Elementen des Schutzbereichs gehört, die einer 830

Anders Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 47 f., 74 f. (Gewissen als „Gruppenphänomen"); Religionsfreiheit als eine Art Unterfall der Gewissensfreiheit. Vgl. Häberle, Diskussionsbeiträge, in: VVDStRL 28 (1970), S. 110, 111 f., 117 f.; Franke, Gewissensfreiheit, S. 18. Differenzierter Preuß, AK, Art. 41, II, Rdn. 36. Offenlassend für sog. „Familiengesellschaften" Gerhard Müller, Anmerkung zum Urteil des BAG ν. 5. 4. 1989 - Lohnfortzahlung nach Schwangerschaftsabbruch, FamRZ 1990, S. 153 ff. (158). 83 1 Wie hier BVerwGE 64, 196 (199); BVerfG, Kammerbeschi. v. 18. 10. 1989, FamRZ 1990, S. 140 f.; H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 495; Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 158, 77 ff.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 295 f.; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 18; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 5; Morlok, Art. 4, Rdn. 69; Scholler, Die Freiheit, S. 134, 179; Seewald-Renner, Der Gewissensbegriff, S. 72 f.; W. Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 141; Schmude, Mehrheitsprinzip und Gewissensentscheidung, in: FS Wassermann, 1985, S. 209 ff. (213); Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Gewissensentscheidung und Rechtsordnung, 1997, S. 6, 17 f., 23 - hier geht es der Kirche vor allem darum, nicht von einzelnen ihrer Mitglieder für deren persönliche Gewissensentscheidung in die Verantwortung genommen zu werden. 832

So aber Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 495; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 41,5. So ausdrücklich auch Pawlowski, Zur Aufgabe der Rechtsdogmatik im Staat der Glaubensfreiheit, Rechtstheorie 19 (1988), S. 409 ff. (432 f.). Vgl. Κ D. Bayer, Das Grundrecht, S. 30; 35.Vgl. auch die Stimmen, die jedenfalls von einer weitergehenden Schutzwürdigkeit des eigenhändigen (und aktiven) Tuns ausgehen: A. Arndt, Das Gewissen, S. 2204 ff.; ders., Die Zeugen Jehovas, S. 181; ders., Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen, NJW 1968, S. 2370 f.; ders., Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung, NJW 1957, S. 361 ff. (361); Bäumlin, Das Grundrecht, S. 23; Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 281 f. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 259. 833

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

rein objektiven, von individuellen Werturteilen des Grundrechtsträgers unabhängigen Beurteilung zugänglich sind. 834 Eine Reihe von verbreiteten Berufungen auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit geht bei genauerer Betrachtung schon aus diesem Grund ins Leere: - Die Gewissensfreiheit bietet keinen umfassenden und verhaltensunabhängigen Schutz der Individual - oder Geheimsphäre. Der Bürger, dem es widerfährt, daß der Staat seine Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zentral speichert oder seine Gespräche auf Tonband aufnimmt, 835 wird in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt, aber zu keinem konkretisierbaren inneren oder äußeren Verhalten gezwungen. - Aus dem gleichen Grund stellen auch Konfrontationen mit staatlichen Symbolen 8 3 6 oder Verlautbarungen 837 ohne Imperativischen Charakter keinen Eingriff in die Gewissensfreiheit dar. - Die bloße Zwangsmitgliedschaft 838 in staatlichen Verbänden oder anderen Personenvereinigungen bildet für sich genommen keinen Eingriff in die Gewissensfreiheit. Gleichgültig, ob es sich um die Mitgliedschaft eines Bauerns in einem Zwangsverband zur Viehseuchenbekämpfung handelt, 839 um die Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung, 840 Feuerversicherung 841 oder KFZHaftpflichtversicherung 842, um die von der persönlichen Beitragspflicht losgelöste Mitgliedschaft in einer gesetzlichen Krankenkasse 843 oder - in letzter Konse834 Objektiver Beurteilung zugänglich ist ζ. B. auch die ursächliche Beziehung zwischen dem Verhalten und seinen tatsächlichen Folgen. 835 Scholler, Die Freiheit, S. 154 ff., 162 ff. (vor der Ausdifferenzierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Rechtsprechung). Zum Sonderfall der Tagebuchaufzeichnungen vgl. ο. α) bei Anm. 784. 83 6 Vgl. o., c)aa), S. 193 ff. 837 Vgl. Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 75,79, 83 ff., 184 ff., 251. 838 Vgl. ebd., S. 77 f., 125 f., 251, allerdings mit anderem Ansatz zu Art. 4 I (S. 79 f., 138 ff., 249 f.). 839 EKMR, 14. 12. 1962, Β 1068/61, YB 5 (1962), 278. Vgl. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 81, 84. wo Auch dies ein Fall aus den Niederlanden (EKMR, 14. 12. 1962, Β 1497/62, YB 5 (1962), 286. Vgl. dazu auch Bäumlin, Das Grundrecht, S. 23 m.w.N.). Ein Pfarrer trug vor, seine Altersversorgung sei nach der Kirchenordnung Sache der Gemeinde. Vgl. auch EKMR, 5. 7. 1984, Β 10678/83, DR 39, 267 (Heilpraktiker beruft sich auf seine anthroposophischen Überzeugungen); Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 84.

mi Vgl. Knöpfle, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 134 f. (134): eine Frau lehnt nach längerem Aufenthalt bei den ,Amish* in den USA unter Berufung auf die Bibel jede Art von Versicherung ab. EKMR, 31.3. 1967, Β 2988/66, YB 10 (1967), 472. BVerfGE 67, 26 (28 f.). Die Klägerin fühlt sich als Mitglied der Krankenkasse unmittelbar durch deren Praxis der Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen in eigenen Rechten verletzt. Genauere Darstellung in BVerfGE 78, 320 (322 f., 325 ff.). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 261: Klagebegehren nicht auf eine Exemtion von 843

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

quenz - um die mehrfache mitgliedschaftliche Verhältnisse begründende Staatsangehörigkeit des Bürgers; 844 in allen Fällen wird durch die bloße Mitgliedschaft allein ein rechtlicher Zustand, der rechtliche Status des Bürgers, modifiziert, aber noch keine konkrete Verhaltenspflicht und kein konkreter Verhaltenszwang begründet. Die Gewissensfreiheit läßt sich dagegen nicht ins Feld führen. (Hat der oktroyierte rechtliche Status als solcher, etwa eine Kirchenmitgliedschaft, Bekenntnischarakter, so stellt er allerdings einen Eingriff in die Bekenntnisfreiheit dar. 845 ) Meist wenden sich Grundrechtsträger freilich gegen die Pflicht zur Beitragszahlung als häufig einzige mit der Mitgliedschaft verbundene Verhaltenspflicht. Das gilt es dann aber auch in jedem einzelnen Fall zu unterstreichen und die Glaubhaftmachung zu verlangen, daß gerade die Verweigerung der Beitragszahlung vom Gewissen unbedingt gefordert ist. Das wird nicht immer gelingen, mag manchmal zu vorgeschobenen moralischen Argumentationen führen, vielleicht aber manchmal auch zur Versachlichung der Erwägungen und zur Auflösung bzw. Vermeidung von Konflikten zwischen Gesetz und Gewissen. Der Grundrechtsträger sieht sich der Notwendigkeit ausgesetzt, gegenüber dem staatlichen Rechtsanwender und sich selbst gegenüber offenzulegen, inwieweit es ihm um die moralische Beurteilung eigenen Verhaltens oder die Verurteilung des Verhaltens Dritter geht. 846 - Schließlich greifen Duldungspflichten in aller Regel nicht in die Gewissensfreiheit ein. Das Dulden staatlicher Maßnahmen oder Handlungen Dritter betrifft nur dann die Gewissensfreiheit, wenn der Grundrechtsträger zu eigenen gewissenswidrigen Mitwirkungsakten verpflichtet wird oder er das Unterlassen konkreter Gegenmaßnahmen als von der Rechtsordnung erzwungenes gewissenswidriges Verhalten empfindet - was äußerst selten der Fall sein wird. 8 4 7 Oft nicht ganz eindeutige Duldungspflichten sind also jeweils in die Handlungsverbote und -geböte aufzulösen, aus denen sie sich zusammensetzen.848 Wenn etwa Eltern, die den Zeugen Jehovas angehören, die Einwilligung für eine lebensnotwendige Bluttransfusion bei ihrem Säugling verweigern, dann ist die Ersetzung dieser Einwilligung durch den Vormundschaftsrichter ein Eingriff in das elterliche Sorgerecht (Art. 6 I I 1 GG), 8 4 9 wäre als reine Unterlassungspflicht ein EinRechtspflichten im Einzelfall gerichtet. Vgl. Hellermann, S. 79.

Die sogenannte negative Seite,

844 Vgl. o. A.II.3., S. 150 m.w.N.: Das Gewissen verbiete eine Unterwerfung unter jegliche staatliche Gewalt. 845 Vgl. BVerfGE 44, 37 (51 ff.) - preußisches Kirchenaustrittsgesetz (nicht überzeugend zur Gewissensfreiheit). M6 Zweifelhaft insofern ζ. B. auch der Fall BAG, U. v. 5. 4. 1989, FamRZ 1990, S. 151 ff. - Verweigerung der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber nach Schwangerschaftsabbruch der Arbeitnehmerin. 847

Vgl. o. 7), S. 219 ff. zur Unterscheidung von Handeln und Unterlassen.

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Vgl. Schwabe, Probleme, S. 16; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 418, 331. Vgl. OLG Hamm, NJW 1968, S. 212 ff.

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griff in die Gewissensfreiheit aber nur dann, wenn sich die Eltern auch zur aktiven (in letzter Konsequenz gewaltsamen) Verhinderung der Bluttransfusion durch konkrete Handlungen moralisch unbedingt verpflichtet fühlten. 850 Gleiches gilt etwa in bezug auf Impfungen der Kinder, die im Rahmen schulischer Veranstaltungen vorgenommen werden. Zur Verdeutlichung kann auch der Fall eines von Zeugen Jehovas in Form einer GmbH betriebenen Steinwerks dienen, das durch das Kreiswehrersatzamt aufgrund von Vorschriften des Bundesleistungsgesetzes verpflichtet wurde: (1) im Verteidigungsfall der Bundeswehr einen LKW zum Gebrauch zu überlassen und (2) diesen LKW auf Anforderung selbst abzuliefern. 851 Das Berufungsgericht erhielt den Verwaltungsakt nur hinsichtlich der „Duldung" des LKW-Gebrauchs aufrecht und sah in der darüber hinausgehenden Verpflichtung zu eigenhändigem Tun eine Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit. 852 Dagegen wandte das Bundesverwaltungsgericht ein, auch die bloße Überlassung des LKW setze bereits gewisse Handlungen („Übergabe") voraus. 853 Das ist jedoch jeweils abhängig von der konkreten Ausgestaltung eines Verwaltungsakts und der Beschaffenheit des zu überlassenden Gutes; ein nur auf Duldung einer Besitzentziehung gerichteter Verwaltungsakt fordert kein eigenes Verhalten des Adressaten, das gewissensrelevant werden könnte. 854 Bereits über eine konsequente Anwendung der tatbestandlichen Voraussetzung eines eigenen Verhaltens lassen sich auch viele der Fälle von rüstungspolitisch motivierter Steuerverweigerung 855 lösen; und zwar all diejenigen, in denen der Staat 850 Weiter zieht den Anwendungsbereich von Art. 4 I GG offenbar Ulsenheimer, Das Personensorgerecht der Eltern im Widerstreit mit dem Gewissen und dem Strafgesetzbuch, FamRZ 1968, S. 568 ff. (572). Ein Eingriff ist dagegen die hier in erster Linie interessierende Hilfspflicht nach § 330 c StGB und die strafrechtliche Sanktion ihrer Verletzung. Vgl. BVerfGE 32, 98 ff. - Gesundbeter. 851 BVerwGE 64, 196 ff. 852 VGH Mannheim, U. v. 25. 9. 1980, X 2284/79 (unveröffentlicht); vgl. BVerwGE 64, 196(197 f.). 853 Ebd., S. 200 f. 854 Vgl. die Möglichkeit der Beschlagnahme nach § 45 BLG. „Zur Leistung" gehört nach § 17 I BLG grundsätzlich auch die Verbringung der Sache an den Ablieferungsort; ein Verstoß gegen Art. 12 II GG liegt darin nicht {Butz, Bundesleistungsgesetz, 4. Aufl. 1985, Erl. § 17 I); nach § 16 I BLG können als Leistungsvorbereitung grundsätzlich neben „Duldungen und Unterlassungen" auch „Handlungen" des Bürgers gefordert werden; nach § 15 II BLG kann die „Duldung der Besichtigung" und die „Vorführung" eines Gegenstandes an einem von der Behörde zu bestimmenden Ort verlangt werden. Die grundrechtskonforme Anwendung dieser Vorschriften (vgl. § 3 III; 3 VI BLG) kann jedoch - vorbehaltlich der Grundrechtsschranken - bei entgegenstehenden Gewissensüberzeugungen des Leistungspflichtigen fordern, von einem Grundrechtseingriff abzusehen und den Leistungspflichtigen nur zur Duldung von Besichtigungen und anderen Vorbereitungsmaßnahmen sowie von Besitzentziehungen zu verpflichten. 855 Vgl. die umfassende Dokumentation der bisherigen Rechtsprechung bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, Anhang III und Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 134 ff. 15 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

das Steuererhebungsverfahren so ausgestaltet hat, daß die Zahlung oder Finanzierung von Steuergeldern kein eigenes Verhalten des Bürgers fordert. Das sind erstens die - allerdings sehr seltenen - Fälle der Inanspruchnahme von Art. 4 I GG zur Behauptung eines Rechts auf Verweigerung indirekter Steuern, insbesondere der Umsatzsteuer. 856 Hier wird der Bürger lediglich als Erwerber von Verbrauchsgütern mit der Finanzierung des Steueraufkommens belastet, ist aber nicht Partei des zum Staat bestehenden Steuerrechtsverhältnisses und nicht Adressat staatlicher Zahlungs- oder sonstiger Verhaltensgebote. Denkbar wäre also allenfalls ein grundrechtsrelevanter Gewissenskonflikt des zur Steuerabführung verpflichteten Händlers. Zweitens hat der Staat das Steuererhebungsverfahren bei der Lohn- und Einkommenssteuer auf Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit so ausgestaltet, daß es ohne Mitwirkungsakte des Bürgers auskommt. 857 Im Verfahren des Lohnsteuerabzugs durch den Arbeitgeber (§§ 38 ff. EStG) bleibt der Arbeitnehmer zwar Schuldner der Steuer (§ 38 I I EStG) und Partei des Steuerrechtsverhältnisses; ein konkretes Verhalten wird von ihm aber nur in Ausnahmefällen, etwa bei bestimmten Nachforderungen der Finanzbehörde (vgl. §§ 38 IV; 39 a V EStG) verlangt. 858 Im Normalfall führt der sog. „Quellenabzug" durch Einbehalt eines Teils der Einkünfte durch den Arbeitgeber (§ 38 ΠΙ 1 EStG) ,automatisch4 zum Erlöschen der Steuerschuld. Darauf, daß der Steuerpflichtige die Steuerzahlung als „persönlichen Beitrag [ . . . ] erlebt" oder erleben sollte, 859 kann es nicht ankommen; das Steuerrechtsverhältnis als solches begründet ebensowenig einen Verhaltenszwang wie im Falle des Lohnsteuerabzugs die Zahlungsschuld. In den Schutzbereich der Gewissensfreiheit können daher allenfalls entgegenstehende Gewissensüberzeugungen des Arbeitgebers 860 und allgemein des selbständig Erwerbstätigen 861 fallen: letztere sind in ihrer Funktion jeweils verpflichtet, Steuern selbständig zu berechnen, anzumelden und abzuführen. 862 Vom Verhalten des Arbeitnehmers hat sich der Staat dagegen durch das Lohnsteuerabzugsverfahren aus Gründen der Effektivität der Steuererhebung (allerdings nicht mit Blick auf die Moral der Bürger, sondern eher 856 Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, 2. Kap., Rdn. 78 ff. (87). 857 Denkbar wäre allenfalls noch eine Weigerung, dem Arbeitgeber die Lohnsteuerkarte auszuhändigen; auch das würde aber das Abführen der Lohnsteuer nicht hindern. 858 Die Kläger wenden sich dann meist gegen ein Leistungsgebot (§ 254 AO); vgl. Klauser, Rechtsweg und Klagebefugnis bei einer Klage gegen die Verwendung von Steuergeldern für den Verteidigungshaushalt, BB 1986, S. 2029 f. 859 H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 297. 860 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit greift aber nicht, wenn der Arbeitgeber keine natürliche Person ist (vgl. ο. δ), S. 221 f.). Vgl. die Fälle einer britischen Gesellschaft von Quäkern, EKMR, 18. 7. 1986, Β 11991/86, zit. nach Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, Anhang III, Rdn. 191 ff. und Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 138 f. Ebd., S. 188 ff. zu den Kirchen als Arbeitgebern. 861 Vgl. die Fälle bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, Anhang III, Rdn. 44 ff. (Gewerbetreibender); 54 ff. u. 93 ff. (Apotheker). 862 Die Inanspruchnahme auf ein eigenhändiges Tun ist insofern nicht unähnlich der des Zeugen, Schöffen usf.. Zur Verfassungsmäßigkeit am Maßstab des Art. 12 I, II GG vgl. BFH, DB 1964, S. 204 f.

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mit Blick auf ihre mangelnde »Zahlungsmoral') 863 unabhängig gemacht. Der monatliche Einbehalt durch den Arbeitgeber wirkt - als schlicht-hoheitliche Handlung oder Verwaltungsakt mit Duldungsbefehl - als Vorauszahlung auf die jährliche Steuerschuld des Arbeitnehmers und als eine Art vorgezogene Vollstreckung des Zahlungsanspruchs. 864'865 Entsprechendes gilt - mit den gleichen Folgen für das Grundrecht der Gewissensfreiheit - für die ebenfalls vom Einkommen einbehaltenen Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. 866 Das führt zu der Frage, ob man nicht generell die bloße Duldung einer Zwangsvollstreckung als gewissensneutral betrachten muß. Dazu wird einerseits behauptet, „zumindest in extremen Fällen" könne auch die erzwungene Duldung von Vollstreckungshandlungen des staatlichen Vollstreckungsorgans „gewissensrelevant" sein; 867 andererseits aber erscheint für den Regelfall, wie etwa den der Steuerverweigerung, die Möglichkeit des Grundrechtsträgers, es auf eine staatliche Vollstreckung „ankommen zu lassen", gerade als gewissensschonende „lästige Alternative", durch die der Staat ihm ein eigenhändiges Tun erspart. 868 Letzteres sieht sich wiederum dem Einwand eines „zynischen Umgangs" mit der Gewissensfreiheit ausgesetzt: das Verfahren der Zwangsvollstreckung schaffe keine Legitimation für rechtlose Gewalt, sondern diene nur der Vollstreckung bestehender - und im Falle der vorbehaltlosen Steuerpflicht gerade in Frage stehender - Rechtsansprüche; auch im Falle des Kriegsdienstes könne man nicht die Verweigerung zulassen und zugleich negative Folgen (strafrechtliche Sanktionen) an sie knüpfen; der Sinn von Freiheitsrechten bestehe gerade darin, daß der Staat „in ihrem Schutzbereich keinen Zwang ausüben" dürfe, wozu auch gehöre, daß er nicht „die Handlungssphäre des Bürgers beschneide bzw. den Erfolg der Handlung beseitige". 869 863 Vgl. Jakob, Einkommensteuer, 2. Aufl., 1996, § 3, Rdn. 66. 864 Schäfer, Die Dreiecksbeziehung zwischen Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Finanzamt beim Lohnsteuerabzug, 1990, S. 116 ff. (124). 865 Das einzige Verhalten, mit dem der Steuerpflichtige selbst für die von ihm gewissensmäßig abgelehnte Rüstung ursächlich wird, ist somit seine Erwerbstätigkeit. Nur konsequent ist es daher, wenn Rüstungsgegner z.T. eine Verkürzung der eigenen Arbeitszeit und des eigenen Einkommens empfehlen, um die rüstungspolitisch einsetzbaren Finanzmittel des Staates zu beschneiden. Vgl. die bei Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 123 f. zitierte Broschüre der Evangelischen Kirche im Rheinland,,Steuern zu Pflugscharen*. 866 Hier war es denn auch bislang nur ein Arzt, der sich als Arbeitgeber gegen die Beitragszahlung (bzw. seine Pflicht zur Abführung der Beiträge für seine Angestellten) unter Berufung auf sein Gewissen wehrte. BSG, U. v. 9. 10. 1984 und BVerfG, Kammerbeschi. v. 30. 4. 1986, zit. nach Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, Anhang III, Rdn. 14 ff. zur Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung. Vgl. BAG, U. v. 5. 4. 1989, FamRZ 1990, S. 151 ff. u. BVerfG, Kammerbeschi. v. 18. 10. 1989, ebd., S. 140 f. - Verweigerung der Lohnfortzahlung nach Schwangerschaftsabbruch. 867 Herzog, M / D / H /S, Art. 4, Rdn. 140. 868 Ebd. vgl. Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 43, dessen Einordnung als „lästige Alternative" verkennt allerdings die Zielrichtung dieses Konzepts, dem Bürger ein äquivalentes Verhalten zu ermöglichen und abzuverlangen. 15

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Wie bereits mehrfach angesprochen, läßt sich der „Schutzbereich" der Gewissensfreiheit aber nicht im Sinne eines Einflußbereichs, einer „Handlungssphäre" verstehen; das Grundrecht zielt nicht auf die Sicherung von Handlungserfolgen des Grundrechtsträgers und nicht auf die Unterbindung von moralisch umstrittenem Verhalten Dritter (Staatsorgane), sondern grundsätzlich nur auf die Sicherung der Gewissenskontrolle über das eigene Verhalten. Fehl geht auch die Parallele zur strafrechtlich sanktionierten Kriegsdienstverweigerung. Die entscheidende Differenzierung liegt in folgendem: alle Strafen, die - retrospektiv - ein bestimmtes Verhalten sanktionieren, sind ebenso wie alle Zwangsmaßnahmen, die - prospektiv - auf die Beeinflussung des Verhaltens gerichtet sind, selbstverständlich als Eingriffe in die Verhaltensfreiheit zu werten. 870 Als Zwangsmaßnahmen wirken allerdings rein tatsächliche Akte („faktische" Grundrechtseingriffe) genausogut wie staatliche Akte, die Rechtspflichten begründen. Es kommt also nur darauf an, ob eine konkrete Maßnahme sich tatsächlich als Sanktion oder Lenkung des Verhaltens darstellt; auf die Zwangsvollstreckung bezogen: ob eine Vollstreckungsmaßnahme wie etwa die Verhängung eines Zwangsgeldes Beugecharakter hat. Ist das nicht der Fall, wie etwa bei der Fiktion oder Ersetzung von Willenserklärungen (vgl. o.: 8 7 1 Einwilligung zur Bluttransfusion), bei der Ersatzvornahme vertretbarer Handlungen (ζ. B. der vom Bauern selbst abgelehnten Impfung des Viehs) 872 oder bei der Vollstreckung von Geldleistungspflichten (ζ. B. im Falle des sog. „Atomstromboykotts") 873 oder Sachleistungspflichten (Bereitstellung eines L K W ) , 8 7 4 so ist die Vollstreckungsmaßnahme als solche auf bloße Duldung, nicht auf ein konkretes eigenes Verhalten des Grundrechtsträgers gerichtet und damit auch kein Eingriff in die Gewissensfreiheit. 875 Freilich wirkt die Androhung auch dieser Voll869 Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, 1. Kap., Rdn. 60; 2. Kap., Rdn. 9. Vgl. auch die Kritik bei Bock Pazifistische Steuerverweigerung, S. 149 mit FN 70. 870 Darin unterscheidet sich das Grundgesetz vom preußischen Allgemeinen Landrecht, das noch bestimmte, daß zwar niemand gezwungen werden könne, „etwas gegen seine Ueberzeugung zu thun", zugleich aber pauschal alle „nachtheiligen Folgen, welche die Gesetze mit ihrer unterlassenen Beobachtung verbinden, sich gefallen lassen" müsse (§§ 30 II 11; 31 II 11 ALR). Vgl. Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 143. 871 S. 221 ff. 872 Vgl. EKMR, 14. 12. 1962, Β 1068/61, YB 5 (1962), 278; van Dijk/van Hoof, Theory, S. 400 f. 873 Nachweise bei Steiner, Der Grundrechsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 41, II GG), JuS 1982, S. 157 ff. (164) mit FN 118; Starck, Art. 4, Rdn. 38, 74. 874 s. o. B.I.2.c)bb)bbb)e), S. 225. 875 Gleiches gilt sogar für die Anwendung unmittelbaren Zwangs. Die Anwendung von vis absoluta zielt nicht auf ein Handeln des Grundrechtsträgers, sondern erübrigt es gerade. Wenn ζ. B. Straßenblockierer vor einer Atomraketenbasis aus dem Weg getragen werden, liegt in dieser Vollstreckung der Pflicht zum Verlassen der Straße kein zusätzlicher Eingriff in die Gewissensfreiheit. Zu beachten ist freilich, daß die Anwendung von vis absoluta unmittelbar gegen die Person des Grundrechtsträgers in den meisten Fällen von Berufungen auf das Gewissen unzulässig ist, da sie mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Integrität und das allgemeine Persönlichkeitsrecht verbunden wäre.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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streckungsmaßnahmen, schon wegen der mit ihnen verbundenen Kostentragungspflichten und zum Teil erheblichen Eingriffe in andere Grundrechte (v. a. Art. 141; 13 I GG) faktisch verhaltenslenkend; sie wirkt damit aber nur als »Intensivierung4 des in der zu vollstreckenden Verhaltenspflicht (ζ. B. Zahlungspflicht) liegenden Grundrechtseingriffs. Die praktische Konsequenz für die staatliche Zwangsvollstreckung ist ζ. B. die» daß sie bei entgegenstehenden Gewissensüberzeugungen unter Umständen eher von Zwangsmaßnahmen (ζ. B. sukzessive erhöhten Zwangsgeldern) zu Ersatzvornahmen als einem milderen Mittel überzugehen hat» wenn eine grundrechtliche Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung der durch die Gewissensüberzeugung gesteigerten und durch andere Grundrechte geschützten Integritätsinteressen dies zuläßt. Die Betonung der Schutzbereichsvoraussetzung eines eigenen Verhaltens soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Abstellen auf den normativ-verhaltensleitenden Aspekt des Gewissens zunächst zu einer Ausweitung des Schutzbereichs führt, die jedoch ein Stückweit durch die tatbestandliche Voraussetzung der subjektiven „unbedingten Verpflichtung" zu dem konkreten Verhalten aufzufangen ist.

3. Immanente Gewährleistungsgrenzen der Gewissensfreiheit a) Gewissensfreiheit als Schutz der individuellen normativen Identität des Menschen Die Gewissensfreiheit ist kein Integritätsrecht, sondern ein Verhaltensrecht, läßt sich aber auch als einfacher Sonderfall der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG nicht zureichend erfassen; sie sichert weder nur die Erhaltung einer spezifischen psychischen Substanz noch die freie Entfaltung der Persönlichkeit in einem thematisch speziellen Lebensbereich 876. Dem Grundrecht geht es nicht darum, die individuellen Gewissensanlagen optimal zur Entfaltung, die individuellen normativen Maßstäbe optimal zur Geltung zu bringen; es will dem einzelnen nicht die Realisierung eines »ethischen Optimums4 im Sinne eines Handelns „nach bestem Gewissen" (vgl. § 54, S. 2 BBG) ermöglichen, sondern die Einhaltung eines »ethischen Minimums 4 , der eigenen moralischen Mindeststandards, von denen er auf keinen Fall abweichen zu dürfen glaubt. Insofern kann auch die Übertragung des allgemeinen grundrechtsdogmatischen Gedankens eines „Optimierungsgebotes" 8 7 7 leicht zu Mißverständnissen führen. Der Sinn des Grundrechts kann es nicht 876 Zur Gegenüberstellung von (integritätsrechtlicher) „Erhaltung " und (verhaltensrechtlicher) „Entfaltung" der Persönlichkeit vgl. Scholler, Die Freiheit, S. 165. 87 7 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 269, der den Prinzipiencharakter der Gewissensbetätigungsfreiheit auf die Optimierung wohlwollender Rücksichtnahme innerhalb gesetzlicher Gestaltungsspielräume beschränkt.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

sein, in jedem Konfliktfall dem individuellen Gewissen einen prinzipiellen, erst durch Grundrechtsschranken zu widerlegenden Vorrang einzuräumen. Der subjektiv-rechtliche Gehalt der Gewissensfreiheit ist vielmehr ganz auf den im Einzelfall auftretenden ausweglosen Konflikt von Recht und Gewissen ausgerichtet. Der tatbestandliche Gewährleistungsgehalt ist außerdem von vornherein auf solche Konfliktfälle begrenzt, in denen sich die rechtswidrige Moralauffassung zu einer Gewissensüberzeugung verdichtet hat, die für den Grundrechtsträger von besonderem Rang, besonderer - identitätsstiftender - Bedeutung ist. Diese tatbestandlichen Begrenzungen - im Unterschied etwa zum Tatbestand des Art. 38 I 2 GG und anderen „Gewissens"-Rechtssätzen - ergeben sich jedoch nicht aus einem gegenständlich verstandenen Schutzgut Gewissen, aus der vom Grundrechtstatbestand bezeichneten Sache, sondern beruhen auf einer rechtlichen Wertung, die als solche offengelegt werden sollte: zum einen auf dem pragmatischen Bedürfnis nach Begrenzung des Schutzbereichs (es sollen nur schwerwiegende Fälle privilegiert werden; welche das sind und was das Gewicht ausmacht, hängt auch von der individuellen Verfaßtheit der Persönlichkeit des Grundrechtsträgers ab), zum anderen auf dem so begründeten besonderen Charakter der Gewissensfreiheit als Kollisions- und Konfliktlösungsnorm, die nicht thematisch, dafür aber in ihrer dogmatischen Wirkungsweise begrenzt ist, indem sie grundsätzlich beiden Seiten, Staat und Grundrechtsträger, ein Zurückstellen der eigenen Position zumutet, auch dem Grundrechtsträger Kompromißbereitschaft zumindest in Form einer Bereitschaft zur Übernahme negativer, belastender Konsequenzen abverlangt. Die Gewissensfreiheit als subjektives Recht trifft keine generelle Aussage über den Rechtskreis der einzelnen Bürger, insbesondere keine generelle Freistellung (Erlaubnis) des gewissensgeforderten Verhaltens; es sucht vielmehr, einen modus vivendi zu ermöglichen, und vermittelt einen Abwehranspruch, der in seiner konkreten Reichweite (vor allem seiner Legalisierungswirkung) entsprechend variabel ist.

aa) Moralische Verpflichtung durch das Gewissen Vom Schutzbereich erfaßt sind also nicht alle Fälle, in denen das Gewissen eine normativ-verhaltensleitende Funktion erfüllt; die Rechtsordnung will ihren Anwendungsanspruch allenfalls dort zurücknehmen, wo individuelle Moral und positives Recht unmittelbar kollidieren, d. h. bzgl. desselben Verhaltens kontradiktorische Inhalte haben: dasselbe Verhalten ist rechtlich geboten und moralisch verboten (oder umgekehrt). Von Art. 4 I GG erfaßte Gewissensüberzeugungen sind „innerlich verpflichtend", „Gebote unbedingten Sollens". 878 Das Grundrecht schützt nicht allgemein das Handeln „gemäß dem Gewissen", insbesondere nicht das vor der Instanz des Gewissens bloß erlaubte, 879 das auf einer „gewissenhaft" zustande878 BVerfGE 12, 45 (54 f.).

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gekommenen Entscheidung beruhen m a g . 8 8 0 Der Grundrechtsträger muß plausib e l 8 8 1 darlegen, daß allein die von ihm beanspruchte Verhaltensmöglichkeit seinen Gewissensüberzeugungen gerecht werden kann. Auch diese tatbestandliche Begrenzung wird oft übersehen. So mag einem Mormonen die Vielehe nach den Normen seiner Glaubensgemeinschaft erlaubt sein; moralisch gefordert ist sie für ihn aber wohl k a u m . 8 8 2 Das Anfertigen von Tagebuchaufzeichnungen ist kein Fall der grundrechtlich geschützten Gewissensbetätigung, weil es vom Gewissen nur „veranlaßt", aber ebenfalls nicht geboten i s t . 8 8 3 Das an einen Zeugen gerichtete richterliche Gebot, über eine frühere NSDAP-Mitgliedschaft auszusagen 884 , mag die Persönlichkeitssphäre des Zeugen betreffen, fordert aber kein diesem moralisch verbotenes Verhalten. Auch die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch 885 kann allenfalls in besonders gelagerten Ausnahmefallen eine Gewissensentscheidung i m Sinne des Art. 4 1 GG s e i n . 8 8 6 Wenn in der Diskussion um das Beratungskonzept nach § 219 StGB 879 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 64; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 106 f.; Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 158. So auch schon W. Geiger, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: K. Forster (Hrsg.), Staat und Gewissen, 1959, S. 9 ff. (24). 880 Vgl. BVerfGE 88, 203 (283, 308). 881 Vgl. Gast, Das Gewissen als rhetorische Figur, BB 1992, S. 785 ff.; Wank, Examensklausur Zivilrecht. Gewissensentscheidungen im Arbeitsverhältnis, Jura 1999, S. 31 ff. Vgl. u. S. 238 und S. 250 ff. 882 So der vielzitierte Beispielsfall bei E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 64 f. Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1035. 883 Anders Amelung, Die zweite Tagebuchentscheidung, S. 1759. S. o. bb)bbb)a), S. 213 ff. zum Schutz des forum internum. 884 Vgl. BayVerfGHE 3, S. 4 ff. Zur Gewissensfreiheit Scholler, Die Freiheit, S. 128, 154, auch zur Offenlegungspflicht gegenüber dem Dienstherrn. Zur Gewissensfreiheit rechnet solche Fälle auch Listi, Das Grundrecht, S. 99 f. 885 Vgl. o.Teil 1, A.,S. 17 f. 886 Dagegen für ein generelles Ein- und Durchgreifen von Art. 4 I GG Frommel, Frauen müssen nicht gebären. Der Schatten des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, DuR 1991, S. 367 ff. (372, 374); dies., Strategien gegen die Demontage der Reform der §§ 218 ff. StGB in der Bundesrepublik, ZRP 1990, S. 351 ff. (352). Die von ihr angeführten Referenzen tragen diese Auffassung nicht. Wie hier Eser, Rechtsgutachten im Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (1992), 1994, S. 50 ff. mit ausführlicher Begründung der entgegengesetzten Funktion des Gewissensbegriffs in § 219 StGB. Gegen eine Anwendung von Art. 4 I GG auch Starck, Abtreibung auf Grund Gewissensentscheidung?, JZ 1993, S. 31 f. (31). Ablehnend auch BVerfGE 88, 203 (308). Vgl. ebd., S. 242; Kriele, Die nicht-therapeutische Abtreibung vor dem Grundgesetz, 1992, S. 55 ff.; ders., Die neuen Abtreibungsregelungen vor dem Grundgesetz, DVB1. 1992, S. 1457 ff. (1457 f.); Spaemann, Moralische Grundbegriffe, 1982, S. 83 f.; Pawlowski, Zur Aufgabe, S. 432 f., 434 f.; Schünemann, Quo vadis § 218 StGB?, ZRP 1991, S. 379 ff. (386) (keine Pflichten gegen sich selbst); Lenzen, Staatliche Lebensschutzverweigerung, in: FS Tröndle 1989, S. 723 ff. (740 f.); Tröndle, Das Menschenbild des Grundgesetzes und die Neuregelung des Abtreibungsrechts im geeinten Deutschland, in: FS Spendel 1992, S. 611 ff. (617 ff.); Büchner, Kein Rechtsschutz für ungeborene Kinder?, ZRP

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

dagegen vorgebracht wird, der Gesetzgeber könne oder müsse die - grundrechtlich geschützte - Gewissensentscheidung der Frau als Regelfall unterstellen, 887 beruht das auf einer rein empirischen, von der normativen Funktion des Gewissens abstrahierenden Sicht, wonach das Gewissen „nicht eine auf den Bereich des Moralischen oder Sittlichen beschränkte Instanz" ist, sondern eine identitäts- und integritätswahrende psychische Instanz oder Funktion, die bei jeder konflikthaften Verhaltensentscheidung im Spiel ist und allein damit grundrechtliche Wirkungen auslösen kann. 888 „Gew/.y.smyentscheidung" ist die Entscheidung, weil sie einer Situation konfligierender Verhaltenserwartungen und -antriebe und damit einem „Gewissenskonflikt" entspringt. 889 Auch das Abheben auf das Vorliegen eines „Gewissenskonfliktes" vermag die Argumentation aber nicht zu tragen, da dieser Begriff selbst, in seiner alltagssprachlichen Verwendung wie im grundrechtlichen Kontext, fast noch vieldeutiger ist als der des „Gewissens" und verschiedenste Arten von Konfliktsituationen bezeichnen kann: Die verhaltensleitenden Gewissensüberzeugungen des Individuums können erstens - im forum internum - im Widerstreit miteinander liegen (moralischer Normkonflikt) 890 oder mit anderen Handlungsantrieben (psychoanalytisch: Konflikt von Ich und Über-Ich); 891 sie können aber auch zweitens - im forum externum - konfligieren mit fremden Moralauffassungen,892 äußeren Verhaltenszwängen 893 oder schließlich speziell mit rechtlichen 1991, S. 431 ff.. (432 f.), der betont, ein Tun „nach bestem Wissen und Gewissen" verschaffe keine zusätzliche Legitimation. Da das Verhalten nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, bedarf es der Schrankenkonstruktion eines „Mißbrauchs" des Grundrechts nicht; so aber F. Klein, Schmidt-Bleibtreu / Klein, Art. 4, Rdn. 4. 887

Gemeinsame Stellungnahme der SPD-regierten Bundesländer, BVerfGE 88, 203 (243 ff., 248) = S. 79 der von Schlink/Bernsmann verfaßten Stellungnahme (zit. nach Kriele, Die nicht-therapeutische Abtreibung, S. 57). Ähnlich Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 444 (Recht der Mutter auf Gewissensfreiheit). Von einem „Recht auf Gewissensentscheidung" spricht auch Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996, S. 350. Zur Bundestagsdebatte v. 25. 6. 1992 vgl. o. Teil 1, Α., S. 11 ff. 888 Schlink/Bernsmann, S. 78 f. (zit. nach Kriele, Die nicht-therapeutische Abtreibung, S. 55 f.). 889 Ebd. Vgl. die Begründung der ersten Entwürfe zu einem Beratungskonzept o. Teil 1, Α., S. 12 ff. (Die Entscheidung ist „Gewissensentscheidung" wegen des Vorliegens einer schweren „inneren Konfliktsituation".). Vgl. die Begründungen in der Beratung des Bundestages Teil 1 A), Anm. 32-34, 40-42. Diese Argumentationslinie wird von Abgeordneten der Fraktionen von CDU /CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gleichermaßen verfolgt; die parteipolitische Engführung der Frage bei Kriele, Die nicht-therapeutische Abtreibung, S. 54 f. scheint daher nicht angebracht. Vgl. in anderen Zusammenhängen das weite Verständnis des „Gewissenskonflikts" für konfligierende Verhaltensmotive in BGH, Beschl. v. 31. 12. 1979, NJW 1980, S. 950 f. (951); BGHSt 29, 298 (299 f.). S90 Brockhaus. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bnd. III, 1981, S. 212; Mackensen - Deutsches Wörterbuch, 10. Aufl. 1982, S. 439; Klier, Gewissensfreiheit, S. 45, 47 m.w.N. Vgl. Kittsteiner, Die Entstehung, S. 202. 891 Trübners Deutsches Wörterbuch, Bnd. III, 1943/39, S. 174; Klier, Gewissensfreiheit, S. 46 m.w.N. Vgl. Lorenz, Absoluter Schutz, S. 273 ff. zum Tagebuchfall.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

Verhaltenserwartungen. 894 Der Begriff des „Gewissenkonflikts" kann in diesen Fällen auch darauf zielen, daß der Konflikt selbst verinnerlicht wird und den Menschen in seinem Gewissen gleichsam „spaltet" und verunsichert. 895 Der von Art. 4 I GG gemeinte „Gewissenskonflikt" ist aber allein der Konflikt zwischen der zur normativen Überzeugung gefestigten Gewissensposition des einzelnen und der Rechtsordnung, zwischen Rechtspflicht und Gewissenspflicht; auf diesen normativen „Konfliktfall" ist das Grundrecht ausgerichtet; 896 in der Möglichkeit dieses Konflikts liegt der Grund für die Grundrechtsgewährleistung. 897 Das Eingreifen des Art. 4 I GG setzt also voraus, daß der Grundrechtsträger einer spezifischen Darlegungslast 898 genügt. Er hat darzulegen, welches „Gebot" ihn „innerlich verpflichtet", 899 dem staatlichen Rechtsanwender (und sich selbst) gegenüber Rechenschaft zu geben über ihn leitende Normen und/oder Gründe (Verhaltensfolgen); er hat die Normativität seines subjektiv empfundenen Verhaltensimpulses und damit dessen Qualität als „Gewissens"-Position auszuweisen. Die Normativität 900 des Gewissens kann sich aus der Innenperspektive 901 des einzelnen entweder durch den Bezug auf eine überindividuelle normative Ordnung ergeben oder durch den Bezug auf eine individuelle normative Ordnung oder allein unmittelbar aus der individuellen und konkreten SoMenserfahrung. 902

892 Blank, Gewissen und Identität, in: FS Rudolph Berlinger, 1972, S. 21 ff. (22 ff.). 893 Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Bnd. III, 2. Aufl. 1993, S. 1334; Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin), Bnd. II, 1967, S. 1585. 894 Etwa Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 5, 221 unter Betonung des affektiven Aspekts dieses Konflikts. 895 Blank, Gewissen, S. 22. Vgl. Kerber, Gewissensentscheidung in Politik und Gesellschaft, in: J. Fuchs (Hrsg.), Das Gewissen. Vorgegebene Norm verantwortlichen Handelns oder Produkt gesellschaftlicher Zwänge ?, 1979, S. 67 ff. (69). 896 So bereits Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus, 1963, S. 68 ff.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 147. Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 221; Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit des Verbotsintums, 1969, S. 41 f. m.w.N. 897 Marcic, Diskussionsbeitrag, S. 115 („Norm gilt gegen Norm"). 898 Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 58; Morlok, Art. 4, Rdn. 67. 899 Vgl. BVerfGE 12,45 (54 f.). 900 Zum Problem der „Normativität des Gewissens" vgl. Honnefelder, Vernunft und Gewissen, in: Höver/Honnefelder (Hrsg.), Der Streit um das Gewissen, 1993, S. 113 ff. (115 ff.); Höver, Transzendentalität und argumentative Leistungskraft des Gewissens, ebd., S. 123 ff. Vgl. dens., Gewissen - ein Gedankending oder sittliche Instanz ?, in: Renovatio 45 (1989), S. 76 ff. 901 Zur anthropologischen Unterscheidung von Innen- und Außenperspektive auf den Menschen vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 1987, u. a. S. 17; Weischedel, Skeptische Ethik, 1980, § 66, S. 175 f. 902 Diese Differenzierung ist eine bloß idealtypische und vor allem in der Situation der Gewissensentscheidung wohl regelmäßig nicht bewußte.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Der Bezug auf eine überindividuelle normative Ordnung läßt sich relativ leicht vermitteln, da eine solche Ordnung - etwa die Morallehre einer Glaubensgemeinschaft in den klassischen Fällen der Glaubens- und Gewissensfreiheit - auch für einen staatlichen Rechtsanwender erhebbar und erkennbar ist. Vermitteln kann der einzelne auch noch den inhaltlichen Bezug einer Gewissensentscheidung zu einem individuellen, als verpflichtend erachteten Normensystem. Dessen Offenlegung, Erklärung und Vermittlung verlangt allerdings wesentlich mehr an Mühe und Verständnis. In jedem Fall bleibt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Mißverständnissen und von mißbräuchlichen Berufungen auf das Gewissen. Das tatsächliche Bestehen normativer Überzeugungen ist - neben einigen objektivierbaren Indizien 903 - vor allem auch durch den Grundrechtsträger selbst sprachlich zu vermitteln; seine Wahrhaftigkeit und die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen sind von wesentlicher Bedeutung. Die Normativität einer Gewissensentscheidung läßt sich schließlich gar nicht mehr vermitteln in dem (wohl eher theoretischen) Fall, daß der einzelne nur auf eine individuelle Sollenserfahrung verweist, d. h. gar nicht auf (zeitlich oder persönlich) generalisierende Normen und/oder Gründe (etwa Handlungsfolgen), sondern nur auf die Faktizität eines nicht weiter hinterfragten und begründeten Gewissenserlebnisses. Auch hier trifft den Grundrechtsträger die Obligation, seine Position „von einem überindividuellen Standpunkt aus" als einen an ihn gerichteten „Anspruch", als theonome oder autonom-rationale Verpflichtung auszuweisen.904 Keine Rolle kann es spielen, welchen konkreten Bezugspunkt außerhalb seines Selbst er zur Begründung seines Verhaltens benennt: eine mit Verhaltensfolgen selbst begründete rationale Verhaltensmaxime oder die „Weisung" einer transzendenten, kirchlichen oder weltlichen Autorität. 905 Der einzelne mag für sich auch den „Selbstwert seiner Subjektivität" als ausreichenden Grund gelten lassen, wenn er aber »Geltung* (Beachtung) seiner Position für sein Verhalten innerhalb der rechtlich verfaßten Gemeinschaft beansprucht, muß er zumindest den Versuch unternehmen, sich der „zwischenmenschlichen Bedingtheit jeden Gewissensphänomens" sowie den zu verantwortenden sozialen Folgen seines Verhaltens zu stellen und seine Position für andere einsehbar, nachvollziehbar zu machen. 906 Bleibt die

903 s. u. cc), S. 248 ff. 904 Vgl. Schockenhoff, 905

testimonium, S. 78 f.

Letztere will Podlech (Das Grundrecht, S. 96 ff., 155 f.) als „rein formelle Gewissenspositionen" aus dem Schutzbereich ausschließen (vgl. die Differenzierung von autonomem und heteronomem Gewissen bei Klier, Gewissensfreiheit, S. 174, 50 ff., 87 ff.): Solche Gewissenspositionen seien nicht kommunizierbar und daher nicht geeignet, die Suche nach Verhaltensalternativen zu ermöglichen. Diese Begründung ist mittlerweile durch die Praxis widerlegt; auch durch Glaubensgemeinschaften autoritativ vorgegebenen Bekleidungsvorschriften oder Verboten von Eidesleistungen oder Dienstleistungen für den Staat kann durch Verhaltensalternativen Rechnung getragen werden. 906 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 8 f.; W. Marx, Das Grundrecht, S. 169 f.; Isak, Das Selbstverständnis, S. 260 f.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

Normativität des Gewissens in der Innenperspektive des einzelnen verschlossen, kann sie diesem nicht abgesprochen, aber auch nicht zur Begründung besonderer, grundrechtlicher Rechtsfolgen herangezogen werden.

bb) Unbedingtheit der Gewissenspflicht Art. 4 1 GG als Kollisionsnorm Die Kollision von „Gewissensnorm" und „Gemeinschaftsnorm" 907 wird vom einzelnen als Pflichtenkollision erfahren und als solche ist sie im Rahmen des Art. 4 1 GG zu berücksichtigen. 908 Es geht also nicht nur um einen „psychisch-materiellen Konflikt" 9 0 9 oder sonstigen „distributiven" Konflikt 9 1 0 um materielle oder materialisierbare Güter oder Entfaltungsräume, sondern auch um konkurrierende „Versuche zum Richtigen" 911 - selbst wenn diese im Einzelfall noch so befremdlich wirken mögen. Art. 4 1 GG hat einen speziellen Konflikt von Recht und Moral in das System des Rechts hineingenommen;912 er ist eine Kollisionsnorm für die Lösung von Konflikten zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Verhaltenspflichten. 913 Als solche kann man Art. 4 I auch als verfassungsrechtliche (und damit für alle Teile der Rechtsordnung verbindliche) Positivierung des Gedankens der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens begreifen, der den einfach-rechtlichen Normen zur Lösung innerrechtlicher Pflichtenkollisionen 914 zugrundeliegt. - Solche einfach-rechtlichen Kollisionsnormen sind etwa die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe des StGB (§ 32 ff.), soweit sie ein Verhalten im Interesse Dritter privilegieren (Nothilfe, Notstandshilfe); daneben das von der h. M. in der Literatur analog zu § 35 907 Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 20 f. Vgl. Podlech, Das Grundrecht, S. 154 f., 33 f. 908 H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 300. 909 Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 143. 910 Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, Der Staat 26 (1987), S. 371 ff., (372 f.); ders., Das Recht der Steuerverweigerung, 1. Kap., Rdn. 3 ff., 70. Vgl. auch ζ. B. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 33. 911 Pawlowski, Zur Aufgabe, S. 411, 440 f. Vgl. dens., Schutz des Lebens. Zum Verhältnis von Recht und Moral, Rechtsphilosophische Hefte 1992, S. 23 ff. (35); Scholler, Gewissensspruch als Störung, in: Jenseits des Funktionalismus, in: FS Arthur Kaufmann, 1989, S. 187 ff.

(201).

912 Vgl. Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, 1987, S. 201. 913

Vgl. Zippelius, Akzeptanz durch Einsicht (1992), in: ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 138 ff. (139 f.) für die Anwendung im Rahmen zivilrechtlicher Generalklauseln und für Art. 4 III GG: Konflikte zwischen Rechtspflicht und individueller Gewissenspflicht können zum Teil „rechtsimmanent vermieden oder gelöst werden". Otto, Pfichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 3. Aufl. 1978, S. 38 ff. (39 ff.) für religiöse Pflichten. 914 Der Begriff der „Pflichtenkollision" bezeichnet strafrechtlich im engeren Sinne nur den Konflikt zweier gleichrangiger strafbewehrter Handlungspflichten CLenckner,, v. §§ 32 ff., Rdn. 71 ff. m.w.N.), in weiterem Sinne aber auch den Konflikt zwischen Handlungs- und Unterlassungspflichten, rechtlichen und außerrechtlichen Verhaltenspflichten.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

StGB anerkannte Institut des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands (auch: „entschuldigende Pflichtenkollision"). Dabei wird - mit mehr oder weniger tragender Bedeutung - auch auf das Argument des Gewissens zurückgegriffen, wo rechtliche Verhaltenspflichten mit „sittlichen" aufeinandertreffen oder untereinander „unlösbar" kollidieren. „Sittliche" Verhaltenspflichten stehen etwa in Rede, wenn ein Arzt seine Schweigepflicht bricht, um Dritte vor Ansteckung oder vor Gefahren durch einen verkehrsuntüchtigen Verkehrsteilnehmer zu schützen, ohne zu solchen Warnungen rechtlich verpflichtet zu sein.915 Daß der Täter in einem für ihn „unlösbaren Gewissenskonflikt" und „subjektiv aus schwerer Gewissensnot" handelte, trägt bei zur Begründung einer entschuldigenden Pflichtenkollision analog § 35 StGB etwa in den sog. „Euthanasie"-Fällen aus der NS-Zeit 916 oder in Fällen ungerechtfertigter Sterbehilfe 917 oder Organentnahme zu Transplantationszwekken 918 . - Als einfach-rechtliche Kollisionsnormen für den Konflikt von Vertragspflicht und „sittlichen Pflichten" wirken die Generalklauseln des BGB. 9 1 9 Insbesondere im Arbeitsrecht kann eine „Pflichtenkollision" im Einzelfall eine Grenze („Opfergrenze") bilden für die Zumutbarkeit einer Vertragserfüllung. 920 „Anerkennenswerte sittliche Pflichten" hindern den Arbeitnehmer an der Vertragserfüllung, wenn er etwa - als Ausdruck einer „Gewissensentscheidung" - die pflegebedürftige Mutter versorgt, 921 einem öffentlichen Ehrenamt nachgeht 922 oder u. U. auch, wenn er der Wehrpflicht eines fremden Staates nachkommt923.

Diese einfach-rechtlichen Instrumente zur Lösung von Pflichtenkollisionen weisen eine Reihe von strukturellen Gemeinsamkeiten auf. Sie knüpfen den Eintritt begünstigender Rechtsfolgen daran, daß die Konfliktsituation „nicht anders abwendbar" (§ 34 f. StGB), das rechtswidrige Verhalten „erforderlich" 924 oder gar „ultima ratio" 9 2 5 ist. Das bedeutet für den strafrechtlichen Konfliktfall, daß das 915 BGH, MDR 1969, S. 40: „Will ein Arzt in einer solchen Lage nach einem sorgfältigen Abwägen des Für und Wider aus seinem Gewissen heraus dazu beitragen, daß größeres Unheil vermieden wird, so darf ihm das nicht verwehrt werden." Vgl. OLG München, MDR 1956, S. 565; RGSt 38, 62 ff. („Verpflichtung, seine Berufstätigkeit gewissenhaft auszuüben"). 916 Lenckner,, v. §§ 32 ff., Rdn. 115 ff. auch zu anderen Fällen, in denen ein menschliches Leben im Interesse eines anderen ,geopfert' wird. Vgl. Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 18 ff. (27 ff.); Bernsmann, „ E n t schuldigung" durch Notstand, 1989, S. 96 mit FN 273. 917 BGHSt, 32, 367 ff. (380 f.). Zur Gewissens-Argumentation auch Herzberg, Straffreie Beteiligung am Suizid und gerechtfertigte Tötung auf Verlangen, JZ 1988, S. 182 ff. (184 f.). Vgl. o.Teil 1, D.I.2.c), S. 79 ff. 9 18 LG Bonn, U. v. 25. 2. 1970, JZ 1971, S. 56. 919

Vgl. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, S. 140 ff. (zu kollidierenden „Gewissensanforderungen" ebd., S. 147). wo Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990, S. 122 ff. 9

21 ArbG Mannheim, U. v. 7. 2. 1991, BB 1991, S. 978. Vgl. die Anmerkung v. Kohte, AuA 1992, S. 60. 9 22 Vgl. Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 129 m.w.N. 9 23 BAG, AP Nr. 23 zu § 123 BGB; BAG, NZA 1989, S. 464 ff. 9 24 Lenckner,, § 34, Rdn. 18 ff.; § 35, Rdn. 13 ff., 18. 9 25 Ebd., v. §§ 32 ff., Rdn. 117.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

Verhalten des Täters das „mildeste Mittel" zu sein hat, das ihm zur Verfügung steht; er hat der Konfliktsituation nach seinen Möglichkeiten auszuweichen, sie anderweitig abzuwenden - und zwar auch unter Aufopferung eigener Güter (selbst wenn diese höherwertig sind als die von der verletzten Strafnorm geschützten). Das ist ihm vor allem dann zumutbar, wenn er die Konfliktsituation selbst verschuldet hat, 9 2 6 sei es nur dadurch, daß er den „einfachsten und bequemsten Weg" gegangen ist 9 2 7 . In ganz ähnlicher Weise ist die Modifikation oder Aufhebung von Vertragspflichten im Arbeitsrecht davon abhängig, ob eine Pflichtenkollision vorhersehbar und vermeidbar war. 928 Auch wenn das nicht der Fall ist, hat der Arbeitnehmer insofern „eigene Güter aufzuopfern", als er zwar u. U. von seiner Vertragspflicht zur Arbeitserbringung befreit wird und bei einer Arbeitsverweigerung keine Kündigung hinzunehmen hat, dafür aber seinerseits auf die entsprechenden Lohnanteile verzichten muß. 9 2 9 Der einzelne soll den für ihn Priorität beanspruchenden Pflichten nicht auf Kosten Dritter nachkommen können. Die vorstehend behandelten kollidierenden Rechtspflichten und sittlichen Pflichten weisen jedoch - auch wenn sie komplementär mit dem Argument des „Gewissens" arbeiten - einen wichtigen Unterschied zu Gewissenspflichten im allgemeinen auf: Sie sind jeweils Teil der Rechtsordnung oder doch jedenfalls inhaltlich von der Rechtsordnung („rechtsethisch") „anerkannt", während individuelle Gewissenspflichten im Rahmen des Art. 4 I GG einer solchen „objektiven Billigung durch die Rechtsordnung" nicht unterstellt werden dürfen. 930 Dieser Unterschied kann jedoch auch nur dafür sprechen, individuelle Gewissenspflichten einer weitergehenden Beschränkung durch Grundrechtsschranken zugänglich zu machen; er kann auch dafür sprechen, die begrenzenden Elemente des „Modells" 9 3 1 der Pflichtenkollision schon im Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit zu rezipieren. Dafür spricht vor allem, daß dies nur die Kehrseite einer potentiellen Ausweitung des Schutzbereichs durch Betonung des nicht-affektiven, normativen Gewissensaspekts darstellt: Ein Grundrecht, daß letztlich die Eigenverantwortlichkeit des Grundrechtsträgers schützt, kann auch auf dessen Verantwortlichkeit für das Entstehen der Konfliktsituation als schutzbereichsbegrenzendes Moment zurückgreifen. So wenden die strafrechtliche und die arbeitsrechtliche Literatur zu Recht die Kriterien der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit (unter Zurückstellung eigener Interessen) des Konflikts auch auf von Art. 41 GG erfaßte Gewissenskonflikte an: Der Arbeitnehmer kann sich nicht auf einen Gewissenskon926 Ebd., § 35, Rdn. 18; § 34, Rdn. 20. 927 BGH, NJW 1972, S. 834. 928 Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 132 f., 138 f. m.w.N. So schon für das gesamte Vertragsrecht Bosch/Habscheid, Nochmals: Vertragspflicht, S. 215. 929 Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 131. wo Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 137, 147 f. Vgl. Otto, Pflichtenkollision, S. 42 ff.; ArbG Mannheim, U. v. 7. 2. 1991, BB 1991, S. 978, LS 1. 931 Ebd., S. 130 f., 123 m.w.N. auf die zivilrechtliche Literatur. Vgl. Derleder, hältnis und Gewissen, AuR 1991, S. 193 ff. (199 f.).

Arbeitsver-

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

flikt berufen, wenn dessen Auftreten schon bei Vertragsschluß vorhersehbar war. 9 3 2 Wenn er dem Konflikt durch Arbeitsverweigerung ausweicht, hat er u. U. Lohneinbußen oder die Versetzung an einen für ihn belastenderen Arbeitsplatz in Kauf zu nehmen. 933 Wer den Straftatbestand der Ersatzdienstflucht erfüllt, kann sich nicht auf Art. 4 I GG berufen, wenn er die Konfliktlage selbst pflichtwidrig herbeigeführt hat, indem er ohne zureichenden Grund keinen Gebrauch von der vom Staat bereitgestellten Alternative des § 15 a ZDG gemacht hat (kein freies Ersatz-Arbeitsverhältnis im Gesundheitswesen begründet hat). 934 Das Entstehen einer Konfliktlage ist in diesen Fällen dem Bürger (Arbeitnehmer) - mit Blick auf sein vorangegangenes Verhalten, das auch im Auslassen von Ausweichmöglichkeiten bestehen kann - selbst zuzurechnen, oder er kann bestehenden oder drohenden Konfliktsituationen in seinem zukünftigen Verhalten selbst ausweichen. Die Schutzbereichsbegrenzung durch „zumutbare Alternativen" ist in der Literatur zum Teil schon für den gesamten Anwendungsbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit verallgemeinert worden. 935 Einige Oberverwaltungsgerichte fordern unter Hinweis auf die Obliegenheit, von „zumutbaren Ausweichmöglichkeiten" Gebrauch zu machen, eine „notstandsähnliche Zwangssituation".936 Dieser Gedanke findet ansatzweise in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Niederschlag, wenn das Gericht einen für den Bürger „unausweichlichen" Konflikt fordert, einen Konflikt, dem er „nicht ausweichen kann" 9 3 7 Vielleicht sollte man diesen Gehalt auch der - ansonsten eher mißverständlichen - Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer „unbedingten" Verpflichtung durch das Gewis932 BAG, U. v. 24. 5. 1989, AP Nr. 1 zu § 611 BGB, S. 4 f. m.w.N. (= BAGE 62, 59); Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 138 ff.; Gast, Das Gewissen als rhetorische Figur, BB 1992, S. 785 ff. (788); Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 503 f. Kritisch Derleder, Arbeitsverhältnis, S. 195, 200. 933 Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 131. Differenzierend BAG, U. v. 24. 5. 1989, AP Nr. 1 zu § 611 BGB, S. 8 f. m.w.N.; Derleder, Arbeitsverhältnis, S. 201 f.; Wank, Examensklausur Zivilrecht. Gewissensentscheidungen im Arbeitsverhältnis, Jura 1999, S. 31 ff. 934 Lenckner, vor §§ 32 ff. StGB, Rdn. 120; Eisenberg/Wolke, Zur strafrechtlichen Beurteilung, S. 286. Allgemein zur Übertragung des Gedankens aus § 35 I 2 StGB Tenckhoff, Strafrecht, S. 452. 935 Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 42 f., 47 (mit allerdings zweifelhafter - vgl. ο. A.II.4., S. 151 ff. - Parallele zum Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG: „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist"). Die Pflicht, der Konfliktsituation auszuweichen, betonen auch H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 500 und neuerdings Muckel, Religiöse Freiheit, S. 154 ff. (Schutz vor „aufgezwungenen Gewissenskonflikten") mit Verweis auf Preuß. Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 283 f. Den Charakter der Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) als Konfliktlösungsnorm machen auch BVerwGE 94, 82 ff.; BVerwGE 89, 260 ff. deutlich. 936 VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (194, 193) mit Verweis auf Preuß. Vgl. VGH Mannheim, U. v. 15. 11. 1983, NJW 1984, S. 1832 ff. (1834); VGH Kassel, U. v. 12. 5. 1987, NuR 1988, S. 348 ff. (349). Alle zu Ausbildungszwecken dienenden Tierversuchen an Universitäten. 937 BVerfGE 33, 23 (32) (Hervorhebung nicht im Original). Vgl. Freihalter, freiheit, S. 107, 159.

Gewissens-

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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sen 938 entnehmen. Diese Formulierungen führen jedoch wiederum in die Aporie, daß eine Möglichkeit auszuweichen - in letzter Konsequenz die Auswanderung fast immer besteht. Das Modell der Pflichtenkollision ist insofern differenzierter: es verweist auf die Obligation, das relativ „mildeste Mittel" (d. h. das der Rechtsordnung verträglichste Verhalten) zu wählen, und auf das Kriterium der Zumutbarkeit von Verhaltensalternativen für den Grundrechtsträger. Bildhaft könnte man auch davon sprechen, daß der Bürger bei der Befolgung seiner Gewissenspflichten seinerseits an ein „Übermaßverbot" gebunden ist; eine solche gleichsam spiegelbildliche Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu Lasten des Bürgers machte zwar deutlich, daß sich normative Ansprüche von Staat und Individuum gegenüberstehen - dogmatisch begründbar ist sie aber wohl kaum. 939 Der hier herausgehobene Grundgedanke liegt auch den bereits angesprochenen 9 4 0 Grundrechtsmodellen der Bereitstellung von Verhaltensalternativen zugrunde. Diese bedürfen aber unter dem Gesichtspunkt der Pflichtenkollision einiger Ergänzung bzw. Modifikation: Die wechselseitige Anerkennung normativer Ansprüche von Staat und Individuum verlangt beiderseitige Bereitschaft zum dialogischen Aufeinanderzugehen und Inkaufnehmen von Nachteilen, vor allem aber schließt sie einen uneingeschränkten prima-facie Vorrang der Gewissenspflicht aus. Damit muß zwar immer noch jede dem Bürger nachteilige Folge gewissensgeforderten Verhaltens und jede Belastung durch Alternativverhalten am Maßstab des Art. 4 I GG gemessen und gerechtfertigt werden; es gibt aber nicht die prima-facie Vermutung für die Erlaubtheit dieses Verhaltens, die anderen Freiheitsrechten 941 zukommt. Der Grundrechtsträger hat insbesondere keinen prima-facie Leistungsanspruch auf Bereitstellung von Alternativen durch den Staat, sondern muß - wenn ihm ein Ausweichen vor dem Konflikt aus eigener Kraft nicht möglich oder nicht zumutbar ist - auch selbst Alternativen anbieten 942 bzw. konkrete rechtliche Verhaltensmöglichkeiten vom Staat verlangen. Der individuelle Konflikt ist in aller Regel weder für den Gesetzgeber noch für den Rechtsanwender vorhersehbar und erkennbar; er wird erst dadurch zu einem rechtlich relevanten, daß der Bürger ihn 938 BVerfGE 12,45 (54 f.). 939 Der (unbewußte?) Versuch einer dogmatischen Umsetzung findet sich bei Kahl, Koran und Schulsport, JuS 1995, S. 904 ff. (906 f.), der die Befreiung islamischer Schülerinnen vom Schulsport (nicht den in der Teilnahmepflicht liegenden Grundrechtseingriff!) unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsprinzips prüft, u. a. die Möglichkeit des Tragens weitgeschnittener Kleidung als milderes Mittel im Vergleich zur Unterrichtsbefreiung. Mißverständlich wäre eine Parallele zum Verhältnismäßigkeitsprinzip auch insofern, als es bei der Frage der Zumutbarkeit auf der Schutzbereichsebene nicht etwa um die Zumutbarkeit des gewissensgeforderten Verhaltens für den Staat geht und auch nicht um die Tragbarkeit von Alternativen für den Staat, sondern um die Zumutbarkeit eigener Verhaltensalternativen für den Bürger. 940 Vgl.o. A.II.3..S. 146 ff. 941 Vgl. o. A.II.2.a), S. 110 f. 942 Insofern genau ist die Formulierung im DDR-Verfassungsentwurf des „Runden Tisches" von 1990. S. o. A.II.3., S. 147 f. Vgl. auch S. 112 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

darlegt, belegt, plausibel macht und die seiner Auffassung nach erforderlichen rechtlichen Konsequenzen für seine Lösung vorschlägt. Praktisch gibt es damit keine einseitige Rechtfertigungspflicht des Staates für seine Regelungen. Ebensowenig kann es eine einseitige Argumentationslastregel geben, die es allein dem Inhaber der öffentlichen Gewalt zuweist, darzulegen, daß Alternativen nicht vorhanden oder für die Allgemeinheit nicht tragbar sind. 943 Die dafür gegebene Begründung, die Folgen des Gewissenskonfliktes müsse derjenige tragen, der über die Alternativen verfüge, und dies sei in einer rechtlich vermittelten Zwangslage der Staat, 944 vermag nicht zu überzeugen. Zwar kann allein der Inhaber der öffentlichen Gewalt Rechtsfolgen festlegen und ein Alternativverhalten rechtlich anerkennen, das begründet aber keine »Bringschuld' für Verhaltensalternativen; es ist zuerst am Grundrechtsträger, darzulegen, welche Alternativen er sieht und daß ihm vorhandene Alternativen wegen der mit ihnen verbundenen anderweitigen Lasten nicht zumutbar sind. 945 Die Ausweglosigkeit der Zwangslage, die Unbedingtheit der Gewissenspflicht, ist zunächst vom Grundrechtsträger darzulegendes Merkmal des Grundrechtstatbestands. Hat der Grundrechtsträger zumutbare Auswege und Alternativen nicht genutzt, fällt sein Verhalten aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit heraus. 946 Vor allem hat er zu versuchen, eine bevorstehende und vorhersehbare Konfliktsituation dadurch abzuwenden, daß er jedes möglicherweise erfolgversprechende Mittel einsetzt, um sein Grundrecht aus Art. 4 I GG zu realisieren, gemeinsam mit dem zuständigen Hoheitsträger Alternativen zu finden oder einen Dispens zu erwirken. Dazu muß er ζ. B. zuallererst einen entsprechenden Antrag stellen und etwaige Rechtsbehelfe einlegen. Zumutbar ist zumindest die Suche nach und konkrete Darlegung von Alternativen. 947 Der Aufwand an Zeit und Kosten dafür kann durchaus 943

So Podlech, Das Grundrecht, S. 37 f.; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 148. 944 Podlech, Das Grundrecht, S. 38. Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 283. 945 Vgl. schon LAG Nürnberg, U. v. 3. 4. 1958, JZ 1958, S. 514 f. (515). Wegen des wertenden Elements der Zumutbarkeit sollte man hier von „Argumentationslast" sprechen {Podlech, Das Grundrecht, S. 37 f.), nicht von „Beweislast" (so Mock, Gewissen, Gewissensfreiheit und demokratischer Verfassungsstaat, ARSP, Beiheft (NF) 13, 1980, S. 207 ff. (212); ders., Das Gewissen als Grundlage der Entscheidung, in: R.Jakob (Hrsg.), Auslegung - Einsicht - Entscheidung, Bnd. II, 1983, S. 69 ff. (78)). 946 Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 43, 47. Dieser Ansatz ist jedoch nicht auf die Fälle eines gewissensgeforderten aktiven Tuns zu beschränken. Auch Konflikten mit dem Gesetz durch gewissensgefordertes Unterlassen kann der Grundrechtsträger - wie das Beispiel der Ersatzdienstflucht und des § 15 a ZDG zeigt - aus dem Wege gehen, indem er alternative Handlungen vornimmt. In vielen Fällen kann er die Situation meiden, die überhaupt erst eine rechtliche Handlungsverpflichtung begründet. Durch das Kriterium der „Zumutbarkeit" wird neben der Abwägung auf Schrankenebene ein zusätzliches wertendes Element (zu Lasten des Grundrechtsträgers) in den Tatbestand eingeführt. Vgl. allg. zu diesem Kriterium Morlok, Selbstverständnis, S. 181. 947 Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 43. Vgl. zum Arbeits- und Sozialrecht schon LAG Nürnberg, U. v. 3. 4. 1958, JZ 1958, S. 514 f. (515) („mit offenen Karten spielen"). Vgl. BSG E 61, 158 (164, 166 ff.): Das Grundrecht schützt nur vor Gewissenszwang, d. h. „aufgezwungenen

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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belastend ins Gewicht fallen, ist aber eine zweifellos zumutbare Nebenfolge. Wer rechtswidrig handelt, ohne solche Bemühungen zur Abwendung absehbarer Konflikte angestellt zu haben, ist schon allein deswegen - mit Blick auf Sanktionen in seinem Verhalten weder gerechtfertigt noch entschuldigt. Damit wird auch dem denkbaren Mißverständnis vorgebeugt, das Grundrecht der Gewissensfreiheit ermächtige zur Selbst-Dispensierung von Rechtspflichten. Rechtsprechung und Literatur verweisen den Grundrechtsträger in vielen praktischen Fällen auf ihm offenstehende Auswege und Alternativen oder erwägen sie zumindest; diese sind nur selten nicht mit zusätzlichen Lasten verbunden: - Bei einer Gewährung von Kirchenasyl (oder »Privatasyl') etwa hat der Grundrechtsträger den Asylbewerber vorrangig i m staatlichen Anerkennungsverfahren zu unterstützen, um ihn vor den Gefahren einer Abschiebung zu bewahren. 9 4 8 Zu weit geht es jedoch, auf dem Wege einer Verwirklichung von „Gewissensfreiheit durch Rechtsgehorsam44 den Bereich der, Asyl'-Gewährung ganz aus dem Schutzbereich auszugrenzen: Ein Konflikt zwischen Gewissensforderung und gesetzlicher Verhaltensforderung liege gar nicht vor, da Staat und Grundrechtsträger dasselbe Ziel verfolgten, den Schutz des Asylbewerbers 949. Betrachtet man nur die abstrakt verfolgten Ziele, so besteht sehr oft - außerhalb der religiös motivierten Gewissensentscheidungen wohl meistens (vgl. aber auch BVerfGE 32, 98 (109) - Übereinstimmung zwischen Staat und Bürger; es geht ihnen um Schutz von Leben und Gesundheit, den Schutz Jugendlicher, Friedenssicherung oder Tierschutz usf. Der Konflikt beschränkt sich auf den konkreten Fall und die konkrete Situation; die Gewissenspflicht entspringt einer konkreten moralischen Norm, die gegen einen konkreten Rechtsbefehl steht. Auch ein solcher Konflikt ist selbstverständlich ein Gewissenskonflikt im Sinne des Art. 41 GG. 9 5 0 So kann eine Gewährung von Kirchenasyl dann, aber auch nur dann, in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit fallen, wenn alle Rechtsbehelfe des Asylbewerbers ausgeschöpft sind. - A u f einen Ausweg ohne zusätzliche Lasten verweist die E K M R Verweigerer der in Österreich geltenden Wahlpflicht: sie könnten einen leeren Stimmzettel abgeben.951 Gewissenskonflikten44, aber auch in einem Konflikt ist zunächst eine einvernehmliche Konfliktlösung mit einem Arbeitgeber anzustreben und vor Inanspruchnahme der Arbeitslosenversicherung auch die frühzeitige Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zumutbar. Sehr weitgehend zur Darlegungslast neuerdings BVerwG, U. v. 18. 6. 1997 (Bericht NVwZ 1997, S. 881): Wer aus Gewissensgründen als Biologiestudent Versuche an zu diesem Zwekke getöteten Tieren (Präparaten) ablehnt, muß nicht nur allgemein auf die möglichen Alternativen von Lehrfilmen oder Computersimulationen hinweisen, sondern konkret ausgearbeitete Alternativleistungen für die von ihm abgelehnten Übungsteile (Versuche) anbieten und sich mit den an anderen Universitäten gemachten Erfahrungen mit tierpräparatsfrei gestalteten Übungen auseinandersetzen. 948 Maaßen, „Kirchenasyl44 und Rechtsstaat, KuR 1997, S. 37 ff. (47 ff.): Die letzte „rechtmäßige Alternative44 ist die Förderung eines Folgeantragsverfahrens nach §§ 71 ff. AsylVfG. 949 Ebd., S. 49, 47 f. Ebenso Seifert, in: Seifert /Hornig, Art. 4, Rdn. 8. 950 wie hier etwa K. D. Bayer, Das Grundrecht der Religions- und Gewissensfreiheit, 1997, S. 240 ff. Zum Kirchenasyl vgl. auch ο. Α.Π.4., S. 164. Umfassend jetzt Görisch, Kirchenasyl und staatliches Recht, 1999. 16 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

- Aus dem Schutzbereich der Gewissensfreiheit heraus fällt auch derjenige, der einen vorgeschriebenen Beamteneid (oder vergleichbare Eide) bei Eintritt in das Dienstverhältnis nicht wegen der Eidesform, sondern wegen des Inhalts des Eides ablehnt: Die rechtliche Verpflichtung und damit der Gewissenskonflikt beruhen auf einer selbstgewählten, in ihren Konsequenzen vorhersehbaren und damit selbst zu verantwortenden Lage. 952 Demjenigen, der die Grundpflichten des Beamten nicht übernehmen will, ist ein Verzicht auf die gewählte Berufstätigkeit im Beamtenstatus zumutbar. Bei bloßer Ablehnung der Eidesform besteht dagegen kein grundsätzlicher Konflikt mit den durch den Diensteintritt verbundenen Rechtspflichten; ein Ausweichen durch Verzicht ist keine zumutbare Alternative. Das gilt auch ζ. B. für einen möglichen Mandatsverzicht eines Kreistagsabgeordneten, der die Form seines Amtseides ablehnt. 953 Um die Ablehnung zentraler Dienstpflichten geht es dagegen wiederum, wenn eine (nur im Innendienst tätige) Kriminalbeamtin das Tragen einer Schußwaffe aus Gewissensgriinden ablehnt 954 oder ein Kriminalbeamter den Schußwaffengebrauch und die Samstagsarbeit.955 Ähnlich wie private Arbeitnehmer bei Gewissenskonflikten eine Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz in Kauf zu nehmen haben, hat hier zunächst der Beamte selbst Möglichkeiten auszuschöpfen, dem Konflikt etwa durch Beantragung eines Laufbahnwechsels auszuweichen. 956 - Schwieriger zu beurteilen sind eigene Ausweichmöglichkeiten von Medizinund Biologiestudenten, die die aktive Teilnahme an Praktika ablehnen, in denen mit zu diesem Zwecke getöteten Tieren zu arbeiten ist: Jedes einzelne Tier habe als Mitgeschöpf ein eigenes Lebensrecht; damit sei die unnötige massenhafte Tötung von Tieren zu Unterrichtszwecken, um immer gleiche Vorgänge zu demonstrieren, nicht vereinbar. 957 Die Gerichte 958 anerkennen in diesen Fällen fast 951 EKMR, 22. 4. 1965, Β 1718/62, YB 8 (1965), S. 168; EKMR, 22. 3. 1972, Β 4982/ 71, YB 15 (1972), S. 468. Eine Frage des Einzelfalls bleibt es dabei allerdings, ob dies ein ,geeignetes4 milderes Mittel für den Wahlpflichtigen ist oder ob es ihm - wie u. U. den Angehörigen mancher Sekten - schon um die Ablehnung der Teilnahme am äußeren Vorgang des staatlichen Wahlaktes geht. 952 Podlech, Das Grundrecht, S. 121 m.w.N., 134. 953 BVerfGE 79, 69 (74 ff.) gegen den Bay VGH, Beschl. v. 25. 11. 1987, BayVBl. 1988, S. 400 (vgl. BVerfGE 79, 69 (73), ähnlich schon BayVerfGHE 17, 94 ff.: „selbstgewählte Bindung44). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 276. 954 BVerwGE 56, 227 ff. 955 VG Sigmaringen, U. v. 7. 11. 1990, NVwZ 1991, S. 199 ff. Vgl. Lisken, Gefährdungen, S. 543 f. 956 BVerwGE 56, 227 (229). Dort spielen zudem Erwägungen der Vorhersehbarkeit des Konflikts bei Aufnahme der gewählten Laufbahn durch „freien Willensentschluß44 eine Rolle (S. 228 f.). Eine solche Zurechnung des Konflikts könnte schon für sich den Grundrechtstatbestand ausschließen. Anders liegen die Dinge im Fall des VG Sigmaringen; hier sind die Gewissensüberzeugungen des Kriminalbeamten erst während seiner Dienstzeit, im Zusammenhang mit dem Beitritt zu einer Glaubensgemeinschaft („Worldwide Church of God44) entstanden.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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ausnahmslos eine verfassungsrechtlich zu beachtende Gewissensentscheidung des Studenten. Die älteren Entscheidungen verneinen jedoch das Vorliegen der von Art. 4 I GG geforderten „Zwangslage", 959 denn niemand sei zum Studium eines bestimmten Faches oder zur Teilnahme an einer Übung rechtlich verpflichtet. 960 Dagegen spricht jedoch wiederum, daß die Teilnahme an Tierversuchen sowohl im Rahmen des Studiums als auch im Rahmen des angestrebten Berufes von sehr untergeordneter Bedeutung ist; ihre Ablehnung steht nicht in Widerspruch zur Aufnahme des Studiums und tangiert die vom Staat innerhalb des Studiums verfolgten Ausbildungszwecke nur verhältnismäßig geringfügig. Ein Verzicht auf den Berufswunsch stellt daher keine a priori zumutbare Alternative dar. Jüngere Gerichtsentscheidungen betrachten den Verweis auf diese Alternative - mit ähnlicher Begründung - als Verletzung des Grundrechts aus Art. 12 I GG. 9 6 1 Gerade in Fällen von Studenten, die Biologie nur als zweites Fach für das Lehramt 962 oder mit dem Schwerpunkt Botanik studieren, 963 ist auch fraglich, ob bereits bei Aufnahme des Studiums eine Verpflichtung zur Teilnahme an Tierversuchen vorhersehbar war. 964 Nachdem aufgrund gewandelter moralischer Anschauungen in den letzten Jahren einige deutsche Universitäten auch tierversuchsfreie Praktika anbieten,965 können nunmehr Gerichte auf die Alternative verweisen, das Studium an solchen Hochschulen aufzunehmen oder fortzusetzen, wenn dies im Einzelfall 9

57 Zu politischen Initiativen von Landesparlamenten und Landtagsfraktionen aller Parteien vgl. Brandhuber, Kein Gewissen an deutschen Hochschulen ?, NJW 1991, S. 725 ff. (732); v. Loeper, Studentische Gewissensfreiheit und mitgeschöpfliche Sozialbindung, ZRP 1991, S. 224 ff. (227). 958 BVerwG, U. v. 18. 6. 1997, 6 C 5.96, NVwZ 1998, S. 853 ff. (insbes. S. 857). Vgl. Beschl. v. 17. 12. 1997, NVwZ 1998, S. 858 ff.; OVG Koblenz, U. v. 13. 3. 1997, 2 A 13091/95 (unveröff); VGH Mannheim, U. v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. (356); VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (192) („unverkennbar"); VGH Kassel, U. v. 12. 12. 1991, NJW 1992, S. 2373 (2373); VGH München, Beschl. v. 18. 10. 1988, DVB1. 1989, S. 110 ff. (111); VGH Mannheim, U. v. 15. 11. 1983, NJW 1984, S. 1832 ff. (1834) („an sich"). Offenlassend VGH Kassel, Beschl. v. 12. 5. 1987, NuR 1988, S. 348 ff. (350). Kritisch Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 502 f. 959 Vgl. o. S. 235 ff. m.w.N. 960 VGH Mannheim, U. v. 15. 11. 1983, NJW 1984, S. 1832 ff. (1834); VGH Kassel, Beschl. v. 12. 5. 1987, NuR 1988, S. 348 ff. (349); schon OVG Berlin, Beschl. v. 14. 7. 1981, zitiert nach Brandhuber, Kein Gewissen, S. 727. 961 VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (193). Vgl. schon VGH München, Beschl. v. 18. 10. 1988, DVB1. 1989, S. 110 (112). Ein „ Z i r k e l s c h l u ß " ist der Verweis auf die Inkaufnahme beruflicher Nachteile im Rahmen der Gewissensfreiheit allerdings nicht (so aber Brandhuber, Kein Gewissen, S. 730). 962 So im Fall v. VGH Mannheim, U. v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 (Tatbestand nur auszugsweise). 963 VGH München, Beschl. v. 18. 10. 1988, DVB1. 1989, S. 110 ff. (110). 964 Vgl. Brandhuber, Kein Gewissen, S. 728 f. 965 Aufstellung bei Brandhuber, Kein Gewissen, S. 729, 726. 16*

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

möglich (wegen bundesweiter Zulassungsbeschränkung oft nur durch Studienplatztausch) und nicht aus persönlichen Gründen unzumutbar ist. 9 6 6 Dagegen kann nicht eingewendet werden, daß die konkrete Ausgestaltung des Praktikums dem jeweiligen Veranstaltungsleiter obliege 967 und daher schwer vorhersehbar, ein Studienplatztausch schwer planbar sei, 968 denn an einigen Universitäten scheint sich eine feste Praxis alternativer Lehrangebote herauszubilden. 969 Kenntnisse darüber kann der einzelne über spezielle studentische Interessenverbände 970 erlangen. Auch die Wohnungsknappheit in vielen Universitätsstädten führt nicht generell zu „unzumutbaren sozialen und finanziellen Problemen". 971 - Über eigene, grundsätzlich zumutbare Alternativen verfügen auch Ärzte, die langjährig als Fachärzte tätig waren und glauben, aufgrund dessen nicht mehr die fachliche Kompetenz zur Teilnahme am allgemeinen Notfalldienst zu besitzen. Selbst wenn sie im Einzelfall einen auf der Sorge um Notfallpatienten beruhenden Gewissenskonflikt glaubhaft machen können, 972 können sie sich der Konfliktsituation durch Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen oder (übergangsweise) durch Bestellung von Vertretern entziehen.973 - Nur notwendige Konsequenz der beiderseitigen Pflicht zur Vermeidung von Gewissenskonflikten ist es, daß es ζ. B. einer Gemeinde erlaubt sein muß, die Stelle eines Chefarztes an einer gemeindlichen Frauenklinik von vornherein nur für Bewerber auszuschreiben, die bereit sind zur Durchführung indizierter Schwangerschaftsabbrüche: Art. 4 I GG und Art. 2 I des 5. StrRG schützen Ärzte vor dem Zwang, an Schwangerschaftsabbrüchen mitzuwirken, vermitteln aber „keinen Anspruch auf möglichst günstige Bedingungen der Grundrechtsausübung" 966 VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (194, 193). Unter dieser Bedingung greift der Einwand nicht, der Gewissensschutz werde vom zufälligen Gelingen des Studienplatztauschs abhängig gemacht (so aber Brandhuber, Tiertötungen zu Ausbildungszwecken im Spannungsfeld von Tierschutz, Gewissens- und Lehrfreiheit, NVwZ 1993, S. 642 ff. (644). Vgl. BVerwG, U.v. 18. 6. 1997, NVwZ 1998, S. 853 ff. (858). 967 Sowohl die Studienordnungen der Universitäten als auch die Approbationsordnungen für Ärzte enthalten nur allgemeine Regelungen, daß die notwendige praktische Anschauung herzustellen sei. 968 Vgl. VG Frankfurt, U. v. 24. 10. 1990, NJW 1991, S. 768 ff. (770). 969 s. o. Anm. 960 f. 970 Vgl. Brandhuber, Kein Gewissen, S. 726. 971 So aber Brandhuber, Tiertötungen, S. 644. 972 BVerwGE 27, 303 (307 f.) (Nervenarzt), wo der grundrechtliche Schutz der „Gewissensentscheidung" allerdings in Art. 2 I GG verlegt wird (vgl. BVerwGE 41, 261 ff.). Grundsätzlich bejahend auch VG Neustadt (Weinstraße), U. v. 23. 10. 1969, NJW 1970, S. 543; OVG Saarlouis, U. v. 17. 12. 1970, DÖV 1972, S. 63 (Dermatologe); LSG Mainz, U. v. 30. 3. 1977, L 6 Ka 5/75; LSG Essen, U. v. 9. 2. 1977, L 1 Ka 11/76 (beide unveröff.). Ebenso Eberle, Die Rechtsprobleme des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in neuerer Sicht, NJW 1973, S. 2225 ff. 973 LSG Essen, U. v. 19. 3. 1980, L 1 1 S 15/79. Vgl. SG München, U. v. 12. 12. 1979, S 31 Ka 331/78; LSG Celle, U. v. 19. 6. 1974, L 5 Ka 2/72 (alle unveröff.).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

und stellen den Grundrechtsträger nicht von allen Nachteilen frei, die mit seiner Gewissensentscheidung verbunden sind. 974 Zu Recht verweist das Bundesverwaltungsgericht - unter Verweis auf die Rechtsprechung des BAG - den klagenden Bewerber wegen der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit von Konflikten auf die ihm offenstehende und zumutbare 975 Handlungsalternative, von einer Bewerbung abzusehen.976 - Eine Bekenntnisschule darf die Aufnahme einer muslimischen Schülerin ablehnen, wenn sich Konflikte durch den koedukativ erteilten Schwimm- und Sportunterricht konkret abzeichnen und alternativ eine Gemeinschaftsschule in zumutbarer Entfernung erreichbar ist. 9 7 7 Andererseits kann eine Schule die in ihrer Obhut stehenden Schülerinnen, die in entsprechende Gewissenskonflikte kommen, nicht von vornherein (d. h. ohne Prüfung eines alternativen Lehrangebots) auf den Ausweg verweisen, die Schule oder den Wohnort zu wechseln; 978 ebensowenig ist es einer Schülerin zumutbar, mit Kopftuch und weitgeschnittener Kleidung am Sportunterricht teilzunehmen, da sie dadurch größerer Verletzungsgefahr ausgesetzt, einer gerechten Benotung entzogen und vor allem in eine besondere soziale Außenseiterrolle gedrängt würde. 979 Verweigert eine Frau die Anfertigung eines Paßfotos ohne Kopftuch 9 8 0 , sind Verhaltensalternativen des Grundrechtsträgers im Falle eines ge974 BVerwGE 89, 260 (262 ff.). Ebenso VGH München, U. v. 7. 3. 1990, DVB1. 1990, S. 880 ff. 975 Die Zumutbarkeit wäre danach erst dann zu verneinen, wenn die Verhaltensalternative wegen der „Schwere der damit verbundenen Nachteile tatsächlich doch so gut wie ausgeschlossen wäre". Ebd., S. 265. Dagegen Mayer-Maly (Anmerkung zum Urteil des BVerwG v. 13. 12. 1991, JZ 1992, S. 528) mit Verweis auf die drastisch herabgesetzten Einstellungschancen und Art. 121 GG. 976 BVerwGE 89, 260 (264 f.). Anders könnten die Fragen der Vorhersehbarkeit und Zumutbarkeit u. U. etwa im Fall des Berufssoldaten („Strahlflugzeugführers") zu beurteilen sein, der nach Eintritt in einen Orden die Kosten seiner Pilotenausbildung erstatten soll; zur Ermesensausübung vgl. BVerwG, U. v. 4. 5. 1998, Buchholz 236.1 § 49 SG Nr. 2. 977 Vgl. VG Köln, Urteile v. 12. 8. 1992, KirchE 30, S. 320 ff., 323 ff. (328). Dadurch wird auch dem Staat eine eventuelle Bereitstellung von Alternativen (hier: nach Geschlechtern getrennter Sportunterricht) erleichtert. 978 Anders als in Fällen eines etwaigen Studienortswechsels ist hier die Eingliederung in den Familienverband und den Klassenverband sowie die weitergehende schulische Fürsorgepflicht zu berücksichtigen. 979 BVerwGE 94, 82 (84, 88 ff., 91) gegen die Vorinstanz OVG Münster. Dagegen auch OVG Bremen, U. v. 24. 3. 1992, KirchE 30, 139 (146 f.). 980 Zu einem Dispens aufgrund Art. 4 II GG verpflichtet VG Wiesbaden, U. v. 10. 7. 1984, NVwZ 1985, S. 137 f. (Muslima) - (vgl. EKMR, 3. 5. 1993, D 16278/90, DR 74, S. 93 (türkische Universität)), obwohl die Ausführungsregelungen der Länder Ausnahmen nur für Angehörige christlicher Ordensgemeinschaften zulassen (hier nur für solche, deren Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist). Der im Ergebnis ebenso entschiedene Fall des VG Berlin, U. v. 18. 1. 1989, NVwZ 1990, S. 100 zeigt, daß sich parallele Fragen häufig (wie im Fall des Schulsports) in bezug auf Randgruppen innerhalb des chrisdichen Bekenntnisses stellen (Verpflichtung zum Kopftuch aus den Paulus-Briefen).

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

setzlich vorgeschriebenen Ausweises (§ 1 PAuswG) gar nicht denkbar; der Verzicht auf einen (freiwilligen) Reisepaß ist wohl kaum zumutbar. Dem gläubigen Sikh, der sich aufgrund einer religiösen Verpflichtung, einen Turban zu tragen, daran gehindert sieht, einen Motorradsturzhelm zu benutzen,981 wird man dagegen im Normalfall den Verweis auf ein anderes Fortbewegungsmittel zumuten können. 982 - Das Bundesverwaltungsgericht 983 sieht den Schutzbereich der „Religionsfreiheit" (Art. 4 I, Π GG) nicht berührt, wenn sich Muslime durch ihre individuelle Glaubensüberzeugung am Verzehr von Fleisch nicht geschächteter Tiere gehindert sehen; der einzelne sei „weder rechtlich noch tatsächlich gezwungen", Fleisch von in Deutschland geschächteten Tieren zu sich zu nehmen; ihm verbleibe die Möglichkeit „auszuweichen" auf vegetarische Kost, Fisch oder importiertes Fleisch: „Diese an Art. 2 I GG zu messende Erschwernis in der Gestaltung des Speiseplans ist aus Gründen des Tierschutzes zumutbar." - Zumutbare Verhaltensalternativen für den Bürger bestehen auch in Fällen des sog. ,Rentenkonkubinats\ in denen sich Bürger durch ihr Gewissen zur kirchlichen Eheschließung verpflichtet, daran aber durch ein bedingtes staatliches Verbot gehindert sehen: Die kirchliche Trauung setzt die Zivilehe voraus, die ihrerseits zur Reduzierung von Rentenansprüchen führen würde. Die Inkaufnahme solcher finanziellen Nachteile ist aber - gemessen an der Bedeutung der mit der obligatorischen Zivilehe verfolgten staatlichen Zwecke - eine zumutbare Alternative. 984 - Um einen zumutbaren Verzicht auf unmittelbar mit dem gewissensgeforderten Tun verbundenene eigene Vorteile geht es im Fall des amerikanischen Farmers, der sich gegen Produktionsbeschränkungen mit dem Argument wendet, sein Gewissen gebiete ihm, dem Boden soviele Nahrungsmittel als möglich zu »entreißen4. Das angerufene Gericht stellte klar, daß das Gesetz keine Anbaubeschränkung, sondern nur eine Beschränkung der Vermarktung vorsehe; eine unentgeltliche Abgabe der Überschußproduktion bleibe möglich. 985 - Dem Bürger zur Verfügung stehende Alternativen sind auch solche, die der Staat bereits zuvor aufgrund ähnlicher, typischer Konfliktfälle geschaffen hat. Die Frage nach der Zumutbarkeit der Verhaltensalternative beschränkt sich hier oft 981 EKMR, 12. 7. 1978, Β 7992/77, DR 14, S. 234. 982 So in einem parallelen Fall das schweizerische Bundesgericht, EuGRZ 1993, S. 595 f. (596). Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit, S. 161. 983 BVerwGE 99,1 (7 f.). Vgl. OVG Hamburg, U. v. 14. 9. 1992, NVwZ 1994, S. 592 ff.; zustimmend Brandhuber, Die Problematik des Schächtens im Lichte der aktuellen Rechtsprechung, NVwZ 1994, S. 561 ff. (m.w.N. auch zur Gegenauffassung). Der Schutzbereich der Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 II GG) erfaßt demnach dagegen solche betäubungslosen Schlachtungen, die selbst Teil eines durch religiöse Vorschriften verpflichtenden Ritus sind. 984 Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 274 mit FN 27 u. S. 282 f.; Podlech, Das Grundrecht, S. 38. 985 Vgl. Frowein, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 138 f. (139).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

auf die Frage nach der Verpflichtung des Grundrechtsträgers, durch seine Gewissensüberzeugung entstehende besondere Kosten zu tragen. So muß etwa einem Häftling nach § 21, S. 3 StVollzG ermöglicht werden, religiöse Speisevorschriften zu befolgen. Dem Häftling ist zuzumuten, die dadurch entstehenden Kosten zu tragen, auch wenn diese höher sind als außerhalb der Gefängnismauern. 9 8 6 Die Grenze der Zumutbarkeit ist erst erreicht, wenn der Häftling nicht in der Lage ist, die Kosten aus den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln (§§ 46 f. StVollzG) zu bestreiten. Erst bei Überschreiten dieser Grenze stellt eine Kostentragungspflicht einen Eingriff in die Gewissensfreiheit dar; ebenso in dem Fall, daß die Auferlegung der Kosten (auf andere Weise) Beugecharakter 987

gewinnt. - Unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit unproblematisch sind vom Staat bereitgestellte Verhaltensalternativen des Bürgers, die keine zusätzlichen Lasten verursachen und nur dem von Art. 3 I GG geforderten 988 Belastungsausgleich dienen (eidesgleiche Bekräftigung statt Eid, Zivildienst statt Wehrdienst usf.). Messen lassen müssen sich bereits unter diesem Gesichtspunkt auch die sog. »lästigen4 Alternativen, 989 die der Staat bereitstellt, um Echtheit und Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung auf die Probe zu stellen (ζ. B. Verlängerung des Ersatzdienstes im Vergleich zum Wehrdienst, des freien Arbeitsverhältnisses nach § 15 a ZDG im Vergleich zum Ersatzdienst). Eine maßvolle rein quantitative Erhöhung der Anforderungen, die ihrer Art nach (ζ. B. Dienstleistungspflicht) dem eigentlich gesetzlich geforderten Verhalten entsprechen, 990 ist etwa im Fall von Wehr- und Ersatzdienst - gemessen an der tatsächlichen Gefahr des Mißbrauchs der angebotenen Alternativen und am staatlichen Interesse, dieser Gefahr zu begegnen - keine unzumutbare Aufopferung von anderen Lebensgütern (Lebens- und Arbeitszeit); im Falle der Wehrdienstverweigerung steht allerdings der eindeutige Wortlaut von Art. 12 a Π 2 GG entgegen.991 Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß Zumutungen gewisser Opfer durch »lästige Alternativen 4 im Rahmen der Gewissensfreiheit immer auch mehr sind als rein technische Beweisinstrumente. Sie belegen nicht nur eine unabhängig von der Rechtsordnung existierende Echtheit und Ernsthaftigkeit von Gewissensentscheidungen, sondern sind meist für das - gegenständlich schwer faßbare und in seiner Subjektivität geschützte - Gewissen selbst notwendige Reibungs- und Orientierungspunkte, die die Bewußtheit und Ernsthaftigkeit einer Entscheidung 986 Vgl. OLG Hamm, MDR 1984, S. 427; w.N. bei Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 6. Aufl. 1994, § 21, Rdn. 5. Vgl. auch Podlech, Das Grundrecht, S. 141 f., 143 f. 987 Vgl. o. S. 227 ff. zu Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. 988 S. ο. A.I.2., S. 100 ff. u. A.II.2.c)bb)bbb)/?), S. 131 ff. 989 Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 283 ff.; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 70 f.; Isensee, Gewissen im Recht, S. 51. Kritisch Sondervotum Mahrenholz, Böckenförde, BVerfGE 69, 57 (74); Bopp, Der Gewissenstäter, S. 167 f.; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 45. 990 Vgl. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 494 mit FN 95. 991 Isensee, Gewissen im Recht, S. 52.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

erst herstellen. Sie bewahren damit nicht nur das Grundrecht vor inflationärer Inanspruchnahme, sondern auch das Gewissen selbst vor einem „Prozeß der Virtualisierung", der es zu einer bloß „hypothetischen Größe" herabstufte. 992 An einer „pragmatischen Lösung" des theoretisch nicht auflösbaren Konflikts von Gesetz und Gewissen in „zwischen Individuum und Gemeinschaft geteilter Verantwortlichkeit" 993 hat sich der Bürger in den dargestellten Formen (durch Einbußen an Zeit, Vermögen und anderen Lebensgütern) angemessen zu beteiligen. Mit dem Kriterium der Zumutbarkeit von Alternativen sind Rückgriffe auf Wertungen der Rechtsordnung außerhalb des Art. 4 I GG verbunden. Das ist jedoch nur notwendige Folge der - durch das Aufeinandertreffen normativer Ansprüche begründeten - »Formalität4 des Grundrechts: Ähnlich insofern dem Art. 3 I GG trägt die Gewissensfreiheit die materiellen Kriterien für die Entscheidung im Einzelfall nicht allein in sich selbst, sondern bedarf auf Schrankenebene wie bereits auf Schutzbereichsebene weiterer zureichender Begründungen. 994

cc) Existentialität der Gewissenspflicht Nur in begrenztem Maße hat das Grundrecht der Gewissensfreiheit selbst einen - im Einzelfall - objektivierbaren materiellen Gehalt. Der wird in der Sache selbst von solchen Stimmen in der Literatur anerkannt, die sich grundsätzlich gegen jeden Versuch stellen, dem „Gewissen" phänomenologische Begriffsinhalte zu entnehmen, und Gewissen und Gewissensfreiheit nicht „funktionalisieren", 995 sondern das „Gewissen" als Rechtsbegriff „operationalisieren" 9 9 6 Das Gewissen ist danach nicht primär Gegenstand eines juristischen Diskurses, sondern selbst „rhetorisch verfaßt", ein „rhetorisches Muster"; das „Gewissen in Aktion" ist ein „Schema der auf Plausibilität gerichteten, überprüfungsfähigen Argumentation". 997 Doch selbst eine so weitgehende Formalisierung des Schutzgutes der Gewissensfreiheit kommt nicht aus ohne eine Begrenzung des Grundrechts auf solche Gewissensüberzeugungen, die „eng mit der Existenz" des Grundrechtsträgers verbunden 992

BSGE 61, 158 (166 ff.): Kündigt ein Arbeitnehmer einen gewissenswidrigen Arbeitsvertrag, hat er gegenüber der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung „Nachteile in gewissem Umfange hinzunehmen" (Sperrzeiten), solange ihm die „reale Möglichkeit" gewissensgemäßen Verhaltens bleibt und keine Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz besteht. Vgl. BSGE 54, 7 (13 f.); Derleder, Arbeitsverhältnis, S. 197; Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 282, 284. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 71. "3 Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 148 f. 994

Zur Schrankenebene ausdrücklich: Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 147 f.; Podlech, Das Grundrecht, S. 157, 36 f. Vgl. auch Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 283 f.; Gast, Das Gewissen, S. 785, 788 f. "5 Vgl. o. A.II.2.c)aa), S. 115 ff. 996

Gast, Das Gewissen, S. 785, in erster Linie bezogen auf arbeitsrechtliche Anwendungsfälle der Gewissensfreiheit. "7 Gast, Das Gewissen, S. 785, 787 f. Vgl. o. bei Anm. 881 m.w.N.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

sind, sich zur „persönlichen Position" oder „Lebensrolle" verdichtet haben. 998 Hier berührt sich das verhaltensrechtliche Modell der Gewissensfreiheit mit dem integritätsrechtlichen, doch geht es ihm um den Schutz gewissensgeförderten Verhaltens, soweit es Ausdruck der Identität des Menschen ist, nicht um den Schutz der Identität - im Sinne von Integrität einer psychischen Substanz - vor Verhaltenszwängen; einer Identität, die sich erst in ihrem (hypothetischen) Zerbrechen offenbart. Schutz der Identität bedeutet statt dessen, dem einzelnen ein Verhalten zu ermöglichen, das ihn in die Lage versetzt, eine für ihn akzeptable Kontinuität in seiner Biographie herzustellen, die Basis seines Selbst- und Weltverständnisses zu erhalten, d. h. auch, soweit erforderlich, nach außen darzustellen. 999 Durch Art. 4 1 GG geschützte Gewissenspositionen sind solche, die für den konkreten Grundrechtsträger nach seinem „Relevanzschema"1000 von besonderer Bedeutung, besonderem Rang oder „ Gewicht" sind. 1 0 0 1 Sie bilden das fundamentale normative Selbstverständnis des Individuums, bilden gleichsam die ,Verfassung der Person\ Normen, die zur »Verfassung der Person' zu rechnen sind, sind in ihrer Anzahl begrenzt, keine entfernten Ableitungen anderer normativer Überzeugungen; sie überlagern und verdrängen andere Normen und Verhaltensantriebe, unterliegen nicht in gleicher Weise der Disposition und Abänderbarkeit durch das Individuum wie andere moralische Werturteile und sind auf eine dauerhafte Prägung des Lebens angelegt. Die Europäische Kommission für Menschenrechte faßt die Voraussetzung, daß das in Rede stehende Verhaltensgebot unmittelbar dem gefestigten Kern der als verpflichtend erkannten Wertvorstellungen des einzelnen zuzuordnen ist, in den Begriff der „Überzeugung" 1002 („belief 4 / „conviction"; Art. 9 Π E M R K ) 1 0 0 3 ; man könnte an seine Stelle für Art. 4 1 GG auch den Begriff der (Grund-),,Haltung" 1004 setzen 1005 , und man könnte in diesem Sinne auch von Elementen einer normativ 998 Ebd., S. 787. 999 Vgl. Häberle, Die Menschenwürde, Rdn. 48 m.w.N. zu psychologischen und soziologischen Identitätskonzepten. Vgl. auch Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 264 ff. 1000 Morlok, Art. 4, Rdn. 32. 1001 Starck, Art. 4, Rdn. 35 f. 1002 vgl. Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 98; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 14; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 627. 1003 EKMR 10. 3. 1981, Β 8741/79, DR 24, S. 137 (138): „some coherence view on fundamental problems". Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 128. Vgl. neuerdings ζ. B. EKMR, 6. 1. 1993, D 14524/89, DR 74, S. 14; EKMR, 3. 5. 1993, D 16278/90, DR 74, S. 93; EKMR, 30. 8. 1993, D 19898/92, DR 75, S. 223, wo dieses Kriterium sehr eng gehandhabt wird; ein Verhalten muß eine Überzeugung direkt ausdrücken, es genügt nicht, daß es von einer Überzeugung motiviert ist. Die praktische Umsetzung einer Überzeugung im täglichen Leben fällt damit praktisch aus dem Schutzbereich heraus. 1004 Vgl. BVerfGE 78, 391 (395); Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 87; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 38. loos Betrachtet man den Begriff der „Weltanschauung" als Oberbegriff für religiösen „Glauben" und säkulares Weltbild (Starck, Art. 4, Rdn. 3) und bindet man ihn nicht an ein

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

verstandenen „personalen Identität" 1006 sprechen. Sie sind auch für den staatlichen Rechtsanwender nur zu begreifen vor dem Hintergrund der jeweiligen „identitätskonstitutiven Sinnentwürfe" 1007 des Individuums und meinen nicht einfach eine zeitliche »Identität mit sich selbst4 (Kontinuität), sondern auch die Identität mit einer persönlichen praktischen Wahrheit 1008 (die sich in einem besonderen Grad der subjektiven Gewißheit 1009 niederschlägt) und die Identität in oft vielfältigen sozialen Rollenbeziehungen.1010 Wie sich das besondere Gewicht einer Gewissenspflicht niederschlägt, kann aber abstrakt nicht weiter definiert werden und bleibt abhängig vom Einzelfall, vor allem der Persönlichkeitsstruktur des Grundrechtsträgers. In der praktischen Anwendung des Grundrechts bleibt Bev/eisthema das Vorliegen einer existentiellen Gewissenspflicht im dargelegten Sinne. 1011 Der Nachweis einer solchen inneren Tatsache - darüber besteht unabhängig vom konkreten Verständnis der Gewissensfreiheit weitgehend Einigkeit - ist zwar grundsätzlich, wie bei anderen inneren Tatsachen, möglich, 1 0 1 2 aber auch notwendig modifiziert: Er ist auf Indizien angewiesen und unterliegt hinsichtlich des Beweismaßes reduzierten Anforderungen. 1013 Als Indizien wirken eine Reihe von tatsächlichen Umständen, die Rechtsprechung und Literatur vor allem als Anhaltspunkte für das Vorliegen von „Gewissensgründen" nach Art. 4 ΠΙ GG (12 a I I GG) herausgearbeitet haben:

überindividuelles, dogmatisch ausgearbeitetes System der Weltsicht (Bleckmann, Staatsrecht II, S. 623, 626 f. Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 14), könnte man die Gewissensfreiheit auch als ,Weltanschauungsbetätigungsfreiheit' verstehen. 1006 Morlok, Selbstverständnis, S. 70 f.; Honnefelder, Praktische Vernunft, S. 21, 28 ff.; Franke, Gewissensfreiheit, S. 14 ff. 1007 Morlok, Selbstverständnis, S. 71. Vgl. Podlech, AK, Art. 11, Rdn. 35. loos Vgl. auch Eckertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 59 ff. Im Falle religiöser Verhaltensgebote tritt das auch in der Rechtsprechung (ζ. B. BVerfGE 32,98 (107) klar zutage. 1009 Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 14. 1010 Vgl. Häberle, Die Menschenwürde, Rdn. 48. ion Vgl. v. Zezschwitz, Das Gewissen als Gegenstand des Beweises, JZ 1970, S. 233 ff. (236 f.). Vgl. auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 106. 1012 Bopp, Der Gewissenstäter, S. 51; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 138. Kritisch zu dieser Parallele Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, 1993, S. 233 f. Besonders kritisch insofern Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 159 ff.; M. Klein, Beweis und Gewissen, 1972, insbes. S. 7, 87. Lisken, Zur Gewissensfreiheit des Schöffen, S. 35. 1013 So werden bei der Anwendung des Art. 4 III GG für dierichterliche Überzeugungsbildung (mit unklaren Bedeutungsunterschieden im einzelnen) „hinreichende Sicherheit" (BVerwGE 69, 1 (1)), ein „hoher Grad von Wahrscheinlichkeit" (BVerwGE 41, 53 (54, 58); vgl. Becker, Aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Recht der Kriegsdienstverweigerung, DVB1. 1981, S. 105 ff. (108) m.w.N.) oder bloße Glaubhaftmachung verlangt (so interpretiert Herzog, MDHS, Art. 4, Rdn. 168 die Rechtsprechung des Bundesverwaltunsgerichts; v. Münch, Art. 4, Rdn. 32; Isak, Das Selbstverständnis, S. 260, 263 m.w.N., der aufgrund dessen die Versicherung an Eides statt, § 294 ZPO, als Beweismittel vorschlägt.).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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- Wichtiges Indiz ist ein hohes Maß affektiver Bindung an das moralische Verhaltensgebot, das sich vor allem anhand vorangegangener Erfahrungen des Grundrechtsträgers mit diesem Verhaltensgebot festmachen läßt. - Wichtiges Indiz ist aber auch das Maß gedanklich-argumentativer Durchdringung und/oder dogmatischer Untermauerung von Verhaltensgeboten. Um eine sachlich nicht gerechtfertigte Prämierung von Bildung und sprachlicher Gewandtheit 1014 soweit als möglich auszuschließen, ist allerdings besonderer Wert darauf zu legen, daß Maßstab für diesen kognitiven Gewissensaspekt die individuellen Fähigkeiten, 1015 vor allem die individuellen Artikulationsfähigkeiten 1016 des Grundrechtsträgers sind. 1 0 1 7 Es geht nicht darum, intellektuelle Leistungen bei der Darstellung von Verhaltensgeboten zu beurteilen, sondern darum, den Prozeß der individuellen Überzeugungsbildung nachzuvollziehen. 1018 - Objektivierbar sind regelmäßig die sozialen Umweltbeziehungen des Grundrechtsträgers, die den Prozeß der Bildung und Internalisierung von Gewissensüberzeugungen tragen und widerspiegeln. 1019 Dies sind nicht nur Beziehungen zu und innerhalb von Gruppierungen mit explizit religiös-weltanschaulichem Anspruch, sondern auch ζ. B. familiäre und berufliche Rollenbeziehungen.1020 - Auch konkrete »Lebensführungsentscheidungen 4 können, ζ. B. durch biographische Wendungen, objektivierbar sein; zu fordern ist eine solche „Erlebnisentscheidung" 1021 aber nicht, auch weil häufig erst der aktuelle Konflikt mit einer Rechtspflicht in eine singuläre Entscheidungssituation zwingt. - Indiz für das Gewicht einer Gewissensposition, in erster Linie aber für die Authentizität ihrer Darstellung durch den Grundrechtsträger, kann auch die Unei1014 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 138, 166; Isensee, Gewissen im Recht, S. 48. 1015 BVerwGE 55, 217 (220). S. die bei Becker, Aus der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Recht der Kriegsdienstverweigerung, DVB1. 1981, 105 ff., S. 110 f. referierte Rechtsprechung des BVerwG. E. Paul, Gewissen und Recht. Demokratie und Rechtsstaat 1970, S. 19. 1016 Η Η. Klein, Gewissensfreiheit, S. 494. ion Nur an diesem Maßstab darf auch eine gewisse inhaltliche Kontrolle der »Plausibilität\ ,Schlüssigkeit4 oder ,Widerspruchsfreiheit 4 der Gewissensposition vorgenommen werden; vgl. o. Anm. 881 m.w.N. Bei religiösen Berufungen auf das Gewissen hat sich die Plausibilitätskontrolle an die durch die Glaubensüberzeugung des Grundrechtsträgers vorgegebenen Axiome zu halten. lois Vgl. BVerwGE 94, 82 (88). 1019 Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 14, 36, 38; Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 125. Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 71 f., 74 f.; Häberle, Die Menschenwürde, Rdn. 48. 1020 Häufig ist es etwa ein besonders ausgeprägtes Selbstverständnis als Arzt, das dem Verbot einer Mitwirkung an militärischen Handlungen oder an Schwangerschaftsabbrüchen usf. existentielle Bedeutung geben kann. Vgl. BVerwG, U. v. 27. 11. 1985, ZfSH/SGB 1986, S. 41 f. BSG, U. v. 9. 10. 1984, zit. nach Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 111 ff. 1021 Becker, Aus der neueren Rechtsprechung, S. 111 m.w.N.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

gennützigkeit iQrl 2 seines Verhaltens sein. Dies ist allerdings praktisch als Indiz für den Nachweis innerer Tatsachen nur als objektiviertes Negativ-Kriterium handhabbar: 1 0 2 3 Fördert der Grundrechtsträger durch sein Verhalten objektivierbare eigene Interessen (sparte er durch einen Dispens etwa Zeit, Mühe oder Vermögen), so ist das ein Indiz gegen das Vorliegen echter Gewissensgründe. Von praktischer Bedeutung ist dieses Indiz aber kaum, weil objektiv eigennütziges Verhalten kaum als unbedingte Gewissenspflicht erfahren werden k a n n . 1 0 2 4 - Zu fordern ist regelmäßig eine konsequente praktische Umsetzung 1025 der geltend gemachten Gewissensüberzeugung i m bisherigen, alltäglichen Leben. Die authentische Lebenspraxis ist entscheidendes Indiz für Existenz und Gewicht der Gewissenspflicht. Damit wird nicht die Möglichkeit plötzlicher und vollkommen situationsgebundener,Gewissenserlebnisse 4 geleugnet, 1 0 2 6 aber das Risiko ihrer Nichterweislichkeit allein aufgrund der übrigen Indizien geht zu Lasten des Grundrechtsträgers. Die - für jedes Grundrecht gesondert zu bestimmende - 1 0 2 7 Beweislast trägt i m Falle des Tatbestands der Gewissensfreiheit der Grundrechtsträger. 1028 Dafür 1022 Diesen Aspekt betonen Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 41 ff.; Nickel Parteinehmende Bemerkungen zur Reaktivierung des Gewissens im politischen Prozeß, in: ders./Sievering (Hrsg.), Gewissensentscheidung und demokratisches Handeln, 1984, S. 95 ff. (100). Vgl. Saladin, Verantwortung, S. 203 ff. 1023 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 157 mit FN 21 m.w.N. (grundsätzlich kritisch, ebd. S. 169 f.). 1024 Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 115 f.; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 157. Wer „ausschließlich um der Ruhe des eigenen Gewissens willen" handelt (diesen Fall führt H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 492 mit FN 80 als Beispiel dafür an, daß es nicht auf die Uneigennützigkeit ankomme), handelt nicht objektiv eigennützig, verschafft sich keinen Vorteil in distributiven oder Güter-Konflikten. Der Nutzen der ,Gewissensruhe4 durch gewissensgemäßes Verhalten ist als psychisches Interesse ebenso schwer zu objektivieren wie der Schaden der »Gewissensnot4 bei gewissenswidrigem Verhaltenszwang. Wer sich ausschließlich auf das eigene Gewissen beruft, genügt allerdings nicht seiner Darlegungslast hinsichtlich des oben aa), S. 230 ff.) dargestellten tatbestandlichen Erfordernisses einer Gemssenspflicht; diese Darlegungslast verlangt von ihm, dem staatlichen Rechtsanwender (und sich selbst) gegenüber weitere Rechenschaft über zugrundeliegende Normen und Gründe (Verhaltensfolgen) zu geben, die Normativität seines subjektiv empfundenen Verhaltensimpulses auszuweisen. 1025 BVerwGE 94, 82 (83, 87 f.); 55,217 (219); E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 71, 86; H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 494; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 143; Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1034 f. Im dargestellten Rahmen (vgl. o. bb), S. 235 ff.) kann der Staat die „Bereitschaft zur Konsequenz44 auch selbst pro futuro durch die Bereitstellung ,lästiger Alternativen4 überprüfbar machen. Das scheint vor allem bei der Wehrpflicht angebracht; gerade jungen Menschen wird es oft schwerfallen, die geforderte Konsequenz für ihren bisherigen Lebensweg darzulegen. 1026 Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 284 f.; Honnefelder, Vernunft, S. 38 ff.; Derleder, Arbeitsverhältnis, S. 195 f. Vgl. die nur graduell unterschiedliche Behandlung gedienter und ungedienter Kriegsdienstverweigerer, BVerfGE 69, 1 (37). 1027 Kokott, Beweislastverteilung, S. 108, 116 f.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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sprechen sowohl der Ausnahmecharakter 1029 der Gewissensfreiheit als Konfliktlösungsnorm als auch der Umstand, daß es großenteils allein in der Hand des Grundrechtsträgers liegt, ob und wie die genannten Indizien in den Prozeß der Rechtsanwendung eingebracht werden. 1030 Gelingt dieser Beweis 1031 , steht dem Grundrechtsträger ein prima facie-Recht zur Seite, einer existentiellen Gewissenspflicht in einem ausweglosen und ihm nicht selbst zurechenbaren Konflikt mit der Rechtsordnung folgen zu dürfen: durch Bereitstellung neuer Verhaltensalternativen des Staates oder - als ultima ratio - durch Dispens ohne Belastungsausgleich.

b) Gewissensfreiheit

des Bürgers und Gewaltmonopol des Staates

Das Grundrecht der Gewissensfreiheit kann auch das aktive Handeln des Bürgers schützen, von vornherein aus dem Schutzbereich ausgegrenzt ist jedoch jedwedes gewaltsame Handeln. 1032 Gewaltsames Handeln ist praktisch selten um seiner Selbst willen gewissensgefordert. 1033 Relevant sind vor allem Fälle, in denen der Grundrechtsträger Gewalt als Mittel einsetzt, um einen weiteren Erfolg zu erreichen, zu dessen Herbeiführung er sich moralisch verpflichtet sieht (ζ. B. einen Transport atomwirtschaftlicher Güter zu verhindern). Zweifelhaft ist in solchen Fällen schon, ob der Grundrechtsträger ausweglos auf das Mittel der Gewaltanwendung angewiesen ist. 1 0 3 4 Jedenfalls schließt er aber durch sie die Anwendbarkeit des Grundrechts der Gewissensfreiheit aus. Wer sich auf das Mittel der Gewalt 1028 Anders Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 106 f. m.w.N. für das Strafrecht (,in dubio pro reo'): Vgl. dens., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 308 f. Zur „Darlegungslast" des Grundrechtsträgers Morlok, Art. 4, Rdn. 67; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 58; BVerwGE 94, 82 (87). 1029 Vgl. die Diskussion zu Art. 4 III GG bei Kokott, Beweislastverteilung, S. 241 ff.; Ekkertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 411 ff. (416). Art 4 III GG ist aber, im Unterschied zu Art. 4 I GG, thematisch objektiv begrenzt (Kriegsdienst), in seinen Rechtsfolgen festgelegt (Dispens) und insofern eine explizite Entscheidung des historischen Verfassungsgebers unter bewußter Inkaufnahme der damit für die staatliche Allgemeinheit (Verteidigungsfähigkeit) verbundenen Risiken. 1030 BAG, U. v. 20. 12. 1984, E 47, 363 (376 f.); LAG Kiel, U. v. 6. 1. 1983, NJW 1983, S. 1222 ff. (1223). 1031 Zum reduzierten Beweismaß vgl. o. B.I.2.b)bb), S. 183 ff. Es darf nicht durch vorschnelle Berufung des Rechtsanwenders auf die Beweislastverteilung unterlaufen werden. Vgl Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 161. 1032 Ryffel, Gewissen, S. 334; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 39; Tiedemann, Gewissensfreiheit, S. 391, ders., Das Recht der Steuerverweigerung, 1. Kap., Rdn. 92. Muckel, Religiöse Freiheit, S. 206 ff., 212 ff. (214) m.w.N. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 59, 84; Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 56 f., 76; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 149, K. D. Bayer, Das Grundrecht, S. 237 ff., 245 f., die dies wohl als Grundrechtsschranke verstehen. 1033 Außer dem Lehrbuchbeispiel des Ritualmordes ist aus dem Bereich religiös motivierten Verhaltens an Beschneidungen zu denken. Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit, S. 214 m.w.N. 1034 Vgl. o. a)bb), S. 235 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

einläßt, um als notwendig erachtete Zustände selbst herbeizuführen, kann sich dafür weder im vorhinein noch im nachhinein auf die Gewissensfreiheit als Konfliktlösungsnorm berufen, hat die Möglichkeit gemeinsamer Suche nach einem Ausweg, nach einer pragmatischen Lösung des Konflikts selbst verstellt. Dafür muß man nicht auf einen (manchmal für alle Grundrechte aus dem staatlichen Gewaltmonopol abgeleiteten) allgemeinen Friedlichkeitsvorbehalt zurückgreifen; 1035 es handelt sich vielmehr um eine tatbestandsbegrenzende Wertung, eine generalisierende Abwägung speziell für das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Diese Abwägungsentscheidung beruht nicht nur auf dem Gewicht der durch jede Gewaltanwendung gefährdeten Rechtsgüter Dritter und dem allgemeinen Gewicht des staatlichen Gewaltmonopols als einem konstituierenden Prinzip moderner Staatlichkeit; 1036 hinzu kommt das besondere Gewicht der Behauptung dieses Prinzips gerade gegenüber Berufungen auf das Gewissen. Denn erstens begründen existentielle moralische Überzeugungen eher als durch andere Grundrechte geschützte Verhaltensimpulse die praktische Gefahr nötigender Übergriffe auf das Verhalten Dritter; diese Überzeugungen folgen nicht selten einer inneren Logik, die für sie allgemeine Geltung und deren unbedingte Durchsetzung mit allen Mitteln beansprucht, zumindest aber hat gewissensgeleitetes Handeln häufig einen kommunikativen Aspekt, der darauf gerichtet ist, Dritte von der Richtigkeit des eigenen Tuns zu überzeugen und deren Verhalten in gleicher Richtung zu beeinflussen. Zweitens besteht gerade bei Berufungen auf das Gewissen die Gefahr, daß die Grenze verschwimmt 1037 zwischen grundrechtlich geschütztem Verhalten innerhalb der grundgesetzlichen Staatsordnung auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem erst bei faktischem Außerkrafttreten dieser Staatsordnung auflebenden Widerstandsrecht des Art. 20IV GG, das ausnahmsweise, für eine Ausnahmesituation des Gemeinwesens, auch private Gewaltanwendung billigt und dessen historische Vorbilder sich ebenfalls oft als Berufungen auf das Gewissen legitimiert haben. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit muß deutlich machen, daß es erstens im Vergleich zu den Kommunikationsgrundrechten keine weitergehenden Mittel zur Beeinflussung des Verhaltens der Mitbürger verschafft und daß zweitens zwar das Individuum dem Staat als moralisch kompetentes Subjekt gegenübersteht, aber in den Mitteln des Handelns von vornherein beschränkt ist: daß dem Staat keine ausschließliche »Kompetenz* zur Vornahme normativer Wertungen zukommt, wohl aber zur Anwendung physischer Gewalt. Nimmt man ausnahmsweise eine solche Grundrechtsbegrenzung vor, um im Ergebnis eindeutig nicht zu privilegierende Fälle schon auf der Ebene des Grund>035 So v. a. Isensee, Staat und Verfassung, HStR, Bnd. I, § 13, Rdn. 74 ff. (83); ders., Grundrechtsvoraussetzungen, Rdn. 109 ff. Vgl. dens., Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 101 ff., 171 ff. Kritisch Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, S. 537 ff. 1036 Vgl. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 102. 1037 s. o. A.II.4., S. 156 ff. m.w.N. Unklar ζ. B. auch Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 80. Zur Unterscheidung vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 199 f., 279 f.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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rechtsschutzbereichs auszusondern, so muß auch die tatbestandliche Fassung dieser Ausnahme selbst eindeutig sein. „Gewaltanwendung" kann daher nur im engen, strafrechtlichen Sinne verstanden werden als das Verhalten Dritter unwiderstehlich zwingende oder den Willen Dritter beugende (zumindest auch) körperliche Zwangseinwirkung (einschließlich der von der Rechtsprechung entwickelten Erweiterungen, etwa der mittels Einwirkung auf Sachen ausgeübten Gewalt). 1038 Eine unzulässige Verschiebung sämtlicher relevanter Wertungen auf die Schutzbereichsebene droht, wenn man einen besonderen verfassungsrechtlichen Gewaltbegriff etabliert, eine „subtile Auffassung von illegitimer Gewalt" zugrundelegt, die sich speist aus allen „Normen, Institutionen und Zielen der Verfassung" sowie aus allen Freiheitsrechten Dritter. 1 0 3 9 Aus dem gleichen Grund kann dem Grundrecht keine allgemeine Nichtstörungsschranke („alterum non laedere") immanent sein, die die Nicht-Beeinträchtigung fremder „Rechtskreise" und den „Rechtsgehorsam" im allgemeinen zur Voraussetzung der Grundrechtswahrnehmung macht und auch Aktionen von gewaltfreiem Widerstand a priori aus dem Schutzbereich ausgrenzt. 1040 Die Pflicht zum Rechtsgehorsam kann durch die Gewissensfreiheit in Frage gestellt werden; der Rechtskreis Dritter ist auch abhängig von der - durch Abwägung zu bestimmenden - Reichweite der Gewissensfreiheit. 1041

c) Gewissensfreiheit

und persönlicher Verantwortungsbereich

Ähnliche Fragen stellen sich in Fällen, in denen der Grundrechtsträger keine aktive Veränderung von Zuständen oder Beeinflussung anderer Menschen anstrebt, sein Gewissen ihm vielmehr nur das Unterlassen eines rechtlich geforderten Tuns vorschreibt, weil die Folgen dieses Tuns nicht zu verantworten seien. Hier, bei den Folgen des rechtlich geforderten und gewissensmäßig abgelehnten Tuns, setzen weitere Versuche zur objektiven Begrenzung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit an, die jedoch mit der Struktur des Grundrechts als Konfliktlösungsnorm nur in sehr geringem Umfang vereinbar sind. So kann man demjenigen von vornherein die Berufung auf das Grundrecht versagen, der seinem als gewissensrelevant eingeschätzten Verhalten Folgen zuspricht, die objektiv in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Verhalten stehen können. Die Grundrechtsgewähr1038 So jetzt auch Muckel, Religiöse Freiheit, S. 209 ff. Vgl. BVerfGE 92, 1 (13 ff.); BGHSt 37, 353; 41, 183 f.; BGH, NJW 1981, S. 2204. Vgl. auch BVerfGE 73, 242 (248 ff.). Zur strafrechtlichen Diskussion im einzelnen vgl. Eser, Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, vor §§ 234 ff., Rdn. 6 ff. Zu Fällen von »Gewalt gegen Sachen' vgl. ζ. B. BVerfG, Kammerbeschluß, NJW 1993, S. 2432. 1039 Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 102. Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 200 ff. 1040 Isensee, Gewissen im Recht, S. 55 f. m.w.N. Vgl. dens., Das Grundrecht als Abwehrrecht, Rdn. 102 ff.; dens., Grundrechtsvoraussetzungen, Rdn. 109 ff. 1041 Vgl. etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 259 f., 273 ff., 280 ff., 290 ff.; Stern, Staatsrecht, Bnd. III/2, S. 537 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

leistung ist, was die 7atazcÄe/zprämissen menschlichen Handelns betrifft, an eine „intersubjektiv geteilte Weltsicht" gebunden, eine etwa auf einem magischen Weltbild beruhende „wahnhafte Gewissensentscheidung" wird aus dem Schutzbereich ausgegrenzt. 1042 Das gilt freilich nur für behauptete rein innerweltliche Verhaltensfolgen. Nur für sie kann der Staat eine gemeinsame (naturwissenschaftliche) Weltsicht verbindlich machen oder voraussetzen. Der Grundrechtsträger, der sein Verhalten unter der Drohung transzendenter Sanktionsfolgen für die eigene Person sieht, bleibt nicht zuletzt wegen der engen Verbindung von Glaubens- und Gewissensfreiheit vom Schutzbereich erfaßt. 1043 Praktisch relevant und heikel zugleich werden solche Schutzbereichsbegrenzungen, die Berufungen auf empirisch gegebene Verhaltensfolgen als nicht zum eigenen „ Verantwortungsbereich" des Grundrechtsträgers gehörend ausgrenzen. Die Lehre von der Schutzbereichsbegrenzung auf den persönlichen Verantwortungsbereich des Grundrechtsträgers 1044 zielt vor allem auf die Fälle der Abgabenverweigerung und der Ersatzdienstverweigerung: Die Entscheidung über die Verwendung von Steuer- oder Beitragsmitteln liegt danach außerhalb des Verantwortungsbereichs des Steuer- bzw. Beitragszahlers; durch seine Zahlungen wird er zwar mitursächlich für die staatliche Rüstung und staatlich legalisierte (finanzierte) Schwangerschaftsabbrüche, diese Verhaltensfolgen bleiben aber bei der grundrechtlichen Qualifikation des Verhaltens außer Betracht. 1045 Der Ersatzdienstverweigerer kann sich im Rahmen des Art. 4 I GG nicht auf die Folgen seines Verhaltens berufen, die durch die gesetzliche Organisation des zivilen Ersatzdienstes und dessen Integration in staatliche Pläne für den Verteidigungsfall vermittelt sind. 1 0 4 6 Ein Drukker überschreitet seinen persönlichen Verantwortungsbereich, wenn er die Mitwirkung an Publikationen wegen deren Inhalts und der weltanschaulichen Überzeugungen des Autors ablehnt. 1047 Die Nutzung bestimmter Energiequellen (Atomkraft) liegt außerhalb des Verantwortungsbereichs des Stromverbrauchers. 1048

Morlok Selbstverständnis, S. 443 f.; ders., Art. 4, Rdn. 33. Zur Kausalität vgl. Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, 2. Kap., Rdn. 10 ff. 1043 Unklar Morlok, Selbstverständnis, S. 444 mit FN 263 („Vorsicht"). 1044 Grundlegend Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 116 ff.; ders., Gewissensfreiheit und Normativität, S. 255 ff., 167 ff.; ders., Gewissensfreiheit, S. 488 f. Zustimmend Muckel, Religiöse Freiheit, S. 162 f., 256. Nicht eindeutig Morlok, Selbstverständnis, S. 444 ff. 1045 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 168, 257 f., 265; ders., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 118; ders., Gewissensfreiheit, S. 489. Vgl. Franke, Gewissensfreiheit, S. 32 ff. (36), 37 ff. (40); BVerfG, Kammerbeschi. v. 26. 8. 1992, NJW 1993, S. 455 f.; Β FH, U. v. 6. 12. 1991, NJW 1992, S. 1407 f. Zu Krankenkassenbeiträgen vgl. BVerfGE 67, 26; 78, 320, Kammerbeschl., NJW 1990, S. 241 f. 1046 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 168, 261, 263, 266; ders., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 117 f. 1047 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 265. Vgl. zum Sachverhalt und ähnlichen Fällen (in denen es jeweils um als rechtsradikal eingeschätzte Publikationen ging) BAGE 47, 363 ff.; LAG Kiel, NJW 1983, S. 1222 ff.; LAG Nürnberg, JZ 1958, S. 514 f., vgl.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Dabei übersieht diese Lehre nicht, daß der Grundrechtsträger für die fraglichen Verhaltensfolgen nicht nur ursächlich ist, sondern nach seinem eigenen Selbstverständnis, nach seinen eigenen moralischen Zurechnungsregeln auch verantwortlich sein kann: Die subjektive moralische Verantwortlichkeit muß sich durchaus nicht decken mit der Zuschreibung rechtlicher Verantwortlichkeit durch den Staat. 1049 Die Begrenzung des Kreises „geschützter Gewissensentscheidungen" liegt darin, daß diese normativen Selbstzuschreibungen nicht rezipiert, sondern „ausgefiltert" werden, indem der Schutzbereich an von der Rechtsordnung vorgegebene objektive Verantwortungsbereiche gebunden wird. 1 0 5 0 Berufungen auf Art. 4 I GG können nur auf die „unmittelbaren Wirkungen persönlichen Verhaltens" gestützt werden; die grundrechtliche Zurechenbarkeit endet, wenn gewissensrelevante Folgen erst durch hinzutretende Kausalbeiträge staatlicher Organe oder anderer Dritter bewirkt werden und die Herbeiführung dieser Folgen in den Kompetenzbereich des Staatsorgans fällt oder ganz von der grundrechtlich geschützten Lebensgestaltungsfreiheit des Dritten umfaßt ist. 1 0 5 1 Die Intention dessen ist es, einer inflationären Inanspruchnahme des Grundrechts entgegenzuwirken 1052 und die Grundrechtswahrnehmung auf einen Bereich der verantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebens zu begrenzen und das Grundrecht nicht vom Selbstbestimmungsrecht zu einem Recht der Fremdbestimmung über Dritte werden zu lassen. 1053

BAGE 9, 1 ff. (das den Fall des LAG Nürnberg wohl nicht zuletzt deshalb anders einschätzt, weil der Herausgeber der Publikation mittlerweile strafrechtlich belangt worden war); BSGE 54, 7 ff. 1048 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 257. Nachweise zur Rechtsprechung bei Starck, Art. 4, Rdn. 38, 74. 1049 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 255 f., 167. Das betonen auch Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, 2. Kap. Rdn. 15 ff.; ders., Kriegssteuerverweigerung und Friedensfonds, DStZ 1986, S. 457 f. (457); ders., Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, StuW 1988, S. 69 ff. (71); H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 297; Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, 1987, S. 313. 1( ) 5o Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 256. Vgl. differenzierend Morlok, Selbstverständnis, S. 445 f., der allerdings diese Entscheidung für die normative Verbindlichkeit der Rechtsordnung durch einen Verweis auf die „Tatsächlichkeit der Institutionen" zu umgehen versucht. Im Ergebnis anders ders., Art. 4, Rdn. 33. 1051

Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 258; ders., S. 488 f. 1052 Herdegen. Gewissensfreiheit, S. 488.

Gewissensfreiheit,

1053 Herdegen. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 256 f., Vgl. ebd. S. 265. Ders., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 116, 118. So auch Franke, Gewissensfreiheit, S. 14, 36, 40. Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 46; Rühl, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 314. In diesem Zusammenhang erscheint die These beschränkter grundrechtlicher Verantwortungsbereiche auch in der Thesenreihe der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD, Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Gewissensentscheidung und Rechtsordnung, 1997, S. 18 (These 30) - allerdings in merkwürdigem Zusammenhang mit der theologischen Bestimmung des Gewissensbegriffs, ohne weitere Begründung und ohne klaren Bezug zum (ebd. auf Seite 5, 9 angesprochenen) Problem der sog. ,Militärsteuerverweigerung\ 17 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Dabei ist freilich im Blick zu behalten, daß in den hier zur Diskussion stehenden Fällen ,Fremdbestimmung4 nur in einer abgeschwächten Form zu befürchten steht: Es geht nicht um die aktive Beeinflussung des Verhaltens Dritter, sondern darum, ihnen eigene Handlungsbeiträge zu entziehen, auf die sie ihr Handeln stützen.1054 Diese Handlungsbeiträge können Staat wie Unternehmer (im Fall der Arbeitsverweigerung) in der Regel ersetzen; sie werden so zu Bemühungen um Ersatzbeiträge gezwungen, im Extremfall zum Unterlassen des eigenen Handelns.

Eine Abgrenzung des grundrechtlichen Verantwortungsbereichs findet also statt in zwei Richtungen: gegenüber dem Staat und gegenüber dem Mitbürger. Im Verhältnis zum Staat kann sie zur Begründung auf die „ausschließliche Verantwortung der zuständigen Repräsentationsorgane" verweisen, 1055 soweit es um Zuständigkeiten des Bundestages geht, auch auf die in Art. 38 I 2 GG statuierte Entscheidungsverantwortung des - „nur seinem Gewissen verpflichteten" - Abgeordneten und dessen Verantwortlichkeit gegenüber dem Bürger und Wähler. 1056 Der einzelne steht eingebettet in institutionalisierte Verfahren, so daß seine Mitwirkungsakte im Handeln der Organe „aufgehen", 1057 nicht mehr als die seinen „erkennbar" sind 1 0 5 8 und er sich von der Verantwortung für die weiteren Folgen seiner Mitwirkungsakte „entlastet" sehen kann. 1 0 5 9 Der vielschichtige 1060 Begriff der „Verantwortung" wird hier sowohl in primär moralischer (der Mensch/Bürger oder Amtsträger - jeweils vor seinem Gewissen) als auch in primär politischer (der Abgeordnete gegenüber dem Wähler) oder primär rechtlicher (Zuständigkeit) Bedeutung gebraucht. 1061 Dieses verschiedene normative Maßstäbe, aber auch Staat und Bürger übergreifende und verbindende Verständnis von „Verantwortung" hat auch seinen Sinn, wo es als lebensnotwendige Voraussetzung moderner rechtsstaatlicher Demokratie bewußt gemacht werden soll. 1 0 6 2 Die Frage ist aber, ob es herangezogen werden darf, um gegen den Staat u. S. 260 ff. 1055 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 258. 1056 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 170 f. Vgl. BVerfG, Kammerbeschi, v. 26. 8. 1992, NJW 1993, S. 455 f.; Vgl. auch Eick. Stein, Gewissensfreiheit, S. 56 ff. (58, allerdings wohl als Schrankenerwägung: Abgrenzung von „Eigensphäre" des Bürgers und staatlicher Verantwortungssphäre; dagegen Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 226 f.). 1054 Vgl.

1057 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 170. 1058 Herdegen, Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 118. Vgl. BVerfG, Kammerbeschi. v. 26. 8. 1992, NJW 1993, S. 455 f. (456). Dagegen H R. Reuter, Rechtsethik, S. 298 f. 1059 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 168 ff.; Schmude, Mehrheitsprinzip und Gewissensentscheidung, in: FS R. Wassermann, 1985, S. 209 ff. (215). Vgl. die bei Tiedemann, Kriegssteuerverweigerung, S. 457 zitierte Stellungnahme H.-J. Vogels. Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 273 ff.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 72 zur generellen Entlastungsfunktion des Rechts. 1060 Saladin, Verantwortung, 19 ff., 26 ff.; Lenk, Gewissen, S. 572 ff. m.w.N. 1061 Vgl. Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 174 f. 1062 ζ. B. bei Saladin, Verantwortung, u. a. S. 30, 80 f., 218 f.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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gerichteten Abwehrrechten des Bürgers ihre Kontur zu geben. Das Handeln des Bürgers wird damit in toto unter den Aspekt von »Zuständigkeiten* innerhalb des Gemeinwesens gestellt. 1063 Wenn die »Zuständigkeit* („Verantwortlichkeit") des einen die des anderen ausschließen kann, müssen diese »Zuständigkeiten4 (»»Verantwortungsbereiche 44) auf einer Ebene liegen. Der Verantwortungsgedanke, der vor allem bei den Kommunikationsgrundrechten, aber auch bei der Gewissensfreiheit 1 0 6 4 sonst einer ausweitenden Grundrechtsinterpretation den Weg bereitet, wird hier zur Grundrechtsbegrenzung eingesetzt. Entlastung von Verantwortlichkeit durch hochdifferenzierte, arbeitsteilige Sozialstrukturen bleibt nicht mehr nur soziologisches Faktum, sondern wird für den einzelnen durch eingrenzende Grundrechtsinterpretation ein Stückweit verbindlich gemacht. 1065 Doch wie aktiv-bürgerliche demokratische Mitverantwortung eine nicht zu erzwingende (und bei der Grundrechtsinterpretation nur begrenzt vorauszusetzende) Verfassungserwartung ist, so kann auch ihre gewissensentlastende Begrenzung durch rechtlich konstituierte Verantwortlichkeiten Dritter zunächst - d. h. für die Auslegung des Grundrechtstatbestands - nur als »Angebot4 oder »Chance4 begriffen werden. Ob und in welcher Weise der Bürger sich auch entfernte Konsequenzen seines Verhaltens moralisch zurechnet, kann die Rechtsordnung nicht vorschreiben; der Schutzbereich seiner Grundrechte sollte unabhängig sein von objektiv bestimmten staatlichen Verantwortungsbereichen, schon um jedenfalls für Ausnahme- oder Krisensituationen (seiner Person oder des Gemeinwesens) die Möglichkeit einer rechtlich relevanten Berufung auf das Gewissen zu erhalten. Die Grundrechtsinterpretation sollte auch nicht darüber hinwegsehen, daß sich auch in der philosophischen Ethik Konzepte etabliert haben, die zu einer thematischen Erweiterung des Verständnisses persönlicher Verantwortung führen und gerade reagieren auf die Zergliederung von Verantwortlichkeiten in modernen Gesellschaften. 1066 In einem Gemeinwesen, in dem das Selbstverständnis des einzelnen zunehmend auf seine Rolle als Teilnehmer eines globalen Marktes (und als Steuerzahler) konzentriert wird, ist es auch nicht verwunderlich, daß auch moralische Ansprüche 1063 Das wird auch deutlich, wenn Herdegen zur Unterstützung seiner Argumentation auf den staatsorganisationsrechtlichen Gedanken funktionell-rechtlich ,richtiger' Entscheidungskompetenz zurückgreift (Gewissensfreiheit und Normativität, S. 264). 1064 s. ο. A) II) 4), S. 151 ff. Dagegen Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, u. a. S. 260 ff., 169 f. 1065 Dagegen auch H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 297 f. Vgl. Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, 1. Kap., Rdn. 61 f.; Rühl, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 313. 1066 Vgl. die Forderung nach „Gewissenssensibilität" und „erweiterter Mitverantwortlichkeit" bei Lenk, Gewissen, S. 585 ff.: Moralische Mitverantwortung in komplexen Handlungsgefügen läßt sich aufgliedern und abstufen, ohne daß sie für den je eigenen Handlungsbeitrag ganz verschwindet. Vgl. die Rezeption von Jaspers, H. Jonas und K.-O. Apel bei Rühl, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 159 ff.; K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung (1988), 1990, S. 17 ff., 185 ff., 206 ff. Vgl. ζ. B. auch Ratzinger, Wahrheit, Werte, Macht, 1993, S. 14; Honnefelder, Praktische Vernunft, S. 42. 1

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

und Appelle häufig den Weg über eine Beeinflussung des wirtschaftlichen Verhaltens suchen; nicht zuletzt staatliche Stellen und die Kirchen tragen dazu bei, ein Bewußtsein zu schärfen, daß jeder einzelne auch mit kleinen finanziellen Beiträgen zum (meist auch räumlich) entfernten »Teilnehmer' an verwerflichen Handlungen Dritter werden (ein politisches Unterdrückungsregime, Kinderarbeit oder die Zerstörung des Regenwalds fördern) kann. I m Einzelfall kann daher durchaus g l a u b h a f t 1 0 6 7 und p l a u s i b e l 1 0 6 8 sein, daß für den Grundrechtsträger der „Weg vom Gewissen zur B r i e f t a s c h e " 1 0 6 9 so kurz wird, daß er selbst Zwangsabgaben an den eigenen Staat als gewissensrelevant erlebt. Die »Entfernung' zu dem eigentlich vom Gewissen abgelehnten Tun oder Erfolg ist bei verschiedenen Zwangsabgaben auch objektiv durchaus unterschiedlich: beim auf bloßen finanziellen Risikoausgleich gerichteten Krankenkassenbeitrag ist die .Entfernung' zur Abtreibungsfinanzierung (Abtreibung) geringer als die »Entfernung' zwischen allgemeiner Steuerpflicht und rüstungspolitischen Ausgabeentscheidungen (Waffeneinsatz). 1070 Eine Zwecksteuer, etwa zur Anschaffung bestimmter Waffensysteme, 1071 stellt dagegen wiederum einen wesentlich unmittelbareren Bezug her. Für Angehörige religiöser Gruppen schließlich, denen es auch mit der Abgabenverweigerung darum geht, dem weltlichen Staat jegliche Unterstützung und Anerkennung zu versagen und damit auch jegliche Staatstätigkeit zu behindern 1072, ist auch die Pflicht zur Zahlung allgemeiner Steuern nah am gewissensmäßig abgelehnten Erfolg. 1073 Nach der hier vertretenen Auffassung kann eine Abgabenverpflichtung allerdings ohnehin nur dann in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit eingreifen, wenn sie dem einzelnen ein eigenes Verhalten abverlangt. 1074 Noch weitergehende Schwierigkeiten bereitet eine Abgrenzung von Verantwortungsbereichen unter Grundrechtsträgern, speziell zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Hier geht es nicht um die Sicherung staatsorganschaftlicher Kompetenzen, die die Rechtsordnung im Gemeininteresse verleiht, und nicht um die Si-

1067 Dagegen für Fälle entfernter Verhaltensfolgen pauschalierend Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit als verfassungsrechtliches Problem und seine aktuelle Bedeutung, DuR 11 (1983), S. 363 ff. (378 f.). 1068 Dagegen für diese Fälle pauschalierend Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 77 ff. (80). •069 γ Münch, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 118 f. (119). 1070 Vgl. Krause, Popularklage oder Geltendmachung eines grundrechtlichen Abwehranspruchs gegen verfassungswidrige Aufgabenwahrnehmung, NVwZ 1985, S. 87 ff. (89 f.) (zu BVerfGE 67, 26). •071 Vgl. v. Münch, Diskussionsbeitrag, S. 119. 1072 S. die Beispiele bei Franke, Gewissensfreiheit, S. 19 (Gruppen orthodoxer Juden in Israel); Podlech, Das Grundrecht, S. 38 („Söhne der Freiheit" in Kanada). 1073 Diese Fälle würden wohl auch nach Herdegen in den Verantwortungsbereich des Grundrechtsträgers fallen (vgl. die Lösung zur Verweigerung des zivilen Ersatzdienstes durch Zeugen Jehovas, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 266; vgl. dens., Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 117 f.). •074 s. o. 2.c)bb), S. 199 ff., 222 ff.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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cherung der Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses. Für das Verhältnis seiner Bürger untereinander hat sich der Staat zudem in größerem Maße auf die positivrechtliche Abgrenzung von Interessen zu beschränken; einen moralisch-rechtlichen „Verantwortungs"-Zusammenhang kann er in geringerem Maße beeinflussen und voraussetzen, so daß er auch vom einzelnen Bürger in geringerem Maße erwarten darf, sich durch die eigenverantwortliche Lebensgestaltung der Mitbürger von der Verantwortung für die Folgen eigener Handlungsbeiträge entlastet zu sehen. Der einzelne leistet zu dem gewissensmäßig abgelehnten Erfolg auch nicht nur einen regelmäßig als „unpersönlich" empfundenen 1075 - finanziellen Beitrag, sondern das Produkt seiner Arbeit, mit dem er sich in höherem Maße identifiziert und das auch nach außen „erkennbar" sein Beitrag bleibt: Greifbar bei der körperlichen Herstellung von Publikationen 1076 wie bei der Zustellung von Postwurfsendungen, 1 0 7 7 aber auch bei der Mitarbeit an einer Entwicklung von Medikamenten, die das Führen eines Atomkrieges unterstützen können, 1078 beim Verladen von Munition durch einen Hafenarbeiter, 1079 bei der Mitwirkung eines Orchestermusikers an einer modernen Operninszenierung mit provokanten (grob blasphemischen) Inhalt e n 1 0 8 0 oder bei dem Beitrag eines Lufthansa-Angestellten zur Abschiebung abgelehnter Asylbewerber 1081 . Schließlich ist es für die arbeitsteiligen Prozesse des Wirtschaftslebens noch schwieriger, faßbare Kriterien dafür zu entwickeln, wann ein Verhalten „ganz" im Grundrechtsbereich eines Dritten liegt 1 0 8 2 und wann Erfolge noch „unmittelbare Wirkungen" eines Verhaltens sind. 1 0 8 3 Der arbeitsteilige Charakter des Einsatzes moderner Waffensysteme innerhalb einer Armee ζ. B. wird von der Rechtsprechung bei der Bestimmung von Gewissensentscheidungen gegen den „Kriegsdienst mit der Waffe 44 (Art. 4 III GG) berücksichtigt;1084 schwieriger als im militärischen Handlungsablauf sind Zäsuren zu setzen im Prozeß der Waffenherstellung und -lieferung, der ebenfalls zum mißbilligten (potentiellen) Waffeneinsatz beiträgt: Dem Wissenschaftler, der eine Waffe entwickelt, und dem produzierenden Unternehmer kann man 1075 Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 275. 1076 BAG, U. v. 20. 12. 1984, E 47, 363 ff; LAG Kiel, U. v. 6. 1. 1983, NJW 1983, S. 1222 ff.; LAG Nürnberg, U. v. 3. 4. 1958, JZ 1958, S. 514 f.; vgl. BSG, U. v. 23. 6. 1982, E 54, 7. 1077 Arbeitsgericht Frankfurt a. M., 17 Ca 3591 /93 (unveröffentlicht). 1078 BAG, U. v. 24. 5. 1989, E 62, 59. 1079 LAG Hamburg, U. v. 5. 11. 1951, AP 1952, Nr. 105. Vgl. BSGE 61, 158 ff. (Wartung und Reparatur von Kriegsschiffen in einer Werft). «oso LAG Düsseldorf, U. v. 7. 8. 1992, KirchE 30, S. 313 ff. (= NJW 1993, S. 1494 ff.). 1081 LAG Frankfurt a. M., U. v. 5. 2. 1990, ZTR 1991, S. 35 f. (vgl. Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 6). 1082 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 258, 311. Vgl. ebd., S. 258: „ausschließliche Verantwortung der zuständigen Repräsentationsorgane44. 1083 Vgl. ebd.; Herdegen, Gewissensfreiheit, S. 489. 1084 BVerwGE 49, 71 (73 f.). Das Gericht greift hier allerdings ebenfalls auf Kriterien wie den „engen und unmittelbaren44 Zusammenhang nach dem „Sinngehalt44 der Tätigkeit zurück. Vgl. Franke, Gewissensfreiheit, S. 14 mit FN 29.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

einen unmittelbaren Bezug kaum absprechen; zweifelhaft scheint es aber auch, solchen (unvorhersehbaren ! ) 1 0 8 5 moralischen Konflikten von vornherein jede rechtliche Relevanz abzusprechen, in die der Zulieferer, der Techniker, der die Produktion überwacht, der Bankangestellte, der mit der Finanzierung des Projekts betraut ist, oder der Fließbandarbeiter geraten. Die hier erforderlich werdenden „subtilen Differenzierungen" 1 0 8 6 sollten nicht eingesetzt werden, um Berufungen auf das Gewissen a priori auszugrenzen und beim Grundrechtsträger den Eindruck hervorzurufen, von den Folgen seines Verhaltens generell abgeschnitten zu werden ('Das geht dich nichts an 4 ); sie sollten vielmehr einschließlich der zu berücksichtigenden Interessen möglichst offengelegt werden, um dem Grundrechtsträger durch die Grundrechtsschranken die i m Interesse Dritter oder des Gemeinwesens notwendigen Beschränkungen seiner Selbstbestimmung zu v e r m i t t e l n . 1 0 8 7 Gerade Berufungen auf das Gewissen, die Rechtspflichten und rechtliche Verantwortlichkeitsverteilungen nicht nur mißachten, sondern mit normativem Anspruch in Frage stellen, 1 0 8 8 sollten als Anfragen an die Rechtsordnung zunächst zugelassen und als solche ernstgenommen werden, auch wenn ζ. B. Abgaben Verweigerungen zu Recht i m Ergebnis nach einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung 1 0 8 9 und fast einhelliger Auffassung in der Liter a t u r 1 0 9 0 keine Billigung durch die Rechtsordnung erfahren können. Diesen Weg schlagen die zur Tatsachenfeststellung berufenen Gerichte in den hier diskutierten Fällen auch häufig e i n . 1 0 9 1 Eine Schrankenlösung (Güterabwä-

1085 s. o. A.II.2.c)bb)aaa), S. 125 f. 1086 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 266 f. Zu den damit verbundenen Unsicherheiten vgl. ebd., S. 257 f. Sie begründen Zweifel daran, ob die Abgrenzung von Verantwortungsbereichen die Unsicherheiten von Abwägungsergebnissen verringern kann (vgl. ebd., S. 265). 1087 Für eine solche Schrankenlösung im Fall der Steuerverweigerung etwa auch E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht (Anm. 521)/Diskussionsbeitrag, S. 120; Derleder, Arbeitsverhältnis, S. 195; Morlok, Art. 4, Rdn. 33. 1088 Vgl.u. III.l., S. 290 f. 1089 Ausführliche Dokumentation der Rechtsprechung bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 109 ff.; Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 134 ff. Vgl. EMRK, 15. 12. 1983, Β 10358/83, DR 37, S. 142 ff.; EMRK, 18. 7. 1986, Β 11991/86, zit. nach Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 143 ff. 1090 Anders für die Steuerverweigerung nur Tiedemann (wie Anm. 1089), Preuß, Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Ersatzzahlung für die Verweigerung der Erfüllung der Kriegsfinanzierungspflicht (Rechtsgutachten), zit. nach Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 150 (anders Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 46). Anders für die Verweigerung von Krankenkassenbeiträgen Geiger, Das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und vorlegendem Gericht im Falle der konkreten Normenkontrolle, EuGRZ 1984, S. 409 ff. (zu BVerfGE 67, 26); G. Schultz, Abtreibung auf Krankenschein ?, MDR 1994, S. 812 f. 1091 Vgl. etwa die bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 128 ff., 131 ff., 134 ff., 141 ff. dokumentierten Entscheidungen zur Abgabenverweigerung; FG Münster, U. v. 6. 2. 1992, KirchE 30, 34 ff.; die bei Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 291 ff. referierten Entscheidungen zur Stromzahlungsverweigerung (vgl. ebd., S. 305). Vgl. auch LAG Nürnberg, U. v. 3. 4. 1958, JZ 1958, S. 514 f. Die Entscheidun-

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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gung) nehmen auch diejenigen Ansätze vor, die für entfernte Verhaltensfolgen betreffende Gewissenspositionen eine relativ geringere „persönlichkeitsintegrierende Wirkung" annehmen 1092 oder das Gewissen nur in einer „formalen Randposition" betroffen sehen 1093 . Zum Teil wird auch das Modell der abgegrenzten Verantwortungsbereiche einfach auf die grundrechtliche Schrankenebene übertragen. 1094 Entscheidend kommt es bei der Anwendung der Grundrechtsschranken jedenfalls darauf an, deutlich zu machen, ob und warum die Bereitstellung von Alternativen oder die Gewährung von Dispensen für den Staat bzw. den Arbeitgeber nicht tragbar ist. 1 0 9 5 Das als Grundrechtsschranke wirkende Direktionsrecht des Arbeitgebers (vgl. § 315 I BGB) greift ζ. B. nicht, wenn er in der Lage ist, den Arbeitnehmer ohne großen Aufwand umzusetzen und seinen Beitrag anderweitig zu ersetzen. 1096 Im Fall der Steuerverweigerung etwa werden solche Alternativen verschiedentlich in Form ausgearbeiteter Modelle gefordert. Diese Modelle sehen im wesentlichen entweder vor, die Landesverteidigung aus einem vom Haushalt gesonderten - und u. U. durch eine Zwecksteuer zu tragenden ,Verteidigungsfonds 4 zu finanzieren 1 0 9 7 , oder sie fordern die rechtliche Möglichkeit, die Steuerzahlung (teilweise) durch Spenden an gemeinnützige Organisationen oder einen »Friedensfonds* zu ersetzen. 1098 Oder sie fordern ersatzlosen Dispens von der Steuerpflicht nach den steuerrechtlichen Billigkeits- und Härtefallvorschriften. 1099 Die Schrankenargumentation hat dann jeweils - mit dem vertretbaren Aufwand - auf solche Alternativforderungen einzugehen. Eine Einrichtung von Sondervermögen würde: - die haushaltsrechtlichen Grundsätze der Haushaltseinheit und der Gesamtdekkung (Non-Affektation) aufheben und damit erhebliche negative Auswirkungen auf Kontrolle und Steuerung von Politik durch das Parlament (Art. 20 Π 2 GG) haben, 1100 gen zeigen, daß dies nicht zu einer unangemessenen Erweiterung des Begründungsumfangs führen muß. 1092 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 22 f. Vgl. Franke, Gewissensfreiheit, S. 33; LG Stuttgart, U. v. 18. 12. 1980, KJ 1981, S. 315. 1093 BSG, U. v. 23. 6. 1982, E 54, 7 (11). Vgl. BVerfG, Kammerbeschi. v. 13. 6. 1983, NJW 1984, S. 912. Vgl. Derleder, Arbeitsverhältnis, S. 198. Dagegen Denninger/Hohm, Arbeitsverweigerung aus Gewissensgründen. Eine grundrechtliche Untersuchung, Die AG 1989, S. 145 ff. (148). 1094 OLG Karlsruhe, U. 13. 7. 1989, NStZ 1990, S. 41 f. (Ersatzdienstverweigerung). Vgl. Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 170 ff. 1095 Vgl. o. 3.a)bb), S. 235 ff. zu Alternativen des Bürgers. 1096 Vgl. B AGE 47, 363 (375) m.w.N. LAG Düsseldorf, KirchE 30, S. 313 (319) (=NJW 1993, S. 1494 ff.); schon LAG Nürnberg, JZ 1958, S. 514 f. (515). 1097 Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 149 ff. 1098 Gesetzentwürfe der Fraktion Die Grünen, BT-Drucks. 10/5420; 12/74; 11/8393. Vgl. die bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 194 ff. dokumentierten internationalen Gesetzesinitiativen. 1099 Vgl. insges. Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 133 ff., 178 ff. H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 274 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

- neben der öffentlichen Meinungsbildung und verfassungsrechtlich institutionalisierten Willensprozessen eine »dritte Ebene' der politischen Auseinandersetzung und Einflußnahme auf staatliches Handeln etablieren, die dem Bürger zusätzlichen Einfluß nach Maßgabe seiner Wirtschaftskraft einräumte und das Prinzip demokratischer Chancengleichheit der Staatsbürger verletzte, 1101 - erhebliche Kosten verursachen 1102 und - durch die (faktische) Einführung einer zweckgebundenen Verteidigungssteuer nicht das Vermögen, aber u. U. das Gewissen der Mitbürger zusätzlich belasten. 1103 Ein Dispens, auch ein durch eine Spendenverpflichtung ausgeglichener, für alle Bürger, die sich durch staatliches Handeln in irgendeinem Sachbereich 1104 in Gewissenskonflikte gebracht sehen könnten, würde die Handlungsfähigkeit des Staates insgesamt grundlegend gefährden; 1105 zumal hinsichtlich der Steuerpflicht die Gefahr des Mißbrauchs von Alternativen besonders groß und die Möglichkeit effektiver Kontrolle, ob im Einzelfall tatsächlich ein echter Gewissenskonflikt vorliegt, bei breiter Inanspruchnahme der Alternativen besonders gering wäre. Ein Dispens würde im Ergebnis auch eine steuerliche Mehrbelastung der Mitbürger bedeuten. 1106

I I . Die Schranken der Gewissensfreiheit Auch in einem für den Bürger ausweglosen und existentiellen Konflikt verhaltensleitender Gewissensüberzeugungen mit der Rechtsordnung besteht - darüber herrscht fast allgemeiner Konsens - nur ein prima facie-Recht auf freie Gewissensbetätigung. Schrankenlos ist die Gewissensfreiheit nur, soweit sie das ,forum internum' schützt und nicht mit sozial relevanten Verhaltensäußerungen zu tun hat. 1 1 0 7 1 1 0 8 Für die Gcmsstnsbetätigung kann Schrankenlosigkeit nur behaupten, noo Bock, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 163 ff., 168 f. noi Preuß, Politische Verantwortung, S. 125. Vgl. Schmude, Mehrheitsprinzip, S. 209 ff. Vgl. auch H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 497, 501 (zum Schutzbereich). 1102 Diefenbacher, Pazifistische Steuerverweigerung, S. 111. 1103 Schmude, Mehrheitsprinzip, S. 215. Vgl. H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 307 ff., 331 mit FN 134. 1104 Vgl. das umfassende Modell zur Abgabenverweigerung bei Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, S. 147 ff. nos Starck, Art. 4, Rdn. 63. 1106 Diefenbacher, Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht, in: Bock/Diefenbacher/Reuter (Hrsg.), Pazifistische Steuerverweigerung, S. 93 ff. (122 f.). no? Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 148; Freihalter, Das Grundrecht, S. 228, 239; Starck, Art. 4, Rdn. 48. nos Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 267 zum aus Art. 1 I GG geschützten Kern von Innen- und Intimsphäre (vgl. aber auch ebd., S. 312).

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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wer die notwendigen (und bisweilen über das Notwendige hinausgehenden) Restriktionen bereits im Grundrechtstatbestand vornimmt 1 1 0 9 - zumindest den Tatbestand auf gewissensgefordertes Unterlassen begrenzt. 1110 Praktische Reichweite der Grundrechtsschranken und deren dogmatische Verankerung sind allerdings nicht gesichert. Diskutiert wird auch heute noch eine »Schrankenleihe4 bei Art. 2 I HS. 2 GG (oder Art. 5 II GG) 1 1 1 1 ; überwiegend wendet man mit dem Bundesverfassungsgericht dessen Konzept der verfassungsimmanenten Schranken an (kollidierendes Verfassungsrecht: Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte) 1112 - wobei zum Teil auch auf ungeschriebene Verfassungsnormen 1113 oder einen bloßen „verfassungsrechtlichen Ansatzpunkt" zurückgegriffen wird; 1 1 1 4 restriktivere Ansätze anerkennen als Schranke nur Rechte Dritter, 1115 nur die Gewissensfreiheit Dritter 1 1 1 6 oder nur die „unbedingt zu schützenden Rechte Dritter" sowie die Sicherung des Staates nach innen und außen 1117 .

1. Bürgerliche und staatsbürgerliche Pflichten (Art. 140 GG iVm A r t 1361 WRV) Wie bei der Bestimmung des Schutzbereichs der Gewissensfreiheit, so ist auch bei der Bestimmung ihrer Schranken entscheidend auf den Sinnzusammenhang des Art. 4 GG abzustellen. Das legt es nahe, den positiv-rechtlichen Anknüpfungspunkt für die Schrankenziehung in Art. 140 GG iVm. Art. 136 I WRV zu suchen. Die Vorschrift („Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt") enthält, soweit sie von „Rechten" handelt, ein spezielles Diskriminierungsverbot, soweit sie von „Pflichten" handelt, einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt für die

1109 Freihalter,

Gewissensfreiheit, S. 223 f. m.w.N. Vgl. auch das Vorgehen von Preuß,

AK, Art. 4, Rdn. 45. Vgl. o. A.II.2.C), S. 115 ff.

mo So etwa A. Arndt, Das Gewissen, S. 2205; Geiger, Gewissen, S. 72 f. im Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 148 ff., 114 ff. OLG Hamm, NJW 1968, S. 212. Dagegen Morlok, Art. 4, Rdn. 89; Starck, Art. 4, Rdn. 45. 1112 BVerfGE 32, 98 (107 f.); 33,23 (29 ff.). Vgl. BVerwGE 90, 112 (122); Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 22 ff.; Morlok, Art. 4, Rdn. 89 ff.; Kokott, Art. 4, Rdn. 87 ff. m 3 Vgl. Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 29. um Dagegen Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 29. m 5 H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 307 f. Tiedemann, Das Recht der Steuerverweigerung, 2. Kap., Rdn. 9, 22 ff. 1116 Ekk. Stein, Gewissensfreiheit, S. 56 ff. Dieser Ansatz ist kaum durchzuhalten. Vgl. ebd., S. 60. 1117 Grundlegend E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 58 f., 84; Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 149; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 233. Vgl. Lisken, Gefährdungen, S. 533 ff. Kritisch Muckel, Religiöse Freiheit, S. 261 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Grundrechtsausübung (entsprechend denen in Art. 135, S. 3 und Art. 137 ΙΠ 1 HS. 2 WRV). 1 1 1 8 a) Die übrigen Grundrechte des Art. 4 GG Allerdings lehnen Rechtsprechung und Literatur schon für die übrigen Grundrechte des Art. 4 GG eine Anwendung des Art. 136 I WRV überwiegend ab. 1 1 1 9 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies neben der vorbehaltlosen Formulierung des Art. 4 GG und seiner herausgehobenen Stellung an der „Spitze der Verfassung" vor allem mit historischen Argumenten: Art. 135 WRV sei 1949 nicht in die Verfassung aufgenommen, die Glaubens- und Gewissensfreiheit statt dessen bewußt aus dem Zusammenhang des Staatskirchenrechts herausgelöst worden, um ihr Gewicht zu verstärken; 1120 Art. 136 I WRV sei so von Art. 4 GG „überlagert". Zudem gebe die Vorschrift keine Auskunft darüber, welche staatsbürgerlichen Pflichten sich im Ergebnis gegen das Grundrecht durchsetzen; das lasse sich „nur nach Maßgabe der in Art. 4 I GG getroffenen Wertentscheidung feststellen". Die „normative Grundentscheidung" des Verfassungsgebers für eine Verstärkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit als Antwort auf die Erfahrungen unter dem NSRegime betont auch die Literatur: 1121 Insbesondere der Vorbehalt der „allgemeinen Staatsgesetze" in Art. 135, S. 3 WRV sei im Grundgesetz nicht rezipiert, ein zwischenzeitlich in Art. 4 Π GG vorgesehener Gesetzesvorbehalt in den Beratungen des Parlamentarischen Rates wieder gestrichen worden, um ein Leerlaufen des Grundrechts zu verhindern. 1122 Art. 4 GG enthalte eine klare und auch in der Formulierung entschiedene Regelung, während Art. 140 GG vom Parlamentarischen Rat erst in letzter Stunde als Kirchenkompromiß und ohne grundrechtlichen Normierungswillen aufgenommen worden sei. 1 1 2 3 Der Verfassungsgeber habe als Grundrechtsschranken nur die in den Art. 2 - 1 9 GG enthaltenen gewollt, einen Generalvorbehalt ausdrücklich abgelehnt. 1124 ms Nicht haltbar ist daher ein Versuch, die Vorschrift auf das Diskriminierungsverbot zu reduzieren und schon damit als Grundrechtsschranke auszuschließen (so aber Kokott, Art. 4, Rdn. 83). Dagegen Muckel, Religiöse Freiheit, S. 233 f. Vgl. Preuß, AK, Bnd. II, Art. 140, Rdn. 37; Starck, Art. 4, Rdn. 46; dens., Art. 1, Rdn. 173 je m.w.N. "19 Ausführlich BVerfGE 33, 23 (29 ff.). 1120 Der von BVerfGE 33,23 (31) zitierte Aufsatz von Bahlmann (Der Eideszwang als verfassungsrechtliches Problem, in: FS A. Arndt, 1969, S. 37 ff. (50)) wendet sich allerdings nur gegen eine einseitige Beschränkung des Art. 4 GG durch die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten. 1121 Ausführlich E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 45 ff. und Diskussionsbeitrag, S. 145 f.; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 222 ff., 38 f. Vgl. auch Morlok, Art. 4, Rdn. 90; Kokott, Art. 4, Rdn. 81 ff. Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 13 ff., 72. 1122 Vgl. JöRN.F. 1, S. 74 f. 1123 Vgl. JöR N.F. 1, S. 899 ff. (Die Aussage bezieht sich wohl vor allem auf die Aufnahme des Art. 136 WRV.)

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Diese Einwände gegen eine Anwendung des Art. 136 I WRV greifen im Ergebnis nicht durch, denn einem „Generalvorbehalt" gleicht - in dem weiten Verständnis der Rechtsprechung - auch das Modell der verfassungsimmanenten Schranken, und ein „Leerlaufen" des Grundrechts ist bei konsequenter Anwendung der unter dem Grundgesetz etablierten sog. Schranken-Schranken auch dann nicht zu befürchten, wenn sich die vorrangigen Rechtspflichten des Bürgers nicht unmittelbar dem Art. 136 I WRV selbst entnehmen lassen. Die Entstehungsgeschichte der Verfassung gibt keinen eindeutigen Aufschluß. Zwar ist der Wille zu einer Verstärkung des Art. 4 GG gegenüber den Vorgängernormen unübersehbar; aber unübersehbar ist auch, daß die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates davon ausgingen, daß äußere Betätigungen der Glaubensund Gewissensfreiheit - trotz der Streichung des Gesetzesvorbehalts in Art. 4 Π GG - ihre Grenze auch in einfachen Gesetzen finden könnten: Gerade der Wortführer der die Streichung durchsetzenden Ausschußmehrheit macht in seinen Äußerungen deutlich, daß er die Schrankentrias des Art. 2 I GG für anwendbar hält und zur „verfassungsmäßigen Ordnung" („Generalklausel") im Sinne des Art. 2 I GG bereits „auch die Gesetze" rechnet, „die in Übereinstimmung mit der Verfassung zur Ordnung des Gemeinwesens ergangen sind, ζ. B. seuchenpolizeiliche Vorschriften usw.". 1 1 2 5 Außerdem ging es in den Beratungen nur um praktische Beispiele von religiösen Handlungen im traditionellen Sinne (Prozessionen usf.). 1126 Eine Schrankenregelung wurde überhaupt nur für Absatz I I des heutigen Art. 4 GG („Religionsausübung") in Betracht gezogen. Das spricht aber nicht für die Schrankenlosigkeit einer praktischen Betätigung von Glaubens- und Gewissensüberzeugungen im täglichen Leben nach Art. 4 I GG, 1 1 2 7 sondern verstärkt die Zweifel daran, daß die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates überhaupt schon von einer umfassenden Betätigungsfreiheit im forum externum nach Art. 4 I GG ausgingen. 1 1 2 8 Eine (mittlerweile zu Recht erfolgte, teleologische) Erweiterung des Art. 4 I GG auf das äußere Verhalten des Grundrechtsträgers (in Angleichung an Art. 4 Π 1124 Vgl. jöR N.F. 1, S. 178; Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, Bnd. 5/II, 1993, S. 631 ff., 760. 1125 Abg. Dr. Süsterhenn (CDU), 24. Sitzung des Grundsatzausschusses v. 23. 11. 1948, Der Parlamentarische Rat, S. 626, 627. Vgl. ebd. S. 628. Diese Auffassung wurde von den Abgeordneten Dr. Heuss (FDP) und Dr. Bergsträsser (SPD) offensichtlich geteilt („Natürlich!"). Zweifel des Vorsitzenden Dr. v. Mangoldt (CDU) an dieser Schrankenübertragung (ebd., S. 626 ff.) wurden in der Sache nicht aufgegriffen (vgl. lediglich Dr. Heuss, ebd. S. 629). Der Ausschußvorsitzende brach die Debatte zu diesem Thema unter Verweis auf spätere Lesungen ab (ebd., S. 630: „Ich bin aber gewiß, daß es darüber noch zu einer Erörterung kommen wird. Ich weiß, daß gerade die Juristen eine andere Auffassung vertreten.") Zu einer späteren Erörterung kam es jedoch nicht mehr (vgl. zum Grundsatzausschuß ebd., S. 760 ff., 928 f.; vgl. JöR N.F. 1,S. 76 ff.). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 80 f., 289; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 6 f.; Muckel, Religiöse Freiheit, S. 226 f. Vgl. insoweit auch Kokott, Art. 4, Rdn. 84. 1126 Der Parlamentarische Rat, S. 621 ff. 1127 So aber wohl E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 49. 1128 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 289, 80 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

GG) kann jedenfalls als von den Schrankenerwägungen des historischen Verfassungsgebers in gleicher Weise erfaßt gelten; wenn sich das Grundrecht durch Interpretation entwickelt, muß sich die Schranke mitentwickeln. Diese Schrankenerwägungen kommen aber nun weder im Wortlaut des Art. 4 GG zum Ausdruck, noch können sie auf den heute als Auffangtatbestand verstandenen Art. 2 I GG gestützt werden. 1129 Der Sache nach finden sie ihren positiv-rechtlichen Ausdruck aber in Art. 136 I WRV - auch wenn die genauen historischen Motive seiner späten Aufnahme in Art. 140 GG am 5. 5. 1949 dunkel bleiben. 1130 Immerhin war man sich in der Sitzung des Hauptausschusses vom 5. 5. 1949 der grundrechtlichen Relevanz der Inkorporierung von Art. 136 ff. WRV bewußt und nahm auch eine gewisse sachliche Abstimmung vor, indem man mit gleichem Antrag und gleicher Abstimmung die Gewährleistung der religiösen Vereinigungsfreiheit in Art. 4 1 S. 2 GG strich. Wäre eine Schrankenlosigkeit des Art. 4 GG tatsächlich gewollt gewesen, hätte Art. 136 I WRV - trotz seiner nicht leicht verständlichen Formulierung - auf Widerstand treffen müssen. 1131 Gerade weil es in den vorangegangenen Debatten zu Art. 4 GG immer zentral um die „Freiheit der Kirche" gegangen war, 1 1 3 2 scheint es auch schwer vorstellbar, daß man jene durch den klar als Schrankenregelung erkennbaren - Art. 137 ΙΠ 1 HS. 2 WRV nunmehr in engere Schranken weisen wollte als den einzelnen Bürger. 1133 Art. 1361 WRV ist daher als Schrankenregelung für die „Religionsfreiheit" nach Art. 41, I I GG anzuwenden. 1134 "29 Vgl. Kunig, v. Münch, Art. 2, Rdn 12 m.w.N. 1130 Vgl. JöR N.F. 1, S. 78 f., 907; Parlamentarischer Rat. Verhandlungen des Hauptausschusses. Bonn 1948/49, S. 745, 765, 762 (Aufnahme ohne Debatte zu dieser Frage in der 57. Sitzung v. 5. 5. 1949). Bis dahin sollten nur die Art. 137 ff. WRV „aufrechterhalten" bleiben; zusammen mit Art. 136 WRV wurden sie nunmehr durch Art. 140 GG zum „Bestandteil dieses Grundgesetzes". 1131 Gegen die Annahme eines verfassungsgeberischen „Versehens" auch Bäumlin, Das Grundrecht, Diskussionsbeitrag, S. 147. 1132 Vgl. die abschließende Äußerung des Abg. Dr. Bergsträsser (SPD), Der Parlamentarische Rat, S. 630. Vgl. Dr. Süsterhenn (CDU), ebd., S. 629. 1133 Auch aus der heutigen Sicht, die Art. 4 GG zwar für weiter auf die Kirchen anwendbar hält, ihn aber praktisch ganz hinter Art. 140 GG iVm. Art. 137 III WRV zurücktreten läßt (vgl. v. Campenhausen, Art. 140 GG/137 WRV, Rdn. 25 ff. m.w.N.; Badura, Der Schutz, S. 16 f., 75 ff.), muß man sich fragen, ob nicht eine Anwendung des - Art. 137 III 1 HS. 2 entsprechenden - Art. 136 I WRV zu einem sinnvollen Gleichlauf von individuellen und kollektiven Betätigungsfreiheiten beitragen könnte. 1134 v. Mangoldt/Klein, 2. Aufl., 1966, Art. 4, Anm. III 5; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 16, 19. Diskussionsbeitrag, ebd., S. 146 ff. (147 f.); Bettermann, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 28 (1970), S. 128 f.; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 89 f.; Starck, Art. 4, Rdn. 46 ff.; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 29 f.; Jarass, Art. 4, Rdn. 17; v. Campenhausen, Art. 140 GG/136 WRV, Rdn. 6; ders., Religionsfreiheit, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 136, Rdn. 82, 58 f.; Schwabe, Glaubensfreiheit und Pflicht zur Hilfeleistung - OLG Stuttgart, MDR 1964, 1024 und BVerfGE 32, 98, JuS 1972, S. 380 ff. (383) - mit Verweisen auf Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte und ältere Literatur; Stolleis, Eideszwang und Glaubens-

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Art. 136 I WRV ist - wie die staatskirchenrechtlichen Artikel der Weimarer Verfassung 1135 - gegenüber Art. 4 GG gleichrangiges Verfassungsrecht. 1136 Das Modell verfassungsimmanenter Schranken mag bei Grundrechten ohne jede ausdrückliche Schrankenregelung unumgänglich sein (ζ. B. Art. 5 ΠΙ GG); gerade den zur Begründung verfassungsimmanenter Schranken herangezogenen Gedanken der ,Einheit der Verfassung' 1137 könnte man im Falle der Glaubens- und Gewissensfreiheit aber auch für eine Anwendung des Art. 1361 WRV ins Feld führen. 1138 Für ein Anknüpfen am positiven Verfassungsrecht spricht immer schon der Gesichtspunkt der methodischen Klarheit. 1139 Vor allem aber muß man es im Rahmen der hier vertretenen weiten Tatbestandslösung als Gebot der »Redlichkeit' gegenüber dem Bürger betrachten, wenn schon nicht die Berufungen auf das Gewissen innerhalb des Schutzbereichs umfassend zu begrenzen, 1140 so doch zumindest die notwendigen Schranken beim Namen zu nennen und als solche zu thematisieren. Man sollte nicht zunächst „Schrankenlosigkeit" proklamieren, um sie sogleich durch verfassungsimmanente Schranken konterkarieren zu müssen. Die Konstruktion verfassungsimmanenter Schranken selbst führt bei Art. 4 GG zu besonderen Schwierigkeiten. 1141 Sie zwingt häufig dazu, kollidierende Gemeinschaftsinteressen nicht nur innerhalb der Gesetzeshierarchie auf eine höhere Ebene zu heben, sondern auch inhaltlich zu generalisieren: Die Kriegsdienstverweigerung einzelner dienender Wehrpflichtiger wird zur Gefährdung der „Funktionsfähigkeit der Bundeswehr", 1142 die Verweigerung einer konkreten Arbeit durch einzelne Arfreiheit - BVerfGE 33, 23, JuS 1974, S. 770 ff. (773 f.); Stern, Staatsrecht III/2, S. 517, 522; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288 f., 312, 324; ders., Gewissensfreiheit, S. 496; Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 498 ff. mit FN 121; D. Ehlers, Kommentierung Art. 140 GG/Art. 136 WRV, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Rdn. 1,4; Wolff/ Bachof/ Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl. 1994, § 33, Rdn. 25; Muckel, Religiöse Freiheit, S. 224 ff. Vgl. auch Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 25; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 133; dens., Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit? Über das Verhältnis des Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zum Geltungsanspruch des allgemeinen Rechts, JZ 1998, S. 974 ff. (980 f.); BGHZ 38, 317 (322). »35 Für diese auch BVerfGE 19, 206 (219 f.) - „vollgültiges Verfassungsrecht ( . . . ) nicht etwa auf einer Stufe minderen Ranges"; BVerfGE 19, 226 (236); 53, 366 (400 f.). 1,36 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 16; Stolleis, Eideszwang, S. 773 f.; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288; Starck, Art. 4, Rdn. 46. Vgl. Kokott, Art. 4, Rdn. 81. 1137 Vgl. für Art. 137 WRV auch BVerfGE 19, 206 (220). 113« Kritisch Stern, Staatsrecht III/2, S. 560 f. Wie hier auch Muckel, Religiöse Freiheit, S. 226.

1139 Stolleis, Eideszwang, S. 774; Starck, Art. 4, Rdn. 46; Bettermann, Diskussionsbeitrag, S. 129. Dies räumt zudem den Vorwurf aus, die Grundrechte des Grundgesetzes einem Generale orbehalt zu unterstellen; ein solcher ist tatsächlich aus den verschiedenen Entwürfen zu Art. 19 GG ausdrücklich gestrichen worden (vgl. JöR N.F. 1, S. 176 ff.). ι' 4 « So Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 29 ff. Auch Rühl, Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit im politischen Konflikt, S. 313 f. 1,41

Zur allgemeinen Kritik an der Praxis vgl. Stern, Staatsrecht III 12, S. 552 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

beitnehmer oder Arbeitsuchende zur Gefährdung der „Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung". 1143 Abgesehen von ihrer Unbestimmtheit führen solche und ähnliche Generalisierungen immer auch zu einer inhaltlichen Überzeichnung und damit Verschärfung der Konfliktsituation; sie stehen so gerade dem Charakter des Grundrechts der Gewissensfreiheit 1144 als Konfliktlösungsnorm unmittelbar entgegen. Schließlich spricht für eine Anwendung des Art. 136 I WRV, daß sie nur methodische Klarheit bringt, die bisher von der Rechtsprechung erzielten praktischen Ergebnisse aber kaum beeinflußt. 1145 Denn mit der Norm ist nicht auch ihre unter der Weimarer Reichsverfassung gültige Interpretation in das Grundgesetz aufgenommen worden, nach der Art. 136 I WRV eine „klare materielle Wertentscheidung" enthielt, daß die Religionsfreiheit durch die allgemeinen Staatsgesetze beschränkt wird - „und nicht umgekehrt". 1146 Die Norm steht heute in einem grundlegend anderen grundrechtsdogmatischen Kontext als unter der Weimarer Verfassung. 1147 Man kann sie daher nur als Gesetzesvorbehalt wie andere Gesetzesvorbehalte lesen und ihr auch „im Grundsatz" keine Entscheidung für einen inhaltlichen Vorrang der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten entnehmen. 1 1 4 8 Vielmehr ist gerade im Rahmen der vom Bundesverfassungsgericht für Art. 137 ΠΙ WRV (ähnlich ursprünglich für Art. 5 GG) entwickelten 1149 und auf Art. 136 I WRV zu übertragenden 1150 „ Wechselwirkung" zwischen Grundrecht und Schranke sicherzustellen, daß die „normative Grundentscheidung" 1151 des Grundgesetzes für eine sachliche Verstärkung der Religionsfreiheit umgesetzt 1142 BVerfGE 28, 243 (261); 69, 1 (21 f.). Vgl. dagegen die abweichende Meinung Mahrenholz/Böckenförde, ebd., S. 57 ff. (58 ff.). 1143 BSGE 61, 158 (165). Vgl. auch BVerfGE 33, 23 (32): Funktionsfähigkeit der Rechtspflege. Vgl. Starck Art. 4, Rdn. 50 (nur für die Gewissensfreiheit): „Funktionsfähigkeit staatlicher Gerichtsverfahren und der Verwaltung [...]". 1144 Dazu sogleich unter b). 1145 Schwabe, Probleme, S. 311; ders., Glaubensfreiheit, S. 383; Stolleis, Eideszwang, S. 774; Starck, Art. 4, Rdn. 46; H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 499. Vgl. Bäumlin, Das Grundrecht, S. 19. 1146 Vgl. aber Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288 mit Verweis auf Anschütz. Vgl. jetzt auch Muckel, Religiöse Freiheit, S. 237, allerdings ohne dieselbe Konsequenz (ebd., S. 241 ff.). 1147 Vgl. zu den staatskirchenrechtlichen Artikeln BVerfGE 19, 206 (219 f.) (mit Zitat v. Brentano, Schriftlicher Bericht zum XI. Abschnitt des Grundgesetzes). 1148 So aber wohl Starck Art. 4, Rdn. 46; v. Campenhausen, Art. 140 GG/136 WRV, Rdn. 6; ders., Religionsfreiheit, Rdn. 82. 1149 Zu Art. 137 III WRV BVerfGE 72, 278 (289); 53, 366 (400 f.). Zu Art. 5 II GG BVerfGE 7, 198 (208 f.); 71, 206 (214). uso So auch Starck und v. Campenhausen (wie Anm. 1148); Stolleis, Eideszwang, S. 774; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 90. Allgemein zur Übertragung Bleckmann, Staatsrecht II, S. 354. Vgl. D. Ehlers, Art. 140 GG/Art. 136 WRV, Rdn. 4. Dagegen Muckel, Religiöse Freiheit, S. 236 ff. usi E.-W. Böckenförde,

Das Grundrecht, S. 49.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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wird. Art. 136 I WRV und die durch ihn verfassungsrechtlich gerechtfertigten Schrankengesetze sind „vom Grundrecht her", unter Berücksichtigung von dessen „herausragender Bedeutung" zu interpretieren. 1152 Neben einer solchen verfassungskonformen oder verfassungsorientierten Auslegung 1153 ist die „normative Grundentscheidung" für Religionsfreiheit vor allem - wie bei Art. 137 ΠΙ 1 WRV - 1 1 5 4 durch eine konkrete Güterabwägung zwischen Grundrecht und kollidierender Rechtspflicht umzusetzen.1155 Erst das sichert die von Art. 1 III GG geforderte Grundrechtsgeltung auch gegenüber dem Gesetzgeber. 1156 Die wohl richtigere dogmatische Einordnung und eine gefestigtere Struktur erhielte die Güterabwägung im Rahmen des als Schranken-Schranke verstandenen Verhältnismäßigkeitsprinzips. 1 1 5 7

b) Die Gewissensfreiheit Art. 136 I WRV spricht nur von der „Ausübung der Religionsfreiheit". Auf den ersten Blick bezieht er sich damit nur auf Absatz I I des Art. 4 GG („Religionsausübung"). Ein so enges Verständnis der Norm vertritt aber keiner ihrer Anwender. Einige von ihnen schließen allerdings die Gewissensfreiheit aus dem Anwendungsbereich des Art. 136 I WRV aus: 1 1 5 8 Die Schrankenregelung sei schon aufgrund ihres Wortlauts nicht anwendbar, das Grundrecht unter dem Grundgesetz verselbständigt und von religiösen Inhalten emanzipiert. 1159 Ebenso werde unter den 1152 Stolleis, Eideszwang, S. 774. Zu Art. 137 III WRV vgl. BVerfGE 53, 366 (401). 1153 Nur als solche wirkt die „Wechselwirkung" bei Art. 5 II GG, weil das BVerfG das Element der Abwägung in den Begriff der „allgemeinen Gesetze" integriert. Vgl. Pieroth/ Schlink, Grundrechte, 13. Aufl., Rdn. 595; Herzog, M / D / H / S , Art. 5 I, II, Rdn. 264. 1154 BVerfGE 53, 366 (400 f.); 72, 278 (289). H55 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 19; Schwabe, Glaubensfreiheit, S. 383; Starck, Art. 4, Rdn. 46; Jarass, Art. 4, Rdn. 17; v. Campenhausen, Art. 140 GG/ 136 WRV, Rdn. 6; ders., Religionsfreiheit, S. 82. Vgl. Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 498; Stolleis, Eideszwang, S. 774. Auf vergleichbare Weise wollen die Befürworter einer Schrankenübertragung von Art. 2 I GG die herausgehobene Bedeutung des Art. 4 GG sichern; vgl. Herzog, M / H / D / S , Art. 4, Rdn. 114; Kokott, Art. 4, Rdn. 85. 1156 Vgl. o. A.II.2.c)bb), S. 125 ff. 1157 Vgl. Schwabe, Glaubensfreiheit, S. 383. Die durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gezogenen Schranken der Grundrechtsbeschränkung wurzeln in den Grundrechten selbst, ihrem Prinzipiencharakter {Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff.; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 85 ff.); Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 362 (auch zu anderweitigen Herleitungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes m.w.N.). Eine „Wechselwirkung" zwischen einem Grundrecht und seiner Schranke hat dieselbe Bedeutung wie die Verhältnismäßigkeit ieS. Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl., Rdn. 594; Stern, Staatsrecht III/2, S. 798 f., 814. 1158 Starck, Art. 4, Rdn. 50 f.; Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 44 f.; Η. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 498 ff. mit FN 121. Muckel, Religiöse Freiheit, S. 253; Stern, Strafrecht III/2, S. 517.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Rechten aus Art. 9 I EMRK allein die Gewissensfreiheit vom Vorbehalt des Art. 9 Π EMRK ausgenommen.1160 So zu differenzieren, ist jedoch wenig überzeugend. „Glaube" und „Wissen" bilden tatbestandlich eine im einzelnen schwer zu trennende „Gemengelage" 1161 (die Gewissensfreiheit umfaßt jedenfalls religiöse wie nicht-religiöse Verhaltensmotivationen; die Glaubensfreiheit ist ihrerseits tatbestandlich weiter, indem sie keine existentielle Konfliktlage voraussetzt) 1162. Auch Befürworter einer differenzierten Anwendung von Art. 1361 WRV halten Unterschiede zwischen Glaubens- und Gewissensfreiheit im praktischen Ergebnis der Grundrechtsanwendung - wegen der „Parallelität der normativen Gewährleistung" und der „Austauschbarkeit der Motivation durch Religion oder Gewissen" - für unbefriedigend und wollen dem durch parallele Handhabung beider Schrankenmodelle begegnen.1163 Diesem Anliegen ist zuzustimmen, doch liegt der bessere Weg zu seiner Realisierung in einer - direkten 1164 oder „analogen" 1165 - Anwendung des Art. 1361 WRV auch auf die Gewissensfreiheit. Denn auch konstruktiv macht eine Einbeziehung der Gewissensfreiheit jedenfalls keine größeren Schwierigkeiten als die - einhellige - Einbeziehung der Weltanschauungsfreiheit. Versteht man die Freiheit der „Religion" in Art. 136 I WRV in ihren traditionellen, transzendenten Bezügen, dann ist das „weltanschauliche Bekenntnis" vom Wortlaut ebenfalls nicht erfaßt, 1166 ja, „Weltanschauung" ist bei einem solchen inhaltlichen Verständnis von „Religion" geradezu deren Gegenbegriff und eindeutig als solcher auch in der Weimarer Verfassung (Art. 137 VII) wie im Grundgesetz gemeint. 1167 Weltanschauungsfreiheit ist säkularisierte Glaubensfreiheit. Man kann der „Weltanschauung"1168 (oder der „Reli1159 Vgl. auch (mit dem Ziel, Art. 1361 WRV ganz auszuschließen) Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 224 f.; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 41 ff. (schon zur Weimarer Zeit), 46. n60 Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 25 mit FN 93. 1161 Schwabe, Glaubensfreiheit, S. 383. Vgl. E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 50; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 21; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288 f. u« Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 34; K. Hesse, Grundzüge, Rdn. 383.

u« H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 499 f. Vgl. Starck Art. 4, Rdn. 51, 46. Für eine Gleichstellung im praktischen Ergebnis (unabhängig von Art. 136 I WRV) auch Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung der Gewissensfreiheit (1970), in: ders., Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 65 ff. (75, 78, 80); Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 148. 1,64

Schwabe, Glaubensfreiheit, S. 383; Stolleis, Eideszwang, S. 774; Bäumlin, Das Grundrecht, S. 19, Diskussionsbeitrag, ebd., S. 147 f.; v. Campenhausen, Religionsfreiheit, Rdn. 82. 1165 Jarass, Art. 4, Rdn. 46. Ähnlich Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 288, 312; ders., Gewissensfreiheit, S. 496; Bettermann, Diskussionsbeitrag, S. 129. Vgl. auch Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung, S. 68 f., 77. Gegen eine Analogie Morlok, Art. 4, Rdn. 90. 1166 So auch Stern, Staatsrecht III/2, S. 517. 1167 Vgl. Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR, Bnd. VI, § 138, Rdn. 137 m.w.N.; Zippelius, BK, Art. 4, Rdn. 30, 94. H6« Starck, Art. 4, Rdn. 3.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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gion" 1 1 6 9 ) daher heute im Rahmen des Art. 4 GG vielleicht die Funktion eines Oberbegriffs zuweisen. Jedenfalls aber kann man die im Wege der Verfassungswterpretation von der Glaubensfreiheit gelöste Gewissensfreiheit nicht unter Verweis auf ihre Säkularisierung 1170 für vollkommen verselbständigt erklären und aus diesem Grunde aus dem Verbund des Art. 4 GG ausgrenzen; Gewissensfreiheit und Weltanschauungsfreiheit stehen sich insofern gleich. Den Prozeß der Individualisierung (weg von gemeinschaftlich gepflegten - vgl. Art. 137 VII WRV - und dogmatisch ausgearbeiteten Überzeugungen) teilt die Gewissensfreiheit wiederum mit der Glaubensfreiheit. Man kann Art. 4 I, I I GG daher auch heute ohne weiteres in Anlehnung an die Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts als einen „einheitlichen Bereich" fassen, der die Freiheit schützt, „Glauben und Gewissen, Religion und Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und demgemäß zu handeln"; letzteres erscheint dann untechnisch formuliert als Betätigung dessen, was aus tiefer Überzeugung als richtig empfunden wird". 1 1 7 1 Trotz der tatbestandlichen Verselbständigung 1172 in mehrere einzelne Grundrechte steht dieser „einheitliche Bereich" insgesamt unter dem Schrankenregime des Art. 136 I WRV. Dafür spricht schließlich unter pragmatischen Gesichtspunkten auch, daß gerade die Gewissensfreiheit aufgrund ihrer potentiellen thematischen Weite (,Bereichslosigkeit') 1 1 7 3 einer klaren und handhabbaren Schrankenregelung bedarf. Eine Parallele zu Art. 9 I I EMRK steht dem nicht entgegen, da man auch diese Schrankenregelung, über ihren vielleicht engeren Wortlaut hinausgehend, auf die Gewissensfreiheit erstrecken kann. 1 1 7 4 Keinen expliziten Schrankenvorbehalt enthält die Verfassung nur für die spezielle Gewährleistung des Art. 4 Ι Π GG, die für den konkreten Bereich des Kriegsdienstes im Falle des Gewissenskonflikts die Freistellung entschieden hat; Art. 4 I I I 2 GG ist kein einfacher Gesetzesvorbehalt. 1175 Bei der Anwendung des Art. 136 I WRV zu beachten bleiben die Besonderheiten, die sich aus der besonderen Struktur der Gewissensfreiheit ergeben: 1176 1169 Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung, S. 68: „Grundrecht der weltanschaulichen Freiheit (Religionsfreiheit)". Vgl. Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR, Bnd. I, 2. Aufl. 1994, S. 439 ff. (454, 449 ff.); v. Campenhausen, Religionsfreiheit, Rdn. 36; Hollerbach, Grundlagen, Rdn. 137. Bei einem weiten Verständnis von „Religion" hat Art. 1361 WRV schon nach seinem Wortlaut einen breiten Anwendungsbereich. »70 E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 40 f., 41 ff.; Eckertz, Die säkularisierte Gewissensfreiheit (Anm. 743).

1171 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl., Rdn. 506. Vgl. Scheuner, Die verfassungsmäßige Verbürgung, S. 67 ff.; Steiner, Der Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit, JuS 1982, S. 157 ff. (158). Vgl. BVerwGE 94, 82 (87) - „Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG". 1172 Zur Gewissensfreiheit s. ο. Α., S. 90 ff. 1173 S. o. A.II.2.b), S. 112 ff. 1174 Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, S. 159 ff. (161). 1175 BVerfGE 12, 45 (53); 48, 127 (163); 69, 1 (25). Vgl. Herzog, M / D / H / S , Art. 4, Rdn. 194. 1

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Wegen der ,Bereichslosigkeit* der Gewissensfreiheit und der Unvorhersehbarkeit individueller Gewissenskonflikte vermittelt das Grundrecht keinen an den Gesetzgeber gerichteten Vorbehalt des Gesetzes. Das heißt freilich nur, daß der Bürger der eingreifenden Verwaltung nicht mit Verweis auf die Gewissensfreiheit das Fehlen eines formellen Eingriffsgesetzes entgegenhalten kann. Davon unabhängig ist der allgemeine (aus Art. 20 GG oder dem Auffanggrundrecht des Art. 2 I GG hergeleitete) 1177 Vorbehalt des Gesetzes für die hier interessierenden Verhaltenspflichten des Bürgers. 1178

Dementsprechend ist auch der Gesetzesvorbehalt des Art. 136 I WRV - selbst für erhebliche (wesentliche) Grundrechtsbeeinträchtigungen - 1 1 7 9 nicht als Parlamentsvorbehalt aufzufassen. Ebenfalls wegen der Einzelfallbezogenheit der Gewissensfreiheit hat die durch die „Wechselwirkung" gebotene 1180 verfassungskonforme Auslegung grundsätzlich nur Bedeutung für den Einzelfall; eine im Rahmen der Schranken-Schranken vorzunehmende Güterabwägung kann nicht zur generellen Nichtigkeit des Schrankengesetzes führen. Eine Qualifikation des Schrankengesetzes als „allgemeines" im Sinne eines Sonderrechtsverbots (vgl. Art. 5 Π GG, Art. 135, S. 3 WRV, auch Art. 140 GG iVm. 137 ΙΠ 1 W R V ) 1 1 8 1 kann nur hinsichtlich der objektiv-rechtlichen Gehalte der Gewissensfreiheit (religiöse und weltanschauliche Neutralität) greifen; mit Blick auf die subjektiv-rechtlich relevanten individuellen Gewissenskonflikte, die kaum je final gesetzt sein werden, ist jede Norm „allgemein". Diese Besonderheiten finden keine ausreichende Berücksichtigung bei Muckel. 11* 2 Er stellt nur die übrigen Grundrechte des Art. 4 I, II GG unter die Schranke des Art. 136 I WRV, 1 1 8 3 kommt aber bei der Interpretation der Gewissensfreiheit zu im wesentlichen gleichen Ergebnissen,1184 indem er bei allen Grundrechtskollisionen1185 und im Geltungsbereich von Staatsaufgabenbestimmungen (ζ. B. Art 7.1 G G ) 1 1 8 6 eine Befugnis des Gesetzgebers zur verbindlichen Rechtsgestaltung annimmt. Zur Begründung bezieht er sich u. a.

1176 Vgl. o. A.II.2.b), S. 125 ff. 1177 Vgl. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in HStR, Rnd. III, § 62, Rdn. 16 f., 31 ; Pietzcker, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Jus 1979, S. 710 ff. (712). ins Anders Muckel, Religiöse Freiheit, S. 173. Wie hier bezieht sich bloß auf den allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes wohl auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 282, 285. 1179 Vgl. Ossenbühl, Rdn. 9, 35 ff., 40. "so S. o. a), S. 270 f. nei Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit, S. 230 ff. - ohne Bezug zur Gewissensfreiheit. 1182 Religiöse Freiheit, S. 253 ff. 1183 Ebd., S. 224 ff. 1184 Ebd., S. 275, 236, 247, 269. 1185 Ebd., S. 269 ff. 1186 Ebd., S. 267 ff.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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auf die Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts (der Gesetzgeber habe die wesentlichen Entscheidungen für die Verwirklichung der Grundrechte selbst zu treffen) und auf den Vorbehalt des Gesetzes (der auch für „Eingriffe" in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte gelte); 1187 der Gesetzgeber sei berufen, Grundrechtskollisionen nicht durch ein „Entweder-Oder", sondern durch Herstellung „praktischer Konkordanz" zu lösen. 1188 Diese Tätigkeit des Gesetzgebers sieht Muckel im Bereich der Gewissensfreiheit ebenso wie im Bereich der übrigen Grundrechte des Art. 4 I, II GG nicht durch die Wechselwirkungslehre des Bundesverfassungsgerichts beschränkt, sondern durch den - restriktiver verstandenen - Verhältnismäßigkeitsgrundsatz:1189 Der ziele nicht auf eine konkret-individuelle Interessenabwägung, sondern auf eine abstrakte Güterabwägung; er binde „als originärer Verfassungssatz" ohnehin allein den Gesetzgeber.1190 Der Gesetzgeber habe eine „generelle", „typisierende" Verhältnismäßigkeit herzustellen; das ihn kontrollierende Gericht, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, durch Einbeziehung von über den konkreten Einzelfall hinausweisenden Belangen eine „Verfestigung der Kasuistik" zu Falltypen zu betreiben. 1191 Dieses Modell mag etwa für die Freiheit der Religionsausübung (Art. 4 II GG) praktikabel sein. Die „Schwierigkeit" einer Übertragung auf die Gewissensfreiheit deutet Muckel jedoch selbst an, wenn er darauf hinweist, daß praktische Konkordanz oder ein „schonender Ausgleich" in den Fällen der Gewissensfreiheit nur „beschränkt" möglich sei, 1192 nämlich durch Schaffung von Handlungsalternativen.1193 Eine „generelle Pflicht des Staates", Alternativen anzubieten, bestehe jedoch nicht (und damit auch kein Anspruch des Bürgers), denn die Schaffung solcher Alternativen obliege, um „Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes" zu wahren, dem Gesetzgeber.1194 Der wiederum könne weder alle möglichen Gewissenskonflikte vorhersehen noch „im Rahmen der ihm allein möglichen abstrakt-generellen Betrachtungsweise" die Zumutbarkeit konkreter Handlungsalternativen einschätzen.1195 Die Realisierung des Grundrechtsschutzes wird also letztlich dem Gesetzgeber überantwortet 1196 - obwohl der dazu aus tatsächlichen Gründen kaum in der Lage ist. Der Grundsatz vom Vorrang des Parlamentsgesetzes wird dem Grundrechtsschutz einseitig vorgeordnet. 1197 Der Rekurs auf den allgemeinen1198 Vorbehalt des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie begegnet - wie in der Konzeption Herde gens1199 - prinzipiellen Bedenken: Beide dienen auch noch in der parlamentarischen Demokratie - nicht nur der Sicherung von Gestaltungs-

"87 Ebd., S. 273. "88 Ebd., S. 271 f. "89 Ebd., S. 242 ff., 269, 274 f. "90 Ebd., S. 245. Unverhältnismäßiges Verwaltungshandeln verstoße „nicht unmittelbar" gegen die Verfassung, sondern gegen das angewendete Gesetz. " 9 i Ebd., S. 245 ff. "92 Ebd., S. 261, 259; er müsse häufig durch ein „hartes Entweder-Oder" ersetzt werden. "93 D a z u sogleich. "94 Muckel, Religiöse Freiheit, S. 260 mit Verweis auf Herdegen. Vgl. ebd., S. 273. Darüber hinaus bleibe ein „Wohlwollensgebot" für die Rechtsanwendung. "95 Ebd., S. 260. "96 Vgl. auch ebd., S. 275. "97 Zur Kritik vgl. o. A.II.2.c)bb)bbb) ß), S. 137 ff. 1198 Vgl. den weitergehenden Ansatz bei Muckel, Religiöse Freiheit, S. 273. "99 Gewissensfreiheit und Normativität, S. 282, 285 („Parlamentsvorbehalt"). 1

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

befugnissen der Legislative im Verhältnis zur Exekutive, sondern auch dem Schutz des Grundrechtsträgers vor Eingriffen der Exekutive; der Grundrechtsschutz wird durch Überantwortung an den Gesetzgeber tendenziell verstärkt. 1200 Beruft man sich dagegen auf den Vorbehalt des Gesetzes, um die Verwaltung in ihren Möglichkeiten zur Bereitstellung gewissensschonender Alternativen (also bei der Beachtung des Grundrechts) zu beschneiden, wird diese Tendenz in ihr Gegenteil verkehrt. Soweit diese Überantwortung an den Gesetzgeber der Auflösung von Grundrechtskollisionen und damit (auch) dem Schutz von kollidierenden Grundrechten Dritter dient, führt sie in der Sache notwendig zu einem einseitigen Vorrang dieser (abstrakt-generell faßbaren) Grundrechte. 1201 Die Konzeption führt mit Blick auf die Gewissensbetätigungsfreiheit in die Aporie, daß der Gesetzesanwender Grundrechtsschutz nicht realisieren darf, der Gesetzgeber dies nicht kann. 1202 Soweit darüber hinaus die Gerichte1203 Grundrechtsschutz gewähren sollen, indem sie die „Verfassungsmöglichkeit des einschränkenden Gesetzes" anhand einer „abstrakt-generalisierenden Abwägung" überprüfen 1 2 0 4 (gebunden dann wohl auch an die Vorlagepflicht des Art. 1001 GG), führt das wiederum in das Dilemma, entweder den Gesetzgeber mit der Prognose von Gewissenskonflikten überfordern zu müssen oder der Individualität und Situationsgebundenheit von Gewissenskonflikten des Bürgers nicht gerecht werden zu können.1205

1200 Der Parlamentsvorbehalt ist zwar „längst nicht mehr nur ein Eingriffs vorbehält" (Muckel, Religiöse Freiheit, S. 273), aber das gilt im ,»Bereich der Grundrechtsausübung" vor allem insofern, als die Verpflichtung des Gesetzgebers, selbst tätig zu werden, vom grundrechtlichen „ E i n g r i f f s " - M e r k m a l gelöst und z. B. auf den Bereich der Leistungsverwaltung erstreckt wird: Dahinter steht die Einsicht, daß Maßnahmen im Grundrechtsbereich unabhängig von ihrer Eingriffsqualität bedeutsam dafür sein können, ob „dem Einzelnen" eine „Existenz in Freiheit" möglich ist (BVerfGE 40, 237 (249); vgl. BVerfGE 47, 46 (78 f.); 49, 89 (126 f.)). Grund für die Erweiterung des Vorbehalts bleibt letztlich der Schutz des sachlich betroffenen Grundrechts (vgl. schon BVerfGE 33, 303 (345 f.: „wegen der einschneidenden Bedeutung" der staatlichen Maßnahme); vgl. Pietzcker, Vorrang, S. 714 f.). 1201 Soweit der Vorbehalt des Gesetzes auf dem Demokratieprinzip beruht und darauf zielt, „ein höheres Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche und damit auch größere Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen" zu eröffnen (BVerfGE 40, 237 (249)), geht er hinsichtlich des Ausgleichs individueller situativer Gewissenskonflikte weitgehend ins Leere. !202 Ähnlich bei Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 285 ff. 1203 Deren Position läßt Muckel (Religiöse Freiheit, S. 245 f.) relativ unklar, sowohl in bezug auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als auch in bezug auf die Möglichkeit zur Schaffung von Verhaltensalternativen (vgl. ebd., S. 260: „vor allem der Gesetzgeber"). Im Gegensatz dazu unterwirft Herdegen konsequent alle rechtsanwendenden Staatsorgane dem strikten Vorrang des (einfachen) Gesetzes.

ì204 Muckel, Religiöse Freiheit, S. 275. 1205 Jedenfalls sind abstrakte Falltypen eines Überwiegens der Gewissensfreiheit kaum zu bilden. Zum notwendigen Einzelfallbezug von Abwägungen kollidierender Grundrechte unabhängig von einer Betroffenheit gerade der Gewissensfreiheit vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 832 ff., 836 f. Vgl. ebd., S. 550 ff., 571 ff. Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als „lex situationis" vgl. Eckertz, Kriegsdienstverweigerung, S. 161, 180.

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2. Verhältnismäßigkeit 1206 Ein Schrankengesetz (jede Rechtspflicht 1207 ) ist auch im Falle des individuellen Gewissenskonflikts dem Gebot der Verhältnismäßigkeit unterworfen. 1208 Erst das sichert die Geltung des Grundrechts gegenüber der übrigen Rechtsordnung (Art. 1 ΠΙ GG) und den Vorrang des Verfassungsgesetzes. 1209 Auch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterliegt aber Modifikationen, die durch die besondere Struktur des Grundrechts der Gewissensfreiheit vorgegeben werden. Auch das Gebot der Verhältnismäßigkeit ist hier nicht an den Gesetzgeber gerichtet; Verhältnismäßigkeit ist vielmehr entsprechend der Struktur der Gewissensfreiheit als Konfliktlösungsnorm im Prozeß der konkreten Rechtsanwendung herzustellen. 1210 Das bedeutet zunächst, daß bei der Anwendung von Gesetzen im Einzelfall weder die Legitimität der gesetzgeberischen Zwecksetzung zu überprüfen ist noch die Geeignetheit der vom Gesetzgeber zur Zweckerreichung eingesetzten Mittel.

a) Erforderlichkeit Die Erforderlichkeit der vom Gesetzgeber eingesetzten Mittel ist ebenfalls keiner abstrakten Kontrolle zu unterziehen; insbesondere darf der Gesetzesanwender nicht an die Stelle einer vom Gesetzgeber eingesetzten rechtlichen Verhaltenspflicht des Bürgers ein beliebiges anderes (milderes) Mittel der Zweckerreichung setzen und den Bürger damit ohne weiteres dispensieren. 1211 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit zwingt aber zu der Prüfung, ob der gesetzgeberische Zweck durch eine alternative Verhaltenspflicht des Bürgers in gleicher Weise erreicht werden kann und ob eine solche Verhaltensalternative für das staatliche Gemeinwesen tragbar ist. 1 2 1 2 Die Fragen der Gleichwertigkeit und der Tragbarkeit von staatlich zu eröffnenden Alternativen enthalten - wie die nach der Zumutbarkeit der vom Bürger selbst zu ergreifenden Verhaltensalternativen 1213 - ein wertendes Element, dessen Ausfüllung dem Rechtsanwender obliegt. 1206 Zur Herleitung vgl. ο. 1. a), S. 269 ff. 1207 Jarass, Art. 4, Rdn. 17. 1208 Schwabe, Glaubensfreiheit, S. 383. Daneben kann allenfalls noch die Wesensgehaltsperre des Art. 19 II GG Bedeutung erlangen. Die übrigen sog. Schranken-Schranken (etwa Art. 19 I 1,2 GG) sind wegen des Einzelfallbezugs der Gewissensfreiheit praktisch bedeutungslos oder gar nicht anwendbar. Podlech, Das Grundrecht, S. 37; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 286. 1209 Vgl. Ossenbühl, Vorrang, Rdn. 2 m.w.N. 1210 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 289, 290. An den Gesetzgeber können sich nur objektiv-rechtliche Gehalte der Gewissensfreiheit richten. Vgl. o. Teil 2, A.I.2., S. 100 ff. 1211 Der Rechtsanwender hat die Grundentscheidung des Gesetzgebers, einen Verhaltensbeitrag des Bürgers zu fordern, auch wegen Art. 3 I GG in jedem Falle zu respektieren. 1212 Vgl. dazu ο. Α.Π.3., S. 147 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Bereits angesprochen 1214 wurden arbeitsrechtliche Drittwirkungsfälle der Gewissensfreiheit, in denen es für den Arbeitgeber zumutbar (tragbar) ist, dem Arbeitnehmer dadurch Verhaltensalternativen zu eröffnen, daß er ihm eine andere Arbeit zuweist. 1215 Das ist auch abhängig von der Art der Arbeitstätigkeit: Einen Buchdrucker etwa kann man häufig ohne erhebliche Mühe und Interessenseinbuße an einer anderen Druckmaschine einsetzen, einen Hafen- oder Werftarbeiter an einem anderen Schiff. Für den Staat ist die Eröffnung von Verhaltensalternativen tragbar in Fällen gesetzlich vorgeschriebener Eide, die - ohne Aufgabe staatlicher Interessen - durch Beteuerungsformeln (eidesgleiche Bekräftigungen) ersetzt werden können. 1216 Jedenfalls konkret zu prüfen ist die personelle und finanzielle Tragbarkeit einer alternativen Organisation des schulischen Sportunterrichts (nach Geschlechtern getrennt), wenn damit durch religiöse Bekleidungsvorschriften bedingte Gewissenskonflikte gelöst werden können. 1217 Keine staatliche Alternative gibt es wohl zum rechtlich geforderten Paßfoto, wenn islamische Bekleidungsvorschriften einer Frau die Verschleierung vorschreiben; 1218 anders liegt aber bereits der von einem New Yorker Gericht entschiedene Fall, 1 2 1 9 in dem sich ein orthodoxer Rabbi aus religiösen Gründen nicht daran gehindert sah, sein Gesicht zu zeigen, sondern nur daran, seine Barthaare zu rasieren: Nachdem er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, brachte ihn das in Konflikt mit einer Strafvollzugsnorm, die ein Foto mit bartlosem Gesicht vorschrieb. Die Konfliktlösung ermöglichte eine Computersimulation der verdeckten Gesichtspartien. Von Bedeutung und exemplarischem Wert ist die konkrete Prüfung staatlicher Alternativen auch in den Fällen von Biologie- oder Medizinstudenten, die aus Gewissensgründen die aktive Teilnahme an Praktika ablehnen, in denen mit zu diesem Zwecke getöteten Tieren zu arbeiten i s t . 1 2 2 0 Gelingt hier die Darlegung eines ausweglosen (auch nicht durch Studienortwechsel zu umgehenden) und existentiellen Gewissenskonflikts und kann der Student konkrete Alternativleistungen für die von ihm abgelehnten Übungsteile anbieten, 1221 dann haben sich die Universität 1213 S. o. B.I.3.a)bb), S. 238 ff. 1214 S. o. I.3.C), S. 260 ff. m.w.N.

1215 In diesen Drittwirkungsfällen obliegt die rechtliche Prüfung der Gleichwertigkeit und Tragbarkeit für den Arbeitgeber freilich letztlich dem staatlichen Gericht. 1216 BVerfGE 33, 23 (32 ff.); 79,69 (76). 1217 BVerwGE 94, 82 (89). Wesel, Turnvater Jahn, S. 1389 f. Vgl. Hennecke, Rechtsprobleme religiöser Minderheiten im öffentlichen Schulwesen der Bundesrepublik Deutschland, Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 8 (1995), S. 83 ff. (89 ff., 92 ff.). Vgl. o. Β) I) 3) a) bb), S. 245 ff. auch zu Alternativen des Schülers (weite Kleidung usf.). 1218 Vgl. die Fälle auf S. 245 f. 1219 FAZ v. 31. 12. 1994, S. 11. 1220 Vgl. o. I.3.a)bb), S. 242 ff. zu Alternativen der Studenten. 1221 Zu den hohen Anforderungen des BVerwG daran s. o. I.3.a)bb), S. 242 ff. Kritisch insofern Brandner, Zoologisches Praktikum - Verweigerung der Teilnahme an Tierversuchen, NJ 1998, S. 99.

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und der einzelne Hochschullehrer ihrerseits mit den angebotenen oder vorgeschlagenen Alternativen substantiiert auseinanderzusetzen. 1222 Solche gewissensschonenden Alternativen können ζ. B. sein: Computersimulationen, Lehrfilme, Arbeiten am Modell, an Organen von zum Verzehr getöteten Schlachttieren oder von Kadavern aus Tierkliniken u s f . 1 2 2 3 Die Universität und der einzelne Hochschullehrer dürfen solche Alternativen nicht pauschal unter Hinweis auf einen ihnen zustehenden wissenschaftlich-pädagogischen Beurteilungsspielraum zurückweisen, und auch die streitentscheidenden Gerichte haben zumindest die Einhaltung der rechtlichen Grenzen dieses Beurteilungsspielraums, die neben dem Tierschutzgesetz auch durch die Grundrechte der Studenten (Art. 4 I GG) gezogen werden, zu überprüf e n ; 1 2 2 4 sie dürfen insbesondere nicht deswegen generell Beweisanträge über die sachliche Erforderlichkeit von Tierversuchen zurückweisen. 1 2 2 5 Das heißt zunächst, daß der einzelne Hochschullehrer zu prüfen hat, ob er im Rahmen einer bestehenden Veranstaltung angebotene Alternativleistungen akzeptieren kann und wie weit er seine - grundrechtlich durch Art. 5 III 1 GG (Lehrfreiheit) geschützten - Vorstellungen über eine optimale Vermittlung des Unterrichtsstoffs angesichts eines konkreten Gewissenskonflikts (Art. 4 I GG) zurückstellen muß. 1 2 2 6 Dabei hat er zu berücksichtigen, daß es nicht um eine Modifikation von Lehrinhalten, sondern nur von Lehrmethoden geht. 1227 Hält er solche Alternativen im bestehenden Veranstaltungsrahmen für nicht tragbar, hat die Universität entsprechende Alternativen durch ein verändertes Lehrangebot zu prüfen. Dabei kann sie sich (wie der einzelne Veranstaltungsleiter) nicht pauschal auf ein Bedürfnis nach „Einheitlichkeit der Ausbildung"1228 zurückziehen; sie muß zumindest aufschlüsseln, worin dieses Bedürfnis besteht und welches Gewicht es hat. Berücksichtigen muß sie dabei vor allem Grundrechte Dritter, zu deren Achtung (und Schutz) sie verpflichtet ist. Alternativen zu Tierversuchen können aber, wenn sie hinsichtlich der Anforderungen gleichwertig 1222 BVerwG, U. v. 18. 6. 1997, NVwZ 1998, S. 853 ff. (insbes. 856 f. und LS 2). Vgl. Beschl. v. 17. 12. 1997, NVwZ 1998, S. 858 ff. 1223 Vgl. Brandhuber, Kein Gewissen, S. 729 mit FN 44 m.w.N.; VGH Mannheim, U. v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. (358). 1224 VGH Kassel, U. v. 12. 12. 1991, NJW 1992, 2373 f. (2374); VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (191). 1225 So aber VGH Mannheim, U. v. 15. 11. 1983, NJW 1984, S. 1832 ff. (1834). Vgl. auch noch VGH Mannheim, U. v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. (357) im Rahmen einer „eingeschränkten" Prüfung. Weitere Nachw. bei Brandhuber, Kein Gewissen, S. 726 f. mit FN 7 f. Vgl. dagegen etwa BVerwG, U. v. 18. 6. 1997, NVwZ 1998, S. 853 ff. (858, 855 f.); VGH Kassel, U. v. 12. 12. 1991, NJW 1992, S. 2373 f. (2374). 1226 Der Hochschullehrer tritt dem Studenten bei der Ausgestaltung des in Prüfungsordnungen als Pflichtveranstaltung vorgesehenen Praktikums als grundrechtsgebundener Hoheitsträger gegenüber. Gleichzeitig ist er gegenüber der Universität Träger des Grundrechts aus Art. 5 III 1 GG. Seine Stellung als zugleich Grundrechtsverpflichteter und Grundrechtsberechtigter ähnelt ζ. B. der Stellung des Arbeitgebers in Drittwirkungsfällen. Die Kritik an der Anwendung von Art. 5 III GG bei Cirsovius (zur Frage, ob Studenten die Teilnahme an Tierversuchen oder Versuchen an sogenannten frischtoten Tieren verweigern können, NuR 1992, S. 65 ff. (67 f.)) greift nicht. 1227 Vgl. VG Frankfurt, U. v. 24. 10. 1990, NJW 1991, S. 768 ff. (770). 1228 Vgl. VGH Mannheim, U. v. 29. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. (358).

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

sind, nicht mit dem Recht auf „Chancengleichheit" (Art. 3 I GG) der übrigen Studenten zurückgewiesen werden; 1229 entgegenstehen könnte jedoch das Interesse 1230 der übrigen Studenten an einer optimalen (d. h. u. U. Tierversuche einbeziehenden) Ausbildung, wenn die Universität - aus finanziellen oder personellen Gründen - vor der Alternative steht, ein Praktikum entweder mit oder ohne Tierversuche zu gestalten, so daß ein Teil der Studenten unfreiwillig auf ein Ausbildungsangebot verzichten müßte. Besonderes Gewicht hat die Berücksichtigung der von einem alternativen Lehrangebot betroffenen Hochschullehrer, deren Forschungs- und Lehrfreiheit (Art. 5 III 1 GG) die Universität zu gewährleisten hat: 1231 Werden sie generell zu Unterrichtsmethoden gezwungen, die sie für ungeeignet halten, oder dazu gezwungen, diefragliche Lehrveranstaltung gar nicht mehr abzuhalten (also dann, wenn das alternative Lehrangebot kein zusätzliches ist!), werden ihre grundrechtlich geschützten Interessen erheblich beeinträchtigt. Solche Alternativen sind regelmäßig nicht tragbar. Hält die Universität solche Alternativen an Stelle der bisherigen Praxis nicht für tragbar, hat sie sich aber mit Möglichkeiten eines zusätzlichen Lehrangebots auseinanderzusetzen. Deren Tragbarkeit ist freilich nicht ohne Beachtung der konkreten Kosten und der konkreten Haushaltslage zu beurteilen; 1232 die Universität kann aber auf der anderen Seite zusätzliche materielle Leistungen nicht einfach mit dem Hinweis darauf versagen, Art. 4 I GG vermittelte ein Abwehrrecht und keinen Leistungsanspruch.1233 Der Bürger hat i m Rahmen des von ihm darzulegenden, zu begründenden und zu beweisenden Grundrechtstatbestands u. a. auszuschließen, daß ihm selbst zumutbare Verhaltensalternativen offenstanden oder -stehen. 1 2 3 4 I m Rahmen der Gmnàvtohisschranken ist es hingegen, wenn der Staat seinerseits keine tragbaren gleichwertigen neuen Verhaltensaltemativen eröffnen kann, an den gesetzesanwendenden staatlichen Organen, dies darzulegen und zu begründen (Argumentationslast), vor allem, sich mit konkreten Alternativforderungen des Bürgers auseinanderzusetzen. 1 2 3 5

1229 vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 12. 5. 1987, NuR 1988, S. 348 ff. (350). 1230 Einen Rechtsanspruch auf optimale Ausbildung aus Art. 12 I GG nimmt der VGH Mannheim, U. v. 15. 11. 1983, NJW 1984, S. 1832 ff. (1834) an. Dagegen VGH Kassel, Beschl. v. 12. 5. 1987, NuR 1988, S. 348 ff. (350). Vgl. auch VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (190). 1231 Vgl. BVerwG, U. v. 18. 6. 1997, NVwZ 1998, S. 853 ff. (855). 1232 VGH Mannheim, U. v. 29. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. (356); VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (193 f.). Dagegen Brandhuber, Tiertötungen, S. 644 f. 1233 Vgl. VG Frankfurt, U. v. 24. 10. 1990, NJW 1991, S. 768 ff. (770) mit Verweis auf den Schutzauftrag des Art. 112 GG. 1234 s. o. I.3.a)bb), S. 235 ff. 1235 Vgl. o. 1.3.c), S. 260 ff. zu konkreten Forderungen nach Ermöglichung einer ,Rüstungssteuerverweigerung 4.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht b)

Zumutbarkeit

281

1236

Ist der Gewissenskonflikt weder vom Bürger noch vom Staat durch zumutbare bzw. tragbare Verhaltensalternativen zu lösen, ist es schließlich unumgänglich, das rechtlich geforderte Verhalten selbst darauf zu befragen, ob es für den Grundrechtsträger zumutbar ist oder - auf der anderen Seite - für die staatliche Allgemeinheit verzichtbar ist, d. h. ob i m Einzelfall eine ersatzlose Nichtanwendung des Rechts, ein Dispens ohne Belastungsausgleich tragbar i s t . 1 2 3 7 Auch diese Frage ist angesichts des konkreten Konflikts und angesichts der Intensität der konkreten Grundrechtsbetroffenheit vom Rechtsanwender zu beantworten. Freilich bleibt der normative Konflikt zwischen einer rechtlich anerkannten Gewissenspflicht (Art. 4 I GG) und einer entgegenstehenden Rechtspflicht (Art. 136 I W R V ) als solcher unlösbar; ein Rangverhältnis oder ein abstrakter Vorrang bestehen weder für die eine noch für die andere. 1 2 3 8 Das Abstellen auf die Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ermöglicht jedoch eine pragmatische Lösung, indem es den ideellen Normkonflikt reduziert auf mitkonfligierende materialisierbare Interessen und den Konflikt damit wiederum (wie bei der Alternativensuche) gleichsam auf »Nebenschauplätze4 verlagert. Der „ethische Dissens" wird auf einen „distributiven D i s s e n s " 1 2 3 9 reduziert. Dadurch ist die Grundrechtsbetroffenheit in ihrer Intensität auch durchaus abstufbar. Zwar geht es auf dieser E b e n e 1 2 4 0 der

1236 „Zumutbarkeit" steht hier für die Verhältnismäßigkeit i.e.S. / Angemessenheit/Proportionalität der Rechtsanwendung. Das Kriterium der „Zumutbarkeit" ist stärker auf die Perspektive des Betroffenen/Grundrechtsträgers und stärker auf den Einzelfall ausgerichtet (Albrecht, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, 1995, S. 42 ff., 83 ff., 242: „Einzelfallkorrektiv" bei individuellen Härten; Kreation von ,Ausnahmetatbeständen" für atypische Sonderfälle. Zur Parallele der strafrechtlichen Figur einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens vgl. ebd., S. 30 ff. Vgl. o. B.I.3.b)). Vgl. Ossenbühl, Zumutbarkeit als Verfassungsmaßstab, in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, S. 315 ff. (316 ff.); Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989, S. 9 ff. „Zumutbarkeit" zielt zudem mehr auf eine „Erträglichkeitsgrenze " als auf einen - bei der Suche nach praktischer Konkordanz angestrebten - „Optimierungspunkt" (vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 835 m.w.N.). Ob „Zumutbarkeit" als ein eigenständiger Verfassungsmaßstab neben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betrachtet werden muß (so Ossenbühl und Albrecht a. a. O.) oder als dessen besondere Ausprägung für bestimmte Grundrechte, sei hier dahingestellt. Albrecht (a. a. O., S. 131 ff. (132, 135, 137 f.)) hat jedenfalls die Besonderheiten in der praktischen Anwendung gerade anhand der Rechtsprechung des BVerfG zur Glaubens- und Gewissensfreiheit deutlich herausgearbeitet: Das Gericht nimmt eine Abwägung von Gewissensfreiheit und konfligierenden Belangen vor, ohne jedoch von vornherein eine Angemessenheitsbeziehung im Sinne einer „Eingriffsrelation von Opferwert und Zielwert" herzustellen; es nimmt vielmehr zunächst die Zwangssituation des Grundrechtsträgers isoliert in den Blick. 1237

Zur Frage der Anerkennung einer Dispensmöglichkeit vgl. auch A. Arndt, S. 2205; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61 („Entpflichtung"); Muckel, Religiöse Freiheit, S. 160 („Exemtion"); Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 28 f., 32,40 (Freistellung), Denninger, Ortsbestimmung des Gesetzes, JA 1993, S. 264 ff. (269). 123 8 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 19; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 28. 1239 Vgl. dagegen Tiedemann, Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 371 f.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Grundrechtsanwendung tatsächlich nur noch darum, ob das gewissensgeforderte Verhalten zuzulassen ist oder nicht, insofern um ein „Entweder-Oder", 1 2 4 1 so daß „praktische Konkordanz" oder ein „schonender A u s g l e i c h " 1 2 4 2 zwischen kollidierenden Interessen durch teilweisen Verzicht, kompromißhaftes gegenseitiges Nachgeben kaum noch hergestellt werden k a n n . 1 2 4 3 Das nimmt jedoch dem Rechtsanwender nicht die Möglichkeit, i m Rahmen der zu treffenden Vorrangentscheidung Gewichtungen vorzunehmen. 1 2 4 4 So kann er die Bedeutung des gewissensgeforderten Verhaltens für den Grundrechtsträger, für die „Konstituierung bzw. Dekonstituierung der P e r s o n " 1 2 4 5 , die »Verfassung der Person*, anhand derjenigen objektiven Indizien (und materialisierbaren Interessen) gewichten, die bereits für die forensische Feststellung einer existentiellen Gewissensposition iSd. Art. 4 I GG herangezogen werden müssen. Selbst wenn man eine solche Gewichtung für unmöglich hielte, stünde das der Möglichkeit einer Abwägung nicht entgegen: Auch ein ,Alles-oder-Nichts-Recht' wie ζ. B. das Grundrecht auf Leben (Art. 2 II 1 GG) ist grundrechtlichen Abwägungen zugänglich, da man die kollidierenden Rechte und Interessen gewichten kann. 1246 Die Schutzwürdigkeit einer Gewissensposition ist abzustufen n a c h 1 2 4 7 - dem Maß der affektiven

Bindung,

- der Bedeutung der aktuellen sozialen Bindungen, von denen die Gewissensposition mitgetragen wird, - dem Grad ihrer Einbindung in ein individuelles Weltbild ( „ Überzeugung "), - dem Grad ihrer Einbindung i n eine feste

Lebenspraxis.

1248

1240 Für Kompromißlösungen durch alternative Verhaltensformen mögen etwa die zitierten Beispiele zu den Tierversuchen stehen. Die Bedeutung „gewissensschonender Alternativen" betont auch Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1037. 1241

Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1036 f. 1242 Darauf zielen etwa Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 28 m.w.N.; Kästner, Individuelle Gewissensbindung, S. 147. Vgl. die Darstellung bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152. 1243 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 221. Abgeschwächt ebd., S. 283, 294. Vgl. Rupp, Verfassungsprobleme, S. 1036 f. Konzen/Rupp, Gewissenskonflikte, S. 82 ff.; Derleder, Arbeitsverhältnisse, S. 196; Muckel, Religiöse Freiheit, S. 259. Vgl. auch Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 33. 1244 Solche Gewichtungen finden sich in anderem Zusammenhang auch im Grundrechtsmodell Herdegens. Vgl. Gewissensfreiheit und Normativität, S. 148, 153, 262, 290, 292, 312; Gewissensfreiheit und Strafrecht, S. 102, 116. Vgl. allg. Stern, Staatsrecht III/2, S. 819 ff. 1245 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 22 f.; Isak, Das Selbstverständnis, S. 264; Rudolphi, Die Bedeutung, S. 615. Zu „Graden der Intensität" der Gewissenserfahrung vgl. auch Weischedel, Skeptische Ethik, § 60. Zu Recht wird teilweise die Feststellung einer anerkennungsfähigen Gewissensentscheidung überhaupt von deren „Gewicht" für den Grundrechtsträger abhängig gemacht; Starck, Art. 4, Rdn. 36.

1246 Vgl. etwa BVerfGE 88, 203 (255) oder die Diskussion um den sog. polizeilichen Todesschuß. Vgl. insoweit auch Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 283, 294. 1247 Vgl. o. I.3.a)cc), S. 248 ff. Freilich werden in der Regel nur einzelne der Kriterien praktisch zu konkretisieren sein.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

283

Daneben kommt auch das Kriterium der „Nähe" des rechtlich geforderten Verhaltens zu einem eigentlich gewissensmäßig abgelehnten Erfolg in Betracht. 1249 In eine Abwägung sind eventuell 1250 auch konkurrierende, den Grundrechtsschutz verstärkende weitere Grundrechte (u. U. auch Art. 2 Π 1 oder Art. 1 I GG) des Grundrechtsträgers einzustellen; größte Vorsicht ist jedoch geboten bei einer verstärkenden Einbeziehung sonstiger objektiver „Werte mit Verfassungsrang", 1251 denen sich die fragliche Gewissensüberzeugung verpflichtet weiß. Dies führt erstens fast zwangsläufig zu Konstruktionen neuer „Werte mit Verfassungsrang" (beispielsweise dem des Tierschutzes 1252 ), und zweitens steht es in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum grundsätzlichen Verbot einer inhaltlichen Bewertung von Gewissenspositionen durch den Staat 1253 (ein Gericht darf seine Entscheidung beispielsweise nicht darauf stützen, daß das Anliegen des Lebensschutzes, des Umweltschutzes oder Tierschutzes usf. zu honorieren sei). 1 2 5 4 Zu gewichten sind auf der anderen Seite Interessen der Allgemeinheit (und anderer Privater) an einer Befolgung der kollidierenden Rechtspflicht (Art. 136 I WRV). Einer Gewichtung zugänglich sind vor allem kollidierende (durch die Rechtspflicht geschützte oder unabhängig davon vom Staat zu schützende) Grundrechte Dritter. Aber auch das Interesse der Allgemeinheit an der Funktionsfähigkeit staatlicher Einrichtungen (beispielsweise der Rechtspflege) kann unterschiedlich stark betroffen sein und ist daraufhin zu konkretisieren; ein pauschaler Hinweis auf den „Verfassungsrang" einer Einrichtung ist - bei einer Anwendung von Art. 136 I 1248 in den Fällen der Tierversuche beispielsweise konnte ein Gericht feststellen, daß eine Studentin ihre Lebensführung konsequent als Vegetarierin organisiert; VGH Kassel, U. v. 12. 12. 1991, NJW 1992, S. 2373 (2374). 1249 Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 262. In den Tierversuchsfällen haben Gerichte etwa darauf abgestellt, daß von Studenten nicht verlangt wird, Tiere eigenhändig zu töten (VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (193, 194); VGH Mannheim, U. v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 (358)). Das Argument greift hier allerdings kaum, da dem Studenten nur ein einzelner Arbeitsschritt durch Universitätsmitarbeiter abgenommen wird. 1250 Zur Frage der Grundrechtskonkurrenz vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1366 ff. 1251 Ebd., S. 677 f. m.w.N. 1252 Versuche, dem „ethischen Tierschutz" weiter als vom Gesetzgeber realisiert Rechtscharakter auf der inhaltlich allgemeinen Ebene des Verfassungsrechts zu verschaffen, etwa bei Brandhuber, Kein Gewissen, S. 727 f. m.w.N. Dagegen ζ. B. VGH Mannheim, U. v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. (357); VGH München, U. v. 29. 4. 1992, NVwZ-RR 1993, S. 190 ff. (193). 1253 Vgl. B.I.l), S. 167 ff. 1254 So aber beispielsweise für den Tierschutz v. Loeper, Studentische Gewissensfreiheit, S. 226 f. Auf der anderen Seite kann selbstverständlich - ζ. B. in den Fällen rituellen Schächtens von Tieren - die Entscheidung des (einfachen) Gesetzgebers für den Tierschutz im Rahmen des Art. 136 I WRV als Grundrechts schranke Berücksichtigung finden. Im Setzen und Gewichten von Grundrechtsschranken liegt auch eine gewisse, aber nicht zu vermeidende inhaltliche Bewertung von Gewissenspositionen aus der Perspektive der Rechtsordnung; vgl. Rudolphi, Die Bedeutung, S. 615 f. mit FN 53.

284

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

WRV - weder notwendig noch hinreichend. Das Gewicht der Rechtsbefolgungspflicht kann auch danach divergieren, ob das Gewissen des Grundrechtsträgers lediglich ein Unterlassen fordert oder ein aktives Tun; im ersteren Fall kann der verweigerte Handlungsbeitrag oft ersetzt werden, im letzteren Fall kann die aktive Veränderung von Zuständen durch den Grundrechtsträger zu erheblicheren Beeinträchtigungen führen. 1255 Relevanz kann auch der Zeitpunkt des Verhaltens und der Geltendmachung des Grundrechts erlangen: Wer etwa einen staatlichen Auftrag zu erfüllen hat, kann ihn u. U. nicht während seiner Ausführung verweigern oder während eines Verfahrens, das der Anerkennung einer Gewissensposition dient; 1 2 5 6 die Rechtsbefolgungpflicht kann in einer „Krisenzeit" für den Staat von besonderer Bedeutung sein. 1 2 5 7 Dieses Kriterium kann ineinandergreifen mit dem der zahlenmäßigen Inanspruchnahme des Grundrechts der Gewissensfreiheit. 1258 Zwar ist dieser quantitative Aspekt für sich genommen irrelevant und kann sogar Indiz dafür sein, daß die Rechtspflicht auch gegen die objektiv-rechtlichen Gehalte der Gewissensfreiheit verstößt, 1259 die quantitative Zunahme der Verweigerung einer bestimmten Rechtspflicht kann aber dennoch auch qualitativ erheblichere Gefährdungen hervorrufen - deutlich etwa in dem (heute wenig aktuellen) Beispiel einer Seuchengefahr durch massenhafte Verweigerung der Impfpflicht. 1260 Von Bedeutung sind schließlich neben den hinter der Rechtspflicht stehenden materiellen Interessen an der Rechtsbefolgung (v. a. Grundrechten Dritter und anderen - kollektiven - materiellen Verfassungsgütern) auch „formelle Prinzipien": 1261 - an erster Stelle die Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers 1262 und die allgemeine staatsbürgerliche Pflicht zur Rechtsbefolgung selbst 1263

1255 Vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 282 f.; Freihalter, S. 237 f.; Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 179.

Gewissensfreiheit,

1256

Podlech, Das Grundrecht, S. 134 f. zur Kriegsdienstverweigerung; Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 237 f. 1257 Ebd. 1258 Vgl. BVerfGE 33, 23 (32) zu Toleranz gegenüber „zahlenmäßig nicht ins Gewicht44 fallenden Minderheiten. Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 233, 238; Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 238. Offenlassend H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 491, 501. Gegen dieses Kriterium Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 45. 1259 Vgl. Preuß, AK, Art. 4, Rdn. 45. 12» Herzog, Art. 4, Rdn. 157; Starck, Art. 4, Rdn. 56. 1261 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 89 f., 118 ff. (120), 267 (vgl. ebd., S. 76 mit FN 24); ders., Rechtssystem und praktische Vernunft, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 213 ff. (224, 231); Beispiele zur Gewissensfreiheit bei Κ D. Bayer, Das Grundrecht, S. 246 f., 252 ff. i 2 * 2 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 89; ders., Rechtssystem, S. 224, 231. 1263 Vgl. o. A.I.l.b), S. 93 ff.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

285

- aber auch das Prinzip, von einer tradierten Praxis nicht ohne Grund abzuweic h e n 1 2 6 4 , oder - in Drittwirkungsfällen - der Grundsatz ,pacta sunt servanda'! - Zu solchen formellen Prinzipien kann man auch das aus Art. 3 I GG abzuleitende Prinzip der Rechtsanwendungsgleichheit 1265 rechnen. Diese Prinzipien behalten ihr Gewicht auch gegenüber den einzelnen Freiheitsrechten des Grundgesetzes, können diese aber wegen der umfassenden unmittelbaren Rechtsgeltung der Grundrechte (Art. 1 Ι Π GG) nicht generell neutralisieren. Sie sind danach zu gewichten, welchen Rang die von ihnen gestützte Rechtspflicht (Art. 136 I W R V ) in der Normenhierarchie einnimmt und welche tatbestandliche Nähe zu dem konkreten Anwendungsfall sie aufweist: Die ausnahmsweise Nichtanwendung einer ausdrücklichen (tatbestandlich eindeutigen) gesetzlichen oder sogar verfassungsgesetzlichen 1266 Regelung stellt höhere Anforderungen an die Grundrechtsbetroffenheit als etwa eine Ausnahme bei der analogen Anwendung einer Rechtsverordnung, bei der Anwendung einer generalklauselartig gefaßten Verwaltungvorschrift oder bei einer bloßen gefestigten Verwaltungspraxis. 1 2 6 7 Diese Gewichtung trägt dazu bei, daß eine ersatzlose Freistellung von unmittelbar im (Parlaments-)Gesetz geregelten Verhaltenspflichten - wie in der bisherigen Praxis des Grundrechts - die Ausnahme bleiben wird. 1 2 6 8 Ebensowenig wie die Vorschrift des Art. 1361 WRV begründet sie aber eine abstrakte Vorrangvermutung zugunsten der Grundrechtsschranken. 1 2 6 9 Auch die häufig betonte Orientierung des Grundrechts auf den „Einzel- und Ausnahmefall" 1270 begründet eine solche Vorrangvermutung nicht: Die Beschränkung auf den Ausnahme- oder „exzeptionellen Konfliktfair 1271 beruht vielmehr auf den Begrenzungen des 1264 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 89. 1265 Man kann es auch als kollidierendes materielles Grundrecht (Art. 3 I GG) Dritter fassen. 1266 Denkbar etwa für verfassungsgesetzlich begründete Grundpflichten wie Wehr- oder Wahlpflicht. 1267 Die Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht (BVerwGE 94, 82 ff.) würde ζ. B. höhere Anforderungen an die Grundrechtsbetroffenheit stellen, wenn der parlamentarische Gesetzgeber nicht nur allgemein über die Pflicht zur Unterrichtsteilnahme (ζ. B. § 8 ASchO NW) entschieden hätte, sondern den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Art. 7 I GG auch hinsichtlich des Sportunterrichts oder sogar seiner Gestaltung selbst konkretisiert hätte (wie etwa im Fall des Sexualkundeunterrichts, vgl. BVerfGE 47,46 (59 f., 78 ff.). 1268 Einen Ansatz für die von der Rechtsprechung zu leistende Falltypologie (vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 235 ff.; Muckel, Religiöse Freiheit, S. 241 ff., 277 ff.) kann man darin sehen, daß vom Gesetzgeber kriminalstrafrechtlich sanktionierte Verhaltenspflichten in aller Regel so gewichtige Interessen schützen, daß ein Dispens nicht in Betracht kommt. Vgl. Η. Η. Klein, Gewissensfreiheit, S. 501; Starck, Art. 4, Rdn. 52. 1269 s . o . l . a ) , S. 267 ff. 1270 Hellermann, Die sogenannte negative Seite, S. 178 f.; ders., Multikulturalität und Grundrechte - am Beispiel der Religionsfreiheit, in: Chr. Grabenwarter u. a. (Hrsg.), Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 129 ff. (138).

1271 Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 32. Vgl. Muckel, Religiöse Freiheit, S. 156; Denninger, Ortsbestimmung des Gesetzes, JA 1993, S. 246 ff. (269).

286

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Schutzbereichs; 127 2 die Beschränkung auf den Einzelfall beruht auf den modifizierten Rechtsfolgen der Gewissensfreiheit, die die generelle Gültigkeit einer gewissenswidrigen Norm unberührt lassen.1273

Tritt die Gewissensfreiheit gegenüber ihren Schranken zurück, bleibt für den Rechtsanwender das spezielle „Wohlwollensgebot" gegenüber gewissensgefordertem Verhalten zu beachten, wo er die ihm zustehenden Gestaltungsspielräume ausfüllt (bei der Auslegung, Vollstreckung oder Sanktionierung von Rechtspflichten). 1 2 7 4 Ist dagegen das Befolgen der Rechtspflicht unzumutbar, hat er in unmittelbarer Anwendung des Art. 4 1 GG als höherrangigem Recht eine Ausnahme von der Anwendung und Durchsetzung der Rechtsnorm zu gewähren. Diese Nichtanwendung ist allein auf den singulären, den Gewissenskonflikt erst offenbarenden Einzelfall bezogen; sie ist nicht Ausdruck einer Teil-Nichtigkeit oder Teil-Unvereinbarkeit der Norm (die jeweils typisierte Fallgruppen voraussetzen),1275 sondern enthält überhaupt keine qualifizierende Aussage über die Norm, keinen ,Vorwurf an den Gesetzgeber4! Eine „Umgehung des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 G G 4 4 1 2 7 6 stelle sie schon deswegen nicht dar, weil eine Verwerfung der generellen Norm aufgrund eines singulären Gewissenskonflikts gar nicht in Betracht käme; der subjektiv-rechtliche Gehalt der Gewissensfreiheit ist ganz auf die Konfliktlösung im Einzelfall reduziert. Art. 1 III GG verpflichtet und ermächtigt alle Gerichte und Verwaltungsbehörden zur Grundrechtsanwendung. Die werden diesem Auftrag bei anderen Grundrechten vor allem dadurch gerecht, daß sie, wenn sie einen Grundrechtsverstoß feststellen, eine konkrete oder abstrakte Normenkontrolle herbeiführen. 1277 Das Bundesverfassungsgericht sichert dann die Übereinstimmung abstrakt-genereller Rechtsnormen mit den abstrakt-generellen Gehalten der Grundrechtsnormen. Unter dieser Bedingung erscheint gerade die strikte Gesetzesbindung von Verwaltung und Gerichten als Realisierung auch ihrer Grundrechtsbindung (Art. 1 III GG). 1 2 7 8 Entfällt diese Bedingung aber, lebt die unmittelbare Grundrechtsbindung der Rechtsanwender wieder auf. 1 2 7 9 1272 So auch Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 28 f., 32; Muckel, Religiöse Freiheit, S. 156 ff.; Hellermann, Multikulturalität, S. 138. 1273 Vgl. BVerfGE 33, 23 (32); Hellermann, Multikulturalität, S. 138; Denninger, Ortsbestimmung, S. 269; E.-W. Böckenförde, Das Grundrecht, S. 61 mit FN 84. 1274 BVerfGE 23, 127 (134 f.); BVerwGE 93, 323 (340). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 291 ff. 1275 Darin liegt auch ein erheblicher Unterschied zur Rechtsprechung des BVerfG (E 53, 366 (367 f., 407)) zu Art. 140 GG iVm. Art. 137 III WRV (vgl. zu dieser Parallele Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 226, 286). Die Ausgrenzung einzelner Anwendungsfälle ist vielleicht am ehesten als eine besondere, durch Art. 4 I GG geforderte Form der,verfassungskonformen Anwendung* von Gesetzen zu begreifen. 1276 Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 293. 1277 Behörden auf dem Remonstrationswege; Stern, Staatsrecht III /1, S. 1347, 1349. 1278 Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR V, § 117, Rdn. 13 f., 20. Vgl. aber auch Rdn. 30 zum unmittelbaren Rückgriff auf Grundrechte. 1279 Zur Diskussion um die Reichweite unmittelbarer Grundrechtsbindung vgl. Stern, Staatsrecht III /1, S. 1343 ff. (1345 ff.) m.w.N.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Wie die Rechtsqualität („Geltung") einer Norm nicht abhängig ist von ihrer tatsächlichen Befolgung durch die Rechtsunterworfenen in jedem Einzelfall, sondern nur von ihrer generellen Befolgung in einem Gemeinwesen,1280 so verträgt auch der (auf lückenlose Rechtsanwendung bedachte) Staat innerhalb seiner Rechtsordnung Elemente, die ihn von einer ausnahmslosen tatsächlichen Durchsetzung der übrigen Rechtsordnung in begrenzten Fällen absehen lassen. Wenn er in dieser Weise abweichendes Verhalten toleriert, 1281 macht er die „Geltung" seines Gesetzes nicht von der „Gewissensbildung des einzelnen" abhängig.1282 Ein dem hier vorgestellten i m wesentlichen entsprechendes Abwägungs- und Dispensmodell verfolgt auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts:1283 i m Fall der Kriminalbeamtin, die das Tragen einer Schußwaffe verweig e r t , 1 2 8 4 in Fällen von Soldaten, die durch öffentliche Aufrufe zur Befehlsverweigerung oder Wehrdienstverweigerung die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr gefährden, 1 2 8 5 i m Fall der muslimischen Schülerin, die die Teilnahme am koedukativen Sportunterricht a b l e h n t 1 2 8 6 , sowie i m Fall der Biologiestudentin, die die Teilnahme an Tierversuchen verweigert. 1 2 8 7

1280 Vgl. etwa Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 1971, S. 15; dens., Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1989, S. 30 ff. 1281 Zur Verwurzelung der Gewissensfreiheit im Toleranzgedanken vgl. BVerfGE 33, 23 (32); Muckel, Religiöse Freiheit, S. 157 f.; Bethge, Gewissensfreiheit, Rdn. 32. 1282 Vgl. aber Welzel, Gesetz und Gewissen, S. 399 f. Zu Recht betont das BVerfG (E 67, 26 (37)), der einzelne könne seine persönliche Überzeugung nicht zum „Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung" machen; dies meint jedoch den Fall eines Grundrechtsträgers, dem es nicht um Dispens von eigenen Verhaltenspflichten geht, sondern allein um das Verhalten Dritter (hier das Zahlungsverhalten der Krankenkassen bei Schwangerschaftsabbrüchen). Vgl. Franke, Gewissensfreiheit, S. 38 f.; Isensee, Gewissen im Recht, S. 56. 1283 Vgl. BVerfGE 33, 23 (32); BSGE 61, 158 (161 ff.). Dem entspricht im wesentlichen auch die Rechtsprechung des Supreme Court in den Vereinigten Staaten; s. o. S. 204 m.w.N. 1284 BVerwGE 56, 227 (228 f.). 1285 BVerwGE 83, 358 (360 f.); 93, 323 (329 f.) mit Verweis auf Beschl. v. 30. 9. 1970-1 WDB 1 / 70. Das Gericht anerkennt hier ausdrücklich, daß das höhere Gewicht der Gewissensfreiheit in bestimmten Fällen sogar Soldaten zur Befehlsverweigerung berechtigen kann. 1286 BVerwGE 94, 82 (88 f., 91 f.). Zur Befreiung vom Sexualkundeunterricht vgl. VG Hannover, Beschl. v. 25. 5. 1992, KirchE 30, 248 (250). 1287 υ. v. 18. 6. 1997, NVwZ 1998, S. 853 ff. (Kritisch zu diesem dogmatischen Ansatz Caspar, Freiheit des Gewissens oder Freiheit der Lehre? - Zur Tierversuchsproblematik im Studium, NVwZ 1998, S. 814 ff. (816).)Vgl. auch den Fall des Nervenarztes, der aufgrund mangelnder fachlicher Fähigkeiten eine Teilnahme am allgemeinen ärztlichen Notdienst nicht verantworten zu können meint (BVerwGE 27, 303 (307 f.), wo der Schutz von rechtlich bedeutsamen „Gewissensentscheidungen" in Art. 2 I GG verlegt wird. Zur - wohl richtigeren - einfach-rechtlichen Lösung vgl. BVerwGE 41,261 ff.).

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

I I I . Sekundäre Grundrechtswirkungen Das Gewissen im Dialog Es hat sich gezeigt, daß man bei der Feststellung und Gewichtung grundrechtsrelevanter Gewissenspositionen auf vielfache Aspekte des Gewissensphänomens, auch auf mitbetroffene Integritätsinteressen zurückgreifen muß. Eine scharfe Trennung von handlungs- und integritätsrechtlichen Interessen ist nicht möglich. 1 2 8 8 Verhaltensalternativen und Dispens hängen ab von der Zumutbarkeit staatlichen Zwangs; sie sind keine Prämie für den Inhalt einer Gewissensüberzeugung. Ein Verständnis der Gewissensfreiheit als Handlungsrecht ist aber dennoch notwendig, um die überschießenden grundrechtlichen Gehalte erfassen zu können, den normativen Gewissensaspekt. Dieser realisiert sich auch in den, in juristischen Kategorien schwerer faßbaren, sekundären Grundrechtswirkungen, vor allem prozeduralen Grundrechtswirkungen - und zwar unabhängig davon, ob dem Grundrechtsträger im Ergebnis eine Verhaltensalternative, eine Freistellung oder auch nur eine sonstige meßbare Zurücknahme staatlicher Verhaltensbefehle, Vollstreckungs- oder Sanktionsmaßnahmen gewährt werden kann. Das Nebeneinander von materiellen und ideellen Interessen des Grundrechtsträgers, distributivem und ethischem Dissens, setzt sich im Prozeß der Rechtsanwendung fort: Der Rechtsanwender hat auch in der Art und Weise der Rechtsanwendung Integritätsinteressen zu wahren (etwa Rücksicht auf besondere Verletzlichkeiten zu nehmen), ein Stückweit aber auch den normativen Inhalt einer Gewissensposition aufzunehmen und darauf zu reagieren. Die Anwendung des Grundrechts und die Thematisierung des Gewissens können so, indem sie den - aus der Perspektive des Grundrechtsträgers wohl meist entscheidenden - ethischen Dissens in ein staatliches Verfahren aufnehmen, in vielen Fällen für sich schon einen Beitrag leisten zur Konfliktentschärfung. Sie dienen dem Grundrechtsträger wie der staatlichen Allgemeinheit, indem sie dem individuellen Gewissen die Möglichkeit eröffnen, aus einem womöglich engen Selbstoder Gruppenbezug in einen übergreifenden Dialog zu treten.

1. Gewissensfreiheit und Dialog Das wirft vorab die Frage nach der Oiaiogfahigkeit von Gewissenspositionen auf: Die Gewissensentscheidung wird häufig auch als Akt beschrieben, der „den Diskurs beenden läßt", 1 2 8 9 für Verständigung und Vergleich keinen Raum mehr »28« Vgl. o. B.I.2.c)aa), S. 193 ff. 1289 Spaemann, Moralische Grundbegriffe, S. 76 f.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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läßt; die Berufung auf das Gewissen in einer Konfliktsituation enthält aus dieser Perspektive „stets das Moment der unterbrochenen Kommunikation". 1290 Bleibt da noch Raum für einen Dialog? Zur Beantwortung dieser Frage muß man verschiedene Ebenen des Dialogs unterscheiden: Zuerst kann man das Gewissensphänomen selbst beschreiben und begreifen als „dialogische Situation im praktischen Bewußtsein des handelnden Individuums". 1291 Die Gewissensentscheidung kann in diesem Kontext für die Beendigung eines inneren Dialogs stehen. 1292 Auch der Prozeß der persönlichen Entscheidungsbildung wird in aller Regel bereits eingebettet gewesen sein in einen Prozeß zwischenmenschlichen Dialogs mit Bestärkungen und Konfrontationen; 1293 auch auf dieser Ebene steht die Gewissensentscheidung und die Berufung auf das Gewissen für das Beziehen eines endgültigen und meist nicht kompromißfähigen Standpunkts und u. U. auch für die Beendigung des sachlichen Dialogs mit widerstreitenden Standpunkten.1294 Die Berufung auf das Gewissen im Konflikt mit dem staatlichen Recht erfolgt dagegen in einer für den einzelnen vor allem insofern veränderten Situation, als er sich nicht mehr bloß impliziten oder expliziten Verhaltensansprüchen, sondern zwangsbewehrten Verhaltensbefehlen gegenübersieht. Das Recht will nicht, oder jedenfalls nicht nur, überzeugen, sondern auch zwingen. Thema eines möglichen Dialogs ist also nicht mehr nur die moralische Richtigkeit eines Verhaltens, ein ideelles Interesse, sondern daneben die Zumutbarkeit von Zwang, der materielle Interessen des einzelnen berührt. Letzteres tritt im Prozeß der Rechtsanwendung sogar in den Vordergrund, läßt sich aber für den einzelnen praktisch kaum ganz ablösen von der Frage nach der konkreten Legitimität des Zwangs und damit der inhaltlichen Richtigkeit von Verhaltensimperativen. Der 1290 Blank, Gewissen, S. 22 f. 1291 Kaulbach, Die Frage nach dem Gewissen im Aspekt analytischer Philosophie, in: J. Blühdorn (Hrsg.), Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 317 ff. (340). Vgl. ebd., S. 339. Vgl. die biblische Beschreibung im Römerbrief, 2, 15 (sich gegenseitig anklagende und verteidigende Gedanken). Insoweit zu Recht Tiedemann, Gewissensfreiheit, S. 372 f. 1 292 Spaemann, Moralische Grundbegriffe, S. 76 ff. Das Verfahren vor dem - so das durch Kant berühmt gewordene Sprachbild: - „inneren Gerichtshof 4 des Gewissens ist abgeschlossen. (Vgl. Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe hrsg. v. W. Weischedel, Bnd. VIII, Tugendlehre § 13, S. 572 ff.; Chr. Maurer, Art. „συειδησις44 in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bnd. VIII, 1964, S. 897 ff. (910). 1293 Vgl. Spaemann, Moralische Grundbegriffe, S. 76 ff. 1294 Vgl. Podlech, Der Gewissensbegriff im Rechtsstaat. Eine Auseinandersetzung mit Hamel und Witte, AöR 88 (1963), S. 185 ff. (200); dens., Das Grundrecht, S. 22 mit FN 18. Die bloße, jeden Dialog verweigernde Berufung auf das „Gewissen" wird in der sozialen Umwelt kaum je Anerkennung finden. Vgl. etwa A. Pieper, Einführung in die Ethik, 3. Aufl. 1994, S. 168 ff.; W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, 1996, S. 413. Vgl. auch die Nachweise bei Werner, Das Gewissen, S. 180. 19 Filmer

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

einzelne tritt unter diesen Bedingungen nicht freiwillig in einen Dialog ein, er wird in der Regel nicht die Erwartung haben, inhaltlich zu überzeugen, und geringe Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen. Der Staat kann ihm aber dennoch ermöglichen und zumuten, sich gegenüber der Rechtsordnung (noch einmal) zu erklären und sich den Standpunkt der Rechtsordnung erklären zu lassen. Die Zumutung des Sich-Öffnens kann der Staat vom einzelnen freilich nicht erzwingen, er kann aber auch keine privilegierenden Grundrechtswirkungen knüpfen an eine sich im übrigen verschließende bloße Berufung auf das „Gewissen". 1295 Er kann den Schutzbereich der Gewissensfreiheit nur eröffnen, wenn der einzelne eine Gewissensüberzeugung auch mit einer gewissen (relativen) inhaltlichen Schlüssigkeit oder Plausibilität darlegt. 1296 Die praktische Anerkennung von Grundrechtswirkungen setzt also jedenfalls immer ein Mindestmaß an Kommunikationsbereitschaft voraus. 1297 Für den Grundrechtsträger ist sie der notwendig zu zahlende Preis, aber auch eine Chance: nicht zu ausufernder Propaganda für den eigenen Standpunkt, aber doch zu dessen Darstellung, zur Darstellung von Gründen und Zielen, zur „Selbstdarstellung", 1298 vor allem zur Rechtfertigung der eigenen Verhaltensvorstellungen gegenüber dem Recht, 1299 u. U. zur („emotional-symbolischen") Befriedigung expressiver Bedürfnisse, 1300 aber auch zu besonderer Infragestellung des Rechts, 1301 die sich dadurch auszeichnet, daß sie den normativen Geltungsanspruch des Rechts und seinen Anspruch als gerechte Ordnung direkt in Zweifel zieht. 1 3 0 2 Das rechtsanwendende Staatsorgan kann auf Offenheit des Grundrechtsträgers für (rechtliche!) Argumente hoffen, darf sie aber im Rahmen des Art. 4 I GG nicht zur Voraussetzung eigener Dialogbereitschaft machen. 1303 Es darf sich nicht un1295 S. o. I.3.a)aa), S. 230 ff. 1296 Zur „Last der Begründung" von Gewissenspositionen vgl. auch H. H. Klein, Gewissensfreiheit, S. 494; Ryffel, Gewissen, S. 231. Die Bereitschaft, diese Last zu übernehmen, lebt auch von der faktischen Möglichkeit, auf das Ergebnis des Rechtsanwendungsverfahrens in irgendeiner Weise Einfluß nehmen zu können. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 439 f. 1297 Bäumlin, Das Grundrecht, S. 8 f.; H.-R. Reuter, Rechtsethik, S. 296. 1298 Vgl. o. A.II.2)c)aa), S. 115 ff. 1299 Wer sein Gegenüber im moralischen Diskurs nicht in der Sache überzeugen kann, will es in der Regel zumindest von der Anerkennungswürdigkeit seiner Motive überzeugen. Vgl. A. Pieper, Einführung, S. 170, 156. 1300 Morlok, Selbstverständnis, S. 198 zum rechtlichen Gehör. Vgl. Luhmann, Legitimation durch Verfahren (1969), 1983, S. 224 ff. (230 f.) für Gerichtsverfahren. 1301 Vgl. BVerwGE 93, 323 (329 f.) zu gewissensgefordertem Reden eines Soldaten. Vgl. Schiaich, Diskussionsbeitrag, S. 184 am Beispiel des Paßfotos ohne Kopftuch: Grundrechte können zumindest die Wirkung einer „förmlichen Frage an die staatliche Rechtsordnung" nach der Erforderlichkeit staatlicher Forderungen haben und so ein u. U. neues „Rechtsgespräch" eröffnen. 1302 Vgl. Henke, Recht, S. 417. 1303 Vgl. Hennecke, Rechtsprobleme, S. 95 f.

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mittelbar mit dem moralischen Standpunkt des Grundrechtsträgers auseinandersetzen, dessen Gedankengänge zu widerlegen versuchen, es muß aber die Schranken des Grundrechts, d. h. die kollidierenden Rechtspflichten des Grundrechtsträgers benennen, im Falle einer Abwägung ihr Gewicht durch ihre Bezüge innerhalb der Rechtsordnung und die durch sie geschützten Interessen Dritter und der Allgemeinheit erläutern, insbesondere die Bedeutung der allgemeinen und gleichen Geltung des Gesetzesrechts am konkreten Fall verdeutlichen. Gerade in Fällen, in denen der Grundrechtsträger nur entfernte Folgen des eigenen Verhaltens als gewissenswidrig ablehnt, 1304 können rechtliche Argumente zur Rationalisierung des Konflikts beitragen, indem sie den Konfliktfall verallgemeinern und Folgewirkungen seiner rechtlichen Anerkennung aufzeigen: beispielsweise die Folgen einer Anerkennung von Steuerverweigerungen aus inhaltlich beliebigen (auch den im konkreten Fall gerade bekämpften!) moralischen Motiven. Für den Staat ist es ein Wagnis, sein Recht in Frage stellen zu lassen. Dieses Wagnis eröffnet aber auch die Chance, einzelne oder Minderheiten durch rechtliche Verhaltensalternativen in die Rechtsgemeinschaft zu integrieren 1305 und darüber hinaus durch verständigungsorientiertes Handeln und Verwicklung in das Verfahrensgeschehen „Verpflichtung und Abnahmebereitschaft" die Akzeptanz des Rechts zu erhöhen. 1306 Der Staat hat es ein Stückweit in der Hand, den „Gewissensfall" nicht zum „Widerstandsfall" werden zu lassen 1307 , und kann die Infragestellung nutzen, um den normativen Standpunkt der Rechtsordnung zu vertreten, den Fliehkräften von individualistischer Moral und Gruppenmoral die Bindekräfte des Rechts gegenüberzustellen. Das tatbestandlich weit gefaßte Grundrecht der Gewissensfreiheit bietet also als subjektives Abwehrrecht des Bürgers einen Rahmen für einen Dialog primär über staatlichen Zwang und seine Zumutbarkeit für den Bürger, sekundär aber auch über normative Wertungen des einzelnen und der staatlichen Allgemeinheit. Das stellt für sich schon eine Erweiterung des Verfahrens dar. Grundrechte machen die Perspektive des einzelnen beachtlich; sie sichern generell keinen einschränkungslosen Vorrang, aber die Beachtung von subjektiver Perspektive und Individualinteresse. Im, wenn man so will, selbst schon dialogischen grundrechtsdogmatischen Modell von Schutzbereich und Schranke spiegelt sich die „Vermitt1304 s. o. I.3.c), S. 255 ff. 1305 Mock, Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 149. 1306 Vgl. Luhmann, Legitimation, S. 223 ff., 233 ff. Die Institutionalisierung von Konflikten verlagert sie auf eine verbale Ebene (ebd., S. 100 ff.). Für Luhmann kommt es zwar nicht auf den Inhalt, die Gründe für Handeln und Entscheiden an, auch für ihn sind aber Argumente nicht belanglos, das Argumentationsverfahren kein ,»Zeremoniell um des Dabeiseins willen" (ebd., S. 4 f.). Zur Kritik Zippelius, Legitimation durch Verfahren? (1973), in: ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 79 ff. (83 ff.). Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 197 f.; B. Giese, Das Würde-Konzept. Eine normfunktionale Explikation des Begriffs Würde in Art. 1 Abs. 1 GG, 1975, S. 97 ff., 83 ff. 1307 Vgl. ο. A.II.4., insbes. S. 157 f. 19+

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lung von Individual- und Gesamtperspektive", die auch vom Rechtsanwender prozedural zu leisten ist. 1 3 0 8 Das gilt in besonderer Weise für das Grundrecht der Gewissensfreiheit.

2. Verfahrensrechtliche Konsequenzen Die staatliche Entscheidung über eine Dispensierung oder Modifikation der Rechtspflicht im Einzelfall hängt, wie gesagt, nicht ab vom Inhalt der Gewissensüberzeugung und ihrem normativen Anspruch. Letzterer ist aber wesentlicher Aspekt des Gewissensphänomens und auch Gewährleistungsgrund für das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Die Anerkennung normativer Kompetenz des Individuums und die konkreten Inhalte von Gewissensüberzeugungen können zwar nicht das ,0b 4 und nicht immer den konkreten Inhalt staatlicher Letztentscheidung berühren, aber in jedem Fall das ,Wie' des staatlichen - behördlichen und gerichtlichen - Entscheidens; nicht im Sinne eines Anspruchs auf Bereitstellung neuen, sondern bei der Anwendung bestehenden Verfahrensrechts, und zwar bei der Findung wie bei der Begründung von Rechtsentscheidungen. Prozedurale Wirkungen dieser Art sind bereits mitangesprochen, wenn dem Grundrecht ein „Wohlwollensgebot" 1309 oder „Toleranzgebot" 1310 zugeordnet wird, können aber ein Stückweit als Inhalt eines subjektiven Rechts präzisiert werden. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit wirkt im Verfahren der Entscheidungsfindung als Erweiterung und Verstärkung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG): 1 3 1 1 Es macht vor allem überhaupt erst den (moralisch) normativen Standpunkt des einzelnen zur Rechtsfrage und erstreckt die Anhörungspflicht darauf. Die Möglichkeit für den einzelnen, in einer existentiellen Konfliktsituation seine Perspektive nicht nur unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Handlungsfreiheit, sondern unter dem Gesichtspunkt der Freiheit des Gewissens im staatlichen Ver1308 Morlok, Selbstverständnis, S. 290 ff. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 498 ff., 520 f.; Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S. 19 ff., 44 ff., 86 ff., 215; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 363 ff. Hier soll es nicht um ein Argumentationsverfahren „in einem Kopf', dem des Rechtsanwenders, gehen, (vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 293), sondern um verschiedene Beteiligte zusammenführende Verfahren. 1309 BVerfGE 23, 127 (134 f.). Vgl. Herdegen, Gewissensfreiheit und Normativität, S. 291 ff. πιο Vgl. Freihalter, Gewissensfreiheit, S. 205 f. m.w.N. zur Entwicklung des Toleranzbegriffs. 1311 Zur Erstreckung des verfassungsrechtlichen (vgl. daneben § 28 I VwVfG) Gedankens auch auf die staatliche Verwaltung Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 375 m.w.N. Gerade die Gewissensfreiheit fordert als Konfliktlösungsnorm eine möglichst frühzeitige Beachtung im Prozeß der Rechtsanwendung.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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fahren thematisieren zu können, ist schon für sich genommen mit Blick auf ihren expressiven Wert nicht zu unterschätzen. Die Bedeutung des rechtlichen Gehörs erschöpft sich generell nicht in bloßer Informationsaufnahme durch den staatlichen Rechtsanwender, sie erschließt sich vielmehr erst voll in der Verbindung von rechtlichem Gehör und Menschenwürde: 1 3 1 2 Das Recht auf Gehör gewährleistet dem einzelnen Menschen als selbstverantwortlichem und gemeinschaftsgebundenem Wesen eine „aktive Rolle" und die Chance zur „Selbstbehauptung" in staatlichen Verfahren; 1313 es verbietet, den Verfahrensbeteiligten zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen, sichert ihm Anerkennung und Mitwirkung als Person. 1314 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit 1315 fordert vom staatlichen Rechtsanwender speziell, den Grundrechtsträger nicht nur als Ursachen unterliegende, erklärbare, sondern auch als nach Gründen handelnde Person zu behandeln, auch mit dem normativen Anspruch seines Gewissens zur Kenntnis und ernstzunehmen, nicht nur mit der Verletzlichkeit seiner psychischen Integrität gegenüber staatlichem Zwang. Die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Rechtsanwender und Rechtsunterworfenem als Verhältnis zwischen Personen 1316 muß auch Auswirkungen haben auf Umgangsformen, „Sprache", „Takt" des Rechtsanwenders - Grundrechtswirkungen, die schon im „Grenzbereich zwischen Rechts- und Sozialnorm" anzusiedeln sind _ 1 3 1 7 aber auch auf greifbarere Prozeßgestaltungen: etwa den Umfang der Gelegenheit zur Äußerung, eine Gelegenheit zur persönlichen Äußerung im mündlichen Verfahren, die Entscheidung über Hinzuziehung und Auswahl etwaiger psychologischer Sachverständiger sowie die Gewichtung von deren Prozeßbeiträgen. Die Pflicht zur Begründung staatlicher Rechtsentscheidungen kann man begreifen als Sanktionierung der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs. 1318 Die Begründung hat die Position des Grundrechtsträgers aufzugreifen und widerzuspiegeln, 1 3 1 9 darf eine moralische Argumentation des Grundrechtsträgers nicht inhalt1312 Dürig, M / D / H / S , Art. 1, Rdn. 36. Morlok, Selbstverständnis, S. 197. 1313 Rüping, Verfassungs- und Verfahrensrecht im Grundsatz des rechtlichen Gehörs, NVwZ 1985, S. 304 ff. (306). 1314 Dürig, M / D / H / S , Art. 1, Rdn. 36; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 376 m.w.N. Vgl. Morlok, Selbstverständnis, S. 197 f. Zur Bedeutung des rechtlichen Gehörs für das „Einverstandensein" des Bürgers mit dem Staat und seine Identifikationsmöglichkeiten vgl. BVerfGE 40, 237 (251 f.). 1315 Zu Beziehungen zwischen Gewissensfreiheit und Menschenwürde vgl. o. Teil 2, B.I.2.c)aa), S. 194 f. 13 16 Vgl. Henke, Recht, S. 641 f. Zur kritischen Betonung der Unpersönlichkeit als Qualität staatlichen Handelns vgl. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 376 f. mit FN 365. 1317 Vgl. B. Giese, Das Würde-Konzept, S. 63 ff., 90 ff. 1318 Morlok, Selbstverständnis, S. 200.

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lieh zu widerlegen versuchen, die Wahl der gegenüberzustellenden rechtlichen Argumente, die Darstellung der widerstreitenden rechtlichen Interessen aber daran ausrichten. 1320 Auch an die Begründung sind mit Blick auf Stil und Inhalt erhöhte Anforderungen zu stellen (die sich nicht unbedingt erheblich im Umfang niederschlagen müssen 1 3 2 1 ). Die dargestellten Verfahrensgestaltungen sind - sekundärer - Inhalt des subjektiven Rechts des Bürgers auf Gewissensfreiheit; justitiabel in (weiteren) Gerichtsverfahren sind sie allerdings nur in beschränktem Maße, im Maße ihrer Objektivierbarkeit.

3. Gewissensfreiheit und allgemeiner praktischer Diskurs Abschließend sei noch verwiesen auf einige Funktionen, die das Grundrecht der Gewissensfreiheit innerhalb der Verfassungsordnung wahrnehmen kann. Diese Funktionen stehen - schon weil sie primär Interessen der staatlichen Allgemeinheit dienen - weder im Zentrum der Intentionen des Verfassungsgebers, noch gewinnen sie zentrale Bedeutung bei der heutigen Interpretation des subjektiven Abwehrrechts der Gewissensfreiheit; 1322 sie sind auch keine rein objektiven Grundrechtsgehalte, die als »objektive Wertentscheidung der Verfassung* eigenständig Staatsstrukturen (Demokratie, Neutralität) oder das Handeln der Staatsorgane prägen und dirigieren könnten, 1323 sondern sekundäre Folge Wirkungen der Praxis des Abwehrrechts, die über den konkreten Grundrechtsfall hinausweisen: Die Gewissensfreiheit ist kein in erster Linie auf politische Betätigung gerichtetes staatsbürgerliches Recht; sie will auch in ihrer verfahrensrechtlichen Dimension nicht Rechtsanwendungsverfahren zum Forum rechtspolitischer Diskussionen machen. Dennoch kann in einzelnen Fällen die ,Ver-Öffentlichung' von individuellen Gewissenskonflikten in staatlichen Verfahren auch Impulse geben für die Entwicklung des staatlichen Rechts und der staatlichen Praxis, Beiträge leisten zur fortlaufenden Konkretisierung aufgegebener Normativität im Recht 1 3 2 4 - wenn auch die Qualität der Beiträge im einzelnen noch so zweifelhaft sein mag. 1319 vgl. Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 224 ff. Vgl. ebd. S. 242 f.: Verhandlung und Begründung haben dabei einen Weg zu finden zwischen dezisionistischer Verkürzung und dialogistischer Ver-Ewigung. 1320 Vgl. o. 1., S. 288 ff. 1321 Vgl. auch insofern das Beispiel des FG Münster, U.v. 6. 2. 1992, KirchE 30, S. 34 ff. 1322 Vgl. ο. Α.Π.4., S. 151 ff. 1323 Dazu ο. A.I., S. 91 ff. 1324 Ryffel, Gewissen, S. 335; Bopp, Der Gewissenstäter, S. 236. Vgl. Franke, Gewissensfreiheit, S. 18 m.w.N. Vgl. allgemein zur Fortbildung des Rechts Zippelius, Die experimen-

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Als Beispiel mögen wiederum die Tierversuche an Universitäten dienen: 1325 Hier haben Gewissenskonflikte einzelner zunächst zu erheblichen Umgestaltungen der Lehrveranstaltungen geführt, zu einem deutlichen Rückgang des Verbrauchs an tierischen Organpräparaten 1326 und zu technischen Entwicklungen von alternativen Lehrmethoden. 1327 Nach Initiativen verschiedener Landtage zu einer allgemeinen Änderung der Ausbildungspraxis 1328 stellt nunmehr die Bundesregierung die Gesetzesinitiative zu einer entsprechenden Neufassung der Approbationsordnung für Tierärzte in Aussicht und weist dabei hin auf die durch Gerichtsverfahren bewirkte „Intensivierung der Diskussion über die Notwendigkeit" von Tierversuchen. 1329 So trägt die gerichtliche Auseinandersetzung über individuelle Verhaltensalternativen zu Umgestaltungen des Rechts bei, wenn sich auch die rechtspolitischen Motive für letztere sicher deutlich unterscheiden von den radikalen Motiven einzelner Gewissensopponenten. Dem staatlichen Rechtsanwender im Einzelfall darf es auf solche Motive gar nicht ankommen, ihm obliegt nicht die Fortbildung, sondern die Anwendung des geltenden Rechts. Im Zusammenhang damit steht die potentielle Funktion des Grundrechts, insbesondere bei zahlreicher Inanspruchnahme auf Fehlentwicklungen der Rechtsordnung und Gefährdungen ihrer Legitimitätsbasis aufmerksam zu machen. 1330 Die Grundrechtsanwendung kann und darf zwar keine permanente und umfassende Kompensation „struktureller Defizite des parlamentarischen Systems" 1331 in dem Sinne bewirken, daß sie kleinen in der demokratischen Öffentlichkeit wirkungslosen Minderheiten überproportionale Geltung verschafft, kann aber eine Ergänzung des politischen Diskurses um das richtige Recht und die gerechte Ordnung in dem Sinne leisten, daß sie existentielle Widersprüche und Spannungen innerhalb der Gesellschaft bewußt macht.

tierende Methode im Recht (1991), in: ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 21 ff. (33 ff.). Vgl. o. B.I.2.c)bb)aaa), S. 210 f. 1325 Vgl. o. B.I.3.a)bb), S. 242 ff.; B.II.2.a), S. 278 ff. 1326 im Fall des VGH Mannheim, U.v. 26. 3. 1996, VB1BW 1996, S. 356 ff. senkte die beklagte Universität ihren Tierverbrauch innerhalb eines Jahres um 50% (S. 358). Zum allgemeinen Rückgang von Tierversuchen vgl. den Tierschutzbericht der Bundesregierung 1997, BT-Drucks. 13/7016, S. 68 ff., 116 ff.; R. Stein, Der lange Abschied vom Tierversuch, FAZ v. 4. 6. 1997, S. Ν. 1 f. 1327 S. o. II.2.a), S. 278 ff. 1328 Vgl. V. Loeper, Studentische Gewissensfreiheit, S. 227 mit FN 28 m.w.N. 1329 Tierschutzbericht 1997, BT-Drucks. 13/7016, S. 93. Das österreichische Tierschutzgesetz von 1988 geht in § 19 den Weg eines allgemeinen Dispenses von (veitrags-)rechtlich vorgeschriebenen Teilnahmen an Tierversuchen. 1330 Zu weitgehend Tiedemann, vgl. ο. Α.Π.4., S. 154 ff. m.w.N. Vgl. Bopp, Der Gewissenstäter, S. 235 f. 1331 Franke, Gewissensfreiheit, S. 18.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

Die Berufung auf das Gewissen und das Grundrecht der Gewissensfreiheit dürfen kein Instrument politischer Willensbildung im politischen Alltagsgeschäft sein, sondern müssen für den einzelnen wie für die Gesellschaft den Fall des außergewöhnlichen Konflikts bezeichnen. 1332 Nur im Falle existentieller Konflikte kann sich der Rechtsdiskurs ein Stückweit gegenüber politischen und moralischen Diskursen öffnen, von denen er normalerweise abgeschottet ist. Den Rechtsdiskurs kann man als einen Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses 1333 verstehen, der jedoch eigenen Regeln folgt, unter besonderen „einschränkenden Bedingungen" steht, insbesondere der Bindung an das Gesetz. 1334 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit verstärkt den diskursiven oder dialogischen Charakter der Rechtsanwendung, es eröffnet aber keinen „herrschaftsfreien Diskurs", 1335 bedeutet keine Aufgabe grundsätzlicher staatlicher Rechtsbindung und Letztentscheidungskompetenz. Es eröffnet dem Grundrechtsträger begrenzte Chancen der Berücksichtigung existentieller Gewissenskonflikte und dem Staat die Chance, die Notwendigkeit von „einschränkenden Bedingungen" des Rechtsdiskurses rational zu vermitteln. Die dargestellten - nicht nur demokratietheoretisch, sondern auch im konkreten Anwendungsfall rechtsstaatlich bedeutsamen1336 - sekundären Grundrechtsfunktionen sind auch stützende Argumente für einen weiten Grundrechtstatbestand, insbesondere ein normatives (und damit notwendig formales) 1337 Verständnis des Gewi ssensbegriffs in Art. 4 GG, wie es auch den übrigen „Gewissens"-Rechtssätzen der Rechtsordnung und freien Bezugnahmen auf das „Gewissen" entspricht. An das Gewissen als Vermögen des einzelnen zur eigenverantwortlichen normativen Beurteilung des eigenen Verhaltens kann der Staat appellieren, wo staatliche Möglichkeiten und Kompetenzen zur rechtlichen Normierung enden; 1338 die grundsätzliche verfassungsrechtliche Anerkennung dieses Vermögens und der 1332 Vgl. o. B.I.3.a), S. 229 ff. 1333 Der „allgemeine praktische Diskurs" kann begriffen werden als die Gesamtheit sprachlicher Tätigkeit, bei der es um die Richtigkeit normativer Aussagen geht. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, S. 32; ders., Jürgen Habermas' Theorie des juristischen Diskurses, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 165 ff. (172 f.). 1334 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 32, 34, 263 ff. 353; ders., Jürgen Habermas, S. 172 f.; ders., Die Idee einer prozeduralen Theorie der juristischen Argumentation (1981), in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, S. 94 ff. (94 f., 104, 107). Vgl. auch Zippelius, Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung (1976), in: ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 349 ff. (352 ff.). 1335 So Tiedemann, Gewissensfreiheit, S. 392 f. 1336 Bopp, Der Gewissenstäter, S. 233. Vgl. Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 161 ff. (184 ff.). 1337 Vgl. o. Teil 1, B. S. 24 ff.; Teil 2 B.I.I., S. 167 ff. 1338 S.o.Teil 1, D.I., S. 35 ff.

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Möglichkeit eigenen Versagens darf der Staat auch dort nicht aus dem Blick verlieren, wo sich der einzelne im existentiellen Konflikt mit der Rechtsordnung auf sein Gewissen beruft. Nimmt man die tatbestandlichen Begrenzungen der Gewissensfreiheit als Konfliktlösungsnorm 1339 und ihre Schranken ernst, läßt sie sich als handlungsrechtlich verstandenes Abwehrrecht des Bürgers handhabbar machen und in die Rechtsordnung einfügen.

Zusammenfassung Der erste Teil der Arbeit beschränkt sich weitgehend darauf, die Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht, durch Gesetzgeber und durch staatliche Gesetzesanwender, darzustellen. Die verschiedenen Begriffsverwendungen erschließen sich nur auf Grund eines weiten Gewissensbegriffs, der im wesentlichen dem (grundrechtlichen) weiten Begriffsverständnis des Bundesverfassungsgerichts entspricht und den Aspekt der - moralischen - Normbezogenheit des Gewissensphänomens betont. 1340 Diese abstrakte Kernbedeutung, so die These, trägt der Gewissensbegriff einheitlich in allen Verwendungen im Recht. Analytisch geht dieser Teil der Arbeit insofern vor, als er vorab idealtypische „Funktionen des Gewissensbegriffs im Recht" unterscheidet: nach der parallelen oder entgegengesetzten Zielrichtung von Gewissenspflicht und Rechtspflicht werden vor allem „Verweisfunktion" und „Konfliktregelungsfunktion" des Gewissensbegriffs im Recht unterschieden. 1341 In der Verweisfunktion intendiert das Recht mit der Bezugnahme auf das Gewissen eine Verstärkung oder Ergänzung staatlicher Normierungstätigkeit; das Gewissen des einzelnen wird - wenn auch in der Regel nur appellhaft - vom Staat gleichsam ,in die Pflicht genommen*. In der Konfliktregelungsfunktion dient die Bezugnahme auf das Gewissen im Recht dagegen der Berücksichtigung und Anerkennung gegenläufiger außerrechtlicher Normativität, d. h. individueller Kompetenz des einzelnen zur Setzung oder Anwendung von - moralischen - Normen dort, wo diese Regelungszielen der Rechtsordnung zuwiderlaufen. 1342 Die Unterscheidung dieser beiden entgegengesetzten Funktionen von Bezugnahmen bildet das systematische Gerüst zur Darstellung der konkreten Verwendungen des Gewissensbegriffs im Recht. 134 3 Die Rechtsordnung spricht vor allem verschiedenste Träger öffentlicher Aufgaben in ihrem „Gewissen" an, aber auch Bürger: durch einseitige Appelle des Staa1339 s. o. Teil 1, C., S. 32 ff. und Teil 2, B.I.3., S. 229 ff. 1340 Vgl. den Definitionsansatz unter B., S. 31 f. 1341 Teil 1,C.,S. 32 ff.; 33 f. 1342 Vgl. auch Teil 1, D.H., S. 88 f. 1343 Teil 1, D., S. 35 ff.

2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

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tes, durch rechtlich geforderte Versprechen oder Eide oder durch Einbindung in Beratungsgespräche. Einen strafrechtsdogmatisch schwierigen Sonderfall bildet die gerichtliche Forderung nach „Gewissensanspannung" des Straftäters in bestimmten Fällen zweifelhaften Unrechtsbewußtseins; auch dieser Bezugnahme auf das Gewissen läßt sich aber die Funktion einer „Verstärkung" staatlicher Rechtsnormen zuordnen. 1344 Den Grundfall einer „Ergänzung" staatlicher Rechtsnormen durch Bezugnahme auf das Gewissen des einzelnen bilden Verweise auf das Gewissen des Abgeordneten (ζ. B. in Art. 38 I 2 G G ) 1 3 4 5 ; diese Regelungen hatten auch für die Gesetzgebung Modellcharakter bei der Übertragung auf Statusbeschreibungen anderer Amtsträger. 1346 Solche „Ergänzungen" staatlicher Rechtsnormen stehen zwischen Rechtsnormen mit „Verstärkungsfunktion" und Rechtsnormen mit „Konfliktregelungsfunktion". Mit ersteren haben sie die (formale) ,Inpflichtnahme' des Gewissens durch den Staat gemein, mit letzteren aber die inhaltliche Offenheit, die Anerkennung eigenständiger normativer Kompetenz des Individuums. Bezugnahmen auf das Gewissen mit „Konfliktregelungsfunktion" stellen sich zu einem großen Teil als mögliche Konkretisierungen der grundrechtlichen Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) dar; deren Einordnung in die hier verfolgte Funktionsunterscheidung bleibt jedoch zunächst noch vorbehalten. 1347 Im Ergebnis wird die aufgestellte These - unter dem Vorbehalt genauerer Untersuchung von Art. 4 1 GG - bestätigt: Der Gewissensbegriff ist in allen Verwendungen im Recht durch das normative - letztlich moralisch-ethische - Moment der Zurechnung von individueller Verantwortlichkeit für das eigene Verhalten zur Per1348

son geprägt. Der zweite Teil der Arbeit behandelt das Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 4 1 GG. Zunächst wird ein Überblick gegeben, welche Interpretationen das Grundrecht der Gewissensfreiheit in Literatur und Rechtsprechung erfahren hat. 1 3 4 9 Leitfrag e 1 3 5 0 dieser Darstellung ist die Frage, ob und mit welchen Folgen (Modifikationen) sich das Grundrecht der Gewissensfreiheit aufgrund seiner Besonderheiten 1 3 5 1 überhaupt als eigenständiges Grundrecht begreifen und handhabbar machen läßt; insbesondere inwieweit rechtsanwendende Staatsorgane auch das geschriebene unterverfassungsrechtliche Recht im Einzelfall durch eine Anwendung von 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350

Teil 1, D.I.l.d), S. 60 ff. Teil 1, D.I.2.a), S. 67 ff. Teil 1, D.I.2.b), S. 77 ff. Vgl. auch c), S. 79 ff. Teil 1, D.H., S. 82 ff.; 86, 89. Teil 1, D.H., S. 88 f. Teil 2, Α., S. 90 ff. Vgl. ζ. B. S. 90, 106, 110, 128.

1351 Dazu insbesondere Teil 2, A.II.2.b), S. 112 ff.

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Art. 4 I GG modifizieren oder durchbrechen dürfen. Als systematisches Gerüst dient der Darstellung der von E.-W. Böckenförde entworfene typisierende Katalog von Grundrechtstheorien (oder „Grundrechtsfunktionen"). 1352 Jede dieser Auffassungen vom allgemeinen Charakter der Grundrechte ist auch dazu herangezogen worden, die offene Grundrechtsnorm der Gewissensfreiheit zu konkretisieren. Im Ergebnis lassen sich objektive Grundrechtsgehalte im Sinne von „objektiven Wertentscheidungen der Verfassung" auf einer recht abstrakten Ebene auch dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zuordnen (am konkretesten die Prinzipien von Säkularität und Neutralität des Staates). Die Justitiabilität dieser Grundrechtsgehalte bleibt jedoch weitgehend offen. 1353 Als subjektives Recht des Bürgers, in der eigentlichen Funktion von Grundrechten, findet die Gewissensfreiheit sehr unterschiedliche Konkretisierungen: 1354 Abwehrrechtliche („liberale") Konzepte der Gewissensfreiheit führen zum Teil schon bei der Bestimmung des Grundrechtstatbestandes zu drastischen Eingrenzungen. Exemplarisch dafür stehen die dogmatischen Konzeptionen Luhmanns (Schutz der psychischen Integrität), 1355 Isensees (Staatsstrukturen als immanente Grenzen der Gewissensfreiheit) 1356 und Herdegens (Gewissensfreiheit als Wohlwollensgebot) 1357 . In die entgegengesetzte Richtung weisen Versuche, das Grundrecht der Gewissensfreiheit als Leistungsrecht weiterzuentwickeln 1358 , sowie Versuche, das Grundrecht durch demokratietheoretische Argumentationen oder in Anlehnung an Widerstandsrechte und Konzepte des zivilen Ungehorsams auszuweiten 1359 . Im Abschnitt B. des zweiten Teils wird der Versuch einer eigenen dogmatischen Durchführung des Grundrechts der Gewissensfreiheit als »liberales* Abwehrrecht unternommen. 1360 Als Ausgangspunkt steht die These des ersten Teils der Arbeit, daß dies auch bei Zugrundelegung des weiten normativen Gewissensbegriffs möglich ist, ohne die Rechtsordnung zu sprengen. Die Angemessenheit eines normativen Gewissensbegriffs für die Bestimmung des Grundrechtstatbestands des Art. 4 I GG erweist sich vor allem vor dem Hintergrund der - im allgemeinen recht wenig beachteten grundrechtsdogmatischen Unterscheidung von subjektiven und objektivierten Schutzgütern. 1361 Bei Annahme eines subjektiven Schutzguts schützt das Grund-

1352 1353 1354 1355 1356 1357 1358 1359 1360

Teil 2, Α., S. 90. Teil 2, A.I., S. 91 ff.; 105 f. Teil 2, A.II., S. 106 ff. Teil 2, A.II.2. c)aa), S. 115 ff. Teil 2, A.II.2.c)bb)bbb), S. 128 ff. Teil 2, A.II.2.c)bb)bbb), S. 130 ff. Teil 2, A.II.3., S. 146 ff. Teil 2, Α.Π.4., S. 151 ff. s. 166 ff.

1361 Teil 2, B.I.2., S. 174 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

recht die „sittliche Handlungsfreiheit" des Menschen (normatives Gewissensverständnis); 1362 bei Annahme eines objektivierten Schutzgutes die psychische Integrität des Menschen (empirisches Gewissensverständnis) 1363. Die entscheidenden - wortlautbezogenen, systematischen und teleologischen - Gründe sprechen für eine handlungsrechtliche Sicht der Gewissensfreiheit und ein normatives Gewissensverständnis; die Rechtsordnung schreibt dem einzelnen Menschen Kompetenz zu eigenständigem normativen Urteil in bezug auf das eigene Verhalten zu. 1 3 6 4 Ausgehend von dieser dogmatischen Einordnung läßt sich auch der Grundrechtstatbestand im Detail und an praktischen Anwendungsfällen entfalten. Das Grundrecht schützt auch das sog. forum internum, insbesondere die Gewissensbildung als ein selbstbestimmtes (geistiges) Verhalten, es schützt verbales Handeln ebenso wie gemeinschaftliches Handeln, ein aktives Verhalten ebenso wie ein Unterlassen. 1365 Die handlungsrechtliche Sicht führt zu einem weiten Grundrechtstatbestand; in einer Hinsicht führt sie jedoch auch unmittelbar zu einer Eingrenzung des Grundrechtstatbestands: Voraussetzung für dessen Eingreifen ist, daß überhaupt ein eigenes Verhalten des Grundrechtsträgers in Rede steht. Durch diese oft übersehene tatbestandliche Voraussetzung werden bereits eine Reihe von Berufungen auf das Gewissen aus dem Grundrechtstatbestand ausgeschieden: kein Schutz der Geheimsphäre, kein Schutz vor Konfrontation mit Symbolen (Kruzifix), bloßen Zwangsmitgliedschaften und reinen Duldungspflichten. 1366 Wesentlichere Eingrenzungen des Grundrechtstatbestands ergeben sich durch notwendige immanente Gewährleistungsgrenzen. 1367 Diese stellen gleichsam teleologische Reduktionen der Gewissensfreiheit als eines „Handlungsrechtes" oder „Freiheitsrechtes" dar. Das Grundrecht dient nicht der freien Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne einer Optimierung gewissensgeleiteten Verhaltens, es stellt sich vielmehr dar als Konfliktlösungsnorm oder Kollisionsnorm. 1368 Diese will dem einzelnen lediglich die Orientierung an den eigenen moralischen Mindeststandards ermöglichen, an den zu Gewissensüberzeugungen verdichteten identitätsstiftenden Moralauffassungen. Unter den Grundrechtstatbestand fallen daher nur solche Berufungen auf das Gewissen, die einer echten Gemsscnspflicht als einer moralischen Verpflichtung entspringen und Ausdruck eines echten „Gewissenskonflikts" mit der Rechtsordnung sind. Den Grundrechtsträger trifft insofern eine Darlegungslast. Aus dem Charakter des Grundrechts als Konfliktlösungsnorm oder Kollisionsnorm ergibt sich als weitere entscheidende Voraussetzung für das Eingreifen des 1362 1363 1364 1365 1366

Teil 2, B.I.2.b)bb), S. 183 ff. sowie S. 179 ff. Teil 2, B.I.2.b)cc), S. 185 ff. Teil 2, B.I.2.c)bb), S. 199 ff., 205 ff. Teil 2, B.I.2.c)bb)bbb), S. 213 ff. Teil 2, B.I.2.c)bb)bbb), S. 222 ff.

1367 Teil 2, Β.1.3., S. 229 ff. 1368 Vgl. ο. Teil 1, D.H., S. 82 ff.

Β. Rekonstruktion der Gewissensfreiheit als subjektives Freiheitsrecht

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Grundrechtstatbestands die „Unbedingtheit" der Gewissenspflicht. 1369 Das heißt, der Grundrechtsträger hat grundsätzlich von bestehenden Verhaltensalternativen Gebrauch zu machen, er hat dem Konflikt mit der Rechtsordnung - auch unter Aufopferung eigener Lebensgüter - aus dem Wege zu gehen bzw. bei der Anwendung des Grundrechts als Kollisionsnorm (Pflichtenkollision) darzulegen, warum der Konflikt für ihn nicht vorhersehbar oder jedenfalls nicht vermeidbar ist. Dieses tatbestandliche Begrenzungskriterium wird anhand einer Reihe konkreter Beispielsfälle verdeutlicht. Mit dem Kriterium der „Zumutbarkeit" der Aufopferung eigener Lebensgüter gelangt ein Wertungsmoment in den Grundrechtstatbestand. Aufgrund des Verständnisses des Grundrechts als Konfliktlösungsnorm oder Kollisionsnorm ist der Grundrechtstatbestand zu begrenzen auf „existentielle", für das normative Selbstverständnis des Individuums grundlegende Gewissensüberzeugungen. 1370 Indizien für solche Überzeugungen sind vor allem das Maß affektiver Bindung, der Grad gedanklicher Durchdringung sowie die konsequente Umsetzung einer Überzeugung in der bisherigen Lebenspraxis. Nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fallen alle gewaltsamen Verhaltensweisen (Gewaltmonopol des Staates).1371 Die neuerdings wiederholt vorgeschlagene Begrenzung des Grundrechtstatbestandes auf einen objektiv von der Rechtsordnung vorgegebenen „persönlichen Verantwortungsbereich" trägt dagegen nicht. 1 3 7 2 Der so insgesamt weit gezogene Schutzbereich der Gewissensfreiheit bedarf als notwendiger - aber auch hinreichender - Eingrenzung einer konsequenten Anwendung der Grundrechts schranken. 1313 Als Schrankenregelung greift für Art. 4 I GG (nicht für Art. 4 ΙΠ GG) Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV. Allerdings sind auch auf der Schrankenebene dogmatische Modifikationen aufgrund der Besonderheiten der Gewissensfreiheit unerläßlich; insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip als sog. Schranken-Schranke erfährt Modifikationen aufgrund des Charakters der Gewissensfreiheit als Norm zur Lösung spezieller Pflichtenkollisionen im Einzelfall. Eine typisierende Fallgruppenbildung ist bei der Anwendung einer solchen Norm nur sehr begrenzt möglich. 1 3 7 4 Im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit von Grundrechtseingriffen werden wiederum konfliktlösende Verhaltensalternativen thematisiert - hier allerdings unter dem Gesichtspunkt, ob es für den Staat „tragbar" („zumutbar") ist, dem Grundrechtsträger (weitere) Verhaltensalternativen zu eröffnen oder gar - als ultima ratio - einen ausgleichslosen Dispens von der Rechtspflicht zu gewähren. 1375 Der Cha1369 Teil 2, B.I.3.a)bb), S.235 ff. 1370 Teil 2, B.I.3.a)cc), S. 248 ff. 1371 1372 1373 1374

Teil 2, B.I.3.b), S. 253 ff. Teil 2, B.I.3.C), S. 255 ff. Teil 2, B.II., S. 264 ff. Teil 2, B.II.2., S. 277 ff. Vgl. S. 274.

1375 Teil 2, B.II.2., S. 277 ff.; 281 ff. Vgl. o. S. 235 ff.

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2. Teil: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit

rakter als Kollisionsnorm fordert vom Staat wie vom Individuum grundsätzliche Bereitschaft zur Konfliktlösung bzw. -Vermeidung. Die wechselseitige Pflicht zur Suche nach gewissensschonenden Alternativen spiegelt sich in der Anwendung des Grundrechts daher auf der Tatbestandsebene wie auf der Schrankenebene. Der in das Grundrecht eingreifende Staat muß sich im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach der Erforderlichkeit konfliktbefangener Maßnahmen fragen; der Grundrechtsträger muß sich schon im Rahmen der Eröffnung des Schutzbereichs („Unbedingtheit der Gewissenspflicht") nach der ,Erforderlichkeit 4 konfliktbefangener Verhaltenspositionen und eigenen Alternativen fragen lassen. 1376 Die Anwendung des Grundrechts führt so in der verfahrensrechtlichen Praxis zu einem spezifischen »Gewissens-Dialog4.1377 Lediglich sekundäre Grundrechts Wirkungen stellen gewisse grundrechtliche Vorgaben für die Ausgestaltung des Rechtsanwendungsverfahrens dar (des rechtlichen Gehörs und der Begründungen staatlicher Entscheidungen), die ihre eigenständige Bedeutung unabhängig vom Ergebnis des Verfahrens haben. 1378 Als ebenfalls sekundäre Grundrechtswirkung zeigt das „Spiel von Grund und Gegengrund" in der verfahrensmäßigen Anwendung von Tatbestand und Schranken eines Grundrechts im Fall der Gewissensfreiheit schließlich besondere Wirkungen für den - Recht und Moral übergreifenden allgemeinen praktischen Diskurs. 1379 Die staatlichen Letztentscheidungskompetenzen auch bei der Anwendung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken ermöglichen es, das Grundrecht der Gewissensfreiheit als subjektives Abwehrrecht des Bürgers in die Rechtsordnung einzufügen - auch bei Zugrundelegung eines normativen Gewissensverständnisses. Der Gewissensbegriff ist damit im Kern für die gesamte Rechtsordnung einheitlich zu bestimmen. 1380 Nach dem weitgehenden Verlust objektiver naturrechtlicher Bezugssysteme ist er zwar in sämtlichen rechtlichen Zusammenhängen säkularisiert und subjektiviert; 1381 das muß jedoch den Staat nicht daran hindern, zum einen appellhaft auf das Gewissen des einzelnen zu verweisen, wo staatliche Möglichkeiten und Kompetenzen zur rechtlichen Normierung enden, und zum anderen die Berufung auf das Gewissen als unvertretbaren normativen Anspruch des Individuums ernstzunehmen, den darin zum Ausdruck kommenden normativen Wahrheitsanspruch diskursiv in staatliche Rechtsanwendungsverfahren aufzunehmen.

1376 Teil 2, B.II.2., S. 277 ff. Vgl. o. Teil 2, B.I.3.a)bb), S. 235 ff.; 242 ff. Exemplarisch die zweifache Thematisierung von Tierversuchen in universitären Lehrveranstaltungen, entsprechend der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Vgl. ebd. sowie S. 279 f., 288, 295. 1377 Teil 2, B.III.l., S. 288 ff. 1378 Teil 2, B.III.2., S. 292 ff. 1379 Teil 2, B.III.3., S. 294 ff. 1380 Teil 2, B.III.3., S. 296 f. 1381 Vgl. vor allem S. 48 ff., 193, 199 ff., 208 f., 273.

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arverzeichnis Abgeordneter 19 ff., 44,67ff., 298 Abschiebung 261 Abwägung 15, 22, 48, 127, 133 f., 262 f., 275 f., 281 ff Allgemeine Handlungsfreiheit 104, 114, 192, 229 allgemeiner Sprachgebrauch 29 f. Alternativen/Verhaltensalternativen 101 f., 106, 118, 147 ff., 238 ff., 247, 253, 275, 277ff., 301 f. Ambivalenz 34, 89,92,95 f., 206, 210 Anarchie 129, 154, 211 f. Appell 36, 40 ff., 47, 50, 57 ff., 72 ff., 81, 89, 296 ff., 302 Arbeitsrecht 105,164,236ff, 260ff, 269 f., 278 Argument/Argumentationslast 24 f., 66 f., 76 f., vgl. auch Dialog Arzt 16, 55 f., 79ff., 82 f., 236 Auskunftspflicht 39 ff. Barttracht 278 Beamte 48 ff., 83 Begründungspflicht 47 f., 70 f., 76 f., 294 Beitragszahlungen 224, 227, 256 ff. Berufsethos 52 ff., 88 Berufspflichten 52 ff. Beweis 250 f., 252 f., vgl. auch Darlegungslast Bewußtsein 30 f., 50,193,207 Bluttransfusion 221, 224 f., 228 Bundespräsident 44 conscientia antecedens / subsequens 184 Darlegungslast 233 f., 240, 250 f., 278 f., 290 DDR 66, 87, 147 Definitionskompetenz 167 ff. Demokratie 92 ff., 151 ff., 164, 295

Dialog 76 f., 171,288 ff., 302 Dispens 106, 127 f., 132 ff., 144 f., 150, 153, 181, 211, 230, 253,264,277, 281 ff. Drucker 256, 261,278 Duldungspflichten 224 ff., 300 Ehe 102, 246 Ehrenamt 145, 236, vgl. auch Richter Eid, eidesstattliche Versicherung 23, 27, 36 ff., 39 ff., 43ff., 73,83,102, 298 Eidespflicht, Verweigerung der 83, 109, 242, 247, 278 empirisches Gewissensverständnis 28,62 ff., 118, 121 ff., 165 f., 176, 182 f., 185 ff., 207 ff., vgl. auch Psychologie Ergänzungsfunktion 34 f., 67ff, 205, 298 Ersatzdienst Verweigerung) 86, 139, 145, 148, 188 f., 203,218, 238 ethisches Minimum 100 f., 229, 300 Europäische Menschenrechtskonvention 202 ff., 249 f., 271 ff. forum internum/forum externum 113, 202, 213 f., 217, 264, 267, 300 Freiheitsrechte im engeren Sinne 177 ff. Freistellung(sklauseln) 34, 83 ff., 101 Funktion - des Gewissensbegriffs 32 ff., 89, 297 f. - des Grundrechts der Gewissensfreiheit 115 ff., 155 Geheimsphäre 223 Gelöbnis 44,51 f., 55 Gemeinwohl 47 f., 50,52,72, 75 f. Gerechtigkeit 47 f., 76 Gesetzgeber 100 ff. Gesetzesvorbehalt 265 ff., 274 Gewaltmonopol des Staates 253 ff., 301

Sachwortverzeichnis Gewissen - Begriff des 11, 14, 24ff., 87 ff, 90, 118, 123,161 f., 166, 174 f., 199,205 f., 297 f., 299 f., 302 - Normativität des 24 ff., 234 f., 300 Gewissensanspannung 60 ff., 208, 298 Gewissensargument 24 f. Gewissensbildung 214 ff., 251, 300 Gewissensentscheidung 13 ff, 29 ff., 56 f., 85, 87, 125, 175,251 f., 289 Gewissensfrage 20 Gewissensfreiheit 14, 17, 19, 29 ff., 45, 57, 68 f., 86, 89,90 ff. - Besonderheiten der 112 ff., 126 ff., 133, 137, 144, 273 f., 277 - Primat der 107 ff. - Schranken der 111, 138 f., 148, 168, 264ff, 301, vgl. auch Grundrechtsschranken - Schutzbereich der 107, 111 ff., 127 ff., 166 ff., 169 ff., 300 - Schutzgut der 111, 115 ff., 117, 174 ff, 199, 300 - subjektive und objektivierte Schutzgüter 176 ff., 179 ff., 299 f. gewissenhaft/Gewissenhaftigkeit 15, 26 f., 40,44 ff., 49,52,54 ff., 76, 88 Gewissenskonflikt 79 ff., 84, 87, 121, 232 f., 235, 300 - Ausweglosigkeit / Unbedingtheit des 237 ff., 301 - Existentialität des 248 ff. - Vorhersehbarkeit/Vermeidbarkeit des 237 ff., 245,275 f., 301 Gewissensnot 29 ff., 175, 186 ff., 193, 200 Gewissensphänomen 28 f., 120, 166, 193 Gleichbehandlungsgrundsatz 102, 135 ff., 285 Grundrechte - als Abwehrrecht 110 ff., 129, 294, 297, 299 - als Gruppenrecht 222, 300 - als Leistungsrecht 103,118,146 ff., 299 - Drittwirkung der 104 ff., 110 Grundrechtsschranken 111, 138 f., 148, 168,

264ff, 301 - Schranken-Schranken 111, 130 ff., 271, 277 ff., 301

331

- verfassungsimmanente 269 f. - Verhältnismäßigkeitsprinzip 112, 271,275, 277 ff, 301 - Wechselwirkung der 270 f., 274 f. Grundrechtstheorie 90, 299 - demokratisch funktionale 151 ff. - institutionelle 91 ff. - liberale 110 ff. - sozialstaatliche 146 ff.

239,

Handeln/Handlungsrecht 114, 129, 165, 177 ff., 180 ff., 183ff, 196 ff., 199 ff, 213 ff., 222 ff., 260, 297, 299 f. herrschaftsfreier Diskurs 153 f., 296 Identität 115 f., 119 ff., 129, 182, 186, 198, 248ff., 300 Impfpflicht 203,221, 225, 228, 284 Indoktrination 213 Integrität 115 f., 121 ff., 129, 131, 177 f.,

185ff,

196 ff., 201, 216, 229, 293, 299 f.,

vgl. auch psychische Unversehrtheit Kirche 97 f., 109,163 Kirchenasyl 164,219,241 Kollisionsnorm 81,205,230 ff., 235, 300 ff. Kompetenz-Kompetenz 169,211 Konfliktregelungsfunktion 34, 57, 82 ff, 161,230 ff., 253,296 f., 297 f., 300 ff. Konfliktsituation 11, 13 f., 57, 79 ff., 88, 289 Kopftuch 245 f., 278 Krankenkasse 223,227, 256 ff. Kreuz/Kruzifix 147,195 ff., 223, 300 Kriegsdienstverweigerung 85 f., 110,122 ff., 148, 152 f., 163, 192, 194, 211, 218, 247, 261, 269, 287 lästige Alternativen vgl. Alternativen Liegestuhl 120 Mehrheitsentscheidung 20,70 Menschenrechte 202 ff. Menschenwürde 107 f., 114, 179, 194 f. Metajuristisches Prinzip 91 ff., 107

332

arverzeichnis

Minderheitenschutz 69,151 f. Moral 11, 32, 34 ff., 57, 71, 74, 88 f., 94 ff., 120, 152, 184 f., 200, 211, 230 f., 235, 294 ff., 302 Nationalsozialismus 126, 286 Naturrecht 46, 65 f., 74 f., 88, 94, 119 f., 209 f., 302 Naturwissenschaft 28, 187, vgl. auch Psychologie Neutralität(sprinzip) 28, 97 f., 101 f., 107, 109, 113, 165, 198, 209, 215, 299, vgl. auch Säkularität Nichtigkeit von Gesetzen 126,286 Optimierungsgebot 229 f., 300 Organtransplantation 82, 236 Paulskirchen Verfassung 97 Persönlichkeitsrecht 108, 215 f., 231 Person/Personalisierung 35 f., 54, 207 f. Plausibilität vgl. Darlegungslast Polizei 50, 242 polizeilicher Todesschuß 50, 86 f. Postwurfsendungen 261 Polygamie 231 Prozeduralisierung 48 f., 59 f., 77, 88, 167, 288 ff., 291 f., vgl. auch Verfahren psychische Unversehrtheit 123 f., 182, 185 ff., 200 ff., vgl. auch Integrität Psychologie 28, 118 f., 121 ff., 165 f., 186 ff., 193, 200, vgl. auch empirisches Gewissensverständnis Rationalität 48,77, 156 Recht/Rechtsnorm 25, 32 - Normativität des 93 ff., 132 f., 137 f., 166, 206,209, 287, 290 f., 294 f. - überpositives vgl. Naturrecht rechtliches Gehör 292 f. Rechtsauslegung/Interpretation 45 ff. Rechtsfreier Raum 15, 57, 81 Rechtsgeltung 93 ff., vgl. Recht, Normativität Reflexion/Reflexivität 31,41,48, 60, 76 f. Religionsfreiheit 90, 98, 107, 131, 161 f., 170,200 ff, 213 f., 219, 265 ff. religiöse Speisevorschriften 246 f.

religiöse Bekleidungsvorschriften 141, 215, 245 f., 278, 285 ff. Richter 45 ff., 83 ff. Röntgenuntersuchung 221 ,Rüstungssteuerboykott' 109, 163, 225 ff., 256 ff., vgl. auch Steuerrecht Sachverständige 53 f. säkular/Säkularisierung 35 ff., 43, 97 f., 102, 109 f., 120, 162, 200 f., 202 f., 272 f., 302 Schächten 246 Schule 97 f., 102 f., 145,214, - Kreuz/Kruzifix in der 195 ff. - Privatschulen 147, 214 - Schulpflicht 214 - Schulsport 141, 215, 245, 278,285, 287 - Sexualkundeunterricht 103, 214 Schwangerschaftsabbruch 11ff., 36, 56 ff., 82, 86,131,215, 221, 231 f. Schweigepflicht 82, 219, 236 Selbstverständnisse 167 ff. Sitzblockaden 163, 220,253 ff. Sollen /Sollsätze 32 f., 233 Sorgfalt/Sorgfaltspflichten 22, 26, 40 f., 48, 51,54,60,64, 77, 88 Staatsangehörigkeit 224 status activus 152 Sterbehilfe 79 f., 236 Steuerrecht 102, 131, 225 ff., 256 ff., 291 Strafrecht 60 ff., 139 ff., 220 .Stromzahlungsboykott* 256 Subjektivierung 76, 120, 162, 302 Tagebücher 216 f., 231 Tierschutz 246 Tierversuche 242 ff., 278 ff., 283, 287, 295 Turban 246 Über-Ich 28, 232 Überzeugung 21, 31, 42, 50, 67, 72, 87 f., 183, 201,204,213, 249f., 282 Universität 86, 242 ff., 278 ff. Unparteilichkeit 47 f., 52, 54 Unrechtsbewußtsein 60 ff. Unterlassen 163, 212, 219ff., 224 f., 255, 284, 300 USA 204 f.

Sachwortverzeichnis Verantwortung 35 ff., 40, 43, 50, 56, 58, 70 ff., 77,258f. Verantwortungsbereiche 256 ff., 301 Verbotsirrtum 60 ff. Verfahren 88, 206, 291 f., 292 ff., 302, vgl. auch Prozeduralisierung Verhältnismäßigkeitsprinzip vgl. Grundrechtsschranken Verinnerlichung 34 ff., 37 ff., 49 f., 96 Versicherungen 223 Verstärkungsfunktion 34, 35 ff. Verweisfunktion 34, 35 ff., 297 Vorbehalt des Gesetzes 111,274 ff. Vorrang des Gesetzes 128, 131, 137 ff., 275 f., 285 Vorrang der Verfassung 111, 137 ff., 146, 277, 286 Waffeneinsatz 242, 287 Waffenherstellung 261 Waffentransport 261 Wahlpflicht 203, 241 Wahrheit 35, 47, 119 f., 250, 302

333

Wahrhaftigkeit 40 Weltanschauungsfreiheit 200 f., 272 f. Westfälischer Friede 97, 107 Widerstandsrecht 21,157ff., 253 ff., 299 Wissen und Gewissen 23, 27, 39 ff., 44 ff., 76 ff., 85 Wissen und Können 49 Wohlwollensgebot 106,131 ff, 139ff., 286, 292, 299 Wortlautargument 30, 116 ff., 125, 129, 199 f. Zeugen vgl. Eid Zeugen Jehovas 86, 139 f., 145, 148, 225 Zivildienst vgl. Ersatzdienst, Kriegsdienstverweigerung Ziviler Ungehorsam 157 ff., 220, 253 ff., 299 Zumutbarkeit 281 ff., 289, 301 Zuschreibung 207 f. Zwangsmitgliedschaft 223 f., 300 Zwangsneurose 123 Zwangsvollstreckung 227 ff.